Strafgewalt und Provinzialherrschaft: Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6 - 66 n. Chr.) [1 ed.] 9783428513819, 9783428113811

Thema des Buches ist die Ausübung der Strafgewalt römischer Statthalter. Aufgrund der singulären Quellenlage steht (abge

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German Pages 397 Year 2004

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Strafgewalt und Provinzialherrschaft: Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6 - 66 n. Chr.) [1 ed.]
 9783428513819, 9783428113811

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Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 109

Strafgewalt und Provinzialherrschaft Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6 – 66 n. Chr.)

Von

Guido O. Kirner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

GUIDO O. KIRNER

Strafgewalt und Provinzialherrschaft

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 109

Strafgewalt und Provinzialherrschaft Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6 – 66 n. Chr.)

Von

Guido O. Kirner

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-11381-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Das vorliegende Buch ging aus einer Arbeit hervor, die im Frühjahr 2002 von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen wurde. Die Disputation erfolgte am 9. Juli 2002. Dekan war zu dieser Zeit Oswald Schwemmer. Für die Drucklegung wurde das Manuskript etwas überarbeitet und gekürzt sowie an einigen Stellen aktualisiert. Der Philosoph Hans Blumberg schrieb einmal, es gäbe eine „Arroganz der Bücher durch ihre bloße Quantität.“ Denn schon nach einer gewissen Zeit schreibender Kultur entstehe der überwältigende Eindruck, „hier müsse alles stehen und es sei sinnlos, in der Spanne des ohnehin allzu kurzen Lebens noch einmal hinzusehen und wahrzunehmen, was einmal zur Kenntnis genommen und gedacht worden war.“ Das wissenschaftliche Arbeiten an der vorliegenden Untersuchung hat mich diese Arroganz der Bücher gelehrt. Die Frage, ob es deshalb sinnlos war, dennoch eine Spanne des Lebens dafür zu opfern, will ich mir nicht mehr stellen; letztlich muß sie vom Leser und der Kritik beantwortet werden. Jedoch sind in diesem Sinne auch einige Personen zum Opfer meiner eigenen Arroganz geworden. Denn ich wagte nicht nur, den vielen Büchern noch ein weiteres hinzuzufügen, sondern nahm hierfür auch in besonderem Maße ihre Hilfe in Anspruch, raubte ihnen folglich auch etwas von ihrer Lebenszeit. All jenen möchte ich herzlich danken. An erster Stelle gilt dieser Dank meinem „Doktorvater“ Wilfried Nippel, der diese Dissertation zunächst angeregt, sodann mit viel Geduld betreut und gefördert und schließlich als erster begutachtet hat. Als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter konnte ich darüber hinaus viel von ihm lernen. Außerdem danke ich KlausPeter Johne für inhaltliche Anmerkungen in seiner Eigenschaft als Zweitgutachter. Nicht zu vergessen bei meinem Dank sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des althistorischen Lehrstuhls für ihre „praktischen Dienste“, zumal bei der Beschaffung von Literatur, die in Berlin nicht selten mit weiten Wegen verbunden ist. Einige Personen haben sich der Lektüre meines Manuskriptes gewidmet, obwohl sie mit ganz anderen Themen oder Angelegenheiten beschäftigt waren. Für ihre uneigennützige Hilfe bin ich um so dankbarer. In freundschaftlicher Verbundenheit haben mir die Geschwister Jens und Vera Hacke bei den Korrekturen geholfen; die ersten beiden Kapitel konnten zudem von

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Vorwort

der kritischen Lektüre durch Christina Kakridi profitieren. Es versteht sich von selbst, daß alle verbliebene Mängel allein mir anzulasten sind. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe ,Schriften zur Rechtsgeschichte‘ beim Verlag Duncker & Humblot danke ich Norbert Simon, für die Empfehlung Elmar Wadle. Für die unkomplizierte und effiziente Zusammenarbeit bei der Herstellung des Buches danke ich den Mitarbeitern des Verlags, insbesondere Ulrike Hake. Ohne den Rückhalt meines Vaters hätte dieses Buch nicht vollendet werden können. Ihm und meiner viel zu früh verstorbenen Mutter widme ich dieses Buch. Zudem gilt meine Dankbarkeit Cecilia Mingazzini, die keinen geringeren Teil der „sozialen Kosten“ bis zur Fertigstellung dieses Buches mitzutragen hatte. Berlin, Dezember 2003

Guido O. Kirner

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gerichtsbarkeit als problematischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Wirkung und Herausforderung durch Theodor Mommsen . . . . . b) Mommsen und die magistratische Strafgewalt außerhalb Roms . . . . c) Kunkels These zum Consilium im Statthalterprozeß . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Heterogenität der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Provokationsrecht bzw. Appellationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs zum ius gladii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gefahr methodischer Zirkelschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Statthalterliche Strafgewalt und Machtressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit zum forschungskritischen Teil und Ausgangshypothese . . . . . . . . . .

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II. Ciceros Verrinen und die „selbstherrliche Strafgewalt“ . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verrinen des Cicero . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Exempla Ciceros zur Ausübung der Strafgewalt des Verres . . . . . . . a) Sopatros aus Halikyai (2 Verr. 2,68–81) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sthenius aus Thermai (2 Verr. 2,83–118) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Apollonios aus Panormos (2 Verr. 5,16–24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gavius aus Consa (2 Verr. 5,158–170) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Philodamos aus Lampsakos (2 Verr. 1,63–85) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit zur Strafgewalt des Statthalters in den Verrinen . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Flavius Josephus als Quelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Biographisches zu Josephus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Quellen des Josephus für die Zeit 6 bis 66 n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundtendenzen in Josephus’ Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgeschichte (4 v. bis 6 n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Judäa wird Provinz (6 n. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Statthalter in Judäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kompetenzausstattung des Statthalters in Judäa . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Die römischen Statthalter in Kontinuität zu König Herodes c) Das Verhältnis zwischen judäischem und syrischem Statthalter . . . . d) Exkurs: Der syrische Statthalter und Agrippa I. (41–44 n. Chr.) . . . e) Wer waren die Statthalter in Judäa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 4. Hohepriester und Synedrion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exkurs: Das Synedrion als Consilium, ein Gedankenexperiment . . . b) Ausgangshypothese zum Synedrion für die weitere Untersuchung . . 5. Das Lestai-Problem: Räuber, Zeloten und Sikarier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Skizze der Provinzialstruktur Judäas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . a) Falsche Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Räuberbanden und deren Anführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Provinzialer Massenprotest und die Reaktion der Statthalter . . . . . . . d) Die Rolle der provinzialen Oberschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Strafgewalt und Willkürregiment des Statthalters . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Exkurs: Kommunikationswege (Kaiser, Statthalter, Provinziale) . . . . b) Das Kaisergericht in der Schilderung des Josephus . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Kaiser Gaius (Caligula) und der syrische Legat Petronius . . d) Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verhaftung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhör vor dem Synedrion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Jesus vor dem Statthalter Pilatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslieferungsgrund und Anklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhör Jesu durch Pontius Pilatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Statthalter, die Hohepriester und das Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit zum Fall Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Apostelgeschichte und das römische Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verfahren gegen Paulus in Jerusalem und Cäsarea . . . . . . . . . . . . . . . a) Paulus in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Paulus in Cäsarea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit zum Paulusfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Annex: Liste der Fälle bei Josephus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Quellenausgaben (der ausführlich zitierten Quellen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Abkürzungsverzeichnis AE AJPh AncSoc ANRW ASS BBB CBQ CIL CJ CQ ClR FGrH FIRA G&R HSCP HTR IEJ IGR ILS JAC JBL JJGL JJS JQR JR JRS JSJ JSNT JTS MBPF MEFRA NJKA NKZ NRTh NT(.S)

L’Année épigraphique American Journal of Philology Ancient Society Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt Archiv für Strafrecht und Strafprozeß Bonner Biblische Beiträge Catholic Biblical Quarterly Corpus Inscriptionum Latinarum Classical Journal Classical Quarterly Classical Review Fragmente griechischer Historiker Fontes Iuris Romani Anteiustiniani Greece and Rome Harvard studies in classical philology Harvard Theological Review Israel Exploration Journal Inscriptiones Graecae ad res Romanas pertinentes Inscriptiones Latinae Selectae Jahrbuch für Antike und Christentum Journal of Biblical Literature Jahrbücher für jüdische Geschichte und Literatur Journal of Jewish Studies The Jewish Quarterly Review Journal of Religion Journal of Roman Studies Journal for the Study of Judaism Journal for the Study of the New Testament Journal of Theological Studies Münchner Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte Mélanges de l’École Française de Rome, Antiquité Neue Jahrbücher für das klassische Altertum Neue kirchliche Zeitschrift Nouvelle revue théologique Novum Testamentum (Supplements)

12 NTTS ÖAKR OGIS PIBA PIR P Oxy. P&P RAC RBPH RE REA RHDFE RHPhR RHR RIDA SBEC StEv ThBeitr ThLZ TRE TynB VChr WUNT ZNW ZThK ZPE ZRG

Abkürzungsverzeichnis New Testament tools and studies Österreichisches Archiv für Kirchenrecht Orientis Graeci Inscriptiones Selectae Proceedings of the Irish Biblical Association Prosopographia Imperii Romani Oxyrhynchus Papyri Past and Present Reallexikon für Antike und Christentum Revue belge de philologie et d’histoire Realencyclopaedie der klassischen Altertumswissenschaften Revue des études anciennes Revue historique de droit français et étranger Revue d’histoire et de philosophie religieuses Revue de l’histoire des religions Revue Internationale des Droits de L’Antiquité Studies in the Bible and early Christianity Studia Evangelica Theologische Beiträge Theologische Literaturzeitung Theologische Realenzyklopädie Tyndale Bulletin Vigiliae Christianae Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für die neutestamentarische Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche Zeitschrift für Theologie und Kirche Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Römische Abteilung

Einleitung Thema dieser Untersuchung ist die Strafgewalt römischer Provinzstatthalter. Der Ausdruck Strafgewalt dient hier als neutraler Sammelbegriff zur Umschreibung sämtlicher Sanktionsmaßnahmen des Statthalters zum Zweck der Aufrechterhaltung römischer Ordnung in einer Provinz. Zur Analyse der statthalterlichen Strafgewalt eignet sich besonders eine Fallstudie zur Provinz Judäa seit Etablierung der direkten römischen Herrschaft bis zum Ausbruch des ,Jüdischen Krieges‘ (6–66 n. Chr.). Die Festlegung auf diese Provinz hat ihren Grund zunächst in der Quellenlage, da mit den Werken des Flavius Josephus, den Evangelien und der Apostelgeschichte Berichte zur römischen Herrschaftspraxis in einer Provinz vorliegen, die in ihrer Ausführlichkeit für die römische Kaiserzeit einmalig sind. Nur hier findet sich ein Quellenbestand zur Herrschaftspraxis aufeinanderfolgender Statthalter über eine längere Zeit in derselben Region – damit unter der Voraussetzung annähernd gleichbleibender sozialstruktureller und kultureller Bedingungen –, die es erlauben, die statthalterliche Strafpraxis einer Provinz eingehender zu untersuchen. Diese singuläre Überlieferungslage ermöglicht einen methodischen Ansatz, der sich von zwei vorherrschenden, wenn auch gegensätzlichen Tendenzen der Forschung absetzt: Zum einen wird nämlich entweder ein römisches „Provinzialstrafrecht“ aus räumlich und zeitlich ebenso disparatem wie fragmentarischem Quellenmaterial konstruiert, um es als Maßstab zur Überprüfung der statthalterlichen Sanktionsgewalt und ihrer „Rechtlichkeit“ in konkreten Fällen anzulegen; oder es wird zum anderen ohne Untersuchung gegebener oder potentieller Einflußfaktoren von der Strafgewalt der Statthalter behauptet, sie hätten hierbei allein nach Maßgabe persönlicher Willkür agiert. Der erste, stark rechtsdogmatisch gefärbte Ansatz hat die Tendenz zur Juridifizierung durch Entkontextualisierung; der zweite Ansatz sieht sich mit einem relativistischen Herrschaftspragmatismus konfrontiert und neigt deshalb zur Politisierung durch Entjuridifizierung der Strafgewalt. Bringt man die beiden, hier freilich idealtypisch zugespitzten Ansätze in einen Gegensatz, so wird ein Spannungsverhältnis zwischen Recht und Herrschaft suggeriert, der insbesondere für den Bereich der Ausübung von Strafgewalt verfehlt ist, da sich Strafen und Herrschen zwangsläufig gegenseitig bedingen und in jeder institutionell verfaßten „Gesellschaft“ auf einer normativen Grundlage aufruhen, um Legitimität beanspruchen zu können. Daraus resultiert das Kernproblem, wie sich der rechtliche und der herr-

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Einleitung

schaftliche Aspekt für die Strafgewalt des Statthalters mit einer historisch adäquaten Rechtsauffassung analysieren läßt, zumal beide Aspekte in der „magistratischen Strafjustiz“ der Römer auf eine Person vereinigt sind. Um die Ausübung der Strafgewalt römischer Provinzstatthalter historisch adäquat zu verstehen, hängt deshalb sehr viel davon ab, mit welchen methodischen Grundannahmen man sich der Problemstellung annähert, ohne dabei die wechselseitige Bedingtheit von Provinzialherrschaft und Strafgewalt aus den Augen zu verlieren. Dabei gilt es genau den Zwischenbereich zwischen einer rein rechtsdogmatischen und einer rein politischen Betrachtungsweise auszuloten, da erstere die Strafgewalt zu sehr von institutionalisierten bzw. positivierten (und von daher nicht selten implizit als unabänderlich betrachteten) Regeln des Strafens beschreibt und sich die zweite Betrachtungsweise aufgrund der Varianzbreite an Abweichungen von diesen Regeln gezwungen sieht, auf die Beschreibungskategorie der „reinen Willkürjustiz“ zurückzugreifen. Sowohl die Vorstellung eines durchregulierten Strafrechtsystems als auch die These von der reinen Willkürjustiz bedarf jedoch der Überprüfung anhand einer ausführlichen Analyse von Fallbeispielen vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen, sozialen und politischen Kontextes der betroffenen Provinz über einen begrenzten, aber zusammenhängenden Zeitraum. Dies ist für die römische Kaiserzeit im 1. Jahrhundert nur im Rahmen einer Untersuchung zur Provinz Judäa möglich. Sicherlich läuft man dabei Gefahr, sich in einer Gesamtdarstellung der Geschichte Palästinas unter römischer Herrschaft zu verlieren oder einfach nur die von Josephus geschilderten Ereignisse nachzuerzählen; deshalb kann es sich hier allein um eine problemorientierte Analyse der Fälle statthalterlicher Strafgewalt handeln. Die erkenntnisleitenden Fragen sind dabei, auf welche Art und Weise, in welchen Situationen und unter welchen Bedingungen die römischen Statthalter dort zu dieser Zeit ihre Strafgewalt ausübten, ob sie dabei an ein spezielles übergeordnetes Recht gebunden waren oder eher informelle Faktoren ihre Entscheidungen, Urteile und Sanktionen beeinflußten. Kurz gesagt geht es darum, herauszufinden, wie groß ihr persönlicher Ermessensspielraum war und nach welchen Kriterien dieser ausgefüllt wurde. Gerade der serielle Überlieferungsbestand an Fällen statthalterlicher Sanktionspraxis von verschiedenen Provinzgouverneuren bietet die einzigartige Möglichkeit einer kontextualisierenden Analyse, um zu einem Gesamtbild, einer Charakterisierung, eventuell zur Herausarbeitung eines Modells zu gelangen, welche Einflußfaktoren und Kriterien bei Ausübung der Strafgewalt des Provinzstatthalters eine wesentliche Rolle spielten und welche Auswirkungen dies wiederum auf die provinziale Ordnung hatte. Aus den für Judäa überlieferten Fällen, in denen Statthalter zur Herstellung der öffentlichen Ordnung mit militärischer Gewalt einschreiten bzw. gegenüber

Einleitung

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Individuen oder Gruppen von der Kapitalstrafe Gebrauch machen – oder bewußt davon absehen –, lassen sich Rückschlüsse in dreierlei Hinsicht gewinnen: Erstens in bezug auf die Regierbarkeit der Provinz angesichts der konkreten Herausforderungen für das römische Statthalterregiment; gemeint sind die sozialen, religiösen oder politischen Grundlagen für Protestbewegungen, vereinzelten Widerstand gegen die römische Herrschaft oder Probleme des Statthalterregiments aufgrund ausgreifenden Banditentums bzw. städtischer Konflikte. Zweitens im Hinblick auf die Funktionsweise der statthalterlichen Strafgewalt in Kooperation mit Provinzialeliten (Stadtobere, Notable, Hohepriester, Klientelkönige). Drittens hinsichtlich der (informellen) Einflußfaktoren auf die Strafgewalt der Statthalter unter Berücksichtigung persönlicher, stadtrömischer sowie provinzialer Interessenlagen, ihrer Verflechtung und Kommunikationsbasis (Beschwerde-, Klage-, Einfluß- und Informationsmöglichkeiten, wobei immer auf den Status sowie die realen Chancen der Beteiligten zu achten ist, sich Recht zu verschaffen). Damit läßt sich das erste Ziel dieser Untersuchung zusammenfassen, nämlich zu einer Charakterisierung der statthalterlichen Sanktionspraxis zu gelangen, die im Zwischenbereich rein persönlicher Willkürjustiz und Vollstreckung übergeordneter normativer Rechtsregelungen operiert. Ein zweites Ziel der Darstellung besteht in dem Nachweis, daß die in der Forschung geläufige strikte Trennung zwischen „Zwangsmaßnahmen“ und „Strafgerichtsbarkeit“, wobei letzterer ein weit höherer Formalisierungsgrad unterstellt wird, zumindest im Hinblick auf die Provinzbevölkerung ohne römisches Bürgerrecht einer Überprüfung am Quellenmaterial nicht standhält, aber auch in bezug auf Provinziale mit römischem Bürgerrecht zumindest partiell einer Revision bedarf. Die Forschungsliteratur zu den drei oben angeführten Punkten, welche die Strafgewalt des Statthalters in einen größeren Problemzusammenhang einbettet, läßt sich mindestens in drei größere Bereiche unterteilen:1 Erstens die rechtshistorische Literatur zum Provinzialrecht und römischen Strafrecht (freilich im Zusammenhang mit dem „Staatsrecht“); zweitens Untersuchungen zur Provinz Judäa, die im Rahmen der althistorischen Forschung wohl schon wegen ihrer religionsgeschichtlich universalen Bedeutung einen Sonderbereich bilden, zumal sich Nachbardisziplinen (wie z. B. Judaistik, Altund Neutestamentliche Wissenschaft, Religionswissenschaften) in umfassendem Maße mit ihr beschäftigt haben; drittens die Abhandlungen zur Gesamtstruktur des römischen Reiches, soweit sie das Verhältnis des stadtrömi1 Vgl. allg. zur Forschung und Forschungsgeschichte über die römische Kaiserzeit Dahlheim (1989).

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schen Herrschaftszentrums zu den einzelnen Provinzen und somit auch des Kaisers zu den Provinzstatthaltern und deren Untertanen in Betracht ziehen. Selbstverständlich überlappen sich die hier nur zur ersten Orientierung unterteilten Problemfelder der Forschungsliteratur mit ihren jeweiligen Untersuchungsschwerpunkten. Es sollte aber darauf hingewiesen werden, daß unsere Themenstellung eine Art Schnittpunkt der drei obengenannten Forschungsbereiche bildet, so daß es auch als Ertrag betrachtet werden kann, ihre Ergebnisse sinnvoll aufeinander zu beziehen und in einen Zusammenhang zu bringen. Die Problemstellung dieser Arbeit fällt dabei in die Lücke einer immer noch mangelhaften Kooperation zwischen Rechtshistorikern und denjenigen Historikern, die sich mit den politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder religiösen Belangen speziell zur Provinz Judäa oder aber des römischen Reiches insgesamt beschäftigen. Man kann sogleich vermuten, daß diese Behauptung auf eine oft reproduzierte Kritik an den beiden Monumentalwerken von Theodor Mommsen zum Römischen Staats- und Strafrecht abstellt, die bis heute regelmäßig den Ausgangspunkt eines Großteils der Forschungsliteratur zu unserer Fragestellung bilden. Zunächst bestätigt sich der Eindruck einer ebenso berechtigten Kritik an Mommsens Methode wie das Fehlen einer gleichwertigen alternativen Darstellung.2 Daß diese auch hier keinesfalls intendiert sein kann, bedarf eigentlich keiner Erwähnung, jedoch kann zumindest an einem Ausschnitt gezeigt werden, wie trotz – möglicherweise auch gerade aufgrund – der an Mommsen geübten Kritik seine Wirkung immer noch gewaltig ist, wenn entgegen der eigenen Intention bestimmte methodische oder inhaltliche Grundannahmen implizit übernommen werden, gleichzeitig aber eine Pauschalkritik an seinem Werk ihm in wesentlichen Punkten keineswegs gerecht wird. In dieser Arbeit wird es deshalb auch darum gehen, Mommsens Trennung zwischen einem „eigentlichen Strafrecht“ und „souveränen Herrenrecht“ aufzugeben. Denn diese hat bis in die heutige Forschung hinein dazu geführt, der Unterscheidung 2 Das Urteil von Bleicken (1975), S. 17, hat in gewisser Weise bis heute an Gültigkeit nicht verloren, obgleich seine eigene Arbeiten zur römischen Verfassungsund Sozialgeschichte sowie insbesondere das von Kunkel (1995) begonnene Handbuch als Gegenentwurf konzipiert wurden: Während die Verfassungsgeschichtsschreibung zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit „zu einem völlig neuen Ansatz in der Erforschung vergangener staatlicher Ordnungen geführt“ habe, erfuhr das ,Staatsrecht‘ Mommsens, „das ein Musterbeispiel einer rechtspositivistischen Staatsanschauung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, (. . .) jedenfalls als Ganzes keine Kritik, die Mommsens Entwurf von der römischen Verfassung berichtigt hätte, und wurde erst recht nicht durch ein neues, der Moderne genügendes Werk ersetzt; es ist zusammenhängend lediglich als ein in sich selbst ruhendes Werk behandelt und in dieser Weise auch meist nur innerhalb der Biographie Mommsens analysiert und kritisiert worden.“ Vgl. dazu a. Hölkeskamp (1997) mit weiteren Literaturhinweisen, S. 98 f., A. 27.

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zwischen Strafgerichtsbarkeit und Koerzitionsgewalt im Hinblick auf die Strafpraxis in den Provinzen allzu viel Gewicht beizumessen, sofern dabei magistratische(s) iurisdictio und imperium bzw. cognitio und coercitio als strikt abgrenzbare Sphären betrachtet werden. Eine altehrwürdige Tradition der rechtshistorisch interessierten Forschung rekurriert auf die Methode, sich hauptsächlich an zentralen Leitbegriffen zu orientieren, um welche dann das Quellenmaterial gruppiert wird. Sie verfährt nach der Logik, immer wo der „Rechtsbegriff“ x genannt wird, stets eine diesem x entsprechende Rechtswirklichkeit bzw. Rechtspraxis y zu vermuten. Problematisch ist dieser Ansatz, wenn er wegen der lückenhaften Überlieferung nicht mit einem begriffsgeschichtlichen Ansatz verbunden werden kann, mit welchem die historische Entwicklung bestimmter Termini und die Pluralität ihrer Bedeutungen über Jahrhunderte aufgezeigt und kontextualisiert werden könnte. Bleibt man dennoch an bestimmten Begriffen orientiert, so besteht die Gefahr, eine Begriffssystematik zu unterstellen, welche die Römer nicht gekannt haben. Dieser Ansatz zeigt sich z. B. noch – entgegen seiner eigenen Intention – bei den Arbeiten von Wolfgang Kunkel zum Consilium in magistratischen Strafprozessen, obgleich er sowohl methodisch als auch inhaltlich als einer der bedeutendsten Kritiker von Theodor Mommsen gelten kann. Auch in diesem Zusammenhang ist die Berücksichtigung von Ciceros Verrinen unerläßlich. Seine Reden gegen Verres, der 73–70 v. Chr. Statthalter in Sizilien war, verkörpern die umfangreichste Quelle zur Strafgewaltspraxis eines Statthalters in der Zeit der Republik. Da sie folglich eine zentrale Quellenbasis für sämtliche Untersuchungen der Strafgewalt darstellen, wurde ihnen ein eigenes Kapitel gewidmet, obgleich sich die gesamte weitere Darstellung ausschließlich der statthalterlichen Strafgewaltspraxis in Judäa widmet. Deshalb versteht sich dieses Kapitel als längerer Exkurs – insbesondere in Auseinandersetzung zu bestimmten Positionen von Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel. Möglicherweise eröffnet sich aus der Behandlung der Verrinen auch eine gewisse diachrone Perspektive, durch die man der Frage nachgehen kann, ob sich seit dem Prinzipat des Augustus für die Ausübung der Strafgewalt in den Provinzen in der Praxis wirklich einschneidende Veränderungen ergeben haben. Diese Frage wird hier jedoch aufgrund der Eingrenzung der Themenstellung nicht ausführlich behandelt. Vielmehr handelt es sich um einen Nebenaspekt, der aber schon deshalb nicht unerwähnt bleiben soll, weil für den Zeitraum zwischen der Abfassung von Ciceros Schriften und den zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. verfaßten Briefen des jüngeren Plinius den hier ausführlicher behandelten Quellen (Josephus, Neues Testament) für eine Untersuchung der statthalterlichen Strafgewalt zur Zeit des Frühprinzipats eine ganz entscheidende und eigenständige Bedeutung zukommt.

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Insgesamt wird es darum gehen, die Richtigkeit bestimmter Muster und Kriterien aus der Forschung zur provinzialen Strafpraxis der Statthalter erneut zu hinterfragen und an konkreten Fallbeispielen zu überprüfen. Falls die Aussagekraft der Quellen für ein erforderliches „Vetorecht“ im Hinblick auf bestimmte Forschungsthesen nicht ausreichen sollte, bleibt zu ihrer Revision eben nur die Darlegung von alternativen Plausibilitätskriterien. Diese werden im Rahmen der hier angestellten Untersuchung vor allem unter herrschaftssoziologischen Gesichtspunkten entwickelt, welche im Rahmen rein rechtshistorischer Untersuchungen m. E. immer noch zu wenig Beachtung gefunden haben. Das läßt sich zumindest behaupten, wenn man kein dogmatisch invariables Strafrechtssystem der Römer konstruieren will, sondern den Schwerpunkt auf die Rechtspraxis legt, die stets in die Herrschaftsstrukturen eingebettet ist und sich gerade für den Bereich der Provinzialherrschaft als äußerst dynamisch und flexibel erweisen kann. Desweiteren möchte diese Untersuchung mit einer anderen älteren historiographischen Tradition speziell zur Provinz Judäa brechen, welche ebenfalls bis in die jüngere Zeit ihren Einfluß geltend machen konnte, obgleich sie von Seiten der sozialgeschichtlichen Forschung seit den 1970er Jahren scharfe Kritik erfuhr: Gemeint ist die nachwirkende Entgegensetzung von ,Juden vs. Römer‘ anstelle einer Kontrastierung von ,Herrschern und Beherrschten‘, d. h. zwischen römischen und jüdischen Herrschaftseliten auf der einen Seite und den messianischen Bewegungen, dem Sozialbanditentum und sonstigem populärem Protest auf der anderen Seite. Verfolgt man letzteren Ansatz, löst sich auch der in der Forschung immer noch virulente Gegensatz zwischen Religion und Politik auf. Zumeist erfolgt aber die Zusammenziehung beider Gegensätze in der Gegenüberstellung von ,römischer Herrschaftspolitik‘ und ,jüdisch-religiösem Widerstand‘, die aber weder den zeitgenössischen Herrschaftsbedingungen noch den generellen Wahrnehmungen entsprach. Dieses Bild entspricht nicht der komplexen Gemengelage aus regional divergierenden ethnischen, religiösen und sozialen Gruppierungen, mit der sich ein Statthalter in Judäa konfrontiert sah, und wird auch nicht dem Aspekt der Kooperation bestimmter jüdischer Provinzialeliten mit der römischen Herrschaft gerecht. Wenn dieser Provinzialelite, insbesondere den Mitgliedern der herodianischen Dynastie und den Hohepriestern, aus der Sicht von bestimmten jüdischen Bevölkerungsgruppen die religiöse Legitimation zur Herrschaft fehlte, gerade weil sie einen hellenisierten Lebensstil pflegten bzw. bloße Marionetten der Römer waren, so stellt dies für das römische Provinzialregiment aufgrund der Singularität der jüdischen Religion sicherlich einen Sonderfall dar, zeigt aber um so deutlicher, wie fehl am Platze die Dichotomisierung zwischen Religion und Politik für die judäischen Verhältnisse ist. Über die Privilegierung bzw. Bestrafung bestimmter Gruppen übte der Statthalter in Judäa immer auch Ein-

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fluß auf die religiösen Verhältnisse aus; und die jeweils handlungsleitenden religiösen Auffassungen bestimmter Gruppen des Judentums mit ihrer Kooperationsbereitschaft bzw. Kooperationsverweigerung gegenüber dem Statthalterregiment bargen ihrerseits einen politischen Kern. Damit stellt sich das Problem, ob die aus dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zur Ausübung statthalterlicher Strafgewalt angesichts der kultur- und religionsspezifischen Besonderheiten des syropalästinensischen Herrschaftsraums als Folie für die statthalterliche Strafpraxis in anderen römischen Provinzen dienen können.3 Dazu läßt sich folgendes feststellen: Das „Scheitern“ der Römer, ihre Herrschaft über Judäa durch die Beteiligung eines einheimischen Adels – wie in anderen Provinzen – auszuüben und zu sichern, widerlegt noch nicht das dem zugrundeliegende Muster dieser Herrschaftspraxis, das zumindest bis zum Ausbruch des jüdischen Krieges erkennbar bleibt. Auch aus dem Scheitern der Praxis in einem speziellen Fall lassen sich Erkenntnisse über diese Praxis im Allgemeinen gewinnen. Falls sich aus der nachfolgenden Untersuchung ein plastisches Bild der Methoden und Bedingungen statthalterlicher Strafgewalt ergeben sollte, so käme es der über die spezielle Fragestellung hinausführenden Motivation ihres Verfassers durchaus entgegen, etwa wenn es trotz der unleugbaren Sonderbedingungen der Provinz Judäa als Vergleichsgrundlage für Arbeiten zur Regierungspraxis anderer Provinzstatthalter zur Zeit des Frühprinzipats dienen könnte. Wie bereits angedeutet, ist die Quellenlage für die hier aufgeworfene Fragestellung angesichts der für die Antike typischen Überlieferungsverhältnisse gar nicht so schlecht. Um so mehr steht die Quellenkritik doch vor beachtlichen Probleme, was im historischen Rückblick nicht zuletzt mit der religions- und universalgeschichtlichen Bedeutung Judäas in dem hier angelegten Untersuchungszeitraum zusammenhängt. Bewegt sich dabei die Quellenkritik der Josephusschriften noch im Rahmen des Üblichen, drohen die Schwierigkeiten einer Auswertung der neutestamentarischen Schriften als historische Quelle das Maß endgültig zu sprengen. Freilich hat auch die Forschungsliteratur allein zu Flavius Josephus einen Umfang erreicht, der in überschaubaren Zeiträumen nicht mehr annähernd bewältigt werden kann; der Versuch, den historischen Kern des „Prozesses“ Jesu vor Pilatus oder des Verfahrens des Apostels Paulus vor Felix und Festus der in heilsgeschichtlich-kerygmatischer Absicht verfaßten neutestamentarischen Schriften freizulegen, hat zu einer ebenso unüberschaubaren wie uneinheitlichen Forschungsliteratur geführt, die ihresgleichen sucht. Eine Konzentration auf einige, für diese Untersuchung einschlägigen Leitgesichtspunkte scheint von daher ebenso notwendig wie nachvollziehbar. Da das Werk des 3

Vgl. Goodman (1987), S. 4; Millar (1977), S. 376.

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Flavius Josephus (sieht man einmal vom zweiten Kapitel ab) die Grundlage bzw. den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet, wurde der Quellenkritik an seinen Schriften ein eigenes Kapitel gewidmet, während die Eingrenzung des Problemfeldes für die neutestamentarischen Schriften jeweils zu Anfang des Jesus- und Pauluskapitels vorgenommen wurde. Davon abgesehen schien das folgende ausführliche Einleitungskapitel zur Forschung und Methode notwendig, um den eigenen Ansatz plausibel zu machen und eine entsprechende Ausgangshypothese zu formulieren.

I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft Betrachtet man die Strafgewalt des Provinzstatthalters im Lichte der historischen Entwicklung Roms seit Schaffung der ersten überseeischen Provinz Sizilien im Jahre 227 v. Chr.,1 so lassen sich im Rahmen der nachfolgenden römischen Expansion u. a. zwei Tendenzen erkennen: erstens der Bedeutungswandel des Begriffs provincia von einem speziellen Auftrag des Senats an einen Magistraten oder Promagistraten, der anfänglich vor allem militärische Bedeutung hatte, zu einer geographischen Vorstellung, in welcher die Provinz als ein Teil des römischen Herrschaftsgebietes betrachtet wird;2 zweitens die Beibehaltung bzw. der sich eher behelfsmäßig und schrittweise vollziehende Prozeß der Anpassung stadtstaatlicher Institutionen an die Erfordernisse eines sich ausbildenden Weltreiches. Bevor wir speziell auf die Strafgewalt des Statthalters in den Provinzen eingehen, scheint ein kurzer Abriß zur stadtrömischen Strafrechtsentwicklung notwendig. Wie auch immer die Akzente des verschränkten Verhältnisses zwischen Recht und Herrschaft in der historischen Entwicklung Roms gewichtet werden, so ist seine Verfassung als Produkt eines konfliktreichen Prozesses zu sehen, bei dem die Senatsoligarchie eher sporadisch auf die Herausforderungen strukturellen Wandels reagierte und ihn im Rückblick auf die mores, instituta und exempla der Vorfahren interpretierte und legitimierte. Zwar ließ diese Oligarchie Gesetze auch durch das Volk einführen, jedoch ohne daß es dabei in Ermangelung des Initiativrechtes gegenüber der regie1

Vgl. Dahlheim (1977). Zu diesem Wandel der Wahrnehmung der Provinzen vgl. Richardson (1994). Die geographisch-territoriale Auffassung wird in der neueren Forschung verstärkt relativiert, vgl. Shatzman (1999), S. 53 f., mit Verweisen auf einschlägige Literatur; vgl. zusammenfassend auch Lintott (1981). Unabhängig von der geographischen Wahrnehmung kritisiert Kienast (1999), S. 450, A. 1, mit Verweis auf seinen Aufsatz (1968) an Dahlheim (1977), S. 277 ff., daß auch noch zur Zeit Ciceros die Provinzialen als „Ausländer“ und nicht als „Untertanen“ betrachtet worden seien. So werden sie als socii bezeichnet, was nicht bloß eine juristische Konstruktion gewesen sei, sondern auch dem Denken der Römer entsprochen hätte; erst in der späteren Kaiserzeit galten die Provinzialen als römische Bürger und subiecti des Kaisers. Wenn in der folgenden Darstellung undifferenziert von Untertanen oder auch von Provinzialen die Rede sein sollte, so verstehen sich diese Begriffe einfach als Sammelumschreibungen für Menschen, die der Amtsgewalt römischer Amtsträger (wenngleich in unterschiedlicher Weise) unterworfen waren. 2

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renden Schicht (Nobilität) eigenes Profil gewonnen hätte.3 Der Senat motivierte bestimmte Adaptionen, wie z. B. die außerordentlichen Kommanden (imperia extraordinaria) oder die Erklärung des Staatsnotstands (senatus consultum ultimum), nicht als umfassende konstitutionelle Neuerungen, denn die republikanische, historisch gewachsene Verfassung verkörperte kein stimmiges und durchsichtiges Regelsystem, sondern vielmehr die Suche der politischen Akteure, „irgendeinen brauchbaren Hebel aus der Masse der historischen Relikte der Verfassung zu finden, um sich durchzusetzen“.4 Jedenfalls kann es als ein Grundproblem der historischen Entwicklung Roms betrachtet werden, die stadtstaatlichen Strukturen der Ausweitung des Herrschaftsgebietes anzupassen und zunächst die italischen und dann die überseeischen Provinzen zu einem Herrschaftsverband zu integrieren. Die daraus resultierenden Krisen und Konflikte wirkten sich auch in starkem Maße auf das sogenannte ius publicum und insbesondere die Strafgewalt aus. Grob schematisiert läßt sich bei der Strafrechtsentwicklung eine gewisse Dialektik zwischen der umfassenden Amtgewalt der Magistrate (imperium) und der darauf basierenden Zwangsgewalt (coercitio) auf der einen Seite und – in Reaktion darauf – die Etablierung von Volks- bzw. Geschworenengerichtshöfen in Rom auf der anderen Seite feststellen. Die relativ ungebundene magistratische Strafgewalt mußte sich dabei einerseits als effektiver, andererseits aber auch als anfälliger für Mißbrauch und Willkür darstellen, wohingegen die schwerfälligen und zeitraubenden Prozesse vor dem Volk oder den großen Geschworenengerichtshöfen zwar größere 3 Vgl. zur Rolle des Volkes Meier (1965) sowie den von Jehne (1995) herausgegebenen Band im Rahmen der Debatte um die „Demokratie“ in Rom mit Verweisen auf die jüngere Forschung. 4 Vgl. Bleicken (1991), S. 82–85, Zitat S. 84. Freilich handelt es sich dabei – wie die Krisen und die Bürgerkriege des letzten vorchristlichen Jahrhunderts im Rückblick zeigen – weitgehend um die Geschichte eines Scheiterns, bei der die „gewachsene Verfassung“ als Ganzes zur Reform der Herrschaftsstrukturen niemals zur Disposition stand, da sie ein Reservoir unreflektierten Selbstverständnisses darstellte, eher Objekt vereinzelter Interessen war und folglich über den situativen politischen Willen der politischen Hauptakteure hinaus kein Mittel zur bewußten Konzeption einer umfassenden Alternative als Ausweg aus der Krise der Republik repräsentierte; vgl. Meier (1997). Die These Meiers von der „Krise ohne Alternative“ blieb nicht ohne Kritik. So erkennt z. B. Kienast (1984), S. 124, 129, in den außerordentlichen Kommanden, dem Dreibund und in der Monarchie drei Alternativen zur republikanischen Verfassung. Meier habe einen zu weiten Verfassungsbegriff, indem er Rechtsordnung als Sozialordnung verstehe, während dagegen Staat und Gesellschaft bereits geschiedene Sphären gewesen seien. Kienasts Kritik greift m. E. jedoch insofern zu kurz, als damit noch nicht dargelegt ist, ob Staatsordnung oder gewachsene Verfassung im Sinne eines Dispositivs für einen umfassenden Anpassungsprozeß hätten verstanden werden können. Erst dann hätten die sog. „Alternativen“ auch in das Bewußtsein eines aktiven und nicht nur reaktiven Wandlungsprozesses in Entkopplung von vereinzelten Herrschaftsinteressen rücken können.

I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

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Verfahrenssicherheit boten, jedoch den Anforderungen mit der zunehmenden Komplexität des römischen Herrschaftsgebildes kaum andauernd gerecht werden konnten. Stichpunktartig läßt sich die Entwicklung in groben Zügen folgendermaßen skizzieren: Aus der Erbschaft des Königtums erwuchs den führenden Magistraten seit Entstehung der Republik, zumal den Konsuln, die umfassende Kommando- und Befehlsgewalt (imperium), die ihnen auch weitgehend erhalten blieb. Eine in der Forschung weithin diskutierte Frage ist, seit wann und auf welche Art eine Volksgerichtsbarkeit entstanden ist, die der Strafgewalt der hohen Magistrate gewisse Schranken gesetzt hat, sei es als Resultat der Ständekämpfe zwischen Plebejern und Patriziern oder sei es im Rahmen der Kontrollabsicht innerhalb des oligarchischen Adelsregimes selbst, um der Tyrannis eines amtierenden Standesgenossen vorzubeugen. Wenn „über das Strafverfahren der älteren Republik überhaupt nur Hypothesen möglich“ sind,5 so besteht zudem das Problem, inwieweit die spätere Annalistik, aber auch Cicero aus freiheitlich-republikanischen Impetus spätere Entwicklungen auf die frühere Epoche zurückprojiziert haben, um sie mit der größeren Würde des Alters zu versehen. Abgesehen vom ius auxilii der Volkstribune betrifft dies speziell die provocatio ad populum, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird.6 Zunächst sei erwähnt, daß für bestimmte brisante und die öffentliche Sicherheit betreffende Fälle vom Senat oder durch Plebiszit außerordentliche Gerichtshöfe (quaestiones extraordinariae) eingesetzt wurden.7 Diese boten jedoch nur okkasionelle Abhilfe hinsichtlich der zusehends unzureichenden Volksgerichte, bildeten aber möglicherweise das Vorbild8 für die Errichtung ständiger Geschworenengerichtshöfe (quaestiones perpetuae) in Rom seit dem 2. Jahrhundert. Sie basierten auf Gesetzen, die erlassen wurden, um jeweils bestimmte Verbrechenskategorien9 dem Zuständigkeitsbereich speziell hierfür eingerichteter Gerichtshöfe zuzuordnen.10 5

Kunkel (1974a), S. 11. Vgl. unten den Abschnitt I. 3. a). 7 Diese quaestiones agierten mit jedesmal neu definierten Verfahren über Verbrechen mit politischem Hintergrund bzw. größerer öffentlicher Tragweite. Sie verkörperten eine von den Komitien unabhängige Verbrechensverfolgung, obgleich die iudicia populi formell nie abgeschafft wurden und ihnen die Verbrechensverfolgung zugestanden hätte. Jedoch setzte der Senat immer häufiger außerordentliche quaestiones ein, die sich aus den Konsuln oder einem Prätor mit Unterstützung eines Geschworenenkollegiums zusammensetzten. Die bekanntesten überlieferten Fälle für diese Gerichtshöfe sind die Bacchanalienprozesse 186 v. Chr., die Giftmordprozesse 184, 180 und 152 v. Chr., die Kämpfe im Sila-Wald 138 v. Chr. und die Verfolgungen der Anhänger des Ti. Gracchus 132 v. Chr. 8 Zum Ursprung der quaestiones perpetuae als Fortbildung der quaestiones extraordinariae vgl. Kunkel (1962), S. 57 ff., 78 ff., 134. 6

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Gerade nach dem 2. Punischen Krieg und der immensen Erweiterung des Herrschaftsraums dienten sie nicht zuletzt dazu, Amtsmißbräuche von Provinzstatthaltern und Magistraten zu ahnden.11 Spätestens im ersten Jahrhundert erwiesen sie sich trotz der weitreichenden Neuordnung unter Sulla12 als ungenügend13 und außerdem anfällig für Korruption. Einen gewissen Abschluß der Entwicklung der Quaestionenverfahren bildeten die Reformen des Augustus, in welcher die Schwurgerichte als Organe des ordo iudiciorum publicorum bestätigt wurden; gleichzeitig erwuchs ihnen seit der Zeit des Frühprinzipats aber im formfreieren Kognitionsverfahren (cognitio extra ordinem) eine Konkurrenz, welche sich ob ihrer größeren Effektivität auf lange Sicht – zumal in Orientierung an der persönlichen Gerichtsbarkeit des Kaisers – allmählich durchsetzen wird.14 Die relativ unabhängige Aus9

Hier seien nur die wichtigsten genannt, wie sie sich aus der sullanischen Gerichtsordnung ergeben, wobei die deutschen Umschreibungen freilich nur Behelfsbezeichnungen darstellen können: Hochverrat und Ungehorsam gegen vorgesetzte Staatsorgane: maiestas; Hinterziehung von Staatseigentum: peculatus; Wahlbestechung: ambitus, Erpressung in den Provinzen: repetundae; Mord, Giftmord und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit: de sicariis et veneficis; Gewaltverbrechen verschiedener Art: de vi; Ehebruch, Verführung unverheirateter Frauen: adulteriis. 10 Auf die Diskussion der Entstehung der ersten quaestiones perpetuae im Zusammenhang mit der lex Calpurnia und ihrer stufenweisen Weiterentwicklung kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Eder (1969). 11 Auf das Puzzle der hierfür einschlägigen stadtrömischen Strafrechtslegislatur mit ihren Überlieferungsproblemen, ihrem Stückwerkcharakter und überlappenden Deliktskategorien kann hier nicht eingegangen werden. Einen guten einführenden Überblick über die komplizierte Materie mit weiterführenden Literaturhinweisen bieten Cloud (1994) sowie Santalucia (1997), S. 55–77. 12 Gemäß seinem oligarchischen Restaurationsprogramm setzte Sulla das Monopol der Schwurgerichte und den Ausbau der quaestiones perpertuae auf Kosten der Volksversammlungen durch: Die lex Cornelia iudicaria 81 v. Chr. setzte die lex Plautia außer Kraft und übertrug die Geschworenengerichte wieder dem Senat, der vordem erneuert und vergrößert worden war. Einzelne Gesetze besorgten die Umorganisation bereits bestehender Gerichtshöfe und die Neueinsetzung anderer. Jedem Gerichtshof wurden bestimmte Verbrechenskategorien zugeordnet. Die anzuwendenden Verfahren sowie Strafen waren festgelegt. 13 Neu auftauchende Tatbestandsmerkmale oder solche, die unter mehrere Deliktskategorien der jeweils nur für eines zuständigen Gerichtshöfe fielen, aber auch Fälle von Tätermehrheit konnten nicht effektiv unter die quaestiones subsumiert werden. 14 Im Kognitionsverfahren extra ordinem war allein der Magistrat Herr des Verfahrens, der somit nicht nur schneller als sonst zu einem Urteil kommen konnte, sondern dessen Ermessensfreiheit gegenüber gesetzlichen Strafen es ihm auch erlaubte, Einzelfallgerechtigkeit (aequitas) zu üben; vgl. Dig. (Ulp.) 48,19,13; Horstkotte (1999), S. 306 f. Die Möglichkeit, Einzelfallungerechtigkeit zu üben, sollte darüber freilich nicht vergessen werden. Bei der Bezeichnung cognitio extra ordinem gilt es zu beachten, daß es sich im wesentlichen um einen von der uneinheitlichen Rechtspraxis abstrahierten Forschungsbegriff handelt und nicht um einen zeit-

1. Gerichtsbarkeit als problematischer Begriff

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übung der Strafgewalt der römischen Provinzgouverneure blieb parallel zu dieser hier nur grob skizzierten stadtrömischen Entwicklung der Strafjustiz kontinuierlich erhalten. Darauf kann nun ausführlicher eingegangen werden. 1. Gerichtsbarkeit als problematischer Begriff Zumeist wird die Strafgewalt des römischen Statthalters unter den Oberbegriffen ,Gerichtsbarkeit‘ und ,Provinzialverwaltung‘ abgehandelt und der Bereich der statthalterlichen Rechtsprechung als einer der drei wichtigsten Aufgabenbereiche neben der militärischen Sicherung der Provinz und Überwachung der Steuereintreibung angeführt. Der Begriff ,Verwaltung‘ sollte dabei im Rahmen der römischen Strukturgeschichte – zumindest bis in die Hohe Prinzipatszeit – keinesfalls mit der Existenz eines ausgreifenden bürokratischen Verwaltungsapparates, etwa im Sinne einer modernen Kolonialverwaltung, in Verbindung gebracht werden. Auch mit dem Begriff der ,Gerichtsbarkeit‘ stellt sich das Problem, wie man einem Kompetenzbereich bzw. Aktionsfeld römischer Provinzstatthalter gerecht werden kann, ohne dabei anachronistischen Rechtsvorstellungen zu unterliegen. Wenn hier von der statthalterlichen Strafgewalt und nicht von seiner Gerichtsbarkeit die Rede ist, so geschieht dies in methodischer Absicht. Zunächst verweist der Begriff darauf, daß Rechtsstreitigkeiten privatrechtlicher Natur unberücksichtigt bleiben und die lokale, einheimische und munizipale Gerichtsbarkeit nur mittelbare Erwähnung finden. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Ausübung des statthalterlichen Kapitalstrafrechts in seinem engen Wirkungszusammenhang zur römischen Provinzialherrschaft. Suggeriert der Begriff der Gerichtsbarkeit als institutionalisierte Rechtsprechung stärker den formaljuristischen Charakter und fordert moderne Analogien geradezu heraus, so soll der Ausdruck Strafgewalt das diskretionäre Moment der Herrschafts- und Machtausübung des Statthalters betonen. Der Begriff der Strafgewalt deutet auch darauf hin, daß die statthalterliche Strafgerichtsbarkeit nicht von etwaigen vorgegebenen Rechtsgrundlagen aus rekonstruiert werden soll, seien es Prozeßverfahrensregeln oder formale Kompetenzzuweisungen.15 Vielmehr geht es darum, den Statthalter in Aktion zu betrachten, d. h. in Situationen, in denen er von seiner Amtsgewalt Gebrauch macht genössischen Rechtsbegriff für ein genau festgelegtes Strafverfahren, vgl. Orestano (1980). Ausführlich zur cognitio extra ordinem vgl. Buti (1982), der sich jedoch hauptsächlich auf den zivilrechtlichen Vergleich mit dem Formularprozeß konzentriert; zum strafrechtlichen Kognitionsverfahren extra ordinem vgl. Pugliese (1982), S. 735 ff. 15 Dies hat auch mit der rechtsdogmatischen Überlieferungslage zu tun. Schulz, F. (1934), S. 21: Die „römische kriminalistische Literatur ist doch nach Umfang und Inhalt sehr bescheiden gewesen. Selbständige, das ganze Strafrecht und Strafverfahren umfassende Schriften kennen wir erst aus nachhadrianischer Zeit. Die vor-

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und sanktionierend in die Verhältnisse der Provinz eingreift. Denn nicht von einem eventuell bereits gegebenen Recht soll hier auf dessen Übung (Anwendung/Durchsetzung) geschlossen werden, sondern umgekehrt von dessen Übung auf eventuell geltendes Recht. Der fallrechtliche Charakter des römischen Rechts in Verbindung mit der pragmatischen Orientierung römischer Provinzialherrschaft legen eine solche Vorgehensweise nahe. Deshalb muß aber nicht davon ausgegangen werden, daß für den statthalterlichen Strafprozeß überhaupt keine Regeln galten. Aus heuristischen Gründen sei die extreme Gegenposition zur formalrechtlichen Auffassung des römischen Strafrechts von Paul Veyne angeführt. An vereinzelten Stellen seiner Bücher tritt er als scharfer Kritiker einer systematischen Betrachtungsweise des römischen Rechts auf: „Doch das Römische ,Recht‘ ähnelt so wenig den Legenden, die über es im Umlauf sind, und dem, was wir als Recht bezeichnen [. . .]. Die Sprache des römischen Rechts ist sehr viel weniger genau als die späteren Rechtsordnungen. (Tatsächlich ist erst im Mittelalter, etwa zur Zeit des Thomas von Aquin, das ,Römische Recht‘ als Modell unfehlbarer Wahrheit begrifflich gefaßt, systematisiert und abgeleitet worden). Bei den römischen Juristen selbst unterscheiden sich Worte und Begriffe erheblich voneinander. [. . .] (Die lateinischen Worte, aus denen in den modernen Sprachen diese frühen Begriffe hervorgegangen sind, entsprechen diesen nicht; denn sie sind entweder zu eng oder zu weit gefaßt.)“16 An anderer Stelle heißt es: „Das römische Strafrecht, oder das, was man so nennt, hatte kaum den Ehrgeiz, rechtsförmig zu sein; seine breiteste Grundlage war die reine, schlichte Zwangsgewalt eines Magistrats, der sich weder um formelle Dinge noch um die Rechte der Verteidigung kümmerte und die Strafen verhängte, die nicht irgendein Gesetzbuch, sondern der Brauch mit seinen Launen vorschrieb.“17 Freilich wird man sich auch mit solchen Urteilen kaum zufrieden geben können, wenn man sich die Fragen stellt, was den „Brauch“ und die „Launen“ bei Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt ausmachte, welche Einflüsse auf den Handlungsspielraum z. B. eines Statthalters einwirkten, wie sich das Verhältnis zwischen normativen Vorstellungen und persönlicher Willkür gestaltete, wenn man nicht einfach davon ausgehen möchte, daß die Strafpraxis überhaupt keine Regeln kannte. Es scheint mir angebracht, sich diesem Problem schrittweise zu nähern und den eigenen Ansatz in kritischer Auseinandersetzung mit der Forschung zu entwickeln. hadrianische Jurisprudenz scheint sich mit Straf- und Strafprozeßrecht nicht sehr gründlich beschäftigt zu haben.“ 16 Veyne (1994), S. 496, 498. 17 Veyne (1993), S. 225; vgl. auch seine an Plastizität kaum zu überbietende Darstellung der römischen Rechtswirklichkeit (1999), S. 165–168, sowie ders. (1995), S. 66–69.

2. Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel

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2. Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel a) Die Wirkung und Herausforderung durch Theodor Mommsen Von welcher Rechtsvorstellung kann überhaupt ausgegangen werden, wenn von der Strafgewalt des römischen Statthalters die Rede ist? Eine verbreitete Methode betrachtet die Kompetenzausstattung und Amtsgewalt des römischen Statthalters als eine Art Verwaltungskörper mit bestimmten Ressorts innerhalb einer aufgegliederten Befehlshierarchie im Gefüge einer rechtlich-institutionell verfaßten Herrschaftsorganisation des römischen Reiches. Dieser Ansatz unterstellt zumeist eine Jahrhunderte währende Kontinuität von juristisch-begrifflich aufgefaßten Institutionen und bringt die Annahme mit sich, daß diese als statische Einheiten aus äußerst disparatem Quellenmaterial der lückenhaften Überlieferung rekonstruiert werden könnten. Dies gilt auch für die statthalterliche Jurisdiktions- und Strafkompetenz, und zwar mit der Folge, daß diese vom jeweiligen spezifischen Kontext abstrahiert nach systematischen Ordnungskriterien als eine statische Rechtsinstitution nachgebildet wird, die den Römern als solche jedoch fremd gewesen sein muß.18 Ein solcher Ansatz neigt außerdem dazu, Rechtsbegriffen und Amtsbezeichnungen eine definitorische Systematik bzw. hierarchische Grundstruktur zu unterstellen, die der unsystematischen Anpassung an die pragmatischen Flexibilitätserfordernisse in der Ausübung der Provinzialherrschaft nicht entsprochen hat.19 Kurz gesagt, geht es um die Gefahr, dem römischen Reich eine quasibürokratische Staatlichkeit zu unterstellen, die sich erst sehr viel später in der Neuzeit herausgebildet hat. „Geht es um die substantielle und nicht formal-organisatorische Bestimmung der römischen Herrschaft“, schreibt W. Dahlheim, „so kommt es we18 Vgl. die Kritik zum rechtspositivistischen Ansatz bei Bleicken (1975), S. 36, im Verhältnis zu der Tatsache, daß der „römische Staat (. . .) von den Römern selbst niemals theoretisch-begrifflich durchdrungen worden“ sei und es „nicht einmal den Versuch einer systematischen Ordnung der geltenden Bestimmungen des öffentlichen Rechts irgendeiner Periode gegeben habe.“ Vgl. auch Dahlheim (1977), S. 4, und allgemein zur „Abneigung gegenüber der juristischen Begriffsbestimmung“ bei den Römern im Sinne eines Abstraktionsprinzips Schulz, F. (1934), S. 30 ff. 19 Schulz, R. (1997), S. 19 f., kritisiert deshalb zutreffend die handbuchartigen Überblicke von Stevenson (1975) und Arnold (1974). Zur „traditionellen“ Sichweise der römischen Provinzialherrschaft vgl. auch Shatzman (1999), S. 50–52 mit weiteren Verweisen. Vgl. auch die neue Darstellung von Ausbüttel (1998), der in seinen Einzelkapiteln im Gegensatz zur prägnanten Schlußzusammenfassung Verwirrung stiftet, wenn er in kurzen Abschnitten Amtsbezeichnungen, die (nicht immer klar abgrenzbaren) Zuständigkeitsbereiche, deren Lokalisierung, Datierung und Hierarchisierung sowie diverse kaiserliche Initiativen aus fünf Jahrhunderten zwar geballt zusammenträgt, jedoch kaum in ihrer Praxis und Funktionsweise analysiert und erklärt.

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

sentlich darauf an, diese Frage nicht unter der Hand durch die Suggestion eines geschlossenen und effizienten, der Abhängigkeit von Herrschaft sich allmählich entziehenden Verwaltungsgebildes überspielen zu lassen“.20 Doch läßt sich die Trennung zwischen formal-organisatorisch und substantiell nachvollziehen? Wer trifft diese Unterscheidung, die Römer oder die Historiker? Grundsätzlich stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis der impliziten und expliziten theoretisch-methodischen Grundannahmen in der Ordnung und Darstellung des Quellenmaterials durch die Historiographie zu den Aussagen der Quellen über die Rechtpraxis selbst. Als unübertroffenes Beispiel der Fernwirkung bestimmter Grundannahmen bis in die jüngste Forschung hinein gilt Theodor Mommsens grundlegendes Werk zum römischen Staats- und Strafrecht, mit dem sich nicht nur der rechtshistorische Zweig der Althistorie bis in die heutige Zeit auseinanderzusetzen hat. Es war der Ertrag seiner Methode, auf singuläre Weise ein ebenso umfangreiches wie disparates Quellenmaterial in rechtshistorischer Absicht in eine systematisch angelegte Synthese zu bringen. Das macht auch einen Großteil von Mommsens Wirkung aus, zumal er selbst einen wissenschaftlichen Neuanfang suggerierte, indem er auf die Anführung von zeitgenössischer Sekundärliteratur verzichtete. Seine wirkungsträchtigen Arbeiten liefern aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie sehr ein juristisches Vorverständnis die Geschichtsauffassung beeinflussen kann. Mommsens Auffassung des Staatsrechts liegt, wie Alfred Heuss gezeigt hat, die Vorstellung der pandektistischen Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts zugrunde. Danach bergen die Rechtsinstitute (und jede Rechtsordnung im Ganzen) bestimmte begriffliche und darum mit den Mitteln juristischer Logik erfaßbare Strukturen, die ihr ,Wesen‘ ausmachen und sich im Laufe der Geschichte wohl in verschiedener Weise entfalten, nicht aber in ihrem Kern verändern können.21 Auf dieser Vorstellung, so kritisierte W. Kunkel, „be20 Dahlheim (1977), S. 2; er fügt an, daß dieses „erst in der Hohen Prinzipatszeit greifbar werde.“ Auch dies ist umstritten, braucht uns aber hier nicht zu interessieren. Die Tendenz der neuesten Geschichtswissenschaft zu Frühneuzeit und Mittelalter geht wohl dahin, die Tatsache fester politischer Institutionen vor dem 18. Jahrhundert anzuzweifeln, zumindest, wenn diese als statische Hierarchien von Ämtern, Rechten und Vorschriften beschrieben werden. Vgl. Duchhardt (Hrsg. 1997); Althoff (1997); Reinhard (1999), S. 16, 37 hebt dabei stark auf die Vervollkommnung der Staatsidee zu einer eigenständigen juristischen Person ab. Tilly (1990) zeigt, daß sich das europäische Muster des Nationalstaates aus verschiedenen Ausgangsbedingungen der Beschaffung von Mitteln der Kriegsführung entwickelt und dies erst in der Neuzeit erreicht habe. 21 Heuss (1956), S. 44 ff.; Larenz (1969), S. 17 ff. zu Puchtas Vorstellung von der Genealogie juristischer Begriffe; Nippel, Rez. zu Wolfgang Kunkel (1995), in: ZfG 45 (1997), S. 548 f. Zum ambivalenten Verhältnis zwischen dem Juristen und dem Historiker Mommsen und damit zwischen „System“ und „Geschichte“ vgl. Hölkeskamp (1997).

2. Theodor Mommsen und Wolfgang Kunkel

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ruht das uns immer wieder befremdende Unternehmen Mommsens, die verfassungsgeschichtliche Entwicklung eines Jahrtausends in eine rein systematische Darstellung hineinzupressen; auf ihr die Loslösung des ,Staatsrechts‘ von seinen politischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen; auf ihr die an vielen Stellen begegnende Vergewaltigung des von ihm mit größter Sorgfalt verzeichneten Überlieferungsbefundes durch juristische Konstruktionen.“22 Auch Jochen Bleicken hat prägnant die „Kosten“ der Methode Mommsens aufgezeigt:23 die ahistorisch wirkende Gleichsetzung von Staatlichkeit und Rechtlichkeit, ja sogar die Juridifizierung außerrechtlicher Phänomene; die Einordnung aller rechtlichen Erscheinungen in ein strenges, dogmatisiertes System unter der Voraussetzung apriorisch gesetzter, quasi „vorstaatlicher“ Begriffe, aus denen rein rechtsimmanent durch deduktive Logik ein System konstruiert wird, das die Zeitdimension ausblendet; die unterlassene Thematisierung der Frage nach der Normativität des Faktischen und damit die Betonung der „Staatsidee“ auf Kosten der „Staatspraxis“. Gleichzeitig habe es Mommsen aber vermocht, sich gegen gewisse Vorwürfe zu immunisieren: Seine juristischen Begriffe seien durch Quellenbegriffe gedeckt, folglich sei ihm auch keine direkte Übertragung von Begriffen aus den staatsrechtlichen Vorstellungen seiner Zeit auf römische Verhältnisse vorzuwerfen. Ebensowenig gebe es eine direkte Übertragung von Begriffen aus dem römischen Privatrecht auf das Staatsrecht. Dadurch illustriere seine Staatsbegrifflichkeit mehr das von ihm selbst konstruierte System als daß sie eine historisch-substantielle Beschreibungsfunktion innehätte. Der letzte Satz suggeriert die Möglichkeit, als ließe sich die Methode der historischen Darstellung vom Inhalt der dargestellten Historie trennen. Genau hier liegt das zentrale hermeneutische Problem beim Verständnis von Mommsens Werk. Es geht darum, herauszufinden, wo bei ihm die Grenze zwischen Systemillustration (seines eigenen Systems wohlgemerkt) und historisch substantieller Darstellung zu ziehen ist, wenn die Römer kein Rechtssystem im Sinne Mommsens kannten. Jedoch gestaltet sich die Abgrenzung weit schwieriger, als eine Pauschalkritik vermuten läßt. Wendet man sich nämlich den Einzelkapiteln von Mommsens Strafrecht zu, so stellt sich das Problem seiner juristischen Methode auf einer konkreteren Ebene.24 Dort zeigt sich, daß Mommsen nach Art eines Juristen zumeist 22 Kunkel (1972), S. 3; vgl. ders. (1974d), S. 442 f.; Nippel, Rez.: Wolfgang Kunkel (1995), in: ZfG 45 (1997), S. 549 f. 23 Vgl. dazu die Einleitung sowie das erste Kap. bei Bleicken (1975). Auf die problematischen Lehren Mommsens in bezug auf „Dyarchie“, „Volksouveränität“ und „totales Imperium“ braucht hier nicht eingegangen werden. Auch die Überbewertung der Magistratur im Verhältnis zur Rolle des Senats bedarf hier keiner Problematisierung.

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thesenhaft einen allgemeinen Obersatz formuliert und dann die „Schranken“ seiner Geltung erörtert. Hier stellt sich die Frage, ob seine Bestimmung des Verhältnisses von Obersatz und Schrankenwirkung mehr heuristisch-methodischer Natur ist, um das Quellenmaterial überhaupt nach systematischen Gesichtspunkten ordnen zu können, ohne deshalb davon ausgehen zu müssen, für Mommsen habe diese Methode der rechtshistorischen Denkweise und Praxis der Römer entsprochen. Angesichts des häufigen Positivismusund Legalismusvorwurfs gegenüber Mommsen wäre es einer grundlegenden Diskussion wert, wo und wann dieser Vorwurf nur seiner Methode und Darstellungsweise geschuldet ist, und wann diese Kritik auch tatsächlich ein „falsches“ Vorverständnis von römischer Rechtspraxis impliziert.25 Möglicherweise werden Mommsens Obersätze, die darstellungsinhärent zumeist die Ausgangsbasis eines Kapitels oder Abschnitts bilden, in der Forschungsrezeption im Verhältnis zu den nachfolgend ausgeführten Einschränkungen bzw. Relativierungen zu ernst genommen, obgleich letztere für das Verständnis römischer Rechtspraxis weit mehr Bedeutung haben. Dies kann hier nicht ausführlich diskutiert werden; womöglich verdeutlicht sich dies aber am Beispiel seiner grundsätzlichen Trennung von Zwangsgewalt und Strafgerichtsbarkeit, auf das nun näher eingegangen wird. b) Mommsen und die magistratische Strafgewalt außerhalb Roms Unser Thema betreffend, findet sich in Mommsens ,Strafrecht‘ die Aussage: „die römische Statthalterschaft umfaßt einen Zeitraum von acht Jahrhunderten, und von dem selbstherrlichen Magistrat der hannibalischen Zeit bis zu dem bescheidenen Gerichtsvorsteher der justinianischen ist der Abstand ein ungeheurer; dennoch ist wenigstens hinsichtlich der Rechtspflege die Verschiedenheit nicht so groß, dass sich das Amt als solches nicht zusammenfassend behandeln liesse.“26 Somit scheint auf den ersten Blick der 24 Für die allgemeine Grundkonzeption des römischen Staatsrechts kommt Hölkeskamp (1997), S. 108, in Umkehrung des Urteils von Bleicken (1975), S. 42 ff., zu dem Ergebnis: „So sehr der Jurist und Systematiker Mommsen in seinen programmatischen Erklärungen, allgemeinen Überlegungen und Urteilen immer auf eine Einordnung der einzelnen Sachverhalte und Zusammenhänge in das holistisch geschlossene, metahistorisch-statische ,Gebäude‘ eines ,Staatsrechts‘ hinauswollte, so sehr blieb er auf der Ebene der konkreten Analyse und selbst der Aufbereitung der Daten für das ,System‘ ein echter Historiker, gerade weil er allein aus den Quellen die Institutionen in ihrer Entwicklung und gewachsenen ,Individualität‘ rekonstruieren wollte.“ 25 Grundsätzlich ist zu bedenken, daß es in Geisteswissenschaften durchaus möglich ist, durch einen heute vielleicht „veralteten“ Ansatz zu richtigen Ergebnissen zu kommen und durch einen vermeintlich moderneren zu falschen. 26 Mommsen (1955), StrafR, S. 231 f.

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Vorwurf einer „Entzeitlichung“ durchaus berechtigt, wenn die Statthalterschaft über bald ein Jahrtausend als eine einheitliche Institution aufgefaßt wird. Folglich wird man darauf achten müssen, wie Mommsen den zeitlich dynamischen Aspekten der Strafgewaltspraxis der Statthalter gerecht wird und in sein Strafrechtssystem integriert. Wie bereits angedeutet, bringt es sein rechtssystematischer Ansatz mit sich, daß er zunächst einen allgemeingültigen Obersatz formuliert, um anschließend nach den rechtlichen „Schranken“ seiner Geltung zu suchen. So geht Mommsen formal zunächst auch von einer strikten Abgrenzung von Zwangsgewalt (coercitio) und Judikationsgewalt des römischen Magistraten aus, um diese dann wieder in verschiedener Hinsicht zu relativieren. Für die außerstädtischen Magistrate, zumal der Statthalter, stellt sich das besondere Problem, daß Mommsens Einschränkungen ein Ausmaß annehmen, das seine Grundprämisse wieder aufzulösen droht. Dabei verläßt Mommsen jedoch nicht sein Systematisierungsschema, sondern zieht umgekehrt weitreichende Schlüsse, die mehr auf seinem Ordnungsverständnis des umfangreichen Quellenmaterials basieren als auf der Aussagekraft der einzelnen von ihm herangezogenen Quellen selbst. Der Unterschied zwischen magistratischer Zwangsgewalt und Strafgerichtsbarkeit besteht für Mommsen zunächst darin, daß erstere ein „Zwangsrecht“ darstellt, welches nicht an die Betätigung der Comitien, der Bürgerschaft oder eines Consiliums gebunden ist.27 Er erkennt den Zweck dieser Zwangsgewalt in der funktionalen Notwendigkeit, die Befehlsgewalt des Magistraten mit Zwangsmitteln auszustatten und die erforderlichen Spielräume zu schaffen, um gegen Ungehorsam vorzugehen.28 Ebenso wie Verbrechen und Strafe ein Korrelat bildeten, so Coercition und Ungehorsam, weshalb dieser auch nicht als (strafrechtliches) Delikt aufgefaßt werden dürfe.29 Somit gelte zumindest für die städtische Coercition, „dass es weder einen festen Delictbegriff gibt, noch eine feste Prozeßform noch, selbstverständlich abgesehen von dem Ausschluß bestimmter Strafmittel, feste Strafen“.30 Konsequenterweise stellt für Mommsen auch der „magistra27 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 35, 38. S. 35 betont er, dies gelte nicht nur für die stadtrömischen Magistrate der frühen Republik, sondern auch für die außerstädtischen Magistrate der späten Republik sowie unter dem Prinzipat, nachdem sie mit gerichtlichem Imperium, jedoch nicht mit militärischem ausgestattet worden seien. Aber selbst außerstädtischen Kommandoträgern habe sich das Imperium (wo es nicht als Kriegszucht auftritt) mit dem Wesen der Judikation in diese Formen gefügt. 28 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 39, vgl. S. 54, wo die Coercition als Durchführung der staatlichen Obergewalt (Imperium) aufgefaßt wird, „ohne welches es keinen bürgerlichen Gehorsam und also kein Gemeinwesen“ geben könne. Man kann darin beinahe eine Paraphrase von Cic., Leg. 3,5 erkennen. 29 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 41.

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tische Spruch, welcher die Coercition auferlegt“, kein Strafurteil dar, „sondern ein[en] Act der Administration“, der als „Ergänzung und (. . .) Gegenstück des Strafrechts“ zu gelten habe. Dem wird noch die abschließende Unterscheidung hinzugefügt: „Wie das Strafverfahren die Durchführung des staatlichen Sittengesetzes ist, ist die Coercition die Durchführung der staatlichen Obergewalt“.31 Auf diese Weise grenzt Mommsen also die coercitio als administrative Zwangsmaßnahme, die durch das Imperium des Magistraten gedeckt ist, von der „eigentlichen Strafgerichtsbarkeit (Hervorhebung GK)“ ab; denn letztere zeichne sich zumindest für das stadtrömische Gebiet durch die Mitwirkung von römischen Bürgern als Geschworene aus, sei durch rechtlich definierte Deliktstatbestände gekennzeichnet und diene der allgemeinen Aufrechterhaltung staatlich überwachter Sittlichkeit.32 Soweit lassen sich die allgemeinen Prinzipien der Trennung von Koerzitionsgewalt und Strafgerichtsbarkeit nach Mommsens Vorstellungen herausarbeiten, die freilich mehr auf eigenen Grundannahmen beruhen und keineswegs durch eine präzise Aussage in den Quellen eine Bestätigung finden.33 Seine umfangreiche 30

Mommsen (1955), StrafR, S. 40. Mommsen (1955), StrafR, S. 54. 32 Es ist schwer zu sagen, was Mommsen hier eigentlich unter „staatlichem Sittengesetz“ versteht; man wäre fast geneigt, Mommsen hier durkheimianisch zu lesen, da Émile Durkheim in seiner Rechtssoziologie ebenfalls das Strafrecht als Reaktion auf den Verstoß gegen gesellschaftliche Wertvorstellungen deutet. 33 Mommsen (1955), StrafR, S. 38, A. 1, stützt sich vor allem auf Cic., Leg. 3,6, wo dieser angeblich scharf zwischen magistratischer Coercition und Judikation unterscheide. Die Stelle, die Mommsen allein auf die Coercition bezogen wissen möchte, lautet: „Ein Magistrat soll einen ungehorsamen und straffälligen Bürger mit einer Geldbuße, mit Gefängnis oder mit Schlägen bestrafen (coercere), wenn nicht eine gleichrangige oder höhere Gewalt oder das Volk Einspruch erhebt (prohibere); bei diesem soll man Berufung einlegen können (provocare).“ Jene Stelle, die Mommsen allein auf die Judication bezogen wissen möchte, lautet: „Wenn ein Magistrat ein Urteil gefällt oder eine Strafe verhängt hat (iudicare und inrogare), soll durch das Volk eine Entscheidung über die Geldbuße (multa) oder die Strafe gefällt werden (poena certare).“ Die strenge Unterscheidung Mommsens könnte sich aus der Verwendung von coercere und iudicare ergeben. Er widmet sich im folgenden jedoch allein dem Spezialproblem, daß sowohl prohibere als auch provocare hier mit Bezug auf populus erwähnt sind, während man ersteres doch auf den Magistrat und nur das zweite auf die Bürgerschaft bezogen erwartet hätte. Der m. E. naheliegenden Frage, wieso gegen die Koerzitionsgewalt die Provokation wörtlich erwähnt ist, jedoch nicht in bezug auf die „eigentliche Strafgewalt“ im zweiten Teil, widmet er sich nicht. Nachfolgend liefert er selbst Belege für den freien Gebrauch des Verbs provocare wie außerdem zum Begriff coercitio, wobei letzterer auch eine die „Criminaljurisdiction einschliessende Bedeutung“ haben kann. Alles in allem scheint mir hier die Cicerostelle zur Stützung der Grundprämisse einer prinzipiellen Scheidung zwischen Zwangsgewalt und Strafgerichtsbarkeit überstrapaziert, wenn daraus eigentlich nur deutlich wird, daß es eben keine einheitliche und streng defi31

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Quellenauswertung kommt bezeichnenderweise vielmehr in seinen relativierenden Stellungnahmen zum Tragen, die seine Ausgangsthese wieder auszuhöhlen drohen. Diesbezüglich konzentriere ich mich im folgenden vor allem auf Mommsens Aussagen über die außerstädtischen Magistrate und die Statthalter. Diese sind im Unterschied zu den stadtrömischen Strafverfahren weit weniger in der Forschung hinterfragt worden, sofern es um das Grundproblem geht, wo eigentlich die Grenze zwischen Strafgerichtsbarkeit und Zwangsmaßnahmen auszumachen ist. Mommsen erwähnt selbst zunächst die „rechtliche Schrankenlosigkeit der außerstädtischen Amtsgewalt“.34 Er macht darauf aufmerksam, daß das Verfahren gegen den Ungehorsamen mittels der Coercition keineswegs (auch im städtischen Kontext) als „positive Schranke“ aufgefaßt werden dürfe, da die „Coercition im Rechtswege gegen jede Handlung ohne Unterschied zur Anwendung kommen [kann] und so weit sie die gesetzlichen Schranken einhält, kann sie wohl unbillig sein, niemals aber rechtswidrig.“35 Was sind nun aber für Mommsen die rechtlich-positiven Schranken der Koerzitionsgewalt? Für die Magistrate mit Imperium sowie für die außerstädtischen Imperiumsträger erstrecke sich die Koerzitionsgewalt auf die Verhaftung, zumal wenn die statthalterliche Koerzitionsgewalt die militärische und bürgerliche Amtsgewalt auf sich vereinige.36 Gerade weil das Ernierte Rechtsbegrifflichkeit gab, die für die Bestätigung von Mommsens Unterscheidung notwendig wäre. Zur Interpretation dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Provokationsrecht vgl. Martin (1970), S. 84; Lintott (1972), S. 258. Dazu, daß coercitio und häufiger coercere bis zur Zeit der späten Republik keine termini technici gewesen sind, vgl. Herzog (1884, ND 1965), Bd. 1.2, S. 637, A. 2; Kunkel (1962), S. 140 einschließlich A. 379; Ansätze dazu finden sich erst bei den Juristen der Kaiserzeit, vgl. Dig. (Ulp.) 1,16,6pr.; 50,16,131,1; Dig. (Pompon.) 1,2,2,16; Dig. (Paul.) 1,21,5,1. Eine Unterscheidung zwischen Koerzitions- und Judikationsgewalt scheint auch in einer griechischen Inschrift von ca. 100 v. Chr. aus Knidos und Delphi angedeutet, wo u. a. die Kompetenzen eines Statthalters aufgelistet werden, vgl. Crawford (Hrsg. 1996), RS, Bd. 1, Nr. 12, vgl. Z. 31–39. Nach der lateinischen Rekonstruktion (S. 250) hat der Statthalter in der Phase zwischen Niederlegung seines Amtes in der Provinz und der Rückkehr nach Rom die potestas, animaduertere coercere ius dicere iudicare, iudices recuperatores dare, praedium praediorum manumissiones, ita e iurisdictictione, uti (ei) in magistratu erat, esto isque ? (korrupte Textstelle) usque eo quoad in urbem Romam redierit esto. Wenn es stimmt, daß diese Liste – wie Crawford in seinem Kommentar S. 265 feststellt – „is the nearest which has been preserved from the Republican period to a formal definition of the powers of a provincial governor“, so fehlen uns hier bedauerlicherweise die abgrenzenden Definitionen von coercere, ius dicere und iudicare, falls sie überhaupt rechtstechnisch streng auseinandergehalten wurden und für die statthalterliche Strafpraxis eine Bedeutung hatten. 34 Mommsen (1955), StrafR, S. 35. 35 Mommsen (1955), StrafR, S. 39. 36 Mommsen (1955), StrafR, S. 39 mit A. 4.

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mittlungsverfahren aber formlos sei, sei es schwierig festzustellen, „wo die Coercition aufhört und also die Judication beginnt.“37 Wenn Mommsen im folgenden als Schranke der Koerzitionsgewalt das Provokationsrecht anführt,38 liefert er sogleich wiederum die Ausnahmen, wann dieses von römischen Bürgern nicht beansprucht werden kann, namentlich beim Tatbestand der perduellio, unter der Diktatur, bei Kriegsrecht, im Notwehrrecht gegen bewaffnete Bürger, bei diversen Militärdelikten usw.39 Konsequent kommt er bei Behandlung der perduellio bzw. maiestas zu der Feststellung: „Alles Einschreiten wegen verletzter Bundespflicht und Abfall von der Reichsgemeinschaft beruht zwar auf dem Perduellionsbegriff, kann aber im Strafrecht keine vollständige Ausführung finden.“40 Angesichts der kaum lösbaren Aufgabe, „in den das Gemeinwesen betreffenden Handlungen zwischen politischer und strafrechtlicher Verantwortlichkeit die Grenze zu ziehen“, merkt Mommsen an, daß sie für „das römische Strafrecht in der That sich theoretisch kaum gestellt zu haben“ scheint; auch praktisch sei „das Staatsverbrechen wesentlich durch seine juristische Grenzenlosigkeit nur zu oft mißbraucht und zeitweise zur Geissel der Menschheit geworden“.41 Spätestens hier wird deutlich, daß Mommsen die fehlende strafrechtliche Theorie der Römer durch eine die Trennung zwischen Zwangsgewalt und Judikation implizierende Systematik nachzuliefern versucht, sich gleichzeitig aber ihrer fehlenden Relevanz für die zeitgenössische Strafrechtspraxis durchaus bewußt ist. So bleibt man auf die formale Grenze verwiesen, daß überall, wo mit „Coercitivmitteln eingeschritten“ wurde, dies nicht eigentlich zum Strafrecht gehöre, oder noch knapper: „Die Grenze [zur Koerzitionsgewalt] gewährt der Strafprozeß.“ Aber auch hier folgt sogleich eine Einschränkung, daß nämlich im Hinblick auf die „Handhabung des Strafverfahrens ausserhalb Roms und überhaupt gegen Nichtbürger“ die Grenze „in der Spätzeit“ schwinde, „insofern die Coercition und das cognitionale Strafverfahren in dieser zusammenfallen.“42 Kurz gesagt, geht Mommsen von der Prämisse aus, daß die Zwangsgewalt dort endet, wo der Strafprozeß beginnt (oder umgekehrt); wie sich diese Grenze aber konkret ausgestaltet bzw. in der Praxis der magistratischen Amtsgewalt darstellt, bleibt unklar. Zumindest droht diese Grenze aufgrund der eigenen Relativierungen Mommsens für die außerstädtischen 37 38 39 40 41 42

Mommsen (1955), StrafR, S. 41. Zum Provokationsrecht vgl. Abschnitt I. 3. a). Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 42–49. Mommsen (1955), StrafR, S. 543. Mommsen (1955), StrafR, S. 542 f. Mommsen (1955), StrafR, S. 543.

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Magistrate zu verschwimmen. Die prinzipiell rechtliche Schrankenlosigkeit der magistratischen Strafjustiz, die Notwendigkeit von Zwangsmitteln und eines diesbezüglich weiten Ermessensspielraums, das formlose Ermittlungsverfahren, die Vereinigung von ziviler und militärischer Amtsgewalt beim Statthalter und schließlich die Betonung der schwindenden Grenze zwischen Zwangsmaßnahmen und Strafprozeß für die spätere Kaiserzeit (wobei unklar bleibt, welchen Zeitraum er genau darunter faßt und warum diese erst dann zusammengefallen sein sollen), all diese Ausführungen bringen Mommsens anfänglich scharfe Abgrenzung von Zwangsgewalt und Strafprozeß wieder zum Verschwinden. Damit bleibt nur die Möglichkeit, die von Mommsen angeführte Scheidelinie zwischen Strafgerichtsbarkeit und Zwangsgewalt nicht von der quasi schrankenlosen coercitio aus zu suchen, sondern sich dieser vom öffentlichen Strafprozeß (quaestio) bzw. der magistratischen cognitio zu nähern.43 Doch auch hier begegnet uns das gleiche Problem, nur eben von der anderen Seite, wenn Mommsen den „rein magistratischen Strafprozeß“, zumal den Statthalterprozeß als „legalisierte Formlosigkeit“ kennzeichnet und auch hier keine klare Grenze zur Koerzitionsgewalt angibt.44 Seine Charakteristika sind: Der Magistrat sei zugleich Ankläger und Richter, häufig spiele der Denunziant die Rolle des Klägers; Öffentlichkeit fordere die Sitte, jedoch nicht das Gesetz; das Verfahren gegen Abwesende sei für den statthalterlichen Strafprozeß zulässig, wenngleich freilich nur ein Notbehelf; die Verteidigung werde wesentlich als Selbstverteidigung gedacht, wobei

43 Mommsens Ausführungen lassen keine grundlegende Unterscheidung zwischen quaestio und cognitio erkennen, vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 186 ff. bes. 187, 147 ff., 339 ff. Die Cognition kann sich nach Auffassung Mommsens eben auch als öffentliches Geschworenengericht im Sinne einer Quästion präsentieren, falls der Magistrat dazu gewillt ist, Geschworene einzusetzen, jedoch kann er darauf auch verzichten, da die Cognition für ihn rechtlich weitestgehend formfrei ist. Im Hinblick auf den Statthalterprozeß hebt sich nach Auffassung Mommsens der Unterschied zwischen Quaestion und Cognition auf, vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 150: „Der magistratische Strafprozeß der Republik hat diese [die älteste Form der quaestio] in seiner ursprünglichen Form nicht überdauert“, da aufgrund ihres Versagens in Übernahme einiger Verfahrensprinzipien aus dem Privatrecht das Akkusationsverfahren eingeführt wurde (vgl. dazu ebd. S. 344 ff.), wo es eines Anklägers bedurfte und die Initiative nicht auf Seiten des Magistraten beruhte; im „Statthalterprozeß indessen und mehr noch in den befreiten obersten Gerichten der Kaiserzeit wird die Rechtsprechung im wesentlichen in gleicher Weise gehandhabt und auch das [. . .] Cognitialverfahren unter dem Prinzipat ist im wesentlichen nichts als die alte rein magistratische Inquisition.“ 44 Der Ausdruck „legalisierte Formlosigkeit“ findet sich bei Mommsen (1955), StrafR, S. 340, im Zusammenhang mit den neben Akkusationsverfahren herlaufenden „außerordentlichen Verfahren“; jedoch läßt sich dieser Ausdruck auch allgemein für Mommsens Charakterisierung der cognitio gebrauchen.

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Beistände aber zugelassen sein können; das Strafmaß und die Strafvollstrekkung hingen lediglich vom Ermessen des Magistrats ab.45 Für die Cognition des Kaisers und seiner Delegatare (folglich auch für die kaiserlichen Statthalter) sowie für die außerordentlichen Verfahren führt Mommsen noch weitere Merkmale an:46 Es gebe keine feste Form für Eröffnung und Beendigung des Prozesses; der Magistrat könne den Strafprozeß jederzeit fallen lassen, aber auch erneuern; ein Freispruch verhindere nicht die Wiederaufnahme desselben Verfahrens; die Entgegennahme von Denunziation im Sinne einer antizipierten Zeugenaussage sei „in jeder Weise gestattet“, ebenso das Recht, Zeugen zu laden und zu vernehmen; die Verteidigung reiche so weit, wie sie der Magistrat zuließe. Schließlich seien noch einige Sonderregeln in bezug auf den Status des Angeklagten zu berücksichtigen,47 die „jedoch nicht eigentlich positive Normen [sind], sondern durch den gesunden Menschenverstand oder durch die Lebensverhältnisse an die Hand gegebene Directiven, welche darum auch niemals ausnahmslos Anwendung gefunden haben werden“.48 Kein Wunder also, daß Mommsen zu Beginn dieser Beschreibung erwähnt, die Cognition entziehe sich „jeder wissenschaftlichen Darstellung“,49 was nichts anderes bedeutet, als daß sie sich aufgrund ihrer Formlosigkeit kaum systematisieren läßt und sie Mommsen folglich auch nur unter großen Schwierigkeiten in sein „System“ integrieren kann. Hier gestaltet sich also der magistratische Strafprozeß, zumal derjenige des Statthalters, rechtlich so formlos, daß er von der Zwangsgewalt letztlich nicht mehr zu unterscheiden ist. An anderer Stelle kommt Mommsen aus einer anderen Perspektive zum gleichen Ergebnis, nämlich daß durch die „schier unbegrenzte Wahrnehmungsmöglichkeit der Koerzitionsgewalt“ durch die Statthalter in der Zeit der Republik nicht eigentlich von einer Strafrechtspflege die Rede sein könne.50 Mommsen gibt in der Folge herrschaftspragmatische Motive an, aus denen sich seiner Meinung nach der provinziale Strafprozeß entwickelt hat: es sei und bleibe „die Aufgabe des Statthalters, die Unterthanen in Gehorsam und vor allen Dingen die Sclaven 45

Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 148 f., 239. Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 340 f. 47 Mommsen (1955), StrafR, S. 341, zählt darunter: die Nichtberücksichtigung anonymer Anzeigen; Nichtbeachtung der Aussage eines Sklaven gegen seinen Herrn; die Unglaubhaftigkeit der Aussagen von Unfreien ohne peinliche Befragung. Die durch „Herkommen oder Gesetz der Staatsgewalt gesetzten Schranken“, wie die „Unzulässigkeit der Körperverstümmelung“ und die „Beschränkung der Folter auf die Unfreien“ habe der Magistrat allerdings einzuhalten. 48 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 341. 49 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 340. 50 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 235–238, hier bes. 236. 46

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niederzuhalten und jede Verfehlung gegen die Regierung zu ahnden“.51 Mommsen folgert schließlich: „Was die Statthalter gethan haben, im Guten wenig und im Schlimmen viel, lässt sich durchaus bringen unter den Gebrauch oder Missbrauch der magistratischen Fürsorge für die öffentliche Sicherheit“52; und speziell zur Amtsausübung des Verres in Sizilien, „dessen Nichtswürdigkeit Cicero schwerlich stark übertrieben“ habe, fügt er hinzu, daß solch ein „Missbrauch nicht eigentlich der Strafjustiz“, sondern eben dem „schrankenlosen römischen Herrenrecht“ anzulasten sei.53 Was ergibt sich daraus für die Prämisse einer Trennung zwischen Strafgerichtsbarkeit und Zwangsgewalt im Statthalterregiment? Wozu bedarf es eines „eigentlichen“ Strafrechts, wenn die Sanktionsmaßnahmen der Statthalter im Rahmen des „schrankenlosen römischen Herrenrechtes“ bereits durch die „schier unbegrenzte Wahrnehmungsmöglichkeit der Koerzitionsgewalt“ gedeckt waren? Wenn Mommsen für die Zeit der Republik in bezug auf die Peregrinen auf die lokale Gerichtsbarkeit verweist, der Statthalter außerdem gegebenenfalls von seiner Koerzitionsgewalt Gebrauch machen konnte, die Mommsen nicht der „eigentlichen“ Strafrechtspflege zugerechnet haben will, so kann mindestens ebenso plausibel auch die entgegengesetzte These formuliert werden: daß die weitgehend formlose Coercitio ebenso wie die weitgehend formlose Cognitio grundlegender Bestandteil ein und derselben Strafrechtspflege waren.54 Das „römische Herren51 Mommsen (1955), StrafR, S. 236, vgl. S. 146 ff. Mommsen gibt S. 237 außerdem an, daß in den Provinzen zu dieser Zeit auch kaum das Bedürfnis nach einem Quästionsverfahren bestanden haben kann: „Für die fluctuierende römische Einwohnerschaft wird die prätorische Inquisition und Coercition nebst der Befugniss den Schuldigen nach Rom zu schicken, welchen den Statthaltern nicht gefehlt haben kann, in republikanischer Zeit ausgereicht haben. Für die sesshaften Provinzialen bestand das autonome Ortsgericht.“ 52 Mommsen (1955), StrafR, S. 237. 53 Mommsen (1955), StrafR, S. 238. 54 Vgl. dazu die These von Thomas, J. A. C. (1963), daß das römische Strafrecht, welches seit der Königszeit auf dem Imperium basiere, mit Ausnahme der durch Legislation eingeführten quaestiones perpetuae in Regelung nur einiger strafrechtlicher Tatbestandsbereiche, nie eigentlich die Sphäre der Coercitio verlassen habe. Die problematische Abgrenzung zwischen Koerzitionsgewalt und „eigentlicher Strafgerichtsbarkeit“ wird auch bei Mommsen (1907a), S. 396 f. besonders deutlich. Diese Passage kann als prägnante Zusammenfassung seiner Ausführungen im ,Staatsrecht‘ und ,Strafrecht‘ gelesen werden. Seine Relativierung der Abgrenzung läuft zunächst darauf hinaus, man könne „füglich beide als ordentliches und ausserordentliches Strafverfahren nebeneinander stellen.“ Sodann erwähnt er aber, daß sich die enge Zusammengehörigkeit des Strafrechts und der Coercition besonders darin zeige, daß sich das Provokationsrecht des Bürgers oder die kollegiale bzw. tribunizische Interzession gegen beides richten könne. Schließlich stellt Mommsen fest, daß das „von allen formalen Rechtsschranken gelöste Verfahren vor dem consularisch-senatorischem Gericht der Kaiserzeit und dasjenige vor dem Kaiser selbst“

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recht“ und die vorgeblich „eigentliche Strafjustiz“ sind Bestandteil ein und derselben Strafgewaltspraxis römischer Statthalter. Die Unterscheidung entstammt möglicherweise allein Mommsens Prämisse, daß Recht und damit auch Strafrecht nach seiner Wissenschaftsauffassung eben „Rechtssystem“ sein muß. Was sich nicht systematisch darstellen läßt, kann nicht mehr dem „eigentlichen Recht“ zugerechnet werden. Die Frage ist dann aber, ob es im römischen Strafrecht überhaupt ein eigentliches und uneigentliches Recht gab? Dies ist m. E. zu verneinen. Die Unterscheidung verdankt sich allein Mommsens methodischen Grundannahmen. Diese müssen freilich nicht – wie oft behauptet wird – enthistorisierend wirken; vielmehr bleibt er sich der politischen, historischen und sozialen Realität durchaus bewußt, nur daß er diese Gesichtspunkte aufgrund seines juristischen Vorverständnisses aus dem „System“ des Rechts ausklammert.55 Kurioserweise findet diese Exklusion in einem Rechtsbereich statt, der wie kein anderer aufs engste mit dem politischen Kontext verbunden ist, da eine Strafjustiz ohne die Ausübung von Herrschaft im allgemeinen und für die Provinzen im besonderen schlechterdings nicht vorstellbar ist. Die Frage, wie man sich das Verhältnis von „eigentlicher Strafjustiz“ und „souveränem Herrenrecht“ vorgestellt hat, bleibt ungeklärt. Zudem kann festgestellt werden, daß Mommsen für die Phase des Übergangs der Republik zum Prinzipat einen großen Bruch verzeichnet: „Wenn also die Statthalter der römischen Republik nichts weiter waren als innerhalb ihres Sprengels einerseits römische Civilrichter, andererseits Verwalter des souveränen Herrenrechts, so sind sie unter dem Prinzipat die eigentlichen Träger der Reichsjustiz geworden, namentlich auf dem Gebiet des Strafrechts.“56 Als Grund gibt Mommsen die Umwandlung der städtischen Vormacht zur Reichsherrschaft vermittels der Monarchie an, eine Entwicklung, die sich im einzelnen anhand der Überlieferung nicht nachweisen lasse; jedoch scheine unter Augustus die „statthalterliche Criminaljustiz bereits in vollem Umfang gewaltet“ zu haben, zweifellos unter den flavischen Kaisern sowie in den Rechtsbüchern der Folgezeit.57 sich „sowohl als unbeschränkte Coercition auffassen [lassen] wie als eigentliches Strafverfahren; in diesen Spitzen fällt beides genau genommen zusammen.“ Auch hier drängt von selbst eine Frage auf, auf die Mommsen leider nicht eingeht: Wieso nur in den Spitzen und weshalb nicht auch bei den Stellvertretern des Kaisers oder des Senats in den Provinzen? Die umgekehrte Annahme, daß wenn schon in den Spitzen nicht unterschieden wurde, dann erst recht nicht auf unteren Ebenen, besitzt mindestens genauso viel Plausibilität. 55 Vgl. ähnlich in anderem Zusammenhang zu Mommsens Auffassung des Staatsrechts Heuss (1974), S. 90. 56 Mommsen (1955), StrafR, S. 238. 57 Mommsen (1955), StrafR, S. 238 f.

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Doch wieso soll dies auf einmal der Fall sein, wieso werden die Statthalter zu Trägern der Reichsjustiz im Bereich des Strafrechts und waren es nicht bereits in der späten Republik? Würde man Mommsens eigenen Rechtsbegriff zugrunde legen, ließe sich sogar die Frage aufwerfen, ob die Statthalter je zu Trägern der Strafjustiz wurden, da ihre „strafrechtlichen“ Cognitionen den Charakter der Coercitio seiner Meinung nach nie völlig ablegten. Der Hinweis auf die Beschränkung der Gemeindeautonomie und damit der lokalen Strafjustiz für Peregrine widerspricht seiner kurz darauf getroffenen Feststellung, daß für die Peregrinen „zunächst auch unter dem Principat [. . .] nach der Anlage des römischen Reiches das rechte Strafgericht die autonome Heimathbehörde“ war.58 Seine weiteren Bemerkungen über die kleinstädtische „Winkelwirthschaft“ der Gerichte, denen es an politischer Energie fehlte, um dem Mißbrauch des formalen Rechts vorzubeugen, die das „energischere Prinzipat“ nicht hingenommen haben würde,59 verdanken sich eventuell mehr seiner zeitgenössischen Einstellung zur Entwicklung Deutschlands von der Kleinstaaterei zur Großmacht, als daß damit ein grundsätzlicher Wandel von der Republik zum Prinzipat nachgewiesen wäre. Das Argument, die Missetaten des Volesus Messala, der unter Augustus als Statthalter von Asia an einem Tage 300 Menschen hinrichten ließ, lasse sich nur schwer begreifen ohne Annahme weitgehender statthalterlicher Gerichtsbarkeit,60 greift nicht, da dieser Fall im Rahmen von Mommsens eigenen Ausführungen auch unter die statthalterliche Coercition gefaßt werden könnte. Umgekehrt ist die Behauptung, „unter Domitian“ erscheine der „statthalterliche Criminalprozeß in voller Wirksamkeit“61 wenig aussagekräftig, wenn er dabei – wie auch für die Zeit Trajans – auf einige Stellen in den Pliniusbriefen verweist. Denn es bliebt völlig unklar, was anhand dieser Quelle geltend gemacht werden könnte, das nicht auch für die Zeit Ciceros (z. B. auf die Strafgewaltspraxis des Verres) in Sizilien zuträfe, sieht man einmal ab von der Unselbständigkeit des Plinius in seiner Amtsführung und der Möglichkeit, nunmehr den Kaiser auch bei jeder Kleinigkeit um Rat fragen zu können.62 Das erste ist eine persönliche Charaktereigenschaft, das andere sagt für sich genommen noch nichts über Kontinuität oder Diskontinuität der Strafgewaltspraxis in den Provinzen aus.63 58

Mommsen (1955), StrafR, S. 239. Mommsen (1955), StrafR., S. 239 f. 60 Vgl. Sen., De ira 2,5,5; Tac., Ann 3,68,1; dazu Mommsen (1955), StrafR, S. 238, A. 1. 61 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 238, A. 2. 62 So machte Plinius noch nicht einmal davor halt, den Kaiser auch wegen der Abdeckung einer städtischen Kloake in der Provinz um Erlaubnis zu bitten, vgl. Plin., Ep. 10,98.99. 59

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Die Annahme eines Bruchs hinsichtlich der Strafgewalt der Statthalter im Übergang von der Republik zum Prinzipat, wobei die Coercitio zum „regulären Strafprozeß“ mutiert, stößt m. E. ins Leere, wenn nicht geklärt werden kann, warum entsprechende Sanktionsmaßnahmen von Statthaltern in der späten Republik kein regulärer Strafprozeß gewesen sein sollen bzw. umgekehrt solche seit augusteischer Zeit nicht auch unter die Coercitio fallen könnten. Es bleibt allein die Vermutung Mommsens, daß die „Fürsorge für die öffentliche Sicherheit, wie die Statthalter der Republik sie geübt haben, (. . .) in ihrer Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit der weitesten Erstrekkung auf die Criminaljustiz fähig“ war und durch „blosse Regulirung und Generalisirung zur ordentlichen Strafrechtspflege“ ausgestaltet werden konnte.64 Wer aber sollte diesen Prozeß vollzogen haben? Hinsichtlich einer vereinheitlichenden Regulierung des Strafrechtswesens durch die Kaiser sind, zumindest für die Zeit des Frühprinzipats, ebenso große Zweifel angebracht wie an der Annahme, daß sich die Strafgerichtsbarkeit der Statthalter unter dem Prinzipat auf einmal unter ganz anderen Voraussetzungen als zur Zeit der späten Republik gestaltet haben soll. Es bleibt unklar, wieso in den Provinzen ein Verres „Herrenrecht“ ausgeübt haben soll, ein Plinius Secundus aber ordentliche Strafjustiz. Möglicherweise haben ja beide nach Maßgabe der Zeitumstände und damaligen Rechtsauffassung mittels ordentlicher Strafjustiz römisches Herrschaftsrecht oder mittels Herrenrecht römische Strafjustiz ausgeübt, was beides auf das Gleiche hinausläuft. Zumindest kann so mit Mommsen gegen Mommsen argumentiert werden, wenn er die Coercitio und Cognitio bzw. Quaestio der Provinzstatthalter formalrechtlich gleichermaßen (zumindest im Hinblick auf Provinziale ohne römisches Bürgerrecht) als quasi schrankenlose Sanktionstypen kennzeichnet. Folglich scheint sein Ausgangspunkt einer strikten Abgrenzung zwischen Zwangsgewalt und Gerichtsbarkeit zumindest für die Sanktionspraxis der außerstädtischen Magistrate und Statthalter obsolet geworden zu sein. c) Kunkels These zum Consilium im Statthalterprozeß Es war besonders Wolfgang Kunkel, der fundamentale Kritik an Mommsens Auffassung von der selbstherrlichen Gerichtsbarkeit römischer Magistrate geübt hat, und außerdem zentrale Grundpositionen Mommsens einer Revision unterzog,65 die in der Forschung weithin Zustimmung gefunden hat.66 Dabei kommt besonders einem Gesichtspunkt zentrale Bedeutung zu: 63 Sätze wie „Unter dem Prinzipat werden auch in dieser Hinsicht die Zügel des Regiments straffer angezogen“, mögen zwar Mommsen persönlichen Eindruck widerspiegeln, helfen jedoch in der Sache kaum weiter, vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 346. 64 Mommsen (1955), StrafR, S. 240.

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Mommsen ging davon aus, daß die Hinzuziehung eines Consiliums im magistratischen Strafverfahren, welches förmlich über das Strafurteil abstimmte, zwar dem Herkommen nach früh belegt und ein „wirksames Correctiv des das römische Rechtswesen beherrschenden monarchischen Prinzips“ gewesen sei, aber nur beratende Funktion ohne Bindung für den vorsitzenden Magistrat gehabt habe.67 Kunkel vertritt dagegen die These, „daß zumindest im Kapitalprozeß die Entscheidung über Schuld oder Unschuld nicht dem Magistrat, sondern dem Konsilium oblag“; außerdem sieht er im „Wahrspruch des Konsiliums“ überhaupt erst „das Kriterium des echten magistratischen Strafverfahrens“, denn nur derjenige, „über den ein Schuldspruch der Beisitzer des Magistrats ergangen war, galt als ,verurteilt‘. Zwar konnte der Magistrat nach alter Rechtsübung auch Unverurteilte hinrichten lassen, aber nur, wenn sie entweder auf frischer Tat ergriffen oder geständig waren.“68 Daran wird deutlich, daß Kunkel Mommsens 65 So widerlegt Kunkel (1962) auf Grundlage der Arbeiten von Brecht (1939) und Bleicken (1959) die These vom zweistufigen magistratisch-komitialen Strafprozeß; ferner vertritt er, gestützt auf Heuss (1944) und Bleicken, eine andere Auffassung über das Provokationsrecht, welches sich im Rahmen der Ständekämpfe ausschließlich gegen die Koerzitionsgewalt des Magistrats und nicht gegen richterliche Entscheidungen gerichtet haben soll; außerdem findet er den Ursprung der nachsullanischen Geschworenengerichtshöfe nicht in bestimmten Rekuperatorenverfahren, sondern in den quaestiones extraordinariae, welche im 2. Jh. v. Chr. bei politischen Taten und größeren Verbrechen vermehrt eingesetzt wurden, wohingegen gemeine Straftaten in der „Polizeijustiz“ der triumviri capitales lagen und die Prätoren nur bei besonderen Umständen selbst eingriffen (demgegenüber skeptisch Nippel (1988), S. 36–47); schließlich nimmt er an, daß die Entscheidung der Schuldfrage in allen Fällen nicht dem Magistrat, sondern den Richtern, dem consilium iudicum zukam, es zudem ein klarer Rechtsverstoß war, wenn der Beklagte bei kapitalen Verbrechen nicht dem Schuldspruch des Consiliums unterworfen wurde, es sei denn, es handelt sich um geständige oder manifeste Täter. Hier wird nur auf den letzten Punkt näher eingegangen, der bereits von Brunt (1964), Rez. W. Kunkel 1962, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 32, S. 446 ff. und Garnsey (1966), S. 177 ff. scharf kritisiert wurde; vgl. auch Lintott (1972), S. 228, A. 8 u. 9, S. 253. 66 Vgl. die A. 15, S. 3 f. bei Ermann (2000) mit der großen Anzahl von Fachhistorikern, bei denen Kunkel inzwischen Zustimmung erfahren hat. Im Gegensatz zur angelsächsischen und deutschen Forschung, wo seine Lehre „in ihren grundsätzlichen Aussagen die Oberhand gewonnen hat“, lägen die Verhältnisse „speziell im italienischen Sprachraum [. . .] nach wie vor umgekehrt.“ Wenn Kunkel (1967), S. 218, selbst erwähnt, daß es wohl kein Zufall sei, „daß sich der nüchterne Tatsachensinn“ seiner angelsächsischen Kritiker seinen Begründungen am meisten zugänglich gezeigt habe, müßte man aber auch die fundamentale Kritik von Garnsey (1966), S. 167 ff., bes. 177 ff. an Kunkel berücksichtigen. 67 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 149. Dem folgt Pugliese (1982), S. 722 mit A. 12. 68 Kunkel (1967), S. 220; vgl. ders. (1962), S. 79 ff.; ders. (1995), S. 137; Dulckeit/Schwarz/Waldstein (1995), S. 69, 89, 137, referieren Kunkels These zum Consilium.

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Grundprämisse der Trennung von Zwangsgewalt und Strafprozeß mittels seiner Auffassung vom Consilium zu retten versucht, dabei aber gleichzeitig Mommsens Auffassung vom Consilium entkräften muß. Da Mommsen – wie wir gesehen haben – diese über die von ihm konstatierte Schrankenlosigkeit beider Verfahren weitgehend selbst aufgelöst hat, versucht Kunkel mit seiner These vom Consilium dem magistratischen Kapitalprozeß wieder Schranken zu setzen und gewinnt dadurch zugleich sein Abgrenzungskriterium zur Zwangsgewalt. Kunkel gesteht ein, daß es keine Quellenstelle gibt, in der das Prinzip vom bindenden Votum des Consiliums im Kapitalprozeß des Magistraten ausdrücklich bezeugt wäre.69 Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, seine These umfassend zu verallgemeinern und sowohl für die Republik als auch für die Prinzipatszeit70 auszuarbeiten: Bezogen sich seine Ausführungen zunächst auf das „ältere römische Strafverfahren“ in vorsullanischer Zeit,71 so glaubt er außerdem besonders in den aus Ciceros Verrinen überlieferten Fällen der Kapitalgerichtsbarkeit eine Bestätigung für die generelle Bindungswirkung des Consiliums im Statthalterprozeß zu finden,72 um von diesen 69 Kunkel (1967), S. 221 mit der Bemerkung, daß er dann ja den Nachweis gar nicht hätte anzutreten brauchen. Er möchte jedoch für sich (S. 218) in Anspruch nehmen, daß diese These aufgrund des uneindeutigen Quellenmaterials mindestens genau dieselbe Plausibilität besitzt, wie Mommsens These von der selbstherrlichen Magistratsjustiz. S. 233 heißt es: „Für eine Kapitaljurisdiktion des Magistrats ohne Schuldspruch des Konsiliums (abgesehen von den Fällen des Geständnisses und der Ergreifung auf frischer Tat) gibt es in den Zeugnissen über den Provinzialprozeß gegen Peregrinen keinen unzweideutigen Beleg.“ 70 Vgl. diesbezüglich den begriffsgeschichtlichen Befund zur Kaiserzeit bei Kunkel (1974b), S. 35, der es ihm erlaubt, nicht nur bei Verfahren, wo eine Wortform von quaerere auftaucht (mit Rückschluß auf eine quaestio), sondern auch dort, wo cognoscere in den Quellen erwähnt ist (mit Rückschluß auf eine cognitio), seine These von der Gebundenheit des Magistrats an das Votum des Consiliums zu vertreten: Während quaerere „stets auf das Strafverfahren vor einem consilium iudicum beschränkt blieb“, wurde cognoscere „für jede Art der Untersuchung eines Sachverhalts“ gebraucht. In der Kaiserzeit verschwanden quaerere/quaestio als technische Begriffe des Strafverfahrens zusammen mit den ordentlichen Geschworenengerichten und cognoscere/cognitio „breiteten sich mit der Beamtenjustiz mehr und mehr aus, um schließlich allein das Feld zu behaupten.“ Man beachte auch den Hinweis: „wo quaestio späterhin noch im Zusammenhang eines Kriminalprozesses vorkommt, bezeichnet es die Befragung auf der Folter“, so schon bei Tac., Ann. 15,57,1 und wohl auch bei bei Plin., Ep. 7,6,9. Vgl. aber auch schon Cic., Part. or. 118. 71 Vgl. bes. Kunkel (1962), 72 ff.; ein Resümee seiner Hauptthese in ders. (1974b), S. 42. 72 Vgl. etwa das Resümee Kunkel (1974c), S. 413: „Es gibt keine verläßlichen Anhaltspunkte für die Annahme, es habe dem Statthalter freigestanden, ein vom Votum des Konsiliums abweichendes Urteil zu verkünden oder das consilium nicht abstimmen zu lassen oder gar von der Zuziehung eines Konsiliums bei einer Strafgerichtsverhandlung abzusehen. Die Fälle, in denen in Sizilien römische Bürger

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wiederum a fortiori auf die hauptstädtischen Verfahren,73 zumal die quaestiones extraordinariae zu schließen74 und endlich noch das Kaisergericht einer dahingehend umfassenden Untersuchung zu unterziehen.75

ohne Befragung eines Konsiliums (indemnati, wie Cicero sagt) hingerichtet worden sind, gehörten nach Verres’ Auffassung nicht in den Bereich der Strafjustiz, sondern in den des Kriegsrechts; er betrachtete und behandelte diese Bürger (ob mit Recht oder Unrecht, kann dahingestellt bleiben) als flüchtige Sertorianer, als Seeräuber und als Teilnehmer an dem in Süditalien wütenden Sklavenaufstand, d. h. als hostes, die keinen Anspruch darauf hatten sich vor Gericht zu verteidigen.“ Zum letzten Punkt vgl. ausführlicher ders. (1967), S. 235 ff., bes. 240 f. Vgl. zur Gesamtthese auch das Resümee ders. (1974b), S. 106 f., wie vor allem in ausführlicher Darlegung des Materials ders. (1967), 231 ff. 73 Einen Sonderfall bilden Ausführungen zu den tresviri capitales von Kunkel (1974b), S. 49, wo er aus der lex Cornelia de sicariis des Sulla ein „kapitales Polizeiverfahren“ ableitet, welches sich gegen „kriminelle Elemente unter den Sklaven und in der Unterschicht der Bürgerschaft“ richtete, die vermutlich ohne Geschworenengerichte hingerichtet wurden, soweit sie habhaft und geständig waren sowie selbst von Amts wegen ergriffen wurden, und dann nur in zweifelhaften Fällen das Consilium entschieden habe. Vgl. a. ders. (1974a) 12 f. und ausführlicher ders. (1962), 71 ff. Sowohl von rechtshistorischer Warte aus [vgl. hier nur die Rez. zu Kunkel 1962 von Bleicken (1964), Gnomon 36, S. 704; Brunt (1964), RHD 32, S. 445; Fuhrmann (1967), GGA 219, S. 81–98; vgl. auch Robinson (1981), S. 214] sowie Galsterer (1996), 402 f., aber auch im Hinblick auf Kunkels sozialhistorische Prämissen wurde seine These kritisiert, vgl. Nippel (1988), S. 40 ff. Hier ist darauf nicht näher einzugehen. Interessant scheint mir jedoch die Überlegung, daß falls man Kunkel zustimmen würde, ein Blick auf die Strukturäquivalente des Aufgabenbereiches der Statthalter in unruhigeren Provinzen gestattet sein müßte, da er ebenfalls mit einer weit größeren Zahl von Untertanen ohne Bürgerrecht konfrontiert war, außerdem im Hinblick auf Räubertum und Verbrecher einschreiten mußte, wenn die munizipalen Ordnungskräfte versagten usw., folglich je nach sozialem und rechtlichen Status des Beklagten oder Schwierigkeit des Falles nach eigenem Ermessen ein Consilium einsetzen konnte oder nicht, zumal die Statthalter anders als die tresviri ein Imperium, eine Judikationsgewalt oder die Koerzitionsgewalt vorzuweisen hatten. 74 Vgl. Kunkel (1974b), S. 48, wonach „an der Allgemeingültigkeit dieses Prinzips kein Zweifel bestehen“ kann; vgl. auch ders. (1974c), S. 413 und ausführlicher ders. (1967), S. 222–230. 75 Vgl. Kunkel (1968) speziell in Auseinandersetzung mit Crook (1955) in bezug auf das Consilium beim Kaisergericht. Kunkel stellt plausibel heraus, daß das Consilium des Kaisers nicht ad hoc und aus Mitgliedern seiner Freunde zusammengerufen wurde, sondern aus führenden Leuten des Senats, wodurch ein formaler Prozeß mit Votum etabliert worden sei. Lintott (1972), S. 228, A. 9 merkt dazu an, daß dies jedoch nur den Wunsch des Kaisers zeige, den Verdacht von willkürlichen Urteilen zu vermeiden. Für die Zeit der Republik zeige jedoch die Haltung gegenüber Popillius Laenas, Opimius, Metellus Numidicus (nach dem Turpilius Prozeß) und Cicero selbst, daß eine Entscheidung auf die Empfehlung eines Consiliums als Urteil des Magistraten galt. „The support of the consilium would usually make a verdict more acceptable to the public at large, but, if the verdict was unacceptable, it was the

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Dabei ist festzustellen, daß Kunkel aufgrund des Fehlens eindeutiger Quellenaussagen gezwungen ist, mit Grundannahmen zu operieren, welche sich vereinfacht folgendermaßen zusammenfassen lassen: Erstens geht Kunkel noch weit konsequenter als Mommsen von einer strikten Trennung von Coercitio und Jurisdictio aus, wobei das zentrale Kennzeichen für den regulären Strafprozeß das Consilium ist. Zweitens geht er davon aus, daß überall dort, wo das consilium im Strafprozeß erwähnt ist, es sich um ein Urteil de consilii sententia handelt. Dies bedeutet für ihn drittens, daß der römische Magistrat an die Entscheidung des Consiliums gebunden war, also nicht selbst das Urteil fällte, sondern dieses nur verkündete. Bei allen anderen Fällen gehe entweder ein Geständnis voraus oder es handle sich um einen manifesten Täter. Freilich formuliert Kunkel nirgendwo explizit dieses Schema, jedoch kann es durchaus als sein implizites Deutungsmuster betrachtet werden, auf das hin er sämtliche Quellenaussagen interpretiert, seien sie – wie er selbst häufiger eingesteht – auch noch so zweifelhaft.76 Prinzipiell ist Kunkel zur Stützung seiner These stets darauf angewiesen, entweder e silentio oder a fortiori mit Analogieschlüssen zu argumentieren, was angesichts des fragmentarischen Quellenmaterials durchaus legitim ist. Ein häufiger wiederholtes Argument besteht darin, daß wenn der Statthalter Verres in Sizilien Strafurteile de consilii sententia sogar über Sklaven und Peregrine vollstrecken ließ, bei römischen Bürgern im hauptstädtischen Verfahren erst recht davon ausgegangen werden müsse, daß die Urteile nach Abstimmung des Consiliums gefällt wurden, da der Magistrat hier weit weniger Handlungsfreiheiten hatte.77 Einen hierfür einschlägigen Anmagistrate who took the blame.“ Vgl. jetzt Ermann (2002) am Beispiel das Falls von Cn. Piso pater. 76 In methodischer Hinsicht folgt er dabei einer einseitigen Begriffslogik bzw. einem Begriffspositivismus, den er selbst in bezug auf andere Rechtsbegriffe oder in allgemeiner Charakterisierung des römischen Strafrechts, zumal angesichts seiner Kritik an Mommsen, ablehnt. Sicherlich läßt sich diese Methode mit Ermann (2000), S. 4 damit entschuldigen, Kunkels Theorie lebe „nicht von einem einzelnen Baustein, sondern davon, daß sich ihre Teile zu einem in sich schlüssigen und vor allem plausiblen Gebäude zusammenfügen“, auch wenn „der eine oder andere von Kunkels zur Begründung seiner Meinung herangezogene Beleg bei isolierter Betrachtung auch anders interpretiert werden kann“; jedoch sollte man sich dann bei allem gebührenden Respekt zumindest bewußt sein, daß eben genau die „Konstruktion von Gebäuden“ zwar imponierend, deshalb aber noch nicht in allen Teilen richtig ist, zumal Kunkel, angesichts seiner Kritik an Mommsen, dem wohl selbst hätte zustimmen müssen. 77 Vgl. bes. Kunkel (1967), S. 244, wo er zu dem abschließenden Urteil kommt: „Wenn es aber, wie ich meine, eine Kapitaljurisdiktion des Statthalters über die in seiner Provinz weilenden römischen Bürger gegeben hat, so muß ein Statthalter, der selbst über Peregrinen und Sklaven de consilii sententia urteilte, bei ihrer Ausübung erst recht an den Schuldspruch der Beisitzer gebunden gewesen sein.“ Damit revidiert Kunkel seine Aussage in ders. (1962), S. 82 f., wo er noch davon ausging, daß

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haltspunkt erblickt Kunkel noch in der besonderen Tatsache, daß sowohl in einem stadtrömischen Prozeß vor den Konsuln wie in einem Provinzialprozeß die ampliatio erwähnt ist:78 Diese ampliatio lief auf eine Wiederholung der ganzen Verhandlung hinaus, wenn ein erheblicher Teil des Consiliums sich noch nicht imstande sah, eindeutig für Verurteilung oder Freispruch zu votieren. Wäre der Magistrat ein ungebundener Entscheidungsträger gewesen, so hätte es für die Herbeiführung einer Entscheidung dieses umständlichen Verfahrens nicht bedurft.79 Zusammengenommen spielen die über Ciceros Verrinen tradierten Aussagen zum statthalterlichen Strafprozeß eine zentrale Rolle für Kunkels These von der Bindung des Magistraten an das Votum des Consiliums, die bei ihm letztlich auf die Behauptung der „Allgemeingültigkeit dieses Prinzips“ hinauslaufen.80 Auffällig ist an Kunkels Ausführungen die Diskrepanz zwischen den anfänglichen Darlegungen, gegen die zunächst nichts einzuwenden ist, und der weitreichenden Schlußfolgerung, daß dort, wo de consilii sententia geurteilt wurde, der Statthalter an den Spruch des Consiliums gebunden gewesen sei. Zunächst ist festzustellen, daß die Formel allein darüber überhaupt noch nichts aussagt; ferner besagt auch die Tatsache, daß sogar Peregrine und Sklaven unter Hinzuziehung eines Consiliums verurteilt wurden noch nichts darüber, in welcher Form dabei das Consilium mitin den Provinzen den Statthaltern generell das Recht zu kapitaler Bestrafung von Peregrinen auch ohne Spruch des Konsiliums zugestanden habe, sie von dieser Befugnis jedoch nur ausnahmsweise Gebrauch gemacht hätten. Zur größeren Formfreiheit des Strafprozesses in den Provinzen vgl. a. Kunkel (1974b), S. 78. Pugliese (1982), S. 728, A. 12, nimmt gegen Kunkel an, daß der Statthalter nicht unbedingt an das Votum des Consiliums gebunden war und er das Consilium auch mit Personen nach politischen Opportunitätsgründen besetzen konnte (und nicht nach rechtlichen Regeln, wie in den stadtrömischen Geschworenengerichtshöfen). Deshalb geht Pugliese im Gegensatz zu Kunkel (mit Verweis auf Cic., 2 Verr. 1,71 ff.; 2,68; 5,114) davon aus, falls kapitale Strafurteile in den Provinzen de consilii sententia sogar gegen Perigrine und Sklaven gefällt würden, aufgrund der Schutzwirkung der leges Porciae und lex Sempronia noch nicht einmal eine einheitliche Meinung des Consiliums genügte, um Todesurteile über römische Bürger in den Provinzen zu fällen, zumal diese (außer bei Militärdelikten) dann immer noch verlangen konnten, in Rom vor Gericht gestellt zu werden. Hier zieht Pugliese m. E. auf Basis berechtigter Kritik an Kunkel Schlüsse in die falsche Richtung, scheint ihn sogar im Glauben an die Effektivität der genannten Schutzrechte zu überbieten. Immerhin wirft er aber noch die Frage auf, ob in den Provinzen überhaupt Formen oder Institutionen existierten, die in der Lage waren, römischen Bürgern größere Schutzrechte zu gewähren. Seine Antwort lautet nur: „una risposta affermativa generale non sembra possible.“ 78 Vgl. Cic., Brut. 85 ff.; 2 Verr. 1,74. 79 Vgl. Kunkel (1967), 227–230 einschließlich A. 46; ders. (1974c), S. 413 f.; ders. (1974b), S. 85; Vgl. a. Mommsen (1955), StrafR, S. 425 ff. 80 Vgl. bes. Kunkel (1974b), S. 48.

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

wirkte; auch die Möglichkeit, vermittels Koerzitionsgewalt ohne Consilium gegen Aufständische vorzugehen, vermag die Rolle des Consiliums im Strafprozeß nicht zu erhellen. Davon abgesehen kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Statthalter auch außerhalb eines Strafprozesses vor schwerwiegenden Entscheidungen ein Consilium einberufen haben könnte. Schließlich könnte der Begriff consilium auf abweichende Formen der Mitwirkung eines Personenkreises an der statthalterlichen Entscheidungsfindung verweisen.81 Am besten scheint noch Kunkels Argument hinsichtlich der ampliatio geeignet, seine Behauptung zu stützen. Leider sind wir jedoch nicht genauer darüber unterrichtet, unter welchen konkreten Bedingungen es zu dieser Verfahrensweise kam.82 Allgemein ist bemerkenswert, daß Kunkel seine These auf das gleiche Quellenmaterial stützt, mit welchem Mommsen zu genau entgegengesetzten Schlußfolgerungen kam. Alles in allem erhärtet sich der Verdacht, daß Kunkels These keine durch die Quellen gestützte Aussage darstellt, sondern eine Behauptung, die auf der Grundannahme fußt, daß, dort wo consilium bzw. die Formel de consilii sententia in den Quellen erwähnt ist, die Bindungswirkung immer schon vorausgesetzt wird. Wenn an der grundsätzlichen Tatsache der Heranziehung eines Consiliums durch den Statthalter aufgrund einer Vielzahl von Belegen kein Zweifel bestehen kann, zudem die Funktion eines Consiliums plausibel erscheint, die Akzeptanzschwelle für eine statthalterliche Entscheidung zumal in heiklen Fällen zu erhöhen und gegen spätere Vorwürfe abzusichern, etwa man habe allein aus Wut, Zorn oder Voreingenommenheit eine Entscheidung gefällt,83 so sagt dies 81

Ich werde darauf im Darstellungsteil an den einschlägigen Quellenstellen zurückkommen. Hier sei nur auf die Belege für ex consilii sententia aus den Pliniusbriefen (vgl. Plin., Ep. 5,1,5 f. für eine zunächst außergerichtliche Prüfung einer Erbrechtsangelegenheit; Ep. 6,31,12 als Beisitzer im consilium des Kaisers) hingewiesen, die Kunkels These für die republikanische Zeit zwar ob ihrer späteren Datierung nicht eindeutig widerlegen, jedoch als Hinweise gelten können, daß seine Vermutung für das Ende des 1. Jh. n. Chr. wenig plausibel sind; vgl. Weaver (2002), S. 52, der Ausdruck stehe dafür, daß man zu einem Urteil und seiner Verkündung gekommen sei, dies aber keinesfalls eine kollektive Entscheidung bedeute. „The magistrate ist not obliged to follow the advice of his consilium, but only to listen to it.“ 82 Vgl. zur ampliatio unten den Fall aus Ciceros Verrinen in Abschnitt II. 2. e). 83 Besonders erwähnt sei die relativ neu entdeckte Inschrift zum Senatsbeschluß aus dem Jahre 20 n. Chr. gegen Cn. Calpurnius Piso, den ehemaligen Statthalter von Syrien, der u. a. die beispiellose Grausamkeit begangen habe, Soldaten sine consili sententia hinrichten zu lassen, vgl. in der Edition von Eck/Caballos/Fernández (Hrsg. 1996), S. 42 ff., Z. 50 ff. mit Kommentar S. 169. Vgl. auch Diod., Sic. 37,22a zu dem Vorwurf an Sertorius, daß er während seiner (illegalen) Herrschaft in Spanien bei Kapitalprozessen keine Berater herangezogen, sondern das Urteil allein und nicht öffentlich gefällt habe.

3. Die Heterogenität der Rechtsquellen

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noch nichts darüber aus, ob der Statthalter an das Votum des Consiliums gebunden war und es sich andernfalls nicht um ein Strafurteil, sondern um die Ausübung von Koerzitionsgewalt gehandelt hat. Insgesamt scheint eine eigenständige Analyse der Kapitalstrafrechtsfälle, so wie sie uns aus den Reden Ciceros gegen Verres überliefert sind, unumgänglich, um der Frage nachzugehen, ob die These Kunkels zum Consilium wirklich Mommsens Sicht der „selbstherrlichen Strafgerichtsbarkeit“ in Frage zu stellen vermag. Bevor darauf im zweiten Kapitel ausführlich eingegangen wird, seien zuvor noch einige weitere allgemeine Punkte angesprochen, die für das Thema der statthalterlichen Strafgewalt von Bedeutung sind. 3. Die Heterogenität der Rechtsquellen Ein wichtiges Problem stellt sich in der Frage, ob bestimmte Informationen aus den fragmentarisch überlieferten Rechtsquellen in ihrer Geltung verallgemeinert werden können, welche grundsätzlichen Annahmen generelle Plausibilität für sich beanspruchen können oder nur vor dem Hintergrund der jeweiligen zeitlichen und räumlichen Umstände, der lokalen Traditionen oder der individuellen Handlungsweisen bestimmter Statthalter verstanden werden sollten. Die Rechtsquellen selbst vermitteln nicht den Eindruck einer vereinheitlichten römischen Rechtspolitik in bezug auf die Ausübung der Provinzialherrschaft. Bezüglich des ius civile und ius honorarium gab es – soweit bekannt – keine generellen Regelungen, die in allen Provinzen gültig waren. Den zahlreichen leges de provinciis ermangelt es schon allein wegen der immensen Unterschiede zwischen den Provinzen an Uniformität: Es gab keinen Magistrat für alle Provinzen; der praetor urbanus war für die Gerichtsbarkeit aller Bürger verantwortlich, der praetor peregrinus für Fälle zwischen Bürgern und Peregrinen. Wir wissen heute nicht einmal, ob es ein einziges Edikt gab, welches alle Provinzen abdeckte. Die Frage, wo und wann neue Regelungen des Zivilrechts automatisch in den Provinzen angewandt wurden, ist weiterhin ungeklärt.84 84 Zur Diskussion der Frage nach der rechtsvereinheitlichenden Politik vgl. Galsterer (1986), S. 13–27, dort u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit Wolff (1980) und Bleicken (1982). Zur Frage, inwieweit der römische Kaiser in der Lage war, das Imperium administrativ zu durchdringen und den staatlichen Willen durchzusetzen, vgl. Eck (1995), S. 55–79, der S. 57 ff. auch einige Beispiele kaiserlicher Edikte mit weiträumigerem Geltungsanspruch angibt. Zum Provinzialrecht vgl. auch Kunkel (1995), S. 354 ff.; Horstkotte (1999), S. 307, verweist auf Untersuchungen, die bes. für den nichtromanisierten Osten hervorgehoben hätten, wie sehr mit verfahrensrechtlichen Unterschieden zwischen den Provinzen und innerhalb derselben

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

Bei den Digesten steht man vor dem Problem ihrer Rückprojizierbarkeit und ihres Geltungsbereiches, da es sich um den Versuch einer Zusammenfassung des gesamten geltenden Rechts, insbesondere des Juristenrechts handelt. Initiiert wurde die Rechtssammlung von Kaiser Justinian erst zu Anfang des 2. Drittels des 6. Jahrhunderts, die sich aber bereits auf die Vorarbeiten der großen Rechtsschulen in Beirut und Konstantinopel stützten konnte. Das Juristenrecht entstammt der Zeit der Rechtsgelehrten aus dem späten 1. und 2. Jahrhundert, größtenteils aber aus der späteren Severerzeit (193–235 n. Chr.), welche ihrerseits wiederum das Recht aus verschiedenen Jahrhunderten gesammelt haben. Somit umfassen die ältesten und jüngsten Bestandteile des Corpus Iuris Rechte aus einem Zeitraum von 600 Jahren. Daraus resultiert das große Problem, festzustellen, inwieweit welcher Rechtssatz auch in dem hier behandelten Zeitraum gegolten haben könnte, zumal sich in der Begriffswahl Verschiebungen, in Autorschaft, Datierung und Geltungsanspruch eines Gesetzes Fehleinschätzungen sowie allgemein die Schwierigkeiten mehrfacher redaktioneller Überarbeitung ausgewirkt haben können.85 Als die wichtigste rechtliche Basis für das Provinzialregiment wird gemeinhin die jeweilige lex provinciae angesehen. Zwar werden diese gewöhnlich leges genannt, obgleich sie wahrscheinlich nicht die hierfür üblichen Versammlungen in Rom passierten, sondern eher ein Dekret eines Feldherrn darstellten (manchmal unter Beratung eines Zehnmännerkollegiums aus Senatoren), welches darauffolgend vom Senat ratifiziert wurde.86 Für viele Provinzen gibt es kein Anzeichen für die Existenz eines Provinzialgesetzes, und selbst dort, wo dies der Fall ist, wie die Lex Rupilia für Sizilien aus dem Jahr 132 v. Chr., wird deutlich, daß der Consul P. Rupilius bereits vor dieser Zeit Prozesse verhandelt hatte. Es gibt kein Anzeichen dafür, daß er erst aufgrund einer lex provinciae dazu ermächtigt gewesen wäre. Die leges provinciae wurden wahrscheinlich nicht erlassen, um den Statthalter das Recht zur Jurisdiktion zu erteilen; vielmehr sollten sie die Anzahl und Typen von Fällen beschränken, über die er urteilen sollte, folglich die Provinzialen davon abhalten, ihn allzu sehr mit ihren lokalen Querelen zu belasten.87

Provinz zu rechnen sei. Vgl. zur lex municipalis ergänzend Galsterer (1987) mit der These, daß es weder zur Zeit der Republik noch zur Kaiserzeit (1. Jh. v. bis 1. Jh. n. Chr.) ein statutenmäßig vereinheitlichtes Schema für die Rechte der Minuzipien oder Kolonien gab, die über lokale Reichweite hinausgingen. 85 Vgl. allg. Koschaker (1958), S. 62 ff.; Bleicken (1995), S. 262–276; Kunkel (1990); Stein, P. G. (1996). 86 Vgl. Richardson (1994), S. 589. 87 Vgl. Richardson (1994), S. 589.

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Bruchstücke davon haben sich hauptsächlich in den Schriften Ciceros und des jüngeren Plinius zu den Provinzen Sizilien und Pontus-Bithynien erhalten. Diese zeigen, daß die lex provinciae wohl vor allem Regelungen zu den Grenzen zwischen den Stadtterritorien und dem ager publicus sowie zu den verschiedenartigen Organisationsformen der Steuerentrichtung und Bestimmungen über die Stadtverfassungen zum Inhalt hatten. Auch wenn sich bestimmte dieser Elemente in beiden Provinzialgesetzen wiederfinden, weisen sie an bestimmten Punkten bereits in nur diesen beiden Fällen Unterschiede auf. Einer der wichtigsten Teile spezifiziert die Anzahl, Folge, Dauer und den Ort des statthalterlichen conventus, jedoch finden sich keine Anordnungen, wie die Provinzialbevölkerung regiert werden sollte.88 Teile der lex provinciae wurden in jene Edikte aufgenommen, die der Statthalter vor seiner Ankunft in der ihm zugeteilten Provinz veröffentlichte. Über das bekannteste Statthalteredikt, nämlich dasjenige von Cicero für Kilikien, wissen wir, daß es besondere Bestimmungen zu den Stadtfinanzen, Schulden, Zinsen und Verträgen, zu Teilen des Erb- und Bodenrechts zum Inhalt hatte und Materien regelte, die die Steuerpächter (publicani) betrafen.89 Abgesehen von diesen Regelungen, beschränkte es sich auf die Ankündigung, von den decreta et edicta urbana Gebrauch zu machen90 und ließ somit für den Statthalter durch seine vagen Bestimmungen 88 Zu den leges provinciae vgl. Galsterer (1986), S. 16; Schulz, R. (1997), S. 95– 98; Kunkel (1995), S. 360 f.; Shatzman (1999), S. 51 ff.; Lintott (1981), S. 58–61. Plinius zitiert die lex Pompeia aus dem Jahre 63 v. Chr., vgl. Plin., Ep. 10,79,1. 4; 10,80. Cicero erwähnt die Dekrete des Rupilius, die die Sizilianer lex Rupilia nannten, aus dem Jahr 132 v. Chr., in dem Sinne, daß Streitfälle zwischen Griechen nach ihrem Recht abgeurteilt werden sollen, vgl. Cic., 2 Verr. 2,32 ff. 90. 125. Zudem nahm Cicero auch Regelungen des Statthalters in Asia, Mucius Scaevola, in sein eigenes Edikt auf sowie das Gesetz, welches P. Lentulus Spinther den Zyprioten 57 v. Chr. gab. Zu den Referenzen auf die lex Cornelia, welche die Wahlen in der Provinz Asia in Augustus’ Zeit regelte, Lintott (1993), S. 28: „These leges were certainly used to bring order to a province either after annexation (Bithynia, Cyprus) or a great upheaval like the first slave-revolt in Sicily. However, they are not strong enough evidence for a uniform regular procedure for establishing Roman rule“. Vgl. ebd. zu den formulae, S. 28 f., den Statthalterdekreten, S. 29 f.; lex agraria (110 v. Chr.), S. 30, zusammenfassend, S. 31 f.: „We cannot therefore presume that there was a single enactment regulating each province, which had been passed shortly after its incorporation into Roman territory, nor use this as a criterion for its being an organised sphere of administration rather than the assignment of a military commander [. . .] Nevertheless, Roman magistrates might exercise political authority without a closely defined area of operations and, conversely, there could be precise definition of a territory without direct Roman rule.“ 89 Vgl. Cic., Att. 6,1,15; 6,2,4; 5,21,11; 2 Verr. 1,112.117–118. 90 Richardson (1994), S. 590: „This was inevitably modelled on the edict of the urban praetor in Rome, and thus related to the basic forms of the ius civile, but the precise shape could be varied by each incoming governor.“ Vgl. zum Provinzial-

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den notwendigen Spielraum, nach eigenem Ermessen flexibel auf die Gegebenheiten in den Provinzen zu reagieren.91 Die Vorbildfunktion des Edikts seitens des praetor urbanus darf sicherlich auch nicht unterschätzt werden, jedoch handelt es sich auch hier, wie im stadtrömisch ausgeübten Recht, um eine schwer zu bestimmende (aber eventuell gerade deswegen erstaunlich langlebige und funktionstüchtige) Mischung aus Traditionalismus und Flexibilität in der prätorischen Rechtspraxis – wie dies für die magistratischer Rechtsschöpfung im allgemeinen festgestellt werden kann.92 Die zahlreichen Entscheidungen der Statthalter, des Senats, der Kaiser in speziellen Fällen, insofern sie eine bestimmte Provinz betrafen oder später auf eine andere Provinz ausgeweitet wurden,93 vermitteln jedenfalls auf provinzialem Niveau (mit Ausnahme des Sonderfalls Ägypten)94 keine stringente Verwaltungskontinuität. Letztere könnte u. a. durch die Statthalterarchive gewährleistet worden sein, jedoch ist nicht davon auszugehen, daß diese schon in dem hier behandelten Zeitraum ein selbstverständlicher Bestandteil der Provinzialverwaltung waren, sondern sich dazu erst seit dem 2. Jahrhundert allmählich entwickelten.95

edikt Greendige (1901), S. 119–129; Marshall (1964); Hoyos (1973); Shatzman (1999), S. 52 ff. 91 Schulz, R. (1997), S. 98: „Der rechtliche Rahmen der statthalterlichen Regierungstätigkeit bemaß sich also gerade deshalb, weil die leges provinciae jedem Magistraten einen großen Freiraum ließen, immer auch nach den politischen Kräfteverhältnissen in der Provinz.“ 92 Vgl. Liebs (1999), S. 37–41; vgl. jetzt aber auch Fögen (2002), S. 190–198, die die Rolle des Stadt- bzw. Fremdenprätors als „Hüter des Zivilrechts“ bestreitet. Cicero fügte einiges zum Edikt seines Vorgängers Appius Claudius Pulcher hinzu und übernahm reichlich Inhalte aus dem Edikt des Q. Mucius Scaevola, welches dieser als Statthalter in Asia in den 90er Jahren erlassen hatte und das der Form nach als „Klassiker“ der Statthalteredikte galt, vgl. Cic., Fam. 33,8,4; Att. 6,1,5; vgl. dazu Val. Max. 8,15,6. Cicero betont an anderer Stelle, daß man sich als Statthalter im Unterschied zu Rom in der Provinz nicht unter den wachsamen Augen anderer Rechtskundiger befand und bemerkt gegenüber seinem Bruder Quintus, daß man für die Fälle in den Provinzen nicht viel Wissen brauche. Es bedürfe nur der consistentia und gravitas, um den Verdacht der Parteilichkeit zu vermeiden, vgl. Cic., QFr. 1,1,20. Zum Zivilprozeß in den Provinzen während der Prinzipatszeit vgl. jetzt Hackl (1997), der den Verweisungszusammenhang von den edicta urbana auf das Statthalteredikt und von dort in die Munizipaledikte beschreibt; das Paradebeispiel liefert der Fund einer lex Irnitana, eines Munizipalstatuts aus der kleinen Gemeinde Irni in der Baetica. 93 Siehe dazu Plin., Ep. 10.65, vgl. 10,31; Euseb., Hist. eccl. 5.18.9, Reskript des Antoninus Pius an den Rat von Asia Dig. 27,1,6,2. 94 Zu Ägypten vgl. Goodenough (1929); Katzoff (1972); ders. (1980); Hirschfeld (1889), S. 417–419; Brunt (1975); Galsterer (1986), S. 21; Garnsey/Saller (1989), S. 36 f., 47; Bowman (1996); Lintott (1993), S. 126–128; Hackl (1997), S. 154 f., 158.

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Für die Alltagsangelegenheiten und gewöhnlichen Streitfälle zwischen den Provinzialen war wohl die Gerichtsbarkeit der Stadtmagistrate nach einheimischer Rechtstradition und gemäß der vom Kaiser, Senat oder Statthalter garantierten Privilegien zuständig. Dies bedeutet aber noch nicht, daß ein Statthalter, wenn er es für notwendig erachtete, keine Interventionsmöglichkeit hatte. Trotz der problematischen Digesteninterpretation, sei auf zwei Stellen hingewiesen, die zusammengenommen als eine Art generelle Maxime für die römische Provinzstatthalterschaft betrachtet werden könnten: Dig. (Proc.) 1.18.12 Sed licet is, qui provinciae praeest, omnium Romae magistratuum vice et officio fungi debeat, non tamen spectandum est, quid Romae factum est, quam qui fieri debeat (Aber obwohl derjenige, der eine Provinz verwaltet, stellvertretend die Aufgaben aller Magistrate Roms erfüllen muß, ist gleichwohl nicht darauf zu sehen, wie man es in Rom macht, sondern darauf, was zu geschehen hat). Dig. (Ulp.) 1.18.13 Congruit bono et gravi praesidi curare, ut pacata atque quieta provincia sit quam regit (Es gehört zu einem guten und verantwortungsbewußten Provinzstatthalter, dafür zu sorgen, daß die Provinz, die er verwaltet, friedlich und ruhig ist). (Übers. O. Behrends u. a.)

Als allgemeine und vage Prinzipien geben die beiden Stellen einen Hinweis darauf, daß sich der Statthalter in dem, „was zu geschehen hat“, nicht nach dem Vorbild der römischen Magistratsordnung richten soll, sondern pragmatisch die konkreten Probleme in der jeweils von ihm zu verwaltenden Provinz zu bewältigen hatte, wozu ihm eine relativ unabhängige Amtsführung mit einem großen Ermessensspielraum zugestanden werden mußte. Also weniger ein spezifisch vorgegebenes Recht als der an den römischen Herrschaftsinteressen ausgerichtete Erfolg in der Beaufsichtigung einer Provinz wäre dann der generelle Maßstab statthalterlicher Amtsführung und somit auch für die Ausübung der Gerichtsbarkeit und Strafgewalt. Letztlich ist man mit der Tatsache konfrontiert, daß es keine zeitgenössische, zusammenhängend-systematische Kodifikation einer römischen Provinzialverwaltung gab und wahrscheinlich auch gar nicht geben konnte, da dies der damaligen Organisation der Provinzialherrschaft gar nicht entsprochen hätte.96 Den Statthaltern stand keine durchdringende Verwaltung mit 95 Vgl. zu den Statthalterarchiven Haensch (1992). Die Probleme der Verwaltungskontinuität z. B. in Pontus-Bithynien werden für die Zeit des beginnenden 2. Jh. n. Chr. vor allem aus den Briefen des jüngeren Plinius ersichtlich; vgl. dazu Gaudemet (1964), der zugleich zeigt, daß es sich keineswegs um einen rechtsvereinheitlichenden und die intermediären Rechtsbereiche (z. B. lokale Traditionen, Stadtprivilegien) aushöhlenden Zugriffs des Kaisers auf die Provinzen zu dieser Zeit gehandelt haben kann. 96 Galsterer (1986), S. 14, meint, das Rechtssystem einer jeden Provinz und seiner konstitutionellen politischen Einheiten (civitates, municipia etc.) sei das Produkt

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einer ausdifferenzierten rechtlich-bürokratischen Regelungsdichte zur Verfügung, sondern sie mußte sich anderer Möglichkeiten bedienen, wobei die „Herrschaftsökonomie“ des Römischen Reiches insgesamt berücksichtigt werden muß. a) Provokationsrecht bzw. Appellationsrecht Eine besondere Regelung muß an dieser Stelle noch erwähnt werden, die eventuell ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht nur die stadtrömischen Magistrate, sondern auch alle Statthalter in sämtlichen Provinzen zu respektieren hatten. Gemeint ist das sogenannte Provokationsrecht, womit ein römischer Bürger Einspruch gegen Züchtigungs- bzw. Kapitalstrafen von (Pro)Magistraten erheben und einen Prozeß vor einer Volksversammlung, später vor einem Geschworenengericht und für die Zeit des Prinzipats vor dem Kaiser in Rom verlangen konnte. Leider steht auch hier die fragmentarische und obskure Quellenlage in keinem Verhältnis zu der Bedeutung, die dem Provokationsrecht in der modernen Forschung beigemessen wird. Als allgemeine Forschungstendenz läßt sich festhalten, daß sie in Auseinandersetzung mit Mommsens Doktrin schrittweise von einer rein rechtlichen Betrachtungsweise abrückte und immer stärker das politische Moment der provocatio herausstellte.97 Für Mommsen stellte die provocatio einen Eckstein des römischen Strafverfahrens dar; er dachte, daß alle Prozesse vor der Volksversammlung auf der Grundlage des Provokationsrechts basierten. Seine Konstruktion eines regulären Instanzenzuges aufgrund der Provokation vom magistratischen Urteil an die Volksversammlung kann als widerlegt gelten, zumal die Magistrate in der Volksversammlung jeweils selbst als Ankläger auftraten. Die jüngere Forschung geht davon aus, daß die provocatio kein konstitutiver Bestandteil eines Prozesses vor den Versammlungen war und die Versammlungen normalerweise nicht als Gerichtshöfe über gewöhnliche Straftäter fungierten. Es ist unwahrscheinlich, daß Straftäter von einem Prozeß vor der Volksversammlung profitiert hätten (wenn Leben oder Güter der Bürger durch den Straftäter selbst bedroht waren), außer es handelte sich um eine stark politisierte Situation, in der das Vergehen als Bestandteil eines weitreichenden Konfliktes in der politischen Auseinandersetzung zwischen den Bürgern bewertet wurde. von mindestens drei Faktoren gewesen: 1. Politische Handlungen und Entscheidungen in Rom; 2. die Stadt- oder Stammesbeziehungen vor und unmittelbar nach der Inkorporation in den römischen Staat; 3. Die Einstellung der Einwohner und ihrer lokalen Führer gegenüber römischem Leben und Kultur. 97 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 167 f., 473 ff.; Brecht (1939); Heuss (1944); ders. (1975), S. 37 ff.; Staveley (1955); Bleicken (1959); Kunkel (1962), S. 21 ff.; Martin (1970); Lintott (1972); Magdelain (1987), ders. (1990), S. 146 ff., Nippel (1988), S. 12 ff.

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Die Quellenlage erlaubt keine sichere Vorstellung über den historischen Ursprung, die Motivierung und Entfaltung der provocatio ad populum. Die Annalistik erwähnt sie bereits für die Zeit der Ständekämpfe. Während z. B. Livius glaubte, daß die provocatio durch die lex Valeria von 509 v. Chr. rechtlich anerkannt wurde, wird diese Ansicht in der neueren Forschung mehrheitlich für eine fiktive Antizipation der lex Valeria von 300 v. Chr. gehalten, welche die Mißachtung der Provokation durch den Magistraten deutlicher diskreditierte.98 Wahrscheinlicher ist es, daß sich in der frühen Republik die provocatio zunächst im Rahmen der Selbsthilfe der plebs an inoffizielle Versammlungen richtete (wahrscheinlich das concilium plebis) und später an die Intervention der Volkstribune. Nach Cicero bestätigt bereits das Zwölftafelgesetz die Existenz der provocatio,99 so als sei sie bereits um 450 v. Chr. regulärer Bestandteil des öffentlichen Lebens. Jedoch kann dies als eine Übertreibung gelten; die einschlägige de capite civisKlausel sollte vielmehr verhindern, daß infolge der provocatio bei politischen Verbrechen eine plebejische Versammlung außerhalb der comitia centuriata einberufen wurde, um ein Kapitalurteil über das Leben eines Bürgers bzw. Magistraten zu fällen und machte folglich die „Lynchprozesse“ vor dem concilium plebis gesetzeswidrig.100 Der am wenigsten konfliktträchtige Weg für einen Magistraten, einen Fall von politischer Brisanz 98 Gemeint sind hier vor allem die aus literarischen Quellen überlieferten drei leges de provocatione, wobei von der Mehrheit der Forschung – zu Einwänden vgl. Santalucia (1997), S. 17 ff. – nur dem letzten Gesetz historische Authentizität zugesprochen wird: 1. die lex Valeria aus dem Jahr 509 v. Chr. auf Antrag des Konsuls P. Valerius Publicola, welche festgelegt haben soll, daß kein Magistrat einen Römischen Bürger, der an das Volk provoziert hat, auspeitschen und töten lassen darf; 2. die lex Valeria Horatia auf Antrag der Konsuln L. Valerius Potitus und M. Horatius Barbatus soll im Jahre 449 v. Chr. die Schaffung von provokationsfreien Magistraturen verboten haben; 3. schließlich die dritte lex Valeria aus dem Jahr 300 v. Chr., die dem Konsul M. Valerius Corvus zugeschrieben wird und ähnlichen Inhalts wie das erste Valerische Gesetz gewesen sein soll. Liv. 10,9,3–5 erklärt, daß das dritte (immer von Mitgliedern derselben Familie eingebrachte) Gesetz mehr Verbindlichkeit anstrebte (diligentius sancta), wenn es nunmehr jede Handlung des Magistrats als improbe factum erklärte, der einen Bürger ungeachtet der Provokation auspeitschen und töten ließ. Die Formulierung (virgis caedi securique necari) läßt es offen, ob sie die Züchtigung als solche mißbilligte oder nur als „Begleitstrafe“ der Hinrichtung. Eher für das Züchtigungsverbot als solches sprechen Cic., Rep. 2,53; Val. Max 4,1,1; Dion. Hal. 5,19,4; vgl. Kunkel (1995), S. 166 f. A. 249. Wenn Livius zugleich hervorhebt, daß erst die Porcischen Gesetze (dazu sogleich weiter unten) die Mißachtung der Provokation strafrechtlich sanktionierten, so scheint das dritte Valerische Gesetz allenfalls eine moralische Diskreditierung des betroffenen Magistraten zur Folge gehabt zu haben. Vgl. die Belege aus den literarischen Quellen zu den leges Valeriae bei Rotondi (1990), S. 190, 204, 235, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden können, vgl. dazu Lintott (1972), S. 238 ff. 99 Vgl. Cic., Rep. 2,54. 100 Vgl. Lintott (1972), S. 236.

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nach einer provocatio weiterzuverhandeln, war wohl derjenige, daß er die Sache selbst vor eine Volksversammlung brachte, wofür seit 300 v. Chr. die lex Valeria einen zusätzlichen Ansporn dargestellt haben könnte.101 Ursprünglich beschränkte sich die Inanspruchnahme des Provokationsrechts auf die Bürger innerhalb des Stadtgebietes von Rom102 und wurde erst im Verlauf des 2. Jahrhunderts v. Chr. auf Italien und die Provinzen ausgeweitet. Diesbezüglich soll eine der drei leges Porciae den Ausschlag gegeben haben.103 Da dieses Porcische Gesetz aber allein aus einer problematischen Münzinterpretation abgeleitet werden kann, ist für die Ausweitung des Provokationsrechts auf die Provinzen noch eine wichtige Inschrift 101

Vgl. Lintott (1972), S. 238 ff. Genau genommen konnte die Provokation nur domi ausgeübt werden, vgl. Liv. 3,20,7. Jenseits davon, im Bereich des imperium militare, hatte die Amtsgewalt des Konsuls volle Gültigkeit. Es gab aber auch innerhalb der Urbs einige Ausnahmen von der Wirkung der Provokation, auf die hier nicht näher einzugehen ist (Diktatur, außerordentliche Magistrate, flagranter Hochverrat, einige sakrale Vergehen unter dem Pontifex Maximus). Auch die maxima bei Multstrafen seien hier nicht behandelt. Die Überführung in den Kerker (in vincula ductio), Vermögensbeschlagnahmung (pignoris capio) und die Auspeitschung (verberatio), letztere zumindest bis zu den Porcischen Gesetzen, wurden als von der Kapitalexekution unabhängige Strafmaßnahmen betrachtet. Daß Sklaven, Frauen und Fremde die Provokation nicht ausüben durften, versteht sich für Rom von selbst. 103 Aus den Quellen sind drei leges Porciae bekannt, die nicht mit Sicherheit genau datiert werden können: Das erste Gesetz, die lex Porcia de tergo civium, geht wahrscheinlich auf das Konsulat des älteren Cato 195 v. Chr. zurück und regelte speziell die provocatio an das Volk gegen die körperliche Züchtigung als autonome Maßnahme, setzte möglicherweise sogar die Abschaffung der Rutenstrafe für römische Bürger schlechthin fest. Das zweite Porcische Gesetz geht möglicherweise auf ein Plebiszit des P. Porcius Laeca (Volkstribun 199 v. Chr., Prätor 195 v. Chr., das erste Amt ist belegt bei Liv. 32,7,4) zurück und hatte die Ausweitung des Provokationsrechts über die Meilengrenze Roms zum Inhalt, wodurch auch Bürger in den Provinzen in den Genuß des Provokationsrechts kommen konnten. Von der dritten lex Porcia ist weder der Antragsteller noch das Erlaßdatum bekannt; sie sah schärfere Sanktionen, wahrscheinlich die Todesstrafe für den Magistraten vor, der die provocatio mißachtet hatte, vgl. Cic., Rep. 2,54; Rab perd. 8 u. 12; 2 Verr. 5,163; Sall., Catil. 51,22 u. 40; Liv. 10,9,4; Aul. Gell. 10,3,12. Das zweite Porcische Gesetz ist aus einer Münzdarstellung zu erschließen, vgl. Crawford (1974), RRC, S. 313 f., Nr. 301. Der Münzmeister Porcius Laeca verweist hier wohl kurz vor 100 v. Chr. auf einen Vorfahren, auf dessen Gesetz die Münze anspielt. Die Deutung der Münze ist umstritten, vgl. dazu Mommsen (1955), StrafR, S. 31 A. 3; Strachan-Davidson (1969), Bd. 1, S. 118 ff.; Martin (1970), S. 88; Lintott (1972), S. 250; Kunkel (1995), S. 168 f. Cic., Rep. 2,54 behauptet, daß die drei Porcischen Gesetzen außer der Strafandrohung nichts Neues brachten; Liv. 10,9,4 meint, daß zumindest eine lex Porcia erlassen worden sei, um den Rücken (tergum) des Bürgers zu schützen, weil sie schwere Strafen vorsah, wenn jemand einen Bürger geißelte oder exekutierte; vgl. auch Cic., Rab. perd. 12 f. Dabei handelt es sich wohl um einen Kommentar zum Fehlen der strafrechtlichen Sanktion in der lex Valeria de provocatione des Jahres 300 v. Chr. Vgl. zu weiteren Belegen Rotondi (1990), S. 268 f. 102

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zu erwähnen, wobei die genaue Zurechnung und Identifizierung in der Forschung umstritten ist. Es handelt sich um die sogenannte tabula Bembina104. Sie enthält neben einem Ackergesetz ein Repetundengesetz, das in der Forschung zum Großteil mit der lex Acilia (ca. 122 v. Chr.) identifiziert wird.105 Sieht man einmal von den weitreichenden Neuerungen zum Repetundenverfahren ab, so interessiert in diesem Kontext vor allem die darin überlieferte Regelung, daß nichtrömische Provinziale, nachdem sie erfolgreich gegen einen Provinzmagistraten wegen Repetundenvergehens geklagt hatten, entweder mit dem Erhalt des römischen Bürgerrechts oder alternativ dazu (falls sie aus irgendwelchen Gründen das Bürgerrecht nicht annehmen wollten) mit dem Provokationsrecht belohnt wurden.106 Es ist kaum vorstellbar, daß Latinern oder Provinzialen ein Recht zugestanden 104 Vgl. FIRA I, Nr. 7; Crawford (Hrsg. 1996), RS, Bd. 1, Nr. 1. Der Name leitet sich her vom Namen des römischen Kardinals Pietro Bembo, in dessen Nachlaß Ende des 15. bzw. Anfang des 16. Jh. elf Fragmente einer Bronzetafel gefunden wurden (ein weiteres Fragment wurde im 19. Jh. entdeckt); sie zeigt auf der einen Seite die Inschrift einer lex Repetundarum und auf der Rückseite die Inschrift einer lex Agraria; vgl. Lintott (1983). 105 Zur lex Acilia de repetundarum gibt es in den literarischen Quellen nur zwei kurze Andeutungen bei Cic., 1 Verr. 51; 2 Verr. 1,26. Die These von Mattingly (1970), daß die Inschrift mit der lex Servilia bzw. Glaucia (ca. 111 v. Chr.) des Servilius Glaucia zu identifizieren sei, konnte sich nicht durchsetzen; vgl. die Entgegnung von Sherwin-White (1972a); Lintott (1993), S. 100. Zur Entstehung der ersten quaestiones perpetuae im Kontext der Entwicklung seit der Lex Calpurnia bis zur Lex Acilia vgl. Eder (1969). Vgl. auch Galsterer (1997), Rez. Lintott 1993, Gnomon 69, S. 332. Auf die nachfolgenden politischen Kämpfe um die Besetzung der Geschworenengerichte (Senatoren, Ritter, gemischt aus beiden etc.) braucht hier nicht eingegangen zu werden. 106 Vgl. FIRA I, Nr. 7, Z. 76 ff. Auf Grundlage dieser Klausel ist sie im Vergleich von Mattingly (1969) auch für ein Fragment eines Repetundengesetzes aus Tarent restauriert worden. Daß es sich hier weitgehend um eine Kopie der lex Acilia handelt, ist in der Forschung anerkannt; zudem ist hier noch das Recht auf eine Gerichtsverhandlung in Rom erwähnt. Vgl. Crawford (Hrsg. 1996), RS, Bd. 1, Nr. 8, Z. 2–7 mit Kommentar S. 209 ff., Lintott (1972), S. 251; ders. (1982). Zur Verleihung des Provokationsrechts als Alternative zum Bürgerrecht vgl. auch den erfolglosen Vorschlag des M. Fulvius Flaccus (125 v. Chr.) bei Val. Max. 9,5,1. Zur damaligen Zeit wäre zum Erhalt des römischen Bürgerrechts noch der Verzicht auf das eigene Bürgerrecht notwendig gewesen, vgl. Mouritsen (1988), S. 88 f., so daß sich auch daraus evtl. die Alternative zwischen Provokationsrecht und Bürgerrecht versteht. Gemeinhin wird auch Cic., 2 Verr. 5,163 ff. als Beleg dafür genommen, daß die Provokationgesetze einschließlich einer lex Porcia auch für römische Bürger in den Provinzen Geltung beanspruchen konnten; vgl. dazu unten Abschnitt II. 2. d); zu bestimmten Rechten von Bürgern in der Provinz vgl. Kunkel (1995), S. 361, mit Verweis auf das senatus consultum de Asclepiade (FIRA I, Nr. 35), in welchem drei verdienten griechischen Nauarchen u. a. das Recht verliehen wird, ihre Rechtsstreitigkeiten nach ihrer Wahl entweder in ihrer Heimatstadt, einer freien Stadt oder schließlich vor einem römischen Magistrat und italischen Richtern zu führen; vgl. a. Galsterer (1997), Rez. A. Lintott (1993), Gnomon 69, S. 332.

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wurde, das die römischen Bürger in Italien oder den Provinzen nicht bereits besaßen. Deshalb ist die Schlußfolgerung e silentio durchaus naheliegend, daß das Provokationsrecht für römische Bürger außerhalb Roms bereits eine Selbstverständlichkeit war.107 Gegenüber Nichtrömern (sofern sie nicht eigens mit dem Provokationsrecht belohnt worden waren) waren dem Imperium von Statthaltern durch das Provokationsrecht keine rechtlichen Schranken gesetzt. Wie es allgemein mit der Achtung des Provokationsrechts durch die Magistrate in Italien und den Provinzen stand, ist eine durch das wenige Quellenmaterial kaum lösbare Frage. Erschwerend kommt für die Bewertung der Effektivität des Provokationsrechts in der Praxis hinzu, daß in den Schilderungen der wichtigsten literarischen Quellen, besonders bei Cicero und Livius, das Provokationsrecht eine hohe symbolische Bedeutung hat, indem es als Verkörperung materieller Bürgerfreiheit (libertas) seit Entstehung der Republik betrachtet wird.108 Der Verdacht, daß die politische sowie ideologische Bedeutung des Provokationsrechts eventuell größer war als seine faktische rechtliche Effektivität für die Allgemeinheit der römischen Bürger, ist deshalb nicht völlig von der Hand zu weisen. Wahrscheinlich hing für die Wirksamkeit einer Provokation viel von den politischen Kräfteverhältnissen in der jeweiligen Situation ab. Das heißt, daß die Chancen auf erfolgreiche Inanspruchnahme der provocatio wohl größer waren, wenn der Fall politisch-symbolische Bedeutung annahm und der Betroffene Rückhalt in einflußreichen Kreisen der Nobilität bzw. bei einem größeren, solidarisch gestimmten Bevölkerungsteil besaß, so daß es auch dem Kalkül des Magistraten entgegenkam, das Provokationsrecht zu achten. Die Mißachtung einer provocatio war dann das eigene Risiko des Magistraten. Für die Provinzen muß die Abhängigkeit von der Einschätzung des jeweiligen Magistrats in noch größerem Maße gegolten haben, zumindest wenn man bedenkt, daß es keine unmittelbaren Sanktionsmöglichkeiten gegen einen Statthalter gab, der adversus provocationem gehandelt hatte. Die potentiell drohenden Beschwerde- und Klagemöglichkeiten über bzw. gegen einen Statthalter nach seiner Amtszeit konnten sich wohl nur einflußrei107 Vgl. Jones, A. H. M. (1972): S. 23; Lintott (1972), S. 250 f. Auch wenn sie mit der gracchischen Gesetzgebung in Zusammenhang steht, so kann davon ausgegangen werden, daß es sich um keine der leges Semproniae gehandelt hat, vgl. a. Gruen (1968), S. 89 f. 108 Vgl. Cic., De or. 2,199; 2 Verr. 5,163; Rab. perd. 12; Liv. 3,45,8. Trotz aller Unterschiede des Geschichtsbildes ist sowohl für Cicero als auch für Livius klar, daß die Provokation der libertas plebis zugeordnet war; vgl. Cic., Rep. 1,62; 2,55; Liv. 3,54,8; vgl. Cic., Rep. 2,62; Liv. 3,36,6; 3,53,4; 3,55,2.4; 3,56,6; 10,9,3; dazu gehört auch die Tatsache, daß die provocatio eine res popularis war, vgl. Cic., Phil. 1,21; Rep. 2,54; Acad. 2,13; Liv. 2,8,1; Dion 5,19,4 f. Vgl. dazu Martin (1970), S. 94 ff.

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chere bzw. wohlhabende Provinziale leisten; und falls dabei im Rahmen eines Repetundenprozesses auch der Verstoß gegen das Provokationsrecht zur Sprache kam, so konnte der Statthalter immer noch leugnen, daß der Betroffene überhaupt zur provocatio berechtigt war.109 Für gewöhnliche Straffälle (d. h. ohne größere politische Relevanz) bei römischen Bürgern bzw. Provinzialen mit Provokationsrecht, die geringen sozialen Status besaßen, scheint wenigstens Skepsis angebracht, ob es sich hier um eine allgemein wirksame Schutzvorschrift gehandelt haben kann.110 Es bleibt zu erwähnen, daß es in der Zeit des Frühprinzipats ein Äquivalent zur republikanischen provocatio gegeben hat, nur daß jetzt in verstärk109 Einschlägig ist hier die Frage, inwiefern das Bürgerrecht vom Beklagten überhaupt glaubhaft nachgewiesen werden konnte, aber auch, inwiefern der Statthalter plausibel machen konnte, er habe im Interesse Roms einen Aufrührer bzw. Staatsfeind bestraft. Ich werde darauf jeweils im Fall des Gavius in Ciceros Verrinen, einer Stelle bei Josephus und im Fall des Apostels Paulus zurückkommen. Vgl. aber auch Suet. Galb. 9,1 f. Hier läßt der juristisch gelehrte Galba zur Zeit seiner Statthalterschaft in Spanien unter Kaiser Nero die Kreuzigung an einem Mündel vollstrecken, das seinen Vormund um des Erbes willen vergiftet hatte. Galba gab implorantique leges et civem Romanum se testificanti den Befehl, das Kreuz auszutauschen und für ihn eines aufzustellen, das viel höher war als das der anderen und das man geweißt hatte. Ein Problem ist hier, inwiefern der Delinquent überhaupt beweisen konnte, daß er Bürger ist; testificare scheint hier nicht eindeutig. Wenn es ferner heißt, daß Galba anfangs acer et vehemens et in coercendis quidem delictis vel immodicus gewesen sei, so ist es fraglich, ob coercere hier im rechtstechnischen Sinn gebraucht wird. Die Art der Kreuzigung versteht sich wohl als zusätzliche Demütigung, vgl. Hengel (1976), S. 150; ders. (1977), S. 40. Zur Anstößigkeit der Vollstreckung der Todesstrafe vgl. Garnsey (1966), S. 175 f.; Ermann (2001), S. 374, A. 33. 110 Dies schließt nicht aus, daß dem Provokationsrecht in der späteren Rezeption bei Historikern und Juristen eine wichtige Bedeutung zukam. Ob das Provokationsrecht als Äquivalent zu Grundrechten gedeutet werden kann, kann hier nicht diskutiert werden, ebensowenig wie die Frage, ob es überhaupt im Sinne eines Abwehrrechts gegen den Staat verstanden werden kann. Dem gegenüber ablehnend Schulz, F. (1934), S. 111, 118 f. sowie bes. S. 120 in Kommentierung einer Passage bei Mommsen (1952), StaatsR, Bd. 3.1, S. 361; vgl. jetzt aber Fuhrmann (1991). Martin (1970), S. 95, meint, die provocatio sei zu einer Art „Grundgesetz der Republik“ geworden. Vgl. aber Lintott (1972), S. 259 ff., bes. 262, der die Schwächung der provocatio im Zusammenhang mit der Herausbildung der quaestiones und dem senatus consultum ultimum für die Zeit der späten Republik erörtert. Ders. (1993), S. 68, resümiert: „In general, then, under the Republic neither Roman citizens in the provinces nor provincials had the right to demand the removal of a lawsuit from the provincial governor to a court in Rome. Moreover, appeal against the governor’s judgement was de facto almost impossible even for Roman citizens. Provocatio against capital punishment was closely tied to its origins in the self-help of the Roman plebs and required the backing of tribunes to make it effective.“ Vgl. dazu a. die frühe Kritik von Greendige (1896), S. 229 f. sowie die zusammenfassenden Thesen S. 232 f. gegen eine allzu legalistische Betrachtungsweise des Provokationsrechts in den Provinzen.

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tem Maße der Kaiser als Appellationsinstanz für römische Bürger und (neben dem Senat) auch als Gerichtsherr zur Untersuchung von Amtsvergehen der Provinzstatthalter fungieren konnte.111 Auch wenn es Ansätze gibt, die sogenannte appellatio ad Caesarem direkt aus dem republikanischen Provokationsrecht herzuleiten, ist es wahrscheinlicher, daß dieses einfach nur von der Appellationsmöglichkeit an den Kaiser bei gleichzeitigem Niedergang der Volksversammlungen und Geschworenengerichtshöfe in einem Maße überlagert wurde, daß beide, provocatio und appellatio, nicht mehr auseinandergehalten wurden.112 Auch die Rechtsgrundlagen des Kaisergerichts seit Augustus sind in der Forschung umstritten (tribunizisches ius auxilii; imperium pro consule, imperium maius, oder einfach nur die überragende auctoritas).113 Fest steht jedenfalls, daß der Prinzeps seit Augustus gegenüber dem Senat, den Magistraten und Promagistraten in sämtlichen Bereichen de facto als überlegene und interventionsberechtigte Instanz galt, wenn er im Senat oder in Quaestionen auf Prozesse Einfluß nahm (oder bewußt davon absah), ferner aus eigener Initiative Prozesse an sich ziehen oder auf Initiative anderer die Gerichtsbarkeit übernehmen konnte. Wahrscheinlich war es ein Prozeß in mehreren Schritten, aus dem sich das „Kaisergericht“ allmählich konstituierte.114 Alles in allem scheint es kaum möglich, sich ein Bild davon zu machen, wie man über die Diskussion von fragmentarischen Quellenbelegen hinaus die Effektivität des Provokations- bzw. Appellationsrechts mit der Zunahme römischer Bürger in den Provinzen sowie angesichts der zeitaufwendigen (und kostspieligen) Verfahren in Rom einzuschätzen hat. Wegen der unbe111 Die große Bedeutung, die hierbei die lex Iulia de vi publica zur Erweiterung des Schutzrechtes der provocatio bzw. appellatio gehabt haben könnte, indem der Mißbrauch des Ausprügelns römischer Bürger mit anderen Fällen des Mißbrauchs magistratischer Gewalt sogar mit kapitaler Strafe bedroht wurde, steht in keinem Verhältnis zu den wenigen noch erhaltenen Fragmenten, vgl. Dig. 48,6,7;. Paul. Sent. 5,26,1 f. Das Gesetz ging evtl. bereits auf Cäsar, wahrscheinlicher jedoch auf Augustus zurück, vgl. Kunkel (1995), S. 166 f. Lintott (1972), S. 265 f. hält die Formulierung adversus provocationem für die originale Ausdrucksweise des Gesetzes und antea ad populum nunc ad imperatorem appellantem als später hinzugefügte Erklärung. 112 Zur Gleichsetzung Appellation/Provokation: Galsterer (1996), S. 407 f.; Bellen (1962); Lintott (1972). 113 Diese Problematik reiht sich ein in die Thematik der Bewertung des Übergangs der Republik zum Prinzipat, zumal im Hinblick auf die Übertragung von einer Reihe von Ehrungen und Prärogativen an Augustus durch den Senat, wobei vor allem die Vorgänge der Jahre 30, 27 und 23 v. Chr. eine entscheidende Rolle spielen, auf die hier nicht eigens eingegangen wird. Es gibt dazu sehr individuelle Deutungsansätze; einen zusammenfassenden Überblick mit Diskussion der wichtigsten Thesen zu diesem Bereich verschafft jetzt Jacques/Scheid (1998), S. 1–53. 114 Vgl. Volkmann (1935); Crook (1955); Kelly (1957); Bleicken (1962); Bellen (1962); Kunkel (1968); Wallace-Hadrill (1996).

3. Die Heterogenität der Rechtsquellen

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stritten beherrschenden Stellung der Gouverneure in den Provinzen, aber auch aufgrund allgemeiner Praktikabilitätsüberlegungen sollte man die Schutzwirkung der provocatio bzw. appellatio – zumindest wenn sie gegen den Willen des Statthalters erfolgte – nicht überschätzen. Uns wird die Frage des Provokationsrechts in der weiteren Darstellung nur an zwei Stellen begegnen: einmal im Fall des Gavius in Sizilien aus den Verrinen des Cicero für die Zeit der Republik, das andere Mal für den Prozeß gegen den Apostel Paulus in Judäa, bei dem überhaupt für den frühesten Zeitpunkt des Prinzipats die Appellation an den Kaiser aus einer Provinz erwähnt wird. Die Fälle werden dort jeweils aus dem Kontext heraus erörtert. b) Exkurs zum ius gladii Im Zusammenhang mit der statthalterlichen Strafgewalt und dem Provokationsrecht wird in der Forschung auch das seit dem 1. Jahrhundert wohl zunehmend verliehene sog. Schwertrecht (ius gladii) diskutiert. Die Mehrheit der Forschung folgt dabei den Grundgedanken Mommsens.115 So wird davon ausgegangen, daß die Kaiser das ius gladii zunächst nur an Statthalter verliehen, die ein Heer in Legionsstärke befehligten, um die höchste Kapitalgerichtsbarkeit auch über Soldaten mit römischen Bürgerrecht ausüben zu können, ohne daß diese ihr Provokationsrecht geltend machen und z. B. einen Prozeß in Rom verlangen konnten. Mit Ausweitung des Bürgerrechts in den Provinzen und der damit gesteigerten Möglichkeit der Inanspruchnahme des Provokationsrechts sei das ius gladii – in den Digesten teils auch imperium merum genannt – zunehmend auch außerhalb des engeren Militärbereichs delegiert worden. Ursprünglich sei das Schwertrecht in republikanischer Zeit durch eine lex verliehen worden, seit Augustus vom princeps.116 Senatorische Statthalter und der Präfekt von Ägypten hätten das Recht über Leben und Tod qua Amt, ritterlichen Statthaltern (außer dem in Ägypten) sei es gesondert verliehen worden.117 Hierbei sei es nicht auf Dritte übertragbar gewesen.118 Seit Beginn des 3. Jahrhunderts, insbesondere ab 212 n. Chr. mit Erlaß der constitutio Antoniniana, womit Kaiser Caracalla fast allen freien Provinzialen das Bürgerrecht verliehen habe, sei es generell allen Provinzstatthaltern gewährt worden. Diese Grundgedanken hat Jones durch die Hypothese ergänzt,119 die Statthalter hätten seit Beginn des Prinzipats das Recht, römische cives in 115 Vgl. S. 243 ff. 116 Vgl. 117 Vgl. 118 Vgl.

Mommsen (1952), StaatsR, Bd. 2, S. 262 ff.; ders. (1955), StrafR, Cass. Dio 53,13,5; dazu Liebs (1981). Cass. Dio 53,13,7. Dig. (Pap.) 1,21,1.

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

den Provinzen ohne Appellationsmöglichkeit zu verurteilen, sofern diese wegen eines nach den leges iudiciorum publicorum vorgesehenen Verbrechens angeklagt worden seien. Jones bezeichnet diese Kompetenz als exercitio publici iudicii, für die es aber keinen Anhaltspunkt in den Quellen gibt, so daß es sich hier wohl eher um eine geistvolle Gelehrtenkonstruktion handelt. Grundlegende Kritik an Mommsens Sichtweise übte dagegen Garnsey, der das ius gladii bereits seit der späten Republik allen Provinzstatthaltern zugestanden wissen will.120 Die Annahme, das in einigen Digestenfragmenten überlieferte Recht, Kapitalstrafen über Bürger zu verhängen, habe seine Grundlage in der kaiserlichen Ermächtigung, schreibt er dem Werk der severischen Juristen zu, die darauf aus gewesen seien, jegliche Befugnisse zur Machtausübung derjenigen des Kaisers unterzuordnen. Die bei Jones und Garnsey jeweils ausführlich angeführten Digestenbelege brauchen hier nicht eigens erörtert werden.121 An dieser Stelle sei nur auf das methodische Problem hingewiesen, daß je stärker man mit einer Ausweitung des Bürgerrechts in den Provinzen die dortige Effektivität der provocatio bzw. appellatio für problematisch erachtet, man entweder wie Jones im Rahmen einer rechtssystematischen Logik selbst Ausnahmeregelungen konstruieren bzw. erfinden muß; oder aber man muß wie Garnsey die Belege mit quellenkritischer Argumentation grundsätzlich in Frage stellen, um davon ausgehen zu können, daß die Ausübung der Strafgewalt mit Ausgang der römischen Republik sowieso allein in das Belieben der Statthalter gestellt war. Abgesehen von den wenigen Belegen in den Digesten gilt insbesondere eine Stelle bei Josephus als Anhaltspunkt für die Verleihung des ius gladii durch den Kaiser an Statthalter nichtsenatorischen Ranges in kleineren Provinzen, denen keine eigene Legion zur Verfügung stand. Ohne hier voreilig einer der genannten Forschungspositionen zustimmen zu wollen, werde ich im Kontext der Josephusstelle noch einmal auf das Schwertrecht zurückkommen.122

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Vgl. Jones, A. H. M. (1960), S. 58 ff.; ders. (1972), S. 100 ff. Vgl. Garnsey (1968). 121 Vgl. zudem Karlowa (1885), S. 571; Strachan-Davidson (1969), Bd. 1, S. 166 ff.; Volkmann (1935), S. 143, 146; Bleicken (1962), S. 166 f., 181; Pflaum (1950), S. 118–121; Noerr (1969), S. 32 f.; Alföldy (1981), S. 180–182; Santalucia (1997), S. 92; Galsterer (1996), S. 411 f.; Horstkotte (1999), S. 311; Ermann (2001). 122 Vgl. unten Abschnitt IV. 3. 120

4. Gefahr methodischer Zirkelschlüsse

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4. Gefahr methodischer Zirkelschlüsse Auch wenn die Forschungsgeschichte zum römischen Verfassungs- und Staatsrecht bis heute als ein Versuch gedeutet werden könnte, sich von Vorstellungen Mommsens zu lösen, und allgemein postuliert wird, die Isolierung der Rechtsbegriffe von ihren politischen und sozialen Zusammenhängen aufzugeben, so ist es dennoch auffällig, daß auch neuere Abhandlungen über die Strafgewalt der römischen Statthalter sich nicht damit begnügen, diese zunächst nur in einer Provinz in einem fest umgrenzten Zeitraum mit dem dafür zur Verfügung stehenden Quellenmaterial zu untersuchen, sondern lieber durch die Auswertung eines umfangreichen Quellenbestandes aus den verschiedenen Provinzen über größere Zeiträume hinweg zu Ergebnissen zu kommen trachten. So werden auch in der neueren Literatur – um hier nur die wichtigsten Quellen zu nennen – Stellen aus den Reden und Briefen Ciceros,123 die Edikte von Kaiser Augustus für Kyrene (7/6 v. Chr.),124 die Briefe des jüngeren Plinius125, die Digesten, die Schilderung der Christenverurteilung in Lyon (177 n. Chr.) bei Eusebius126 sowie die wichtigsten von Flavius Josephus oder im Neuen Testament überlieferten Fälle unter Beifügung von Stellen aus Tacitus, Sueton, und Cassius Dio herangezogen und miteinander kombiniert. Das grundlegende Problem, für welchen Zeitraum und Geltungsbereich die statthalterliche Strafgewalt über123 Bei Cicero sind bes. die ,Reden gegen Verres‘, die Briefe an seinen Bruder Quintus (bes. 1,1) und an Atticus wichtig (bes. 5,16; 5,17; 6,1 und 6,6). Vgl. u. a. Strachan-Davidson (1912); Bleicken (1962), S. 170; Garnsey (1966), S. 177–188; ders. (1968), 53–55; Greenidge (1971); Jones, A. H. M. (1960), S. 54; Kunkel (1974), S. 19, 24 f.; Last (1957), Sp. 236, 241; Nörr (1969), S. 31; Richardson (1976), S. 27–58; Sherwin-White (1963), S. 3 f., 13; Lintott (1993), S. 28 f., 45, 56. 124 Augustus’ Edikte für Kyrene FIRA I, Nr. 68; Übers. in: Fries (Hrsg. 1994), Nr. 28. Vgl. dazu (in Auswahl): Volkmann (1935), S. 144 f.; Bickermann (1935), S. 189; Bleicken (1962), S. 168–178; Sherwin-White (1963), Rez. Bleicken 1962, JRS 53, S. 203 f.; Garnsey (1966), S. 177, 183; ders. (1968), S. 55; Jones, A. H. M. (1960), S. 91; Bammel (1974), S. 35–38; Bammel (1986c); Galsterer (1996), S. 405, 409; Kunkel (1995), S. 361–363; Lintott (1993), S. 64 f.; Müller (1980), S. 60 f.; Paulus (1985), S. 438; Rosen (1988), S. 130; Schulz, R. (1997), S. 211; Schumann (1965), S. 318; Sherwin-White (1963), S. 2, 5, 15–17; Stahl (1978), S. 96–99; Stern (1974), S. 337 f.; Wells (1994), 154 f. Vgl. auch A. 122 und 124 in Abschnitt VII. 2. b). 125 Zu den Briefen des jüngeren Plinius (109 n. Chr.), bes. Ep. 10,96 und 97, vgl. Bleicken (1962), S. 178; Garnsey (1966), 175, 181–183, 185; ders. (1968), S. 53– 55; ders. (1970), S. 74 ff.; Jones, A. H. M. (1960), S. 56 f., 89–92; Kunkel (1974), S. 16 f., 27; Liebs (1981), 220–222; Lintott (1993), S. 28 f; Millar (1966), S. 157– 166; Paulus (1985), S. 443; Rosen (1988), S. 136–139; Sherwin-White (1963), S. 3– 5, 13, 16–20, 26, 52, 56 f., 62, 68; Thür/Pieler (1978), S. 387–390; Veyne (1994), S. 451; Wlosok (1970), 27–52; Garnsey/Saller (1989), S. 54–59. 126 Zu Euseb., Hist. eccl. 5,1,47, vgl. Garnsey (1968), S. 17 f.; Pflaum (1950), S. 123 f.; Smallwood (1976), S. 165.

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haupt als ein einheitliches Phänomen mit gemeinsamen typischen Merkmalen untersucht werden kann und Analogieschlüsse erlaubt, wird dabei jedoch nur überdeckt, da sich qualitative Mängel der fragmentarischen Quellenüberlieferung für einzelne Provinzen nicht quantitativ durch Heranziehung möglichst vieler Streubelege kompensieren lassen.127 So kann man z. B. bestreiten, ob es sinnvoll ist, von Ciceros Reden gegen Verres, der 73 v. Chr. Statthalter in Sizilien wurde, oder aus den Briefen des jüngeren Plinius an Kaiser Trajan, die er um 109 n. Chr. als Sondergesandter in der Provinz Bithynien verfaßte, Schlußfolgerungen für die statthalterliche Gerichtsbarkeit in Judäa (6–66 n. Chr.) zu ziehen, da sich neben der zeitlichen Differenz von jeweils hundert Jahren auch noch das Problem von Kontinuität bzw. Diskontinuität beim Übergang von der Republik zum Prinzipat stellt.128 Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der räumlichen Geltung eines bestimmten Rechts. Es macht einen großen Unterschied, ob man die römische Statthalterschaft im Kontext eines Verwaltungssystems darstellen will, welches auf angeblich überall im römischen Herrschaftsgebiet geltenden einheitlichen und allgemeingültigen Grundsätzen basierte, oder ob man sie eher in ihrer praktischen Ausübung betrachtet, die sich an die spezifischen politischen, kulturellen und sozialen Bedingungen einer bestimmten Provinz anzupassen pflegte. Konkret ergibt sich dann z. B. die Frage, ob Quellen über die Gerichtsbarkeit in einer griechisch geprägten Provinz, z. B. in Kyrene, auch Schlußfolgerungen für die Statthalterschaft in der Provinz Judäa zulassen.129 127 „Methodisch zwingt eine derartige Quellenlage“, so Dahlheim (1977), S. 3, zu einem anderen Themenkomplex, „zur Verknüpfung von Momentaufnahmen, deren historisch unterschiedliche Bezugspunkte immer wieder die Frage nach der Berechtigung ihrer Verbindung und den daraus gezogenen Schlüssen aufwerfen.“ 128 Zumeist wird in der Literatur davon ausgegangen, daß sich das Provinzialregiment der Statthalter seit Augustus eindeutig konsolidiert und gebessert habe. Auf Grundlage seiner Analyse der Repetundenprozesse kommt Brunt (1961), S. 189, dagegen zu dem Urteil, „it would be wrong to assume that abuses were infrequent or redress easy to secure. The Principate perhaps often gets more credit than is due for its provincial government, and the Republic perhaps too little.“ Ebd. S. 190: „The Republic of course failed to realise these intentions. But we must not assume that the Emperors were much more successful. And, to whatever extent they did provide more effectively for just administration, they were building on the foundations laid by Republican law.“ Eine andere traditionelle Sicht betrachtet die Republik als Periode der Expansion, die Prinzipatszeit als eine Epoche der erfolgreichen Sicherung der Grenzen gegen Übergriffe der „Barbaren“ und die späte Kaiserzeit als die einer wenig erfolgreichen Verteidigung. Gegen diese Sicht wendet sich Isaac (1992), der auch in der Prinzipatszeit eine Periode aggressiver Expansion erkennt. 129 Die Frage hebt vor allem auf die kulturellen Unterschiede der von Rom aus verwalteten Provinzen ab. Die Gerichtsbarkeit eines Statthalters könnte sich z. B. in Griechenland bzw. in einer Provinz mit stark hellenistischem Charakter, deren Kul-

4. Gefahr methodischer Zirkelschlüsse

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Diese grundsätzlichen Fragen nach räumlicher und zeitlicher Geltung gilt es jedenfalls gerade dann zu bedenken, wenn die notorisch schlechte Überlieferung eine besondere Versuchung darstellt, vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen. Die Gefahr von Zirkelschlüssen ist dabei groß, weil schon bestimmte Grundannahmen gewisse methodische Ansätze implizieren können, welche schon viel von dem voraussetzen, das es eigentlich erst herauszufinden gilt. Zieht man Quellen aus allen Reichsteilen als Belege einer bestimmten statthalterlichen Rechtspraxis heran, besteht die Gefahr, sie insgeheim an einem Ideal eines vereinheitlichten römischen Verwaltungssystems auszurichten, das es eventuell gar nicht oder noch nicht gegeben hat. Des weiteren stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob man von der Gerichtsbarkeit, wie sie in der Hauptstadt Rom gehandhabt wurde, auf diejenige in den Provinzen schließen kann oder ob sich aus den Verhältnissen in den Provinzen nicht auch eine Veränderung der Rechtspflege in Rom ergeben haben könnte.130 Wenn sich für die Übergangszeit von der Republik zum Prinzipat kein eindeutiges Quellenmaterial findet, besteht die Gefahr, dieses tendenziell entweder an der Tradition der Republik auszurichten oder schon in die Richtung des 2. Jahrhunderts weisend zu interpretieren, wo es um die jeweilige Quellenlage besser bestellt ist.131 Auf die Implikationen bestimmter Grundannahmen sei hier nur hingewiesen, weil sie auch die jeweilige Interpretation der statthalterlichen Gerichtsbarkeit maßgeblich beeinflussen. So können Vorstellungen über die statthalterliche Gerichtsbarkeit sogar zu Aussagen über die Verfaßtheit des römischen Reiches insgesamt führen, welche dann ihrerseits wieder auf die Interpretation der statthalterlichen Gerichtsbarkeit zurückwirken. Betrachtet man das Römische Reich mit all seinen Provinzen nämlich als einen im starken Maße integrierten Reichsverband, in dem nach einheitlichen, in allen Provinzen geltenden rechtlichen Maßstäben Strafrechtsfälle behandelt tur als vorbildlich bewundert und zum großen Teil kopiert wurde, ganz anders und toleranter gestaltet haben als in einer Provinz, wo das kulturelle Selbstverständnis der Bewohner beim Statthalter auf Unverständnis, Abneigung oder Feindschaft stieß. Als Beispiel für die Judenverachtung eines Römers, vgl. Tac., Hist. 5,8,2. Vgl. dagegen z. B. Plin., Ep. 8,24 an Maximus, wo Plinius ihn ermahnt, die stolze Tradition der Griechen in der Provinz Achaia zu achten, wenn er dort als Statthalter sein Amt ausübt. 130 Während Kunkels Arbeiten stark vom stadtrömischen Recht ausgehen, kommt Millar (1966), S. 166, indes zu dem Ergebnis, daß ein solcher Standpunkt spätestens zur Zeit des Prinzipats den Verlust des Kontaktes mit der Realität bedeuten würde und folgert: „Not only the pattern of the literary evidence, or the existence of an immense mass of local documents, but the very nature of the Empire itself, means that it can only be understood by starting from the provinces and looking inward.“ 131 Dies läßt sich z. B. eindeutig bei Garnsey (1966) und Lintott (1993) feststellen.

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wurden, ist man gezwungen, alle überlieferten statthalterlichen Strafurteile, die mit diesen Maßstäben nicht übereinstimmen, als Willkür und Rechtsverstoß eines Statthalters zu deuten. Geht man dagegen von der Vorstellung aus, daß die Statthalter nur in geringem Maße rechtlichen Vorgaben unterworfen waren, ist man gezwungen, alle Rechtsregelungen, die nicht mit der jeweiligen Rechtspraxis übereinstimmten, als entweder noch nicht oder nicht mehr gültig oder durchsetzbar, wenn nicht sogar als juristische Fiktion132 zu interpretieren. Wenn die jeweiligen sozialen Zusammenhänge und immensen kulturellen Unterschiede in den einzelnen Provinzen unberücksichtigt bleiben, besteht die Gefahr, eine vereinheitlichte römische Rechtspolitik zu suggerieren, wie sie unter den damaligen strukturellen Bedingungen von Herrschaft gar nicht möglich war. 5. Statthalterliche Strafgewalt und Machtressourcen Als Teilaspekt der römischen Herrschaft über weiträumig unterworfene Gebiete müßte eine umfassende Untersuchung der statthalterlichen Strafgewalt dem Anspruch genügen, diese sowohl vor dem Hintergrund der Entwicklung der Gesamtstruktur des römischen Reiches in einem wachsenden und sich verändernden Herrschaftsraum zu analysieren als auch die jeweils besonderen politischen und sozialen Gegebenheiten in den einzelnen Provinzen berücksichtigen. Hier sei die Frage aufgeworfen, unter welchen allgemeinen strukturellen Bedingungen ein Statthalter seine Strafgewalt in der Provinz ausüben konnte. Die Möglichkeit der Beherrschung einer Provinz hing zum einen ab von den zur Verfügung stehenden Herrschaftsmitteln, wie Truppenstärke und Verwaltungsapparat, und zum anderen von dem Aufgabengebiet, auf welches diese Herrschaftsmittel anzuwenden waren, z. B. Größe, Bevölkerungszahl, Konfliktpotential und Organisationsfähigkeit einer Provinz. Geht man einmal davon aus, daß es möglich sein mußte, rund 40 Provinzen bei einer Bevölkerung von immerhin 50–60 Millionen mit im ganzen nur einhundertfünfzig Spitzenbeamten aus dem Senatorenund Ritterstand zu verwalten,133 so lassen sich schon allein aus dieser Tat132 So erkennt z. B. Garnsey (1968), S. 58 f. in der Unterscheidung imperium/ iurisdictio eine legale Fiktion der Juristen und ein Produkt im Dienste der kaiserlichen Bürokratie. 133 Hopkins (1980), S. 120 f.; Garnsey/Saller (1989), S. 34 ff., 147; Flaig (1992), S. 99, A. 18. Ein aufgrund der Größe und der Bevölkerungsdichte sicherlich außergewöhnliches Beispiel aus republikanischer Zeit verdeutlicht auch das Problem auf der Ebene der Provinzen, wenn Quintus Cicero als Statthalter von Asia mit ca. 15 Personen eine Bevölkerung von 5 Millionen auf einem Gebiet regieren mußte, das vom Bosporus im Norden bis an die türkische Riviera im Süden, von der ionischen Küste im Westen bis in das anatolische Hochland reichte, vgl. Schulz, R. (2000), S. 482 f. mit Verweis auf Broughton (1975), S. 815.

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sache grundlegende Schlußfolgerungen für die Möglichkeiten der statthalterlichen Strafgewalt ziehen. Die Amtsfunktion des Statthalters verkörperte im Idealfall die Schnittstelle der notwendigen Gewährleistung einer ausreichenden Kohäsion des römischen Reiches, d. h. die Aufrechterhaltung der römischen Herrschaft über die Provinzen und die Unterdrückung möglicher Unabhängigkeitsoder Aufstandsbewegungen unter der Voraussetzung eines rudimentären Verwaltungsapparates134 und der knappen Verteilung der Zwangsmittel in Form von Streitkräften.135 Beim Fehlen eines bürokratischen und polizeilichen Kontrollapparates136 bedeutet dies für den Statthalter, daß er sich weitgehend auf die kontrollierende Oberaufsicht einer Provinz beschränken mußte und nur dort eingriff, wo er seine persönlichen und/oder römischen Herrschaftsinteressen berührt sah. Eine Möglichkeit, mit knappen Herrschaftsressourcen dennoch die Oberhand über die Provinzialbevölkerung zu behalten, bestand in der statusbezogenen Verteilung der Verantwortlichkeit im Rahmen eines Mechanismus der Zwangskooperation mit lokalen Eliten.137 Die Kontrollfunktion mußte bestimmte provinziale Notablenschichten in das römische Herrschaftskalkül einbeziehen, deren soziales Prestige bei der Provinzialbevölkerung bereits anerkannt war. Deren Kooperation mußte durch Privilegien vergütet werden, so daß daraus ein wechselseitiges Interesse am Erhalt der Provinzialordnung entstand. Gleichzeitig ließen sich diese lokalen Eliten dann auch einfacher kontrollieren und konnten je nach 134 Vgl. Flaig (1992), S. 98 f., mit prägnanter Unterscheidung zwischen professionell-bürokratischer Verwaltung und „bloßer“ Herrschaft des römischen Kaisers qua Statusgruppe des Adels. 135 Die Gesamtheeresstärke des römischen Reiches betrug nach Tac., Ann. 4,5 für das Jahr 23 n. Chr. 25 Legionen. Bei einer Sollstärke von 5400 Mann pro Legion würde dies eine Anzahl von 150.000 Soldaten bedeuten. Hinzuzurechnen wären die Prätorianergarde und die diversen Auxiliartruppen. Vgl. zu den römischen Truppen in Judäa unter den Statthaltern Speidel (1982/3); Isaac (1992), S. 427–435; Levine (1975), S. 20 f. Einen Eindruck über die Knappheit an Soldaten in der Provinz vermitteln z. B. Plin., Ep. 10,19.20; 10,21.22. 136 Über das Begleitpersonal des Statthalters in Judäa erfahren wir im Unterschied zu den Reden Ciceros gegen Verres bei Josephus nichts, so daß wir nur allgemein vermuten können, daß ihm – wie den Statthaltern anderer Provinzen – höchstens ein halbes Dutzend offizielle sowie einige inoffizielle Mitarbeiter zur Verfügung standen. 137 Zum Begriff der ,Zwangskooperation‘, vgl. Mann (1994), Bd. 2, S. 25, 39, 72. Schulz, R. (2000) hat in Zusammenfassung seiner Habilitationsschrift (1997) die Bedeutung der Kommunikation zwischen Statthalter und Provinzialeliten für die Zeit der Republik herausgearbeitet und dabei insbesondere die symbolische Dimension von Aufwartungen, Consilium, Gastmählern und Festen und Gelagen unter den Kategorien von Zugänglichkeit und Distanz beschrieben.

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

Akkomodationsbereitschaft in das römische Herrschaftsgefüge integriert werden.138 Explizit kommt dies besonders prägnant in einem Brief des jüngeren Plinius zur Sprache, wobei auch sogleich die schwierige Grenze zwischen Wahrung der Autorität und Rangunterschiede einerseits und die Gefahr der Anbiederei andererseits deutlich wird.139 Somit war die Rechtspflege in informelle Strukturen eingebettet, von dem sowohl Rom als auch die Provinzialeliten profitieren konnten: Die römische Herrschaftspraxis war vor allem dann außermilitärisch gesichert, wenn ihre Interessen mit denen der lokalen Aristokratien zusammenfielen. Deshalb wurden letztere in die Verantwortung der Provinzialherrschaft mit einbezogen, woraus gleichzeitig eine effektive Kontrolle über die Provinzialbevölkerung ohne auszehrende Besatzungskräfte resultierte. Dies galt insbesondere in ökonomischer Hinsicht, wenn man die Steuereintreibung für Rom in die Händen der Wohlhabenden legte. Im Gegenzug für ihre Kollaboration durften die Provinzialeliten dann weitgehend ihre lokalen Machtbefugnisse behalten oder wurden mit entsprechenden Privilegien ausgestattet. Freilich waren sie dann auch der Römischen Herrschaft verantwortlich. Damit diese Herrschaftsweise funktionieren konnte, mußte der Statthalter auf lokale Rechte und Sitten sowie traditionale Machtbeziehungen der Eliten untereinander Rücksicht nehmen; die Provinzialeliten ihrerseits mußten wiederum die Anwendung römischen Rechts und entsprechender Verwaltungspraktiken seitens des Statthalters zur Durchsetzung verhelfen. In einer Krisensituation fühlten sich die meisten Statthalter freilich zu jedweder

138 Vgl. dazu Momigliano (1992), S. 71; Lintott (1993), S. 187. Zu den persönlichen Verbindungen römischer Herrscher zu hellenistischen Aristokratien vgl. Bowersock (1965). Zum Verhältnis zwischen Statthaltern und lokalen, insbesondere städtischen Eliten in der östlichen Reichshälfte, vgl. die jüngst erschienen Abhandlungen von Gebhardt, A. (2002) und Meyer-Zwiffelhoffer (2002), die ich in dieser Arbeit nicht mehr ausreichend berücksichtigen konnte. 139 Plin., Ep. 9,5,1–3: et persevera, quod iustitiam tuam provincialibus multa humanitate commendas; cuius praecipia pars est honestissimum quemque complecti atque ita a minoribus amari, ut simul a principibus diligare. plerique autem, dum verentur, ne gratiae potentium nimium impertire videantur, sinisteritatis atque etiam malignitatis famam consequuntur. [. . .] ut discrimina ordinum dignitatumque custodias; quae si confusa, turbata, permixta sunt, nihil est ipsa aequalitate inaequalius (mach’ weiter so und empfiehl den Provinzialen Deine Rechtspflege durch Leutseligkeit nach allen Seiten, deren vorzüglichste Aufgabe es ist, die Honoratioren an sich heranzuziehen und die Zuneigung der Geringeren zu gewinnen, ohne sich damit die Hochachtung der Großen zu verscherzen. Viele aber befürchten, damit den Anschein zu erwecken, als legten sie allzu großen Wert auf Beliebtheit bei den Einflußreichen, und geraten so in den Ruf der Ungeschicklichkeit oder gar Böswilligkeit. [. . .] Du triffst das rechte Maß in der Beobachtung der Standes- und Rangunterschiede; sind sie einmal verwischt, getrübt, vermengt, dann ist nichts ungleichwertiger als diese Gleichwertigkeit.) Übers. H. Kasten.

5. Statthalterliche Strafgewalt und Machtressourcen

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Maßnahme auch militärischer Art berechtigt, ganz gleich welches Recht hier gegolten haben sollte.140 Bis dahin gleicht die Darstellung eher Idealvorstellungen. Deshalb seien auch kurz die Kehrseiten einer solchen Herrschaftsstruktur erwähnt, für die W. Nippel im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf regionaler Ebene folgende Merkmale geltend macht:141 Aufruhr wurde keineswegs konsequent verfolgt; politische Überlegungen konnten dazu führen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Lokale Autoritäten mußten die öffentliche Meinung in Betracht ziehen, da sie weitgehend auf freiwillige Unterstützung angewiesen waren. Städtische Magistrate, aber auch Statthalter mußten Interventionen seitens höherer Stellen in Betracht ziehen, die entweder um ihr Einschreiten ersucht wurden oder es einfach auf eigene Initiative taten. Es konnte aber auch zu unvorhersehbaren Überreaktionen kommen, falls gerade ausreichend Soldaten zur Verfügung standen. Für persönliche Sicherheit und Schutz des Eigentums mußten die Leute selbst sorgen, z. B. durch die Hilfe von Nachbarn, sozial Untergebenen oder durch den Beistand eines Patrons. Die Durchsetzung von Recht und Ordnung durch lokale Autoritäten hing von den jeweils gerade herrschenden Bedingungen ab. Dies führte einerseits zu einer gewissen Selektivität in der Rechtsdurchsetzung und andererseits nicht selten zur Selbsthilfe. Letzteres konnte unter bestimmten Umständen auch zu Lynchjustiz bzw. Pogromen führen. Eine umfassende Politik einer Disziplinierung der Unterschichten ist allgemein nicht erkennbar. Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus den bisherigen Ausführungen für die Bedingungen der Strafgewaltspraxis der Statthalter ziehen? Auch das statthalterliche Regiment charakterisierte sich mehr durch informelle Herrschaftsmethoden als durch klar definierte Kompetenzabgrenzungen verwaltungsrechtlicher Natur. So konnte eine Überlastung der statthalterlichen Gerichtsbarkeit nur vermieden werden, wenn die Regelung weniger maßgeblicher Streitigkeiten einheimischen Autoritäten überlassen blieben. Die lokalen Eliten waren ihrerseits zur Hilfeleistung bei der Strafverfolgung verpflichtet, falls der Statthalter einen Fall selbst verfolgte bzw. davon ausgegangen werden mußte, daß er dies vorhatte.142 Insgesamt wird deutlich, daß die Herausforderungen einer Statthalterschaft kein bürokratisch-juristisches sondern diplomatisch-politisches Amtsethos verlangten, bei dem es mehr um die Wahrung und Ausbalancierung eines labilen Kräftegleichge140

Vgl. Horsley (1986a), S. 27–30. Vgl. Nippel (1995), S. 112 f. 142 Zu denken wäre dabei z. B. an Fälle, welche die Steuereintreibung oder den Besitz des Kaisers betrafen, außerdem solche, in welche (wohlhabende) römische Bürger oder peregrine Notablen involviert waren; schließlich solche, die Grenzstreitigkeiten zwischen zwei Städten und Kapitalverbrechen betrafen. 141

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wichts mit heterogenen Status- und Interessengruppen ging als um die Erfüllung von Verwaltungsreglements. Daß es Statthalter gab, die dem nicht gerecht wurden bzw. die Statthalterschaft allein zur persönlichen Bereicherung nutzten, ist keine Ausnahme von der Regel, sondern der skizzierten Herrschaftsstruktur inhärent. Die kritische Grenze dafür, was als Auspressung der Provinz oder unangemessene Gewaltausübung galt und was nicht, ist jedenfalls nur schwer auszumachen und hing wohl von den jeweiligen Umständen, politischen Konstellationen und Kräfteverhältnissen ab, die sich nicht abstrakt verallgemeinern lassen. 6. Fazit zum forschungskritischen Teil und Ausgangshypothese Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so war es zunächst wichtig darauf hinzuweisen, daß auch eine noch so umfangreiche, auf rein rechtsgeschichtliche Quellen gestützte Betrachtung die Faktizität der statthalterlichen Gerichtsbarkeit im Rahmen sozialer Interaktionsgeflechte nicht erhellen kann. Ferner wurde begründet, weshalb es nicht sinnvoll erscheint, die Gerichtsbarkeit des römischen Statthalters aus den unterschiedlichsten, räumlich und zeitlich weit gestreuten Rechtsquellen zu rekonstruieren, um diese dann als Folie zur Überprüfung der statthalterlichen Strafgewaltspraxis in Einzelfällen anzulegen. Statt die Untersuchung statthalterlicher Strafgewalt anhand rein rechtsimmanenter Kriterien aus Rechtsquellen (soweit überhaupt überliefert) vorzunehmen, welche dann mit fallweisen Belegen aus den literarischen Quellen unterschiedlichster Provenienz unterfüttert werden, sollte sie vor dem Hintergrund der konkreten Herrschaftsverhältnisse in einer bestimmten Provinz über einen begrenzten Zeitraum angestellt werden. Dabei müßte dem individuellen Moment und der Persönlichkeit eines Statthalters ebenso Beachtung geschenkt werden143 wie der politisch-sozialen Realität, mit der sich ein Statthalter in der jeweils von ihm verwalteten Provinz konfrontiert sah. Ferner sind dann die Gruppen und Bewegungen zu berücksichtigen, sofern sie auf die Formen der Machtausübung Einfluß hatten bzw. von ihr betroffen waren, wozu auch die statthalterliche Strafgewalt zu zählen ist. Ausgehend von den oben dargelegten herrschaftsstrukturellen Voraussetzungen ist folgende Ausgangshypothese angebracht: Der übergeordnete Maßstab für die Strafgewaltspraxis des Provinzstatthalters war kein Verwaltungsrecht, sondern konstituierte sich aus erfolgsorientierten allgemeinen 143 Zu denken wäre dabei an seine Karrierepläne, seine Klientel- und Günstlingsbeziehungen, sein ökonomisches und politisches Kalkül, seine grundsätzliche Einstellung bzw. Vorurteile gegenüber der Provinzialbevölkerung etc.

6. Fazit zum forschungskritischen Teil und Ausgangshypothese

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Herrschaftsprinzipien im Interesse Roms; die Kehrseite kann in seiner Anfälligkeit für die Ausnutzung bzw. den Mißbrauch durch persönliche und willkürlich anmutende Interessen gesehen werden.144 Als Resultante einer „gewachsenen Verfassung“145 orientierte sie sich an Herrschaftserfahrung und Präzedentien. Die Strafgewalt des römischen Provinzstatthalters war pragmatisch darauf ausgerichtet, auf eine vorgegebene Wirklichkeit zu reagieren und nicht abstrakt-generalisierenden, geschweige denn systematisierten, Rechtssatzungsakten Genüge zu leisten. Macht, Herrschaft und Recht sind dabei kaum zu scheiden. Aufgrund des geringen Institutionalisierungsgrades und der geringen Regelungsdichte hat die Strafgewalt des Statthalters den Charakter einer persönlichkeitsabhängigen, situationsbezogenen und eher reaktiv-überwachenden Entscheidungskompetenz und ist daher von wenig Kontinuität und Stabilität gekennzeichnet. Abweichungen von dem, was als consuetudo erachtet wurde, muß damit noch nicht als Rechtsverstoß gegolten haben. Diese Strafgewalt des Statthalters hat eine disziplinierende, auf den Erhalt der Ordnung ausgerichtete Funktion, welche nur aus der Einbettung in schwer greifbare informellen Strukturen zu verstehen ist, weil sie in die jeweiligen herrschenden Machtkonstellationen der maßgeblichen Akteure mit ihrem unterschiedlichen Status und Prestige und ihren divergierenden Interessen eingebunden ist.146 So gesehen, kommt es einem historischen Verständnis entgegen, wenn man von der Vorstellung ausgeht, daß für die Strafgewaltspraxis „Spielregeln“ bestimmend waren, die außerhalb rechtlicher Regelungen im engeren Sinne (wie z. B. Gesetze) zu suchen sind. Dies bedeutet nicht nur, daß außerhalb schriftlicher Normierung auch das Gewohnheitsrecht (consuetudo, exempla, mos maioirum) große Bedeutung hatte, sondern die Strafgewalt darüber hinaus maßgeblich von sozialen Interaktionsregeln beherrscht war, die man als „ritualisierte Konfliktbewältigung“ bezeichnen könnte. Der Begriff „Regeln“ bedeutet hier nicht die strikte Erfüllung eines rechtlich nor144 MacMullen (1986), S. 150: „Governors had a right to freedom of action, they did a great deal more than mechanically apply some rule-book. Really, it was they who determined the level of judicial savagery quite as much as the central government.“ Rosen (1991), S. 42, kommt bei seiner Untersuchung des Prozesses Jesu zu dem Ergebnis „Die Evangelien sind sich darüber einig, daß nicht das Recht, das römische oder das jüdische, sondern die Macht den Ausgang des Verfahrens bestimmt hat.“ 145 Vgl. dazu die allg. Charakterisierung der römischen Verfassung bei Meier (1997), S. 57 f.; Bleicken (1991), S. 82–85. 146 Vgl. Shaw (1993), S. 177, der die personal power bei Josephus unter dem Gesichtspunkt untersucht: „in achieving a better understanding of a social system in which the institutionalization or systematic impersonal networking of power was weak, and power therefore tended to be seen, and managed, in terms of extensions of personality.“

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I. Die Strafgewalt zwischen Recht und Herrschaft

mierten Verhaltens. Vielmehr scheinen die wechselseitigen Verhaltenserwartungen zwischen Statthaltern nicht nur in eine normative, sondern auch in eine kognitive Erwartungsstruktur eingebettet,147 die sich im Kontext der statthalterlichen Strafgewaltspraxis kaum voneinander unterscheiden lassen. Zugespitzt könnte man behaupten: gerade nach modernem Verständnis außerrechtliche Prinzipien beanspruchen normative Gültigkeit, sofern es um die Sicherung und Wahrung römischer Herrschaftsinteressen geht; im Vorfeld ihrer Durchsetzung aber, d. h. im Entscheidungsprozeß bis zur Anwendung (oder bewußten Unterlassung) der Strafgewalt sind hingegen kognitive Aushandlungsformen bzw. Abwägungsmotive erkennbar. Dadurch konnte ein Konflikt in prozessuale und damit rechtliche Bahnen gelenkt werden, ohne daß deshalb das Ethos und die sozialen Kräfte der persönlichen Feindschaft (inimicitia), der Freundschafts- und Familienverpflichtungen (pietas) oder der Patron-Klient-Verhältnisse neutralisiert worden wären;148 dementsprechend lag es nicht im Vorstellungs- und Erwartungshorizont, von der auctoritas, dignitas, wie überhaupt vom sozialen Status der Beteiligten zu abstrahieren.149 Um diese nach modernem Verständnis außerrechtlichen Regeln bzw. Einflüsse für die statthalterliche Strafgewalt herauszuarbeiten, bedarf es einer kontextualisierenden Analyse von Fallbeispielen, die sich nicht von Vorstellungen eines vermeintlichen Rechtssystems als eines Gelehrtenkonstruktes abhängig macht, das unterschwellig oder sogar gegen die eigenen Intentionen von der Vorstellung eines systematisierten oder generalisierten Rechts ausgeht, das sich erst mit der Entstehung des modernen Anstaltstaates herausgebildet hat.150 Folglich 147 Luhmann (1987), S. 42 f.: „Als kognitiv werden Erwartungen erlebt und behandelt, die im Falle der Enttäuschung an die Wirklichkeit angepaßt werden. Für normative Erwartungen gilt das Gegenteil: daß man sie nämlich nicht fallenläßt, wenn jemand ihnen zuwider handelt.“ Setzen kognitive Erwartungen also Lern- und Anpassungsbereitschaft voraus, so gilt dies gerade nicht für normative Erwartungen. Normen können dann als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen“ definiert werden, welche die Unbedingtheit der Geltung insofern implizieren, „als die Geltung als unabhängig von der faktischen Erfüllung oder Nichterfüllung der Norm erlebt und so auch institutionalisiert wird.“ 148 Dem entspricht eine Semantik antiker Autoren, die Herrschaftshandeln und Entscheidungen von Statthaltern mehr in Formen von Tugenden bzw. Lastern (Besonnenheit, Selbstbeschränkung, Zorn, Ehrgeiz, Gier, Übermut, Gewalttätigkeit etc.) beschreiben als mit einer (dem modernen Leser vertrauten) abstrakten Begrifflichkeit, die sogleich auf die Verhältnisse eines Herrschaftssystems als Ganzes abzielt. 149 Vgl. für das stadtrömische Prozeßwesen die anregende Studie von Thomas, Y. (1997). Veyne (1995), S. 70, bezeichnet auch den Zivilprozeß als „Privatkrieg mit anderen Mitteln“. 150 Bei der Vorstellungen eines systematisierten und generalisierten Rechts gehe ich von den folgenden Definitionen aus der Rechtssoziologie Webers, M. (1980), WuG, S. 395 f. aus: Generalisierung meint die „Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalls maßgeblichen Gründe auf ein oder mehrere ,Prinzipien‘“ als Rechts-

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gilt es den Statthalter aus einer für damaligen Verhältnisse anachronistisch anmutenden „juristischen Zwangsjacke“ zu befreien und seine Strafgewaltspraxis sowohl im weiteren Kontext der allgemeinen Herrschaftsstrukturen als auch im engeren Kontext seiner unmittelbaren Interaktion mit den Provinzialen zu analysieren. Will man diesen idealiter formulierten Maximalansprüchen bei dem notorisch knappen Überlieferungsbestand auch nur annähernd gerecht werden, so kommt für eine Untersuchung der statthalterlichen Strafgewalt zur Zeit der Republik nur die Provinz Sizilien, für die Zeit des Frühprinzipats nur die Provinz Judäa in Frage. Der Grund ist schlicht darin zu suchen, daß für Sizilien Ciceros Verrinen, für Judäa die Schriften des Flavius Josephus sowie die neutestamentlichen Schriften vorliegen. Auf die Reden des Cicero gegen Verres wird im folgenden Kapitel eingegangen. Dort werden besonders jene Fragkomplexe berücksichtigt, die durch die Thesen von Mommsen und Kunkel aufgeworfen wurden.151 Der Schwerpunkt soll jedoch eindeutig auf der Analyse der Strafgewaltspraxis in Judäa liegen, der sich die gesamte weitere Untersuchung widmet.

sätze sowie die Isolierung und Abstrahierung der Tatbestandsmerkmale, die rechtlich relevant sein sollen. Systematisierung bedeutet „die Inbeziehungsetzung aller durch eine Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden“ und folglich beansprucht, „daß alle denkbaren Tatbestände unter einer seiner Normen (. . .) logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen Garantie entbehre.“ 151 Eine umfassende, zumal in prosopographischer Hinsicht gesättigte Analyse der Verrinen steht wohl noch aus, hätte jedoch den Rahmen dieser Untersuchung gesprengt. Wesentliches zur Erklärung des Statthalterregiments in Sizilien in (spät)republikanischer Zeit leistet die Monographie von Schulz, R. (1997), jedoch ist die Strafgewalt der Statthalter hier nur marginal behandelt. Bartosˇek (1977) bleibt bei Behandlung des römischen Rechts rein deskriptiv und hat nichts wesentliches zum Strafrecht zu sagen.

II. Ciceros Verrinen und die „selbstherrliche Strafgewalt“ Die Reden gegen Verres sind die wichtigste Quelle aus (spät)republikanischer Zeit, welche uns Fallbeispiele zur Bewertung der statthalterlichen Strafgewalt liefert. Schon allein deshalb müssen sie herangezogen werden, um die Thesen von Mommsen und Kunkel (und ihrer jeweiligen Adepten) zu überprüfen. Folgende Leitfragen werden uns dabei beschäftigen: Welchen Sinn macht die Abgrenzung der Strafgerichtsbarkeit von der Koerzitionsgewalt angesichts der Strafgewaltspraxis? In welcher Weise macht der Statthalter von einem Consilium Gebrauch? Kann tatsächlich erwiesen werden, daß er an dessen Votum gebunden war (Kunkel), oder ist nicht doch vielmehr von einer schrankenlosen Strafjustiz der Statthalter (Mommsen) auszugehen? Schließlich stellt sich die Frage, ob sich beide Ansätze überhaupt ausschließen müssen, bedenkt man die potentielle Instrumentalisierbarkeit bzw. Manipulierbarkeit eines Consiliums durch den Statthalter. Dem letzten Punkt scheint über die formalrechtlichen Aspekte der Funktionsweise eines Consiliums hinaus, in der Forschung bisher zu wenig Beachtung geschenkt worden zu sein. Allein die Verrinen des Cicero bieten ausreichendes Material, um die aufgeworfenen Fragen in einem engeren Kontext ausführlich zu erörtern. 1. Die Verrinen des Cicero Ciceros Reden gegen Verres stehen im Kontext des im Jahre 70 v. Chr. eröffneten Repetundenprozesses (crimen pecuniarum repetundarum) gegen diesen besonders skrupellosen Statthalter in Sizilien (73–71 v. Chr.). Die sogenannte zweite Rede ist jedoch in der überlieferten Form nicht gehalten worden. Verres entzog sich nach einem ersten Verhandlungstermin dem Prozeß, indem er freiwillig ins Exil ging. Möglicherweise hat er die Verteidigung für aussichtslos erachtet.1 Cicero fertigte seine Anklagerede dennoch 1 Cicero durchkreuzte die Verschleppungstaktik seiner Prozeßgegner und konnte am 16. August 70 v. Chr. die erste Verhandlung zu Ende bringen, um am folgenden Tag die Zeugen aus Rom, Kleinasien und Sizilien auftreten zu lassen, die den Nachweis erbringen sollten, daß sich Verres in den drei Jahren seiner Statthalterschaft 40 Mio. Sesterzen rechtswidrig angeeignet hatte (Cic., 1 Verr. 56; 2 Verr. 1,27). Dies zeigte Wirkung: Zumindest nach Ciceros Schilderung versuchte der Verteidiger des Verres – Hortensius, der „bisherige Beherrscher der Gerichtshöfe“ (Gelzer) – gegen

1. Die Verrinen des Cicero

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in einer höchst umfangreichen schriftlichen Fassung aus, wohl nicht zuletzt mit dem Ziel, sich damit zumindest in der lesenden Öffentlichkeit eine für die weitere Karriere notwendige Aufmerksamkeit zu verschaffen.2 Daß in diesem Zusammenhang die rhetorischen Ausschweifungen ein besonderes Ausmaß annehmen, zudem die spezielle Situation des Senatsregimes im Streit um die Zusammensetzung der Gerichtshöfe von Cicero bewußt ausgenutzt wird und er sich mit aller Verve als Verfechter des Gemeinwohls aufspielt, sei an dieser Stelle nur erwähnt. Die spezielle Situation des stadtrömischen Repetundenprozesses interessiert uns hier weniger als die von Cicero überlieferten Fälle zur Ausübung der Strafgewalt des Statthalters Verres in Sizilien. Daß man sich hier der fingierten Situation der Anklagereden bei der Interpretation der Aussagen Ciceros bewußt bleiben muß, versteht sich von selbst. Eine der Taktiken in der Prozeßführung Ciceros zeigt sich in Anspielungen und dem allgemeinen Korruptionsverdacht gegenüber den vom Senat eingesetzten Geschworenengerichtshöfen. So droht Cicero in seiner Eigenschaft als Ädil mit einer erneuten Klage gegen Verres vor der Volksversammlung, falls das Urteil der mit Senatoren besetzten Richterbank diesmal wieder nicht der Anklage gerecht würde.3 Das römische Prozeßwesen bringt es überdies mit sich, daß im Rahmen der politischen Standesjustiz auch im Repetundenverfahren keineswegs nur ein eng umrissener und präzise definierter Straftatbestand in sachlicher Weise verhandelt würde. Denn das Verfahren zu protestieren (Cic., 1 Verr. 55; 2 Verr. 1,20.27–29) oder durch Zeugenbefragung einzugreifen (Cic., 2 Verr. 1,71.151; 2,156). Verres verschlug es scheinbar vollkommen die Stimme (Cic., 2 Verr. 1,20; 3,41; 5,155), und nach drei Tagen Zeugenverhör galt er in der öffentlichen Meinung als verurteilt (Cic., 2 Verr. 1,20), so daß er sich der 2. Verhandlung am 10. September durch Selbstverbannung entzog. Vgl. Gelzer (1969), S. 43. Zu dem eher geringen Rückhalt, den Verres unter einflußreichen Leuten in Rom genoß, vgl. Brunt (1980), S. 278 ff. 2 Brunt (1980) verdeutlicht, daß der Verres-Prozeß eher für Ciceros Stellung und weitere Laufbahn Bedeutung hatte, zumal in Ablösung des Hortensius als den bis dahin unangefochtenen Staranwalt in den Gerichtshöfen. Deshalb dürfe dieser Prozeß im Kontext der allgemeinen politischen Situation des Jahres 70 sowie für die weitere politische Entwicklung (auch mangels anderer Quellen) nicht überbewertet werden. 3 Dabei hätte es sich nicht um eine Repetundenklage, möglicherweise aber um eine Klage wegen maiestas handeln können. Zur Diskussion der Strafrechtskompetenz der Ädile und ihrem Recht (abgesehen von den Volkstribunen) agere cum populo vgl. Bauman (1974). Außerdem spielt Cicero auf den zu dieser Zeit erneut diskutierten Vorschlag an, die Repetundengerichtshöfe wieder mit Rittern zu besetzen, nachdem Sulla dies abgeschafft hatte. Cicero fingiert also politischen Druck, den er auf die senatorischen Richter während der Verhandlung ausübt, vgl. z. B. Cic., 1 Verr. 1.35 ff. 47; 2 Verr. 1,5–7.21 f.; 2,28; zur politischen Situation und Ciceros politischer Haltung zu dieser Zeit vgl. Gelzer (1969), S. 36–50; Brunt (1980); Bruhns (1980).

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II. Ciceros Verrinen und die „selbstherrliche Strafgewalt‘‘

die antike Gerichtsrhetorik zielt nicht zum geringsten Teil auf emotionale und affektive Wirkung in der Öffentlichkeit ab. Auch Cicero führt alles mögliche als Beschuldigung gegen Verres an: persönliche Charaktereigenschaften, sittliche Verwerfungen, Anekdoten aus dem Lebens- und Karriereweg. So kommen nicht nur bestimmte Sachverhalte zur Sprache, die einem in bezug auf die Anklage wegen „Erpressung“ sofort als einschlägig in Auge springen würden, sondern sämtliche Aspekte des Statthalterregiments, die in ihrer Gesamtheit auf die völlige Diskreditierung der Persönlichkeit des Verres abzielen. Zudem sollte keinesfalls auf eine konsequente Regelmäßigkeit in der Strafverfolgung ähnlich gelagerter Fälle geschlossen werden. Diesbezüglich hing für den Ausgang des Prozesses viel zu viel von den internen Querelen des Senats, den Machtkonstellation sowie den Feind- und Freundschaften zwischen den einflußreichsten Mitgliedern des Senatorenstandes ab. Für uns ist entscheidend, daß im Rahmen der Anklage wegen „Erpressung“ der Provinz4 neben sämtlichen Aspekten des Statthalterregiments5 auch interessante Informationen zur Kapitalgerichtsbarkeit des Statthalters zutage treten. Zunächst seien die einschlägigen Fallbeispiele aus den Verrinen dargelegt,6 um sie anschließend noch einmal im Zusammenhang zu interpretieren.

4 Zur Anklage vgl. aus dem Vorverfahren (divinatio), Cic. Div. Caec. 11 wegen Erpressung (causa iudicium de pecuniis repetundis), Verres habe „drei Jahre lang die Provinz Sizilien verheert, die Gemeinden der Sizilier ausgeplündert, die Heiligtümer beraubt.“, sowie Cic., Div. Caec. 30 speziell zum Getreidepreisbetrug. Quasi die Summe der Anklage findet sich in Cic., 1 Verr. 13: „Unzählige Geldbeträge hat er aus den Gütern der zehntpflichtigen Landwirte durch ein neues, schändliches Verfahren erpreßt, die treuesten Bundesgenossen wie Staatsfeinde behandelt, römische Bürger gleich Sklaven gefoltert und getötet, noch so Schuldige für Geld der Gerichtsbarkeit entzogen, die ehrenhaftesten und untadeligsten Männer in Abwesenheit angeklagt und ohne rechtliches Gehör verurteilt und verbannt, die sichersten Hafen, die größten und festesten Städte Seeräubern und Wegelagerern geöffnet, sizilische Matrosen und Soldaten, unserer Freunde und Verbündete, des Hungertodes sterben lassen, die besten und brauchbarsten Flotten zur großen Schande des römischen Volkes preisgegeben und zugrundegerichtet.“ 5 Cicero führt sie an, weil sie den systematischen Charakter der brutalen Ausbeutungspraktiken des Verres auf Sizilien besonders hervorheben sollen. Er will verdeutlichen, daß es sich hier nicht nur um das verbreitete und tolerierte Maß gelegentlicher Korruption und Willkür eines Statthalters handelt, sondern daß die Methoden des Verres Ausmaße annahmen, die den Interessen des römischen Volkes schadeten. 6 Daß es sich im folgenden – was das 2. Buch anbetrifft – stets um Kapitalprozesse handelt, geht in Cic., 2 Verr. 2,68 gleich aus dem ersten Satz hervor: Iam vero in rerum capitalium quaestionibus.

2. Die Exempla Ciceros zur Ausübung der Strafgewalt des Verres

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2. Die Exempla Ciceros zur Ausübung der Strafgewalt des Verres a) Sopatros aus Halikyai (2 Verr. 2,68–81) Der angesehene und wohlhabende Provinziale Sopatros7 war bereits beim Amtsvorgänger des Verres – C. Sacerdos8 – aus nicht näher erläuterten Gründen wegen eines Kapitalverbrechens von persönlichen Feinden angeklagt, vom Statthalter dann aber freigesprochen worden (§ 68). Dennoch kommt es vor Verres zur abermaligen Anklage in der gleichen Sache und durch die gleichen Ankläger,9 so daß er von Verres zu einem bestimmten Gerichtstag in Syrakus10 vorgeladen wird. Ein Gehilfe des Verres fordert nun im Vorfeld des Prozesses von Sopatros eine Bestechungssumme von 80.000 Sesterzen für einen Freispruch, die er auch erhält. Nachdem es aber in der folgenden Verhandlung zu keinem Urteil kommt (weshalb wissen wir nicht),11 fordert der Gehilfe des Statthalters nochmals eine erhöhte Bestechungssumme mit dem Hinweis, der Ankläger habe ebenfalls einen höheren Betrag entrichtet. Sopatros verweigert diesmal jedoch den Geldbetrag, da er mit dem günstigen Ausgang des Prozesses rechnen konnte: zum einen, weil er bereits in derselben Sache vom vorherigen Statthalter freigesprochen worden war, zum anderen, weil sich auch diesmal das Consilium aus denselben „ehrenwerten Leuten aus dem syrakusischen Bezirk“ zusammensetzen sollte.12 7 Cicero verweist einerseits auf den höheren Status des Mannes (Cic., 2 Verr. 2,68: homo domi suae cum primis locuples atque honestus), macht aber andererseits auf das fehlende Bürgerrecht und die damit einhergehende schlechte Rechtsstellung aufmerksam: Homo, quamquam erat et Siculus et reus, hoc est et iure iniquo et tempore adverso (Cic., 2 Verr. 2,70). Der Herkunftsort Halikyai lag im inneren Siziliens etwa 35 km östlich von Lilybaeum. 8 Vgl. Cic., 2 Verr. 2,21. C. Licinius Sacerdos war 75 v. Chr. Stadtprätor, 74 v. Chr. dann Statthalter in Sizilien und in beiden Ämtern der Vorgänger des Verres. Cicero verwendet den Begriff Prätor sowohl im strengen Sinne als auch in der Bedeutung von ,Proprätor‘ für den Statthalter, vgl. Cic., 2 Verr. 1,34 u. ö. 9 Cic., 2 Verr. 2,68: Huic eidem Sopatro idem inimici ad C. Verrem, cum is Sacerdoti successisset, eiusdem rei nomen detulerunt. 10 Zu Syrakus als Statthaltersitz vgl. Haensch (1997), S. 158 f.; die Überlieferung ist jedoch enttäuschend und bietet kaum Zusatzinformationen zu dem, was Cicero in den Verrinen berichtet. 11 Nach Cic., 2 Verr. 2,70 kann es sich um eine Vertagung gehandelt haben, evtl. weil Verres bereits wußte, daß am nächsten Tag noch andere Prozesse stattfinden würden. 12 Cic., 2 Verr. 2,70: Idemque hoc amicis eius et defensoribus videbatur, atque eo etiam magis quod iste, quoquo modo se in ea quaestione praebebat, tamen in consilio habebat homines honestos e conventu Syracusano, qui Sacerdoti quoque in consilio fuerant tum cum est idem hic Sopater absolutus. Hoc rationis habebant, facere eos nullo modo posse ut eodem crimine eisdem testibus Sopatrum condemnarent

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Im Vorfeld der Wiederaufnahme der Verhandlung sind die genauen Umstände nur schwer zu durchschauen: Zum einen finden sich die Mitglieder des Consiliums in großer Zahl ein; zum anderen fordert Verres vom römischen Ritter M. Petilius, „den er in seinem consilium hatte, seinen Obliegenheiten nachzugehen, da er Richter in einer Privatsache sei.“13 Petilius lehnt jedoch ab, „weil seine Freunde, die er in seinem consilium haben wollte, von Verres selbst in seinem eigenem Consilium zurückgehalten würden.“14 Der Vorgang wird verständlicher, wenn man davon ausgeht, daß gleichzeitig mehrere Prozesse auf einem Gerichtstag (conventus) in Syrakus anberaumt, folglich auch mehrere Consilien notwendig waren, mindestens jedoch zwei, eines für die schwereren15 Strafrechtsfälle vor dem Statthalter und ein weiteres für Zivilprozesse. Petilius war nun zum einen Angehöriger des Consiliums von Verres und aufgefordert, daran teilzunehmen, zum anderen aber selbst Richter (iudex) in einem zivilrechtlichen Fall, für das er selbst ein Consilium zusammengestellt hatte. Verres forderte ihn auf, seiner Richterfunktion im Zivilprozeß nachzukommen, so daß er nicht gleichzeitig seinem Consilium angehören konnte; Petilius wünschte jedoch, lieber am Consilium des Verres teilzunehmen, und zwar mit dem Argument, daß ihm die Leute, die er in seinem Consilium im Privatrechtsfall dabeizuhaben wünschte, sowieso fehlten, da sie alle dem Consilium des Verres im Fall des Sopatros angehörten. Mit Ironie beschreibt Cicero, wie Verres nun dieses Argument unterläuft, indem er dieses Consilium nur zu gerne entließ, um den Fall des Sopatros nun mit einem Consilium aus seinem Gefolge zu verhandeln (§ 71). idem homines qui antea absolvissent. Itaque hac una spe ad iudicium venitur. Die Formulierung scheint auf den ersten Blick nahezulegen, das Consilium habe Sopatros freigesprochen. Genauer betrachtet besagt die Stelle aber nur, daß eben dieselben Leute dem Consilium angehörten, als Sopatros freigesprochen worden war; wer dies eigentlich tat, das Consilium, der Statthalter oder beide im Einverständnis, läßt sich nicht genau sagen, da das prädikative Partizip absolutus est hier passivisch formuliert. Folglich kann die Stelle nicht den Nachweis erbringen, daß das Consilium auch tatsächlich das Urteil fällte, welches Sacerdos dann nur verkündete. Die Stelle läßt nur vermuten, daß sich der Statthalter in diesem Fall an das Votum des Consiliums hielt, was wohl auch aus „diplomatischen“ Erwägungen geboten war, wollte man es sich nicht mit den lokalen Honoratioren verderben bzw. schlechte Stimmung unter ihnen schüren, was Verres im Vergleich zu Sacerdos – wie das folgende zeigen wird – freilich wenig kümmerte. Damit ist auch der eigentliche Vorwurf Ciceros gegenüber Verres umschrieben, keinesfalls jedoch der, daß der Statthalter gezwungen gewesen wäre, sich an das Votum des Consiliums zu halten. 13 Cic., 2 Verr. 2,71: M. Petilium, equitem Romanum, quem habebat in consilio, iubet operam dare, quod rei privatae iudex esset. 14 Cic., 2 Verr. 2,71: Petilius recusabat, quod suos amicos, quos sibi in consilio esse vellet, ipse Verres retineret in consilio. 15 „Schwerer“ muß sich hier nicht nur auf den Tatbestand der Anklage beziehen, sondern auch auf das „Gewicht“, d. h. den sozialen Status des Angeklagten.

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Dagegen protestiert der Anwalt des Sopatros, der römische Ritter Q. Minucius, der auf eine Vertagung der Verhandlung gehofft hatte, und moniert, daß der Fall unter den gegebenen Umständen an diesem Tag nicht mehr untersucht werden könne (§ 72). Verres reagiert darauf beleidigt, so als hielte man ihn nicht für fähig, „über einen Sizilier, ein Griechlein ein Urteil zu sprechen“.16 Wohl etwas eingeschüchtert gesteht der Beistand des Sopatros sofort ein, daß Verres dazu sicherlich in der Lage sei, er jedoch lieber vor dem Consilium verhandeln würde, das sich bereits vorher mit dem Fall beschäftigt habe,17 zumal auch er von Petilius in dessen Consilium gebeten worden sei.18 Cicero schildert ihn als prinzipientreu und unbestechlich,19 so daß er sich, nachdem das Consilium entlassen war, konsequenterweise weigert, die Verteidigung fortzuführen und den Gerichtsort verläßt; und seinem Beispiel folgten „abgesehen von den Siziliern auch die übrigen Freunde und Beistände des Sopatros“.20 Daraus ergibt sich für Verres folgende Zwickmühle: Vertagt er die Untersuchung (quaestio), um sie später wieder mit dem eigentlich vorgesehenen Consilium abzuhalten, würde es wahrscheinlich wieder für einen Freispruch stimmen;21 verurteilt er jedoch Sopatros sine consilio . . . sine patrono atque 16 Cic., 2 Verr. 2,72: si tibi idoneus videor qui de homine Siculo ac Graeculo iudicem. Dazu meint Kunkel (1967), S. 233 (im Gegensatz zu seiner früheren Ansicht), idoneus beziehe sich nur auf die Befähigung bzw. persönlichen Eigenschaften, nicht jedoch auf eine rechtliche Zuständigkeit. Jedoch relativiert er diese Aussage sogleich wieder unter Verweis auf Plin., Ep. 10,32,2, „wo idoneus allerdings wirklich einmal im Sinne behördlicher Zuständigkeit gebraucht ist.“ Die Umstände des Falls scheinen mir Kunkel Recht zu geben, zugleich wird aber deutlich, wie wenig aussagekräftig der Rekurs auf bestimmte Wörter angesichts ihres breiten Bedeutungsspektrums ist. 17 Cic., 2 Verr. 2,72: sed pervellem adessent ii qui adfuerant antea causamque cognorant. 18 Cic., 2 Verr. 2,72: me quoque Petilius ut sibi in consilio adessem rogavit. 19 Cic., 2 Verr. 2,73: „Minucius [der Verteidiger des Sopatros] pflegte in Syrakus seine Angelegenheiten so wahrzunehmen, daß er dabei auch an sein Recht und seine Würde dachte (ut sui iuris dignitatisque meminisset), und er wußte, daß er in der Provinz sein Vermögen nur in dem Maße vermehren dürfe, als er dabei nichts von seiner Unabhängigkeit (libertas) einbüße.“ Cicero will damit eben genau den Unterschied zu Verres und seinem Gefolge herausstellen. 20 Cic., 2 Verr. 2,73: causam sese dimisso atque ablegato consilio defensurum negavit. Itaque a subselliis discessit, idemque hoc praeter Siculos ceteri amici Sopatri advocatique fecerunt. 21 Cic., 2 Verr. 2,74: Si dimisisset eo tempore quaestionem, post, illis adhibitis in consilium quos ablegarat, absolutum iri Sopatrum videbat. Die Formulierung muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß Verres gezwungen war, dem Freispruch dieses Consiliums unter allen Umständen zu folgen; klar ist jedoch, daß er sich andernfalls dem Vorwurf der Voreingenommenheit ungleich stärker ausgesetzt hätte. Geschickter war es deshalb, unter tagungstechnischen Vorwänden ein anderes Consilium ein-

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advocatis in Abänderung des Urteils seines Vorgängers, werde er sich unerträglichen Haß zuziehen (§ 74). Verres berät sich in dieser Lage nun flüsternd vor der Menge mit seinem Gehilfen Timarches, der zuvor bereits auch die Bestechungssummen organisiert hatte, ruft plötzlich Zeugen auf, die sich mit knappen Worten äußern, und verkündet, ohne Fragen gestellt zu haben, hastig den Schuldspruch (§ 75). Cicero resümiert, er habe den Unschuldigen de sententia scribae medici haruspicisque verurteilt,22 also nach dem Votum des Schreibers, Arztes und Opferschauers. Damit faßt Cicero in rhetorischer Zuspitzung die Unwürdigkeit und Parteilichkeit der Berater zusammen, die sämtlich der cohors amicorum des Statthalters angehörten. So ist sine consilio hier wohl noch am ehesten im Sinne von „ohne ,angemessenes‘ Consilium“ zu verstehen,23 d. h. ohne – wie wahrscheinlich sonst am Gerichtstag in Syrakus bei Anklagen gegen honestiores üblich – Mitwirkung von Stadthonoratioren. Darunter sind besonders die wohlhabenderen römischen Bürger zu zählen; inwiefern Sizilier mitgewirkt haben, von denen es hieß, sie seien auf der Bank der Beisitzer sitzengeblieben, wissen wir nicht. Eindeutig geht aus Ciceros Ausführungen der Bestechlichkeitsvorwurf gegen Verres hervor.24 Mittelbar impliziert dies den Vorwurf der Verurteilung eines Beschuldigten mit hohem sozialen Status ohne ein angemessen zusammengesetztes Consilium und ohne echte Verteidigungsmöglichkeit. Wichtig ist nun, in welchem dieser Punkte sich Verres rechtswidrig verhalten haben soll. Aus der nachfolgenden rhetorischen Bearbeitung des Falls (§§ 78–81), läßt sich dies nicht klar entscheiden, da sich Cicero hier einer zusetzen, bei dem sich Verres von vornherein sicherer sein konnte, daß es in seinem Sinne beraten würde. 22 Interessant ist hier die Formulierung de sententia, bedenkt man, was W. Kunkel aus der Formulierung de sententia consilii ableitet. Die Formulierung deutet an, daß sie sich auch auf Beratungen bezieht, die nicht im strengen Sinne als Consilium interpretiert werden müssen; andernfalls müßte davon ausgegangen werden, daß Verres nach Entlassung des großen Consiliums dieses durch ein kleineres Gefolge ersetzte, das sich nun aus Mitgliedern seines persönlichen Stabes zusammensetzte. Die letztere Vermutung scheint mit der Tatsache zu kollidieren, daß Cicero eindeutig von einer Verurteilung sine consilio spricht; die erste Sichtweise würde eindeutig zeigen, daß dort wo die Formulierung de sententia auftaucht, keinesfalls von einem bindenden Urteil ausgegangen werden müßte. Da Cicero hier jedoch hochironisch argumentiert, darf man seine Formulierungen im rhetorischen Kontext eines fiktiven Plädoyers nicht auf die Goldwaage legen und die Stellen überstrapazieren. Cicero spricht in 2 Verr. 2,71 vom cohors nequissima (nichtswürdigen Gefolge; vgl. zur cohors amicorum als consilium Cic., 2 Verr. 2,30.34. So scheint in gewisser Weise das ne- in nequissima das sine vor consilium zu implizieren. 23 So auch Kunkel (1967), S. 233. 24 Vgl. zu weiteren Fällen, bei denen Bestechungssummen (einmal in Höhe von 130.000 Sesterzen) bezahlt wurden, auch Cic., 2 Verr. 2,119.

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Semantik der Moral und des religiösen Frevels bedient. Interessant ist jedoch, daß Cicero die Frage aufwirft: „Denn welchen dieser Punkte leugnet er?“ und sich sogleich selbst die Antwort darauf gibt: „Natürlich den einzigen, den er leugnen muß, daß er Geld erhalten habe.“25 Dies ließe sich so verstehen, daß die Entlassung (eines Teils) des Consiliums samt der nachfolgenden Verurteilung eines Provinzialen mit höherem sozialen Status zwar gegen Tradition und Sitte verstieß, im Repetundenprozeß jedoch allein der Bestechungsvorwurf ausschlaggebend war. Die Entlassung des Consiliums hätte auch gar nicht geleugnet werden können, da sie – wie Cicero selbst betont – in aller Öffentlichkeit stattgefunden hatte. Im Lichte von Kunkels These, der Statthalter sei in einem regulären Strafprozeß – der hier vorliegt26 – an das Votum eines Consiliums gebunden gewesen, irritiert Ciceros Darstellung, Verres habe von vornherein die Absicht gehabt, Sopatros schuldig zu sprechen. Dies wäre doch nur möglich gewesen, wenn er sich über das Votum des Consiliums, das allem Anschein nach Sopatros freisprechen wollte, hinwegsetzen konnte. Daß sich die günstige Gelegenheit bot, einen Großteil des Consiliums zu entlassen, zumal gerade jene Leute, die Sopatros wohl eher gewogen waren, war nicht unbedingt voraussehbar. Und selbst wenn man Verres diese Absicht unterstellt, weil er wußte, daß am nächsten Tag noch andere Prozesse stattfinden würden, so ist es äußerst unwahrscheinlich, daß er dann das Verhalten von Petulius und Minucius hätte voraussehen können, die den Anlaß boten, das dem Sopatros gewogene Consilium zu entlassen. Nimmt man Ciceros Fallschilderung ernst und unterstellt, Verres habe Sopatros so oder so verurteilen wollen, so impliziert dies entweder die Möglichkeit des Statthalters, das Consilium auch ohne gegebenen Anlaß austauschen zu können oder aber die Möglichkeit, sich über den Spruch des Consiliums hinwegzusetzen. Folglich thematisiert Cicero in diesem Fall nicht die legale Funktion des Consiliums, ein für den Statthalter verbindliches Urteil sprechen zu können, sondern seine legitimatorische Funktion, das Urteil des Statthalters auf breitere Grundlage zu stellen. Der Fall gibt uns noch weitere Informationen: Zunächst verweist er auf die Praxis der Vorladung zu einem bestimmten Gerichtstag in Syrakus, wobei ein Consilium aus Leuten herangezogen wird, die bereits dem Vorgänger des Verres beisaßen. Zugleich wird deutlich, daß eine erneute Anklage 25 Cic., 2 Verr. 2,80: Quid enim horum se negat fecisse? illud videlicet unum, quod necesse est, pecuniam accepisse. 26 So ist zum Beispiel sowohl von quaestio als auch von cognoscere die Rede; wichtiger erscheint jedoch die Tatsache, daß das gesamte Ambiente auf ein reguläres Gerichtsverfahren hinweist, vor allem der Hinweis auf den Ausruf des Herolds „praeco dixisse“ (Cic., 2 Verr. 2,75). Damit wurde das Ende der Zeugenvernehmung und Verhandlung kundgetan, worauf die Urteilsverkündung erfolgte.

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vor einem Amtsnachfolger möglich war, obwohl der Angeklagte in derselben Sache bereits in einem regulären Prozeß freigesprochen worden war. Hatten also Kläger, die meistens auch persönliche Feinde waren, nicht den erwünschten Erfolg mit ihrer Anklage bei einem Statthalter, so konnten sie sich durch erneute Anklage beim Amtsnachfolger einen günstigeren Ausgang des Prozesses erhoffen. Also galt hier nicht das moderne rechtsstaatliche Prinzip des Strafklageverbrauchs ne bis in idem.27 Ferner zeigt sich, daß, obwohl Cicero auf die dignitas des „großen“ Consiliums verweist (§ 71), auch hier von vornherein die Existenz zweier gegensätzlicher Lager innerhalb des Consiliums vorausgesetzt wird: Der Hinweis auf die Freunde und Beistände des Sopatros im Consilium und die Überlegungen des Verres angesichts der Zwickmühle (Vertagung oder Feindseligkeit) lassen diesbezüglich keinen Zweifel. Außerdem wird die Möglichkeit erkennbar, daß der Statthalter die Zusammensetzung des Consiliums kurzfristig umdisponieren konnte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Schließlich zeigt sich, daß die Aufrufung von Zeugen äußerst knapp gehalten und auf ihre ausführliche Befragung verzichtet werden konnte. Die Frage, ob Verres bei Verkündung des Schuldurteils an das Votum eines Consiliums gebunden war, verliert in diesem Fall ihre Bedeutung, da sie sich für Cicero mit der Tatsache, daß nur noch Leute aus dem Gefolge des Verres beisaßen, von selbst erledigt zu haben scheint. Was die Art der Strafe und das Strafmaß anbetrifft, so ist davon auszugehen, daß Sopatros hingerichtet und sein Vermögen konfisziert wurde.28 b) Sthenius aus Thermai (2 Verr. 2,83–118) Der Fall des Sthenius gibt keine Hinweise auf ein Consilium,29 jedoch ist er in anderen Hinsichten interessant: einmal, weil der Fall auch in Rom Furore machte; sodann, weil er die Frage aufwirft, ob es dem Statthalter erlaubt war, einen Angeklagten in Abwesenheit, ja sogar ohne Ankläger zu verurteilen; schließlich, weil darin die Frage nach der Geltung der lex Rupilia30 im Verhältnis zum Statthalteredikt des Verres angesprochen ist. 27

Vgl. Liebs (1967), zur Herkunft der Regel bis de eadem re ne sit actio. Darauf – was auch im Rahmen eines Kapitalprozesses zu erwarten wäre – kann nur aus Cic., 2 Verr. 2,80 geschlossen werden: dicet etiam praetextatus Sopatri filius, qui ab isto homine crudelissimo [= Verres] patre innocentissimo pecuniaque patria privatus est. 29 Auch dort, wo er später noch einmal kurz den Fall des Sthenius erwähnt (Cic., 2 Verr. 5,109), wird nur auf die Tatsache des fehlenden Angeklagten und Anklägers verwiesen: absentem in reos rettulerit, causa indicta capite damnarit. 30 Die Lex Rupilia aus dem Jahr 131 v. Chr. ist eine Folge der Unterdrückung des ersten Sklavenaufstandes durch P. Rupilius, der nach den Erfolgen bei Tauromenion und Henna durch eine Senatskommission die Verhältnisse in Sizilien neu ord28

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Sthenius gehörte zum einheimischen Adel Siziliens und war sogar über längere Zeit Gastfreund des Verres (§ 83).31 Cicero beschreibt nun, wie es zwischen den beiden zum Bruch kam und Verres es auf die Kunstschätze des Sthenius abgesehen hatte.32 Um diese konfiszieren zu können, ließ er Sthenius von Todfeinden (inimicissimi), namentlich von dem Adligen (homo nobilis) Agathinos und dessen Schwiegersohn Dorotheos, wegen Fälschung öffentlicher Urkunden (litteras publicas esse corruptas) anklagen (§ 89 f.), nachdem ihnen Verres offen und mit Nachdruck erklärt hatte, sie würden mit jeder beliebigen Klage gegen Sthenius Erfolg haben, sobald sie diese vor ihm selbst vorbrächten.33 Hinsichtlich der unterstellten Beliebigkeit der Anklage handelt es sich wahrscheinlich um eine Verkürzung Ciceros, da aus der vorangehenden Schilderung (§ 84) deutlich wird, daß Sthenius seine privaten Kunstschätze bereits herausgerückt hatte und der eigentliche Konflikt über die Kunstschätze im Gemeinbesitz entbrannte, über die im Gemeinderat verhandelt wurde und deren Herkunft Cicero ausführlich darlegt. Somit bezog sich die Anklage wegen Fälschung öffentlicher (!) Urkunden aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Unterlagen zur Herkunft der Kunstwerke bzw. dem entsprechenden aktuellen Gemeinderatsbeschluß. Nachdem die Anklage erhoben worden war, erklärte Sthenius, daß die Anklage nach den Gesetzen von Thermai verhandelt werden müßte. Er begründet dies damit, daß der Stadt Thermai aufgrund ihrer Freundschaft und Treue ihre lokalen Gesetze vom Senat und Volk von Rom zurückgegeben worden seien und es sich bei seinen Anklägern um Mitbürger handle; außerdem sei von Publius Rupilius den Siziliern bewilligt worden, ihre Streinen ließ. Das erlassene Gesetz könnte eines der ganz seltenen Beispiele einer Gesamtregelung für eine Provinz sein, jedoch kennen wir nicht seinen genauen Geltungsbereich. Erhalten ist nur Ciceros kurze Zusammenfassung in Cic., 2 Verr. 2,32. Danach gelte für Zivilprozesse (!), a) Bürger gegen Bürger nach Gesetzen der Heimatgemeinde; b) Sizilier gegen Sizilier: der Prätor bestimmt hierfür den zuständigen Richter per Los (= lex Rupilia); c) Privatmann gegen Gemeinde oder Gemeinde gegen Privatmann: bei wechselseitiger Ablehnung des Rats ihrer jeweiligen Gemeinden, wird eine beliebige Drittgemeinde mit der Urteilsfindung betraut; d) römischer Bürger gegen Sizilier, Sizilier gegen römischen Bürger: dann wird ein römischer Bürger als Richter eingesetzt; e) in allen anderen Fällen werden Richter in Auswahl aus der Bezirksversammlung römischer Bürger ausgewählt; f) Landwirt gegen Zehntpächter werden nach Hieronischem Gesetz über die Getreideversorgung behandelt. Vgl. dazu Kunkel (1995), S. 345 ff., der (S. 357 f.) vermutet, die erwähnte Prozeßordnung sei auch für Strafprozesse einschlägig gewesen. 31 Zum Status vgl. a. Cic., 2 Verr. 2,106: Cum esset Sthenius civitatis suae nobilissimus, amplissima cognatione, plurimis amicitiis, cum praeterea tota Sicilia multum auctoritate et gratia posset. 32 Die Sammelleidenschaft des Verres wird von Cicero ausführlich im 4. Buch dargelegt. 33 Cic., 2 Verr. 2,90: Tum iste iis aperte ostendit et confirmavit eos in Sthenium quidquid vellent, simul atque ad se detulissent, probaturos.

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tigkeiten nach den eigenen Gesetzen auszutragen; und schließlich habe auch Verres diese Regelung in sein Statthalteredikt übernommen.34 Sthenius beruft sich also auf drei Rechtsakte, die möglicherweise verhindern würden, daß die Klage vor den Statthalter kommt. Wichtig ist die Erwähnung der Tatsache, daß auch Verres die einheimischen Zuständigkeiten und lokalen Gerichtsbarkeiten anerkannt hatte, was für die Statthalteredikte (zumindest für privatrechtliche und minderschwere Delikte) durchaus üblich war. Jedoch wird hier nicht erwähnt, daß Verres diesbezüglich eine Vorbehaltsklausel in sein Edikt eingefügt hatte, durch die er „alle Gerichte in seine Verfügungsgewalt gebracht hatte“.35 Cicero zitiert sie an anderer Stelle: „Wenn jemand eine Fehlentscheidung treffe, dann werde er den Fall untersuchen und wenn er ihn untersucht habe, werde er strafend einschreiten.“36 Formal läßt sich die Klausel dahingehend verstehen, daß sich Verres eine quasi zweitinstanzliche Überprüfung von Urteilen einheimischer Gerichte vorbehielt. Jedoch implizierte sie praktisch die weitergehende Folge, daß sich kein Richter mehr traute, selbständig ein Urteil zu fällen, da er dann befürchten mußte, alsbald selbst der Strafverfolgung des Statthalters ausgesetzt zu sein.37 Jedenfalls nahm Verres im Fall des Sthenius die Untersuchung selbst vor und legte hierfür einen Termin fest, an dem sich dieser einzufinden hatte. Sthenius entzog sich jedoch der Untersuchung und floh nach Rom, weil ihm die Absicht des Verres bekannt geworden war, „ihn ohne jeden Beweis und ohne Zeugen zu verurteilen und dann aufs grausamste mit Auspeitschung zu bestrafen.“38 Verres untersuchte die Sache aber trotz der Abwesenheit des Angeklagten, nachdem er demonstrativ einen Tag gewartet hatte, während er ihn durch Sklaven des Venusheiligtums auf dem Eryx suchen und seine Güter und Landhäuser von Reitern durchsuchen ließ. Am 34 Cic., 2 Verr. 2,90: Sthenius postulat ut, cum secum sui cives agant de litteris publicis corruptis, eiusque rei legibus Thermitanorum actio sit, senatusque et populus Romanus Thermitanis, quod semper in amicitia fideque mansissent, urbem agros legesque suas reddidisset Publiusque Rupilius postea leges ita Siculis ex senatu consulto de X legatorum sententia dedisset ut cives inter sese legibus suis agerent, idemque hoc haberet Verres ipse in edicto. 35 Cic., 2 Verr. 2,33: Edictum enim hominis cognoscite, quo edicto omnia iudicia redegerat in suam potestatem. 36 Cic., 2 Verr. 2,33: Si qui perperam iudicasset; se cogniturum; cum cognosset; animadversurum. 37 Cic., 2 Verr. 2,33: Idque cum faciebat, nemo dubitabat quin, cum iudex alium de suo iudicio putaret iudicaturum seque in eo capitis periculum aditurum, voluntatem spectaret eius quem statim de capite suo putaret iudicaturum. 38 Cic., 2 Verr. 2,91. Bekannt wurde die Absicht des Verres, da er sie selbst nicht geheimgehalten hatte. So war für jeden absehbar, daß er cum Sthenium sine ullo argumento ac sine teste damnasset, tum homo [. . .] virgis supplicium crudelissime sumeret.

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nächsten Morgen auf dem Forum befahl er Agathinos wegen Urkundenfälschung auszusagen, behandelte dies als Anklage (§ 92), verkündete darauf ohne jede Art der Zeugenbefragung bzw. Beweiserhebung (§ 93, vgl. § 91) sofort das Urteil. Daraufhin ließ er die Güter des Sthenius konfiszieren und drohte ihre Versteigerung an, um die veranschlagten 500.000 Sesterzen einzutreiben.39 Zur Versteigerung kam es aber nicht, da der Betrag rechtzeitig aufgebracht werden konnte.40 Verres begnügte sich aber nicht damit und „verkündete öffentlich von seinem Sessel und Richterstuhl hinab (palam de sella ac tribunali pronuntiat)“, er werde weitere Klagen gegen Sthenius nunmehr auch wegen Kapitalverbrechen entgegennehmen (§ 94). Agathinos verweigerte sich diesmal jedoch, als willfähriger Ankläger für Verres herzuhalten; dafür fand sich ein gewisser Pacilius, „ein mittelloser und unbedeutender Mensch (homo egens et levis)“, der gegen Sthenius aussagte, woraufhin ein späterer Verhandlungstermin nach einer Frist von mindestens 30 Tagen zum 1. Dezember in Syrakus anberaumt wurde (§§ 94–96). Inzwischen war in Rom nach Einwirken des Sthenius auf einflußreiche Freunde ein senatus consultum beantragt worden,41 in den Provinzen die Anklage wegen Kapitalverbrechen gegen Abwesende zu verbieten. Der Antrag wurde jedoch nicht verabschiedet, weil er durch Filibustern verhindert worden war. Auch Verres hatte davon durch Familienboten erfahren und war zudem brieflich von seinem Vater, der ebenfalls als Senator agitierte, ermahnt worden, im Falle des Sthenius nichts weiter zu unternehmen (§§ 95–97). Verres blieb davon jedoch unbeeindruckt und ließ es dennoch zur Verhandlung an dem bereits festgesetzten Termin kommen. Dort fand sich nun freilich weder der Angeklagte, erstaunlicherweise aber noch nicht einmal der Ankläger Pacilius ein (§ 98 f.). Cicero betont nun (§ 99), selbst wenn man Sthenius „in seiner Anwesenheit angeklagt hätte (si praesens reus esset factus) und er einer handgreiflichen Missetat schuldig gewesen wäre (si manifesto in maleficio teneretur), dann hätte man ihn trotzdem nicht verurteilen dürfen (condemnari non oporteret).“ Damit wird, wie auch an anderen Stellen,42 angedeutet, daß für Cicero hier nicht die Anklage eines Abwesenden der einschlägige Vorwurf 39 Die Güter des Sthenius wurden zunächst zugunsten der erycinischen Venus konfisziert, vgl. Cic., 2 Verr. 2,93; Aus einer späteren Stelle, vgl. Cic., 2 Verr. 2,115, wird deutlich, daß aus den schließlich bezahlten Strafgeldern eine wertvolle Statue im Tempelheiligtum aufgestellt wurde. 40 Denkbar ist, daß der Betrag entweder durch Freunde des Sthenius aufgebracht wurde oder sehr rasch ein Teil der Güter verkauft wurde, um die Strafe schnell bezahlen zu können. 41 Den Antrag brachten die beiden Konsuln des Jahres 72 v. Chr. Cn. Lentulus und L. Gellius im Senat ein.

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gegen Verres ist, sondern allein die Tatsache, daß es in Kapitalstrafsachen zumindest eines Anklägers bedurft hätte. Etwas anderes ist es, daß es sich Cicero nicht nehmen läßt, darauf hinzuweisen, daß Verres, wohl aus Verunsicherung über die Vorgänge in Rom,43 dennoch anfing, die Gerichtsprotokolle zu fälschen, indem er nachträglich die Anwesenheit des Sthenius bzw. den römischen Bürger C. Claudius als stellvertretenden Sachwalter eintragen ließ, der zugleich dessen ärgster Feind war.44 Wir wissen nun nicht, ob sich die Sache genau so zugetragen hat, wie sie Cicero berichtet. Der Reiz an dieser Schilderung liegt für Cicero gewiß auch darin, daß Verres, der Sthenius zuerst wegen Urkundenfälschung verfolgen ließ, nun selbst anfing, Dokumente zu manipulieren. Trotz der zu vermutenden Übertreibungen erweitert sich mit seiner Schilderung das Bild über die Möglichkeiten der Ausübung statthalterlicher Strafgewalt. Auch hier wird deutlich, daß es für den Statthalter kein Problem war, wollte er jemanden aus dem Weg räumen oder enteignen, einen Ankläger zu finden, sei es ein Feind des Beklagten aus den Reihen seiner Standesgenossen oder eine Person ohne jegliches Ansehen, die sich wahrscheinlich ebenso leicht einschüchtern wie kaufen ließ. Weshalb ein Ankläger des letzteren Typs in unserem Fall zum Gerichtstermin dann nicht erscheint, bleibt uns verborgen; möglicherweise bekam auch er etwas von den stadtrömischen Implikationen mit, so daß ihn der Mut, als Ankläger aufzutreten, in der Zwischenzeit verlassen hatte. Dafür erfahren wir etwas über die Möglichkeit des Statthalters, Prozesse nach freiem Ermessen an sich zu ziehen, obgleich die Anklage wegen Urkundenfälschung auch vor einem einheimischen Gericht in Thermai hätte verhandelt werden können. Insgesamt entsteht der Ein42 Etwa wenn deutlich wird, daß sich die Gegenpartei des Cicero auf folgendes berufen hatte (Cic., 2 Verr. 2,101), „Es ist gestattet, Klagen gegen einen Abwesenden anzunehmen, kein Gesetz verbietet, dies in der Provinz zu tun (Recipi nomen absentis licet; hoc fieri in provincia nulla lex vetat).“ Vgl. auch bes. Cic., 2 Verr. 2,102, wo sich Verres darauf beruft, licere fieri; saepe esse factum und was er getan habe, iste quod fecisset aliorum exemplo institutoque fecisse. Wenn Cicero nun die Argumente, die im Senat in dieser Sache vorgetragen wurden, dagegenhält, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Sache im Senat nicht weiter verfolgt worden war, vgl. Cic., 2 Verr. 2,97. 43 Inzwischen hatten sich auch die Volktribune mit dem Fall beschäftigt, da sich nach ihrem Edikt keine in der Provinz wegen Kapitalverbrechens verurteilte Person in Rom aufhalten durfte; jedoch seien sie im Fall des Sthenius nach Ciceros Darlegungen zu dem Entschluß gekommen, daß man dergleichen nicht für eine Verurteilung halten dürfe (hanc damnationem duci non oportere), folglich auch das Edikt keine Anwendung finden solle; vgl. Cic., 2 Verr. 2,100. 44 Vgl. Cic., 2 Verr. 2,106 f.; Verres legte wohl Wert darauf, daß er für einen Angeklagten, der sich dem Prozeß entzogen hatte, einen Verteidiger bestellt hatte; nach Cic., 2 Verr. 2,101.104 soll er sogar die Anwesenheit des Sthenius eingetragen haben.

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druck, daß dem Statthalter hinsichtlich der Verfahrensweise kaum Schranken gesetzt waren: Sieht man vom Fehlen des Anklägers ab, so wird außerdem deutlich, daß auch hier weder eine Zeugenbefragung noch irgendeine Form von Beweisaufnahme stattgefunden hat. Interessant sind noch scheinbare Nebensächlichkeiten: Verres verwendete die Sklaven des Venusheiligtums auf der Eryx als Amtsdiener;45 außerdem kann uns der Hinweis auf die Familienboten und die Übergabe des Briefes vom Vater eine Vorstellung vermitteln, wie ein Statthalter in der Provinz vermittels privater Informationskanäle über die Geschehnisse in der Hauptstadt informiert blieb. Über den Gerichtsort im Fall der Urkundenfälschung sind wir bis auf den Hinweis, daß die Anklage öffentlich auf einem Forum stattfand, nicht exakt informiert, jedoch legen die allgemeinen Umstände (§ 89–92) nahe, daß dies während eines Aufenthaltes des Verres in Thermai geschehen sein muß. Zur zweiten Anklage wegen Kapitalverbrechen erfahren wir, daß sich die Vorladung auf Syrakus als Gerichtsort bezog. Das Strafmaß wegen Urkundenfälschung betrug 500.000 Sesterzen. Außerdem wird berichtet, daß Verres die Geißelung beabsichtigte, wobei nicht ganz sicher ist, ob diese dann als eigenständige Strafe oder als zusätzlich entehrende Begleitstrafe vorgesehen war.46 Deutlich wird nur, daß Verres von der Geißelung auch bei einen „vornehmen und betagten Mann (de homine nobili atque id aetatis)“, der zuvor sein Gastfreund war, nicht zurückscheuen wollte (§ 91). Was die Verhandlung wegen Kapitalverbrechen anbetrifft, so ist erstaunlicherweise ganz im Gegensatz zum zuvor geschilderten Fall des Sopatros von einem Consilium keine Rede,47 obgleich der Gerichtstermin ebenfalls 45 Zum Heiligtum und Kult der Akropolis von Eryx (wo synkretistisch die karthagische Astarte bzw. Tanit in Identifizierung mit dem Sohn der Aphrodite verehrt wurde) vgl. Finley (1979), S. 172–174; Eppers/Heinen (1984). Der Tempel von Eryx besaß wohl eine ungewöhnlich große Zahl von Sklaven; der römische Senat, der die Verwaltung des Tempels offenbar übernommen hatte, verlieh den siebzehn „treuesten Städten“ nicht nur das Privileg, bei Prozessionen goldenen Schmuck und goldverbrämte Gewänder anlegen zu dürfen, sondern auch für die Götter einen bewaffneten Wächter zu stellen. Diese venerii übernahmen anscheinend auch eine Art „Polizeifunktion“. Genaue Datierungen zu dieser Einrichtung sind nicht möglich. Vgl. auch Cic., 2 Verr. 2,21 f. sowie Div. Caec. 55. 46 Deutlich wird aus Cic., 2 Verr. 2,91 nur, daß die Geißelung nach der Verurteilung erfolgen sollte, folglich nicht zur peinlichen Befragung gedient hätte. 47 Kunkel (1967), S. 234, A. 56, stellt selbst fest, daß im Bericht über den Prozeß des Sthenius kein Consilium erwähnt ist, da sich Ciceros Kritik ausschließlich auf die Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten sowie Anklägers konzentriere und Verres einen römischen Bürger aus seiner „Bande“ als cognitor bestellt habe. Dann folgert Kunkel e silentio jedoch: „Wäre die Verurteilung nicht de consilii sententia erfolgt, so hätte Cicero sicher auch dies noch gerügt“, nur um seine (im dazugehörigen Fließtext) aufgestellte Behauptung zu rechtfertigen, „Fälle einer strafrechtlichen

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in Syrakus stattfand und Sthenius wie Sopatros von höherem sozialen Status war. Das angesprochene Problem ist für Cicero hier allein die Fällung eines Urteils in Abwesenheit des Angeklagten und mehr noch, ohne daß sich ein Ankläger eingefunden hätte. Über die Verurteilung selbst gibt Cicero nichts genaueres preis.48 Cicero muß mit aller Rhetorik überdecken, daß sich seine Anklage gegen Verres hier eigentlich auf unsicherem Terrain bewegte: denn zum einen hatte sich Verres abgesichert, Fälle nach freiem Ermessen an sich ziehen zu können; zum anderen konnte er sich auch in bezug auf die Abwesenheit des Klägers auf Präzedenzfälle berufen, was Cicero hier verständlicherweise nur summarisch erwähnt (§§ 101 f.). Immerhin geht daraus hervor, Verres hätte für sich geltend machen können, daß dies in den Provinzen kein Gesetz verbiete.49 Was die Abwesenheit des Anklägers betrifft, so hätte sich Verres immerhin noch auf die Koerzitionsgewalt berufen können; leider wissen wir aber weder, auf welcher Grundlage überhaupt der Kapitalprozeß gegen Sthenius eingeleitet wurde (der sich ja nicht mehr auf die Urkundenfälschung bezog, sondern auf der nicht weiter erläuterten zweiten Anklage des Pacilius beruhte), noch gibt es irgendeinen Hinweis darauf, daß Verres sich auf die Zwangsgewalt berufen hätte. Weit mehr als die einzelnen Verfahrensfragen im Strafprozeß scheint Ciceros wichtigster Punkt gewesen zu sein, daß Verres gegen die Regeln der politischen Klugheit der Provinzialherrschaft verstieß, indem er gegen eines der angesehensten Mitglieder der sizilischen Oberschicht wider alle Statuskonventionen und politischen Rücksichten vorging. Dabei handelt es sich nicht um gesetzlich fixierte Regeln, sondern um Konventionen, die eng mit Kognition ohne Urteilsspruch des Consiliums sind uns nicht bezeugt.“ Die Nichterwähnung des Consiliums ist hier jedoch um einiges fragwürdiger, schließlich handelt es sich schon allein wegen seiner stadtrömischen Implikationen, ferner aufgrund der persönlichen Betroffenheit Ciceros in seiner Eigenschaft als Schutzpatron des Sthenius (2 Verr. 2,117 f.) um den wichtigsten Beispielfall, den er im Rahmen seines zweiten Buches anführt. Weshalb sollte gerade hier das Consilium unerwähnt bleiben? Wenn aus der Sicht Ciceros gerade in diesem Fall die Skrupellosigkeit des Verres zutage tritt, wieso soll dann gerade hier ein völlig korrektes Consilium eingesetzt worden sein, an dessen „Wahrspruch“ sich der Statthalter hielt, während noch nicht einmal ein Ankläger und Angeklagter anwesend waren, Verres sogar selbst aufgrund der Vorgänge in Rom Bedenken bekam und einen falschen Sachwalter in die Gerichtsprotokolle einsetzte? Folglich bleibt ungeklärt, was ein Consilium überhaupt sollte, wenn eine Anhörung aufgrund des fehlenden Angeklagten, ja sogar Anklägers unmöglich scheint und der Statthalter dennoch den Beklagten ohne weiteres schuldig sprechen konnte. 48 Vgl. zur Frage der Abwesenheit Kunkel (1974b), S. 77 ff. 49 So insinuiert Cicero bereits die Entschuldigung des Verres in Cic., 2 Verr. 2,101: Recipi nomen absentis licet; hoc fieri in provincia nulla lex vetat. Vgl. zu den Präzedenzfällen Cic., 2 Verr. 2,102.

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den Modi der Provinzialherrschaft verknüpft waren und von denen erwartet wurde, daß sie der Statthalter auch in Ausübung der Strafgewalt respektierte. Cicero widmet ihnen breite Ausführungen,50 wobei der soziale Status des Sthenius als reicher Patron und Euerget von Thermai und darüber hinaus sein ehrenhafter Ruf in Sizilien51 die zentrale Rolle spielt, während Verres als „Schutzpatron über alle Sizilier (omnium Siculorum patronum)“ außer von den durch ihn bevorzugten Mamertinern keine Ehren zuteil wurden.52 Status, Ehre und Ruhm von Sthenius und Verres werden hier von Cicero gegeneinander aufgerechnet, um darzulegen, daß Verres gegen grundsätzliche Spielregeln der Provinzialherrschaft in Ausübung seiner Strafgewalt verstoßen hat, indem er ein tragendes Mitglied der sizilischen Oberschicht zur persönlichen Bereicherung zum Opfer seiner statthalterlichen Willkür machte. Die Tatsache des von Verres nachträglich erfundenen Rechtsbeistands für Sthenius53 sowie die Verletzung der Regeln der Gastfreundschaft54 dienen hierbei als Aufhänger. Bei der Betonung des Sozialprestiges 50

Dies geht aus den langen Ausführungen in Cic., 2 Verr. 2,105 ff. hervor. So läßt sich folgender Gegensatz zwischen Sthenius und Verres aus den Ausführungen Ciceros feststellen: Sthenius ist der vornehmste Mann (nobilissimus) seiner Gemeinde, hat eine sehr große Verwandtschaft und viele Freunde (amplissima cognatione, plurimus amicitiis) und besitzt darüber hinaus in ganz Sizilien multum auctoritate et gratia, vgl. Cic., 2 Verr. 2,106. Es geht also um die auctoritas und dignitas des Sthenius (Cic., 2 Verr. 2,107); nochmals hebt Cicero hervor, nemo enim ignorat quo hic in civitate sua splendore, qua apud omnis Siculos dignitate atque existimatione sit (Cic., 2 Verr. 2,111). Dann konkretisiert er die Ehren: So habe Sthenius in seiner Vaterstadt alle Ämter leicht erreicht und auf glänzende Weise verwaltet; habe die Stadt mit eigenem Geld durch bauliche Maßnahmen und Denkmäler geschmückt; seine Verdienste um die Wohlfahrt des Gemeinwesen sei inschriftlich durch eine am Rathaus angebrachte Bronzetafel bezeugt (Cic., 2 Verr. 112). Cicero bringt es sogar fertig, eine Anklage des Sthenius durch den „erlauchten Pompeius“ (wegen staatsfeindlicher Gesinnung als Gastfreund des Marius) in ein Führungszeugnis ohne Tadel umzumünzen, da hier seine Unschuld beweisen worden sei, nachdem er von allen Siziliern gelobt und verteidigt worden wäre (Cic., 2 Verr. 113). 52 Vgl. Cic., 2 Verr. 2,114. 53 Vgl. Cic., 2 Verr. 2,106–109. Hier stellt Cicero zunächst auf die Sitte der Sizilier ab, sich durch einen einheimischen Anwalt vertreten zu lassen und nicht durch einen römischen Bürger (ab omnium Siculorum consuetudine discederet et civem Romanum cognitorem daret). Das Skandalöse sei jedoch gewesen, daß Verres ausgerechnet einen persönlichen Feind des Sthenius als Rechtsbeistand in die Protokolle eintragen ließ, nämlich C. Claudius, Sohn des Gaius, aus der palatinischen Tribus Roms. Dieser sei in Sizilien als Mittelsmann, Unterhändler und Geschäftsführer des Verres angesehen worden (Is est Claudius, qui in Sicilia sequester istius, interpres, confector negotiorum [. . .] numerabatur). 54 Vgl. Cic., 2 Verr. 2,110 f. So habe Verres nicht nur einen Freund, was bei den Menschen das Kostbarste sei, sondern auch seinen Gastgeber, was das heiligste ist, 51

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von Sthenius handelt es sich nicht nur um eine Nebensache oder um einen Punkt, der mit dem rhetorischen Geschick Ciceros abgetan wäre; vielmehr macht diese Rhetorik nur Sinn, wenn sie auf Resonanz bei der (fingierten) Zuhörerschaft im Verresprozeß stoßen kann, d. h. wenn Ehre und Status eines Opfers maßgebliche Kriterien darstellten, um sich ein Urteil über den Angeklagten zu bilden. Dabei handelt es sich nicht um außerrechtliche Faktoren, da sie maßgeblicher Bestandteil der gesamten Prozeßführung sind. Daraus lassen sich die informellen Kriterien über die Amtsführung des Statthalters im allgemeinen und die Ausübung seiner Strafgewalt im besonderen ableiten: Verres hat wider alle gesellschaftlichen und politischen Konventionen willkürlich von seiner Strafgewalt gegen ein ehrenwertes Mitglied der Provinzialelite Gebrauch gemacht und damit gegen die Interessen Roms gehandelt. Verfahrensrechtliche Gesichtspunkte rücken in Ciceros plädoyerhaften Ausführungen gegenüber den statusrechtlichen Gesichtspunkten in den Hintergrund. Man kann daraus zwei Schlußfolgerungen ziehen: Einerseits sollten die statusrechtlichen Gesichtspunkte die verfahrensrechtlichen um so mehr überdecken, je weniger Cicero dem Verres in verfahrensrechtlicher Hinsicht einen prozeßrelevanten Vorwurf machen konnte; andererseits konnte diese Argumentationsstrategie aber nur Erfolg haben, wenn beide Bereiche in der Rechtspraxis stets miteinander verknüpft waren und das Sozialprestige eines Beklagten und die Verfahrensart bzw. Vorgehensweise, die gegen ihn angewandt wurden, keine getrennten Sphären darstellten. Eine solche Rechtspraxis ließ sich nicht in eine positivierte Strafprozeßordnung zwängen, sondern mußte weitgehend dem Ermessen, dem Gespür wie überhaupt dem Stil der Amtsführung des Statthalters überlassen bleiben. Dazu paßt dann eher eine breites Spektrum möglicher Verfahrensweisen des Statthalters als eine etwaige genaue Festlegung, wie der Statthalter rechtmäßig gegen Provinziale vorzugehen hatte. Dies würde auch erklären, weshalb die Grenze zwischen Koerzitionsgewalt und Gerichtsbarkeit nur schwer bestimmbar ist. Möglicherweise kann man sich dem Problem der Abgrenzung von Koerzitionsgewalt und Strafgerichtsbarkeit besser aufgrund derjenigen Fälle nähern, die Cicero in seinem fünften Buch der zweiten Rede ausführlicher behandelt. Wolfgang Kunkel will diese sämtlich, zumindest wo kein Consilium erwähnt ist, der coercitio zugerechnet wissen.55 Im folgenden konzentrieren wir uns auf die zwei ausführlicher von Cicero geschilderte Fälle. Cicero muß sich dabei besonders gegen die Rechtfertigung des Verres behaupten, Gefahren und Schaden von Rom abgewendet zu haben, folglich verurteilt. Cicero bezeichnet dies als „Verletzung des Gastrechts“ und „ruchlosen Frevel“. 55 Vgl. Kunkel (1967), S. 235 ff.

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einerseits die potentiellen Bedrohungen römischer Interessen möglichst herunterspielen56 sowie andererseits, dort wo sie nicht zu leugnen sind, auf die Vernachlässigung der Amtspflichten des Verres abheben.57 Alles in allem erfordert dies keinen unerheblichen rhetorischen Spagat, was die Interpretation nicht gerade erleichtert. c) Apollonios aus Panormos (2 Verr. 5,16–24) Als Verres nach Panormos kam, ließ er auch den reichen Großgrundbesitzer Apollonios58 an einem gut besuchten Gerichtstag vor seinen Richterstuhl zitieren. 59 Als der schon gebrechliche Mann zur Verhandlung erschien, nannte ihm Verres den Namen von einem seiner Sklaven und Oberhirten, der eine Verschwörung angezettelt und die Dienerschaft aufgewiegelt hätte (coniurasse et familias concitasse). Apollonios beteuerte, keinen Sklaven dieses Namens zu kennen, woraufhin ihn der Statthalter ins Gefängnis (in carcerem) werfen ließ (§ 17). Cicero wendet diesbezüglich ein, daß der Vorwurf gegen Apollonios, Komplize eines Sklavenaufstandes zu sein, schon allein deswegen abwegig sei, da er sich dann selbst um sein Vermögen gebracht hätte; dagegen setzt er den Vergleich zu anderen von Verres geführten Prozessen60 gegen Sklaven bzw. Sklavenbesitzer aufgrund derselben Anschuldigung (§ 18): „Als man einen Sklavenkrieg befürchtete, da befreite er verurteilte Sklaven (servi damnati) von eben der Strafe (supplicium), die er über nichtverurteilte Herren (domini indemnati) verhängte; den Apollonios, einen sehr vermögenden Mann, der riesige Besitzungen verlieren mußte, wenn die Sklaven in Sizilien einen Krieg erregt hätten, den warf er unter dem Vorwand eines Sklavenkrieges ohne Untersuchung (indicta causa) ins Gefängnis (in vincula coniecit); die Sklaven, die kein anderer als er selbst de consili sententia einer aufrührerischen Verschwörung für 56 Vgl. dazu Cic., 2 Verr. 5,1.5 ff.; dies steht dann aber im Widerspruch zu Ciceros Schilderung der Lebensgefahr, die er auf sich genommen habe, während er in Sizilien seine Untersuchungen anstellte, vgl. Cic., 2 Verr. 2,99. 57 Den historischen Zusammenhang der Situation auf Sizilien 73–72 v. Chr. in bezug auf die Sklavenaufstände, die Beziehungen zu Sertorianern sowie die Piratengefahr hat Kunkel (1967), S. 237–242 prägnant dargelegt. Ciceros Strategie, daß Verres die Sicherheitsinteressen Roms verraten habe, zeigt sich besonders im Fall des Mißbrauchs der Flotte, vgl. Cic., 2 Verr. 5,42 ff. 72 f.; zur Seeräuberbekämpfung 2 Verr. 5,87 ff.; zur Situation der Soldaten 2 Verr. 5,99 f., in Summa der Anklage des Cicero vgl. 2 Verr. 5,131 f., bes. 136–138. 58 Vgl. Cic., 2 Verr. 5,18 zum Grundbesitz und Reichtum des Apollonios. 59 Cic., 2 Verr. 5,16: ad se vocari et de tribunali citari iussit concursu magno frequentiaque conventus. 60 Ein ähnlich gelagerter Fall, auf den hier wohl auch angespielt wird, ist jener des Leonidas aus dem Gebiet der Triokala, wo bereits früher Sklaven den Aufstand geprobt hatten, vgl. Cic., 2 Verr. 5,10–13.

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schuldig befunden hatte, die befreite er sine consili sententia eigenmächtig (sua sponte) von jeder Strafe (supplicium).“

Die Passage birgt einen dreifachen Gegensatz: Der erste besteht aus verurteilten Sklaven und unverurteilten Herren, denen die gleiche Strafe zukam. Hier stellt sich die Frage, was der Begriff der Verurteilung meint: Eine reguläre damnatio im Rahmen der Strafgerichtsbarkeit oder eine Zwangsmaßnahme in Ausübung der coercitio? Der zweite Gegensatz beruht darauf, daß Verres jeweils selbst (ipse; sua sponte) Sklaven nach ergangenem Spruch des Consiliums eingekerkert, dann aber ohne Spruch des Consiliums wieder freigelassen habe. Falls es sich hier um die Ausübung der Koerzitionsgewalt gehandelt hat, stellt sich die Frage, weshalb überhaupt ein Consilium einberufen wurde und ob ein solches auch zur Beratung bei Freilassung von Gefangenen hinzugezogen wurde. Schließlich werden diese Aussagen nochmals durch den dritten Gegensatz gesteigert, nämlich den zwischen Sklaven, die nach ergangenem Consilium ins Gefängnis geworfen worden waren, und Apollonios, dem als Person mit hohem sozialen Status indicta causa, d. h. ohne Verhör und Verteidigung, das gleiche Schicksal zuteil wurde. Das Grundproblem der Deutung dieser Passage besteht darin, daß sich Cicero einerseits bestimmter Begriffe bedient, die auf ein öffentliches Strafverfahren hindeuten (crimen, sententia, damnatio, supplicium), die Kerkerhaft jedoch impliziert, daß Verres nur von seiner Koerzitionsgewalt Gebrauch machte, da Gefängnis als Strafhaft zur Zeit der Republik noch nicht bekannt war.61 Somit könnte es sich um eine Art Untersuchungs- bzw. Beugehaft62 gehandelt haben, ohne daß ein formaler Schuldspruch ergangen war, worauf auch die Appelle des Gemeinderats hindeuten (§ 21).63 Aus 61

Daß es keine Gefängnisstrafe in republikanischer Zeit gegeben hat, ist immer noch herrschende Meinung: Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 963; Nippel (1988), die längere A. 94, S. 196 mit weiteren Hinweisen; ausführlicher jetzt a. Krause (1996), S. 83 ff. Rivière (1994) kommt zu dem Ergebnis, daß Gefängnisstrafe als eine Art poena ante supplicium betrachtet werden könne, d. h. als ein „châtiment acessoire“ aber nicht als eine „peine afflictive“, zumeist bis zur Vollstreckung des Todesurteils oder bis zur Rückzahlung von Geldschulden an den Staat. Kaum überzeugend ist dagegen Eisenhut (1972). 62 Für die Beugehaft würde z. B. sprechen, daß der Forderung des Verres nach Auslieferung des beschuldigten Sklaven nicht entsprochen worden war, vgl. Cic., 2 Verr. 5,17. 63 Vgl. Kunkel (1967), S. 234 f., der diesen Fall nicht dem Bereich der Strafjustiz zugerechnet haben will; zwar spreche Cicero von crimen sine accusatore, sententia sine consilio, damnatio sine defensione und sogar von supplicium, jedoch entstelle er damit den Charakter des Falles, da ein Prozeß gegen Apollonios überhaupt nicht geführt worden sei, zumal das republikanische Strafrecht keine Gefängnisstrafe gekannt habe; statt dessen handle es sich um die Anordnung einer Beugehaft oder auch um eine Sicherheitsmaßnahme, die sich (wirklich oder vorgeblich) auf den

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der Darstellungsweise Ciceros, zumal der rhetorischen Verschränkung verschiedener Gegensätze und Begrifflichkeiten, lassen sich keine exakten Schlußfolgerungen ziehen, wenngleich hier die Ausübung der Koerzitionsgewalt näher zu liegen scheint als die Verurteilung im Rahmen eines Strafgerichts. Es stellt sich dann jedoch im Hinblick auf Kunkels Ansatz das methodische Problem, wann bei Cicero überhaupt sicher von Begriffen auf bestimmte Verfahren geschlossen werden kann und wann nicht, zumal der Vorwurf rhetorischer Verzerrung für sämtliche Passagen der Verrinen geltend gemacht werden könnte. Andernfalls müßte davon ausgegangen werden, daß die Begriffe crimen, sententia, damnatio, supplicium und consilium auch für den Bereich der Koerzitionsgewalt Anwendung fanden, also auch in dieser Hinsicht eine formale Unterscheidung zur Strafgerichtsbarkeit nur schwer getroffen werden kann. Die nachfolgenden Darlegungen zeigen eindeutig, daß es Cicero nicht darum geht, daß Verres „ein allzu hartes Urteil über jemanden gefällt“ habe.64 Er wolle hier nicht den Vorwurf erheben, Verres habe nicht gegen Apollonios, sei er auch noch so schuldig gewesen, „ohne jede Untersuchung gegen einen hochangesehenen Mann aus einer hochangesehenen Gemeinde“ vorgehen dürfen.65 Zu all diesen Punkten sieht Cicero bereits die Argumente der Verteidigung voraus (§ 22), nämlich daß Verres eben ein strenger Statthalter zum „Vorteil und der Wohlfahrt der Provinz (utilitas salusque provinciae)“ gewesen sei, da „man ohne Furcht und Strenge kein Gemeinwesen verwalten könne (rem publicam administrari sine metu ac severitate non posse)“. Worauf er hinaus will, ist die Tatsache, daß „derselbe Verres denselben Apollonios unversehens, ohne daß ein neuer Umstand beigebracht worden wäre, ohne Verteidigung, ohne Grund aus dem Kerker zu entlassen befahl“.66 Erst dies erlaubt ihm dann auch die plausible Schlußfolgerung, daß Apollonios gegen einen hohen Betrag freigekauft worden sei (§§ 22–24).

Verdacht gründete, Apollonios könne mit aufrührerischen Sklaven im Benehmen stehen. 64 Cic., 2 Verr. 5,19: tamenne hanc rem sic agemus ut crimini aut individiae reo putemus esse oportere si quo de homine severius iudicavit?, was Cicero anschließend verneint, da er nicht den üblichen Gepflogenheiten von Anklägern folgen wolle, einen Vorwurf der Schwäche zu erheben, wenn eine milde, den der Grausamkeit, wenn eine strenge Bestrafung erfolgte. Vgl. auch Cic., 2 Verr. 5,133. 65 Cic., 2 Verr. 5,20: non dicam ne illud quidem, si maxime in culpa fuerit Apollonius, tamen in hominem honestissimae civitatis honestissimum tam graviter animadverti causa indicta non oportuisse. 66 Cic., 2 Verr. 5,22: quaeram cur hunc eundem Apollonium Verres idem repente nulla re nova adlata, nulla defensione, sine causa de carcere emitti iusserit.

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Dies ist im Rahmen eines Repetundenprozesses der entscheidende Punkt. Die Tatsache, ein hochangesehenes Mitglied der provinzialen Oberschicht ohne Consilium und genaue Untersuchung (wie einen Sklaven) ins Gefängnis geworfen zu haben, kann dabei kaum als einschlägig erachtet werden, obgleich diese Vorgehensweise abermals den Bruch mit gebotenen Klugheitsregeln der Provinzialherrschaft verdeutlicht. Vor einem Repetundengerichtshof war die Tatsache des Freikaufs aus dem Gefängnis einschlägig, d. h. der Nachweis, Verres habe systematisch wohlhabende Peregrine gefangengesetzt, um daraus Kapital zu schlagen, folglich seine Strafgewalt zur pekuniären Erpressung mißbraucht.67 Ob dies im Rahmen eines Strafprozesses oder in Ausübung der Koerzitionsgewalt geschah, scheint nebensächlich gewesen zu sein, stellt zumindest für Cicero kein zu erörterndes Problem dar; vielmehr verwischt er hier selbst die Grenzen durch seine Ausdrucksweise. d) Gavius aus Consa (2 Verr. 5,158–170) Der folgende Fall ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil es hier um die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt über einen Provinzialen geht, der für sich das römische Bürgerrecht und Provokationsrecht reklamiert. P. Gavius mußte aufgrund einer Bestrafung durch Verres sein Leben in den Steinbrüchen von Syrakus fristen, die damals als Gefängnis dienten.68 Es gelang ihm jedoch zu entfliehen. Als er daraufhin die Stadt Messana (Messina) erreichte, äußerte er Klagen und Beschwerden, als römischer Bürger von Verres statuswidrig behandelt worden zu sein. Dabei drohte er, sich nach Rom zu begeben, um sich dort an Verres zu rächen, sobald dieser nach Ablauf seiner Amtszeit dorthin zurückkehrte (§ 160). Gavius wurde daraufhin festgenommen und vom Stadtmagistrat am gleichen Tag beim (möglicherweise dort zu einem Gerichtstag) eintreffenden Statthalter angezeigt.69 Als Verres nun auf dem Forum der Stadt erschien, befahl er, Ga67 Cicero legt diesen Fall im Vergleich zu anderen ausführlicher dar. Zum einen wohl deswegen, weil es sich wiederum um ein Opfer des Verres mit hohem Sozialprestige handelte, zum anderen, weil er außerdem Klient und Gastfreund des Cicero war; vgl. Cic., 2 Verr. 5,19. Zum Freikauf von Gefangenen vgl. bes. a. Cic., 2 Verr. 5,116 ff.; zum Freikauf von Hingerichteten, damit man sie bestatten könne, vgl. Cic., 2 Verr. 5,120. 68 Die Steinbrüche von Syrakus dienten seit alter Zeit als Gefängnis vgl. a. Cic., 2 Verr. 5,68.148.160 (carcer; ratio carceris; in vincula coniectus). Vgl. dazu Varro, Ling. 5,151; dazu Mommsen (1955), StrafR, S. 302. 69 Cic., 2 Verr. 5,160: Res ad eum defertur, esse civem Romanum qui se Syracusis in lautumiis fuisse quereretur; quem iam ingredientem in navem et Verri nimis atrociter minitantem ab se retractum esse et adservatum, ut ipse in eum statueret quod videretur.

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vius herbeizuschaffen, zu binden und die Ruten (virgae) zur Züchtigung bereitzuhalten (§ 161). Daraufhin rief Gavius, er sei ein römischer Bürger, Einwohner der Stadt Consa70; er habe gemeinsam mit L. Raecius, einem hochangesehenen römischen Ritter, gedient; dieser treibe in Panormos (Palermo) Handel und von ihm könne sich Verres über alles unterrichten lassen.71 Verres ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern beschuldigte ihn, daß er von den Anführern der entlaufenen Sklaven nach Sizilien geschickt sei, um zu spionieren.72 Gavius berief sich also auf sein Bürgerrecht und benannte einen Zeugen mit hohem sozialen Status, der dies bestätigen könnte; Verres dagegen erhob den Vorwurf der Kollaboration mit dem Spartacus-Aufstand, den Rom auf dem italischen Festland zu dieser Zeit mit Armeen niederkämpfen mußte. Deshalb ging er davon aus, daß Gavius durch die Berufung auf sein Bürgerrecht die Vollstreckung des Urteils nur sinnlos verzögern wollte.73 Möglicherweise hielt Verres den Gavius für einen aus den Steinbrüchen entlaufenen Sklaven und seine Reklamation des Bürgerrechts für einen Schwindel. Cicero hebt in seiner Anklage gegen Verres nun hervor, daß es für die Beschuldigung des Verres weder eine Anzeige (index) noch eine einzige Spur (vestigium), noch irgendeinen Verdacht (suspicio) gegeben habe (§ 161). Trotzdem habe Verres befohlen, Gavius zu geißeln, obgleich dieser wiederholt ausrief: Civis Romanus sum, da er durch den Hinweis auf sein Bürgerrecht glaubte, alle Schläge abwenden und jede Leibesstrafe verhindern zu können.74 Verres ließ ihn jedoch nach weiterer Geißelung hinrichten, indem er Befehl gab, ihn ans Kreuz zu hängen (§ 162).75 Die Positionierung am Ende seiner Beispielfälle spricht dafür, daß dieser Fall für Cicero als Höhepunkt seiner Beredsamkeit diente, mit welchem er auch noch die letzten Sympathien für Verres auszulöschen gedachte.76 Der 70

Consa (Compsa) liegt etwa 80 km östlich von Neapel (heute Conza di Campania). 71 Cic., 2 Verr. 5,161: Clamabat ille miser se civem esse Romanum, municipem Consanum; meruisse cum L. Raecio, splendidissimo equite Romano, qui Panhormi negotiaretur, ex quo haec Verres scire posset. 72 Cic., 2 Verr. 5,161: Tum iste, se comperisse eum speculandi causa in Siciliam a ducibus fugitivorum esse missum. 73 Cic., 2 Verr. 5,165: Illum, quod moram supplicio quaereret, ideo clamitasse se esse civem Romanum, sed speculatorem fuisse. Dieses Argument wird der Angelpunkt in Ciceros weiterer Anklagerhetorik. 74 Cic., 2 Verr. 5,162: Hac se commemoratione civitatis omnia verbera depulsurum cruciatumque a corpore deiecturum arbitrabatur. 75 Die unmittelbar nachfolgende Rhetorik Ciceros dreht sich um die besonders gehässige Art der Aufhängung des Gavius am Kreuz, vgl. Cic., 2 Verr. 5,169, d. h. mit Blickrichtung auf Italien (und womöglich Rom, auf dessen Bürgerrecht er sich berufen hatte).

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Schwerpunkt seiner Anklage gegen Verres liegt nun bezeichnenderweise nicht auf der Behauptung der Unschuld des Gavius, sondern allein auf der Mißachtung des Provokationsrechts römischer Bürger.77 Sein zentraler Punkt ist hierbei, daß Verres sich noch nicht einmal die Mühe gemacht habe, herauszufinden, ob Gavius wirklich römischer Bürger gewesen sei,78 folglich wenigstens einen Aufschub der Hinrichtung nötig gewesen wäre, zumal Gavius einen Zeugen benannt hatte (§ 168). Deshalb hätte er den Mann so lange in Haft belassen sollen, bis Raecius aus Panormos eingetroffen wäre, zumindest hätte er aber eine Anfrage dorthin schicken können; falls dann Raecius die Aussage bestätigte, hätte er von der schlimmsten Strafe etwas ablassen sollen,79 falls nicht, dann hätte Verres immer noch die Regel einführen können: wenn jemand „weder bekannt sei noch einen wohlhabenden Zeugen für seine Person zu stellen vermöge, dann solle er, und sei er noch so sehr ein römischer Bürger, ans Kreuz geschlagen werden“.80 Doch von all dem habe Verres abgesehen; Cicero wiederholt in rhetorischer Steigerung seinen Vorwurf: „Es ist eine Missetat, einen römischen Bürger zu fesseln, ein Verbrechen, ihn auszupeitschen, geradezu ein Meuchelmord, ihn zu töten: wie soll ich erst die Kreuzigung nennen?“81 Es läßt sich aus der Argumentationsführung trotz bzw. gerade aufgrund der ganzen Rhetorik ahnen, daß Cicero seinen schweren Stand in der Anklage gegen Verres nur leidlich verdecken kann. Sicherlich gelingt es einem Cicero, im Fall des Gavius immer stärker von der konkreten Person des Delinquenten zu abstrahieren und ihn zum Symbol der Freiheit des römischen Bürgers zu erheben, bis schließlich suggeriert wird, Verres habe die 76 Der Fall wird freilich sorgsam vorbereitet, indem Cicero des öfteren pauschal auf die skandalöse Züchtigung und Hinrichtung römischer Bürger verweist, vgl. Cic., 1 Verr. 13; 2 Verr. 1,7. Als Vorbereitung des Gaviusfalls kann auch die Züchtigung des C. Servilius in Cic., 2 Verr. 5,139 ff. betrachtet werden. 77 So erwähnt Cicero ausdrücklich in 2 Verr. 5,163 die lex Porcia legesque Semproniae. Vgl. zur Problematik des Provokationsrechts oben Abschnitt I. 3. a). 78 Vgl. auch Cic., 2 Verr. 5,165: „du gibst zu: er habe geschrieen, daß er römischer Bürger sei; bei dir habe die Berufung auf das Bürgerrecht nicht einmal so viel vermocht, daß sie einigen Zweifel verursachen, daß sie wenigstens einen kurzen Aufschub der grausamsten und scheußlichsten Hinrichtung bewirken konnte (hoc tu confiteris, illum clamitasse se civem esse Romanum; apud te nomen civitatis ne tantum quidem valuisse ut dubitationem aliquam, ut crudelissimi taeterrimique supplici aliquam parvam moram saltem posset adferre).“ 79 Cic., 2 Verr. 5,168: cognosceret hominem, aliquid de summo supplicio remitteres. 80 Cic., 2 Verr. 5,168: si ignoraret, tum, si ita tibi videretur, hoc iuris in omnis constitueres, ut, qui neque tibi notus esset neque cognitorem locupletem daret, quamvis civis Romanus est, in crucem tolleretur. 81 Cic., 2 Verr. 5,170: Facinus est vincere civem Romanum, scelus verberare, prope parricidum necare: quid dicam in crucem tollere?

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Bürgerfreiheit selbst gekreuzigt.82 Wenngleich die Passage (§§ 163–170) in rhetorischer Hinsicht zu dem Beeindruckendsten gehört, was Cicero gegen Ende seiner Anklage aufbietet, so bleibt das zentrale Problem nichtsdestoweniger der Nachweis des römischen Bürgerrechts, woraus dann überhaupt erst der Anspruch auf die provocatio als materieller Ausweis der Bürgerfreiheit resultieren kann: Einerseits unterstellt Cicero von Anfang an die Glaubwürdigkeit des Bürgerrechts des Gavius, ganz im Gegensatz zu Verres, der darin nur einen Vorwand sieht; andererseits beschränkt aber auch Cicero seine Vorwürfe auf die nicht erfolgte Vertagung der Hinrichtung, bis eventuelle Klarheit über den Bürgerstatus des Gavius herrschte. Zum einen kann also nicht gefolgert werden, Cicero mache Verres die Hinrichtung eines römischen Bürgers als solche zum Vorwurf, sondern es geht ihm hier vielmehr um die Art und Weise ihrer Vollstreckung; zum anderen findet sich in diesem Zusammenhang ein wertvoller Beleg, wie schwierig es überhaupt war, den Bürgerstatus mit Sicherheit festzustellen bzw. nachzuweisen, zumal wenn jemand Bürger einer vom Gerichtsort fernen Gemeinde war und einen Zeugen aus einer Stadt benannte, die ebenfalls nicht gerade in der näheren Umgebung lag.83 Damit stellen sich für die statthalterliche Strafgewaltspraxis in bezug auf die Effektivität des Provokationsrechts römischer Bürger in den Provinzen entscheidende Fragen: War der Statthalter rechtlich verpflichtet, nach Ciceros Vorschlägen zu verfahren und dem angebotenen Zeugenbeweis für das Bürgerrecht des Gavius nachzugehen, oder handelt es sich hier nur um praktische Vorschläge, die eine unverbindliche Erwartungshaltung widerspiegeln? Was wäre gewesen, wenn der Zeuge, z. B. falls er als Kaufmann unterwegs war, nicht hätte aufgefunden werden können? Welche Frist bis zur Ermittlung des Zeugen einschließlich seiner Anreise bzw. eines Bestätigungsschreibens wäre für den Statthalter akzeptabel gewesen? Wenn ein Zeugenbeweis für das Bürgerrecht aufgeboten worden wäre, hätte ihn Ver82 Um die Bürgerfreiheit drehen sich dann weitgehend die nachfolgenden Ausführungen des Cicero nach 2 Verr. 5,163, der bezeichnenderweise eingeleitet wird mit O nomen dulce libertatis! O ius eximium nostrae civitates! In 2 Verr. 5,169 wird dann das Vorgehen des Statthalters ausdrücklich von der konkreten Person des Gavius gelöst und Verres allgemein zum Feind der Freiheit stilisiert: Non illi, inquam, homini sed causae communi libertatis inimicus fuisti. Später wird Gavius dann durch seinen Kreuzestod für Cicero quasi zum Märtyrer der Bürgerfreiheit, 2 Verr. 5,170: Non tu hoc loco Gavium, non unum hominem nescio quem, sed communem libertatis et civitatis causam in illum cruciam et crucem egisti. Der Ort der Kreuzigung des Gavius wird schließlich samt Kreuz zum Symbol bzw. Denkmal (monumentum) der bürgerfeindlichen Gesinnung. 83 Vgl. Cic., 2 Verr. 5,168; in 2 Verr. 1,14; 5,155 f. erwähnt Cicero noch einen anderen Fall, wonach ein römischer Geschäftsmann aus Africa in Syrakus hingerichtet worden sei, obwohl vor Ort über hundert römische Bürger seine Identität bezeugt hätten, Verres ihn aber für einen Sertorianer hielt.

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res dann berücksichtigen müssen, oder bestand dann immer noch die Möglichkeit, ihn aus irgendwelchen Gründen für falsch bzw. unglaubwürdig zu halten? Wenn Cicero bereits an anderer Stelle verdeutlicht hat, daß sich unter der Statthalterschaft des Verres kaum mehr ein lokaler Richter traute, ein unabhängiges Urteil zu fällen, ohne daß er selbst Gefahr lief, mit einen Kapitalprozeß bedroht zu werden,84 so stellt sich das Problem für Zeugenaussagen um so mehr. Wer hätte es noch gewagt, das Bürgerrecht des Gavius zu bezeugen, wenn er möglicherweise damit hätte rechnen müssen, dann selbst der Konspiration mit romfeindlichen Gruppen verdächtigt zu werden? Die Fragen lassen sich aus dem vorhandenen Quellenmaterial nicht lösen; sie können aber verdeutlichen, daß für die Ausübung der Strafgewalt im allgemeinen wie für die Respektierung des Provokationsrechts im besonderen viel von der „Gutwilligkeit“ des Statthalters abhing. Darauf scheinen auch Ciceros weitere Ausführungen abzustellen. Freilich kehrt er dabei die „Beweislast“ zur Feststellung des Bürgerstatus in seinem Sinne um, indem er die Frage aufwirft, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Bürger in entlegenen Gebieten des Reiches nicht mehr darauf vertrauen dürften, daß ihr privilegierter Bürgerstatus respektiert werde.85 „(§ 167) Gleichwohl glauben sie, allein im Vertrauen (fiducia) auf ihr Bürgerrecht, nicht nur bei unseren Magistraten, die durch die Furcht vor den Gesetzen und der öffentlichen Meinung in Schranken gehalten werden, und nicht nur bei den römischen Bürgern, die durch die Gemeinschaft der Sprache, des Rechts und vieler anderer Dinge mit ihnen verbunden sind, sicher zu sein, sondern sie erwarten, daß ihnen, wohin sie auch kommen, dieser Umstand Schutz (praesidium) bieten werde. (§ 168) Nimm den römischen Bürgern diese Hoffnung (spes), nimm ihnen diesen Schutz (praesidium), laß es dahin kommen, daß der Ausruf ,Ich bin römischer Bürger‘ keine Hilfe mehr bietet, daß ein Prätor oder sonst jemand ungestraft jede beliebige Strafe über einen verhängen kann, der erklärt, er sei römischer Bürger, nur weil er nicht weiß, wer der Mann ist: sogleich wirst du mit dieser Begründung den römischen Bürgern sämtliche Provinzen, sämtliche Königreiche, sämtliche freie Städte, den gesamten Erdkreis verschließen, der immer besonders unseren Leuten offenstand.“ (Übers. G. Krüger)

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Vgl. Cic., 2 Verr. 2,33 bzw. oben im Kontext Abschnitt II. 2. b). Vgl. Cic., 2 Verr. 5,167: Hac una tamen fiducia civitatis non modo apud nostros magistratus, qui et legum et existimationis periculo continentur, neque apud cives solum Romanos, qui et sermonis et iuris et multarum rerum societate iuncti sunt, fore se tutos arbitrantur, sed, quocumque venerint, hanc sibi rem praesidio sperant futuram. [168] Tolle hanc spem, tolle hoc praesidium civibus Romanis, constitute nihil esse opis in hac voce, ,Civis Romanus sum‘, posse impune praetorem aut alium quempiam supplicium quod velit in eum consituere qui se civem Romanum esse dicat, quod qui sit ignoret: iam omnis provincias, iam omnia regna, iam omnis liberas civitates, iam omnem orbem terrarum, qui semper nostris hominibus maxime patuit, civibus Romanis ista defensione praecluseris. 85

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Es geht hier Cicero also allgemein um das Vertrauen auf die Schutzwirkung des privilegierten Bürgerstatus im gesamten römischen Herrschaftsgebiet; speziell geht es Cicero um die Effektivität des Provokationsrechts im Zusammenhang mit der Identitätsfeststellung der Person, die von diesem Recht Gebrauch macht. Wenn alle so wie Verres verfahren würden, wäre das Provokationsrecht in seiner Bedeutung für die Bürger in den entfernteren Reichsgebieten gleichsam ausgehöhlt. Ciceros Äußerungen lassen sich dahingehend verstehen, daß die provocatio überhaupt nur Sinn macht, wenn die Magistrate generell der libertas römischer Bürger eine hohe Achtung entgegenbringen und folglich im konkreten Fall den Provokationsanspruch römischer Bürger dahingehend ernst nehmen, daß sie alles daran setzen, die Schwierigkeiten beim Nachweis des Bürgerrechts nicht gegen den Angeklagten auszuspielen, sondern zu seinen Gunsten auszulegen und ihm wenigstens die Chance einzuräumen, seine Bürgeridentität offenzulegen. Die von Cicero nur kurz und allgemein angerufenen Gesetze (lex Porcia legesque Semproniae, § 163) garantieren für sich genommen also noch keinen ausreichenden Rechtsschutz. Hier zeigt sich der Schwachpunkt eines Bürgerrechtes, dessen Schutzwirkung zumindest in den Provinzen de facto nur gleichzeitig von der Autorität garantiert werden kann, gegen die es sich eigentlich richtet. Der Ädil Cicero erwähnt die Provokationsgesetze hier wahrscheinlich auch mehr im stadtrömischen Kontext des Repetundenverfahrens, um eine für ihn günstige Stimmung zu erzeugen und seinem Anliegen – der Bestrafung des Verres – affektiven Nachdruck zu verleihen; gleich darauf ruft Cicero nämlich auch die potestas der Volkstribune an,86 die in Gavius’ Situation außerhalb der Stadt Rom in der fernen Provinz keine Bedeutung haben konnte.87 Von daher versteht sich diese vieldiskutierte Stelle88 m. E. eher als ein rhetorisches Mittel, um der republikanischen Freiheitsideologie römischer Bürger zu huldigen, als daß sie aus rechtshistorischer Perspektive besonders aussagekräftig für die Bewertung 86 Cicero ruft die Provokationsgesetze in 2 Verr. 5,163 nur an und vermittelt keine positiv-rechtlichen Präzisierungen. Gleich anschließend beruft er sich auf Amtsgewalt der Volkstribune: o graviter desiderata et aliquando reddita plebi Romanae tribunicia potestas. Daß Cicero bei dieser Stelle mehr die Affekte der fingierten Prozeßbeteiligten bzw. Prozeßbeobachter und realiter einem bestimmten Leserkreis seiner Anklageschrift im stadtrömischen Kontext im Sinn hat als die Bürgerrechte des Gavius in concreto, scheint mir von daher nahezuliegen. 87 Der Amtsbereich der Volkstribune war auf die Stadt Rom beschränkt; die tribunizische Gewalt endete am Pomerium, vgl. Dion. Hal., Ant. Rom. 8,87,6; App., B Civ. 2,31,123; Cass. Dio 39,39,7; 51,19,6. Vgl. Kunkel (1995), S. 580. 88 Vgl. (hier nur in Auswahl) Greendige (1896), S. 228 ff.; Keaveney (1984), S. 351, 353 f., 356 f.; Cloud (1994), S. 493 f.; Jones, A. H. M. (1960), S. 54; ders. (1972), S. 85; Hengel (1974), S. 145; Garnsey (1968), S. 56; Martin (1970), S. 92; Lintott (1972), S. 231; Strachan-Davidson (1969), Bd. 1, S. 118 f.; Crook (1984), S. 272 f.; Noetlichs (2000), S. 71, A. 59.

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einer lex Porcia bzw. lex Sempronia wäre.89 Wichtiger sind da schon die Überlegungen Ciceros über die faktischen Konsequenzen, die für das Provokationsrecht aus der statthalterlichen Strafgewaltspraxis resultieren. Am konkreten Fall des Gavius kann Cicero verdeutlichen, wie abhängig das Provokationsrecht in seiner Wirksamkeit von der wohlmeinenden Auslegung des Statthalters war, der sich immer in der Position befand, diesen Anspruch aus irgendwelchen Motiven heraus abzulehnen, zumal er während seiner Amtszeit keinerlei rechtswirksamen und einklagbaren Kontrollen unterlag. Die Tatsache, daß ein Statthalter nach seiner Amtszeit vor einem Repetundengericht verklagt und dabei auch die Mißachtung des Provokationsrechts gegen ihn ins Feld geführt werden konnte, verkörpert nur eine sehr mittelbare Bedrohung, deren Erfolg zudem von vielen informellen Faktoren abhing.90 Tatsächlich hing die Effektivität des Provokationsrechts also vom Ermessen des Statthalters ab, und Ciceros Argumentationsweise hat sicherlich ihre Berechtigung, daß das Provokationsrecht in den Provinzen nur noch eine leere Hülle wäre, falls sämtliche Statthalter – wie Verres – den Beklagten noch nicht einmal die Chance auf den Nachweis ihres Bürgerrechts geben würden. Cicero räumt ein, daß, falls der Bürgerstatus des Gavius nicht hätte festgestellt werden können, dieser immer noch mit der Kreuzesstrafe hätte hingerichtet werden können, also mit der qualvollsten Art von Todesstrafe, welche die Römer praktizierten und die zumeist nur bei Kapitalverbrechen von Provinzialen mit niedrigem sozialen Status (besonders Sklaven) Anwendung fand.91 Auch für den Fall, daß der Bürgerstatus festgestellt worden wäre, geht Cicero nicht auf die mögliche Unschuld des Beklagten ein, sondern führt nur aus, daß es bei Feststellung des Bürgerstatus angebracht gewesen wäre, die Strafe etwas abzumildern. Cicero läßt also keinen Zweifel, daß Verres zur Hinrichtung eines römischen Bürgers trotz provocatio berechtigt war. Daß Gavius nach seiner provocatio von Verres zum Strafprozeß hätte nach Rom geschickt werden müssen, kommt Cicero bezeichnenderweise gar nicht in den Sinn.92 Vielmehr legen seine Ausführungen 89

Eine lex Sempronia des Gaius Gracchus aus dem Jahr 123 v. Chr. verbot die Hinrichtung eines Bürgers ohne Volksbeschluß; die Pluralbildung (leges Semproniae) ist hier nicht nachvollziehbar. 90 Ich werde darauf noch ausführlicher in der Schlußbetrachtung zu diesem Kapitel zurückkommen. 91 Vgl. dazu Cic., 2 Verr. 5,139 f. Auch hier ist der Spartacus-Aufstand zu bedenken, worüber bezeugt ist, daß die Sklaven nach ihrer Niederlage zu Tausenden entlang der Via Appia gekreuzigt wurden, vgl. App., B Civ. 1,121,560. 92 Damit gegen die Interpretation von Keaveney (1984), S. 355, der die Schlußfolgerung zieht, Gavius hätte von Verres nach Rom gesandt werden müssen, um sein Provokationsrecht ausüben zu können. Kunkel (1967), S. 241, hält die Überstel-

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nahe, daß die Anerkennung des Provokationsrechts für Gavius wahrscheinlich nichts anderes bedeutet hätte, als daß er durch einem „ordentlichen“ Kapitalprozeß (d. h. mit Anklage, Zeugenvernehmung und Hinzuziehung eines Consiliums) ohne Geißelung verurteilt und dann mit dem Beil enthauptet worden wäre. Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Der Fall des Gavius läßt vermuten, daß es doch einige Verdachtsmomente gegeben hat, die Verres dazu berechtigten, ihn der Kollaboration mit aufständischen Kräften zu verdächtigen und von seiner Koerzitionsgewalt Gebrauch zu machen. Immerhin ist Gavius in Messana aufgegriffen worden, was angesichts der Pläne der aufständischen Sklaven (unter Führung des Spartacus), nach Sizilien überzusetzen und sich dort mit den restlichen aufständischen Sklaven zu vereinigen,93 nicht ganz unerheblich ist, wenn man den Kundschaftervorwurf bedenkt. Dann mußte Verres aber wohl bestreiten, daß Gavius derjenige ist, den er selbst zuvor in die Steinbrüche von Syrakus geschickt hatte; zumindest versucht Cicero diese Behauptung zu widerlegen.94 Leider erfahren wir aber noch nicht einmal, weshalb Gavius zuvor in die Steinbrüche verbracht worden war.95 Bezeichnenderweise beteuert auch Gavius selbst keineswegs seine Unschuld, sondern stets nur die Art und Weise (Züchtigung, drohende Kreuzigung), wie er von Verres trotz seines Bürgerrechts behandelt wurde. Dabei ist zu bedenken, daß falls es Anzeichen einer Beteiligung am Aufstand gegeben hätte, Gavius sowieso seines Bürgerrechts für verlustig betrachtet und als „Staatsfeind“ (hostis) behandelt worden wäre.96 Welchen Sinn macht nun die Schilderung des Falls durch Cicero im Rahmen eines Repetundenprozesses gegen Verres in Rom, in dem es keinesfalls um eine Revision eines bereits vollstreckten Urteils gehen konnte? Der Fall liefert zumindest keinen Hinweis auf den Mißbrauch der Strafgewalt, um Geld, Waren, ein Schiff oder ähnliches vom hingerichteten römischen Bürgern oder Nichtbürgern einzuziehen. Dies braucht nicht zu verwundern, da lung nach Rom (anders als Bleicken u. Pugliese) nur bei politischen Straftaten für wahrscheinlich. 93 Vgl. App., B Civ. 1,118 f. 94 Dies geht aus Cic., 2 Verr. 5,164 hervor, wo Cicero mittels Verzeichnissen und Zeugen beweisen will, daß es sich um denselben Gavius handelt. Möglicherweise leugnete also Verres die Identität des Gavius mit dem zuvor von ihm bereits Verurteilten, da er einen Ausbruch aus den Steinbrüchen für unmöglich hielt. Zumindest galten sie schon zur Zeit des Peloponnesischen Krieges als die sicherste Verwahrungsstätte für Gefangene, vgl. Thuk. 7,86,2. 95 Cic., 2 Verr. 5,145–148 ließe auch die Möglichkeit von Seeräubern oder flüchtiger Sertorianer zu, die sämtlich in die Steinbrüche von Syrakus gebracht wurden. 96 Vgl. allg. Mommsen (1955), StrafR, S. 43, 256 f., 538 ff., 957. Darauf stellt dann auch Kunkel (1967), S. 226 ff. ab, der sämtliche Fälle des 5. Buches als Ausübung der Koerzitionsgewalt gegen hostes verstanden wissen möchte.

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Vorwürfe, die mit dem Prozeßgegenstand im engen Sinne nichts zu tun haben, bei allen politischen Prozessen üblich waren. Der Fall versteht sich von daher als pathetischer Abschluß97 des Berichts einer Serie von Fällen, bei denen Cicero den Tatbestand der Erpressung bereits ausführlich dargelegt hatte.98 Festzuhalten bleibt, daß uns der Fall wenigstens über die Kompetenz des Statthalters informiert, mit Leuten, die sich auf ihr römisches Bürgerrecht beriefen, „kurzen Prozeß“ zu machen, falls sie der Kollaboration mit aufständischen Gruppen verdächtig waren. Abschließend stellt sich noch einmal die Frage, welchen Sinn ein bindendes Votum des Consiliums im statthalterlichen Strafprozeß sogar gegen Peregrine mit minderem sozialen Status oder gar Sklaven machen soll, wenn der Statthalter jemanden allein auf Grundlage seiner Koerzitionsgewalt (ohne Hinweis auf ein Consilium) hinrichten lassen konnte, der sich auf sein römisches Bürgerrecht berufen hatte. Angesichts der damals drohenden Gefahren (Spartakus-Aufstand, Piraterie, entflohene Sertorianer) hätte ein Statthalter so ziemlich jedermann der staatsfeindlichen Agitation verdächtigen und von seiner Strafgewalt Gebrauch machen können, wenn er dies wollte und die Beweislast in keinem der Fälle auf Seiten des Statthalters lag. Überhaupt besaß der Vorwurf des Hoch- bzw. Landesverrats einen so weiten Interpretationsspielraum, daß den Mißbrauchsmöglichkeiten kaum wirksame Schranken entgegengesetzt werden konnten, zumal wenn wirkliche Gefahren des Aufruhrs in der Provinz nicht geleugnet werden konnten. Deshalb beugt Cicero einer Argumentation vor, welche im Zusammenhang mit der Unterdrückung von Aufständischen die „Staatsraison“ im Rükken gehabt hätte, und betont um so mehr ein anderes Interesse Roms, nämlich die libertas römischer Bürger auch außerhalb der Urbs zu achten. An der Wahrung des Bürgerprivilegs mußte Rom ein Interesse haben, nicht nur um seine Bürger im Reich zu schützen, auf deren Treue und Unterstützung man sich besonders in den Provinzen verlassen wollte,99 sondern auch aus 97 So dient gleichfalls die Argumentation gegen die Kreuzigung (hier der archaische Brauch der Aufhängung an der arbor felix aus der Königszeit) als rhetorischer Höhepunkt in Ciceros Rede Rab. perd. 9–17, obwohl die Gefahr der Kreuzigung bereits abgewendet war, Cicero es sich aber dennoch nicht nehmen lassen wollte, den Ankläger Cäsar nicht als Volksfreund, sondern Tyrannen hinzustellen; im Fall des Gavius findet die Rhetorik Cicero ihren Höhepunkt darin, daß sich die Vorgehensweise des Verres weniger gegen Gavius als gegen Rom und Italien gerichtet habe (Cic., 2 Verr. 5,168 f.); vgl. Hengel (1976), S. 151, S. 145 mit A. 65. 98 Vgl. Cic., 2 Verr. 5,146 ff. 99 Vgl. dazu Dahlheim (2000), S. 110 f., der die Bedeutung des Bürgerrechts in den Provinzen – wenngleich hier für die spätere Zeit des Prinzipats – prägnant zusammenfaßt: Für die römischen Bürger „zählten die privat- und prozeßrechtlichen Vorteile wenig; weit mehr bedeutete das öffentliche Ansehen, das den civis Romanus über die graue Masse der provinzialen Untertanen hinaushob und ihn dem Kreis

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wirtschaftlichen Gründen, um die Rechtssicherheit der Händler und Kaufleute mit römischen Bürgerrecht zu gewährleisten.100 Welches „Staatsinteresse“ die Geschworenen im Repetundenprozeß in Rom mehr beeindruckt hätte, die rigide Unterdrückung und Bestrafung von vermeintlichen bzw. wirklichen hostes oder die wohlwollende Auslegung der Privilegien römischer Bürger, um den Zusammenhalt des Reiches zu gewährleisten, läßt sich aus den Verrinen des Cicero freilich nicht feststellen. Deutlich wird hingegen die Problematik, daß ein Provinzstatthalter aus eigennützigen Motiven nicht nur den vornehmen Peregrinen, sondern eventuell auch den römischen Mitbürgern zum „Feind“ werden konnte, obgleich Rom im Rahmen der bestehenden Herrschaftsstrukturen geneigt war, gerade diese beide Gruppen im Gegenzug für ihre Kooperation und Treue besonderen Schutz zukommen zu lassen und dadurch zu privilegieren. Provinziale ohne eigene Verbindungen nach Rom sahen sich wahrscheinlich gezwungen, das Statthalterregiment mit den Interessen Roms schlichtweg gleichzusetzen und sich darunter zu beugen. Verres hatte den Bogen offensichtlich überspannt, so daß diese Gleichsetzung nicht mehr möglich war und nach seiner Statthalterschaft ein Repetundenprozeß gegen ihn angestrebt werden konnte. e) Philodamos aus Lampsakos (2 Verr. 1,63–85) Der letzte hier behandelte Fall des Verres liegt vor seiner Zeit als Statthalter in Sizilien. Auf ihn sei jedoch an dieser Stelle deshalb ausführlicher eingegangen, weil sich an ihm wie an keinem anderen Fall die Problematik des Consiliums erörtern läßt. Verres war 80/79 v. Chr. Legat bzw. Proquästor (legatus pro quaestore) bei dem Statthalter Cn. Cornelius Dolabella in der Provinz Cilicia. Von dort reiste er zu König Nikomedes von Bithynien und zu dem Thrakerfürst Sadala, nachdem er Dolabella um Erlaubnis gebeten hatte. Auf dem Weg dorthin kam er in die Provinz Asia, wo C. Claudius Nero Statthalter war, und nahm Quartier in der Stadt Lampsakos. Hier kam es während eines Gastmahls (convivium) im Hause eines gewissen Philodamos, der wohl der vornehmste Bürger dieser Gemeinde war,101 zu einem Eklat, der weitreichende Folgen hatte (§ 63). der Herren der Welt zugesellte.“ Über die Politik der Verleihung des Bürgerrechts hat Rom „den Gegensatz von Siegern und Besiegten in den sozialen Raum verschoben, wo er wenig Sprengkraft entfalten konnte. Civis Romanus bezeichnete einen privilegierten Rechtsstand, der reichsweit zum Kennzeichen der tonangebenden Schichten geworden war, die in ihren Heimatstädten alle politischen Ämter beanspruchten und sich in Krisenzeiten der Unterstützung des römischen Statthalters sicher waren.“ 100 So rechtfertigt Cicero (2 Verr. 5,168) seinen Rekurs auf den Fall des Gavius auch damit, daß ihn die „Tränen aller römischen Bürger, die in Sizilien Handel treiben“, insbesondere die Valentiner und Reginer dazu veranlaßt hätten.

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Als nämlich klar wurde, daß Verres beabsichtigte, die attraktive Tochter des Gastgebers mit Gewalt zu entführen (§ 64–66), rief Philodamos seine Sklaven, um sie zu beschützen. Bald brachen Kämpfe aus, Philodamos wurde durch sein Haus gehetzt, geschlagen und schließlich von Rubrius, einem Büttel des Verres, der den Plan der Entführung eingefädelt hatte, mit kochendem Wasser übergossen. Die Lage spitzte sich noch zu, als der Sohn des Philodamos herbeigeeilt war, „um das Leben des Vaters und die Keuschheit der Schwester zu beschützen“, und sich inzwischen auch Bewohner von Lampsakos am Haus versammelt hatten. In dieser, von Cicero nicht genauer geschilderten Situation wurde schließlich Cornelius, ein Liktor des Verres, der zur Entführung des Mädchens auf Posten gestellt war, getötet; außerdem wurden einige Sklaven und auch Rubrius verletzt, und Verres selbst trachtete nur noch danach, sich davonzustehlen (§ 67). Am nächsten Tag kam es zur Volksversammlung der Stadtbürger, denn immerhin waren Mitglieder des Gefolges eines römischen Legaten verletzt und einer davon umgebracht worden. So beriet man sich darüber, ob deshalb Sanktionsmaßnahmen aus Rom zu befürchten seien, obgleich der Urheber der ganzen Sache doch eigentlich Verres war (§ 68). Man kam zu der einhelligen Meinung: „Wenn sich die Legaten des römischen Volkes gegen die Bundesgenossen und auswärtigen Völker das Recht herausnähmen, daß es unstatthaft sei, die Keuschheit der Kinder vor ihren Gelüsten zu schützen und zu bewahren, dann sei es besser, alles auf sich zu nehmen, als unter so bitterer Gewaltherrschaft zu leben.“102 Jedoch verschaffte sich der Volkszorn alsbald nicht nur mit Worten Luft, sondern die Leute zogen vor das Haus, in dem Verres nunmehr Gast war, und begannen, die Tür mit Steinen einzuschlagen und mit Eisengeräten anzugreifen, außerdem besorgten sie Holz und Reisig, um Feuer zu legen. Die römischen Bürger, die in Lampsakos Handel trieben, versuchten nun mäßigend einzuschreiten und baten, die Lampsakaner möchten doch „dem Legatentitel größeres Gewicht beimessen als dem Unrecht eines einzelnen Legaten“.103 Außerdem verwiesen sie darauf, daß es, wenngleich Verres sicherlich ein „schmutziger und ruchloser Mensch“ sei, nicht zur Ausführung seines eigentlichen Vorhabens gekommen sei, er sich zudem auch künftig nicht mehr in ihrer Stadt aufhalten würde; so sei „ihr Vergehen geringer, wenn sie den frevelhaften Menschen geschont, als wenn sie den Legaten nicht geschont hätten“.104 Diese Argu101 Cic., 2 Verr. 1,64: Philodamum esse quendam, genere, honore, copiis, existimatione facile principem Lampsacenorum. 102 Cic., 2 Verr. 1,68: quodsi hoc iure legati populi Romani in socios nationesque exteras uterentur, ut pudicitiam liberorum servare ab eorum libidine tutam non liceret, quidvis esse perpeti satius quam in tanta vi atque acerbitate versari. 103 Cic., 2 Verr. 1,69: orant Lampsacenos ut gravius apud eos nomen legationis quam iniuria legati putaretur.

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mente, welche zugleich die Trennung von Amt und Person vor Augen führen, zeitigten schließlich ihre Wirkung, so daß Verres noch einmal davonkam.105 Soweit die Schilderung Ciceros über die Vorfälle in Lampsakos, die schließlich auch vom zuständigen Statthalter Nero und seinem Consilium untersucht wurden. Man ließ die Angelegenheit nicht auf sich beruhen. Da feststand, „daß der Liktor Cornelius ermordet worden sei“, richtete man sich nach dem Grundsatz: „daß niemand die Berechtigung haben dürfe, einen Menschen zu töten, auch nicht, wenn er ein Unrecht vergelte“.106 Der Fall beschäftigte das Consilium des Statthalters also nicht in bezug auf das frevelhafte Verhalten des Verres, welches der Anlaß der ganzen Affäre war, sondern weil keine Selbstjustiz geduldet werden durfte. Bei diesem Spruch handelt es sich noch nicht um ein Urteil über Philodamos; vielmehr ging es erst einmal um die grundsätzliche Klärung der Rechtslage, ob die Strafverfolgung überhaupt angemessen sei. Dies zeigt sich auch darin, daß Cicero auf einen Parallelfall in Utica verweist, wo man eben nicht zur Strafverfolgung schritt.107 Daraus kann man zunächst schließen, daß ein Consilium des Statthalters nicht nur für den Strafprozeß selbst einberufen werden konnte, sondern auch zur Vorberatung (evtl. als eine Art responsum zur Klärung der Rechtslage), ob eine Strafverfolgung überhaupt notwendigerweise eingeleitet werden sollte. Erst im folgenden kommt Cicero auf den Ablauf des Statthalterprozesses zu sprechen. Verres hatte nämlich Angst, „das Gericht Neros“ könnte Philodamos von der Mordanklage freisprechen, zumal „ganz Asia glaubte, jener Mann sei mit Recht getötet worden“, der nur ein Erfüllungsgehilfe von 104 Cic., 2 Verr. 1,69: levius eorum peccatum fore si homini scelerato pepercissent quam si legato non pepercissent. 105 Was ihn später wohl nicht davon abgehalten hat, unter Verdrehung des eigentlichen Anlasses den Volkszorn als Aufruhr (tumultus) gegen einen Vertreter Roms hinzustellen; zumindest scheint er – wie aus Cic., 2 Verr. 1,80 hervorgeht – die Sache gegenüber Dolabella so hingestellt zu haben. 106 Cic., 2 Verr. 1,72: secutum id esse Neronem et eius consilium: quod Cornelium lictorem occisum esse constaret, putasse non oportere esse cuiquam ne in ulciscenda quidem iniuria hominis occidendi potestatem. 107 Vgl. Cic., 2 Verr. 1,70. Cicero stellt den Fall in Utica so dar, als sei die Ermordung des C. Fabius Hadrianus, der im Jahr 82 v. Chr. Statthalter der Provinz Africa war, deshalb nicht verfolgt worden, weil die ansässigen römischen Bürger seine Habsucht nicht länger ertragen konnten. Deshalb wäre jeder überzeugt gewesen, er sei zurecht in seinem Haus verbrannt worden, so daß sich alle freuten und keinerlei Ahndung angeordnet wurde. Hier zeigt sich, wie problematisch bzw. verzerrend manchmal der Rekurs auf Präzedenzfälle in Überschlagung eines historisch ereignisreichen Jahrzehnts sein kann, bedenkt man, daß Hadrianus ein Anhänger des Marius war und sein Tod doch wohl deswegen nicht geahndet wurde, weil inzwischen die Partei Sullas die Macht ergriffen hatte.

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Verres’ schändlichen Gelüsten gewesen sei.108 Wenngleich Philodamos nicht selbst als der Mörder von Cornelius genannt wird, er dazu wahrscheinlich wegen seiner erlittenen Verbrennungen auch gar nicht in der Lage war, so scheint er hier dennoch dafür geradestehen zu müssen: entweder weil er zusammen mit seinem Sohn, der erst an späterer Stelle genannt wird, der Mittäterschaft beschuldigt wurde, oder einfach, weil er in seinem Haus für die Sicherheit des römischen Legaten und seines Gefolges haftete. Zumindest bezeugt die Befürchtung des Verres die Möglichkeit, daß die Stimmung unter den Provinzialen den Ausgang des Prozesses nicht unwesentlich beeinflussen konnte. Denn es war nicht auszuschließen, daß Nero in diesem Fall ein „großes Consilium“ zu einem ordentlichen Gerichtstag einberufen wollte. Dies würde auch erklären, weshalb einige Zeit verstrich, bis es zum eigentlichen Prozeß kam, und Verres dadurch die Möglichkeit hatte, in der Zwischenzeit bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Nachdem Verres nach Cilicia zu seinem ihm vorgesetzten Statthalter Dolabella zurückgekehrt war, beteuert er vor ihm, sein Leben sei in Gefahr, wenn Philodamos freigesprochen und am Leben bleiben würde, da dieser sicherlich Rache üben wolle. So ließ sich der Statthalter überreden, seine Provinz zu verlassen, um zu seinem Standeskollegen Nero nach Asia zu reisen und dort am Strafprozeß gegen Philodamos teilzunehmen (§ 72). Dolabella ließ sich beeinflussen, reiste zu Nero und forderte ihn auf, den Fall des Philodamos zu untersuchen, wobei er selbst dem Consilium angehören wolle, um hier als erster seine Stimme abzugeben.109 Die Tatsache, daß Dolabella in dieser Angelegenheit während seiner Amtszeit seine von ihm verwaltete Provinz verließ, ist mehr als erstaunlich, war dies, abgesehen von wenigen Ausnahmen bzw. Notfällen Statthaltern nicht gestattet.110 Wir brauchen dies hier jedoch nicht anzuzweifeln, da sonst die gesamte weitere Schilderung des Cicero keinen Sinn machen würde. Die Motive für diese ungewöhnliche Maßnahme bleiben ungewiß; möglicherweise handelte es sich um das Schutzbedürfnis in einem besonderen Treueverhältnis zwischen dem Statthalter und seinem Quästor.111 Außerdem hätte man gerne gewußt, 108 Cic., 2 Verr. 1,72: Quod toti Asiae iure occisus videbatur istius ille verbo lictor, re vera minister improbissimae cupiditatis, pertimuit iste ne Philodamus Neronis iudicio liberaretur. 109 Cic., 2 Verr. 1,73: Venerat ipse qui esset in consilio et primus sententiam diceret. 110 Cicero (2 Verr. 1,73) stellt heraus, daß ihm das Verlassen der Provinz Tadel einbrachte. Vgl. Lintott (1993), S. 44, unter Verweis auf eine lex Porcia von 101– 100 v. Chr., die vorschrieb, daß sich der Statthalter nicht selbst oder seine Armee ohne gute Gründe aus der Provinz bewegen sollte. Ob Dolabella den Krieg gegen einige Grenzstämme als Vorwand anführen konnte, bleibt fraglich. Die Anspielung in Cic., 2 Verr. 1,77, daß er Heer und Feind verlassen habe, macht seinen Einsatz für Verres nur noch höher.

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warum eigentlich Nero auf den Vorschlag Dolabellas einging,112 wie aus dem weiteren hervorgeht. Interessant ist freilich die Erwähnung der Tatsache, daß Dolabella im Consilium als erster sein Urteil abgeben wollte, was seiner Stimme (ähnlich wie nach der Hierarchie des Rederechts im römischen Senat) besonderes Gewicht verlieh, zumal er im Consilium dann die ranghöchste Person verkörperte. Doch dies allein genügte wohl noch nicht, um die Verurteilung des Philodamos wahrscheinlicher zu machen, denn Cicero berichtet, daß Dolabella außerdem seine Präfekten und Militärtribune mitgebracht hatte, die Nero sämtlich in sein Gericht berief, unter denen sich schließlich auch Verres – der „gerechteste aller Richter“ – befand, wie Cicero ironisch anmerkt.113 Außerdem wurden noch „einige Römer“ einberufen, die „Gläubiger von Griechen“ waren und sich ob ihrer finanziellen Interessen die Unterstützung des Legaten bei der Eintreibung ihrer Schulden erhofften (§ 73). Cicero schildert hier, wie bereits die Zusammensetzung des Consiliums auf ein parteiliches Urteil hinwirken sollte, indem Nero das Consilium um die Leute Dolabellas erweiterte, dem ansonsten wahrscheinlich nur die üblichen Mitglieder aus seinem eigenen Stab (z. B. Präfekten, Militärtribune) und in besonderen Fällen noch einige wohlhabende römische Bürger aus der Umgebung angehörten. Jedenfalls kam noch hinzu, daß Philodamos nicht einmal einen Verteidiger finden konnte, da sich wohl niemand mehr getraute, gegen soviel einseitig gelagerte Machtinteressen ein Plädoyer zu führen (§ 74). Als Ankläger fand sich hingegen ein römischer Bürger, der zugleich Gläubiger der Lampsakaner war und hoffen durfte, daß ihm die Büttel des Verres bei Eintreibung der Gelder helfen würden, wenn er sich ihm gefällig erwies (§ 74). Die Spitze setzte dem Fall noch die Tatsache auf, daß Verres nicht nur dem Consilium beisaß und den Ankläger bestellte, sondern außerdem noch als Zeuge aussagte, da er behauptete, auch sein Schicksal hinge von diesem Fall ab.114 111 Den einzigen Hinweis darauf gibt Cic., 2 Verr. 1,77, wo Cicero seine Vorwürfe zum Gebaren des Dolabella erhebt und es an einer Stelle heißt: Quod enim eum tibi quaestoris in loco constitueras, idcirco tibi amicum in perpetuum fore putasti? (Denn weil du ihn mit der Stelle deines Quästors gesetzt hattest, deshalb glaubtest du, er werde für immer dein Freund sein); woraufhin Cicero aber sogleich auf die Treulosigkeit (perfidia) des Verres gegenüber seinem vorherigen Vorgesetzten Cn. Carbo verweist. 112 Ein Ranggefälle zugunsten Dolabellas ist jedenfalls nicht festzustellen: Beide waren gleichzeitig im Jahr 81 Prätor, beide waren Patrizier. 113 Cic., 2 Verr. 1,73: adduxerat etiam praefectos et tribunos militaris suos, quos Nero omnis in consilium vocavit; erat in consilio etiam aequissimus iudex ipse Verres. 114 Cic., 2 Verr. 1,74: Verres fortunas agi suas diceret, idem testimonium diceret, idem esset in consilio, idem accusatorem parasset.

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Handelt es sich hier um Übertreibungen Ciceros? Immerhin ist zu bedenken, daß er dem Geschworenengericht in Rom – oder genauer: seinen Lesern – unterstellt, diese verfahrensrechtlichen bzw. organisatorischen Arrangements für möglich zu halten. Selbst wenn also der Statthalter in seinem Urteil vom Votum des Consiliums abhängig gewesen wäre, erhalten wir hier wichtige Hinweise, welche Maßnahmen im Vorfeld des Prozesses getroffen werden konnten, um dem Votum eine bestimmte Tendenz zu geben: Wer als erster im Consilium sprach, aus welchen Personen es zusammengesetzt war, wer den Verteidiger und wer den Ankläger stellte, wer wem gegenüber welche finanziellen Verpflichtungen hatte, in welchem Sinne die Mitglieder mit hohem Status zu entscheiden gedachten, wer von wem noch eine Gegenleistung für ein bestimmtes Votum zu erlangen hoffte usw., all dies scheint für die für die Rechtswirklichkeit weit wichtiger gewesen zu sein als die Frage, ob sich dann der vorsitzende Statthalter an den Spruch des Consiliums zu halten hatte. Nun kam es aber erstaunlicherweise trotz all dieser Arrangements vorerst dennoch zu keiner abschließenden Verurteilung des Philodamos, sondern zu einer ampliatio,115 d. h. eine Vertagung bzw. (nach Kunkel) vollständige Wiederholung der Verhandlung, weil Mitglieder des Consiliums auf Befragung des Magistraten erklärten, ihnen sei der Fall noch nicht klar (non liquet) bzw. sich bei der Abstimmung über die Schuld einfach der Stimme enthielten. Über das genaue Prozedere in einer solchen Situation sind wir nur schlecht unterrichtet, schon gar nicht im Hinblick auf den Statthalterprozeß. Hing die Vertagung vom Statthalter ab, d. h. konnte er eventuell auch die Zweifel bzw. die Zurückhaltung einiger Mitglieder des Consiliums übergehen, die sich nach bisherigem Prozeßverlauf noch kein ausreichendes Bild über den Fall machen konnten bzw. wollten? Ging er darauf nur ein, wenn er selbst auch noch Zweifel hatte, oder mußte er in dieser Situation eine ampliatio anordnen? Wie groß mußte der Anteil der Mitglieder des Consiliums sein, die sich noch kein genaues Bild von dem Fall machen konnten (oder wollten)?116 Leider sind wir für diese nur selten überlieferte Situation nicht ausreichend informiert, und auch der Bericht Ciceros zum Prozeß des Philodamos läßt diese Fragen offen. Wir erfahren nur, daß es – obwohl der Tatbestand der Tötung des Liktors evident war – zur ampliatio kam, weil das von Verres zuvor verübte Unrecht und seine Unverschämtheit für einschlägig befunden wurde.117 Immerhin wird deutlich, daß in dem von Verres begangenen Unrecht eine 115 Vgl. auch zum folgenden Kunkel (1967), S. 227 ff. am ausführlich erörterten Beispiel der Morde vom Sila-Wald; der Fall des Philodamos wird erwähnt S. 230 A. 46; ders. (1974b), S. 85; vgl. auch Mommsen (1955), StrafR, S. 425 ff. 116 Nach der lex Acilia 46 ff. ist nur erwähnt, daß es mehr als ein Drittel sein mußte (so bei Kunkel).

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Rechtfertigung der Tötung des Liktors gesehen werden konnte, was zudem der öffentlichen Meinung entsprach, jedoch vom vorberatenden Consilium Neros nicht akzeptiert worden war. Man wüßte also nur zu gerne, wer den zögerlichen Teil des Consiliums stellte, der wohl nicht zum Gefolge Dolabellas zählte,118 und welchen Anteil an Stimmen sie im Verhältnis zur Gesamtzahl der Mitglieder des Consiliums ausmachten. Jedenfalls scheint im ersten Anlauf keine einhellige Meinung über die Schuld des Philodamos geherrscht zu haben. Es kommt also zu einer zweiten Verhandlung, bei der sich nun Dolabella und Verres noch mehr ins Zeug legten, letzterer sogar unter Tränen aufgeregt hin her lief,119 so daß schließlich Philodamos sowie sein Sohn für schuldig befunden und umgehend auf dem Forum von Laodicea mit dem Beil hingerichtet wurden (§ 75 f.). Gab hier das Consilium den entscheidenden Ausschlag für den Urteilsspruch? Geht aus der gesamten Prozedur hervor, daß Nero als vorsitzender Richter und Statthalter der Provinz an dessen beide Voten gebunden war? Ersteres muß man bejahen, es sei denn, man würde Cicero bei Schilderung der ampliatio eine hinzugedichtete Dramatisierung unterstellen. Desweiteren scheint der Verweis auf die knappe Stimmenmehrheit in der zweiten Verhandlung die Annahme zu bestätigen, daß das Consilium ein Votum abgab, an welches sich der Statthalter dann hielt.120 Übrigens ist dies der einzige Fall, für den uns eine Mehrheitsentscheidung in förmlicher Abstimmung überhaupt überliefert ist. Es sollte daraus keine Verallgemeinerung für alle Provinzialprozesse folgen, da es sich hier m. E. nur um eine von mehreren Verfahrensweisen gehandelt hat, die wahrscheinlich nur in besonders brisanten Fällen zur Anwendung kam. Unverkennbar zeigt sich das generelle Gewicht des Consiliums, aber auch das besondere der darin dominant agierenden Personen, wenn Cicero meint, die Entscheidung wäre eindeutig anders ausgefallen, wenn Nero das einzig richtige in dieser Situation getan hätte, nämlich ohne Verres und Dolabella zu verhandeln.121 Ihre Mit117 Cic., 2 Verr. 1,74: tamen tanta vis istius iniuriae, tanta in isto improbitas putabatur ut de Philodamo amplius pronuntiaretur. 118 Denkbar, jedoch ohne Beleg, wären die Leute aus dem Stab des Nero; dazu könnte auch ein Mann wie C. Visellius Varro gezählt haben, der Militärtribun unter Nero war und beim Prozeß gegen Verres als Zeuge für den Philodamos-Fall auftrat, vgl. Cic., 2 Verr. 1,71. Dieser war übrigens ein Vetter Ciceros und hatte in seiner Jugend eine ausgezeichnete juristische Ausbildung erhalten, vgl. Cic., Brut. 264. 119 Dies ist in Kontexten antiker Rhetorik durchaus kein unübliches Verhalten, da hier martialisch anmutende körperliche Gebärden und an das Gefühl appellierende symbolische Gesten selbstverständlicher Bestandteil zugespitzter Redesituationen sein konnten; vgl. David (1980), der dies einmal näher für den Kontext popularer Politik in Rom untersucht hat. 120 Cic., 2 Verr. 1,75: Condemnatur enim perpaucis sententiis Philodamus et eius filius.

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wirkung am Prozeß kommentiert er damit, daß sich der ansonsten vortreffliche und ganz uneigennützige Nero hier doch allzu ängstlich und mutlos zeigte (§ 75). Mußte Nero aber die ampliatio im ersten Verfahren anordnen oder kam ihm in diesem Fall die Situation im Consilium nur entgegen, da auch er Zweifel am Gebaren des Dolabella und Verres hatte? War er in der zweiten Verhandlung verpflichtet, sich an das Votum des Consiliums mit knapper Mehrheit zu halten, oder hätte er auch anders entscheiden können, weil er das letzte Wort hatte? Auf den ersten Blick erscheint die letzte Frage müßig, kann man sich in diesem Fall kaum vorstellen, daß er in der zweiten Verhandlung gegen das Votum des Consiliums ein Urteil gefällt haben könnte. Jedoch ist damit noch nicht geklärt, ob er dazu verpflichtet war, ob er nach gängigen Geflogenheiten handelte, aufgrund des großen Drucks, den Dolabella und Verres auf ihn ausgeübt hatten, oder auch nur, um diesen lästigen Fall endlich zum Abschluß zu bringen. Angenommen, Nero wäre innerlich von der Unrechtmäßigkeit des Urteils überzeugt gewesen und hätte auch lieber die Stimmung unter den Provinzialen berücksichtigt, was hätte er machen können, um Philodamos und seinen Sohn freizusprechen? Zunächst ist zu bedenken, daß die Tötung eines römischen Liktors als solche nicht zu leugnen war; man hätte sich diesbezüglich allenfalls beim ersten Consilium auf Rechtfertigungsgründe einigen können. Die Berücksichtigung der Stimmung unter den Provinzialen stand hier möglicherweise gegen die Meinung, daß die Tötung des Liktors eines römischen Legaten unter keinen Umständen hingenommen werden konnte.122 Dabei hätte sich Nero zudem gegen das harsche Auftreten eines Standesgenossen durchsetzen müssen, was dazu geführt hätte, sowohl Dolabella als auch Verres (auch noch für die spätere Zeit in Rom) als Feind zu haben. Dagegen wog der Zorn in der Provinz, aus der man nach einem Jahr Amtszeit wieder abzog, nicht allzu viel, da sie sich auch wieder ändern konnte. Womöglich war Nero deshalb in rebus animum nimium timidum atque demissum (§ 75). In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere Äußerung Ciceros interessant, mit der er Nero in Schutz zu nehmen versucht, daß nämlich die Entscheidung, die damals verkündet wurde, non per Neronem iudicatum, sed per Dolabellam ereptum existimabatur, also nicht für ein Urteil durch Nero, sondern für eine Erpressung durch Dolabella gehal121 Cic., 2 Verr. 1,75: qui in illa re quid facere oporteret non habebat, nisi forte, id quod omnes tum desiderabant, ut ageret eam rem sine Verre es sine Dolabella. Quicquid esset sine his actum, omnes probarent. 122 Womöglich widmet sich deshalb Cicero in 2 Verr. 1,78 ff. in breiten Ausführung der Stimmung unter den Provinzialen, die, wenn ihnen schon nicht im Statthalterprozeß Recht verschafft wurde, dann spätestens jetzt vom Gericht in Rom eine Bestrafung des Verres erwarten dürften.

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ten wurde (§ 75). Der Satz versteht sich m. E. so: Nero (und nicht das Consilium) hat das Schuldurteil zwar gefällt (nachdem auch die Mehrheit im Consilium dafür optierte), jedoch war der Druck Dolabellas im Consilium so groß, daß jener ihm dieses Urteil gleichsam abgepreßt hat. Sicherlich sind auch hier die Worte nicht auf die Goldwaage zu legen, wenn man bedenkt, daß Cicero hier eben die Absicht hat, Nero möglichst sauber aus der Sache hervorgehen zu lassen und alles weitere Dolabella und seinem Schützling Verres anlastet. Doch gerade aufgrund dieser Tendenz bei Cicero wäre es angebracht, dieser nicht aufzusitzen und die Verantwortung des Statthalters Nero für das Schuldurteil herunterzuspielen, um gleichzeitig nachzuweisen, daß dieses dem Consilium anzulasten sei.123 3. Fazit zur Strafgewalt des Statthalters in den Verrinen Die Möglichkeit, daß der Statthalter ohne Consilium von seiner Strafgewalt Gebrauch machte, kann nicht völlig ausgeschlossen werden.124 Jedoch ist davon auszugehen, daß nach alter Gewohnheit in den meisten Fällen ein 123

Damit gegen Kunkel (1967), S. 230, A. 46. Sein zusätzliches Argument, daß das per anders als im Italienischen im klassischen Latein keinen Urheber bezeichne, wie er gegen Crifò ins Feld führt, scheint mir schon angesichts des übertragenen Bedeutungsspektrums dieses Wörtchens nicht haltbar. Es zeigt allenfalls, welche Probleme Kunkel mit der Interpretation dieser Stelle zur Stützung seiner Thesen hat. Die Grundregel heißt: „Personen, die Vermittler einer Handlung sind, werden durch per [. . .] bezeichnet; Personen die Urheber einer passivisch ausgedrückten Handlung sind [. . .] werden durch ab bezeichnet“, vgl. Rubenbauer, H./Hofmann, J. B.: Lateinische Grammatik, neubearbeitet von R. Heine, 11. Auf. 1989, München. Laut Kuhner, R./Stegmann, C.: Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache, 2 Bde., Teil 2: Satzlehre, 1997, Darmstadt, S. 378, A. 8, „findet sich schon klassisch gar nicht selten per auch im Sinne von ab“ (mit Belegen). 124 Der Ausdruck sine consilio im Fall des Sopatros (Cic., 2 Verr. 2,74) ließe sich so verstehen, jedoch ist davon auszugehen, daß hier bei Cicero „ohne angemessenes Consilium“ gemeint ist. Der Fall des Sthenius (Cic., 2 Verr. 2,83 ff.) gibt keinen Hinweis auf ein Consilium: Einerseits kann man argumentieren, dies sei in diesem speziellen Fall eben gerade nicht das Problem Ciceros gewesen, der andere Verfahrensfragen in den Vordergrund stellte, andererseits ist es aber erstaunlich, warum hier nicht auch auf ein Consilium eingegangen wird, wo doch sonst alles an diesem Fall „faul“ zu sein scheint. Der Fall des Apollonios (Cic., 2 Verr. 5,18) gibt keine Auskünfte zum Consilium, jedoch legt der Kontext nahe, daß er ohne Consilium in Ausübung der Koerzitionsgewalt ins Gefängnis geworfen wurde; denn genau dies empfindet Cicero als Skandal für einen Großgrundbesitzer im Vergleich zu jenen Sklaven, die unter dem gleichen Anklagepunkt de consilii sententia ins Gefängnis geworfen wurden, jedoch ohne Beratung des Consiliums auf Veranlassung des Verres wieder freikamen, vgl. Cic., 2 Verr. 5,18. Für den Fall des Gavius (2 Verr. 5,158) gibt es ebenfalls keinen Hinweis auf ein Consilium; es gilt das gleiche wie für den Fall des Apollonios, nur daß es sich nunmehr um einen römischen Bürger gehandelt haben könnte.

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Consilium mitwirkte, sei es, daß daran entweder nur Mitglieder aus dem persönlichen Stab (cohors amicorum) des Statthalters mitwirkten,125 wobei auch hier eine vorherige Auswahl genehmer Leute möglich war,126 oder sei es, daß sich das Consilium aus der statthalterlichen cohors sowie Mitgliedern der lokalen Honoratiorenschicht, insbesondere den lokal ansässigen römischen Bürgern zusammensetzte.127 War letzteres der Fall, vereinfacht ließe sich von einem „großen Consilium“ reden,128 konnten die „alteingesessenen“ Honoratioren auch über längere Zeit aufeinanderfolgenden Statthaltern als Angehörige eines Consiliums zur Verfügung stehen. Freilich fand im Todesfall oder aus anderen Gründen ein Austausch statt, indem man neue Mitglieder kooptierte, was sich je nach Gerichtsort unterschiedlich gestaltet haben könnte. Zumindest die Mitglieder aus dem Stab des Statthalters werden mit jedem neuen Amtsinhaber größtenteils gewechselt haben. Welche Form des Consiliums unter welchen Umständen jeweils zur Anwendung kam, ist nur schwer zu durchschauen. Es scheint positiv-rechtlich 125 So sind im Prozeß gegen Sopatros, nach Entlassung des „großen Consiliums“, vgl. Cic., 2 Verr. 2,75 ff. Im Fall des Philodamus (Cic., 2 Verr. 1,73 ff.) hat sich das Consilium sowohl aus der cohors des Statthalters Nero als auch des Statthalters Dolabella und wahrscheinlich noch aus einigen lokal ansässigen Kaufleuten mit römischen Bürgerrecht; ob zudem noch Honoratioren ohne Bürgerrecht beisaßen, läßt sich nicht feststellen. Vgl. Cic., 2 Verr. 2,34, wo sich der Vorwurf des Cicero wegen der Parteilichkeit der Richterbänke jedoch auf Privatrechtsfälle (bes. Erbrechtsfälle) bezieht; vgl. ebenso die Untersuchung wegen Begünstigung (beneficium) der Mamertiner hinsichtlich der Getreideabgaben (Cic., 2 Verr. 5,53 ff.). Hinweise auf das Gefolge des Verres finden sich u. a. in Cic., 2 Verr. 2,48 f. (Schwiegersohn des Verres); 2,22; 5,108 (Naevius Turpio); 2,25.56 ff. (Vocatius); 2,69 f. 108. 133 ff.; 5,81 (Timarchides); vgl. allgemein zur Charakterisierung der Gefolgsleute 2,26 ff.; 2,33 f. In Cic., 2 Verr. 5,54 f. wird besonders der Ausdruck de consili sententia hervorgehoben, um anschließend die Liste seiner vorgeblich glänzenden Berater zu diskreditieren. 126 Dies verdeutlicht Cic., 2 Verr. 5,114 f., wo Cicero in bezug auf die HeracliusAffäre berichtet: „Verres verurteilte omnis de consili sententia“, wobei er jedoch seinen Quästor T. Vettius aus dem Consilium ausschloß sowie seinen Legaten P. Cervius als Richter zurückwies (iudex reiectus est). Statt dessen verurteilte er sie alle zusammen mit dem ,Gefolge seiner Raubgesellen‘: sed de latronum, hoc est de comitum suorum sententia condemnat omnis. Vgl. ausführlich zu Verres Helfern in Ausübung der Gerichtsbarkeit Classen (1980), bes. S. 97, 100, 108. 127 So war zunächst die Zusammensetzung des Consiliums im Fall des Sopatros vorgesehen, vgl. Cic., 2 Verr. 2,70 ff. Im Prozeß des Philodamus unter dem Statthalter Nero kann ein „großes Consilium“ als wahrscheinlich gelten. 128 Urch (1929/30), S. 95 unterscheidet „large or small“ consilium, „according to the number of Roman citizens within the vicinity of the court and in the governor’s retinue“; jedoch zeigt der Hinweis auf die Sizilier im Fall des Sthenius, die auf der Richterbank sitzenblieben, daß evtl. auch Peregrine dem Consilium angehören konnten.

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nicht geregelt gewesen zu sein. Hier hing höchstwahrscheinlich viel vom Stil der Amtsführung und dem Ermessen des jeweiligen Statthalters ab. So konnte er lokale Traditionen und die exempla seiner Vorgänger achten, soweit sie sich bewährt hatten. Allgemein konnte er versuchen, sich mit der provinzialen Oberschicht gut zu stellen, indem er diese durch die Berufung in sein Consilium auszeichnete; oder er pflegte im Gegenteil eher einen „tyrannischen“ Herrschaftsstil129, ohne diesbezüglich Rücksichten zu nehmen. Cicero betrachtet Verres als einen tyrannischen Statthalter, so daß sich aus seinen Äußerungen im Umkehrschluß die Kriterien für einen „normalen“ bzw. „idealen“ Statthalter ableiten lassen: Unter normalen Voraussetzungen (d. h. ohne Ausnahmezustand, direkte Gefahr oder Bedrohung der Herrschaftsinteressen Roms) hatte dieser nach Gewohnheit die Verfahrensweise vormaliger Statthalter sowie die lokalen Traditionen zu berücksichtigen;130 außerdem sollten in das Amtsethos131 die Gebote der politischen Klugheit im Rahmen des herrschaftlichen Erfahrungswissens einfließen;132 und in Ausübung der Strafgewalt sollte vor allem der soziale Status der Betroffenen133 sowie der politische Status ihrer Herkunftsgemeinde respektiert werden.134 Ohne „großes Consilium“, d. h. nur unter Heranziehung eines kleinen persönlichen Beraterkreises, wird der Statthalter von seiner Strafgewalt Gebrauch gemacht haben, wenn es sich um einen Beschuldigten mit niedrigem Status aus einer Gemeinde ohne größere Bedeutung handelte. Anders verhält es sich bei Vertretern aus der provinzialen Oberschicht, bei denen es schon angesichts der potentiellen bzw. vorhandenen Verbindungen zu einflußreichen Patronen in Rom, ratsam schien, auf die ausgewogene Zusammensetzung eines Consiliums zu achten. Die Absicherung eines bestimmten 129

Vgl. Cic., 2 Verr. 5,103. Dies wird besonders im Fall Sthenius im Vergleich zum Vorgänger Sacerdos deutlich. 131 Cicero hält sein eigenes Amtsethos gegen das des Verres, vgl. Cic., 2 Verr. 5,35 ff. 132 Der Gesichtspunkt der politischen Klugheit zeigt sich immer, wenn Cicero auf die Bedeutung der socii abhebt, vgl. Cic., Div. Caec. 37; die Römer als Patrone über die Sizilier, vgl. Cic., Div. Caec. 1,13. 64 f.; 1 Verr. 2; 2 Verr. 2,28. Die „Staatsraison“ in bezug auf die Provinzialherrschaft kommt auch noch einmal deutlich dort zum Ausdruck, wo Cicero die Summe der Anklage im Hinblick auf die gesamte vertrackte „Flottenaffäre“ zieht, vgl. Cic., 2 Verr. 5,136–138. Als eine Art politische Klugheitsethik für die Provinzialherrschaft läßt sich m. E. das erste Buch von Ciceros Epistulae ad Quintum Fratrum interpretieren. 133 Zu Verres’ Einstellung gegenüber Mitbürgern minderen Status vgl. Cic., 2 Verr. 1,122. 134 Dies wird jeweils deutlich, wenn Cicero zu Beginn seiner Beispielfälle die Verdienste der jeweiligen Gemeinde hervorhebt, aus welcher ein Verurteilter stammt. 130

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Urteils, indem es auf eine breitere Grundlage gestellt wurde, verdeutlicht die legitimatorische Funktion des Consiliums, zumal wenn die Möglichkeit bestand, daß sich eine Gesandtschaft aus der Provinz später in Rom (bei ihren Patronen, im Rahmen eines Repetundenprozesses oder einfach in „übler Nachrede“) über bestimmte Urteile eines Statthalters beschweren konnten. Jedoch dürfen solche Beziehungen auch nicht überbewertet werden,135 da dies auch immer in Relation zum Rückhalt des Statthalters in den senatorischen Kreisen Roms gesehen werden muß.136 Auch der Verhandlungs- oder Herkunftsort eines Angeklagten wird insofern eine Rolle gespielt haben, als hier der rechtliche Status sowie die Abgabenleistung der Stadt, eventuell auch besondere, von Rom eingeräumte Privilegien, Bündnisverträge wie überhaupt deren Rechte und Pflichten zu beachten waren.137 An bestimmten Hauptorten der öffentlichen Rechtsprechung138 wird es wohl eher ein bereits „eingesessenes“ Consilium mit Mitgliedern aus der lokalen Oberschicht gegeben haben als in anderen Gemeinden. Bedenkt man, daß bestimmte Städte im Verhältnis zu anderen Gemeinden vom Statthalter stark begünstigt werden konnten, wie es im Fall des Verres sicherlich bei Messana der Fall war,139 so kann man davon ausgehen, daß auch hier das Consilium dem Statthalter keine Stolpersteine in den 135

Richardson (1994), S. 592: „The position of individuals within the empire, and their relations with the governor were, like those of the communities, largely dependant upon their own connexions with Rome.“; Ebd. wird darauf verwiesen, daß dies vor allem aus dem Fall des Sthenius hervorgehe. Brunt (1980) hat die Bedeutung der Patron-Klient-Beziehungen von einflußreichen Männern in Rom über Provinznotable oder einzelne Gemeinden stark relativiert und die Ineffektivität dieser Beziehungen gerade an den Verrinen verdeutlicht. Seiner Meinung nach kam es mehr auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Senatoren in Rom an. Jedoch zeigt zumindest der Sthenius-Fall, daß seine Flucht nach Rom immerhin eine Senatsdebatte und einen Erlaß des Kollegiums der Volkstribune zur Folge haben konnte. 136 Cicero zitiert z. B. selbst (wahrheitsgemäß oder in Unterstellung) Aussprüche des Verres, daß er wegen seiner Beziehungen zu mächtigen Männern in Rom die Provinz nach Belieben ausbeuten könne: Cic., 1 Verr. 10.16 f. 29 f. 36. 40; 2 Verr. 5,176; 4,46. 137 Vgl. zu Bündnisverträgen etwa Cic., 2 Verr. 5,50 f.; zu den Rechten und Pflichten der Gemeinden 2 Verr. 5,123 ff. 138 Die Gerichtsorte bedürften noch einer systematischen Untersuchung. Jedenfalls bekommt man den Eindruck, daß Verres viel in der Provinz herumgereist ist; vgl. z. B. Cic., 2 Verr. 2,28.63.139; 4,86; 5,10.21.140. 139 Messana war wohl Verres gegenüber besonders willfährig; dem entspricht, daß diese Stadt von ihm in finanzieller Hinsicht besonders begünstigt wurde. Cicero nennt sie regelmäßig abschätzig „Die Stadt der Mamertiner“; vgl. dazu Cic., 2 Verr. 5,42–44. In Cic., 2 Verr. 5,160 heißt es: „Der Unglückliche [= Gavius] begriff nicht, daß es nichts ausmachte, ob er dergleichen in Messana oder bei Verres selbst im Prätorenpalast äußerte. Denn wie ich euch schon erklärt habe, hatte sich Verres diese Stadt zur Gehilfin bei seinen Verbrechen, zur Hehlerin seiner Diebesbeute, zur Mitwisserin aller seiner Schandtaten auserwählt.“

3. Fazit zur Strafgewalt des Statthalters in den Verrinen

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Weg legte, wollten die Honoratioren dieser Stadt, die im dortigen Consilium des Statthaltergerichts mitwirkten, nicht ihre privilegierte Stellung verlieren. Sah sich der Statthalter an weniger bedeutenden Orten mit einem Strafrechtsfall konfrontiert, wird er sich bei niedrigem Status des Beklagten darauf beschränkt haben, diesen nur unter Beratung einiger Mitglieder seines Gefolges zu richten. Bei geringen Vergehen, sofern keine römische Bürger beteiligt waren, konnte er den Fall auch an die lokale Gerichtsbarkeit verweisen; bei schwereren Delikten und/oder bei Beklagten mit höherem sozialen Status konnte er eine Vorladung zu einem bestimmten Termin an einem regulären Gerichtskonvent anordnen.140 Dieses Bild mit einem weiten, nicht straff reglementierten Feld an Möglichkeiten scheint am plausibelsten, wenn man „normale“ bzw. „ideale“ Bedingungen unterstellt. Das sagt freilich noch wenig über die diskretionären Handlungsspielräume aus, die sich einem Statthalter boten, der sich persönlich bereicherte und sich auch sonst über alle Erwartungen und Hoffnungen eines Großteils der Provinzialen hinwegsetzte. Zu ihrer Ausbeutung konnte er sich häufig auch der Kollaboration eines kleinen Kreises von wirtschaftlich oder persönlich von ihm abhängigen Provinzialen bedienen.141 Die Provinzialen waren eben nicht nur Opfer des Verres und brave Biedermänner, wie sie Cicero manchmal darstellt; vielmehr ist im erheblichen Umfang von einer Beteiligung an seinen Machenschaften auszugehen.142 Besonders wichtig erscheint dabei die Tatsache, daß auch das Consilium keine Gewährleistung eines ausgewogeneren Prozesses der Urteilsfindung bedeutete, sondern als Rechtfertigungsinstrument für völlig willkürliche Entscheidungen herhalten konnte, zumal, wenn der Statthalter über seine Zusammenset140

Die beiden Möglichkeiten scheinen mir im Fall des Sthenius angedeutet. Eine Hoffnung konnte zu republikanischer Zeit immer darin bestehen, daß auch ein besonders skrupelloses Statthalterregiment nur ein Amtsjahr dauerte und der nächste Statthalter ein milderes Regiment führen würde. Der Fall des Verres konnte auch deshalb dramatische Ausmaße angenommen haben, weil er ausnahmsweise drei Jahre als Statthalter in Sizilien fungierte, von daher auch die Möglichkeiten hatte, Erpressungen systematischer zu betreiben. Gelzer (1969), S. 48: „Über den Inhalt des Verrinenwerks läßt sich zusammenfassend nur sagen, daß es uns eine schier unvorstellbare Menge von Möglichkeiten vor Augen führt, wie ein römischer Magistrat gegenüber Mitbürgern, vor allem aber gegenüber Untertanen in den Provinzen seine Amtsgewalt in schändlichster Weise mißbrauchen konnte.“ Zur Kollaboration von Provinzialen vgl. Classen (1980), S. 106 ff. 142 Vgl. etwa Cic., 2 Verr. 2,36 im Zusammenhang mit 2,43 ff. (Heraclius-Affäre); zur Denunziation von einheimischen Feinden 2 Verr. 2,54 ff.; 2,68; zu den Feinden des Sthenius 2 Verr. 2,89 ff.; zum Netz von Spitzeln und Anklägern 2 Verr. 2,135; zum Ämterschacher 2 Verr. 2,120 ff., zumal der Zensoren und deren Gebaren 2 Verr. 2,131 ff. Die publicani bedürften einer eigenen Untersuchung, vgl. etwa 2 Verr. 2,169 ff., dazu ausführlicher Classen (1980); vgl. auch Badian (1997), S. 92– 106. 141

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zung entschied, nur Begünstigte oder womöglich nur seine „Freunde“ bzw. „Diener“ beteiligte. 143 Die Frage, ob der Statthalter sich an das Votum eines Consiliums hielt oder nicht, ist dann gar nicht mehr so entscheidend, bedenkt man, welche Möglichkeiten sich ihm boten, sowohl auf die Zusammensetzung als auch auf die Stimmung im Consilium einzuwirken. Innerhalb eines großen Consiliums werden (ähnlich wie im Senat in Rom) bestimmte Personen mit höherem Status eine Schlüsselrolle gespielt haben, die zuerst ihr Votum abgaben und an deren Urteil sich die anderen wohl nicht selten orientierten.144 Hier konnte der Statthalter eventuell auch auf Leute vertrauen, die von vornherein wußten, in welchem Sinne er entschieden haben wollte. Oder aber er wirkte im Vorfeld des Prozesses entsprechend auf sie ein. Auch Treueverhältnisse zwischen Statthalter und Mitgliedern aus seinem Gefolge oder zu bestimmten Provinzialen werden kaum irrelevant gewesen sein.145 Sollten Bestechungssummen eine Rolle gespielt haben, so ließen sich diese auch zwischen Statthalter und Mitgliedern des Consiliums je nach Status der Beteiligten aufteilen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wer überhaupt den Mut aufgebracht haben könnte, sich mit dem Statthalter zu überwerfen, wenn dieser gerade nicht auf eine möglichst unparteiische Urteilsfindung aus war. Leicht konnte man im Vorfeld oder während des Prozesses aufgrund bestimmter Gesten oder Äußerungen erkennen, wohin die Meinung des Statthalters tendierte. Auch die Frage, ob ein Ankläger anwesend war, relativiert sich in ihrer Signifikanz, wenn man bedenkt, daß ein solcher (notfalls auch gegen Geld) problemlos zu finden war. Wie die dargelegten Fälle gezeigt haben,146 ließ sich in Anbetracht von Neid, Mißgunst oder „alten Rechnungen“ unter den Provinzialeliten unschwer ein persönlicher „Feind“ auftreiben, der sich nur zu gerne über eine Anklage an einem Standesgenossen rächen wollte. Überdies darf man nicht vergessen, daß sich Mitglieder eines Consiliums auch in anderen Kontexten des alltäglichen Lebens wiedertra143

Der Legitimationsaspekt tritt m. E. besonders in Cic., 2 Verr. 5,53 hervor, wo Verres ein Consilium einberuft, um die Begünstigung der Mamertiner auf breitere Grundlage zu stellen, oder – wie Cicero sich ausdrückt: tribali clavo figeret. Vgl. dazu allg. Urch (1929/30), S. 94 f., 100 f. 144 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 149 f.; Kunkel (1995), S. 140. 145 Zum Treueverhältnis zwischen Statthalter und Quästor vgl. u. a. Cic., Div. Caec. 40.60 f.; 2 Verr. 1,77. Jedoch soll gerade Verres dagegen verstoßen haben. Bereits 84 v. Chr. zeigte er sich treulos gegenüber seinem Consul Papirius Carbo, vgl. Cic., 2 Verr. 1,34 ff.; schließlich ist er ausgerechnet gegenüber Dolabella als Belastungszeuge in dessen Repetundenprozeß im Jahre 78 aufgetreten; vgl. Cic., 1 Verr. 11; 2 Verr. 1,41 f. 77. 97, jeweils mit diversen Rückverweisen auf sein Verhalten gegenüber Carbo. 146 Vgl. auch zum Prozeß gegen Kleomenes Cic., 2 Verr. 5,107.

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fen, über Verwandtschaft, Treueverpflichtungen oder Geschäfte miteinander in Beziehungen standen, und Absprachen vor allem dann geradezu herausgefordert wurden, wenn ein Prozeß zu einem bestimmten Gerichtstag vorher angekündigt war. Generell ist die beherrschende Stellung des Statthalters zu bedenken, gegen den während seiner Amtszeit zumindest mit rechtlichen Mitteln nichts auszurichten war. Sicher, man konnte ihn nach geleisteter Amtszeit im Rahmen eines Repetundenprozesses verklagen, jedoch hing auch hier wiederum viel von den Unwägbarkeiten des Repetundenprozesses, den persönlichen Beziehungen zu mächtigen Patronen in Rom147 sowie von den Machtkonstellationen innerhalb des Senatorenstandes ab.148 Der Wille, einen Standesgenossen zu verurteilen, kann generell nicht so groß gewesen sein.149 Die Grenzen zwischen selbstverständlicher, geduldeter, unbilliger oder verbrecherischer Korruption im Provinzialregiment waren zur damaligen Zeit fließend. Wenn Verres im Rahmen eines Repetundengerichts angeklagt war, so heißt das, daß er nicht wegen der hier berichteten Hinrichtungen von Peregrinen und römischen Bürgern angeklagt war und wohl auch nicht mit 147 Vgl. bes. Cic., 1 Verr. 17 zu Möglichkeiten der Stimmtäfelchenmanipulation; 1 Verr. 18 f. zu den Konsulwahlen; 1 Verr. 22 f. zu Wahlmanipulationen und der Rolle der Geldverteiler; 1 Verr. 30 f. zur Verzögerungs- und Besetzungstaktik im Repetundenprozeß; 1 Verr. 35 ff.; 2 Verr. 1,5 ff. zur Parteilichkeit der Gerichte und zum Senatorenstand. Auch Verres’ Vater gehörte dem Senat an; außerdem genoß Verres immerhin die Unterstützung der mächtigen Scipionen und Meteller und sein Anwalt Q. Hortensius war zugleich Anwärter auf das Konsulat des Jahres 69 v. Chr. Wäre es z. B. der Verrespartei gelungen, den Prozeß bis in dieses Jahr hinauszuschieben, wäre Verres wahrscheinlich noch glimpflicher davongekommen; vgl. Finley (1979), S. 165. Daß es überhaupt gelang, eine Repetundenklage gegen Verres zu erheben, ist nicht nur dem politischen Ehrgeiz Ciceros zu verdanken, sondern auch der damals günstigen politischen Situation, zumal in Anbetracht des bevorstehenden Konsulats des Crassus und Pompeius; immerhin kooperierte Cicero im Zusammenhang mit dem Verresprozeß mit Pompeius, vgl. Ward (1970), S. 60 ff. 148 Im Gegensatz zu Gruen (1968) und David (1992), die beide stark die Bedeutung von Faktionsbildungen bzw. persönlichen Feindschaften für die stadtrömischen Strafgerichtshöfe herausstellen, ergänzt Riggsby (1999) diese Dimension des politischen Charakters römischer Strafjustiz um ein weiter gefaßtes Verständnis des Politischen im Sinne von Vergehen gegen die römische Gesellschaft als Ganzes, damit gegen ihre Wertvorstellungen und Grundüberzeugungen. 149 Finley (1979), S. 164: „Es hat wenig Sinn, mit einigen Historikern darauf hinzuweisen, daß nur sehr wenig Statthalter Siziliens wegen Amtsvergehens angeklagt wurden (vor 114 v. Chr. ist kein Fall bekannt), und daß selbst diese wahrscheinlich Opfer innenpolitischer Kämpfe waren. Nur selten kam es vor, daß ein Römer, der hochgestellt und mächtig genug war, um eine Statthalterschaft zu erlangen, angeklagt und aus anderen als innenpolitischen Gründen für schuldig befunden wurde, wenn sich auch Reformer wiederholt darum bemühten, die Lage entscheidend zu verändern. Verres ist dafür Beweis genug.“

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II. Ciceros Verrinen und die „selbstherrliche Strafgewalt‘‘

Erfolg im Quästionenverfahren angeklagt werden konnte, „da die ganze dramatische Schilderung dieser Justizmorde nur der Stimmungsmache dient[e]“.150 Für den Ausgang eines Repetundenprozesses hing viel ab von der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen sowie insbesondere militärstrategischen Bedeutung der jeweiligen Provinz, der Einstellung (und auch den Vorurteilen) der Römer gegenüber den dortigen Bewohnern und von guten persönlichen Beziehungen einiger Mitglieder aus der Provinzialelite zu mächtigen Herren in Rom.151 Kam es jedoch zu einem Wertkonflikt, „siegten die grundlegenden Interessen der römischen Herrschaft und die engen persönlichen Beziehungen innerhalb der herrschenden Klasse gewöhnlich über alle anderen Überlegungen. Die Autorität und die dignitas eines Provinzstatthalters zählen zu diesen grundlegenden Interessen. Es soll auch nicht unterstellt werden, daß in Rom irgend jemand erwartet habe, ein Beamter werde sich während seiner Dienstzeit im Ausland nicht bereichern.“152 Die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit wie überhaupt die Tätigkeiten des Statthalters waren vom Herrschaftsaspekt folglich nicht zu trennen, sondern – um eine Formulierung Mommsens aufzugreifen – „Herrenrecht“ oder, wie sich Cicero an einer Stelle ausdrückt: eine Praxis „mit dem Recht unserer Herrschaft (iure imperi nostri)“.153 Abmachungen im Vorfeld eines drohenden Prozesses werden auch hier das Schlimmste für einen verklagten Statthalter abgewendet haben, wie das freiwillige Exil des Verres und die relativ bescheidene Schadensersatzsumme zeigt; er konnte dann in seiner freiwilligen Verbannung in Massilia seine zusammengeraubten Kunstschätze in aller Ruhe und mit allem Luxus genießen. Umgekehrt galt sicher, daß man die Gelegenheit, einen verfeindeten Standesgenossen kaltzustellen, sich wohl kaum entgehen ließ, falls der mächtigere Part des Senatorenstandes einen Prokonsul oder Proprätor angeklagt wußte. Ist man sich all dieser diskretionären oder informellen Möglichkeiten innerhalb der römischen Strafrechtspraxis bewußt, die zur damaligen Zeit nicht von den politischen oder sozialen Machtkonstellationen zu trennen waren, so spielte das sogenannte „eigentliche Recht“ im Rahmen der Rechtspraxis gar keine so große Rolle.154 Dies klingt nur dann paradox, wenn 150

Schulz, F. (1934), S. 119. Ein schönes Beispiel einer „imperialistischen Semantik“ liefert Ciceros Würdigung von Sizilien als Provinz in Cic., 2 Verr. 2,2 ff., aus der man vieles für die stadtrömische Perspektive des römischen Herrenstandes entnehmen kann. 152 Finley (1979), S. 165. 153 Vgl. Cic., 2 Verr. 5,51. Vgl. Mommsen (1955), S. 238 bzw. oben im Zusammenhang mit Abschnitt I. 2. b). 154 Das geht ja auch bereits daraus hervor, daß die damaligen Akteure im Rechtswesen keine professionellen Juristen im modernen Sinne waren, sondern Politiker. 151

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man anachronistisch einen zu modernen rechtsstaatlichen Maßstab anlegt. Richtig wäre aber der Standpunkt: die Rechtspraxis mit all diesen Einflußkriterien und informellen Manipulationsmöglichkeiten war eben das Recht; es gab einfach kein anderes, zumindest wenn man davon ausgeht, daß Recht immer nur das sein kann, das man sich auch verschaffen kann und das in der Praxis durchgesetzt wird. Ist man sich also der informellen Einflußmöglichkeiten im Rahmen der römischen Strafrechtspraxis bewußt, dann treten die formellen, aus der fragmentarischen Überlieferung extrahierten Rechtssätze in den Hintergrund, die für sich genommen wenig über die Rechtswirklichkeit aussagen. Deshalb ist es unangebracht, mit Mommsen theoretisch das Rechts„system“ von seinen politischen und sozialen Faktoren zu trennen, zumal die Römer selbst ihr Strafrechtswesen in dogmatischer Hinsicht nicht systematisch, geschweige denn theoretisch-wissenschaftlich und damit abstrahiert von der Rechtswirklichkeit durchdrungen hatten; allenfalls wurde es von einigen „Intellektuellen“ im Rahmen von Traktaten über die Herrschaftstugenden behandelt.155 Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun für die Unterscheidung zwischen Strafgerichtsbarkeit und Zwangsgewalt ziehen? Ein formaler Unterschied ließe sich eigentlich nur darin vermuten, daß in der Anwesenheit eines Anklägers sowie der Mitwirkung irgendeiner Form von Consilium die wesentlichen Unterscheidungskriterien erblickt werden könnten, was sich dann aber – wie gezeigt wurde – nicht unbedingt zum Vorteil des Angeklagten auswirken mußte. Es ist auch nicht auszuschließen, daß sich der Statthalter auch hinsichtlich der zu ergreifenden Zwangsmaßnahmen mit einem Consilium beraten konnte, zumal wenn er gegen einen Provinzialen mit höherem Sozialprestige vorzugehen dachte.156 Überdies wurde die Einberufung eines Consiliums durch den Statthalter im Zusammenhang einer Vorberatung erwähnt, die noch kein Bestandteil des Strafprozesses war.157 Das Hauptproblem, das bereits Mommsen große Schwierigkeiten bereitete, und zu dem Kunkels Theorie zum Consilium m. E. nur eine Verengung 155 Zum philosophisch-intellektuellen Diskurs über das „Strafen“, zumal im Hinblick auf die humanitas und weiteren Wertvorstellungen, vgl. Bauman (1996). Zur materiellen „Unordnung“ des römischen Strafrechts vgl. auch Jones, H. (1992). 156 Vgl. dazu oben im Abschnitt II. 2. c) die Interpretationsschwierigkeiten des Apollonios-Falls; Cicero könnte eben gerade darin einen Skandal erblickt haben, daß Verres bei gleichen Verdachtsmomenten Sklaven unter Hinzuziehung eines Consiliums Sklaven ins Gefängnis werfen ließ, während seine Anordnung derselben Zwangsmaßnahme für den vornehmen Apollonius ohne Consilium erfolgte. Außerdem sei daran erinnert, daß im Fall des Philodamus sich der Statthalter Nero mit einem consilium beriet (Cic., 2 Verr. 1,72), wo von einem Strafprozeß noch keine Rede sein kann. 157 So im Fall des Philodamos durch den Statthalter Dolabella zur Klärung der Rechtslage, ob ein Strafprozeß überhaupt eingeleitet werden sollte.

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der Perspektive darstellt, besteht in der Bestimmung einer verallgemeinerbaren Grenze, um den „Umschlagpunkt“ auszumachen, wann der Statthalter, sei es in seinem Zelt, seinem Palast oder auf einem öffentlichen Platz, von einem Prozeß absieht und „nur“ von seiner Koerzitionsgewalt Gebrauch machte; oder umgekehrt, einen Fall, bei dem er von seiner Zwangsgewalt Gebrauch machte, in einen Prozeß einmünden ließ.158 Die Aussagen in den Quellen sind hier alles andere als eindeutig, was auch schon daher rührt, daß es einer exakt-systematischen Rechtsbegrifflichkeit auf diesem Gebiet ermangelt.159 Es scheint deshalb sinnvoll, von einer „Grauzone“ auszugehen, die nur unter bestimmten Umständen und Informationen schärferes Profil gewinnt: Tagt der Statthalter an einem Gerichtstag mit größerem Consilium unter Mitwirkung einheimischer Honoratioren und findet außerdem eine förmliche Anklage sowie Verteidigung statt, auf die hin dann auch ein (förmliches) Strafurteil erfolgt, kann mit Sicherheit auf die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit geschlossen werden. Allerdings haben wir nur wenige Berichte, auf die hin sämtliche oder einige dieser Informationen zutreffen würden. Besonders schwierig ist der Bereich zu bewerten, wo der Beschuldigte mit maiestas bzw. perduellio in Verbindung gebracht wird,160 da sich ein Statthalter in diesen Fällen gezwungen sehen konnte, sofort und mit brutalen Mittel ohne lange Untersuchung einzugreifen, oder aber – besonders wenn ein prominentes Mitglied der Provinzialen betroffen war – zunächst eine Untersuchung durchzuführen. Im ersten Fall liegt die schlichte Ausübung der Koerzitionsgewalt nahe, jedoch gestaltet sich im zweiten Fall die Abgrenzung zum Strafprozeß bereits wieder kompliziert. Noch schwieriger scheinen jene Fälle zu beurteilen, wo ein Peregrine minderen Status’ involviert war, der Statthalter wenig Rücksichten auf informelle Faktoren 158 Was ist z. B. von den in Cic., 2 Verr. 5,27 geschilderten Fällen zu halten, wo Verres im Standlager von sicilischen Magistraten und/oder römischen Rittern besucht wird und vom Schlafgemach aus Urteile fällte. Wenngleich dies wieder einmal eine karikierende Übertreibung in Ciceros Rhetorik sein mag, so dient sie immerhin der Exemplifizierung einer Praxis, die Cicero trocken folgendermaßen zusammenfaßt: „Streitfälle wurden im geheimen vorgetragen, kurz darauf die Entscheidung öffentlich ausgegeben (controversiae secreto deferebantur, paulo post palam decreta auferebantur).“ 159 Von allgemeinen Interesse in bezug auf die Verwendung einer Rechtsbegrifflichkeit scheint mir die Äußerung Ciceros in 2 Verr. 2,147 quae tamen omnia novas iniurias habent, sed postulationum formulas usitatas; die Klagen der Sizilier hätten also neuartige Rechtsbrüche zum Gegenstand (was sicherlich ein Übertreibung Ciceros darstellt, etwa im Sinne von „einem für eine Person noch nie dagewesenem Ausmaß“ o. ä.), jedoch für ihre Forderungen die üblichem Rechtsformeln verwenden würden. 160 Man erinnere sich an Mommsens Abgrenzungsprobleme, ob hier überhaupt noch von einem Delikt die Rede sein könne.

3. Fazit zur Strafgewalt des Statthalters in den Verrinen

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zu nehmen brauchte, und allein nach Verhör und Folter oder einschließlich einer kurzen Beratung mit einigen Mitgliedern aus seinem persönlichen Gefolge zu einer Entscheidung kam. Nicht realitätsfern, wenngleich ein wenig zynisch, ließe sich anmerken, dem gekreuzigten Sklaven, dem geköpften Armen, dem im Gefängnis erwürgten Täter oder sogar demjenigen, der sich auf sein Bürgerrecht berufen hatte und dem dennoch im Gefängnis das Genick gebrochen wurde, wäre es wohl kaum ein Trost gewesen, statt durch die Koerzitionsgewalt aufgrund der Strafgerichtsbarkeit vor dem Statthalter sein Leben verwirkt zu haben.161 Während Mommsen sich der informellen Aspekte durchaus bewußt ist, jedoch aufgrund seiner systematischen Methode implizit oder explizit immer wieder eine Abgrenzung zwischen „eigentlichem Strafrecht“ und „Herrenrecht“ vornehmen muß, scheint mir Kunkels Sicht zu sehr auf einige verfahrensrechtliche Aspekte und insbesondere das Consilium fokussiert, als daß sich daraus ein plastisches Bild von der statthalterlichen Strafgewaltspraxis ergeben würde. Außerdem versucht er, zumindest im Hinblick auf seine These vom bindenden Votum des Consiliums im Statthalterprozeß etwas nachzuweisen, was mit Sicherheit anhand der Verrinen ebensowenig widerlegt wie bewiesen werden kann, jedoch die Plausibilität eindeutig gegen sich hat. Richtet man den Blick auf die informellen Manipulationsmöglichkeiten und Instrumentalisierbarkeit des Consiliums, erscheint die Frage zudem gar nicht mehr so relevant. Deshalb halte ich es im Gegensatz zu Kunkel im Sinne Mommsen durchaus für gerechtfertigt, von der „selbstherrlichen Strafgewalt“ der Provinzstatthalter zu sprechen. Dies muß nicht per se Willkürjustiz bedeuten, jedoch bieten sich hierfür weit offenstehende Flanken, für die auch das Consilium kaum eine Barriere darstellte. Die formalrechtlichen Aspekte der stadtrömischen Quaestionenprozesse sind nicht mit denen in den Provinzen identisch.162 Sicherlich waren sie davon auch nicht völlig verschieden, jedoch tritt hier der herrschaftspolitische Aspekt brutaler hervor. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, daß hier die Kontrollmöglichkeiten weitaus geringer waren und im Ver161 Vgl. die Aussage des L. Suettius in Cic., 2 Verr. 5,147 über solche Fälle, auf die Cicero aber nicht ausführlich eingeht; vgl. auch die Aufzählung in Cic., 2 Verr. 1,14. 162 So schreibt Kunkel (1974b), S. 78, selbst, daß im Provinzialprozeß „hier alles formloser zuging als in den stadtrömischen Quästionen und der Statthalter sich schon im Hinblick auf eine Befugnis zu kapitaler Koerzition größere Freiheiten erlauben konnte als gegen römische Bürger“. Warum sollte das, was hier im Zusammenhang für die Abwesenheit des Beschuldigten (nominis receptio in absentia rei) festgestellt wird, nicht auch für das Consilium gelten? Den Unterschied zwischen stadtrömischen und dem formloseren, in den Provinzen praktizierten Strafrecht stellt Urch (1929/30), S. 96, heraus.

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II. Ciceros Verrinen und die „selbstherrliche Strafgewalt‘‘

gleich zu den Geschworenengerichtshöfen in Rom überwiegend vereinfachte Verfahren Anwendung fanden, wobei sich je nach Situationserfordernissen und lokalen Befindlichkeiten auch ein größerer Abweichungsspielraum im Verhältnis zu stadtrömischen Prozeduren bot.163 Jedenfalls waren gerade „schwierige Provinzen“ nicht dadurch zu regieren, daß man sich an formalrechtliche Unterscheidungskriterien hielt; vielmehr kam es da wahrscheinlich auf die Fähigkeit des Statthalters an, ein im Rahmen seines Regiments schwer zu bewahrendes Kräftegleichgewicht sowie eine diffizile Gemengelage von unterschiedlichsten Interessen auszubalancieren, wollte er die Provinz in Ehre und in gutem Ruf wieder verlassen. Damit dies überhaupt möglich war, brauchte er einen großen Handlungs- und Ermessensspielraum. Der Nachteil eines solchen Herrschaftssystems waren die offenen Flanken für Mißbrauch, Manipulation, Begünstigungen und die zweckentfremdende Instrumentalisierbarkeit bestehender Institutionen, wovon die Verrinen ein nur allzu beredtes Zeugnis ablegen. Die Separierung eines „eigentlichen Strafrechts“ in Abstrahierung von der Rechtspraxis nach Mommsens Methode sollte ad acta gelegt werden, da sie sich vor dem zeitgenössischen Hintergrund zumindest für die statthalterliche Strafgewalt nicht gestellt hat. Auch die sowohl von Mommsen wie von Kunkel scharf gezogene Grenze zwischen Koerzitionsgewalt und Strafgerichtsbarkeit verwischt sich angesichts der beherrschenden Stellung der Statthalter. Mommsens Annahme, daß sich unter dem Prinzipat ein erheblicher Wandel vollzogen hätte, die Statthalter nunmehr zu den eigentlichen Trägern der Reichsjustiz geworden wären und ihrem Regiment straffere Zügel angelegt worden wären,164 bedarf der genaueren Überprüfung. Die einzige Möglichkeit, dies für die Zeit des Frühprinzipats herauszufinden, bietet sich aufgrund der Quellenlage durch die eingehendere Untersuchung der Strafgewaltspraxis in der Provinz Judäa.

163 Cicero erwähnt in anderem Zusammenhang das potentielle Argument der Gegenpartei in Cic., 2 Verr. 1,118: „Denn darauf kann man sich hier nicht berufen, in den Provinzen müsse vieles anders geregelt werden, jedenfalls nicht beim Erbschaftsbesitz und nicht beim Erbrecht der Frauen.“ Die nachgeschobene Einschränkung ist m. E. bezeichnend, und wenn es sich bei dem Argument multa esse in provinciis aliter edicenda auch nicht gerade um einen allgemeingültigen Topos gehandelt haben muß, so scheint es dennoch nicht selten in Repetundenprozessen in Anschlag gebracht worden zu sein. Wenn dies nicht unbedingt für privatrechtliche Angelegenheiten gegolten haben soll, so möglicherweise doch in strafrechtlichen Fällen. 164 Mommsen (1955), StrafR, S. 238; man kann aber auch daran zweifeln, ob es im Imperium Romanum überhaupt je so etwas wie eine „Reichsjustiz“ gegeben hat.

III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus 1. Flavius Josephus als Quelle Abgesehen von einigen Passagen aus den neutestamentarischen Schriften, die in eigenständigen Kapiteln erörtert werden, informieren uns vor allem die Werke des Flavius Josephus, übrigens ein direkter Zeitgenosse der Verfasser der Evangelien, über die Provinz Judäa unter dem Regiment römischer Statthalter. Steve Mason leitet sein Kapitel ,Vom Gebrauch und Mißbrauch des Josephus‘ mit dem pointierten Satz ein: „Josephus wurde überall benutzt, jedoch wenig verstanden und nur selten als intelligenter Autor gewürdigt“.1 Er fügt aber sogleich an, daß sich dies in den letzten vier Jahrzehnten glücklicherweise geändert habe.2 Es kann hier nicht um die kritische Würdigung des Gesamtwerkes von Josephus mit all seinen Problemen gehen, sondern nur um seinen Quellenwert für die Phase des Regimentes römischer Statthalter in Judäa bis zum Ausbruch des ,Jüdischen Krieges‘. Dabei besitzt sein Werk im Vergleich zu anderen Quellen besondere Qualität: Es berichtet in einzigartiger Weise über die Handlungen verschiedener aufeinanderfolgender Provinzgouverneure über sechs Jahrzehnte vor dem Hintergrund der Herrschaftsstrukturen sowohl innerhalb der Provinz als auch in Beziehung zu den Nachbarregionen sowie schließlich zu den Kaisern in Rom.3 Entscheidend ist zunächst, daß aus dem von Josephus überlieferten Ereigniskontext heraus überhaupt erst Handlungs- und Entscheidungskriterien für die statthalterliche Strafgewalt nachvollziehbar werden. Auf dieser Grundlage können die Fragen nach der Abhängigkeit der statt1

Mason, S. (2000), S. 19. Verantwortlich seien hierfür insbesondere die Einführungen von Rajak (1983); Bilde (1988) sowie die Aufsatzbände von Feldman/Hata (Hrsg. 1987) und dies. (Hrsg. 1988); Parente/Sievers (Hrsg. 1994) sowie Mason, S. (Hrsg. 1998) und schließlich die Arbeiten aus den internationalen Colloquien der Josephus-Arbeitsgruppe in Münster mit ihren Veröffentlichungen: Münsteraner Judaistische Studien, 1997 ff. Hinzuzufügen wäre sicherlich Betz/Haacker/Hengel (Hrsg. 1974). 3 Vgl. Millar (1977), S. 376, zum einzigartigen Quellenwert der Werke des Josephus für das Verständnis des römischen Reiches als Ganzes: zum einen, weil sie den einzigen zusammenhängenden Bericht der Geschichte einer Provinz liefern, der uns überliefert ist; zum anderen, weil sie hierbei Einblicke in die Kommunikationsstrukturen zwischen Einzelnen und dem Kaiser bieten; vgl. a. Smallwood (1970), S. 81. 2

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

halterlichen Entscheidungs- bzw. Handlungskriterien von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, von konkreten Situationen und von bestimmten Beziehungskonstellationen zu anderen Imperiumsträgern oder Klientelgruppen in Rom, in der Provinz oder in benachbarten Provinzen bzw. Klientelkönigtümern gestellt werden. Wenn die Schriften des Flavius Josephus für die Zeit des Frühprinzipats als die einzig geeignete Quelle in Betracht kommt, die den Kriterien des hier vertretenen Ansatzes entgegenkommt, muß im Rahmen dieser einleitenden Vorbemerkungen um so dringlicher die quellenkritische Frage aufgeworfen werden, ob seinen Schilderungen der statthalterlicher Strafgewalt nicht aufgrund eigener Motive eine Verfälschungsabsicht zugrunde liegt. Im folgenden kann nicht auf sämtliche Probleme von Josephus’ Weltbild, Geschichtsauffassung und Quellenbenutzung eingegangen werden, sondern wir müssen uns auf die wesentlichen Punkte des hier behandelten Zeitraums seiner Darstellung beschränken. Bevor wir auf seine diesbezüglichen Grundtendenzen eingehen und die Frage stellen, welche Quellen Josephus selbst benützt haben könnte, seien zunächst kurz die für das allgemeine Verständnis seiner Schriften wichtigsten Lebensdaten aufgezählt.4 2. Biographisches zu Josephus Von Josephus, dem wir die älteste tradierte Autobiographie der Antike verdanken,5 sind zahlreiche Informationen über sein Leben aus seinen Werken überliefert.6 Sie gehören freilich auch zum Bereich der topischen Selbststilisierungen und sind nicht selten in apologetischer bzw. polemi4 Vgl. dazu die ,Introduction‘ von Thaceray (1993) zur Josephusausgabe: ,The Life‘, Cambridge Mass./London (Harvard Bd. 186) sowie das ,Vorwort‘ zur BJAusg. von Michel/Bauernfeind; die Kurzzusammenfassung bei Rhoads (1976), S. 5 ff. Weiterführend Hölscher (1916); Weber, W. (1921); Thackeray (1929); Cohen (1979); Bilde (1988); Schwartz, S. (1990); Mason, S. (2000). 5 Inwiefern Cäsars Bellum Gallicum als Autobiographie bezeichnet werden kann, ist freilich eine andere Frage. Zumeist werden die Confessiones des Augustinus als erste echte Autobiographie angeführt, wobei die konsequente Innenperspektive dieses Werkes als Kriterium angeführt wird. Diese fehlt in der Vita des Josephus; vgl. Mason, S. (2000), S. 54, A. 1. 6 Die Quellen außerhalb seines eigenen Werkes sind spärlich: Suet. Vesp. 5,6; App., fragm. 17 und Cass. Dio 46,1 erwähnen Josephus’ Weissagung, daß Vespasian Kaiser werden würde. Porph., Abst. 4,11 zitiert die Diskussion des Josephus über die drei Philosophenschulen. Der Talmud schweigt sich über ihn aus, was seine Außenseiterrolle im Judentum zu bestätigen scheint, wenngleich Brüll (1879) eine versteckte Nachricht (Der. Er. Rab. 5, Pirke Ben Azzai 3) über ihn entdeckt zu haben glaubte, die den Besuch einiger Weisen bei einem namenlosen Philosophen in Rom erwähnt, die bei diesem um Fürsprache bei Kaiser Domitian baten; vgl. Feldman (1999), S. 901.

2. Biographisches zu Josephus

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scher Situation verfaßt. Was erfahren wir von ihm? Zunächst, daß er im ersten Regierungsjahr des Caligula 37/38 n. Chr. geboren wurde.7 Sein Vater entstammte dem Priesteradel aus der angesehenen Klasse Jojarib, der auch die Hasmonäer angehörten, mit denen seine Mutter direkt verwandt war.8 Josephus war also Mitglied einer der vornehmsten jüdischen Familien. Mit 16 Jahren erhielt er Unterweisungen von den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern, was ihn jedoch nicht zufriedenstellte, so daß er sich für drei Jahre dem Asketen Banus9 anschloß. Im 19. Lebensjahr kehrte er nach Jerusalem zurück, um sich dem öffentlichen Leben zu widmen, wobei er angeblich mit den Pharisäern sympathisierte.10 Im Alter von 26 Jahren (64 n. Chr.) machte er eine Romreise, um die Freilassung befreundeter Priester zu erwirken, die der judäische Statthalter Festus verhaftet hatte, was er schließlich auch erreichte, so daß er im Frühjahr 66 nach Jerusalem zurückkehren konnte.11 Kurz vor seiner Rückkehr waren in Palästina die jüdischen Unruhen ausgebrochen, die bald zum Krieg gegen die Römer führten, in dem Josephus eine führende Rolle spielen sollte.12 Unter zwielichtigen Umständen geriet er in römische Gefangenschaft,13 und seine spätere Freilas7 Josephus wurde zwischen dem 13.9.37 und dem 16.3.38 geboren. Sein voller Name lautet Josephus, Sohn des Matthias, Hebräer aus Jerusalem, Priester, vgl. Joseph., BJ 1,3. In AJ 20,267 setzt er sein 56. Lebensjahr mit dem 13. Regierungsjahr Domitians gleich, welches vom 13.9.93 bis 13.9.94 dauerte. 8 Zur priesterlichen Abkunft des Josephus und familiärer Herkunft, vgl. Joseph., Vit. 2.4.198. 204. 414. 416. 426 f.; Ap. 1,54; BJ 3,352; 5,333. 344. 419. 533. 544 ff. 9 Joseph., Vit. 10. Der Wüstenlehrer Banus gilt wohl nicht als Vertreter des Essenertums schlechthin, sondern weist in seinem Gesondertsein und seiner Lebensführung eigenartige, mit dem Täufer Johannes verwandte Züge auf. Sein Name wird manchmal mit den bannaim, einer den Essenern nahestehenden Sekte, in Beziehung gesetzt, deren Existenz aber nicht gesichert ist. Auch die Aufzählung der Erfahrung mit unterschiedlichen „Philosophenschulen“ ist „a common motif in this period, as we see in the cases of Nicolaus of Damascus, Apollonius of Tyana, Justin and Galen, and may therefore not correspond reality“, vgl. Feldman (1999), S. 901. 10 Vgl. Joseph., Vit. 10–12.191. Rajak (1983), S. 11–45, geht davon aus, daß Josephus von Jugend an pharisäischen Lehren loyal gegenüberstand, vgl. Cohen (1979), S. 144–151. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß er und seine Familie mit führenden Sadduzäern engstens befreundet waren, vgl. Vit. 204. In Joseph., Vit. 12 umschreibt er die Lehre der Pharisäer als eine, die mit der griechischen Stoa vieles gemeinsam hätte; vgl. dazu die Analyse von Mason, S. N. (1989), bes. S. 45, der die vielvertretene Behauptung, Josephus sei Pharisäer gewesen oder habe mit dieser Partei sympathisiert, überzeugend widerlegt. 11 Joseph., Vit. 13–16. 12 Der junge Priester mit 29 Jahren war mit verantwortungsvollen Aufgaben in Galiläa betraut, wenn nicht sogar mit dem Verteidigungskommando dieses Distrikts, vgl. Joseph., BJ 2,568. Den Eröffnungsszenen der galiläischen Feldzüge 66/67 n. Chr., welche Josephus auf den meisten Seiten seiner Vita schildert, ist schwer zu folgen. Seine eigenen politischen Ziele, wie auch die der anderen Führer, werden alles andere als deutlich. Seine Tätigkeit in Galiläa brachte ihn in Gegensatz zu den

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

sung 69 n. Chr., die mit seinem Übertritt zu den Römern zugleich eine entscheidende Lebenswende bedeutete, verdankte er der Tatsache, daß er Vespasian den Kaiserthron vorausgesagt hatte.14 Nach dem Fall Jerusalems im Jahre 70 lebte er, von den Kaisern Vespasian, Titus und Domitian durch verschiedene Privilegien begünstigt, in Rom,15 wo er sich als Schriftsteller betätigte.16 Bei all diesen Daten ist zu bedenken, daß sie im Rahmen der rhetorischen Konventionen seiner Zeit gesehen werden müssen: Seine Genealogie paßt zu der antiken Gleichsetzung von Abkunft und Sozialprestige; mit der Schilderung seiner Ausbildung stilisiert er sich zum frühreifen Wunderkind und kommt gleichzeitig dem ambivalenten Verhältnis der Römer zur Philosophie entgegen, wenn er herausstellt, daß er seine jugendlichen Versuche philosophischer (d. h. heißt im jüdischen Kontext religiöser) Lebensführung hinter sich ließ, um sich dem öffentlichen Leben zuzuwenden. Der römische Leser ist auch in Betracht zu ziehen, wenn er auf seine militärischen Tugenden als „General“ in Galiläa aufmerksam macht.17 Mit Sicherheit kann man davon ausgehen, „daß er aus einer vornehmen FaFührern des radikalen Flügels der Aufständischen, vgl. Joseph., BJ 2,585 f.; Vit. 28 f., 43 ff., 134 ff. 13 Vgl. Joseph., BJ 3,340 ff. 14 Vgl. Joseph., BJ 3,352 ff. 391 ff.; 4,626. Diese Prophetie kam wohl dem politischen Legitimationsbedürfnis der Flavier (Vespasian, Titus, Domitian) entgegen, so daß sie das, was Josephus über ihre Dynastie gesagt hatte, mit entsprechenden Angleichungen so weit wie möglich verbreiteten; vgl. dazu Rajak (1983), S. 185–195; Mason, S. (2000), S. 67 ff. Für die Prophetie ist auch die Kenntnis der Erwartung des gesalbten Herrschers aus dem Danielbuch im Zusammenhang mit der Vier-Reiche-Lehre vorauszusetzen. Zwar rechnete man in Judäa damit, daß er die römische Macht brechen würde, doch nach Josephus eigenem Übertritt ins römische Lager war es nur ein kleiner Schritt, sie einfach auf die Flavische Dynastie zu übertagen. Ein alttestamentarisches Vorbild findet sich bei Jes 45,1, wo der Perserkönig Kyros als Wohltäter der Juden die Bezeichnung des „Gesalbten“ zuteil wird. 15 So erhielt er ausgedehnten Grundbesitz und unter Domitian (81–96 n. Chr.) zudem Steuerfreiheit, vgl. Joseph., Vit. 422.425.429. Als Freigelassener des Kaisers bekam er das römische Bürgerrecht. Er logierte im früheren Palast Vespasians (priuta aedes) und erhielt eine Pension. Bei Euseb., Hist. eccl. 3,9 erfahren wir, daß seine Statue in Rom errichtet wurde und seine Werke in der öffentlichen Bibliothek aufgestellt waren. Mason, S. (2000), S. 74 merkt dazu an: „Die Privilegien überschritten nicht das normale Maß, und es ist bemerkenswert, daß Josephus keine von den üblichen Auszeichnungen für berühmte Autoren erhalten hat: die Erhebung in den Ritterstand, Landbesitz oder ein Landgut in Italien, oder die Förderung seiner Kinder. Er stand den Flaviern nicht so nahe, wie es gemeinhin von denen angenommen wird, die ihn für eine Marionette der Römer halten.“ 16 Josephus’ Todesdatum ist unbekannt, jedoch überlebte er wohl Agrippa II., der 100 n. Chr. gestorben sein soll, vgl. Joseph., Vit. 359. Wahrscheinlich lebte er noch zur Zeit Nervas (96–98 n. Chr.) und Trajans (98–117 n. Chr.), jedoch spricht er von dieser Zeit nicht. 17 Vgl. zu sämtlichen Punkten ausführlicher Mason, S. (2000), S. 55 ff.

3. Die Quellen des Josephus für die Zeit 6 bis 66 n. Chr.

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milie kam, daß er eine gute Ausbildung genossen hat und eine Menge über die Pharisäer, Sadduzäer und Essener wußte. Doch können wir uns für diese Sachverhalte eher auf andere Passagen stützen, in denen Josephus gerade nicht versucht, sie zu beweisen. Seine gezielten Äußerungen in der Vita wirken konstruiert, um Leser zu beeindrucken, und sollten nicht für bare Münze genommen werden.“18 Josephus verfaßte jedenfalls in Rom neben kleineren Alterswerken19 seine beiden Hauptwerke über den ,Jüdischen Krieg‘ und die ,Jüdischen Altertümer‘.20 Teile dieser beiden Werke berichten parallel über die Zeit der römischen Statthalter 6–66 n. Chr. in Judäa.21 3. Die Quellen des Josephus für die Zeit 6 bis 66 n. Chr. Wir stehen vor dem Problem, daß Josephus einerseits selbst Quellen verschiedener Herkunft und Tendenz benutzt hat, und andererseits seine Paralleldarstellungen in den beiden Hauptwerken etwas differieren. Anders als 18

Mason, S. (2000), S. 61. Im Alter von 63 Jahren spielt Josephus auf konkurrierende Geschichtsschreibung über den Krieg an, die wohl nach dem Tod Agrippas II. 100 n. Chr. erschien, vgl. Joseph., Vit. 359 f. Auf jeden Fall ist contra Apionem mit seinen Anspielungen auf AJ später als 94 n. Chr. erschienen. Auch dieses Werk enthält Anspielungen auf konkurrierende Historiographie, vgl. Joseph., Ap. 1,46 ff. Wenngleich keine Namen genannt werden, ist der Hauptgegner doch zweifellos derselbe Justus, der in der Vita genannt wird. In der Vita, die wohl als ein Appendix zu den AJ verfaßt worden ist, beschuldigt dieser Justus Josephus, seine Heimatstadt Tiberias zur Revolte gegen Rom angestachelt zu haben, was nicht nur Josephus’ Werk, sondern auch seine Position in Rom gefährdete. Somit ist die Vita weniger eine Biographie, sondern vor allem die Schilderung seines halbjährigen Kommandos über Galiläa vor der Belagerung Jotapatas. Contra Apionem kann als eine Apologie des Judentums gegenüber der griechischen kulturellen Überheblichkeit verstanden werden. Zur Vita vgl. Gelzer (1964), zu Ap. vgl. Cohen (1988). 20 Die Abfassungszeit von BJ liegt zwischen 75 und 79 n. Chr. Das Werk erschien zuerst auf Aramäisch, vgl. Hengel (1961), S. 7. AJ wurde wahrscheinlich 93/ 94 n. Chr. vollendet, vgl. Joseph., AJ 20,267 (im 13. Regierungsjahr Domitians). Cohen (1979), geht davon aus, daß BJ wegen seines düsteren Bildes der Caecina (vgl. Joseph., BJ 4,634–640) nach 79 n. Chr. veröffentlicht wurde. Da Josephus selbst zugibt, in der griechischen Sprache nie besondere Fähigkeiten erlangt zu haben (vgl. Joseph., AJ 20,263 und Ap. 1,50), seine Werke aber in klassischem Stil geschrieben wurden, wird davon ausgegangen, daß ihm bei der Abfassung griechische Stilisten zur Seite gestanden haben und dabei der äußeren Form nach einer hellenistischen Vorlage nachgebildet wurden. Auffällig ist die Ähnlichkeit des Aufbaus von AJ zu Dionysios’ von Harlikanass Antiquitates Romanae; vgl. die Aufstellung bei Hölscher (1916), Sp. 1964 f.; zur These, daß AJ von Josephus hauptsächlich für den griechischen Leser geschrieben worden sei, vgl. Rajak (1982); Momigliano (1992), S. 46, 73. 21 Joseph., BJ 2,117–405; AJ 17,355–20,268 (Ende). 19

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

für die Zeit Herodes des Großen sowie für die unmittelbare Vorgeschichte und den Verlauf des Jüdischen Krieges, die er selbst als Augenzeuge miterlebte,22 gestaltet sich sein Bericht für die dazwischenliegende Zeit der Statthalter als weniger dicht und umfangreich. Für die Makkabäerzeit bis zum Regierungsantritt des Archelaos konnte sich Josephus auf das Geschichtswerk des Herodesfreundes Nikolaus von Damaskus stützen, von dem nur noch Fragmente erhalten sind.23 Diese Quelle endet wahrscheinlich mit dem Betrüger Alexander,24 da hier bei Josephus der fortlaufende Erzählfaden abbricht. Josephus’ kritische Stellungnahmen gegen Herodes könnten auf herodesfeindliche Quellen hindeuten, ließen sich eventuell aber auch aus seiner Verwandtschaft mit den Hasmonäern erklären. Neben dem ersten Makkabäerbuch könnte Josephus auch Strabo, besonders Buch 12–15 herangezogen haben, dazu noch jüdische Legenden, die sich teilweise auch in der talmudischen Literatur wiederfinden. In welchem Ausmaß Josephus schwer bestimmbare Anekdoten, vielleicht Berichte der Prokuratoren in Rom, ähnliches Aktenmaterial oder Agrippa II. und seine herodeische Verwandtschaft als Nachrichtenquelle heranzog, bleibt Vermutung.25 Es ist deshalb nicht möglich, exakt nachzuweisen, aufgrund welcher Informationen und Quellen Josephus den hier behandelten Zeitraum beschrieben hat. Im folgenden müssen wir fragen, welche Grundtendenzen bei seiner Darstellung dieses Zeitraums erkennbar sind.

22 Ausführlicher wird Josephus mit der Amtszeit des Florus ab BJ 2,227. Feldman (1999), S. 904, geht davon aus, daß sich Josephus, sieht man einmal von seinen eigenen Eindrücken als Teilnehmer am Jüdischen Krieg ab, offensichtlich auf die Erinnerungen von Vespasian und Titus stützte, vgl. Joseph., Vit. 342, 358; Ap. 1,50. Seiner eigenen Absicht (Joseph., BJ 3,108), er wolle durch seine Schrift andere von der Revolte abhalten, sei zu mißtrauen. Obgleich Tacitus mit seiner antijüdischen Haltung ein ganz anderes Bild vom Krieg zeichne, indem er ihn als „national rebellion rather than as the work of a few thugs“ schildere, schreibe Josephus dennoch ganz vom römischen Standpunkt aus. Davon abgesehen ignoriere Josephus die Beteiligung von Juden außerhalb des römischen Reiches (jenseits des Euphrats) am Aufstand, vgl. Cass. Dio 65(66),4,3, und daß sogar römische Soldaten zu den Juden überliefen, vgl. Cass. Dio 65(66),5,4. Die messianischen Ziele der Rebellion (vgl. Tac., Hist. 5,13; Suet. Vesp. 4) würden heruntergespielt. Zu dem üsteren Bild, das Josephus von den Anführern des Aufstandes zeichnet, vgl. Thackeray (1929), S. 119 f.; er geht davon aus, daß Simon bar Giora und Johannes von Gischala nach dem Portrait Catilinas von Cicero modelliert sind. 23 Gesammelt in FGrH 90. 24 Vgl. Joseph., BJ 2,110. 25 Vgl. Rhoads (1976), S. 15; Safrai (1974), S. 28.

4. Grundtendenzen in Josephus’ Werk

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4. Grundtendenzen in Josephus’ Werk Die Etiketten zur Grundhaltung des Josephus reichen in der Forschung von seiner Einschätzung als „römischer Propagandist“26 bzw. „pragmatischer Opportunist“ bis zu gemäßigten Meinungen, welche bei Betrachtung seines Werkes von einem Balanceakt zwischen persönlichen Interessen und politisch-religiöser Apologetik ausgehen.27 Die apologetischen Tendenzen können als das Resultat seiner persönlichen Zerrissenheit zwischen Judentum und Römertum im Umfeld dominierender hellenistischer Kultur gesehen werden. Seit seinem Übertritt zu den Römern war Josephus heftigen Anfeindungen seiner jüdischen Landsleute ausgesetzt, die ihm diesen Schritt nie verziehen hatten. Um sein Verhältnis gegenüber Rom zu rechtfertigen, verteidigen seine Schriften unterschwellig seine Position, der weisere, d. h. gemäßigtere und vorausschauendere religiöse Führer, Politiker und „Patriot“ gewesen zu sein. Man kann Josephus nämlich dahingehend interpretieren, daß es nicht zum Krieg gekommen wäre, wenn seine radikalisierten Landsleute die Aussichtslosigkeit des Widerstandes gegen Rom ebenso eingesehen hätten wie er selbst. Als offizieller Historiograph der Flavischen Dynastie, der es sich nicht erlauben konnte, auch nur den geringsten Verdacht der Illoyalität gegenüber Rom aufkommen zu lassen, aber auch als jemand, der seine jüdische Abkunft nicht verleugnen konnte und wollte, blieb ihm nur die Möglichkeit, eine Minderheit seiner Landsleute für die Katastrophe der Niederlage und Zerstörung des Tempels verantwortlich zu machen.28 Ein mögliches Versagen der jüdischen Oberschicht, der er selbst angehörte, wird bei ihm freilich weitgehend ausgeblendet29 und der Ausbruch der Revolte gegen die römische Herrschaft statt dessen vor allem den radikalen Widerstandsgruppen mit ihrem blindmilitanten, religiös motivierten Eifer sowie den aus seiner Sicht nur allzu gewaltbereiten unterprivilegierten Bevölkerungsteilen angelastet.30 Ausgewogene Distanz fehlt Josephus deshalb besonders in sei26 Vgl. Cohen (1979), S. 144–151; Weber, W. (1921), besonders in bezug auf BJ; vgl. a. Thacherey (1929), S. 27. 27 Vgl. Rajak (1983), S. 78–103, 185–222; Bilde (1988), S. 273–206. 28 Vgl. Hengel (1961), S. 11, dazu Joseph., BJ 2,445. 449. 525. 529. 538. 540; 5,28. 53. 265. 333 f.; AJ 20,166 ff. Zur Wirkung der Tempelzerstörung 70 n. Chr. in der zeitgenössischen Perzeption vgl. Stone (1981). 29 Vgl. Goodman (1982), S. 417 A. 5. 30 Vgl. Joseph., AJ 18,5–10 zu der Gruppe um Judas aus Gamala in Galiäa. Über das Auftreten von Räubern, Verbrechern und Betrügern, vgl. u. a. Joseph., AJ 20,160 ff. 168. 180. Josephus ist oft hin- und hergerissen zwischen der religiösen Standhaftigkeit und Gesetzestreue der Juden und ihrer von ihm mißbilligten affektiven Reizbarkeit, welche die jüdische Bevölkerung seiner Meinung nach allzu verführbar und gewaltbereit machte. Nicht selten macht er seinem Unbehagen gegen-

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

nen Stellungnahmen zu politisch-religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums. Seine eigene Parteinahme scheint mir noch am ehesten auf der Linie der Sadduzäer zu liegen,31 des von Rom privilegierten Priesteradels, welcher unter den jüdischen Gruppierungen am meisten darauf bedacht war, mit Rom im Konfliktfall einen friedlichen Ausgleich zu finden.32 So ist es auch kein Wunder, daß im Gegensatz dazu sein Urteil über die „terroristischen Aktionen“ der Zeloten um so härter ausfällt. Angesichts unserer Themenstellung ist also zu berücksichtigen, daß es sich bei seinem Werk um eine historiographische Darstellung handelt,33 die aus anderen Motiven heraus geschrieben wurde, als uns exakte juristische Auskünfte über das damalige Provinzialrecht zu vermitteln.34 Was die bei über der allzu leichten Erregbarkeit der „Meute“ Luft, besonders wenn es sich dabei um junge und/oder unterprivilegierte Leute handelt, vgl. z. B. Joseph., AJ 19,300; BJ 2,225. 267. 290. 303. Zu Hinweisen auf die sozialen Hintergründe von Gewaltbereitschaft in verschiedenen Zusammenhängen, vgl. z. B. Joseph., AJ 18,315. 363. 367; BJ 2,427. Walzer (1995), S. 71, hegt den feinsinnigen Verdacht, daß Josephus sogar, nur um den Zeloten kein biblisches Vorbild zu geben, bei seiner ansonsten detaillierten Schilderung der alttestamentarischen Exodus-Geschichte, die Mobilisierung der (Pro-)Leviten zur Tötung der Götzenanbeter des goldenen Kalbes übergehe und über die Ereignisse nach Moses’ Rückkehr nur berichte, „daß ein Streit ausbrach“. 31 Zu den Sadduzäern, vgl. Joseph., AJ 18,16 f.; BJ 2,164 f. Als Beispiel ihrer Mäßigungspolitik, vgl. Joseph., BJ 2,316 f. Obwohl bei Josephus gewisse Antipathien gegenüber den Sadduzäern zum Ausdruck kommen und er eher mit den Pharisäern zu sympathisieren scheint, entspricht seine politische Grundhaltung doch eher den ersteren. Die Pharisäer gewannen auch erst nach dem Jüdischen Krieg die Oberhand im Hohen Rat, der vorher von den Sadduzäern dominiert wurde. Josephus gibt m. E. sehr viel über seine eigene politische Einstellung mittelbar durch die Rede des jüngeren Agrippa an die Juden preis, vgl. Joseph., BJ 2,345 ff. Zur sadduzäischen Politik und Josephus, vgl. bes. Betz (1982), S. 596–601; allg. Derrett (1970), S. 495– 500. Zu den vier „Philosophenschulen“: Pharisäern, Sadduzäern, Essenern, Anhänger des Judas aus Galiäa (evtl. Zeloten) vgl. Joseph., AJ 18,11–25; BJ 2,118–166; zu den Leviten AJ 20,216 ff. Zur Entwicklung der religiösen Gruppen im politischen Kontext seit den Hasmonäern vgl. Schalit (2001), S. 531 ff. 32 Selbst in den Jahren vor Ausbruch des Krieges, als die Spannungen in Judäa zunahmen; vgl. Horsley (1986a) gegen Smallwood (1962). 33 Sogar dies wird bestritten; Hengel (1961), S. 15, meint, Josephus sei trotz vorgeblicher Wahrheitsliebe „im Grund nicht so sehr Geschichtsschreiber als vielmehr Tendenzschriftsteller und Apologet gewesen.“ Angesichts dieses scharfen Urteils müssen wir uns fragen, ob es dann überhaupt eine Historiographie in der Antike gibt. Außerdem verwundert diese Aussage um so mehr, als Hengel die Apostelgeschichte als historiographisches Werk gerade gegen solche Vorwürfe, wie er sie selbst hier anführt, verteidigt, vgl. dazu unten, im Kapitel zu Paulus, Abschnitt VII. 1. 34 Deshalb ist auch die Bemerkung von Pflaum (1950), S. 119, unangemessen, Josephus sei mit den römischen Institutionen wenig vertraut gewesen, wenn man bedenkt, daß dieser gebildete und hellenisierte Jude sich lange Zeit in Rom aufhielt

4. Grundtendenzen in Josephus’ Werk

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Josephus auftretenden theologischen Deutungen anbetrifft, wie sein Glauben an göttliche Vorzeichen, Warnungen und Strafen, so stellen sie nicht den Bezug der dargestellten Ereignisse zur Realität insgesamt in Frage, sondern wirken zumindest in dem hier berücksichtigten Teil eher wie marginale Äußerungen, die sich leicht aus der Gesamtdarstellung separieren lassen.35 Dafür schildert er die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt vor dem Hintergrund ihrer politischen und sozialen Verflechtungen. Auf diese wird es uns ankommen, ohne dadurch jedoch selbst in den Sog eines Erklärungsversuchs für den Ausbruch der jüdischen Revolte gegen die römische Herrschaft geraten zu wollen.36 Die grundsätzliche Berechtigung der Kritik an Josephus’ Apologetik und seinen parteiischen Stellungnahmen läßt sich nicht bestreiten.37 Jedoch wäre die Behauptung, Josephus habe ausschließlich im Dienst romfreundlicher Propaganda gestanden, zu apodiktisch. Die Ansichten, Josephus betone die Freundschaft zwischen Juden und Römern, schildere die römischen Beund auch in seiner Heimat privilegierten Umgang mit der römischen Obrigkeit pflegte. Nicht nur der spätere Umgang mit römischen Autoritäten in der Flavierzeit, sondern auch sein früherer Aufenthalt in Rom (64–66 n. Chr.) und besonders die Tatsache, daß er ja selbst Verurteilter und Gefangener war (67–69 n. Chr.), legen die Vermutung nahe, daß Josephus allein schon aufgrund seiner persönlichen Erfahrung bestimmte Einblicke in das römische Justiz- und Strafrechtswesen gehabt haben mußte. 35 Zu Josephus’ „Seherqualitäten“ vgl. Rhoads (1976), S. 8–11; Hengel (1961), S. 8; Momigliano (1992), S. 76. 36 Als Erklärungsansätze für den Ausbruch des Jüdischen Krieges und das Scheitern der Römer, Judäa als hergebrachtes Klientelkönigtum oder römische Provinz zu kontrollieren, werden in der Literatur folgende Gründe hervorgehoben: Die Inkompetenz der Statthalter bzw. das übergroße Ausmaß der Unterdrückung durch die römische Herrschaft, vgl. Graetz (1878), Bd. 3, S. 472–474; Smallwood (1976), 256 f.; die Einzigartigkeit der jüdischen Religion und der theokratisch-messianische Eifer, vgl. Mommsen (1976), Bd. 7, S. 188–250; Momigliano (1952), S. 850–887; Farmer (1956); Hengel (1961), S. 145–150, 190, 224 ff.; oder die sozialökonomischen Bedingungen, vgl. (aus marxistischer Perspektive) Kreissig (1970), S. 14 f.; Applebaum (1977). Zu nennen wären noch die ethnischen Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden. Zumeist finden sich in der Literatur natürlich kombinierte Erklärungsansätze. Eine neuere These beruht auf dem Scheitern der judäischen Herrschafts- und Oberschicht, besonders der Hohepriester, die im provinzialen Sozialund Herrschaftsgefüge die Funktion akzeptierter Vermittler zwischen den provinzialen Untertanen und römischer Herrschaft nicht auszufüllen vermochten, vgl. Horsley (1986a) und bes. die Monographie von Goodman (1987). Vgl. bei letzterem, S. 5– 14, den knappen Überblick über die wichtigsten Thesen der Forschung zu den Gründen des Kriegsausbruchs 66 n. Chr.; vgl. auch Gabba (1999), S. 148 ff. Zu den diesbezüglichen Gründen bei Josephus, vgl. Bilde (1979). 37 Vgl. dazu auch Krieger (1994), der minutiös, beinahe Satz für Satz, die beiden Hauptwerke des Josephus vergleichend auf ihre stilistische und apologetische Konstruktion hin untersucht, jedoch auch gleichzeitig darauf reduziert.

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

hörden als den jüdischen Rechtsansprüchen stets entgegenkommend und stelle allgemein die römischen Kaiser so hin, als hätten sie die jüdischen Sitten nicht nur garantiert, sondern auch gefördert,38 bedürfen der differenzierteren Betrachtung. Die „Verherrlichung“ des Kaisers Vespasian oder des Titus39 erklärt sich aus der Biographie des Josephus und ist deswegen „berechenbar“. Wichtiger ist hingegen die Tatsache, daß sie nicht in den hier behandelten Zeitraum fällt. Ein völlig anderes Bild ergibt sich nämlich, wenn wir seiner Darstellung früherer Kaiser folgen.40 Dann läßt sich feststellen, daß die römischen Kaiser von Josephus alles andere als in ein einseitig positives Licht gerückt werden.41 Sein vorrangiges Kriterium in der Beurteilung der römischen Obrigkeit bleibt freilich stets deren Haltung zum Judentum, doch folgt daraus nicht automatisch ein geschöntes und verklärtes Bild der römischen Herrschaft. Der krasse Gegensatz seiner Darstellung von Claudius als Garant der jüdischen Religionsfreiheit und der des Gaius (Caligula), der seine Büste im Tempel zu Jerusalem angebetet wissen wollte, macht dies 38 Vgl. Baumann (1983), S. 86 f., mit weiteren Literaturangaben. Zwar geht es ihm vorwiegend um die Frage, inwieweit die von Josephus selbst als Quellen verwendeten römischen Aktenbestände von der Standardform der betreffenden Dokumente abweichen, vgl. S. 81 ff., und nur selektiv zur Stützung von Josephus’ eigener Haltung herangezogen wurden, jedoch stellt er auch eine allgemeine apologetische Tendenz für die übrigen Passagen fest. 39 Hengel (1961), S. 12: „Die verhaßten Gegner wurden zur dunklen Folie, auf der der Heldenjüngling Titus um so heller erstrahlte“; ähnlich Weber, W. (1921), S. 215: „Wir dürfen vermuten, daß Josephus, seine Feinde eifersüchtig hassend und Titus umwerbend, die Bilder dieser Gegner verdunkelt hat, um die lichten Helden stärker strahlen zu lassen.“ 40 Vgl. dazu Tac., Hist. 1,2,2, wo er betont, daß er über Galba, Otho und Vitelius unparteiisch schreiben könne, weil mihi [. . .] nec beneficio nec iniuria cognoti. Vgl. zu diesem Aspekt a. Saller (1982), S. 70. 41 Zur Bewertung der Herrschaft verschiedener Kaiser bei Josephus, vgl. zu Tiberius Joseph., AJ 18,143–146, 170–178, 225–227, vgl. dazu Tac., Ann. 1,80,1; 6,6,2– 5; zu Gaius Joseph., AJ 18,298–309; 19,1–137, 201–211; zu Claudius AJ 20,10–14; zu Nero AJ 20,151–153; BJ 2,250 f. Eine Stelle, welche zur Darlegung einer grundsätzlich feindlichen Haltung der Römer gegenüber den Juden herangezogen wird, ist jene über die Judenvertreibung aus Rom nach Sardinien, vgl. Joseph., AJ 18,81–84; vgl. dazu Tac., Ann. 2,85,4; Sen., Ep. 108,22; Suet. Tib. 36; vgl. dazu Williams (1989). Gerade in jüngerer Zeit sind umfassendere Untersuchungen zur Judenfeindschaft in der Antike erschienen: Bloch (2002); Noethlichs (1996); Yavetz (1997); ders. (1993); Schäfer (1997); Castritius (1984). Allgemein zum Problem der religiösen Toleranz im Altertum Garnsey (1984), dort auch zum Judentum S. 10 ff. Zur Haltung des Juden gegenüber den Römern, vgl. de Lange (1978); Stemberger (1983). Zur Frage, ob jüdische Gemeinden durch bestimmte rechtliche Privilegien oder anderweitig von den Römern geschützt waren, vgl. Rajak (1984). Zu den restriktiven Maßnahmen des Kaisers Claudius gegen die stadtrömischen Juden vgl. Botermann (1996).

4. Grundtendenzen in Josephus’ Werk

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nur allzu deutlich. Auch seine Wertungen über die römischen Provinzstatthalter lassen sich nicht über einen Kamm scheren, am wenigsten im Sinne einer romfreundlichen Haltung, was sich im Verlauf unserer Untersuchung zeigen wird. Ein Grundproblem der Josephusinterpretation scheint darin zu bestehen, daß „Josephus meist nicht gelesen [wird], um zu sehen und zu interpretieren, was er schreibt, sondern um [. . .] herauszufinden, wie seine Aussagen einen schon vorher bestehenden Erklärungszusammenhang bestätigen können“.42 Auch wenn Josephus seinem eigenen historiographischen Wahrheitsanspruch43 nicht gerecht werden kann und man sich der kritikwürdigen Tendenzen seiner Darstellung bewußt bleiben muß, läßt sich behaupten, daß seine Schriften gerade dann einen hohen Quellenwert haben, wenn er uns durch seine Art des Berichts Fallmaterial der Ausübung statthalterlicher Strafgewalt in bestimmten typischen Beziehungskonstellationen liefert, das einen Einblick in die Herrschaftsstruktur gewährt, ohne daß man deshalb gleichzeitig seine parteiischen Stellungnahmen übernehmen müßte. Josephus’ Vorlieben bzw. Abneigungen in der Bewertung der verschiedenen Statthalter können als Hinweis verstanden werden, wie stark das römische Regiment vom persönlichen Herrschaftsstil der Statthalter abhing, so daß es mit einem provinzialen Strafrechts- bzw. Verwaltungssystem nicht viel auf sich haben konnte. Abschließend stellt sich noch die Frage, inwiefern die Unterschiede der Darstellungstendenz in seinen beiden Hauptwerken für den hier behandelten Zeitraum relevant sind. Allgemein scheint mir die Argumentation von Steve Mason im Hinblick auf die generelle Darstellungsabsichten der beiden Hauptwerke plausibel, die sich an interessierte nichtjüdische Leser in Rom richteten.44 Im ,Jüdischen Krieg‘ wollte Josephus dabei in erster Linie antijüdischen Ressentiments nach der Zeit des Aufstands begegnen, wobei er vor allem vier Hauptgesichtspunkte geltend macht: daß nur eine kleine, nichtrepräsentative jüdische Minderheit für den Krieg verantwortlich war; daß der römische Sieg keineswegs der Sieg römischer Götter war, sondern vielmehr der jüdische Gott die Römer als seine Agenten benutzte, um den Tempel zu reinigen; daß die legitimen Repräsentanten des jüdischen Volkes, d. h. die Priester und Hohepriester sowie die Mitglieder des herodianischen Königshauses herausragende Bürger des römischen Reiches bzw. 42 Baumann (1983), S. 70. Eine Kritik, welche die in meiner Einleitung dargestellte Problematik bestätigt. 43 Vgl. Joseph., AJ 20,154. 44 Damit gegen die vor allem durch Thackeray (1929) geprägte und lange in der Forschung vorherrschende Auffassung, Josephus habe als Lakai der Römer geschrieben und sollte durch seinen BJ dabei helfen, die revolutionären Hoffnungen des Ostens zu unterdrücken.

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III. Die römische Provinz Judäa und Flavius Josephus

treue Freunde und Verbündete der Römer waren; und schließlich, daß die Juden und Römer dieselben zivilisatorischen Werte, Tugenden und Ziele vertraten, die Juden dabei freilich aus einer eigenen altehrwürdigen Tradition schöpfen konnten.45 Die mehr als ein Jahrzehnt später vollendeten ,Altertümer‘ können in gewisser Weise als weitschweifige Ausführung des letzten Punktes betrachtet werden. Das opus magnum bietet einen umfassenden Einblick in die jüdische Kultur46 und kreist dabei um vier Hauptthemen: Das hohe Alter der Juden, ihre Verfassung und ihre religiösen Strömungen (die in Adaptation an heidnische Leser als Philosophenschulen dargestellt werden) sowie schließlich die moralische Bewertung der wichtigsten Akteure.47 Zugespitzt ließ sich sagen, Josephus machte in beiden Werken also weniger römische Propaganda für die Juden als vielmehr jüdische Propaganda bei den Römern. Er vertrat eine Art Kulturpropaganda, die an einer friedlichen Koexistenz mit den Römern interessiert war und dabei bestimmten, am Judentum interessierten Kreisen in Rom (möglicherweise einflußreiche Leute im Umfeld von Agrippa und Berenike), das entsprechende Material an die Hand geben wollte.48 Was die Darstellung speziell der Statthalter in Konfrontation mit rebellischen Gruppen anbetrifft, so ist in beiden Werken eine Akzentverlagerung festzustellen: Die umfassendere Darstellung der ,Altertümer‘ aus der größeren zeitlichen Distanz erlaubt es, die Brutalität der Statthalter seit Pontius Pilatus etwas abzumildern, indem die Vergehen bestimmter Juden stärker gewichtet werden; hierbei wird dann vor allem ihr Abfall vom jüdischen Gesetz herausgestellt, was für Josephus unweigerlich in die Katastrophe führt; den Rebellen wird jedoch in beiden Werken die Hauptschuld am Untergang Jerusalems angelastet.49 Sofern man Religion und Politik für die Herrschaft in Judäa überhaupt voneinander trennen kann, könnte man die Gewichtung der beiden Aspekte zugespitzt folgendermaßen umschreiben: Während im ,Jüdischen Krieg‘ religiös motivierte Aktionen politisiert werden, werden in den „Jüdischen Altertümern“ politische Ereignisse religiös 45 Vgl. Mason, S. (2000), S. 89 f. sowie seine nachfolgenden Darlegung am Quellenmaterial. 46 Jüdische Adressaten hätten eines solchen Werkes auch gar nicht bedurft, zumal wenn die erste Hälfte des Werkes (bis Buch 11) eine gestraffte Paraphrase der Bibel darstellt. 47 Vgl. dazu ausführlicher Mason, S. (2000), S. 101–130. 48 Daß diese Vermittlungsposition nach dem Krieg weder tiefsitzende Ressentiments gegen Juden bei bestimmten Römern erschüttern konnte (wie sie sich bei Tacitus widerspiegeln), noch durch den Krieg radikalisierte Kreise des Judentums sowie persönliche Gegner des Josephus beschwichtigen konnte, darf angenommen werden. 49 Vgl. Mason, S. (2000), S. 182 f.

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ethisiert. Allgemein sind die Gegensätze zwischen römischer Herrschaft und der Aufsässigkeit von jüdischen Bevölkerungsgruppen im ,Jüdischen Krieg‘ schroffer und undifferenzierter geschildert, was den Eindruck der gouvernementalen Perspektive des Josephus in diesem Werk verstärkt. In den ,Jüdischen Altertümern‘ wird dagegen die Mitschuld der römischen Besatzungsmacht am Aufruhr der jüdischen Bevölkerung deutlicher, während – als Kehrseite davon – die Wahrung jüdischer Sitten und Gebräuche ausführlicher gewürdigt wird. Die anekdoten- und detailreichere Darstellung ist hier differenzierter, damit aber auch widersprüchlicherer und ergibt kein so einheitliches, dafür aber auch schemenhaftes Bild wie im ,Jüdischen Krieg‘.50

50 Auf die Differenzen im Detail bei den von Josephus geschilderten und nachfolgend aufgegriffenen Vorfälle kann im Anmerkungsapparat eingegangen werden. Sie hier im einzelnen darzulegen, hätte zu weitschweifigen Redundanzen geführt.

IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa Bevor wir uns im nächsten Kapitel der Einzelanalyse der bei Josephus geschilderten Fälle statthalterlicher Strafgewalt widmen, sei kurz dargestellt, wie Judäa überhaupt zur römischen Provinz wurde, welche Art von Statthaltern mit welchen formalen Kompetenzen und sonstigen Voraussetzungen dort ihre Strafgewalt ausübten und unter welchen für Judäa spezifischen Strukturbedingungen sie dies taten. 1. Vorgeschichte (4 v. bis 6 n. Chr.) Für die Provinzialisierung Judäas waren vor allem die drei bei Josephus erwähnten Verhandlungen vor dem Kaiser von Bedeutung. Sie enthalten auch bereits Hinweise auf das Verhältnis zwischen Syrien und Judäa, das an späterer Stelle noch eingehender erörtert wird.1 Nach dem Tod des König Herodes2 4 v. Chr. und dem anschließenden Thronfolgestreit unter den Verwandten des Idumäergeschlechts kam es in Rom vor Kaiser Augustus zur Anhörung der gegenseitigen Anklagen der beiden Thronprätendenten Archelaos3 und Antipas4 mittels ihrer jeweiligen Prozeßvertreter Nikolaos von Damaskus und Antipater (Sohn der Salome)5, wobei letzterer auch von der übrigen Verwandtschaft unterstützt wurde.6 Josephus berichtet: „Weitaus am 1

Vgl. unten die Abschnitte IV. 3. a) und V. 2. Zur staatsrechtlichen Stellung des Herodes vgl. unten Abschnitt IV. 3. b). 3 Zu Archaelaos vgl. PIR2 (A) I, Nr. 1025, S. 200 f.; vgl. dazu Sullivan (1977), S. 309 f. Mt 2,22 berichtet, daß Joseph sich fürchtete, von Ägypten nach Judäa zurückzukehren, wo Archelaos anstelle seines Vaters Herodes König geworden war. Jedoch erhielt er nach dem Tod seines Vaters weder das gesamte Königtum noch den Königstitel. Archelaos hatte einen Großteil seiner Erziehung in Rom erhalten, vgl. Joseph., AJ 17,20. 4 Zu Herodes Antipas vgl. PIR2 (A) I, Nr. 764, S. 139 f., dazu Hoehner (1972); Saddington (1994), S. 422; Sullivan (1977), S. 306–308; Gabba (1999), S. 130 ff. Über ihn ist uns aus dem Neuen Testament berichtet, daß er Johannes den Täufer enthaupten ließ; nach dem Lukasevangelium war er auch in den „Prozeß“ gegen Jesus involviert, vgl. unten Abschnitt VI. 3. c). Jesus soll ihn „den Fuchs“ (Lk 13,32) genannt haben. In einer Inschrift wird er als „Herodes, Sohn des König Herodes, Tetrarch“ erwähnt, vgl. OGIS 417. Auch er erhielt einen Großteil seiner Erziehung in Rom (Joseph., AJ 17,20) und war ein Freund von Kaiser Tiberius. Vgl. auch unten A. 16 in diesem Abschnitt. 5 Vgl. Joseph., BJ 2,26–33; AJ 17,230–247. 6 Vgl. Joseph., BJ 2,14 f., 22; AJ 17,224 ff. 2

1. Vorgeschichte (4 v. bis 6 n. Chr.)

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liebsten wäre jedem [der Verwandten, G.K.] eine Selbstverwaltung unter Aufsicht eines römischen Legaten gewesen; wenn der Plan aber fehlschlagen sollte, wollten sie, daß Antipas König würde.“7 Nachdem der Kaiser die schriftlichen Unterlagen der beiden Streitparteien unabhängig voneinander geprüft und ihre jeweiligen Plädoyers angehört hatte, entließ er das einberufene consilium und vertagte die Entscheidung mit der Überlegung, ob er nur einen Nachfolger für Herodes bestimmen oder dessen Erbe unter der Verwandtschaft aufteilen solle.8 Parallel zu den Ereignissen in Rom brach in Jerusalem aufgrund des Gebarens des syrischen Prokurators Sabinus, der das Vermögen des Herodes sicherstellen sollte, eine jüdische Revolte aus, welche nur durch das militärische Eingreifen des syrischen Statthalters Varus mit seinen Legionen und Hilfstruppen unterdrückt werden konnte.9 Archelaos wurde ein zweites Mal vor dem Kaiser angeklagt, und zwar durch eine Gesandtschaft, die noch vor dem Aufruhr in Jerusalem „mit Erlaubnis des Varus um der Selbstherrschaft ihres Volkes willen“10 nach Rom gekommen war. Diese fünfzig Gesandten, die von über 8000 in Rom ansässigen Juden11 unterstützt worden seien, erbaten sich vom Kaiser das Ende der Joseph., BJ 2,22: kaÍ prohgoumÝnwò_ Òkastoò ažtonomßaò ™peqýmei _ basileýein \AntßstrathgÃw ¢Rwmaßwn dioikoumÝnhò, eœ dÊ touto diamartÜnoi, _ pan çqelen. AJ 17,227: mÜlista mÊn ™piqumounteò ™leuqerßaò kaÍ pÎ _ ¢Rwmaßwn strathgÃw tetÜxqai, eœ d' åra ti ˜ntistaßh, lusitelÝsteron \ArxelÜou tÎn \Antßpan logizümenoi, sunÝpratton \AntßpÁa tÌn basileßan. 8 Vgl. Joseph., BJ 2,37 f.; AJ 17,249. 9 Vgl. Joseph., BJ 2,15–19, 42–79; AJ 17,222 f., 250–295. Sabinus war für die Geschäfte des Kaisers in Syrien verantwortlich, vgl. Joseph., AJ 17,221, und sollte vor allem die fiskalischen Angelegenheiten nach dem Tod König Herodes’ regeln. P. Quintilius Varus, der von 6–4 v. Chr. syrischer Statthalter war, vgl. BJ 1,617, ist die gleiche Person, die 9 n. Chr. die Schlacht im Teutoburger Wald verlor (unter diesem Namen ist die Schlacht zumindest bekannt; um die genaue Lokalisierung, Reichweite und den Verlauf dieser Schlacht wird in der Forschung noch diskutiert). _ 10 Joseph., BJ 2,80: ™pitrÝyantoò OžÜrou prÝsbeiò ™celhlýqesan perÍ t hò _ tou æqnouò ažtonomßaò . Falls epitrepsantos in Joseph., AJ 2,80 eher Befehl denn Erlaubnis bedeutet, so schreibt Josephus die ganze Idee Varus selbst zu. Jedoch macht Joseph., AJ 17,300 diese Annahme unsicher: ˜—ßketo eœò tÌn ¢Rþmhn pres_ _ beßa \Ioudaßwn OžÜrou tÎn ˜püstolon ažtwn tÃw æqnei ™pikexwrhkütoò pÊr aœtÞsewò ažtonomßaò. Goodman (1987), S. 39, folgert: „At any rate it is unlikely that the Jews sent to Rome were genuine representatives of the Judaeans.“ 11 Vgl. Joseph., BJ 2,80; AJ 17,300. Hier haben wir einen Hinweis darauf, daß die Juden eine Art ,pressure group‘ durch die in Rom lebenden Glaubensgenossen hatten. Ihren Einfluß in spätrepublikanischer Zeit beschreibt Graetz (1985), Bd. 2, S. 80 f. folgendermaßen: „Die römischen Judäer blieben nicht ganz ohne Einfluß auf den Gang der politischen Verhältnisse Roms. Da sowohl die früher Ansässigen als auch die losgekauften Gefangenen Stimmrecht in den Volksversammlungen hatten, so gaben sie durch ihre Eintracht untereinander, nach einem verabredeten Plane zu handeln, und durch ihre Rührigkeit manchmal den Ausschlag bei Volksbeschlüssen.“ Auch wenn diese Aussage übertrieben scheint, muß an dem besonderen Zu7

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Herrschaft des herodianischen Hauses, nachdem sie die Gewaltherrschaft und Tyrannei unter der Herrschaft des König Herodes12 geschildert hatten und wie Archelaos nach dessen Tod seine Königsherrschaft mit der Hinrichtung von 3000 Bürger begann;13 statt dessen zogen sie es vor, „ihre Heimat mit den Syrern [zu] vereinigen und durch besondere Statthalter verwalten zu lassen“.14 Nach der anschließenden Gegenrede des Nikolaos, welche auf die schwer lenkbare, ungehorsame „Natur“ der Juden abstellte, entließ der Kaiser die Versammlung. Wenige Tage später vollstreckte Augustus zum größten Teil das Testament des Herodes und teilte das Königreich unter dessen Söhnen auf:15 Archelaos (4 v.–6 n. Chr.) erhielt Judäa, Idumäa, Samaria und die Küste mit Cäsarea; Antipas (4. v.–39 n. Chr.) bekam Galiäa und Paräa ohne die Dekapolis16 und Philipp (4 v.–34 n. Chr.) die nichtjüdischen Gebiete im Nordsammenhalt der Juden in den Versammlungen ein wahrer Kern gewesen sein, vgl. Cic., Flac. 66 f.: „du weißt wie stark sie ist [gemeint ist die „Clique“ (turba) der Juden in Rom, G.K.], wie sie zusammenhält und welche Rolle sie bei Versammlungen spielt. Ich werde mit gedämpfter Stimme sprechen, so daß mich nur die Richter verstehen können; es fehlt ja nicht an Leuten, die dieses Gesindel gegen mich und alle Rechtschaffenen aufhetzen möchten – ich werde ihrer Bereitschaft keine Nahrung geben. [. . .] Diesem fremdartigen Aberglauben die Stirn zu bieten [gemeint ist das Verbot von Goldabgaben als Tempelsteuer der Diasporajuden nach Jerusalem, G.K.], zeigte Festigkeit; um der öffentlichen Ordnung willen auf den jüdischen, in den Versammlungen nicht selten zügellosen Haufen keine Rücksicht zu nehmen, bewies einen ausgeprägten Sinn für Würde.“ (Übers. M. Fuhrmann) Zu den Juden in Rom während der ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit vgl. La Piana (1927), S. 341 ff., wo jedoch nicht die politischen Aspekte behandelt werden, sondern die sozialen Bedingungen der Religionsausübung. 12 Vgl. Joseph., BJ 2,84–87; AJ 17,304–310. 13 Vgl. Joseph., BJ 2,89; AJ 17,313. Diese Klage hat einen längeren Hintergrund. Noch während der Klagefeiern um Herodes kam es zu Unruhen, weil eine Gruppe Juden den Tod derjenigen rächen wollte, die von Herodes dafür bestraft worden waren, den auf des Königs Geheiß am Tempeltor installierten goldenen Adler heruntergestürzt zu haben. Als Archelaos diese Gruppe nicht beschwichtigen konnte, ließ er mit Soldatengewalt die Rädelsführer festnehmen. Dies erregte den Volkszorn, der mit Heeresmacht unterdrückt wurde und nach Josephus 3000 Menschenleben forderte; vgl. Joseph., BJ 2,6–13; AJ 17,207–218; zum Adlersymbol vgl. Exkurs III im Anmerkungsteil der BJ-Ausg. Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 425. _ _ _ 14 Joseph., BJ 2,91: sunÜyantaò dÊ t Âh SurßÁa tÌn xþran ažtwn dioike in ™p' œdßoiò †gemüsin; in AJ 17,314 heißt es: prosqÞkh dÊ Surßaò gegonüteò potÜs_ _ _ sesqai to iò ™ke ise pempomÝnoiò strathgo iò. 15 Vgl. Joseph., BJ 2,93–100; AJ 17,317–322. Zu den Mitgliedern der herodianischen Dynastie vgl. Sullivan (1977). 16 Vgl. auch oben A. 4 in diesem Abschnitt. Herodes Antipas führte in relativer Selbständigkeit das Regiment über Galiläa und Paräa bis zum Jahre 39 n. Chr. Er machte Sepphoris zu seiner Residenz und erbaute sich im Jahr 30 am Westufer des Sees Genezareth eine neue Hauptstadt, die er dem Kaiser Tiberius zu Ehren Tiberias nannte. Bekannt ist Herodes Antipas vor allem durch die Hinrichtung von Johan-

1. Vorgeschichte (4 v. bis 6 n. Chr.)

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osten (Gaulantis, Trachonitis, Batanäa, Panias);17 Herodes’ Schwester Salome erhielt die zwei Toparchien Jamnia und Azotos, dazu Phasaelis im Jordantal und den königlichen Palast in Askalon.18 Josephus berichtet über Archelaos’ Herrschaft in Judäa lediglich,19 wie dieser zum dritten Mal, und zwar in seinem 10. Regierungsjahr 6 n. Chr., von einer Gesandtschaft aus Juden und Samaritanern – eventuell unter Einfluß seiner Brüder20 – vor dem Kaiser verklagt wurde mit der Folge, daß nes dem Täufer, der seine zweite Ehe mit Herodias getadelt hatte, die nicht nur seine Schwägerin, sondern auch seine Nichte war, vgl. Joseph., AJ 18,116–119; Lk 3, 19 f.; Mk 6,14–29 par. Mt 14,1–12. Wahrscheinlich folgte er auch dem Vorbild seines Vaters und spendete Gaben außerhalb seines Territoriums; so findet sich z. B. eine Inschrift von ihm auf Delos, vgl. Gabba (1958), S. 45 f. Als Herodes Antipas sich um den Königstitel bei Kaiser Gaius (Caligula) bewarb, den letzterer schon Agrippa I. zugestanden hatte, führte dies zu seiner Amtsenthebung und Verbannung nach Lugdunum in Gallien. 17 Philippus’ Herrschaftsgebiet begann am Nordostufer des Sees Genezareth. Der Jordan bildete die Grenze nach Westen. Bethsaida ließ Philippus zur Stadt Iulias ausbauen. Sein Regierungssitz wurde Cäsarea Philippi in der Nähe des Pan-Heiligtums an der östlichen Jordanquelle am Hermongebirge. Schon die Stadtnamen lassen den Willen erkennen, das römische Kaiserhaus zu ehren. Philippus starb im 34 n. Chr. ohne Erben, so daß sein Herrschaftsgebiet der Provinz Syrien direkt unterstellt wurde. 18 Salome starb in der Zeit des judäischen Statthalters M. Ambivius (bzw. Ambibulus) 9–12 n. Chr., vgl. Joseph., AJ 18,31, und überließ der Kaiserin Livia die Gegend Jamnia und die Toparchie, Phasaelis und Archelais und die Region um Jericho, vgl. Joseph., AJ 18, 31; BJ 2,167. Die Gebiete wurden in der Folge direkter Besitz der kaiserlichen Familie und von einem speziellen Prokurator verwaltet, vgl. Stern (1974), S. 348. Aus Philo, Leg. 199 sowie Joseph., AJ 18,158 ist uns der Ritter Herennius Capito als Prokurator des kaiserlichen Patrimonium von Jamnia überliefert, der zugleich die Steuern der gesamten Provinz eintrieb. Zugleich ist dies ein Beispiel der Verquickung privater und öffentlicher Aufgaben, die sich daraus erklärt, daß für die Römer die Steuererhebung nicht als Sache eines Magistraten betrachtet wurde; vgl. dazu Kienast (1999), S. 191. 19 Aus Joseph., BJ 2,111 erfahren wir nur, daß Archelaos „in Erinnerung an alte Streitigkeiten sowohl die Juden als auch die Samaritaner“ grausam behandelte, was zu der besagten Gesandtschaft und schließlich zu seiner Verbannung führte. Joseph., AJ 17,339 erwähnt die Absetzung des Hohenpriesters Joazar, Sohn des Boethus, der die Rebellen unterstützt habe; AJ 17,340 berichtet von seiner Baupolitik; AJ 17,341 von seiner Heirat mit Glaphyra, der Frau seines Bruders Alexander, was als Sittenverstoß empfunden wurde. Joseph., AJ 17,342 begründet die Gesandtschaft ohne weitere Ausführungen mit seinem grausamen und tyrannischen Regiment. 20 Smallwood (1976), S. 117, meint, die Forderung der jüdischen Delegation 6 n. Chr., Archelaos abzusetzen, sei suspekt, da Josephus kein tyrannisches Verhalten des Archelaos schildere. Dies ist zum einen nicht richtig, weil Josephus durchaus – wenn auch ohne weitere Erläuterungen – darauf hinweist (vgl. die vorangehende A. 19), zum anderen begründet ihr Argument aber nicht ihre Schlußfolgerung. Wichtiger sind ihre Verweise auf Cass. Dio 55,27,6 und Strabo, Geog. 16,2,46, die zeigen würden, daß die Anklage gegen Archelaos von seinen Brüdern vorgebracht wurde.

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Archelaos nach Vienna in Südgallien verbannt und sein Vermögen zugunsten des kaiserlichen Schatzes eingezogen wurde.21 Judäa sollte römische Provinz und einem Statthalter unterstellt werden.22 Wir haben durch die ersten beiden Prozesse des Archelaos erfahren, daß dies bereits sowohl von seiner neidischen Verwandtschaft als auch von der jüdischen Gesandtschaft in ihren Reden vor dem Kaiser erwogen worden war. Ihre Vorschläge liefen auf eine Art Selbstverwaltung unter der Leitung eines eigenen römischen Statthalters hinaus; gleichzeitig wurde die Forderung laut, Teil der Provinz Syrien zu werden. Daß der syrische Statthalter Varus hinter diesen Vorschlägen gesteckt haben könnte, wird von Josephus zwar angedeutet, jedoch ohne Gründe oder Motive hierfür anzugeben. Das nicht ganz eindeutige Verhältnis zwischen einer Provinz Judäa und der Provinz Syrien sowie zwischen ihren jeweiligen Statthaltern begegnet uns wieder, wenn Josephus die tatsächliche Umwandlung Judäas in eine römische Provinz beschreibt. 2. Judäa wird Provinz (6 n. Chr.) Josephus skizziert in wenigen knappen Sätzen, wie Judäa 6 n. Chr. in eine römische Provinz umgewandelt wurde. Dabei liefert er wesentliche Informationen, welche für die gesamte weitere Darstellung bis zum Beginn des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. maßgeblich bleiben. Man kann sie deshalb als eine Art Exposition für den Ereignisverlauf dieses Zeitraums verstehen. Der kurze Abschnitt zählt die wichtigsten Hauptakteure auf, die bei Josephus das politische Schicksal der Region bestimmen: der römische Kaiser, die beiden Statthalter von Syrien und Judäa, der jüdische Hohepriester und eine radikal religiös-politische Bewegung, die sich dem römischen Zensus widersetzte. Auch über die Beziehungen zwischen diesen Akteuren wird schon einiges angedeutet. Deshalb sei der Quellenauszug zunächst ausführlich zitiert.23 21 Joseph., BJ 2,111 f. spricht vom 9. Jahr von Archelaos Regierung, Joseph., AJ 17,342; Vit. 5; Cass. Dio 55,27,6 vom 10. Regierungsjahr. Man vergesse dabei nicht, daß es vom Entschluß zu einer Gesandtschaft über die Zeit, bis diese in Rom eintrifft, bis zu dem Tag als der Beschuldigte dort erscheint und schließlich das Urteil gefällt wird, durchaus ein Jahr dauern kann. 22 So blieb es bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges 66 n. Chr., abgesehen von der kurzen Zwischenperiode 41–44 n. Chr. Wahrscheinlich zur Beruhigung der palästinensischen Verhältnisse nach den Vorfällen unter Kaiser Gaius, der mit Waffengewalt die Aufstellung von Kaiserbildern in Jerusalem durchsetzten wollte, übertrug sein Nachfolger Claudius dem Agrippa, der in Rom weilend seine Erhebung auf den Thron unterstützt hatte, die Herrschaft über ganz Palästina. Agrippa I. starb 44 n. Chr., vgl. Acts 12,21–23; Joseph., AJ 19,343–352. Zu Agrippa I. vgl. Schwartz, D. R. (1990). Sein 17jähriger Sohn gleichen Namens wurde jedoch nicht zum Nachfolger bestellt; vielmehr wurde nun das ganze Gebiet zu einer römischen Provinz.

2. Judäa wird Provinz (6 n. Chr.)

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Im ,Jüdischen Krieg‘ schreibt Josephus: [BJ 2,117] „Als aber das Land des Archelaos in eine Provinz (™parxßa) umgewandelt wurde, wurde als Statthalter Coponius aus dem ritterlichen Stand (™pß_ _ tropoò t hò ppik hò) der Römer gesandt, wobei er Vollmacht einschließlich des _ Tötens [= ius gladii] vom Kaiser empfing (mÝxri tou kteßnein lab„n parJ Kaßsaroò ™cousßan). [118] Unter ihm [= Coponius] veranlaßte ein galiläischer Mann namens Judas die Einheimischen zum Abfall (˜püstasin), indem er tadelte, wenn sie es dulden würden, Steuer den Römern zu entrichten, und neben Gott einen sterblichen Gebieter zu ertragen. Es war dieser ein Weisheitslehrer (so—istÌò) einer eigenen Sekte, der den anderen in nichts glich.“

In den ,Jüdischen Altertümern‘ heißt es: [AJ 17,355] „Als aber das Land des Archelaos als tributpflichtiges der [Provinz] der Syrer zugeteilt wurde, wurde Quirinius vom Kaiser gesandt, ein Konsular, der das [Aufkommen] in Syrien schätzen sollte und den Besitz des Archelaos verkaufen sollte. [18,1] Quirinius aber, einer von denen, die sich im Senat versammeln, ein Mann der die anderen Ämter bereits verrichtet hatte, um durch alle hindurchgehend auch Konsul zu werden, auch in anderem groß an Würde – war mit wenigen [Begleitern] in Syrien angekommen, vom Kaiser [= Augustus] als Richter des _ Volkes (dikaiodüthò tou æqnouò) abgesandt und, um Schätzer des Vermögens _ _ (timhtÌò twn ožsiwn) zu werden; [2] und Coponius wurde mit ihm zusammen abgesandt, [ein Mann] aus dem Stand der Ritter, der den Juden gebieten sollte mit Vollmacht in allem (†ghsüme_ _ noò \Ioudaßwn t Âh ™pÍ p asin ™cousßÁa). Es war aber auch Quirinius in das ein Anhängsel (prosqÞkhn) Syriens gewordene Judäa gekommen, da er die Vermögen schätzen und die Güter des Archelaos verkaufen sollte. [3] Sie [die Juden] aber ließen, obwohl am Anfang in Furcht, als sie von der Ein_ schreibung (˜pogra—a iò) hörten, davon ab, sich weiter zu widersetzen, als sie der Hohepriester Joazar überzeugte [. . .]. Und die, die sich den Worten des Joazar fügten, ließen ihre Güter schätzen, ohne Bedenken zu haben. [4] Judas aber, ein Gaulatiner, [. . .] der Saddok, einen Pharisäer, für sich gewann, verleitete zum Abfall (˜postÜsei), indem sie [Judas und Saddok] sagten, daß die Schätzung nichts anderes als gänzliche Knechtschaft mit sich bringe, und das Volk zum Beistand für die Freiheit aufriefen.“

Der Quellenauszug eignet sich als Ausgangsbasis zur Erörterung der Frage, unter welchen Bedingungen der Statthalter in Judäa sein Amt ausübte: zum einen, weil er einige wesentliche Punkte des Beziehungsrahmens statthalterlicher Strafgewaltspraxis andeutet; zum anderen, weil diese dann

23 Die folgenden Stellen werden nach der zwar nicht sehr eleganten, dafür aber – und dies ist hier wichtiger – weitgehend wörtlichen Übersetzung von Krieger (1994), S. 22 f. zitiert.

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

als eine erste Grundlage für die folgende Darstellung einiger umstrittener Punkte der Josephusforschung dienen können. 3. Die Statthalter in Judäa a) Die Kompetenzausstattung des Statthalters in Judäa In der wissenschaftlichen Diskussion zur statthalterlichen Strafgewaltskompetenz werden zumeist vier Teilaspekte miteinander verknüpft:24 der Status der Provinz,25 die jeweilige Titulatur der Statthalter,26 die Frage des Einspruchsrechts (provocatio/appellatio)27 für römische Bürger28 oder für Personen eines bestimmten Standes (honestiores/humiliores)29. Das Kern24 Mommsen (1955), S. 229–279; Madvig (1882), S. 105–134, 268–345; Karlowa (1885), S. 567–572; Volkmann (1935), S. 127–177; Horovitz (1938); Pflaum (1950), S. 117–125; Bleicken (1962), S. 166–188; Kunkel (1974a); Jones A. H. M. (1960), S. 69–97; Millar (1966); Liebs (1981); Garnsey (1966); ders. (1968); ders. (1970), S. 65–90; Horstkotte (1999). 25 Formal lassen sich folgende Provinztypen unterscheiden: zunächst solche Provinzen, die dem Senat oder aber solche, die dem Kaiser unterstanden. Hierbei unterscheidet man drei Ordnungen, je nach Status der Statthalter: konsularische Provinzen (senatorische und kaiserliche), prätorische Provinzen (senatorische wie kaiserliche) und prokuratorische Provinzen (nur kaiserliche). Die Statthalter senatorischen Ranges lassen sich also in solche zwischen gewesenen Prätoren (praetorii) und solche gewesener Konsuln (consulares) unterscheiden, wobei erstere zumeist in Provinzen ohne oder mit höchstens einer Legion als ständiger Garnsison, letztere mit mindestens zwei Legionen entsandt wurden. In der neueren Forschung wird nicht mehr davon ausgegangen, daß es sich um eine strikte hierarchische Trennung von Verwaltungsebenen gehandelt hat, vgl. z. B. Millar (1966), S. 165 f. Auch bedeutet es nicht, daß der Kaiser sich nicht in die Angelegenheiten der senatorischen Provinzen einmischte, wie gerade die Inschrift aus Kyrene bezeugt, vgl. die Literaturangaben oben in A. 124 in Abschnitt I. 4. Die Diskussion, in welchem Maße Kaiser Claudius 53 n. Chr. die Jurisdiktionskompetenz ritterlicher Prokuratoren ausgeweitet hat, rankt sich auch um Tac., Ann. 12,60, vgl. dazu Brunt (1966); Millar (1964); ders. (1965). Zu Inschriften, die bezeugen, daß sich der Kaiser (durch spezielle Edikte, mandata oder instructiones an die Statthalter) auch in die vom Senat verwalteten Provinzen einmischte, andererseits aber auch – wahrscheinlich nach dem Vorbild der kaiserlichen Provinzen – vermehrt Anfragen aus den senatorischen Provinzen an den Kaiser herangetragen wurden, vgl. auch Millar (1966); Garnsey (1968); Charbonnel (1979); Burton (1975); ders. (1976); Hackl (1997), S. 146. Eine prinzipiell anders geartete Ausübung der Strafgewalt ist nicht erkennbar. 26 Die Prokonsuln leiteten die Provinzen im Auftrag des Senats. Diejenigen, die als Stellvertreter des Kaisers einer Provinz vorstanden, trugen bei senatorischem Rang den Titel legatus Augusti pro praetore, waren sie ritterlichen Standes praeses, praefectus oder zumindest seit Kaiser Claudius procurator. Zur Titulatur in den ritterlichen Provinzen Hirschfeld (1889), S. 425 ff. 27 Vgl. Garnsey (1966); ders. (1970), S. 71–85; Jones, A. H. M. (1960), S. 53– 65; Lintott (1972); Millar (1966); Bleicken (1962), S. 171, 175–181; Schürer

3. Die Statthalter in Judäa

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problem besteht in der Frage, in welchem Zeitraum und in welchen Provinzen gegenüber welchen Personen der Provinzstatthalter die Kompetenz hatte, Todesurteile zu fällen,30 und welchen Einfluß der Rang bzw. Status des Verurteilten auf das Strafmaß hatte. Eine erneute ausführliche Diskussion zur Strafkompetenz erscheint mir nicht notwendig, wenn hierfür die oben erwähnten Kriterien (zumal der Provinztyp und der Status der Statthalter, aber auch die schärfere Trennung zwischen militärischer und ziviler Gewalt in der späteren Kaiserzeit) in unterschiedlicher Weise in Anschlag gebracht werden, um von dort aus auf die formelle Kompetenzausstattung der Statthalter zu schließen. Denn es gibt einfach keinen einzigen Hinweis, der auf eine andersgeartete faktische Strafkompetenz hindeuten würde.31 Im Ergebnis kann man festhalten: „Vom Standpunkt der Untertanen aus war ein ritterlicher Statthalter genauso der fast allmächtige Repräsentant Roms und des Kaisers wie ein Prokonsul oder kaiserlicher Legat.“32 Der oben angeführte Quellenauszug verdeutlicht, daß sowohl der syrische als auch der judäische Statthalter Mandatare des Kaisers waren. Von diesem eingesetzt, standen sie folglich Provinzen vor, die direkt dem Kaiser und nicht dem Senat unterstellt waren. Zwischen beiden Provinzen bestand aber der Unterschied, daß das Statthalteramt in Syrien mit einem Mann aus dem höchsten, senatorischen Rang besetzt wurde, der es in seiner vorangegangenen Karriere schon zu höchstem Ansehen und Einfluß gebracht hatte und nun als ehemaliger Konsul sein syrisches Regiment mit imperium sowie der Kommandogewalt über drei Legionen ausüben konnte; dagegen wurde das Amt in Judäa Männern ritterlichen Standes anvertraut,33 die lediglich über (1964), Bd. 1, S. 468; Sherwin-White (1981), S. 59–69; Volkmann (1935), 142 f.; Stern (1974), S. 338–340; vgl. a. Abschnitt I. 3. a). 28 Die Stellung des römischen Bürgers im provinzialen Strafprozeß wird besonders im Zusammenhang mit der neutestamentarischen Überlieferung über den Apostel Paulus vor den römischen Statthaltern Gallio, Felix und Festus diskutiert; vgl. dazu unten Kap. 7. 29 Vgl. Garnsey (1970) präzisiert durch Rilinger (1988). 30 Zu dem aufgrund von Joseph., BJ 2,117 häufig angeführten ius gladii vgl. neben Abschnitt I. 3. b) speziell zu den judäischen Statthalter u. a. Doerr (1908), S. 41 ff.; (1933), S. 310–312, 317; Gnilka (1988), S. 28, 31; Paulus (1985), S. 438 f.; Rosen (1988), S. 135, 139; Stern (1974), S. 340; Derrett (1982), S. 509; Ghiretti (1985), S. 765; Brown (1994), Bd. 1, S. 338; Goodman (1996), S. 751; Schürer (1964), Bd. 1, S. 466 ff.; Cadbury (1933), S. 310–312, 317. 31 Hierin übereinstimmend mit Eck (1995), S. 336 f. 32 Eck (1995), S. 340. 33 Zum Ritterstand und den von Rittern verwalteten Provinzen, vgl. Alföldy (1981); Brunt (1983); Flaig (1992), S. 94 ff.; Saller (1980); Pflaum (1960/1); Stein, A. (1927); Demougin (1988).

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

einige Auxiliareinheiten verfügen konnte. Von daher besaß der Statthalter in Judäa auch kein imperium wie der syrische Statthalter, sondern bekam als Äquivalent das ius gladii verliehen, um die volle Amtsgewalt ausüben zu können. Damit war der judäische Statthalter zur Ausübung des Kapitalstrafrechts befugt, was auch eindeutig nicht nur aus der zitierten Josephusstelle hervorgeht, sondern sich sowohl aus der von Josephus geschilderten Strafgewaltspraxis sämtlicher Statthalter als auch aus den neutestamentlichen Schriften ergibt.34 Auch die griechischen Bezeichnungen für die judäischen Statthalter ritterlichen Standes wechseln bei Josephus (™pßtropoò = procurator, æparxoò = praefectus, †gem„n = praeses),35 ohne daß dies eine Veränderung ihre Strafkompetenz implizieren würde.36

34 Belegt ist das ,Schwertrecht‘ auch für die Statthalter der kleineren Alpenprovinzen, vgl. ILS 1368; 9200. 35 Josephus bezeichnet Pilatus als epitropos (BJ 2,348.350) und verwendet diese Bezeichnung allgemein für die römischen Statthalter in Judäa, so für dessen Vorgänger Coponius (BJ 2,117) und die Nachfolger Cuspius Fadus, Tiberius Alexander (BJ 2,220), Ventidius Cumanus (AJ 20,132) und Felix (BJ 2,247). Er gebraucht die Bezeichnung eparchos für seine unmittelbaren Vorgänger (AJ 18,33) und die Nachfolger Festus und Albinus (AJ 20,193; BJ 6,303); vgl. für eparcheia z. B. Acts 25,2. Sowohl Josephus als auch das Neue Testament beschreiben Pilatus als hegemon von Judäa (AJ 18,55; Mt 17,2; Lk 20,20). Josephus gebraucht implizit auch epimeletes („Fürsorger“, Aufseher, Befehlshaber) für Pilatus (AJ 18,89) sowie prostates (Vorsteher) für Felix (AJ 20,137). Es erscheint mir von daher vergeblich, aus der Gemengelage von Bezeichnungen für die Statthalter ein hierarchisches Schema mit divergierenden Kompetenzausstattungen ableiten zu wollen. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. 36 Stern (1974), S. 751 f. allg. zu den judäischen Statthaltern: „All the chosen [governors] were of equestrian or lesser ranks; the province was too small to insult a senator with its rule, especially since no legions were stationed there. The title praefectus on an inscription set up by Pilate, governor c. A.D. 26 to 36, shows the earliest governors to have exercised military authority; the term procurator used after Claudius, and by Josephus in discussing also the earlier governors, reflects a change in terminology rather than function. All governors owed their position to the direct patronage of the emperor, to whom they also reported. All retained the military ius gladii.“ Zu der erwähnten Pilatusinschrift vgl. Volkmann (1968); Lémenon (1981), S. 23–32; Brown (1994), Bd. 1, S. 694 f. Von ihr ist folgendes erhalten: [Dis Augusti]s Tiberium / [-Po]ntius Pilatus / [praef]ectus Iuda[ea]e / [fecit, d]e[dicavit. Tacitus nennt Pilatus in Ann. 15,44,3 procurator. Vgl. auch Tac., Hist. 5,9,3: Claudius defunctis regibus aut ad modicum redactis Iudaeam provinciam equitibus Romanis aut libertis permisit. Das Neue Testament gebraucht weder eparchos noch epitropos für irgendeinen römischen Statthalter (nur Joh 19,38 verwendet epitrephein für Pilatus).

3. Die Statthalter in Judäa

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b) Exkurs: Die römischen Statthalter in Kontinuität zu König Herodes Zumeist wird die Provinzialisierung Judäas und damit die direkte Herrschaft Roms als einschneidender historischer Wendepunkt in der Geschichte dieser Region betrachtet. Angesichts der Diskussionen um den Status der Provinz und die formellen Kompetenzen der dort amtierenden Statthalter sowie hinsichtlich ihrer faktischen Machtausübung, soll im folgenden kurz herausgearbeitet werden, daß der eigentliche Kontinuitätsbruch wenn nicht rechtlich so doch de facto nicht mit der Provinzialisierung Judäas und dem Regiment der Statthalter einsetzte; vielmehr hatte er sich m. E. bereits unter dem Klientelkönigtum des Herodes37 vollzogen, von wo aus es nur noch ein kleiner Schritt zur direkten Herrschaftsausübung der Römer war. Bereits A. Schalit hat gezeigt, daß Herodes trotz des Königstitels keineswegs eine herausgehobene Stellung im Vergleich zu anderen Klientelfürsten und de iure keineswegs mehr Rechte als sein Vorgänger Hyrkanos hatte. Beide besaßen zumindest formal nicht einmal den Grad der Autonomie von civitates foederatae bzw. liberae et immunes, zumal kein foedus bestand. So hing das Königreich des Herodes „in Wahrheit nur vom guten Willen des Kaisers“ ab; „er hat es ihm persönlich, also theoretisch nur für seine Lebenszeit gegeben, und konnte es ihm jederzeit nach freiem Ermessen aus irgendeinem Grunde wieder entziehen.“ 38 Der Titel rex socius et amicus 37 Herodes, vgl. PIR2 (H) IV, Nr. 153, S. 83–86, wird nur in einer Quelle „der Große“ genannt, vgl. Joseph., AJ 18,130, was hier auch eher im Sinne von „der Ältere“ zu verstehen ist. Sein Vater war der einflußreiche idumäische Verwalter von Hyrkanos, dem Ethnarchen und Hohepriester. Beim Parthereinfall in Syrien und Judäa (41 v. Chr.) gelang Herodes die Flucht nach Rom. Im Jahr 40 v. Chr. wurde er von Marcus Antonius und Octavian dem Senat präsentiert, wo er mit dem Königstitel geehrt wurde (vgl. Joseph., AJ 14,388). Doch mußte er sich seine Anwartschaft auf den Thron in Judäa erst erkämpfen, was ihm unter Beihilfe von zwei römischen Legionen erst 37 v. Chr. gelang. Er verkörpert die Rolle des hellenistischen Klientelkönigs, der sich als Wohltäter griechischer Städte hervortat. Er galt als Römerfreund (philoromaios, vgl. OGIS 414), baute die zerstörte Stadt Samaria wieder auf, nannte sie bezeichnenderweise Sebaste (die griechische Bezeichnung für Augusta) und führte dort mit dem Bau eines Tempels den Kaiserkult für Augustus ein. Außerdem baute er unter Erweiterung die Hafenstadt Stratos Turm wieder auf und nannte die neue Stadt Cäsarea, wo er ebenfalls einen Tempel für Augustus errichtete. Ferner ließ er seine Untertanen den Loyalitätseid auf den Kaiser schwören. Einige seiner Söhne schickte er für längere Zeit an den kaiserlichen Hof. Vgl. Saddington (1994), S. 2421 f. 38 Schalit (2001), S. 158; vgl. auch Schäfer (1983), S. 101 f. Anders als bei den Hasmonäern wurde kein Bündnisvertrag geschlossen. Herodes’ Königtum war ad personam und auf Lebenszeit verliehen, wohingegen Cäsar Hyrkanos das Ethnarchenamt erblich zugestanden hatte. Nach Joseph., AJ 15,343; BJ 1,454 soll Herodes zwar die Bestimmung seiner Nachfolger eingeräumt worden sein, jedoch zeigen die

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

populi Romani war zwar eine außerordentliche Ehre, beinhaltete jedoch keine Erweiterung der Rechte. Dabei war König Herodes sogar schlechter gestellt als der Ethnarch Hyrkanos, dem immerhin von vornherein das Privileg eingeräumt worden war, sein Amt an seine Söhne zu vererben, was Herodes erst nachträglich zuerkannt wurde. Was die Eintreibung der Steuern für Rom betrifft, so war Antipater, der Vater des Herodes, von Julius Cäsar zum Prokurator39 ernannt worden; und „so war in Wirklichkeit auch Herodes der Prokurator des Augustus, nur daß dieser Prokurator den Königstitel trug“.40 Wenn von einer Sonderstellung des Herodes ausgegangen wird, so ist sie demnach nicht rechtlicher Natur, sondern entsprach vielmehr der „politischen Klugheit“ der Römer, lokalen Herrschern als Hüter der Ordnung und Schützer der Grenze auf bestimmten Gebieten freie Hand zu lassen, damit sie Rom militärisch entlasten konnten.41 Wie ähnlich sich die Funktion des Klientelkönigs und römischen Statthalters gestaltet, wird besonders bei näherer Betrachtung des „staatsrechtlichen Wendepunkts“ deutlich, der sich mit der Verleihung der Königskrone an Herodes im Jahr 40 v. Chr. einstellte.42 Sie bedeutete das Ende des einstigen Bündnisabkommens zwischen Judas Makkabäus und dem römischen Senat: „Solange dieses Bündnis bestanden hatte, war jede Verhandlung zwischen Rom und Judäa eine Auseinandersetzung zwischen dem römischen Volke (populus Romanus; ho demos ton Rhomaion) und dem jüdischen Volke (to ethnos ton Iudaion), oder zwischen dem Senat als dem Vertreter des römischen Volkes (senatus Romanus; he synkletos ton Rhomaion) und dem hasmonäischen Hohenpriester als dem Vertreter des jüdischen Volkes.“43 Wie ungleich auch immer die Macht in diesem Bündnis verteilt war, so mußte Hyrkanos als Ethnarch und Hohepriester des jüdischen Volkes aus staatsrechtlicher Sicht nichtsdestoweniger als Rechtspersönlichkeit und jüdiVerhandlungen um die Testamentsvollstreckung, daß sich hier Augustus ein Mitsprache- bzw. Bestätigungsrecht vorbehielt. Vgl. auch Bammel (1986) und Gabba (1999), S. 115 f., 135 f. Zur völkerrechtlichen Stellung der Klientelkönige, vgl. Kienast (1968) sowie allg. den Abschnitt „Vasallenstaaten“ bei Jacques/Scheid (1998), S. 214 ff. _ 39 Vgl. Joseph., AJ 14,143: ™pßtropon ažtÎn ˜podeßknusin t hò \Ioudaßaò; vgl. BJ 1,199. 40 Schalit (2001), S. 162. 41 Vgl. Schalit (2001), S. 164 f. 42 Herodes erhielt die Königswürde durch Senatsbeschluß bezeichnenderweise erst nach dem großen Parthereinfall 40 v. Chr. Während die Römer die im vorderen Orient verlorenen Gebiete zurückeroberten, mußte Herodes erst einmal den mit den Parthern verbündeten (letzten) Hasmonäerkönig Antigonos vertreiben. Dies gelang ihm erst 37 v. Chr. mit der vierzigtägigen Belagerung von Jerusalem mit Unterstützung des syrischen Statthalters Sosius. Augustus bestätigte den Senatsbeschluß für Herodes aus dem Jahre 40 v. Chr. nach der Schlacht bei Actium 31 v. Chr. 43 Schalit (2001), S. 224 mit Verweis auf 1 Makk 8,23; Joseph., AJ 14,214 f.

3. Die Statthalter in Judäa

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sche Herrschaftsinstitution betrachtet werden, dessen Machtstellung auf einheimischer, also jüdischer und nicht römischer Grundlage fußte. Innenpolitisch bedeutete die zugebilligte „Autonomie“ die Anerkennung der ,Gesetze der Väter‘, bei den Juden also der Gesetze der Thora, nach der sich die ausübende Körperschaft der Gerichtsbarkeit zu richten hatte.44 Dies änderte sich mit der Absetzung der Hasmonäer und der Aufhebung des Bündnisses. Wenn Herodes in einer von Antonius einberufenen Senatssitzung zum rex socius et amicus populi Romani ernannt wurde, so trat er dem jüdischen Volk als Bevollmächtigter des römischen Staates gegenüber, dessen Befugnisse „ihrem Wesen nach den Stempel eines mandatum, eines ihm von Rom erteilten Auftrages, mit allen sich aus diesem Umstand ergebenden Konsequenzen aufdrückte. Als Träger des an ihn ergangenen Auftrages war mithin Herodes keine eigenständige Rechtspersönlichkeit und konnte deshalb in seinen Verhandlungen nicht als Sprecher des jüdischen Volkes auftreten. Seine Tätigkeit war vielmehr die eines Sachwalters des römischen Staates gegenüber den Juden, deren Angelegenheiten dem Wunsch des Kaisers und den Interessen Roms gemäß geregelt werden sollten.“45 Gerade darin gleicht seine formale, aber auch faktische Stellung weit mehr derjenigen eines römischen Statthalters als derjenigen der Hasmonäer, was durch den Königstitel nur verschleiert wird.46 Damit ist jedoch noch nicht ausgesagt, daß die Thora als Rechtsordnung fortan keine Rolle mehr spielte; es bedeutet nur, daß diese nicht mehr aus sich selbst im Rahmen einer zugebilligten Autonomie, sondern allenfalls gemäß der Einwilligung bzw. Duldung von Seiten Roms Geltung beanspruchen konnte. Dies lief darauf hinaus, daß es dem Ermessen des Klientel44

Vgl. Schalit (2001), S. 224 f. Schalit (2001), S. 225 f. 46 Wenn Schalit dagegen den Unterschied zu römischen Magistraten in dem Sinne geltend macht, daß die lokalen Herrscher „nicht ganz und gar zu einem Beamten Roms herabgewürdigt“ wurden, so hat diese Aussage im Hinblick auf die „Ehre“ bzw. den „Stolz“ des Klientelkönigs sicherlich seine Berechtigung, jedoch bräuchte man angesichts des Herrschaftsstils des Herodes aus Sicht der Provinzialen darin keine Degradierung erkennen, zumal es evtl. – wie bereits im Rahmen der Testamentvollstreckung des Herodes deutlich wurde – durchaus Strömungen gegeben hat, lieber direkt von Rom als von den Erben des Herodes regiert zu werden. Letzteres kann auch mit religiösen Befindlichkeiten zusammenhängen, da für bestimmte Kreise (in Tradition der Pharisäer bzw. Assidäer) in Erwartung der Gottesherrschaft ein Königtum nur als messianisches denkbar war. Von ihnen wäre alles andere als Anmaßung und Frevel empfunden worden, so daß man gemäß der Lehre aufeinanderfolgender Weltreiche aus dem Buch Daniel lieber als Teil einer auswärtigen Großmacht denn von einem jüdischen König beherrscht zu werden wünschte. Vgl. dazu Schalit (2001), S. 531–562. Was diesbezüglich für die Zeit des hasmonäischen Königreiches mit Blick auf das Seleukidenreich galt, übertrug sich möglicherweise auf das idumäische Königtum des Herodes mit Blick auf das Römerreich. 45

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königs freigestellt war, wie er am besten seine Rechtsgewalt im Sinne Roms, d. h. unter Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sowie Steuerzahlungen, auszuüben gedachte.47 Bezeichnenderweise liquidierte Herodes neben den Mitgliedern des Hasmonäerhauses 37 v. Chr. auch das Synedrion als politische Körperschaft, so daß wichtige Rechtsgebiete allein in die Zuständigkeit des Königs fielen.48 Da der seit 141 v. Chr. auch als eine Art „Staatsrat“ fungierende oberste Gerichtshof tief im Volksbewußtsein verankert war und seine Abschaffung vom Volk als gefährliche Schwächung des Geltungsbereiches der ,Gesetze der Väter‘ empfunden worden wäre, ging Herodes dabei mehr indirekt vor: Er „mischte sich jeweils, wenn er es aus politischen, wirtschaftlichen oder staatsrechtlichen Gründen für angezeigt hielt, in die Rechtspflege des Synedrions ein“, um die Rechtsprechung an sich zu ziehen, insbesondere die Fälle der „peinlichen Gerichtsbarkeit“.49 Auch hier bietet sich m. E. eine Parallele in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen den römischen Statthaltern zum Synedrion, das bereits unter Herodes, zumindest in kapitalstrafrechtlichen und politisch brisanten Fällen entmachtet war. Bevor auf das Synedrion während der Zeit römischer Statthalter ausführlicher eingegangen wird,50 sei vorweg die Stellung der Statthalter selbst erörtert. c) Das Verhältnis zwischen judäischem und syrischem Statthalter Aus der oben ausführlicher zitierten Passage bei Josephus haben wir bereits erfahren, daß der syrische Statthalter Quirinius51 nach der Übernahme 47 Vgl. Schalit (2001), S. 227 f.; vgl. Schäfer (1983), S. 103: „Durch die Ernennung des Herodes zum König änderten sich die staatrechtlichen Grundlagen auch insofern, als nicht mehr die überlieferten ,Gesetze der Väter‘ die Basis der Rechtsordnung blieben, sondern die Gesetze des römischen Reiches: Die Torah als Rechtsgrundlage wurde durch das römische Rechtssystem ersetzt.“ Dies ist sicherlich zu scharf formuliert und betrifft allein die formale Seite des Staatsrechts; in der Praxis wird auf lokalem Niveau unter Juden die Thora und Halacha als Rechtsordnung ihre Geltung weiterhin behauptet haben, nur daß das jüdische Recht jetzt den Status eines stets wieder einschränkbaren Zugeständnisses an die Juden hatten, vgl. Müller (1988), S. 45. 48 Vgl. Schalit (2001), S. 229 f. einschließlich A. 295; Schäfer (1983), S. 103 f. Vgl. als Bsp. Joseph., AJ 16,1–5, dazu die Erörterung zum Strafrecht bei Schalit (2001), S. 230 ff. 49 Schalit (2001), S. 230; vgl. dazu die auch die anschließende Erörterung der Übernahme römischer und hellenistischer Rechtsmuster bis ebd. S. 257. 50 Vgl. dazu unten den Abschnitt IV. 4. 51 Zu P. Sulpicius Quirinius vgl. ILS 2683, hier zitiert nach Saddington (1994), S. 2417: Q. Aemilius Q. f. Pal. Secundus in castris diui Aug. sub. P. Silpicio Quirinio legato Caesaris Syriae honoribus decoratus praefect. cohort. Aug. I prefect. cohort. II classicae; idem iussu Quirini censum egi Apamenae ciuitatis [. . .]. Vgl. Lk

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der direkten Herrschaft durch die Römer vom Kaiser den Auftrag bekam, auf dem ehemaligen Herrschaftsgebiet des Archelaos den dort notwendig gewordenen Erstzensus52 durchzuführen und (möglicherweise als Sonderauftrag) das bei der Verbannung des Ethnarchen eingezogene Vermögen zu liquidieren, d. h. durch Verkauf oder Verpachtung dem kaiserlichen Fiskus nutzbar zu machen. Außerdem wurde dort erwähnt, daß zusammen mit dem syrischen der ritterliche Statthalter Coponius mit voller obrigkeitlicher Gewalt in die Provinz entsandt wurde. Wenn Judäa eine selbständige Provinz werden sollte und der dort amtierende Präfekt bzw. Prokurator eigene Vollmacht besaß, so muß der Zensus durch den syrischen Statthalter Quirinius als einmaliger Fall betrachtet werden: Die Römer verfügten in der neuen Provinz einfach noch nicht über einen eigenen Personalstab zur Zensuserhebung; zudem waren es die syrischen Statthalter noch aus der nicht lange zurückliegenden „herrschaftslosen Zeit“ zwischen dem Tod des Herodes und dem Regierungsantritt seiner Söhne gewohnt, für Ruhe und Ordnung in Judäa zu sorgen.53 Ein schwierigeres Problem stellt sich jedoch in der Interpretation des Widerspruchs, daß Judäa von Josephus einerseits als Teil (Annex bzw. „An2,2: Kyranios hegemoneuon tes Syrias. Quirinius gehörte wohl nicht zum römischen Patriziergeschlecht der Sulpicii, sondern stammte aus der kleinen italischen Stadt Lanuvius; vgl. dazu sowie zum Karriereweg Tac., Ann. 3,48,1–2. 52 Es kann hier nur darauf hingewiesen werden, daß sich aus dieser Josephusstelle über den Zensus das bis heute ungelöste Problem der Vereinbarkeit mit den Angaben des Neuen Testaments über Jesus’ (Christus) Geburtsdatum und den Selbstzeugnissen des Augustus ergibt. Vgl. Mt 2,1: Als Jesus zur_ Zeit des Königs _ u dÊ \Ihsou ennhqÝntoò ™n Herodes in_ Bethlehem in Judäa geboren war (To _ BhqlÝem t hò \Ioudaßaò ™n †mÝraiò ¢Hr Áþdou tou basilÝwò) in Verbindung mit Lk 2,1–2: In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum erstenmal; damals war _Quiri_ ™keßnaiò ™c hlqen nius Statthalter von Syrien (\EgÝneto dÊ ™n ta iò †mÝraiò _ dügma parJ Kaßsaroò Ažgoýstou ˜pogrܗesqai p asan tÌn oœkoumÝnhn. _ aÖth ˜pogra—Ì prþth ™gÝneto †gemoneýontoò t hò Surßaò Kurhnßou). Augustus berichtet in seinen res gestae, vgl. Mon. Anc. 8, von einem census populi jeweils 8 v. und 14 n. Chr. Vgl. dazu Braunert (1957); Smallwood (1970), S. 89 ff.; Sherwin-White (1963), S. 162–171; Rosen (1995). Vgl. dazu in der Josephusausgabe von Feldman (Havard, Bd. 433) Fn. a, S. 2 f. Publius Sulpicius Quirinius führte nach seinem Amt als Konsul (12 v. Chr.) eine erfolgreiche Expedition gegen die wilden Homanadenses in Kleinasien in der Nähe von Galatia durch, vgl. Tac., Ann. 3,48. In Lk 2,2 wird berichtet, daß Quirinius Syrien – als der Zensus stattfand – zu der Zeit regierte, als sich Joseph und Maria nach Bethlehem aufmachten. Lukas wurde angezweifelt mit der Annahme, daß Quirinius zu der Zeit der Homanadenserkriege mit größerer Wahrscheinlichkeit Statthalter von Galatia war. Jedenfalls taucht Quirinius in der Liste der Statthalter von Syrien vor der Zeit von Jesus Geburt nicht auf; bei Tert., Adv. Marc. 4,19 steht, daß die bei Lukas erwähnte Zensuserhebung unter Saturninus stattfand. 53 Vgl. Stenger (1988), S. 58 f.; Smallwood (1970), S. 88 f.

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hängsel“) der Provinz Syrien bezeichnet wird, die dem senatorischen Statthalter Quirinius unterstellt war, andererseits aber davon die Rede ist, daß der Kaiser für die neugeschaffene Provinz einen ritterlichen Statthalter – namentlich Coponius – mit voller obrigkeitlicher Gewalt ernannte, was auf seine Selbständigkeit hindeutet. Diese Widersprüchlichkeit ergibt sich jedoch vor allem dann, wenn man von vorgeblich formalen Kriterien eines statthalterlichen Provinzregiments auf dessen tatsächliche Herrschaftspraxis schließt. Geht man demgegenüber von den im Einleitungskapitel angeführten herrschaftspragmatischen Gesichtspunkten aus,54 so werden die gegensätzlich Aussagen möglicherweise verständlicher.55 Zunächst steht fest, daß dem judäischen Statthalter nur Auxiliartruppen zur Verfügung standen, welche sich abgesehen von einigen Römern zum Großteil aus der griechisch-syrischen Provinzialbevölkerung rekrutierten, so daß bei größeren Revolten der syrische Statthalter zur Hilfe kommen mußte.56 Judäa war zwar traditionell ein strategisch wichtiges Gebiet zwischen Syrien und Ägypten, jedoch von Klientelkönigtümern und von der Provinz Syrien so umringt, daß eigene Grenztruppen nicht erforderlich waren.57 Sodann ist noch zu erwägen, daß die syrischen Statthalter als herausragende Persönlichkeiten aus dem Senatorenstand so etwas wie eine Oberaufsicht über den gesamten Nahen Osten ausübten und dafür eventuell mit Spezialermächtigungen des Kaisers versehen waren, um in Notfällen auch nach freiem Ermessen in den Nachbarregionen einzugreifen; dessen ungeachtet konnte der Statthalter in Judäa unter gewöhnlichen Umständen sein Amt in seiner Provinz selbständig ausüben. Daß die Gewalt des syrischen 54

Vgl. oben Abschnitt I. 5. Sherwin-White (1963), S. 12, geht von folgenden Definitionsmerkmalen einer Provinz aus, die auch für Judäa zuträfen: „Basically the term provincia is relevant to a man, not a territory. When Judaea is administered by Augustus or his prefect, it is his provincia. The term that comes nearest to the modern idea of an administrative territorial province is forma provinciae stipendariae. Texts ranging from Caesar’s Commentaries to the Annals of Tacitus [vgl. Caes., B Gall. 2,1,3; 5,41,5; 7,77,14– 16; Vell. Pat. 2,37,5; 2,117,3 f., bes. 2,97,4; Tac., Ann. 11,18,3; 15,6,6] show that the decisive elements are three: permanent military occupation, regular taxation, and Roman supervision of public order, including jurisdiction and municipal government. By all these tests Judaea was a province.“ 56 Vgl. zu den römischen Truppen in Judäa unter den Statthaltern Speidel (1982/ 3); Isaac (1992), S. 427–435; Saddington (1996). Inschriften bei Gabba (1958), S. 87–89. Smallwood (1976), S. 144 f., hält Judäa für eine kleine, unwichtige Provinz, die aus strategischen Gesichtspunkten im Schatten Syriens gestanden habe, weil dem ritterlichen Statthalter Judäas gerade nur soviel Auxiliartruppen zur Verfügung gestanden hätten, wie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig gewesen sei. Im Normalfall sei Judäa eine unabhängige Verwaltungseinheit gewesen, jedoch unter der Oberaufsicht des syrischen Legaten. 57 Vgl. daher die überzeugende Umschreibung der Oberaufsichtsfunktion des syrischen Statthalters über den Nahen Osten von Kennedy (1996), S. 711. 55

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Statthalters soweit ging, den judäischen Statthalter zur Verantwortung ziehen zu können, kann bezweifelt werden, weil in den beiden überlieferten Fällen der betreffende Legat mit besonderer Vollmacht des Kaisers ausgestattet war.58 Schließlich sprechen auch die kulturellen Besonderheiten dafür, daß Judäa eine selbständige Provinz darstellte, in die der syrische Statthalter nur im Ausnahmefall intervenierte.59 Während die bisherigen Argumente die Mehrheit der Forschungsmeinung widerspiegelt, die von der prinzipiellen Selbständigkeit der Statthalterschaft in Judäa mit einigen Interventionsmöglichkeiten des syrischen Statthalters in Ausnahmesituationen ausgeht, gibt es auch Meinungen, welche den judäischen Statthalter formal als eine Art „Unterstatthalter“ unter der Autorität des syrischen Gouverneurs und dementsprechend auch nur als eine untergeordnete Verwaltungseinheit der Provinz Syrien betrachten. Diesbezüglich nahm ein Aufsatz von M. Ghiretti in der Interpretation des Verhältnisses zwischen dem syrischen und judäischen Statthalter lange eine Ausnahmestellung ein. Er ist der Ansicht, Judäa könne nicht als ritterliche Provinz betrachtet werden, sondern als ein der Provinz Syrien eingegliederter 58

Schürer (1964), Bd. 1, S. 465 f. Schürer verweist auf Tac., Ann. 6,32,3: cunctis quae apud orientem parabantur L. Vitellium praefecit; sowie für Ummidius Quadratus auf Tac., Ann. 12,54,4: Claudius [’i] ius statuendi etiam de procuratoribus dederat. Für Müller (1988), S. 52, bedeutet die Unterstellung Judäas an Syrien nicht, daß es im strengen Sinne nun zur Provinz Syrien gehörte, sondern nur, daß der Legat zu militärischer Hilfeleistung in Judäa verpflichtet war. Vgl. auch Momigliano (1967), S. 79 f.; Smallwood (1970), S. 88. Stern (1974), S. 313 f. deutet die bei Tacitus erwähnte Vollmacht an den syrischen Statthalter Vitellius als als eine vom Kaiser zugestandene ad-hoc-Autorität, die Vitellius zu einem „supreme inspector“ aller Länder im Osten gemacht habe. Denn an anderen Stellen bezeichne auch Tacitus Judäa als gut definierte Provinz (Tac., Ann. 2,42,5: provinciae Syria atque Iudaea; Tac., Hist. 5,9,3: Iudaeam provinciam); dessen ungeachtet galt der syrische Statthalter als „the most distinguished governor in the Roman Empire, holding the highest charge [. . .] as the supreme Commander of the Roman Orient.“ Folglich habe sein besonderer Rang die Stellung des judäischen Statthalters bei weitem überschattet, so daß Judäa als bloßes Anhängsel der syrischen Provinz gesehen werden konnte; aufgrund der Unabhängigkeit, die der judäische Statthalter in internen Angelegenheiten ausübte, könne aber nicht davon ausgegangen werden, daß Judäa in der julisch-claudischen Zeit verwaltungstechnisch ein Teil Syriens war oder der Statthalter in Judäa wirklich durchgehend den Anweisungen des syrischen Legaten unterstellt gewesen sei. Vgl. auch Brown (1994), Bd. 1, S. 336: „the interference of the legate of Syria was more de facto than de jure. It does not show that the governor in Judea lacked full imperium or political independence.“ 59 Stern (1974), S. 309, hebt auf die Singularität der jüdischen Bevölkerung hinsichtlich ihrer Religion und Geschichte ab, die sich stark von der syrischen Provinzbevölkerung in ihrer Gesamtheit unterschied: „This situation demanded a special attitude and the Roman rulers never ignored the problem and never made Judaea an integral part of Syria, though they altered the form of government in Judaea more than once.“

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und dem imperium des syrischen Statthalters unterworfener Militärverwaltungsbezirk, der eine gewisse Teilautonomie besaß. Der Präfekt in Judäa habe zumindest bis 44 n. Chr. den syrischen Legat repräsentiert; das ius gladii hätte er, um die Disziplin der Truppen und die Ordnung bei den peregrinen Untertanen aufrechtzuerhalten.60 Ghiretti vertritt bezüglich Judäa die These, daß es finanziell und juristisch als eine autonome Verwaltungseinheit innerhalb der Provinz Syrien betrachtet werden müsse, jedoch jurisdiktionell der Verwaltung Syriens angehörte.61 So folgert er, daß zumindest für den Zeitraum 6 n. Chr. bis zum Regierungsantritt von Kaiser Claudius Judäa eine praefectura innerhalb der Provinz Syriens darstellte, deren militärische Kontrolle einem Präfekt als Repräsentant des syrischen Legaten zugesprochen wurde.62 Die zuvor angeführten Forschungsmeinungen laufen faktisch auf ein ähnliches Verhältnis zwischen den beiden Provinzen und Statthaltern hinaus, nur daß Ghiretti dieses nun gleichsam verwaltungsrechtlich „bürokratisiert“. Seine Ansicht fand in einigen Ansätzen der jüngsten Forschung erneute Aufmerksamkeit und auch Bestätigung, wobei die Titulatur für den judäischen Statthalter im Wechsel vom praefectus zum procurator nicht nur als namentliche, sondern als substantielle Statusveränderung für die Provinz interpretiert wird. So argumentiert H. M. Cotton63 zunächst gegen die durch die Anwesenheit eines Präfekten in Judäa angenommene Strukturierung der Provinz nach dem ägyptischen Modell, da Ägypten in zu vielerlei Hinsicht eine Ausnahmestellung einnehme; vielmehr sei es richtiger, den judäischen Statthalter seinem Status nach den Präfekten über einzelne civitas und gentes anzugleichen, von denen man wisse, daß sie in Abhängigkeit vom jeweiligen Provinzstatthalter agierten und außerdem keinen autonomen Provinzen, sondern nur Teilen derselben unter speziellen Umständen vorstanden.64 So sei zu vermuten, daß diese anders als die unabhängigen Statthalter in Kapitalfällen nicht von sich aus volle Strafgerichtsbarkeit ausübten, sondern dazu einer speziellen Ermächtigung bedurften.65 Ferner sprächen auch Größenerwägungen gegen die Annahme einer selbständigen Pro60

Vgl. Ghiretti (1985), S. 764. Vgl. Ghiretti (1985), S. 762. 62 Vgl. Ghiretti (1985), S. 765 f. 63 Vgl. Cotton (1999), S. 76 ff. Vgl. a. Sartre (1991), S. 362; ders. (2001), S. 430; Gebhardt, A. (2002), S. 29 f. 64 Vgl. Cotton (1999), S. 77 mit Verweis auf CIL II 4616 = ILS 6948 (spanische praefecti); CIL II 3271 (praef. Gallicae); CIL V 5267 = ILS 2721 (praefectus coh. VII Luistanorum et nationum Gaetucilarum sex quae sunt in Numidia); CIL XIV 2954 = ILS 2684 (praef. Coh. Corsorum et civitatium Barbariae); CIL V1838/9 = ILS 1349 (primopilus leg. V Macedonic., praef. Civitatium Treballiae, praef. Civitatium in Alpibus Martimis); CIL IX 3044 = ILS 2689 (pra[ef(ectus)] Raetis Vindolicis valli[s P]oeninae et levis armatur(ae). 61

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vinz, da die Ethnarchie des Archelaos selbst im Vergleich zu der ansonsten kleinsten Provinz Cyprus noch zu klein sei, um eine selbständige Provinz darzustellen.66 Auch der bekannte Zensus im Jahre 6 n. Chr. resultiere aus einer zufälligen Koinzidenz mit dem zugleich in Syrien stattfindenden Zensus,67 wobei Josephus die Tatsache des Zensus und der Annexion Judäas miteinander verknüpfe, was angesichts seiner judäazentrierten Sichtweise eine verzerrte Perspektive im Sinne einer Inauguration einer neuen Provinz wiedergebe. Außerdem würde dies auch die Interventionen des syrischen Statthalters erklären, die nicht nur militärischer Natur waren und nicht allein aus Spezialermächtigungen des Kaisers erklärt werden könnten.68 Deshalb vertritt Cotton die These, daß Judäa erst im Jahr 44 n. Chr. zu einer unabhängigen Provinz geworden sei, nachdem das Königreich des Agrippa unter römische Herrschaft kam und dadurch die Provinz Judäa vergrößert wurde; schließlich seien auch erst nach dieser Maßnahme zumindest zwei judäische Statthalter bekannt (namentlich Tiberius Iulius Alexander und Lucceius Albinus), die zuvor prokuratorische Posten innegehabt hätten.69 Darauf aufbauend widmet sich W. Eck70 der Frage, ob epigraphische Funde diese Ansicht bestätigen könnten. Neben der bereits genannten Inschrift aus Cäsarea, wo der Statthalter Pilatus als praefectus bezeichnet wird und die Unterordnung des judäischen Statthalters unter den Syrischen allein schon aus dieser Funktionsbezeichnung hervorgehe, seien noch weitere Inschriftenfunde einschlägig: so der Fund einer Inschrift aus demselben geographischen Raum für einen römischen Ritter, der praefectus alae II Pannoniorum und wahrscheinlich zugleich praefectus der Dekapolis war, die einen Teil Syriens bildete.71 Ferner müsse eine außerhalb der Provinz Syriens aus Teate Marrucinorum stammende Inschrift berücksichtigt werden. Dergemäß hatte C. Herennius Capito, der zu dieser Zeit Finanzprokurator der kaiserlichen Domäne von Jamnia war, das Testament von M. Pulfennius zu vollstrecken, der als centurio legionis VI Ferratae dem Besatzungsheer Syriens angehörte. Auch dies zeige die enge Verbindung zwischen Syrien und einem Gebiet, das später der Provinz Judäa zugeordnet wurde.72 Schließlich gebe es noch eine südlich von Haifa gefundene 65 So seien auch die Aussagen des Josephus in AJ 18,2, vgl. BJ 2,117 zu Coponius zu verstehen. 66 Vgl. Cotton (1999), S. 78. 67 Abgesehen von der Erwähnung bei Josephus vgl. ILS 2683. 68 Mit Verweis auf Joseph., AJ 18,2; 17,355 gegen die oben genannte Argumentation bei Stern (1974). 69 Vgl. Cotton (1999), S. 79. 70 Vgl. Eck (1999), S. 245 ff. 71 Vgl. Eck (1999), S. 245, A. 36, mit Verweis auf IGR I 824 und der Interpretation von Isaac (1981).

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Grabinschrift, wo der von 46–48 n. Chr. amtierende Statthalter Tiberius Alexander als eparch[ou Iudaias] erwähnt sei, also mit einem Titel, der nach der erneuten Provinzialisierung der Region und dem Eingreifen des syrischen Statthalters im Jahr 44 n. Chr. der lateinischen Bezeichnung eines praefectus Iudaeae gleichkäme, was folglich für die Weiterführung des Zustandes wie zu Zeiten des Pilatus (und somit gegen die These von H.M. Cotton) sprechen würde.73 Dem widerspreche aber wiederum die Ergänzung der Inschrift,74 aus der dann hervorgehe, daß der um 52 n. Chr. amtierende Statthalter Felix tatsächlich als Prokurator und nicht als Präfekt in Judäa erwähnt sei. Dies würde für den unabhängigen Provinzstatus für diese Zeit sprechen, da der Titelwechsel einen Statuswechsel impliziere. Im Ergebnis bleibt Eck aufgrund der Widersprüchlichkeit der Ergebnisse vorsichtig, da die Inschriften bzw. ihre Ergänzungen keine unabhängige Beweiskraft hätten und man weiterhin auf einen beweiskräftigen Text – zumindest für die Zeit zwischen 44 und 66 n. Chr. – warten müsse.75 Zu den Ansätzen von Ghiretti, Cotton und Eck sei folgendes angemerkt: Daß die ägyptische Präfektur aufgrund ihrer Ausnahmestellung nicht als Modell für den judäischen Statthalter dienen kann, ist sicherlich richtig. Deswegen scheint mir aber die Heranziehung von anderen Ämtern, die mit dem Begriff praefectus umschrieben sind, angesichts ihres zumeist beschränkten Wirkungs- und Kompetenzbereichs keineswegs überzeugender. Was sich vielmehr zeigt, ist die ungeheure Spannbreite dieser Titulatur,76 die für sich allein über die Amtskompetenzen, den Status und die Herrschaftspraxis noch wenig aussagt. Außerdem kann nicht bestritten werden, daß sowohl der Statthalter von Syrien als auch von Judäa vom Prinzeps ernannt wurden und der judäische Statthalter folglich seine Amtgewalt 72 Vgl. Eck (1999), S. 245 f. Als Gründe, weshalb der Finanzprokurator als Testamentsvollstrecker des Centurio auftrat, gibt Eck an, daß beide wohl aus Teate Marrucinorum stammten und Pulfennius möglicherweise mit seiner Abteilung nach Jamnia abgeordnet wurde, um den Herennius Capito bei seiner Tätigkeit zu unterstützen, ein Vorgang, der damals nicht unüblich gewesen sei. 73 Vgl. Eck (1999), S. 246, mit Verweisen auf einschlägige Publikationen. 74 Gemeint ist die Ergänzung in Z. 7/8 nach Kokkinos (1990), die lautet: Tibe_ rßou Klaudßo[u Fhlikoò] /™pitrüpou Se[bastou Iudaßaò]. 75 Vgl. Eck (1999), S. 246. 76 Allein die Ämterlaufbahn des Tiberius Iulius Alexander vermag dies zu verdeutlichen, vgl. dazu unten Abschnitt V. 3. e). Vgl. auch die Auflistung der unterschiedlichen Ämter, die mit praefectus umschrieben sind bei Berger (1953), S. 642– 644, bei denen keiner auf die Idee käme, bereits auf Grundlage der Titulatur auf eine auch nur annähernd gleichartige Kompetenzausstattung zu schließen. Feldman (1999), S. 911, stellt aufgrund der inkonsistenten Statthaltertitulatur für Pilatus bei Josephus vor die Alternative: „Josephus’ fluidity in terminology generally indicates either that Pilate’s title changed in the course of his administration of Judaea or that the titles were not as rigid as most modern scholars believe.“

3. Die Statthalter in Judäa

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nicht vom syrischen Statthalter delegiert bekam, was auch nur in einer prokonsularischen Provinz möglich gewesen wäre. Ferner läßt sich feststellen, daß der syrische Statthalter sowohl vor als auch nach der Neustrukturierung der Provinz 44 n. Chr. in Judäa intervenierte,77 also unabhängig von einem vermeintlichen Statuswechsel und einer damit zusammenhängenden veränderten Titulatur vom praefectus zum procurator. Die Schlußfolgerungen allein von der Titulatur auf den Status und von da auf die Amtskompetenz besitzen m. E. wenig Aussagekraft (wie die Widersprüchlichkeiten gezeigt haben), wenn damit einhergehend nicht auch eine erkennbar veränderte Herrschaftspraxis aufgezeigt werden kann. Dies ist für die Provinz Judäa, abgesehen von territorialen Veränderungen, nicht möglich. Insgesamt scheinen deshalb bis zum Beweis des Gegenteils herrschaftspragmatische Gesichtspunkte am plausibelsten, um das Verhältnis zwischen dem judäischen und syrischen Statthalter zu erläutern. Daß es eine militärische Abhängigkeit des judäischen Statthalters von demjenigen in Syrien bei größeren Gefahrenpotentialen gab, läßt sich genauso wenig bezweifeln wie eine auch außermilitärische Interventionsbefugnis des syrischen Statthalters in Judäa. Ob deshalb Bezeichnungen wie „Unterstatthalter“, „Teilprovinz“ und insbesondere „teilautonomer Militärverwaltungsbezirk“ weiterhelfen, bleibt fraglich, wenn man bürokratische Hierarchiemuster für einen Anachronismus hält. Dem Verständnis scheint es zuträglicher, wenn man die längere Vorgeschichte des syropalästinensischen Raums berücksichtigt: zum einen, wie er spätestens seit Pompeius in verstärktem Maße unter römischen Einfluß gelangte und die Römer von Syrien aus in die hasmonäischen Thronstreitigkeiten Judäas intervenierten, somit also die Blickrichtung auf Judäa von Syrien aus bereits vorgeprägt war; zum anderen sollte aber auch die bereits dargelegte Rolle von Herodes dem Großen insofern berücksichtigt werden, als das von ihm als König regierte Gebiet, nachdem Jerusalem unter Mitwirkung des syrischen Statthalters erobert worden war, im nachhinein noch längere Zeit als ein herrschaftsstrategisch von Syrien abhängiges Gebiet betrachtet werden konnte.78 Daraus resultiert in gewissem Sinne der Mischcharakter, daß ein ritterlicher Statthalter in herrschaftspragmatischen Ausnahmesituationen mit einer gewünschten oder unerwünschten Intervention des syrischen Statthalters im senatorischen Rang zu rechnen hatte, ohne daß dies gegen den Status Judäas als Provinz sprechen würde.79 77

Vgl. ausführlich unten den Abschnitt V. 2. Vgl. schon Hirschfeld (1889), S. 442. 79 Demandt (1999), S. 36, meint, die Kompetenzverteilung werde nicht ganz deutlich und sei vermutlich ganz pragmatisch geregelt gewesen: „alle Aufgaben in Judäa, für die der Präfekt in Cäsarea zu schwach war, oblagen dem Legaten in Antiochia.“ Auch die anderen von Rittern regierten Provinzen um kleinere Länder wie 78

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Wenn sich schließlich auch in der neueren Forschung allmählich die Tendenz verstärkt, den älteren Konsens zum Provinzstatus einer Revision zu unterziehen und hierbei vor allem die Kriterien eines wohl definierten Territoriums und dafür einschlägiger Rechtsregelungen in ihrer Bedeutung stark relativiert werden,80 so reiht sich unser herrschaftspragmatische Ansatz in diese revisionistische Perspektive ein. Einerseits kann offen bleiben, welche genauen Implikationen es mit sich gebracht hätte, falls Judäa als Provinz exakt definiert gewesen wäre oder nicht, wenn andererseits für den hier entscheidenden Punkt eindeutig festgestellt werden kann, daß sich aus den flottierenden Titulaturen nichts ableiten läßt, was über eine damit einhergehende Veränderungen des Provinz- bzw. Statthalterstatus’ Auswirkungen auf die statthalterliche Strafgewaltspraxis in Judäa gehabt hätte. Wie sich die Beziehung der maßgeblichen Akteure in Syrien und Judäa speziell auf die Strafgewaltspraxis der judäischen Statthalter ausgewirkt hat, wird in einem eigenen Abschnitt noch eingehender untersucht werden.81 d) Exkurs: Der syrische Statthalter und Agrippa I. (41–44 n. Chr.) Neben interessanten Aufschlüssen zu den Grenzen klientelköniglicher Machtausübung können zwei Begebenheiten zwischen dem syrischen Legaten und dem Klientelkönig Agrippa I., der für kurze Zeit (41–44 n. Chr.) und erstmals wieder seit Herodes dem Großem in Judäa als König regierte,82 auch zum Verständnis des Verhältnisses zwischen syrischem und die beiden Mauretanien, Rätien, Noricum und Thrakien, seien wegen ihrer schwachen militärischen Besatzung vom Legaten der nächstgelegenen Provinz mit Legionen abhängig gewesen. Hirschfeld (1889), S. 440 f., geht hingegen davon aus, daß es sich in der Abhängigkeit Judäas von Syrien um einen Ausnahmefall handelt. Eine systematisch vergleichende Untersuchung wäre interessant, ist mir jedoch nicht bekannt, vgl. aber den Überblick zu den Interventionsmöglichkeiten von Statthaltern in Nachbarregionen seiner Provinz bei Lintott (1981), S. 54–58. Eine gute Vergleichsmöglichkeit, wenngleich auf schlechterer Quellenbasis, bietet das Verhältnis der drei afrikanischen Provinzen: So sind die beiden Provinzen Mauretania Caesariensis und Mauretania Tingitana wie Judäa im 1. Jh. aus einem hellenistisch beeinflußten Vasallenstaat entstanden und wurden von Prokuratoren aus dem Ritterstand verwaltet. Wie Judäa im Schatten Syriens stand, so standen die beiden Mauretaniae in dem der Provinz Africa proconsularis. Vgl. die Aufarbeitung des gesamten Quellenbestandes zu den afrikanischen Statthaltern bei Thomasson (1996). 80 Einen Überblick zur neuen Sichtweise verschafft Shatzman (1999), S. 50–58, die im Folgenden dann speziell für das Verhältnis zwischen Judäa, Syrien und Rom erläutert wird. 81 Vgl. Abschnitt V. 2. 82 Zu Iulius Agrippa I. vgl. PIR2 (I) IV, Nr. 131, S. 130–132; Schwarz, D. R. (1990); Saddington (1994), S. 2423; Gabba (1999), S. 141 f. Sein praenomen ist nicht überliefert (vermutet wird Marcus oder Gaius). Agrippa, ein Enkel von König Herodes, wurde zusammen mit dem späteren Kaiser Claudius in Rom erzogen. Er

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judäischen Statthalter herangezogen werden. Daran verdeutlicht sich die überragende Stellung des syrischen Statthalters, der über seine eigentliche Provinzgrenze hinaus den gesamten syropalästinensischen Raum beaufsichtigte. So verklagte der syrische Statthalter C. Vibius Marsus den König Agrippa beim Kaiser, weil dieser eine der Neustadt zugewandte Mauer im Stadtteil Bezetha in Jerusalem bauen bzw. verstärken ließ, so daß, „wäre sie vollendet worden, die Römer die Stadt vergeblich belagert hätten“.83 Aber nicht nur Baumaßnahmen stießen auf das Mißtrauen des syrischen Legaten. Besonders deutlich tritt dies in der Befürchtung zutage, der Klientelkönig könne eine den Römern gefährliche Machtgruppierung um sich scharen, als er Agrippa mit den Nachbarfürsten84 versammelt begegnete. Er forderte deshalb von Agrippa, die Versammlung aufzulösen. Josephus gibt die Begründung des syrischen Statthalters an, nämlich daß „er ein Einverständnis so vieler mächtiger Fürsten nicht im Interesse der Römer liegend erachtete“.85 hielt sich auch 41 n. Chr. in Rom auf, als Kaiser Gaius ermordet wurde. In dieser Situation konnte Agrippa in der zentralen Rolle des Vermittlers zwischen Claudius und dem Senat wegen der Nachfolgefrage auftreten, vgl. Joseph., AJ 19,236–273; BJ 2,178–181. Zur Belohnung wurde er mit dem Herrschaftsgebiet seines Großvaters und noch einigen anderen Besitzungen ausgestattet, vgl. AJ 19,274–277, die er bis zu seinem Tod regierte. Die Einsetzung als König wurde formell durch einen Bündnisvertrag begleitet, dessen Feier auf dem Forum durch einen Münzfund bezeugt ist, vgl. Joseph., BJ 19,275; Meshorer, Y.: The Jewish Coins of the Second Temple Period, 1967, Tel Aviv, S. 140, Nr. 93, hier nach Saddington (1994), S. 2423, A. 43. Nach Cass. Dio 40,8,2 f. erhielt er auch die ornamenta consularia, wonach er also sämtliche Würden eines römischen Consuls genießen konnte. Nach seinem Tod wurde das gesamte Herrschaftsgebiet – auch jene Gebiete, die Agrippa nach dem Tod seiner Brüder übertragen bekommen hatte – wieder römische Provinz unter dem Regime eines ritterlichen Statthalters. Zur Nachfolgefrage, vgl. AJ 19,360– 366. Eine interessante, wenn auch rein intuitive Deutung der Rolle Agrippas in seinem Verhältnis zu Kaiser Claudius findet sich bei Ranke Graves (2000), S. 232 ff., 255 ff., 279, 308 ff., 337 ff., 382 ff. 83 Joseph., BJ 2,218: †lßkon ën telesqÊn ˜nÞnuton ¢Rwmaßoiò ™poßhsen tÌn poliorkßan. In AJ 19,326 f. heißt es, daß Marsus über den Mauerbau Kaiser Claudius in einem Brief berichtet habe. Der Kaiser, der den Verdacht hatte, daß eine Revolte ausbrechen könnte, habe Agrippa in einem Brief eindringlichst aufgefordert, den Mauerbau zu unterlassen. Agrippa habe es für das beste gehalten, nicht ungehorsam zu sein. Zum syrischen Statthalter C. Vibius Marsus (42–44 n. Chr.) vgl. die prosopographischen Angaben bei Da˛browa (1998), S. 44–46. 84 Es handelt sich um Antiochus, König von Commagene; Sampsigeramus, König von Emesa, und Cotys, König von Kleinarmenien (Sohn des gleichnamigen Thrakerkönigs), sein Bruder Polemo, König von Pontus und der Bruder von Agrippa, der Chalkis regierte, vgl. Joseph., AJ 19,338. _ 85 Vgl. Joseph., AJ 19,340 f.: MÜrsÃw d' † toýtwn ‡münoia kaÍ mÝxri tosoude —ilßa prÎò ˜llÞlouò pwpteýqh sum—Ýrein ožx polambÜnonti ¢Rwmaßoiò

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Es ließen sich noch andere Fällen anführen, die verdeutlichen, wie stark der syrische Statthalter in die Angelegenheiten der Klientelfürsten der von ihm beaufsichtigten Region involviert war.86 Wieso sollte nun die politische und militärische Verantwortung des syrischen Statthalters über die von ihm regierte Provinz Syrien hinaus vor der Provinz Judäa haltmachen, wenn dort nicht mehr ein Klientelkönig herrschte, sondern ein römischer Statthalter aus dem ritterlichen Stand sein Amt ausübte? Sicherlich bestand dann nicht mehr das Problem, sich der Loyalität eines Klientelfürsten gegenüber Rom versichern zu müssen, doch die Kräfteverhältnisse zur Sicherung und Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb Judäas waren dadurch kaum verändert. Deshalb gehe ich, was das Verhältnis des syrischen Statthalters zu Judäa anbetrifft, davon aus, daß es seit König Herodes bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges weit eher durch Kontinuität gekennzeichnet war und der Wechsel von einem Klientelkönig zu einem Statthalter oder umgekehrt für die Aufgabe der Oberaufsicht des syrischen Legaten keinen allzu großen Bruch darstellte. e) Wer waren die Statthalter in Judäa? Wer waren nun aber die Statthalter in Judäa? Durch Josephus sind sie uns zumindest namentlich sowie hinsichtlich ihrer Amtszeit bekannt:87 Coponius (6–9 n. Chr.), M. Ambibulus (9–12 n. Chr.), Annius Rufius (12–15 _

dunastwn tosoýtwn sum—rünhsin. Eine eigenständige „Außenpolitik“ wollten die Römer sicherlich nicht dulden, die sich allein Rom vorbehielt. Dies bekam sogar der ansonsten so romhörige Klientelkönig Herodes zu spüren, als er ohne Rücksprache einen Feldzug gegen die Nabatäer vorbereitete; vgl. die Reaktion des Augustus 9 v. Chr. Joseph., AJ 16,290. 86 Vgl. hier nur Hinweise auf einige Fälle, die einigen Aufschluß über das Verhältnis zwischen dem syrischen Statthalter und dem Klientelfürsten des herodianischen Hauses geben: Joseph., AJ 19,300–310, in welcher der Klientelkönig Agrippa beim syrischen Legaten Petronius Beschwerde einlegt, weil auf dessen Gebiet in der Stadt Dora gegen das kaiserliche Gleichstellungsedikt von Claudius verstoßen worden sei, indem ein Grieche ein Kaiserbild in die Synagoge getragen hatte; AJ 18,150 ff., in der die Beziehung des syrischen Statthalters Flaccus zu den zerstrittenen Tetrarchen Agrippa und Aristobulos dargestellt wird; AJ 18,101 ff. zur Konkurrenz zwischen dem syrischen Statthalter Vitellius und dem Tetrarch Herodes in diplomatischer Mission im Auftrag des Kaisers; AJ 18,115 in bezug auf die militärische Hilfeleistung des syrischen Statthalters Vitellius für den Tetrarch Herodes im Auftrag von Kaiser Tiberius. 87 Aus Josephus kann man die folgenden Amtszeiten der Statthalter 6–66 n. Chr. ableiten. Die Jahresangaben sollten jedoch eher zur allgemeinen Orientierung dienen und nicht als genau fixierte Daten aufgefaßt werden. Zumindest der Amtswechsel von Felix zu Festus läßt sich wegen der Unstimmigkeiten zwischen Joseph., AJ 2,182 ff. und Tac., Ann. 13,2 u. 14 nicht sicher datieren, wird aber wahrscheinlich 59 oder 60 n. Chr. erfolgt sein, vgl. Becker (1992), S 503.

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n. Chr.), Valerius Gratus (15–26 n. Chr.), Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.). Der nach Pilatus’ Absetzung vom syrischen Statthalter eingesetzte Marcellus war wohl eher eine Art Interimsverwalter und kein Statthalter,88 weil dieser vom Kaiser ernannt werden mußte. Kaiser Gaius schickte dann Murullus89 (37–41 n. Chr.); mehr erfahren wir bei Josephus über beide nicht. Darauf folgte die Regierung des Klientelkönigs Agrippa I. (41–44 n. Chr.), bis nach dessen Tod Judäa wieder römischen Statthaltern unterstellt wurde: Fadus (44–46 n. Chr.), Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.), Ventidius Cumanus (48–52 n. Chr.), Felix (52–59/60 n. Chr.), Festus (59/60–62 n. Chr.), Albinus (62–64 n. Chr.) sowie anschließend Gessius Florus. Die Amtszeiten der kaiserlichen Statthalter in Judäa betrug durchschnittlich wohl etwa drei Jahre. Auffällig lange, nämlich jeweils ein gutes Jahrzehnt, dauerten dagegen die beiden Statthalterschaften von Gratus und Pilatus. Dies kann mit dem eigenwilligen Amtsverständnis des Kaisers Tiberius für seine Stellvertreter in den Provinzen erklärt werden. Abgesehen von seiner Charaktereigenschaft der Zögerlichkeit, einmal gefaßte Entscheidungen abzuändern, vertrat Tiberius anscheinend die Auffassung, daß lange Amtszeiten die Habsucht zügeln würden. So ließ er die Statthalter im Interesse der Provinz möglichst lange auf ihrem Posten, weil sie es machen würden, wie die Fliegen am Körper eines Verwundeten: wenn sie sich einmal vollgesogen hätten, seien sie dann mäßiger in ihren Erpressungen, während die Neuen damit immer wieder von vorne anfingen.90 Die ebenfalls längere Amtszeit des Felix erklärt sich wohl eher aus den guten Beziehungen zum kaiserlichen Hof und zur herodianischen Dynastie (dazu gleich mehr weiter unten). Über ihre Herkunft, weitere Karriere und sonstige Beziehungen der Statthalter in Judäa ist wenig überliefert.91 Pontius Pilatus könnte ein Instrument der antijüdischen Politik des Sejanus gewesen sein, jenes Prätorianerpräfekten, der bis zu seiner aufgedeckten Verschwörung die rechte Hand von Kaiser Tiberius war.92 Eine Besonderheit ist das Münzwesen unter Pilatus, 88

Hirschfeld (1889), S. 440, spricht von der Einsetzung eines „provisorischen Verwalters“. 89 Joseph., AJ 18,237. 90 Vgl. dazu die aufschlußreiche Passage über die Auffassung des Tiberius zur Amtsführung der Statthalter in Joseph., AJ 18,172–178; außerdem Tac., Ann. 1,80, die jedoch partiell im Hinblick auf die Anerkennung von Leistungen Ann. 4,6,2 widerspricht; Cass. Dio 52,23 deutet eine durchnittliche Amtzeit von 3–5 Jahren an; zu den längeren Amtszeiten unter Tiberius vgl. auch Cass. Dio 57,24 f.; Suet. Tib. 41. Vgl. allg. zur Provinzialpolitik des Tiberius Alföldy (1966), der vor allem eine Relativierung der Eloge von Vell. Pat. 2,126 vornimmt. 91 Die folgenden Informationen entstammen, wenn kein anderer Hinweis angegeben ist, aus Stern (1974), S. 317 ff. Vgl. zu den Statthaltern Pilatus, Felix und Festus auch die Kapitel zu Jesus und Paulus.

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weil in seiner Zeit heidnische Symbole (simpulum und litus) in der Prägung verwendet wurden, was andere Statthalter wohl aus Rücksicht vor dem Judentum vermieden.93 Außerdem ist überliefert, daß das Verhältnis zwischen Pilatus und Herodes Antipas zeitweise recht gespannt war.94 Claudius ernannte 46 n. Chr. den apostaten Juden Tiberius Iulius Alexander95, der ein Neffe Philos war und einer der führenden jüdischen Familien Alexandrias entstammte.96 Bei ihm handelt es sich um den ersten Juden überhaupt, der eine Spitzenposition in der römischen Verwaltung erreicht hat. Vielleicht stand dahinter die Absicht, den Juden über den erneuten Verlust ihrer Autonomie 44 n. Chr. hinwegzuhelfen, was dann aber wenig Wirkung gezeigt hätte. Bevor er nach Judäa versetzt wurde, diente er als Prokurator (™pistratÞgoò) im südägyptischen Thebais.97 Die Statthalterschaft in Judäa war ein Sprungbrett für seinen weiteren Karriereweg, denn seit 66 n. Chr. ist er als Präfekt in Ägypten bekannt.98 In den 70er Jahren war er Prätorianerpräfekt und folglich ein mächtiger Mann in Rom. Auch Lucceius 92 Vgl. zu Pontius Pilatus auch PIR2 (P) VI, Nr. 815, S. 348–350. Die Judenfeindschaft des Sejan geht aus Philo, Leg. 159 ff., In Flacc. 1 hervor. Noch schlechter als bei Josephus kommt Pilatus bei Philo, Leg. 302 weg, der ihm „Bestechlichkeit, Gewalttätigkeiten, Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, willkürliche Hinrichtungen sowie endlose und schreckliche Roheit“ vorwirft (tJò dwrodokßaò, tJò Öbreiò, tJò ˆrpagÜò, tJò aœkßaò, tJò ™phreßaò, toÏò ˜krßtouò kaÍ ™pallÞlouò —ünouò, tÌn ˜nÞnuton kaÍ ˜rgalewtÜthn Ÿmüthta diecelqünteò). Ausführlich zu Pontius Pilatus Peter (1907), S. 6 ff.; McGing (1986); Lémenon (1992). Maier, P. L. (1969), S. 120 f., faßt die unterschiedlichen Pilatusbilder der Quellen folgendermaßen zusammen: „Therefore with Josephus recording Pilat’s humanity as well as his blunders, and the New Testament casting him virtually as Jesus’ lawyer for the defense before capitulation to popular pressure, a more balanced portrait of Pontius Pilatus is possible, even against a background of such hostile reporting as that provided in the Embassy and its account of the strange episode of the golden Roman shields.“ Demandt (1999), S. 92, meint ohne Begründung, daß die Judenfeindschaft Sejans keinen Glauben verdient. Vgl. dagegen Peter (1907), S. 2, 6; Smallwood (1956), S. 322 ff.; Doyle (1965), S. 191 f., Stern (1974a), S. 349; Grant (1973), S. 99. Vgl. zum Pilatusbild auch unten die A. 110 in diesem Abschnitt und A. 113 in Abschnitt VI. 3. c). 93 Vgl. Stern (1974), S. 350. 94 Vgl. Lk 23,12. 95 Vgl. PIR2 (I) IV, Nr. 139, S. 135–137. 96 Tac., Hist. 1,11 und Juv. 1,130 sahen in ihm einen Aegyptius. 97 Vgl. Pflaum (1960/1), S. 1165. 98 Vgl. Turner (1954); Peter (1907), S. 3, beschreibt Tiberius Iulius Alexander als einen lebensklugen, hochgebildeten römischen Ritter, „der später dem Domitius Corbulo auf seinem orientalischen Feldzug als minister bello beigegeben worden ist, als Präfekt in Ägypten bei der Thronbesteigung des Vespasian eine große Rolle gespielt und an der Spitze des Generalstabs Titus bei der Eroberung Jerusalems zur Seite gestanden hat“. Während seiner Prokuratur habe er „ohne Schonung seiner früheren Glaubensgenossen [. . .] allein das römische Interesse im Auge“ gehabt.

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Albinus war vor seiner Zeit in Judäa wahrscheinlich mit Aufgaben in Ägypten betraut gewesen; später finden wir ihn als Prokurator der Mauretania Caesariensis.99 Antonius Felix100 war ein Freigelassener und Bruder des einflußreichen Pallas, der dem Kaiser als Aufseher über die Finanzen diente (de rationibus). Letzterem und dem Hohepriester Jonathan, Sohn des Ananos, verdankte er seine Ernennung zum judäischen Statthalter, wobei unsicher ist, ob er zuvor in den Ritterstand erhoben worden war. Er heiratete Drusilla, die Tochter Agrippa I. sowie Schwester Agrippa II. und Berenikes, die dafür ihren früheren Ehemann Azizus (Herrscher von Emese) aufgab.101 Er wird sowohl von Tacitus als auch von Josephus gering geschätzt.102 Im Jahr 54 n. Chr. übergab ihm im der neue Kaiser Nero einen Teil des nördlichen Galiläa mit Tiberias und Tarichaeae sowie die Toparchie von Julias in Paräa.103 Von Gessius Florus, der sich nach Josephus wie ein Tyrann aufführte, sind keinerlei Beziehungen zur herodianischen Dynastie überliefert.104 Er kam wohl aus Clazomenae im westlichen Kleinasien, worin ein Grund für seine Sympathien für den griechischen Bevölkerungsteil bei ihren Konflikten mit den Juden gefunden werden könnte. Er verdankte seine Stellung der Freundschaft seiner Frau Cleopatra mit der Kaisergattin Poppaea Sabina.105 Viel mehr ist über die persönlichen Verhältnisse der judäischen Statthalter nicht bekannt. Allesamt entstammten sie wohl der zweiten oder dritten Reihe der römischen Führungsschicht und auch innerhalb der Ritterschaft waren sie offenbar soziale Aufsteiger aus der Schicht der Freigelassenen Vgl. Tac., Hist. 2,58 f; PIR2 (L) V, Nr. 354, S. 94. Vgl. PIR2 (A) I, Nr. 828, S. 157 f. Zum vollständigen Namen und prosopographischen Hinweisen vgl. Bruce (1978). Vgl. Tac., Ann. 12,54; Hist. 5,9; Suet. Claud. 28,1; vgl. auch Millar (1964), S. 182; Hirschfeld (1889), S. 423; Kokkinos (1990); von den Inschriften CIL V 34 und CIL VI 1984 sei der Bezug auf den besagten Felix nicht zu erweisen. 101 Vgl. Joseph., AJ 20,141–143; Acts 24,24.; Tac., Hist. 5,9,3. Es darf daran gezweifelt werden, daß die Heirat des Felix mit Drusilla angesichts der skandalösen Umstände und des Verstoßes gegen das jüdische Gesetz die Stellung des Statthalters in der Provinz gefestigt hat, wie gelegentlich in der Forschung behauptet wird, vgl. z. B. Stern (1974), S. 365. 102 Vgl. Joseph., AJ 20,182; Tac., Ann. 12,54. In Tac., Hist. 5,9,3, wird Felix als „eine rechte Sklavenseele“ bezeichnet, „die königliche Machtbefugnisse mit aller Grausamkeit und Willkür ausübte“ (e quibus Antonius Felix per omnem servitiam ac libidinem ius regium servili exercuit). 103 Vgl. Joseph., BJ 2,247.252; AJ 20,137–159. 104 Agrippa II. und Berenike finden wir im Gefolge des Prokurators Felix, vgl. Lk 23,12; Acts 25,13–27; 26,1–32; siehe unten Abschnitt VII. 2. b). 105 Vgl. Joseph., AJ 20,252; PIR2 (G) IV, S. 32. 99

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oder aus der Munizipalaristokratie des östlichen Reichsteils. Allein für Tiberius Alexander kann vermutet werden, daß das Kriterium der besonderen Eignung für den Posten in Judäa eine Rolle gespielt haben könnte. Wir hätten gerne mehr gewußt über die Art und Weise ihrer Ernennung durch den Kaiser, über ihre militärische und kulturelle Vorbildung und Ausbildung, über ihre Möglichkeiten, sich Spezialwissen und Informationen über die Provinz anzueignen, über ihre Kommunikation mit dem politischen Zentrum Rom, über ihre Hofhaltung am provinzialen Regierungssitz und den persönlichen Beraterstab sowie das sonstige Personal, das bei ihren Amtsgeschäften half. Zu all diesen Fragen ist uns bei Josephus nichts in der Weise überliefert, daß wir uns ein umfassendes Bild über den Alltag statthalterlicher Amtsführung in Judäa machen könnten.106 Wir wissen nur, daß sie – möglicherweise, um die Gefühle der Juden zu schonen – nicht in Jerusalem, sondern in Cäsarea residierten.107 An Festtagen wurde wohl regelmäßig eine Kohorte Soldaten nach Jerusalem verlegt, da dann die Gefahr von Ausschreitungen besonders groß war. Auf die Tatsache, daß den Statthaltern keine Legionen, sondern nur Hilfstruppen zur Verfügung standen, wurde schon hingewiesen. Die Hilfstruppen rekrutierten sich zum Großteil aus nichtjüdischen Provinzialen, was vor allem bei den Sebastianern zu Spannungen mit den Juden führen konnte. Ich werde darauf zurückkommen. Von einer Bereisung der Provinz zu Gerichtszwecken durch den Statthalter ist bei Josephus nichts überliefert. Er schildert nur, wie sich die Juden entweder von Jerusalem nach Cäsarea aufmachten, um dem Statthalter dort ihre Klagen vorzubringen, oder sich umgekehrt der Statthalter, wenn es notwendig schien, von Cäsarea nach Jerusalem begab. Generell können wir nicht davon ausgehen, daß die Statthalter – abgesehen vielleicht von dem Apostaten Alexander – über die Verhältnisse in Judäa umfangreich informiert waren. Aufgrund der Variabilität im territorialen Einsatz und der Verwendungsmöglichkeit für sehr unterschiedliche Funktionen kann die Spezialisierung und spezifische Ausrichtung für spätere Aufgaben nicht sehr groß gewesen sein. Wahrscheinlich wurde von ihnen eine hinreichend durchschnittliche Befähigung zur Wahrnehmung diverser militärischer und administrativer Aufgaben in allen Teilen des Reiches erwartet.108 Zudem waren die Kriterien des Kaisers bei der Ernennung 106 Für die republikanische Zeit hat Schulz, R. (1997) sich diesen Fragen gewidmet. Zum einzigen Hinweis auf ein consilium bei Josephus vgl. Fall (9) in Abschnitt V. 3. a). 107 Vgl. dazu Haensch (1997), S. 227 ff. 108 Vgl. Eck (1995), S. 330 f.; Flaig (1992), S. 98 f.; Brunt (1983), 47 ff.; speziell in bezug auf die equites vgl. Brunt (1975), S. 141; in bezug auf die Senatoren Campbell (1975), S. 28–31; speziell für die Zeit des jüngeren Plinius Talbert (1980), S. 419 f.

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eines ritterlichen Statthalters kaum objektiver Natur im Sinne von Fachkenntnissen oder besonderen Fähigkeiten, vielmehr entsprach der Selektionsmechanismus der Form der Patronage.109 Sicherlich konnten die Statthalter schon vor ihrer Amtszeit in Judäa etwas von der jüdischen Religion gehört haben sowie über besondere Schwierigkeiten, die sich daraus für die Statthalterschaft ergaben; vielleicht hatten sie auch gewisse Vorurteile gegenüber den Juden und waren aufgrund von Berichten ihrer Amtsvorgänger oder sonstiger Mittelsleute – z. B. von aus Palästina stammenden Griechen, die in Rom verkehrten – voreingenommen. Allgemein ist davon auszugehen, daß sie nicht selten einfach nur froh waren, endlich auf einem Posten zu sein, aus dem sich (wie bei jeder Statthalterschaft, wenngleich in Judäa im Vergleich zu anderen Provinzen in recht bescheidenem Maße) auch materieller Gewinn erzielen ließ. In der Literatur sind über die Einstellung einzelner Statthalter gegenüber dem Judentum – am meisten natürlich für Pilatus110 – so viele Mutmaßungen angestellt worden, daß ich hier nicht noch weitere hinzufügen möchte. Wenn im folgenden holzschnittartig einige spezielle Merkmale der Provinzialstruktur Judäas abgehandelt werden, sollte man jedenfalls nicht davon ausgehen, daß dem Stellvertreter Roms von vornherein bewußt gewesen wäre, was ihn erwartete. Vielmehr ist zu vermuten, daß er sich mit aus seiner Perspektive vermutlich nur schwer durchschaubaren Verhältnissen konfrontiert sah. Wahrscheinlich wurden tiefgehende Kenntnisse auch gar nicht erwartet, da ein solcher Mangel zum einen (auch ad hoc) durch Berater kompensiert werden konnte, zum anderen der Umgang mit der schmalen Provinzialelite wohl den wesentlichen Bestandteil seines Regiments ausmachte. Um so wichtiger war deshalb – wie auch Josephus bezüglich des Widerstandes gegenüber der römischen Zensuserhebung schon andeutet – die Rolle einer Vermittlungsfunktion zwischen römischer Herrschaft und jüdischen Untertanen durch bestimmte Provinzialeliten oder privilegierte Gruppen.111 109

Vgl. Saller (1980); ders. (1982), 83 ff. Es wäre eine eigene Arbeit wert, einmal die verschiedenen Pilatusbilder der Literatur zusammenzustellen. Entweder ist er der durchaus fähige Statthalter, der es immerhin schaffte, sich 10 Jahre auf seinem Posten zu halten und schon allein deshalb nicht so schlecht sein konnte, oder er ist der brutale Rüpel, als den ihn Josephus und besonders Philo charakterisieren. Als älteres Beispiel eines Kommentars zu Pilatus und den Statthaltern vgl. Meyer (o. A.), Bd. 1, S. 82. Vgl. a. oben A. 92 in diesem Abschnitt sowie unten A. 113 in Abschnitt VI. 3. c). 111 Goodman (1987), S. 35: „Romans always tended to see other cultures in their own terms, and this ethnographic illiteracy [. . .] had acted more often than not to their advantage. [. . .] The Romans therefore expected to find in each province a clearly defined aristocracy which like their own, would be in control of war, law, 110

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4. Hohepriester und Synedrion Diese Vermittlungsfunktion kam insbesondere den Hohepriestern zu, wobei in dem hier behandelten Zeitraum vor allem die altsadduzäische Priesterfamilie des Hannas/Ananos große Bedeutung hatte, aus der allein acht Hohepriester hervorgegangen sind; schon aufgrund seiner langen Amtszeit 18–37 n. Chr. ist sein Schwiegersohn Kaiphas hervorzuheben.112 Josephus beendet seinen Abriß der Geschichte des Hohepriestertums in den ,Jüdischen Altertümern‘ damit, daß die Verfassung Judäas nach dem Tod König Herodes’ und seines Sohnes Archelaos eine Aristokratie mit Hohepriestern an der Spitze gewesen sei.113 Wie problematisch hier der Begriff „Aristokratie“ – zumal in Abgrenzung zum anderweitig gebrauchten Terminus „Theokratie“ – auch ist,114 so läßt er sich wenigstens dahingehend verstehen, daß die Hohepriester auch nach der Umwandlung Judäas in eine römische Provinz weiterhin wichtige Funktionen ausübten und durch ihre Kollaboration mit den Statthaltern eine maßgebliche Stütze der römischen Herrschaft darstellten.115 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Hohepriester bis 41 n. Chr. von den judäischen Statthaltern ernannt wurden,116 wobei unter speziellen Umständen der syrische Statthalter auch hier Maßnahmen über den Kopf des judäischen Statthalters hinweg vornehmen konnte.117 Hatten die Hohereligion and politics, and membership of which would be confined to the landed rich.“ Vgl. dazu unten Abschnitt I. 5. 112 Vgl. Strobel (1980), S. 1 f.; Jeremias (1963), S. 219 ff.; ausführlich zu den Hohepriestern unter römischer Herrschaft vgl. Smallwood (1962); Horsley (1986a). 113 Zur Geschichte der Hohepriester vgl. Joseph., AJ 20,224–251. AJ 20,251: _ _ ¢Hrþdou basileýontoò kaÍ ™pÍ \ArxelÜou tou paidÎò ažtou, metJ dÊ tÌn_ _ toýtwn teleutÌn _˜ristokratßa mÊn šn † politeßa, tÌn dÊ prostasßan tou æqnouò o ˜rxiere iò ™pepßsteunto. 114 Vgl. z. B. Joseph., Ap 2,165; zur Diskussion der Terminologie vgl. Mason, S. (2000), S. 109 ff. Sicherlich handelt es bei Josephus’ Beschreibung der „Priesteraristokratie“ auch um eine bewußte Analogiebildung zu römischen Verhältnissen in Anpassung an die Leserschaft, konnte so der Hohepriester z. B. mit dem pontifex maximus verglichen werden, während die Theokratie eher eine befremdliche Vorstellung gewesen wäre. 115 Zu den vier maßgeblichen Familien, die die Hohepriester 6–66 n. Chr. stellten (Boethus, Ananos, Phiabi, Camithus), vgl. Smallwood (1962); dies. (1970), S. 90 f.; Horsley (1986a), S. 31, 34. Rosen (1991), S. 44. 116 Zu den zahlreichen Ernennungen und Absetzungen von Hohepriestern des Statthalters Valerius Gratus (16–26 n. Chr.) vgl. Joseph., AJ 18,34 f. 117 Vgl. dazu Joseph., BJ 2,243; AJ 20,231 bzw. unten Fall (17); zur Rolle des syrischen Statthalters bei der Kontrolle des Priesterornats vgl. unten Fall (19). Zur Absetzung des Kaiphas durch Vitellius im Kontext der Überstellung des Pilatus nach Rom vgl. Joseph., AJ 18,88–90. bzw. unten Fall (16).

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priester in ihrer historischen Tradition die religiöse Funktion des „entscheidenden Vermittlers zwischen Gott und dem Volk inne“118, so kommt ihnen mit der Ernennung durch die römischen Statthalter auch die politische Funktion zu, zwischen römischer Herrschaft und jüdischer Bevökerung zu vermitteln. Mit der kurzen Herrschaft Agrippas I. (41–44 n. Chr.) wurde dem jüdischen Klientelkönig (wohl in der Tradition Herodes des Großen) das Ernennungsrecht von Rom zugestanden und blieb auch nach der abermaligen Unterstellung Judäas unter das Regiment römischer Statthalter einem romtreuen Klientelkönig der herodianischen Dynastie aus der Nachbarregion erhalten.119 Die Titulatur ,Hohepriester‘ kann sich dabei auf den gerade amtierenden Hohepriester beziehen oder auf ehemalige Amtsinhaber. Im Gebrauch des Plurals (hoi archiereis) ist der amtierende Hohepriester zusammen mit seinen noch lebenden Amtsvorgängern gemeint, möglicherweise auch allgemein das Kollektiv prominenter Priester, die nicht unbedingt Hohepriester gewesen sein mußten, jedoch hochpriesterlichen Familien angehörten und als „Hüter des Gesetzes“ betrachtet wurden.120 Was ihre Stellung anbetrifft, so läßt sich feststellen,121 daß sie sowohl für die Vermittlungsfunktion zur römischen Herrschaft als auch für rein innerjüdische Angelegenheiten belegt sind; hierbei scheinen sie nicht auf Gruppenunterstützung angewiesen zu sein, sondern konnten aus „eigenem Recht“ und Selbstverständnis agieren. Ferner wird deutlich, daß ihre Autorität nicht auf einem „Amtscharisma“ beruhte, sondern individuelle Eigenschaften eine große Rolle spiel118 Vgl. Mason, S. (2000), S. 190 f., mit Verweis darauf, daß den Hohepriestern als einzigen einmal im Jahr der Zutritt zum Allerheiligsten im Tempel gestattet war (Ex 29,44; Lev 16,2–5). Als oberster aller Priester war er damit beauftragt, das Volk vor Gott zu repräsentieren, indem er das gesamte Opferwesen überwachte und die Verbreitung und Beachtung der göttlichen Lehre sicherstellte (Lev 10,8–11). Entgegen der jüdischen Tradition, nach welcher der Hohepriester eigentlich Lebenslang amtierte (Num 35,25; 4 Makk 4,1), wurde er bereits zur Zeit des Selukidenkönigs Antiochus IV. abgesetzt und ernannt (175–164 v. Chr.); gleiches trifft für die Herrschaft Herodes des Großen (37–4 v. Chr.) zu; vgl. dazu ausführlicher Brown (1994), Bd. 2, S. 1425; McLaren (1991), S. 202 f. 119 Gemeint ist Agrippa II., König von Chalkis am Hermon, der während seiner Regierungszeit das Recht der Besetzung des hohepriesterlichen Amtes innehatte und die Oberaufsicht über den Tempel ausübte. Dies waren Rechte, die er von seinem Vater Agrippa I. übernommen hatte, vgl. Joseph., AJ 19,297–299; 20,179.196.197. 213; vgl. unten Fall (13). 120 Vgl. z. B. Joseph., Ap. 1,29; Mt 2,4; Joh 12,10; vgl. Mason, S. N. (1988), S. 658 f. In der angelsächsischen Literatur wird zumeist zwischen dem amtierenden Hohepriester, Archierus = high priest und im Plural, den chief priests = archiereis (Oberpriester) unterschieden; letztere definiert Brown (1994), Bd. 2, S. 1426 als „a Jerusalem priestly aristocracy with positions or privileged power over the Temple and its treasury.“ 121 Vgl. McLaren (1991): S. 201–203.

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

ten. So war es z. B. auch möglich, daß ein ehemaliger Hohepriester mehr Einfluß haben konnte, als der gerade amtierende. Es ist hier nicht möglich, im einzelnen ihren Aufgabenbereich zu erörtern, etwa ihre mögliche Verantwortung für die Steuereintreibung an die Römer122 oder ihre Beaufsichtigung und Auslegung des mosaischen Gesetzes einschließlich der diesbezüglichen Rechtsprechung. Dazu ist viel zu wenig bekannt, als daß man sich hierüber ein genaues Bild machen könnte.123 Erwähnenswert ist aber noch, daß sie keineswegs für alle Juden eine unangefochtene Autorität innehatten.124 Dies hängt freilich mit ihrer Position zusammen, wenn die Hohepriester einerseits von der jeweiligen Herrschaft, sei es einer unbeliebten einheimischen Dynastie oder Fremdherrschaft abhingen, deren Gebaren mit religiöser Gesetzestreue wenig gemein hatte, andererseits als Haupt des „Tempelstaates“ für die jüdische Religion zumindest bis zur Zerstörung des zweiten Tempels die zentrale Rolle spielten. Religiöse und weltliche Autorität konnten dabei in einen unauflöslichen Widerspruch geraten, so daß es zumindest für radikalere Glaubensauffassungen ein leichtes war, ihre Legitimität in Frage zu stellen, wenn sie dem rein theokratischen Herrschaftsideal nicht entsprechen konnten. In diesem Zusammenhang sei die zentrale These von Martin Goodmans herausragender Untersuchung erwähnt,125 daß die Stellung der Hohepriester als quasinatürliche, einheimische Elite, wie sie die Römer von ihrer Herrschaft über andere Provinzen kannten, eine Fiktion gewesen sei, da eine solche spätestens seit herodianischer Zeit in Judäa eigentlich fehlte. An dieser Stelle interessiert vor allem die Frage, ob der Hohepriester als Vorsitzender des Synedrions das Recht hatte, Todesurteile zu fällen und vollstrecken zu lassen. Das geringe und zudem noch widersprüchliche Quellenmaterial126 hat vor allem durch die unzähligen Untersuchungen zum Pro122

Vgl. dazu Stenger (1988), S. 63 f. Millar (1994), S. 360 f., bedauert als einer der größten Schwächen in der Analyse der jüdischen Gemeinschaft für die Zeit 6–66 n. Chr. „that we cannot adequately define either the social composition of the ruling group [. . .] or its formal structure“ und wirft die diesbezüglich ungelösten Fragen auf. 124 Zur Frage ihrer Legitimität und Stellung innerhalb des Judentums vgl. a. Safrai (1974), S. 379–400; Derrett (1970), S. 500 ff. 125 Vgl. Goodman (1987), S. 40 ff.; vgl. auch Stegemann/Stegemann (1997), S. 124. 126 Die wichtigsten Quellen zur Frage der Kapitalstrafkompetenz der Hohepriester sind neben der Passionsgeschichte Jesu in den Evangelien und Joseph., AJ 20,202 f., BJ 6,303–305, vgl. dazu weiter unten die Fälle (11) und (13), Acts 6,12– 7,60 (Steinigung des Stephanus); Acts 4,1–22; 5,17–41 (Verhör des Petrus und weiterer Apostel vor dem Synedrion); Joh 8,1–11 (Ehebrecherinperikope; ich halte es für fraglich, ob die hier erwähnten Pharisäer und Schriftgelehrten etwas mit dem Synedrion zu tun haben, das sich in der Möglichkeit der Vollstreckung der Steini123

4. Hohepriester und Synedrion

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zeß Jesu den Anlaß zu unterschiedlichsten Konstruktionen einer Kompetenzabgrenzung statthalterlicher und hohepriesterlicher Gerichtsbarkeit gegeben. Grundsätzlich lassen sich in diesem Zusammenhang drei Forschungspositionen unterscheiden:127 zunächst die kaum mehr vertretene These von der autonomen jüdischen Strafgerichtsbarkeit in Kapitalfällen;128 sodann diejenige, daß die Juden seit 6 n. Chr. überhaupt keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausüben durften und folglich sämtliche überlieferten Vorfälle solcher Art als Lynchjustiz betrachtet werden müssen;129 und schließlich die Annahme, die in der Forschung inzwischen den meisten Anklang gefunden hat, daß die Juden über das Synedrion eine Art eingeschränkte Kapitalgerichtsbarkeit besaßen, indem ihre Todesurteile der Bestätigung des Statthalters bedurften und/oder sie diese nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen, etwa bei Tempelfrevel, selbstständig ausführen durften.130 Darüber hinaus stellt sich die Frage, in welcher Weise das Synedrion überhaupt institutionalisiert bzw. organisiert war, genauer, ob es sich um einen permanenten und regulären Gerichtshof handelte, der förmliche Strafverfahren durchführen konnte, oder eher um ein allgemeines Beratungsorgan. Die Spezialliteratur zum Synedrion131 ist in ihren Betrachtungen des gungsstrafe gehindert sah); Joh 18, 29–31, vgl. dazu unten Abschnitt VI. 3. a). Zudem werden nicht selten auch einige rabbinische Quellen für einschlägig befunden: vgl. z. B. Mischnah Sanh. 7, 2b (Römer duldeten jüdische Hinrichtungen bei Verbrechen gegen das mosaische Gesetze, jedenfalls, wenn die Strafe gleich nach der Tat vollstreckt wurde); P. T. Sanhedrin 1,18a; T. B. Shabbath 15a; T. B. Abodah Zarah 8b (auch wenn sonst erhebliche Unterschiede zwischen babylonischer und palästinensischer Talmudüberlieferung bestehen, berichten beide vom Verlust der selbständigen Ausübung der Kapitalgerichtsbarkeit 40 Jahre vor der Tempelzerstörung). Vgl. auch Origen., Ep. ad Afric. 14, der für seine Zeit von der stillschweigenden Duldung der Römer von Gerichtssitzungen und Hinrichtungen nach dem mosaischem Gesetz berichtet. 127 Einen umfassenden Einblick zu den jeweiligen Forschungspositionen bis Ende der 1960er Jahre verschafft Blinzler (1969), S. 22 ff.; für die jüngere Zeit vgl. die kurz kommentierte Bibliographie von Evans (1989), S. 219 ff. Die wenigen in den drei nachfolgenden Anmerkungen angeführten Namen, repräsentieren ältere Positionen, die aber jeweils für spätere Forschungen einflußreich blieben. 128 Einflußreich war diesbezüglich lange Lietzmann (1931) in Anlehnung an Juster (1914); vgl. auch Winter, P. (1974), S. 62–90. 129 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 240, A. 2; Doerr (1908) u. ders. (1920). 130 Vgl. Büchsel (1931); ders. (1934); Springer (1932); Fiebig (1932); Blinzler (1969); Sherwin-White (1963), S. 38; Schumann (1965); Müller (1988); Strobel (1980), S. 20 f. Zu Ausnahmefällen wie bei Tempelfrevel, vgl. dazu auch unten Abschnitt VII. 2. a), vgl. dazu Müller (1988), S. 71 f.; Catchpole (1970), S. 60; Segal (1989); Strobel (1986), S. 21 ff., mit Diskussion von Joseph., BJ 6,126.300–300; AJ 20,199 ff., Megalit Taanit 6; pSanhedrin 1,18a[37]; 7,24b [43]; bAboda Zara 8b; MSanhedrin 7,2b; Philo Leg. 306 f., Joh. 18,31. 131 Zur Kompetenz des Synedrions (Sanhedrin), vgl. Büchler (1902), S. 194 ff.; Peter (1907); Doerr (1908), S. 23, 42; Juster (1914), Bd. 2, 132 ff.; Büchsel

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Synedrions seit hasmonäischer Zeit von unterschiedlichsten Organisationsformen ausgegangen. Viel hängt hierbei davon ab, welcher Quellenwert der rabbinischen Literatur im Verhältnis zu Josephus eingeräumt wird:132 So resultiert daraus eine Debatte, ob nur ein Synedrion bestand oder aber zwei, wobei dem einen politische, dem anderen gerichtliche Aufgaben zufielen, hierbei jeweils der Hohepriester oder aber der in der Rabbinen erwähnte nasi den Vorsitz hatte. Außerdem wurde auch das Bestehen eines weiteren Synedrions vermutet, welches neben den beiden anderen ein eher inoffizielles, von Pharisäern besetztes Gremium verkörperte. Des weiteren stellt sich die Frage, ob das Synedrion mit der gerousia bzw. der boule gleichzusetzen ist, oder ob es sich um unterschiedliche Institutionen handelte.133 Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, die Zusammensetzung des Synedrions und die Zahl der Mitglieder zu bestimmen, ganz abgesehen von etwaigen formalen Verfahrensregeln. Die Vielzahl der Fragen steht dabei in keinem Verhältnis zu den Informationen, die wir aus den Quellen darüber besitzen, mit der Folge, daß sehr unterschiedliche Thesen vertreten worden sind. Die ausführliche Untersuchung von 21 einschlägigen Fallbeispielen134 von hasmonäischer Zeit bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges von (1931); Lietzmann (1931); Lengle (1935), S. 312, 315; Ebeling (1936); Burkill (1956); 141; Sherwin-White (1961), S. 36–47; Schürer (1964), Bd. I, S. 480–482; Schuman (1965), 315–320; Smallwood (1976), S. 149–150; Strobel (1980); Derrett (1982), S. 500–509; Paulus (1985), S. 440; Horsley (1986a), S. 30; Rosen (1988), 123, 125, 127, 131, 134; Gnilka (1988), S. 27–31; Müller (1988), 41–46, 70–78; Goodman (1987), S. 113–115; ders. (1996), S. 770 f.; Millar (1994), S. 360 f.; Brown (1994), Bd. 1, S. 339 ff. Vgl. auch unten A. 46 in Abschnitt VI. 2. 132 Da McLaren (1991), S. 10 ff., einen hervorragenden Überblick über die einschlägigen Spezialuntersuchungen zu diesem Thema gibt, kann hier darauf verzichtet werden. Vgl. auch Brown (1994), Bd. 1, S. 548–553. 133 Fest steht, daß boule bzw. gerousia in der Interaktion mit dem römischen Statthalter hinsichtlich dessen Strafgewalt keine maßgebliche Rolle spielen, so daß es genügt, hier kurz darauf einzugehen. Ich fasse weitgehend das Ergebnis von McLaren (1991), S. 211–213, 217 f. zusammen. Beide Bezeichnungen spiegeln evtl. einen Funktionswandel derselben Einrichtung wider oder aber die abweichende Geläufigkeit der Bezeichnungen für den jeweiligen Quellenautor. Zumindest ist vom Bestehen einer boule als separate Institution in Jerusalem und in Tiberias auszugehen. Während letztere den Rat einer hellenistischen Polis verkörperte, darf diesbezüglich keine Analogie zur boule in Jerusalem gezogen werden, wie überhaupt die Erwähnung einer boule nicht dazu verleiten darf, Jerusalem eine Polisstruktur zu unterstellen, vgl. Tscherikover (1964). Vergleichbar erscheint die Bezeichnung vielmehr mit der Erwähnung einer boule der Samaritaner (Joseph., AJ 18,8), die keine städtische Institution verkörperte, sondern Aufgaben für alle Samaritaner wahrnahm. Was die Aufgaben der Jerusalemer boule anbetrifft, so scheinen sie eher repräsentativer Natur gewesen zu sein, da kein Einfluß auf irgendwelche Entscheidungsprozesse bezeugt ist. Nicht auszuschließen ist, daß sich ihre Aufgaben mit denen der städtischen „Magistrate“ verband, wobei insbesondere an die Steuereintreibung in den an Jerusalem angrenzenden Gebiete zu denken wäre.

4. Hohepriester und Synedrion

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James S. McLaren scheint mir eine gewisse Ordnung (und zugleich Desillusionierung hinsichtlich der institutionellen Verfaßtheit) in das Gewirr von Forschungskonstruktionen zum Synedrion gebracht zu haben. Eine seiner wichtigen Leistungen135 beruht auf der Tatsache, unterschwellige Grundannahmen der Forschung offengelegt und in Frage gestellt zu haben. Was speziell das Synedrion anbetrifft, so zeigt sich dies vor allem an der Hinterfragung der zumeist mehr unterstellten als nachgewiesenen Annahme, es habe sich beim Synedrion um eine permanente Verwaltungsinstitution gehandelt.136 McLaren kommt zu dem Ergebnis, die Bezeichnung Synedrion werde im Zusammenhang mit zwei spezifischen Aufgabenbereichen verwendet: zum einen als Beratungsorgan für bestimmte politische Maßnahmen, zum anderen – und dies geläufiger – als ein Gremium, welches Religionsvergehen untersucht, so daß ihm die Eigenschaft eines Strafgerichtshofs zukomme. Im letzteren Fall zeige sich, daß niemals von einer Abstimmung der Mitglieder (etwa im Sinne von Geschworenen, GK) die Rede sei; statt dessen 134 McLaren (1991) unterscheidet insgesamt sieben Gruppen, die im judäischen Interaktionsgefüge unter den römischen Stadthaltern eine Rolle spielten: 1. der/die Hohepriester (archiereis), 2. eine Gruppe von einflußreichen Laien, die mit unterschiedlichen Begriffen umschrieben sind: die „Mächtigen/Mächtigsten“ (dynatoi/dynatotatoi), die „Älteren“ (presbyteroi), die „Ersten“ (protoi), die „Führenden“ (hoi en telei), die „Herrschenden“ (archontes); 3. Leute, die mit bestimmten Amts- bzw. Funktionsbezeichnung genannt werden; 4. die „Schriftgelehrten“ (grammateis); 5. die Pharisäer und Sadduzäer; 6. die Mitglieder der Familie des Herodes; 7. die Mitglieder von bestimmten jüdischen Institutionen, wobei die boule, die gerusia, das koinon und schließlich das synedrion erwähnt sind. Vgl. dazu auch den hilfreichen Appendix V bei Brown (1994), Bd. 2, S. 1419–1434. 135 In Weiterführung des Ansatzes von Horsley und insbesondere Goodman kommt McLaren (1991), S. 189–225, u. a. zu den Ergebnissen, daß die Trennung zwischen einem religiösen und einem politischen Bereich verfehlt sei; außerdem gehe das Bild der Juden als geeinte Gruppe in die Irre, da vielmehr eine ständige Rivalität um Sozialprestige und Einfluß sowohl innerhalb der Juden als auch dieser in Auseinandersetzung mit dem römischen Statthalter festzustellen sei, insgesamt dabei aber der Wille zur Kooperation und Aushandlung bestimmter Streitpunkte vorgewogen habe. 136 Vgl. a. Brown (1994), Bd. I, S. 340–372; er kommt zu folgenden Ergebnissen: 1. „the theory of two major assemblies in the Jerusalem of Jesus’ time is a wrong interpretation of the evidence whether in Josephus or the NT.“; 2. „the Mishna must be understood as anachronistic in attempting to read back the BethDin of scholars into a earlier period“ (S. 345); 3. „Rather than assigned members, we may have to think of the expected attendance of representatives of particular groups when a Sanhedrin was called.“ (S. 349); 4. „The picture of the Sanhedrin as a court may be too simple for Jesus’ time [. . .]. I strongly suspect that as a quasilegislative and executive body with interests that we would call religious and political hopeless intertwined, a Sanhedrin when called often acted according to what seemed prudent and expeditious“ (S. 351).

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

herrsche stets Einverständnis mit der Sichtweise des gerade amtierenden Hohepriesters. Überhaupt entstehe niemals der Eindruck, die synedria seien irgendwelchen rechtlichen Beschränkungen unterlegen. Der Hohepriester sei stets die leitende Figur der Anhörungen, dem die anderen Mitglieder des Synedrions zustimmten.137 Bis dahin liefert McLaren noch nichts Neues. Interessant ist jedoch seine These,138 daß das Synedrion sowohl in seiner rein konsultativen als auch „gerichtlichen“ Funktion kein Konzept der permanenten und von vornherein festgelegten Mitgliedschaft erkennen lasse; vielmehr trete es auf Initiative eines (nicht unbedingt immer amtierenden) Hohepriesters zusammen, der sich ad hoc für zuständig erklärte, die Leitung übernahm und sich die am Synedrion beteiligten Personen jeweils selbst auswählte, die folglich größtenteils seinen Wünschen entsprachen. Der Status des Synedrions verbinde sich mit dem Status der Person, welche das Synedrion einberufen habe. Die Funktion des Synedrions hänge schlicht davon ab, zu welchem Zweck es jeweils einberufen wurde, damit auch von der Person, die das Synedrion einberufen hatte und seine Leitung übernahm. a) Exkurs: Das Synedrion als Consilium, ein Gedankenexperiment Geht man davon aus, daß das Zusammentreten des Synedrions Ad-hocCharakter aufwies, sich also auf die Initiative eines Hohepriesters fallweise konstituierte und dieser hierfür selbst die Mitglieder nach seinen Wünschen bestimmte, so liegt der Vergleich zum Consilium des römischen Statthalters nahe. Da jedoch jüdischen Einrichtungen nicht einfach römische Funktionsweisen unterstellt werden können, zudem auch die wenigen Informationen aus den Quellen je nach Autor Verzerrungen beinhalten können,139 kann diese Analogie hier allenfalls den Status eines Gedankenexperiments beanspruchen. McLaren hat den Vergleich zum römischen Consilium nur knapp in einer Anmerkung angedeutet,140 jedoch scheint er darüber hinaus in mehreren Hinsichten interessant: Zum einen stellt sich die Frage, ob dann immer noch von einer Unterscheidung des Synedrions in seiner Eigenschaft als politisches Beratungsgremium und derjenigen eines Gerichtshofs ausgegan137

Vgl. McLaren (1991), S. 214–216. Vgl. McLaren (1991), S. 216 f. 139 So könnte z. B. Josephus seine Schilderung des Synedrions mit Blick auf eine in Rom beheimatete Leserschaft mit römischen Zügen überformt haben. Vgl. außerdem McLaren (1991), S. 216 f. zur Wahrnehmungsweise des Synedrions bei den Evangelisten, wo die offizielle Natur aus anderen Motiven stark überbetont werde. 140 Vgl. McLaren (1991), S. 215, A. 1, mit Verweis auf Philo, Leg. 349 f. sowie Crook (1955), S. 21–52, bes. 33; vgl. auch Millar (1977), S. 110–122. 138

4. Hohepriester und Synedrion

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gen werden muß, wie dies auch McLaren noch tut; zumindest müßte geklärt werden, ob dies der Perspektive antiker Autoren entsprach. Zum anderen scheint der Vergleich zum Consilium des Statthalters interessant, wenn man die Frage aufwirft, ob die Mitglieder eines Synedrions in speziellen Fällen nicht selbst die Funktion eines statthalterlichen Consiliums in Judäa ausüben konnten, zumal, wenn es sich aus römischer Sicht – wie im Fall des Hohepriesters – um ernannte, anerkannte und kooperative Mitglieder aus der jüdischen Provinzialelite handelte. Dies würde sich in das Bild einfügen, daß der Statthalter zwar nicht formal, jedoch in praktischer Hinsicht als Nachfolger des Herodes betrachtet werden kann. Es wurde bereits dargelegt, daß spätestens zur Zeit des Herodes das Synedrion nicht mehr als autonome Körperschaft betrachtet werden kann, sondern zu einer Art Consilium des römischen Klientelkönigs degradiert wurde. Folglich stellt sich die Frage, ob die prominenten und von Rom akzeptierten Mitglieder des jüdischen Synedrions, zumal der/die Hohepriester in bestimmten Fällen zu Mitgliedern eines statthalterlichen Consiliums werden konnten. Dann ließe sich vermuten, daß das Synedrion zum einen eine Art Consilium des Hohepriesters verkörperte, welcher bestimmte Vergehen relativ formfrei beraten aber auch ahnden konnte, zum anderen der Hohepriester und eventuell noch einige andere herausragende Autoritäten selbst wiederum als Consilium des Statthalters bei Fällen fungierten, für deren Ahndung sie sich auf das Strafurteil des Statthalters angewiesen glaubten und für die der Statthalter ihnen eine Beratungsfunktion einräumte. Angesichts der Vielzahl von gegensätzlichen Hypothesen, die allesamt aufgrund der geringen Aussagekraft des Quellenmaterials den Charakter von Vermutungen haben müssen, sei auch dieses Gedankenexperiment gestattet, auf das im Fall des Apostels Paulus noch einmal zurückgegriffen werden kann. b) Ausgangshypothese zum Synedrion für die weitere Untersuchung Welche Gründzüge des Zusammenspiels zwischen dem jüdischen Synedrion und der statthalterlichen Strafgewalt können festgehalten werden? Zunächst wäre es ein Fehler, von der Prämisse auszugehen, die Kompetenzabgrenzung zwischen statthalterlicher Strafgewalt und Synedrion sei rechtlich-institutionell genau geregelt gewesen.141 Bei Betrachtung der Rechtswirklichkeit scheint die Annahme plausibler, daß für kapitale Strafrechtsfälle grundsätzlich der Statthalter zuständig war, dieser aber in bestimmten 141 So z. B. noch Strobel (1980), S. 21; schon die Behauptung, der Statthalter sei für die politischen und das Synedrion für die religiösen Streitfälle zuständig gewesen, muß Mißtrauen erwecken, wenn man die Gerichtsbarkeit in einem gesellschaftlichen Umfeld untersucht, in dem beide Bereiche miteinander untrennbar verwoben sind.

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Ausnahmefällen, etwa bei Frevel gegen den Tempel, Zugeständnisse an die einheimischen Autoritäten machen konnte. Solche Zugeständnisse müssen jedoch nicht allgemeinverbindlichen und endgültigen Regelungen unterworfen gewesen sein, sondern können den Charakter eines momentan eingeräumten und stets widerrufbaren Privilegs gehabt haben.142 Auch ist prinzipiell nicht auszuschließen, daß ein Statthalter in bestimmten Angelegenheiten auf die Mitwirkung des Synedrions bzw. einiger seiner führenden Mitglieder im Sinne eines Beratungsgremiums Wert legen konnte. Sicher scheint nur die Feststellung, daß die Annahme eines fest institutionalisierten Instanzenzuges oder einer abstrakt-generell geregelten Kompetenzaufteilung angesichts der Quellenlage nicht unterstellt werden kann. Insgesamt scheint es mit Blick auf die weitere Untersuchung der statthalterlichen Strafgewaltspraxis angebracht, von folgender Hypothese auszugehen: Das Synedrion stellte – zumindest in dem hier behandelten Zeitraum – keine permanent konstituierte Institution dar, bei der ein hoher Formalisierungsgrad festzustellen wäre,143 sondern ein Gremium, welches sich aus der Situation heraus zur Untersuchung eines bestimmten Falls auf Initiative einer anerkannten jüdischen Autorität bildete. Was seine strafrechtlichen Kompetenzen betrifft, so konnte es durchaus eigenständig Urteile fällen, jedoch nur, soweit sie nicht mit den Kompetenzen kollidierten, für die sich der römische Statthalter zuständig hielt. In bestimmten Fällen hing es vom Statthalter ab, ob er bei gelegentlichem Überschreiten der Befugnisse des Hohepriesters (falls er darüber überhaupt in Kenntnis gesetzt worden war) ein Auge zudrückte oder dagegen vorging. 5. Das Lestai-Problem: Räuber, Zeloten und Sikarier Eine Herausforderung für jedes Statthalterregiment waren jene Gruppen, die durch Überfälle, Morde, organisierte Anschläge und bewaffneten Widerstand die römische Herrschaft über eine Provinz in Frage stellten. In den Quellen werden sie nicht nur bei Josephus mit dem allgemeinen Begriff ,Räuber‘ (lÂhstaß) umschrieben.144 Dieser Begriff verbindet sich folglich 142 Sherwin-White (1961), S. 41 f. Zum Tempelverbot für Nichtjuden, welches bei Verstoß mit der Todesstrafe geahndet wurde, vgl. Joseph., BJ 6,124–127; Philo, Leg. 307; vgl. dazu auch ausführlich im Fall des Paulus unten Abschnitt VII. 2. a). 143 Vgl. dazu auch Goodman (1987), S. 112 ff. 144 Eine hellenisierte Form zu lestai in Hebräisch lautet listim. Lateinische Äquivalente sind vor allem latrones bzw. latrunculi im Sinne von bewaffneter Kriminalität. Was allg. die antiken Quellen anbetrifft, so ist festzustellen, daß dort, wo im Griechischen lestai gebraucht wird, das Lateinische feinere Unterscheidungen macht: fur, grassator, viator, adgressor, praedo und latro. Latrones definiert Shaw (1984), S. 4, als „men who threatened the social and moral order of the state by the use of private violence in pursuit of their aims“. Vgl. auch Burian (1983), der die marxisti-

5. Das Lestai-Problem: Räuber, Zeloten und Sikarier

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mit verschiedenen Konnotationen145 und kommt dem Bedürfnis nach Differenzierung der verschiedenen Motive für Kriminalität und Widerstand wenig entgegen. Er umfaßt kurz gesagt eine Spannbreite vom bewaffneten Landstreicher bis zu einer wohlorganisierten Aufstandsgruppe. So können z. B. Raubüberfälle, politischer Terrorismus, sozialrevolutionäres Partisanentum sowie im Fall Judäas religiös motivierter Widerstand damit umschrieben sein. Aus obrigkeitlicher Sicht der Römer waren solche Unterscheidungen von geringer Bedeutung, weil es für sie weniger auf die Gründe als auf das Phänomen selbst ankam, das es zu bekämpfen galt. Diese Aufgabe fiel in den Provinzen in die Verantwortung der Statthalter.146 Noch aus einem ganz anderen Grund ist es äußerst schwierig, klare Unterscheidungskriterien für die Gruppierungen zu finden, die unter den Begriff lÂhstaß fallen. Niedere Beweggründe wie persönliche Rache oder Habgier, ein ideologischer Überbau wie religiöse oder politische Widerstandsmotive oder eine Motivation, die aus der wirtschaftlichen und sozialen Notsituation bestimmter Bevölkerungsteile entspringt, können sich wechselseitig beeinflussen und – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – kumulieren. Politischer Terrorismus oder militant-religiöse Bewegungen bedurften für ihre Aktionen durchaus einer ökonomischen Basis, allein zum Kauf von Waffen oder zur Versorgung ihrer Mitglieder, so daß sie auch „gewöhnliche“ Raubüberfälle unternehmen mußten. Raubüberfälle aus rein materiellen Motiven können politisch oder religiös gerechtfertigt werden, z. B. um die Beliebtheit147 oder Unterstützung148 bei bestimmten Bevölkerungsteilen zu erlangen oder um die Rekrutierungsbasis für neue Mitglieder zu erweitern.149 Der letztgenannte Aspekt hatte auch mit der sozialen und wirtschaftlichen Not bestimmter Bevölkerungsteile zu tun, welche die Bereitschaft erhöhte, sich Räuberbanden oder apokalyptisch-messianischen Bewegungen anzuschließen.150 sche Deutung des latrocinium als eine Form des Klassenkampfes kritisiert und das breite Bedeutungsspektrum mit eindeutig pejorativem Akzent herausarbeitet. 145 Vgl. dazu bes. van Hooff (1987). 146 Zu den rechtlichen Grundlagen der Strafverfolgung und dem Strafmaß vgl. Hengel (1961), S. 31–34. 147 So konnten Räuber zu Volkshelden werden, was sich auch in der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur niederschlug, vgl. Hengel (1961), S. 34 f.; Goodman (1987), S. 63. 148 Vgl. z. B. unten Fall (10) in Abschnitt III. 1. d). 149 Vgl. dazu a. Bammel (1984b), S. 113. 150 Zu denken wäre z. B. an Flucht aus der Sklaverei, „Schuldknechtschaft“, Fahnenflucht, verarmtes Bauerntum, geringe landwirtschaftliche Erträge, wenn nicht Hungersnöte, wie sie sich 48 n. Chr. in Judäa ereignete. Angehörige sozial benachteiligter Schichten können z. B. für eine gottgewollte Neuordnung der Besitzverhältnisse kämpfen, vgl. z. B. Joseph., BJ 2,265; bes. beliebt in der Literatur ist das Bei-

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Ein bis heute umstrittenes und schwieriges Problem stellt sich mit der Frage, wer eigentlich die sogenannten Zeloten (zhlwtaÍ) und Sikarier in Judäa waren, worin die hauptsächlichen Beweggründe für ihren Widerstand bestanden und ob sie als eine einheitliche bzw. organisierte Widerstandsbewegung betrachtet werden können.151 Das eigentliche Grundproblem besteht darin, daß Josephus den Begriff lÂhstaß ganz aus der Sicht der Römer in einem breiten Bedeutungszusammenhang,152 die Bezeichnung Zeloten hingegen in einem nur sehr begrenzten Kontext – dann aber um so häufiger – verwendet, nämlich erst seit Ausbruch des Jüdischen Krieges zur Benennung der Anhänger dreier verschiedener Gruppen von Aufständischen mit ihren jeweiligen Anführern Johannes von Gischala, Simon bar Giora und Eleazar (Sohn des Simon).153 Die Sikarier tauchen in Josephus’ Schriften während der 50er Jahre als eine besondere Art von Attentätern und Krummdolchmördern auf, die zumeist aus dem Hinterhalt agierten.154 spiel der Verbrennung des Schuldenarchivs in Joseph., BJ 2,427. Josephus berichtet auch, daß sich nach den Verfolgungen der aufrührerischen Juden im Konflikt mit den Samaritanern, vgl. Fall (14) in Abschnitt III. 1. d), viele auf das Räuberhandwerk verlegt hätten, weil es ziemlich ungefährlich erschien, so daß über das ganze Land hin sich Raubüberfälle ereigneten, und die Wagemutigsten sogar offene Empörungsversuche unternommen hätten, vgl._ BJ 2,238: ™trÜponto dÊ polloÍ prÎò _ asan tÌn xþran ˆrpagaß te šsan kaÍ lÂh steßan diJ tÌn ådeian, kaÍ katJ p _ twn qrasutÝrwn ™panastÜseiò. Zu den sozialen Motiven, vgl. Hengel (1961), S. 28–31, 34 f., 46, 368 f. Goodman (1987), S. 61–63, betrachtet den Banditenstatus in Judäa als eine Alternative neben der Lohnarbeit in der Stadt, wenn Teile der Landbevölkerung wegen Bevölkerungsdruck, Zerfall des Kleinbauerntums und Verschuldung verarmten und kaum Möglichkeit hatten, in anderer Weise einen brauchbaren Überschuß zu erwirtschaften. In Joseph., AJ 18,274 wird der Zusammenhang zwischen Ernteausfall und sich ausbreitendem Banditentum erwähnt. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Banditentum und sozialökonomischen Faktoren Applebaum (1977), S. 379–385; Brunt (1977); Goodman (1982); Stenger (1988), S. 27 f., 38, 133, 136–146; außerdem Horsley (1993), S. 9–15 zum Zusammenhang zwischen imperialer und indirekter Herrschaft und sozialökonomischer Ausbeutung. Vgl. auch Bammel (1984b), der herausstellt, daß vor dem Christentum bereits im Judentum eine „Theologie der Armen“ im Unterschied zu anderen Religionsgemeinschaften virulent war und von daher eine Verbindung mit sozialen Bewegungen eingehen konnte. In bezug auf die Zeloten sei jedoch festzustellen (S. 114), „that the current social unrest that existed in Israel were swallowed up by the Zealots. There is, however, no evidence that the terminology of the theology of the poor played any role in their argument“. 151 Ob die Zeloten letztlich eher religiös, politisch oder sozialrevolutionär motiviert waren, ließe sich m. E. schon dann nicht sinnvoll entscheiden, wenn sich diese Widerstandsgruppe dadurch ausgezeichnet haben könnte, daß ihre religiösen Ansichten politische Forderungen nach sich zogen, die besonders eine sozial unterprivilegierte Schicht angesprochen haben könnte. 152 Erste Nennung Joseph., AJ 14,159; BJ 1,104. Zur Variationsbreite seiner Verwendung und Josephus’ römischer Blickwinkel, vgl. Hengel (1961), S. 45–47. 153 Fast ausschließlich in Buch 4 u. 5 von BJ.

5. Das Lestai-Problem: Räuber, Zeloten und Sikarier

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Trotz der Tatsache, daß sich ein direkter Nachweis der von Josephus als Räuber, Zeloten und Sikarier bezeichneten Gruppen als einheitliche politisch-religiös motivierte Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft nicht erbringen läßt, ging man in der Forschung mit Betonung der religiös-ideologischen Motive bis in die 70er Jahre von dieser Ansicht aus. Außerdem wurde versucht, die Ursprünge dieser Bewegung weit vor Ausbruch des Jüdischen Krieges 66 n. Chr. aufzuzeigen. Weitgehend kanonisch wurde die These, daß der in unserem obigen Quellenauszug155 erwähnte Gründer der „vierten Philosophie“ – Judas der Galiläer – die Zeloten zu einer politischen Widerstandsorganisation formiert habe.156 Dieser Konsens wurde jedoch in Anwendung neuer sozialwissenschaftlich orientierter Analysemethoden und angeregt durch Hobsbawns Begriff des „sozialen Banditentums“ in Frage gestellt.157 Besonders Horsleys Aufsätze bereicherten die Diskussion um eine spezifische soziale Matrix, innerhalb derer revolutionäre Ideologien ein Ferment und zugleich konkreten Ausdruck finden können. Im Anschluß daran wurden die jüdischen Aufstandsgruppen auch von anderen Forschern differenzierter betrachtet. Martin Hengel begründete die restriktive Verwendung des Zelotenbegriffs bei Josephus damit, daß der Ausdruck „in jüdischen Augen durchaus eine sehr positive Bedeutung besaß“ und Josephus die Bezeichnung „erst aufnahm, als er sie zur Unterscheidung der verschiedenen Parteien in Jerusalem benötigte. Dadurch, daß er die jüdischen Freiheitskämpfer vor und während des Krieges rundweg zu ,Räubern‘ degradierte, konnte er die stolze Eigenbezeichnung ,Eiferer‘ weitgehend vermeiden.“158 Die Sikarier stellten für ihn keine selbständige Partei dar, sondern eine besonders aktive Gruppe.159 Hengel spricht zwar sozialstrukturelle Gesichtspunkte an, hält jedoch „die schon von Judas [dem Galiläer, G.K.] vorgezeichnete religiöse Grundlinie mit ihrer charakteristischen Betonung der Alleinherrschaft Gottes und des Eifers sowie das eschatologische Bewußtsein bei den verschiedenen radikalen Gruppen“ für das ausschlaggebende Charakteristikum der Zeloten.160 Dagegen zweifelte M. Smith grundsätzlich an der Einheitlich154

Vgl. Joseph., AJ 20,164 f., 184–187; BJ 2,254–257. Vgl. oben in Abschnitt IV. 2. 156 Farmers (1956) Untersuchung dient dem Nachweis, daß die zelotische Ideologie in die Tradition der Makkabäeraufstände stand. Hengel (1961) führt die Wurzeln der Zeloten als „eschatologische Bewegung“ genealogisch auf Hiskia zurück, der 47 v. Chr. von Herodes getötet wurde und dessen Sohn Judas der Galiläer gewesen sei, der die Zeloten zu einer einheitlich organisierten Bewegung formiert habe; vgl. den von ihm erstellten Stammbaum ebd. S. 338. 157 Vgl. dazu Dysen (1975), S. 149 ff.; Shaw (1984), S. 4 ff.; Horsley (1979a), S. 42 ff.; ders. (1981), S. 422 ff. 158 Hengel (1961), S. 68. 159 Vgl. Hengel (1961), S. 48. 155

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

keit der Zelotenbewegung und zeigte, daß auf Basis von Josephus’ Schriften weder behauptet werden könne, daß Judas der Galiläer der Gründer der Zeloten gewesen ist, noch daß die Sikarier Bestandteil der zelotischen Bewegung waren.161 Baumbach sieht in den Zeloten und Sikariern zwei selbständige Gruppen, wobei sich die eine vor allem aus der galiläischen Landbevölkerung, die andere aus jerusalemer Priestern bestanden habe.162 Die ältere Literatur vor Hengel betrachtete die Zeloten zumeist isoliert von ihrem zeitgenössischen sozialen Kontext, worauf Applebaum hinwies und eine Neubewertung der Zeloten forderte.163 Horsley differenzierte die Widerstandsgruppen in social bandits, messianic movements, prophetic movements, Sikarier und Zeloten auf Grundlage der schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Situation der Landbevölkerung und sparte dabei nicht mit Kritik an Hengels Thesen.164 Freyne stimmte mit Horsley weitgehend über160 Hengel (1961), S. 383; in ders. (1996), S. 353 ff. (zugleich Vorwort der englischen Übersetzung des Zeloten-Buches) verteidigt Hengel seine These: „Die letzte Ursache für alle drei selbstmörderischen Kriege [gemeint sind jene 66–73, 115–119, 132–136 n. Chr., GK] ist letztlich in der für die antike Welt einzigartigen jüdischen Religion mit ihrem theokratischen Ideal und ihrer um die Zeitenwende besonders ausgeprägten eschatologischen Erwartungen zu sehen“ (S. 354). Seine Kritik gilt sozialhistorischen Ansätzen (mit „neomarxistischen Tendenzen“), die überwiegend soziale Ursachen für die Aufstandsbewegungen geltend machen. Werden solche deterministisch aufgefaßt, so wäre dem beizupflichten; jedoch gilt es m. E. nicht die eine Ursache und damit die eine Bewegung für den Ausbruch des sog. Jüdischen Krieges verantwortlich zu machen, sondern eine Differenzierung der daran beteiligten Gruppen vorzunehmen, deren Motive durchaus unterschiedlich geartet sein könnten, wie sie sich in der nachfolgend skizzierten angelsächsischen Forschung zeigt und gegen die Hengel polemisiert. Wenn Hengel dagegen Mommsens „mosaische Theokratie“ und Burckhardts „religiöse Wutausbrüche“ als einschlägige und richtige Betrachtungsweisen bemüht, so handelt es sich hier zweifelsohne um Heroen der Geschichtsschreibung, sie sollten aber nicht zur Legitimation einer geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise herhalten, die sozialhistorische Ansätze zu marginalisieren trachtet. 161 Vgl. Smith (1971). 162 Vgl. Baumbach (1971). 163 Applebaum (1977), S. 380, moniert gegen M. Smith: „whatever the fragmentation, times of origin, names or relationship of the groups collectively misnamed the Zealots, they all had something basically in common, and they all possessed roots in a common situation“ und kommt (S. 385) zu der Schlußfolgerung: „that there was a close connection between the origins of the Jewish activist movement which had begun to develop in Galilee in the middle of the 1st century BC and the struggle for cultivable soil [. . .] Both were an outcome of the position of the Jewish peasant, expressing itself more acutely in the marginal areas, but reflecting the more widespread problem of land-shortage, exacerbated by heavy taxation and tenurial oppression.“ 164 Vgl. Horsley (1979a); ders. (1979b); ders. (1981); ders. (1986b). Kurz und scharf ist die Kritik in ders. (1994), S. 408: „Despite a sharply critical review by Zeitlin [JBL 81 (1962), S. 395–398, GK] the synthetic view became enshrined in

5. Das Lestai-Problem: Räuber, Zeloten und Sikarier

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ein, betonte jedoch die Bedeutung regionaler Unterschiede, insbesondere zwischen Judäa und Galiläa.165 Donaldson machte außerdem die StadtLand-Dichotomie stark und kritisierte, daß die Zeloten nicht nur als Phänomen des „sozialen Banditentums“ einer unzufriedenen Landbevölkerung gesehen werden sollten, weil sie ihren Ursprung auch in der armen Stadtbevölkerung (city mob) hätten.166 Millar zog das resignierte Fazit: „Since we depend for our conception of all entirely on Josephus, we cannot hope to write anything resembling a social or ideological history of these movements. The significant fact is simply that there were such movements.“167 Diese Hinweise sollen genügen, um zu verdeutlichen, daß Hengels großangelegte Monographie nicht mehr unumstritten als quasi kanonisches Werk zu Darlegung der Zelotenbewegung angeführt werden kann. Entscheidend bleibt, daß bezüglich der statthalterlichen Strafgewalt ohne spezialisierten Polizeiapparat168 bei gleichzeitig fehlendem sozialen Netz oder mangelnden Versorgungsalternativen der in Not geratenen Bevölkerungsteile, sämtliche Statthalter vor dem Problem einer allgemeinen Rechtsunsicherheit und eines endemischen Banditentums gestanden haben.169 Ein Abschnitt der Digesten über die wichtigsten Pflichten des Provinzstatthalters formuliert die am ihn gerichtete Erwartungshaltung aus dem Blickwinkel der stadtrömischen Zentralregierung:170 „Es ist die Pflicht eines guten und ernsthaften Statthalters dafür zu sorgen, daß die Provinz, die er regiert, friedvoll und ruhig bleibt. Das ist keine schwierige Aufgabe, wenn er die Provinz ganz und gar von Räubern säubert und unverdrossen zur Strecke bringt. Die Entheiliger und Plünderer heiliger Stätten (sacrilegi), important handbooks and dictionaries of the guild. Nevertheless, ,the Zealots‘ as a long-standing movement advocating armed rebellion against Roman Rule can now clearly be seen as a modern scholarly construct based on a confusion or conflation of ,the Fourth Philosophy‘, ,the brigants‘, and ,the Zealots‘ (and sometimes also ,the Sicarii‘) in Josephus’ histories“, obgleich diese bei Josephus sehr wohl in ihrem zeitlichen Auftreten und konkreten Zusammenhang unterschieden würden. 165 Vgl. Freyne (1988). 166 Vgl. Donaldson (1990). 167 Millar (1994), S. 363. 168 Deshalb betont Isaak (1984), der einen zeitlich weitgespannten Überblick des Banditentums in Judäa und Arabia bietet, die Rolle der römischen Armee innerhalb der von Rom unterworfenen Gebiete und stellt sich gegen die Ansicht moderner Historiker, „the enemies of the empire all lived across an imaginary border which they desperately wanted to cross“ (S. 203). 169 Einen guten allg. Einblick über das antike Banditentum bietet Shaw (1997). 170 Dig. (Ulp.) 1,18,13: Congruit bono et gravi praesidi curare, ut pacata atque quieta provincia sit quam regit. Quod non dificile obtinebit, si sollicite agat, ut malis hominibus provincia careat eosque conquirat: nam et sacrilegos latrones plagiarios fures conquirere debet et prout quisque deliquerit in eum animadvertere, receptoresque eorum coercere, sine quibus latro diutius latere non potest.

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Banditen (latrones), Entführer (plagiarii) und gemeinen Diebe (fures) muß er wirklich gefangensetzen lassen und jeden entsprechend seiner Missetaten bestrafen. Und mit Gewalt muß er gegen ihre Kollaborateure (receptatores) vorgehen, ohne die ein Bandit (latro) nicht lange versteckt bleiben kann.“ (Übers. O. Behrends u. a.)

Dies war wohl leichter gesagt als getan. Entscheidend an der Aussage über die Leichtigkeit, eine Provinz zu regieren, scheint das Wörtchen ,wenn‘, d. h. wenn es dem Statthalter gelingen möge, das Banditentum einzudämmen. Gelang es den Statthaltern auch manchmal, hart durchzugreifen und Exempel zu statuieren, so war es wohl unmöglich, das „Räuberproblem“ dauerhaft zu unterdrücken.171 In Judäa konnte das Phänomen der Lestai eine religionsspezifische Verbindung mit apokalyptischen, messianischen und/oder prophetischen Ideologien eingehen, so daß die Möglichkeit, militante Massenbewegungen hervorzurufen, stärker gegeben sein mußte als anderswo.172 6. Skizze der Provinzialstruktur Judäas Es wäre vermessen, das judäische Gesellschaftsgefüge hier in genügender Form abhandeln zu wollen.173 Ein kurze Skizze muß genügen, um zu zeigen, in welcher Art Provinz und unter welchen spezifischen Strukturbedingungen die römischen Statthalter ihre Strafgewalt ausübten. Judäa hatte keine Gesellschaft, allenfalls ließe sich von einem Konglomerat verschiedener Gesellschaften sprechen, mit einer sehr heterogenen Bevölkerung, die sich in Sprache, Wohlstand, Religion und kulturellem Pre171 Einige willkürlich ausgewählte Quellenbelege zur Banditenplage: Cic., fam. 2,9,1 f.; 15,1,2–3; 15,4; Att. 5,20,5; 6,4,; Epikt., Diatr. 4,1,94 ff.; 2. Kor 11,26; Sen., Ben. 4,35,2; 6,15,8; Juv. 10,19–22; eine bedeutende Quelle ist Apul., Met.; vgl. dazu jetzt Riess (2001). 172 Auf die tiefreichenden Wurzeln der Bewegungen sowie Lehren messianischapokalyptischer Provenienz innerhalb des Judentums seit dem 5. Jh. kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu den instruktiven Abriß von Schalit (2001), S. 483– 562. Dahingehend müßte auch Max Webers (1988), RS III, S. 6, prägnante Zusammenfassung des jüdischen Heilsglaubens nach Radikalitätsgrad diverser Bevölkerungs- und Glaubensgruppierungen differenziert werden. Zweifelsohne handelt es sich hier um ein Sonderbewußtsein jüdischer Glaubensrichtungen, welches sich in anderen Religionsvorstellungen in dem hier behandelten Zeitraum innerhalb des römischen Reiches so nicht findet (hier ist Hengel eindeutig recht zu geben, ohne deshalb aber die sozialökonomischen Faktoren herunterzuspielen). Vgl. auch Bammel (1984b), S. 111–114. 173 Vgl. dazu Grundmann/Leipoldt (1990), S. 180–194; Jeremias (1962); DanielRops (1961); Derrett (1982); Neusner u. a. (Hrsg. 1988); ders. (1988), S. 16–36; Stegemann/Stegemann (1997); Tcherikover (1964); Stern (1987); Applebaum (1987); Gabba (1999), S. 106 ff.

6. Skizze der Provinzialstruktur Judäas

177

stige unterschied. Die jüdischen Provinzialen unterschieden sich dabei aber nicht nur von anderen Bevölkerungsteilen in ihrer eigenen Provinz, z. B. den Griechen, Syrern und Samaritanern, sondern auch von den Bewohnern anderer römischer Provinzen durch eine damals in anderen Kulturen unbekannte religiöse Lebensauffassung, welche alle anderen Lebensbereiche in besonderer Weise mitbestimmte.174 Aber auch die Juden selbst waren keine homogene Bevölkerungsgruppe, sondern standen untereinander in einem spannungsgeladenen Verhältnis verschiedenster religiöser Gruppierungen, wie z. B. Sadduzäer, Pharisäer, Essener und Leviten, die jeweils eine abweichende Auslegung der religiösen Schriften kennzeichnete und die auch spezifischen regionalen oder sozialen Gruppen zugeordnet sein konnten.175 Die verschiedenen religiösen Strömungen prägten auch die „mentale Infrastruktur“: Fatalismus als Frömmigkeitsbeweis, Trost in der Zukunft als Kompensation gegenwärtigen Elends, Messianismus, Glaube an ein Leben nach dem Tod und apokalyptische Endzeiterwartung waren verbreitete Glaubensüberzeugungen. Aus der jüdischen Religion folgen weitere Besonderheiten, wie die bereits erwähnte Führungsgruppe der Hohepriester. Alle religiösen und politischen Bewegungen des Judentums hatten in Jerusalem ihren Brennpunkt, dessen Tempel eine überwältigende Ausstrahlungskraft als geistig-religiöses Zentrum und Pilgerstätte für die Juden der Diaspora hatte. Damit kam dem Tempel auch eine große ökonomische Bedeutung zu, wenn er Pilgergaben, Opfer, auswärtige Güter und Spenden anzog.176 Hier wurde auch die Tempelsteuer verwaltet, Geldhandel betrieben, und er bot die einzige Möglichkeit für reiche Juden, ihr Geld sicher zu deponieren.177 Wie bei jedem vielbesuchten Ort können wir davon ausgehen, daß sich entsprechende Gewerbe ansiedelten, welche die Pilgermassen versorgten. Schließlich boten die seit König Herodes andauernden Baumaßnahmen am Tempel einen wichtigen Arbeitsmarkt, was nicht zuletzt daran deutlich wird, daß ihr Ende 174

Vgl. Derrett (1970), S. 488 ff.; Millar (1994), S. 357. Umstritten ist in der Forschung auch die Frage, bis zu welchem Grad Palästina kulturell hellenisiert war. Vgl. dazu die großangelegte Untersuchung von Feldman (1993); vgl. Millar (1994), S. 337–367; gegen M. Hengels Buch: The ,Hellenization‘ of Judaea in the First Century after Christ, 1989, richtet sich sein Einwand: „it will not be inappropriate to start from the model, or hypothesis, of a sharp contrast between Greek city (and later Roman colonia) on the one hand and Jewish community on the other. The tendency of recent scholarship has been to deny, or at least to limit, the signification of this contrast; to argue that the effects of Hellenism in Judaea, after three hundred years, were so profound, in language, culture, outlook, architecture and art, that the Judaism of Judaea should be itself be seen as ,Hellenistic‘, and hardly less than that of the Diaspora“ (S. 352). 176 Vgl. dazu Goodman (1987), S. 53. 177 Vgl. Müller (1988), S. 75 f.; Stegemann/Stegemann (1997), S. 117 ff. 175

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IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

für die vielen dort beschäftigten Tagelöhner Not und Arbeitslosigkeit zur Folge hatten.178 Der Tempel als einziger Sühneleistungs- und Opferbringungsort der Juden, Amtsort der Hohepriester und mit seinem Tempelschatz auch eine Art Bankdepot, war demnach der wichtigste strategische Punkt, den es zu kontrollieren galt, wenn man in Judäa herrschen wollte. Deshalb nutzen auch die Römer die direkt neben dem Tempel liegende Burg Antonia als Stützpunkt, um von dort aus das Geschehen im Tempelbezirk zu überwachen und gegebenenfalls militärisch einzugreifen. Doch der Statthalter selbst residierte nicht in Jerusalem, sondern in Cäsarea, ein Garnisonsort, dessen Stadtbild spätestens seit der Bautätigkeit des Herodes trotz seiner großen jüdischen Gemeinde hellenistischer Prägung war.179 Außer Cäsarea und Jerusalem sind uns keine anderen Gerichtsorte für die judäischen Statthalter überliefert. Die ungleiche Verteilung des Reichtums, Überbevölkerung, Dürre und Hungersnöte,180 die Gegensätze zwischen den wenigen sehr Reichen und vielen Armen, zwischen Stadtund Landbewohnern,181 verschuldeten bzw. proletarisierten Bauern und stadtsässigen Großgrundbesitzern,182 zwischen den Gegenden mit kargem und denjenigen mit dem knappen fruchtbarem Land, zwischen einer reichen Küsten- und einer wilden Bergregion, sie können hier nur stichpunktartig aufgezählt werden und sind für antike status societies allgemein bekannt.183 Eine Besonderheit der Sozialstruktur innerhalb des Judentums könnte hingegen darin bestanden haben, daß weder ein Patronagesystem noch ein Euergetismus wie in anderen Provinzen existierte, zudem die wichtigsten sozialen Kategorien nicht auf wirtschaftlichem, sondern auf religiösem Status basierten.184

178

Joseph., AJ 20,219–222. Zu Cäsarea vgl. Levine (1975); Lifshitz (1977). 180 Vgl. dazu Joseph., AJ 20,101, 222; 15,391; BJ 5,36. 181 Sehr aufschlußreich dazu ist Brunt (1977), S. 152, mit Stellenangaben. Hier ist auch erwähnt, daß sich die Stadtbevölkerung zu den Römern weitaus loyaler verhielt und weniger zum Widerstand neigte als die Landbevölkerung, besonders in Galiläa. 182 Zum Verschuldungsproblem vgl. bes. Goodman (1983). 183 Vgl. Finley (1993) sowie das Modell bei Garnsey/Saller (1989), S. 65 ff. 184 Vgl. dazu Goodman (1987), S. 64–69, bes. 67. In traditionalen Gesellschaften seien wirtschaftliche Beziehungen zumeist in soziale eingebettet. Nicht so in Judäa, wo es die sozialen Kategorien nicht gegeben habe, bei denen die Funktion der verschiedenen Gruppen mit der ökonomischen Produktion übereinstimmten. Weder Bauern, Handwerker, Landbesitzer noch reiche Kaufleute hätten sich als soziale Gruppe eigener Klasse mit eigenen Interessen und Rechten identifiziert. Dafür habe man sich als Israelit, Levite, Priester, Proselyt oder geborener Jude gefühlt, jedoch keine Solidarität mit anderen Angehörigen derselben ökonomischen Klasse empfunden. 179

6. Skizze der Provinzialstruktur Judäas

179

Wenn in diesem Kapitel bereits deutlich wurde, in welch komplexes politisches und soziales Beziehungsgeflecht der judäische Statthalter eingebunden war, so soll im nächsten Kapitel die statthalterliche Strafgewalt auf drei Ebenen genauer analysiert werden.185 Die von Josephus überlieferten Fälle statthalterlicher Strafgewalt werden zunächst im Rahmen ihres spannungsreichen Verhältnisses zwischen Kooperation und Konflikt der ihm unterworfenen Provinzialbevölkerung im Allgemeinen und bestimmter ihrer gesellschaftlichen Gruppierungen im Besonderen untersucht (5.1.). Daraufhin wird das Verhältnis des judäischen zum syrischen Statthalter berücksichtigt, der – wie bereits angedeutet – in der Provinz Judäa intervenieren konnte (5.2.). Schließlich stellt sich die Frage, welchen Einfluß die Haltung des Kaisers in Rom oder prominenter Persönlichkeiten am kaiserlichen Hof auf die Amtsführung des judäischen Statthalters haben konnte (5.3.). Eine erste Orientierung zu den einschlägigen Beziehungskonstellationen gibt das folgende Schaubild.

185 Zu erwägen wäre noch, welche Rolle der Prokurator in Jamnia als Informant über die judäischen Verhältnisse am kaiserlichen Hof spielte, vgl. dazu Stern (1974), S. 323, 348, 355 f.; Stenger (1988), S. 60.

180

IV. Die Statthalter und die Provinz Judäa

Kaiser Rom/Kaisergericht

Statthalter in Syrien Statthalter in Judäa

Mitglieder der herodianischen Familie

Klientelkönige Tetrachen Ethnarchen

Hohepriester/Synedrion Priester-/Laienaristokratie Städtische Oberschichten (Boule)

Provinziale

– ethnisch: Juden, Syrer, Griechen, Römer – regional: Judäa, Paräa, Galiläa, Samaria – funktional: Priester, Soldaten, Gesandte, Magistrate – religiös: Sadduzäer, Pharisäer, Essener, pagane Kulte – militante Gruppen: Zeloten, Sikarier, „Räuber“ – Stadt-Land-Verhältnis (Jerusalem, Cäsarea, Küstenstädte) – Status/Prestige: Reichtum, Amt, Abstammung, Bürgerrecht Schaubild: Interaktions- bzw. Kommunikationsstruktur im Herrschaftsgefüge Judäas186

186 Durchgezogene Linien: Bedeutsame Interaktionsmöglichkeiten in direkter Auswirkung auf die Strafgewaltspraxis des Statthalters. Gestrichelte Linien: Andere Kommunikationskanäle mit potentiellem Einfluß auf das Statthalterregiment, jedoch mehr indirekter Art.

V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa 1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung Unter den Statthaltern Coponius, Marcus Ambivius, Annius Rufius und Valerius Gratus, also der Zeit von 6 bis 25 n. Chr., berichtet Josephus von keinen nennenswerten Konfrontationen zwischen den Statthaltern und der jüdischen Bevölkerung.1 Dies scheint sich aber schlagartig mit der Statthalterschaft des Pontius Pilatus zu ändern.2 Die seit dieser Zeit von Josephus überlieferten Fälle der Strafgewaltsausübung des judäischen Statthalters über die Provinzialen werden in fünf Abschnitten untersucht. Selbstredend ist die folgende Einteilung, soweit sie sich an bestimmten Fallgruppen orientiert, darstellungspragmatischer Natur und soll keinesfalls den Eindruck erwecken, auf irgendeiner zeitgenössischen Rechtsgrundlage zu basieren. Im ersten Abschnitt geht es um die Reaktion der Statthalter auf religiös-messianische Prophetien, die zu militanten Massenbewegungen führten. Der zweite Abschnitt handelt vom Problem des räuberischen Bandenwesens. Beide Erscheinungen stellten eine unmittelbare Gefahr für die römische Provinzialherrschaft dar, so daß es für die Reaktion der Statthalter in Anwendung ihrer Strafgewalt keine Alternative zur militärischen Bekämpfung gab. Anders gestaltete sich der Ermessensspielraum des Statthalters in Fällen, wie sie der dritte Abschnitt behandelt. Zum spontanen, teils zornig-erregten, jedoch nicht bewaffneten Protest der einheimischen 1 Joseph., AJ 18,30 erwähnt kurz, daß unter dem Statthalter Coponius einige Samaritaner, die heimlich nach Jerusalem gekommen waren, menschliche Gebeine in den Hallen und im ganzen Tempel verstreut hätten, woraufhin gegen die Gewohnheit zum Fest der Zutritt zum Tempel versperrt werden mußte und die Bewachung verschärft wurde. Für Smallwood (1976), S. 157 f., deuten die spärlichen Informationen darauf hin, daß es eine relativ ruhige Zeit war, in der die Statthalter moderat regierten und allgemein akzeptiert waren. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß Josephus für diese Zeit auch schlichtweg die Informationen gefehlt haben könnten; vgl. oben Abschnitt III. 3. 2 Auch die Kreuzigung Jesu wird in Joseph., AJ 18,63 erwähnt. Es wird jedoch davon ausgegangen, daß es sich, wenn nicht um eine spätere Interpolation, so doch um eine redigierte Passage handelt, vgl. Betz (1982), S. 582 f.; Bammel (1986a); Feldman (1999), S. 911 f.; Mason, S. (2000), S 245–259. Dieses sog. Testimonium Flavianum gibt zudem zur Vorgehensweise des Statthalters keine Hinweise. Die Hinrichtung Jesu durch Pilatus ist auch erwähnt in Tac., Ann. 15,44,3: auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio affectus erat.

182

V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Juden gegen bestimmte Entscheidungen oder Handlungen der Statthalter oder in seinem Dienst stehender Soldaten überliefert Josephus Fälle, die zeigen, wie stark die Strafgewalt von der rein persönlichen Einschätzung der Statthalter abhing. Im vierten Abschnitt werden Fälle dargelegt, bei denen die Rolle der provinzialen Oberschicht in ihrer Stellung zwischen dem Statthalter und den Einheimischen besonders deutlich wird. Auch der fünfte Abschnitt behandelt den Umgang des Statthalters mit der provinzialen Oberschicht, jedoch unter Umständen, die eine gesonderte Erörterung erfordern. Josephus schildert uns in den Jahren kurz vor Ausbruch des Jüdischen Krieges ein Statthalterregiment, bei dem die Strafgewalt zu einem Instrument willkürlicher und brutaler Unterdrückung der Provinzialen entartet. Anschließend folgt eine kurze Zwischenbetrachtung, in der die Strafgewalt des judäischen Statthalters anhand der bis dahin angestellten Untersuchungsergebnisse charakterisiert werden soll. Es sei hier nochmals betont, daß die folgende Ordnung nach bestimmten Fallgruppen keinesfalls nach irgendwelchen (straf)rechtlichen Kriterien, etwa bestimmten Deliktskategorien, erfolgt, obgleich es hier Überlappungen, z. B. zur perduellio bzw. maiestas, geben kann; vielmehr orientiert sich die Darstellung daran, welche charakteristischen Hauptmerkmale aus den historiographischen Informationen am deutlichsten bei Josephus hervortreten. a) Falsche Propheten Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit bestand für die Statthalter im Auftreten sogenannter falscher Propheten (yeudopro—Þthò), jene „Schwarmgeister und Betrüger“, die aus Josephus’ Sicht „unter dem Vorwand göttlicher Eingebung Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge in dämonische Begeisterung versetzten“.3 (1)4 In einem Fall unter Pilatus ging es darum, „das Volk“ davon abzuhalten, einem Samaritaner auf den Berg Gerazim nachzufolgen,5 weil dieser 3 Joseph., BJ 2,259; der Satz davor lautet in BJ 2,258: „Außerdem [neben den Sikariern, G.K.] bildete sich eine weitere Bande von nichtswürdigen Menschen, deren Hände zwar reiner, deren Gesinnung aber um so gottloser waren, die nicht weniger als die Meuchelmörder zur Zerstörung des Glückes der Stadt beitrugen.“ Zu den „falschen Propheten“ vgl. Betz (1982), S. 583–592. 4 Im folgenden werden die einzelnen Fälle bzw. die für uns in dem jeweiligen Abschnitt maßgeblichen Teile bestimmter Fälle durchnumeriert. Da es sich hier um keine chronologische Darstellung handelt, die sich an den geschilderten Ereignisverlauf des Josephus hält, erleichtert diese Numerierung Vergleiche oder Bezugnahmen innerhalb der verschiedenen erörterten Fallsituationen. Vgl. dazu die Falliste im Anhang. 5 Zu den Samaritanern in der Antike vgl. die Aufsätze von M. Mor, B. Hall in: Crown (1989); außerdem Lémonon (1981), S. 231–239; Isser (1999). Grundmann/

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

183

vorgab, dort die von Moses begrabenen heiligen Gefäße vorzeigen zu können.6 Die gläubigen Samaritaner, für die der Berg heilig war, versammelten sich daraufhin in Waffen (™n Õploiò) in einem Dorf namens Tirathana, um sich von dort aus möglichst zahlreich auf den Berg zu begeben.7 Pilatus wollte dies verhindern und besetzte deshalb zunächst mit „Reiterei und schwerbewaffnetem Fußvolk“ den Weg zum Berg Gerazim, um dann die Anführer der Samaritaner mit seinen Soldaten anzugreifen. Dabei seien schließlich einige der Samaritaner umgekommen, und von den vielen Gefangenen, die nicht hätten fliehen können, habe Pilatus dann die Vornehmsten (koru—aiotÜtoiò) und Einflußreichsten (dunatþtatai) hinrichten lassen.8 (2) Auch in der Amtszeit des Statthalters Fadus9 trat ein „Betrüger“10 auf. Jener Theudas gab vor, den Jordan teilen zu können, und bewog deshalb eine große Menschenmenge dazu, ihm mit all ihrer Habe dorthin zu folgen. Fadus habe daraufhin eine Abteilung Reiter gegen sie ausgesandt, die unerwartet über die Menschenmenge herfiel, „viele von ihnen tötete und andere in Gewahrsam brachte“. Theudas selbst sei „enthauptet und sein Kopf nach Jerusalem gebracht“ worden.11

Leipoldt (1990), S. 148: „Noch in der ptolemäischen Zeit hatten sich die Samaritaner, die von den Juden beim Wiederaufbau Jerusalems als unrein zurückgewiesen worden waren, vom Jerusalemer Tempelkult getrennt. Sie hatten den Pentateuch, eine Arbeit priesterlicher Theologie, der in nachexilischer Zeit bald kodifiziert worden war, übernommen, jedoch auf dem Gerazim ihren eigenen Tempel aufgebaut. Aus der damit entstandenen Konkurrenz verschärfte sich der Gegensatz. Die Juden legten auf die Reinheit ihrer Abstammung größten Wert [. . .]; sie beschuldigten die Samaritaner, aus verschiedenen Völkern entstanden zu sein, die nach dem Ende des Nordstaates Israel in ihr Gebiet gekommen waren. Sie betrachteten die Samaritaner als unreines Volk, das sich zu Unrecht auf Jahwe berief.“ Vgl. 2 Kön 17,24–34; Joseph., AJ 9,288. Der Gerazim-Tempel wurde infolge einer hasmonäischen Strafaktion 129/8 v. Chr. zerstört. 6 Vgl. Joseph., AJ 18,85. Der Glaube beruht auf dem zehnten Gebot und Deut 18,15 u. 18, daß ein Prophet aus dem Stamm Levi, aus dem auch Moses abstammt, kommen und die versteckten heiligen Gefäße des Tempels entdecken wird. 7 Joseph., AJ 18,86. 8 Joseph., AJ 18,87. 9 Vgl. zur Amtszeit des Fadus Joseph., AJ 19,363–20,8. 14. 10 Vgl. zum griechischen Ausdruck gühò mit Vergleichsstellen A. b der AJ-Ausgabe von Feldman (Havard Bd. 456), S. 52. 11 Joseph., AJ 20,97 f.; auch in der Acts 5,36 ist von einem Theudas die Rede, „der behauptete, er sei etwas Besonderes. Ihm schlossen sich etwa vierhundert Männer an. Aber er wurde getötet, und sein ganzer Anhang wurde zerstreut und aufgerieben.“ Es kann angezweifelt werden, ob es sich dabei um die gleiche Person handelt, weil sich die Gamalielrede der Bibelstelle viel früher ereignet hat, als das besagte Ereignis bei Josephus.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

(3) Desweiteren berichtet Josephus noch von einem Ägypter, der sich für einen Propheten ausgab und das gemeine Volk dazu verleiten wollte, mit ihm auf den Ölberg zu steigen, um ihm von dort aus zu zeigen, „wie auf sein Geheiß die Mauern Jerusalems zusammenstürzen, durch welche er ihnen den Zugang zur Stadt bahnen würde“.12 An anderer Stelle formuliert Josephus das Gefahrenpotential dieses Vorfalls für die römische Herrschaft deutlicher aus der gouvernementalen Perspektive, wenn er schreibt, dieser falsche Prophet, der tausende Betrogene um sich gesammelt habe, hätte „mit Hilfe seiner bewaffneten Begleiter gewaltsam in Jerusalem eindringen, die römische Besatzung überrumpeln und sich zum Herrscher über das Volk aufwerfen können“.13 Der Statthalter Felix sei dem aber zuvorgekommen und dem Ägypter samt Anhängern mit seinen Soldaten entgegengetreten, wobei ein Großteil von ihnen getötet oder gefangen genommen wurde, andere hingegen, wie der ägyptische falsche Prophet selbst, entfliehen konnten.14 In allen drei hier geschilderten Fälle kam es durch „falsche Propheten“ zu größeren konzentrierten Aufmärschen von Bevölkerungsteilen, die bereit waren, den jeweiligen Verheißungen mit ihren alttestamentarischen Bezügen zu glauben. Die Statthalter gingen rigoros vor, vertrieben die Menschenmengen durch Soldaten, wobei es jedesmal Todesopfer gab, machten Gefangene und ließen die Anführer hinrichten, soweit sie ihrer habhaft werden konnten. Den Statthalter interessierten wohl kaum die religiösen Beweggründe, sondern eher die Tatsache dieser Massenbewegungen selbst. Die brutale Vorgehensweise der Statthalter war stets eine Reaktion auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, so wie sie von den Römern aufgefaßt wurde. Im ersten Fall bei Pilatus handelte es sich um eine Anhäufung bewaffneter Samaritaner, und im letzten Fall wurde die römische Provinzialherrschaft über Judäa als solche in Frage gestellt, weil der vermeintliche Prophet zumindest gemäß Josephus’ Schilderung über so große Machtmittel verfügte, daß er mit Gewalt in Jerusalem hätte eindringen können, um von dort aus seinen Herrschaftsanspruch über die Juden zu 12 Joseph., AJ 20,169–170; in BJ 2,261: „Es kam nämlich ein betrügerischer Wundertäter ins Land, der sich selbst für einen Propheten ausgab und 30.000 Opfer seines Betruges um sich sammelte.“_ _ 13 Joseph., BJ 2,262: ™ke_iqen o üò te šn eœò `Ierosüluma parelqe_in biÜze_ _ _ _ _ _ ¢Rwmašk hò —rour aò kaÍ tou dÞmou turanne in sqai kaÍ kratÞsaò t hò te _ _ xrþmenoò to iò suneispesousin doru—üroiò. 14 Joseph., BJ 2,263; AJ 20,172 spricht Josephus von 4000 Gefallenen der auf dem Ölberg versammelten Anhänger des Ägypters und von 200 Gefangenen. BJ 2,263 betont, daß sich „das ganze Volk“ an der Abwehr beteiligt habe. Der entkommene Ägypter ist wahrscheinlich jene Person, für die versehentlich der Apostel Paulus bei seiner Verhaftung laut Acts 21,38 gehalten wurde; vgl. dazu unten Abschnitt VI. 2. a).

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proklamieren. In diesen Fällen gingen die Statthalter sogleich militärisch vor, sofern sie ein bestimmtes Menschenpotential banden, in ihren Zielen eindeutig herrschaftliche Implikationen hatten und in ihrem Auftreten militante Züge aufwiesen. Dabei wird der exemplarische sowie summarische Charakter der Hinrichtungen deutlich, wobei besonders die jeweiligen „Anführer“ bzw. „Anstifter“ zur Verantwortung gezogen werden. Namentlich erwähnt ist nur Theudas, von dem wir erfahren, daß er enthauptet und sein Kopf nach Jerusalem verbracht wurde, um dort möglicherweise zur Abschreckung ausgestellt zu werden. Die Exekutionen geschehen allesamt im Rahmen militärischer Aktionen, so daß keine Befragung, Anklage, Untersuchung oder sonstige prozessuale Verfahren erwähnt sind. Die Statthalter machen von ihrem imperium bzw. ius gladii Gebrauch, und ob den Hinrichtungen ein besonderes Verfahren – etwa ein abschreckender Schauprozeß zumindest bei den Anführern (wie z. B. bei Theudas) voranging – läßt sich nicht ausschließen, jedoch ist darüber nichts überliefert. Auch was mit den Gefangenen geschieht, erfahren wir nicht, d. h., ob sie in ein Gefängnis gebracht wurden, um dort mit oder ohne Prozeß hingerichtet zu werden. Man kann davon ausgehen, daß es in all den Fällen religiöser Prophetie aus römischer Sicht für den Statthalter von entscheidender Bedeutung war, ob sie die politische Dimension eines Aufstandes annahmen, so daß mit aller obrigkeitlichen Härte durchgegriffen wurde, oder ob es sich nur um eine Einzelerscheinung handelte, bei der man im Rahmen einer Einzeluntersuchung gegebenenfalls Milde walten lassen konnte.15 b) Räuberbanden und deren Anführer Neben den religiös motivierten Massenbewegungen bedrohte auch räuberisches Bandenwesen die „römische Ordnung“ und zwang die Statthalter, dagegen vorzugehen. Besonders für die Zeit der Wirren nach dem Tod von König Herodes dem Großen, also noch bevor die Römer die direkte Macht in Judäa übernommen hatten, berichtet Josephus von marodierenden Räuberbanden. Judäa sei voll von Räubern gewesen,16 und deren Anführer hätten es nicht nur vermocht, die Truppen des syrischen Statthalters Varus in Bedrängnis zu bringen, sondern hätten zudem selbst nach der Herrschaft und Königswürde gestrebt. Josephus betont in diesem Zusammehang die nichtreligiösen Motive und das persönliche Gewinn- und Machtstreben dieser Anführer.17 Zu dieser Zeit „geriet das Land auch an vielen anderen Stellen in Aufruhr, und die Lage der Dinge stachelte viele dazu auf, nach der 15 16

Vgl. unten Fall (11) in Abschnitt V. 1. d). _ Joseph., AJ 17,285: LÂhsthrßwn dÊ † \Ioudaßa plÝwò šn.

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Königswürde zu streben [. . .]. In Sepphoris in Galiläa brachte Judas, der Sohn des Ezechias, der einst als Räuberhauptmann das Land durchstreift hatte und von König Herodes überwältigt worden war,18 einen beträchtlichen Haufen zusammen, bewaffnete seine Anhänger und griff die an, die nach der Herrschaft strebten.“19 In Paräa „legte Simon, einer der königlichen Sklaven, im Vertrauen auf seine Wohlgestalt und Leibesgröße sich selbst das königliche Stirnband an. Bei seinen Streifzügen mit den Räubern, die er um sich gesammelt hatte, brannte er den königlichen Palast in Jericho nieder, dazu viele Landhäuser der Reichen, und erwarb sich leichte Beute aus den Feuersbrünsten“.20 Außerdem wagte es „ein Hirt, nach der Königsherrschaft zu streben; er hieß Athrongaios. Es ermutigte ihn zu dieser Hoffnung seine Körperstärke und der todesverachtende Eifer seiner Seele, schließlich auch die Tatsache, daß er vier ihm gleichgeartete Brüder hatte. Er unterstellte jedem von ihnen eine bewaffnete Bande und verwendete sie als Feldherren und Satrapen für die Raubzüge, er selbst spielte den König und gab sich nur mit würdigeren Geschäften ab. Damals legte er sich also das königliche Stirnband an und konnte sich anschließend geraume Zeit behaupten, während er mit seinen Brüdern das Land durchstreifte“.21 Joseph., AJ 17,269: \En toýtà w dÊ kaÍ Òtera murßa qorýbwn ™xümena tÌn _ _ kat' oœkeßwn ™lpßdaò kerdwn \Ioudaßan katelÜmbanen pollwn pollaxüse _ kaÍ \Ioudaßwn æxqraò ™pÍ tÎ poleme in rmhmÝnwn. Die AJ-Hrsg. Marcus/Wigkren (Harvard, Bd. 410) meinen denn auch in A. a, S. 498 f., daß diese Anhänger nicht notwendigerweise mit den Zeloten in Verbindung gebracht werden könnten. Zur Anmaßung der Königswürde, vgl. Joseph., AJ 17,285: kaÍ ‡ò paratýxoiÝn _ _ _ u tini oá sustasiÜsanteò ažtÃw, basileÏò proústÜmenoò ™p' lÝqrÃw tou koino _ špeßgeto, lßga mÊn kaÍ ™p' lßgoiò ¢Rwmaßoiò luphroÍ kaqistÜmenoi, tou dÊ _ ‡mo—ýlou —ünon ™pÍ mÞkiston ™mpoiounteò. Es sei hier nur darauf aufmerksam gemacht, daß diese Stellen über die Königsanmaßungen der Bandenführer auch in Bezug zu Jesus’ von Nazareth Anklage als „König der Juden“ gebracht werden können (INRI-Kreuzesinschrift etc.); vgl. dazu unten Kap. 6. 18 Zur Bekämpfung von Aufruhr und Rebellion in Galiläa setzte Antipater, der Vater des Herodes, der von Cäsar zum Statthalter (epitropos) von ganz Judäa ernannt worden war (Joseph., BJ 1,199), seinen noch jungen Sohn ein (BJ 1,203). Dort „griff er den Räuberhauptmann Ezechias an, der mit seiner zahlreichen Bande die benachbarten Gebiete durchzog“ (BJ 1,204). Der Widerstand des Synedrions gegen die Maßnahmen des Herodes, wie auch das Klagen der Mütter getöteter „Räuber“ in Jerusalem (AJ 14,168) sind evtl. Hinweise darauf, daß es sich auch hier um religiöse Eiferer gegen die Fremdherrschaft gehandelt haben könnte. Daß der Begründer der Zelotenpartei, Judas Galiläus (BJ 2,118), mit dem hier genannten Judas identisch ist, läßt sich nicht erweisen. Vgl. aber Joseph., BJ 1,202, wo von den „erbärmlichen Hoffungen“ derer die Rede ist, „die den Umsturz um persönlichen Gewinnes willen suchten“. 19 Joseph., BJ 2,55 f. 20 Joseph., BJ 2,57; vgl. AJ 17,273–277. 21 Joseph., BJ 2,60–62; vgl. AJ 17,278–284. 17

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(4) Aber auch für die nachfolgende Zeit der direkten römischen Herrschaft berichtet Josephus von Räuberbanden und deren Anführern. So z. B. von dem Erzbriganten (˜rxilÂhstÌò) Tholomäus, der den Idumäern und Arabern beträchtlichen Schaden zugefügt hatte. Leider erfahren wir nicht mehr, als daß er vom Statthalter Fadus mit dem Tode bestraft wurde, nachdem er diesem vorgeführt worden war. Jedoch muß es viele solcher Fälle gegeben haben, denn es heißt weiter, dieser Statthalter habe seitdem durch seine Energie ganz Judäa von den Räuberhorden gesäubert.22 (5) Vom Statthalter Felix berichtet Josephus hingegen, daß unter seinem Regiment die Verhältnisse in Judäa immer zerrütteter wurden, denn das Land sei abermals voll von Räubern (lÂhstÞrion) und Betrügern (goÞtwn) gewesen.23 Felix habe „eine große Anzahl [von ihnen] ergreifen und hinrichten“ lassen,24 wie z. B. auch den Eleazar, Sohn des Dinaeus, „der eine Räuberbande um sich versammelt“ und „zwanzig Jahre lang das Land verheert“ hatte. Diesen bekam Felix aber nur durch einen Hinterhalt zu fassen, indem er Eleazar unter Zusicherung voller Straflosigkeit zu sich zitierte und – nachdem sich dieser darauf eingelassen hatte – gefesselt nach Rom bringen ließ.25 Aus welchem Grund Eleazar das Risiko einging, sich zum Statthalter zu begeben, und weshalb dieser ihn nicht gleich hinrichten ließ, sondern nach Rom überstellte, wird nicht erklärt. Um eine Appellation des Räubers an den Kaiser kann es sich schwerlich gehandelt haben, so daß gerade dieser Fall bezeugt, daß eine Überstellung nach Rom auch unabhängig davon stattfinden konnte. Möglicherweise konnte sich Felix damit beim Kaiser profilieren, wenn er einen lang gesuchten und gefürchteten Bandenanführer nach Rom auslieferte.26 Man kann aber m. E. nicht daraus ableiten, daß der Statthalter dazu verpflichtet gewesen wäre und den Eleazar nicht hätte selbst aburteilen und hinrichten dürfen. Dies geht eindeutig aus den anderen Fällen hervor. Folglich kann auch der Verzicht auf die Ausübung der eigenen Strafgewalt durch Überstellung eines Beschuldigten nach Rom für ein Kennzeichen des statthalterlichen Ermessensspielraums betrachtet werden. 22

Vgl. Joseph., AJ 20,5. Joseph., AJ 20,160. Zu beachten ist die Unterscheidung ,Räuber‘ und ,Betrüger‘. Bei der letzteren Bezeichnung handelt es wohl eher um die sog. falschen Propheten, wozu dann auch der Zusatz paßt: „die das Volk irreleiteten.“ 24 Joseph., AJ 20,161. 25 Joseph., AJ 20,161 in Verbindung mit BJ 2,253. Eleazar tritt das erste Mal in einem anderen Zusammenhang in Erscheinung, vgl. Joseph., AJ 20,121; BJ 2,235. 26 Der AJ-Hrsg. Feldman (Havard, Bd. 456), S. 65, schreibt in A. d, daß Eleazar als der Ben Dinai identifiziert werden könne, der nach der Midrash Rabbah on Song of Songs 2,18, vor allem versuchte, die Juden zu befreien. Wie er darauf kommt, bleibt mir verborgen. 23

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Josephus gebraucht Bezeichnungen wie Betrüger, Aufrührer und Räuber, ohne dabei zu differenzieren, in eindeutig diffamierender Absicht. Wenngleich die religiöse Motivation für die aufrührerische Bandenbildung nicht für alle Delinquenten ausgeschlossen werden kann, scheint es sich in der Mehrzahl der Fälle um Räuberbanden gehandelt zu haben, die aus eigennützigen Motiven das Land verunsicherten. Josephus schenkt ihnen insgesamt weit weniger Aufmerksamkeit als den religiös motivierten Unruhen im Land. Trotzdem wird klar, daß es sich hierbei für die römische Oberherrschaft keineswegs um ein marginales Problem handelte. Bedenkt man, wie lange Bandenführer wie Tholomäus und Eleazar ihr Unwesen treiben konnten und letzterer nur durch eine List des Statthalters gefaßt wurde, so wird deutlich, daß das räuberische Bandenwesen, zumal in schwer zugänglichen Gebirgs- oder Grenzregionen, für die Statthalter ein kaum in den Griff zu bekommendes Problem darstellte. In Zeiten unsicherer Herrschaftsverhältnisse, wie z. B. nach dem Tod Herodes des Großen, wurden die Banden sogar zu einem gefährlichen bewaffneten Machtfaktor, wobei sich deren Anführer auch königliche Herrschaftssymbole zulegten. Nur mit erheblichem militärischen Aufwand des syrischen Statthalters konnten die Römer der Lage wieder Herr werden, ohne aber das räuberische Bandenwesen völlig unterdrücken zu können. Die Räuberbanden konnten sich leicht in schwer zu kontrollierendes Gebiet zurückziehen und von dort aus operieren, wobei ihnen, wie andere Josephusstellen verdeutlichen, die sozialen Verhältnisse und die Armut eines Großteils der Bevölkerung immer wieder neue Mitglieder zuführten.27 Wie sehr die Anführer von Räuberbanden auch während der direkten römischen Herrschaft lokale Machthaber blieben, zeigt gerade der Fall des Eleazar, der im Streit mit den Samaritanern von den galiläischen Juden zur Hilfe gerufen wurde.28 Besonders gefährlich wurden die Räuberbanden, wenn sie politische Wirren für sich ausnutzen konnten, da sie dem religiös oder politisch motivierten Volkszorn einerseits die notwendige bewaffnete Macht zur Verfügung stellen konnten und dabei andererseits ihren räuberischen Absichten noch den Anschein einer Bekämpfung von Ungerechtigkeiten zu geben vermochten. Daß die Statthalter dagegen mit Truppengewalt vorgingen und die Räuber hinrichten ließen oder bei besonders prominenten Fällen Gefangene nach Rom überstellen konnten, ist kaum 27 Vgl. zur Gewaltbereitschaft aus sozialen Gründen z. B. Joseph., BJ 2,238.265.472; AJ 18,274. Josephus schreibt in AJ 20,121.124, daß Judäa nach dem Konflikt zwischen den Samaritanern und Galiläern, bei dem letztere den Räuber Eleazar mit seinen Leuten zur Hilfe gerufen hätten, sich die Banditen wieder in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen hätten und von dieser Zeit an Judäa fortwährend der Schauplatz räuberischer Streifzüge gewesen sei. 28 Vgl. dazu den Fall (14) in Abschnitt V. 1. d).

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verwunderlich. Auf der anderen Seite verdeutlicht das Phänomen des räuberischen Bandenwesens auch, wie instabil die Verhältnisse spätestens seit den 50er Jahren in Judäa in Wirklichkeit waren.29 c) Provinzialer Massenprotest und die Reaktion der Statthalter Anders als bei den Fällen des Räuberunwesens und religiös-prophetischer Massenbewegung mit militanten Zügen schildert Josephus auch Fälle spontaner Protestreaktionen der Provinzialbevölkerung, auf welche die Statthalter nicht jedesmal mit militärischen Strafaktionen reagierten. Zudem finden solche Vorfälle nicht nur summarische Erwähnung, sondern werden eingehender geschildert. Dadurch wird es möglich, von folgender Ausgangsüberlegung auszugehen: Wenn Josephus Fälle überliefert, in denen die Statthalter in Ausübung ihrer Strafgewalt unter ähnlichen Ausgangsbedingungen völlig verschieden handelten, so impliziert diese Art der Darstellung die Tatsache, daß die Reaktionen der Statthalter in solchen Fällen allein von ihrer persönlichen Einschätzung der Lage, nicht aber von etwaigen rechtlichen Vorgaben abhingen, nach denen sie sich zwangsläufig zu richten hätten. Unter dem Regiment der Statthalter Pilatus und Cumanus sind jeweils zwei Fälle überliefert, in welchen eine Entscheidung oder ein Verhalten von Repräsentanten römischer Herrschaft von den Juden als Verstoß gegen ihr heiliges angestammtes jüdisches Recht empfunden wurde und wogegen sie sich auflehnten, die Statthalter jedoch jeweils unterschiedlich reagierten.30 (6) In den Fällen des Pilatus beschwört er selbst durch seine Entscheidungen den zivilen Ungehorsam der Juden herauf. Zunächst schildert Josephus den Vorfall, daß Pilatus seine Truppen unter Mißachtung der jüdischen Gesetze aus Cäsarea in die Winterquartiere nach Jerusalem führte.31 29

Vgl. z. B. Joseph., BJ 2,238, siehe auch Abschnitt V. 1. e). Daß Josephus einen Zusammenhang zwischen der Respektierung der jüdischen Bräuche durch die Römer und der Ruhe unter der Bevölkerung herstellt, zeigt sein kurzes Resümee in BJ 2,220 über die Amtszeit der beiden Statthalter Fadus und Alexander: „Beide konnten in Ruhe über das Volk herrschen, weil sie die ihm _ _ eigentümlichen Sitten nicht verletzten (oá mhdÊn parakinounteò twn ™pixwrßwn _ ™qwn ™n eœrÞnÂh tÎ æqnoò die—ýlacan)“. Eine hilfreiche Zusammenstellung der jüdischen Religionsgesetze bei Stauffer (1957), S. 113 ff. 31 Vgl. Joseph., AJ 18,55–59; BJ 2,169–174. Das wahrscheinlichste Datum dieses Vorfalls ist das erste Amtsjahr des fünften judäischen Statthalters Pilatus 26 n. Chr. Sein erstes Amtsjahr war nach Euseb., Hist. eccl. 1,9 das zwölfte Amtsjahr des Tiberius. In Joseph., BJ 2,170 heißt es, daß die Juden durch den Anblick der Kaiserbilder erschüttert waren, weil ihre „Gesetze mit Füßen getreten“ worden seien, denn diese fordern, „daß kein Bildnis in der Stadt aufgestellt wird“; AJ 18,55 schildert es so, daß Pilatus „nach Auflösung der jüdischen Gesetze [trachtete], indem er die Büsten des Kaisers, die an den Zeichen angebracht sind, in die Stadt hineinführte, obwohl die Herstellung von Bildern uns das Gesetz verbietet.“ Zum Bilderverbot vgl. 30

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Da die früheren Statthalter mit Feldzeichen ohne „Verzierung“ in die Stadt eingezogen waren, habe Pilatus „als erster“ (!) ohne Vorwissen der Bevölkerung die Bilder des Kaisers, die sich an den Feldzeichen befanden, zur Nachtzeit in Jerusalem aufstellen lassen.32 Daraufhin zog das Volk scharenweise nach Cäsarea und bestürmte und bedrängte den Statthalter mehrere Tage lang, die Feldzeichen aus Jerusalem wieder zu entfernen. Pilatus sah in dieser Bitte aber einen „Frevel gegen den Kaiser“33 und gab deshalb nicht nach. Erst am sechsten Tag34 setzte er sich im großen Stadion auf den Richterstuhl35 und ließ das Volk herbeirufen, so „als wolle er ihnen antworten“36. Nach Art der Formulierung unterstellt Josephus dem Pilatus, die Versammlung nur zum Schein einberufen zu haben, da seine Absicht, mit Gewalt durchzugreifen, bereits feststand. Indem er auf diese Weise die bittstelEx 20,4; Deut 4,16. und z. B. Abodah Zarah 47 b. Von einem ähnlichen Fall berichtet Philo, Leg. 299–306, wo es sich um vergoldete Schilder – jedoch ohne Bilder – handelte, die Pilatus in den Königspalast des Herodes führen ließ. Auch hier kam es zu einer starken Gesandtschaft, einschließlich der vier Söhne von Herodes d. Gr. an Pilatus. Wahrscheinlich erregten sich hier die Juden über die Schildinschrift divi Augusti filius, worin hyperorthodoxe Juden ein Sakrileg sehen konnten. In der Forschung werden wegen der Parallelen bei Josephus und Philo mehrere Thesen vertreten: 1. Es handle sich um den gleichen Vorfall, der jedoch von beiden Autoren verschieden dargestellt wird, entweder weil Josephus den Bericht des Philo umgestaltet hat oder weil beide unabhängig voneinander berichten, jedoch jeweils weglassen, was ihrer Tendenz entgegensteht; 2. es handle es sich um zwei unterschiedliche Vorfälle unter Pilatus; daß dieser Fall bei Josephus ausgelassen wurde, könne daran gelegen haben, daß er die Erregung seiner Landsleute in diesem Fall unberechtigt fand. Pilatus gab in diesem Fall übrigens nach und ließ die Schilde nach Cäsarea zurückbringen. Ich möchte die Frage hier offenlassen, da beide Positionen gute Argumente für sich geltend machen können und wir uns hier auf die Betrachtung der Überlieferung von Josephus beschränken. Zur Diskussion vgl. Kraeling (1942); Doyle (1965), S. 190 f.; Maier, P. L. (1969); McGing (1986), S. 64; Lémonon (1981), S. 205–230, bes. S. 214–217; Fuks (1982), S. 503–507; Davies (1986); Demandt (1999), S. 86–89. 32 Joseph., AJ 18,55–56. Bei den Feldzeichen mit Kaiserbildern handelt es sich wahrscheinlich um signa. Josephus betont ausdrücklich den provokativen Charakter und die Erstmaligkeit des Verstoßes gegen die jüdischen Sitten, seit Judäa römi_ _ _ wn nomßmwn t wn \Ioudaúk wn schen Statthaltern untersteht: ™pÍ katalýsei t _ _ _ †gemüneò ta iò mÌ metJ toi wnde ™—rünhse [. . .] kaÍ diJ _touto o prüteron _ _ _ küsmwn shmaßaiò ™poiounto eèsodon t Âh pülei. prwtoò dÊ Pil atoò ˜gnoßÁa _ twn ˜nqrþpwn diJ tÎ nýktwr [._ . .] eœò tJ `Ierosüluma. 33 Joseph., AJ 18,57: diJ tÎ e œò Öbrin Kaßsari —Ýrein; ohne Begründung der Weigerung des Pilatus in BJ 2,171. 34 Die Zeitangabe ergibt sich aus Joseph., BJ 2,171–172, ist aber in der Parallelstelle in AJ nicht erwähnt. 35 Joseph., BJ 2,172. Das bêma war ein Podest für Richter und Redner, vgl. auch Joh 19,13. 36 Joseph., BJ 2,172.

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lende Masse in einen Hinterhalt lockte,37 drohte er dieser mit augenblicklicher Todesstrafe, falls sie die Kaiserbilder nicht dulden wollten und nicht heimkehrten.38 Darauf warfen sich die Juden zu Boden, entblößten ihren Hals und erklärten, sie wollten lieber sterben als zu dulden, daß die Weisheit ihrer Gesetze übertreten werde.39 Erstaunt über ihre Standhaftigkeit in der Beachtung ihres Gesetzes40 befahl Pilatus sogleich, die Bilder aus Jerusalem nach Cäsarea zurückzubringen. (7) Im zweiten Fall41 kommt es zur Unruhe in der jüdischen Bevölkerung, als bekannt wurde, daß Pilatus beschlossen hatte, für den Bau einer Wasserleitung nach Jerusalem Geld aus dem heiligen Tempelschatz zu verwenden.42 Als Pilatus dann nach Jerusalem kam, umringte eine große Anzahl schreiender und schimpfender Juden, teils auch mit Beleidigungen seinen Richterstuhl und forderte, er solle von seiner Entscheidung Abstand nehmen.43 Pilatus hatte die Unruhe aber bereits im voraus geahnt und zuvor heimlich bewaffnete Soldaten, die als Zivilisten in jüdischen Trachten verkleidet waren, unter die Volksmenge gemischt, und zwar mit dem Befehl, vom Schwert keinen Gebrauch zu machen, jedoch gegen die Schreier mit 37 Die Schilderungen der Art des Hinterhalts von Joseph., AJ 17,57 und BJ 2,172–274 stimmen nicht genau überein, was uns hier aber nicht weiter zu interessieren braucht. 38 Der genaue Wortlaut in Joseph., AJ 18,58 lautet: špeßlei qÜnaton ™piqÞsein _ _ zhmßan ™k tou cÝoò. In BJ 2,173 heißt es Pil atoò dÊ kataküyein eœp„n ažtoýò (Pilatus aber, der drohte sie niederhauen zu lassen). 39 Joseph., AJ 18,59; vgl. BJ 2,174. _ _ _ 40 Joseph., AJ 18,59: kaÍ Pil atoò qaumÜsaò tÎ ™xurÎn ažtwn ™pÍ —ulak Âh _ die volle Kraft twn nümwn; In BJ 2,174, hingegen ist Pilatus „zutiefst_ erstaunt über _ ihrer Gottesfürchtigkeit“ (perqaumÜsaò dÊ ‡ Pil atoò tÎ t hò deisidaimonßaò åkraton). Ersterer Wortlaut beinhaltet m. E. eine gewisse Anerkennung der Gesetzeswirksamkeit religiöser Vorschriften bei den Juden, während der zweite Wortlaut nur ein Erstaunen über die Glaubenskraft als solche vermittelt. 41 Vgl. Joseph., AJ 18,60–62; BJ 2,175–177. 42 Vgl. Joseph., AJ 18,60; in BJ 2,175 wird erwähnt, daß der Tempelschatz namentlich als korbanas bekannt sei, vgl. dazu auch Mt 27,6 und Joseph., Ap. 1,167. Normalerweise diente der Tempelschatz dem Ankauf von Opfertieren, vgl. Mishnah Shekalim III,2. Grant (1973), S. 100, verteidigt Pilatus’ Plan des Aquäduktbaus, der nicht daran gedacht habe, gegen die jüdische Sitte zu verstoßen. Die Wasserleitungen wären durch den Tempelbezirk gegangen und hätten auch den Tempelzisternen Wasser geliefert, was sogar von den Hohepriestern hätte unterstützt werden können. Da aber der Korban auch zum Ankauf von Opfertieren verwendet worden sei, hätte dies den Zorn militanter Juden erregen können. Stenger (1988), S. 34, bringt den Fall mit den Frondiensten (angaria) an die Römer in Verbindung. 43 In Joseph., BJ 2,175 ist nur von Schreien die Rede; in AJ 18,60 steht außerdem, was das Verhalten der _Menge anbetrifft: tinÊò dÊ kaÍ loidorßÁa xrþmenoi _ Öbrizon eœò tÎn åndra, o a dÌ —ile i prÜssein Õmiloò (einige wurden aber auch, indem sie Schmähung[en] gebrauchten frech gegen den Mann, wie es nun einmal ein Menschenauflauf zu tun pflegt).

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Knüppeln vorzugehen.44 Als die Juden in einen Schwall von Beschimpfungen verfielen, unterdrückte er den Aufruhr, indem er ohne Unterschied Unruhestifter (qorubountaò) sowie solche, die dies nicht waren, bestrafen ließ; viele seien dadurch umgekommen oder verwundet worden.45 _

(8) Bei den zwei Begebenheiten zur Zeit des Cumanus46 war es nicht die Entscheidung des Statthalters selbst, die zur Empörung bei der jüdischen Bevölkerung führte, sondern jeweils das Verhalten eines seiner Soldaten. Der eine Fall ereignete sich zum Passahfest, als große Menschenmassen nach Jerusalem strömten und der Statthalter, wie stets auch alle seine Vorgänger, aus Angst vor Unruhen einer Kohorte Soldaten in voller Bewaffnung befohlen hätte, die Säulenhalle des Tempels zu besetzen, um eventuell ausbrechende Ruhestörungen sogleich unterdrücken zu können.47 Die Stelle verdeutlicht, daß zu den jüdischen Festtagen, an denen große Pilgermassen nach Jerusalem kamen, die Römer stets besondere Vorkehrungen trafen, weil zu dieser Zeit auch die Gefahr für Unruhen am größten war. Am vierten Tag habe es sich dann einer der Wachsoldaten einfallen lassen, „vor der Menge seine Schamteile zu entblößen“, den Juden in „unanständiger Weise das Gesäß“ zuzukehren und „ein seiner Haltung entsprechendes Geräusch“ von sich zu geben.48 Hierauf forderte die gesamte Menge mit lautem Geschrei von Cumanus, den Soldaten zu züchtigen,49 weil die Juden in dem Verhalten des Soldaten weniger eine persönliche Beleidigung als vielmehr eine Gotteslästerung gesehen hätten.50 Es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, um davon auszugehen, daß die Juden in der analen Geste des Soldaten eine besonders provokative Verhöhnung sowie einen Angriff auf die kultische Reinheit des Tempels sahen. Als Cumanus dem Drängen der Menge aber nicht nachkam und die erbitterte Menge zur Vermeidung jeglicher Eskalation aufforderte, überhäuften ihn die Juden „mit desto größeren Schmähungen“.51 Einige „junge Männer, die zuwenig beherrscht waren, und andere aus dem Volk, die von Natur zum Aufstand neigten“,52 schritten zum Kampf und bewarfen die Soldaten 44

Vgl. Joseph., BJ 2,175–7; AJ 18,60–61. Vgl. Joseph., AJ 18,62; ebd. wird erwähnt, daß die Soldaten weit härter eingriffen, als Pilatus eigentlich angeordnet hatte; vgl. BJ 2,177. 46 Amtsantritt im achten Jahr der Regierung Claudius Cäsar, vgl. Joseph., AJ 20,104, also 49 n. Chr. 47 Vgl. Joseph., AJ 20,106; BJ 2,224. 48 Joseph., AJ 20,108; BJ 2,224. 49 Joseph., BJ 2,225. 50 Joseph., AJ 20,108. 51 Joseph., AJ 20,110. _ _ _ 52 Joseph., BJ 2,225: o dÊ †tton nޗonteò twn nÝwn kaÍ tÎ —ýsei stasiwdeò _ ™k tou æqnouò. 45

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mit Steinen.53 Cumanus, „der nun einen Angriff von seiten des ganzen Volkes“ befürchtet habe, ließ daraufhin noch mehr Schwerbewaffnete herbeirufen,54 die einen so großen Schrecken unter der jüdischen Bevölkerung auslösten, daß bei deren panikartiger Flucht und dem „fürchterlichen Gedränge“ in den engen Gassen Tausende55 erdrückt und niedergetrampelt wurden.56 (9) Auch in einem anderen Fall57 unter Cumanus erregte ein Soldat den Aufruhr der jüdischen Bevölkerung. Bei einer Strafaktion in einem Dorf zeriß dieser „vor aller Augen unter den mannigfaltigsten Verhöhnungen und Schmähungen“ das heilige Buch mit den mosaischen Gesetzen58 bzw. warf es ins Feuer59. Die Juden sahen darin eine Gotteslästerung, rotteten sich zusammen und zogen nach Cäsarea, um vom Statthalter die Bestrafung des römischen Soldaten zu fordern.60 Cumanus befürchtete abermals einen Aufstand und ließ „auf den Rat seiner Freunde“61 den „Soldaten, der das Gesetz verhöhnt hatte, mit dem Beil hinrichten und unterdrückte so die Empörung“.62 Im letzten Satz verbirgt sich der einzigen Hinweis bei Josephus auf ein Consilium des Statthalters, der sich hier über seine weitere Vorgehensweise mit seinen comites beriet, d. h. mit Mitgliedern aus seiner cohors amicorum.

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In diesem Satz aus Joseph., BJ 2,225–226 wird die Reaktion der Juden als ungleich aggressiver dargestellt als in seinen AJ. Das Detail, daß die jugendlichen Heißsporne mit dem Steinewerfern auf die Soldaten begannen, ist in der Parallelstelle in Joseph., AJ 20,105–112 nicht erwähnt, dafür ist von Schmähungen/Beleidigungen gegenüber Cumanus die Rede; in BJ heißt es dagegen allgemein ,Geschrei‘. 54 Auch hier unterscheiden sich die beiden Werke. Nach Joseph., BJ 2,226 f. ließ Cumanus „eine größere Abteilung Schwerbewaffneter heranrücken, die „in die Hallen eindrangen“; laut Joseph., AJ 20,110 ist es gleich die „gesamte Streitmacht“, die er in die Burg Antonia einrücken ließ. 55 Die Zahlenangaben bei Josephus sind Übertreibungen. In AJ schreibt er, die Zahl der auf diese Weise Umgekommenen habe an die 20.000 betragen, in BJ schreibt er, „wobei 30.000 getötet wurden“. 56 Joseph., BJ 2,227; AJ 20,111–112. Josephus schildert den Fall so, daß die große Anzahl der Opfer nicht durch das Einschreiten der römischen Soldaten zustande kam, sondern allein durch die panikartige Reaktion der Menschenmenge, die sich gegenseitig niedertrampelte. 57 Vgl. Joseph., AJ 20,115–117; BJ 2,230 f. 58 So das Verhalten des Soldaten in Joseph., AJ 20,115. 59 So das Verhalten des Soldaten in Joseph., BJ 2,229. 60 Vgl. Joseph., BJ 2,230, vgl. AJ 20,116. _ 61 Joseph., AJ 20,117: sumbouleusÜntwn kaÍ twn —ßlwn. 62 Joseph., AJ 20,117; in BJ 2,231 steht, daß Cumanus „befahl (. . .) den Soldaten herzubringen und ihn mitten durch die Reihen seiner Anhänger hindurch zur Hinrichtung abzuführen“.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Mittels dieser vier Beispielfälle läßt sich feststellen, daß beide Statthalter auf ähnliche Sachverhalte mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen reagierten, wobei sie aus der vorangegangenen Erfahrung gelernt haben könnten, dabei jedoch in umgekehrter Reihenfolge jeweils andere Schlußfolgerungen zogen: Pilatus war das erste Mal bereit, den jüdischen Forderungen nachzugeben, das zweite Mal jedoch ließ er die Juden brutal niederknüppeln. Cumanus nahm das erste Mal den römischen Soldaten in Schutz und ließ Streitkräfte aufmarschieren, was in einem panikartigen Desaster endete; im zweiten Fall war er jedoch bereit, den Soldaten für die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung zu „opfern“ und ließ ihn enthaupten. Bei der jüdischen Bevölkerung waren es jedesmal verschiedene Ereignisse, die aber jeweils aus dem gleichen Grund zu ihrer Empörung gegen die römische Obrigkeit führten, nämlich ein Verstoß gegen ihr heiliges, angestammtes Recht. Für die Statthalter hatten im Gegensatz zu den Juden die religiösen Gesetze allenfalls insofern Bedeutung, als sie für die öffentliche Ordnung in der von ihnen verwalteten Provinz eine maßgebliche Rolle spielten. Deshalb war es für die Statthalter mehr die Tatsache des Aufruhrs selbst, der sie zu einer Entscheidung zwang, „Ruhe und Ordnung“ wieder herzustellen sowie einer weiteren Eskalation vorzubeugen. Dabei hatten die Statthalter entweder die Wahl, den Forderungen der jüdischen Provinzialen nachzukommen oder die protestierende Menge mit Soldatengewalt auseinanderzutreiben. Die jeweils unterschiedlichen Konsequenzen der statthalterlichen Entscheidungen darüber, wie sie die Unruhe der Bevölkerung zu unterdrükken gedachten, zeigen, daß diese ganz von der persönlichen Einschätzung der Lage durch die Statthalter abhingen. Daran wird deutlich, daß die statthalterliche Strafgewaltspraxis keinem einheitlichen normativen Maßstab verpflichtet war, denn dann hätten die Statthalter unter nahezu gleichen Ausgangsbedingungen auch in jeweils gleicher Weise handeln müssen; vielmehr weisen die Fälle eine kognitive Struktur auf, die es den Statthaltern ermöglicht, aus vorangegangenen Erfahrungen zu „lernen“ und eine völlig divergierende Strafmaßnahme beschließen können. Pilatus hatte bereits einmal (mit dem bei Philo berichteten Fall eventuell auch zweimal) nachgegeben und wollte dies nicht schon wieder tun, so daß er hart durchgriff; Cumanus hatte sogleich beim ersten Mal hart durchgegriffen, was in einem Desaster endete, das er beim zweiten Mal vermeiden wollte. Dabei konnten auch persönliche Charaktermerkmale der Statthalter eine Rolle spielen. Josephus schildert Pilatus als hinterlistig und provokant, Cumanus hingegen als vorsichtig und abwägend. Das freie Ermessen in der Entscheidungssituation scheint für Josephus das bestimmende Moment für die statthalterliche Strafgewaltspraxis gewesen zu sein, wenn es sich nicht gerade um Räuber oder eine Versammlung bewaffneter Anhänger von Pseudopropheten handelte, sondern um spontane Proteste der jüdischen Provinz-

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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bevölkerung. Letztere ist nicht nur passives Objekt statthalterlicher Entscheidungen, sondern wird als ein aktiver Faktor für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt dargestellt, zumal wenn ein Massenprotest vorliegt. Was in diesen Fällen nicht zum Tragen kommt, ist die Vermittlerfunktion von Autoritäten aus der provinzialen Oberschicht. Römische Ordnungsmacht und jüdische Bevölkerung treffen unmittelbar aufeinander, so daß die Szenerie weniger einer Aushandlungssituation gleicht als vielmehr einem mentalem Kräftemessen vor der drohenden Gewaltanwendung. Für die jüdische Bevölkerung scheint es keinen Kompromiß in Sachen des religiösen Gesetzes gegeben zu haben. Für die Statthalter kann man sich leicht vorstellen, wie ihre Einschätzung der Lage jeweils zwischen dem Gedanken schwankte, einerseits nicht zu nachgiebig im Hinblick auf den Druck der Bevölkerung erscheinen zu wollen, was als Laxheit hätte ausgelegt werden können, und statt dessen mit exemplarischer Härte zu zeigen, wer der Herr im Lande ist; andererseits wollten sie aber auch den Frieden in der Provinz wahren und nicht durch ihre Unnachgiebigkeit eine Eskalation herbeiführen, deren Folgen für das weitere Regiment nur schwer abzuschätzen waren.63 In allen vier Fällen handelt es sich um typische Fälle statthalterlicher Koerzitionsgewalt, bei welcher Strafsanktionen wegen Ungehorsam bzw. Aufmüpfigkeit gegenüber einem Vertreter des Kaisers angedroht und teils auch ausgeführt werden. Im letzten Fall könnte die Maßnahme des Statthalters nach Abhaltung eines consilium mit seinen Begleitern auch auf einen Strafprozeß gegen den Soldaten hinweisen, der für die Unruhe unter den Juden verantwortlich gemacht und anschließend enthauptet wird. Anzeichen für einen Prozeß finden sich aber nicht, so daß es sich hier schlicht um die Ausübung der coercitio im Rahmen einer militärischen Disziplinarmaßnahme bzw. militärischen Standgerichtsbarkeit gehandelt haben könnte. Geht man von letzterem aus, so zeigt sich, daß ein Consilium des Statthalters, d. h. eine Beratung mit Mitgliedern aus dem Begleitpersonal, auch außerhalb einer regulären Prozeßsituation vorkommen konnte. Dabei ist es kaum nötig zu erwähnen, daß die „Freunde“ des Statthalters hier wohl kaum als Geschworene mit einem bindendem Votum agierten, sondern daß für die gesamte Situation eher eine kurze informelle Beratung spricht, in der letztlich der Statthalter zu entscheiden hatte, ob und wie er gegen den Soldaten vorging. Wenn in der Forschung, zumal für den Prozeß Jesu, die Bedeutung des Richterstuhls als Hinweis auf einen „regulären Strafprozeß“ herausgestellt 63 Vgl. dazu die Behauptung Ciceros in den Verrinen oben in Abschnitt II. 2. c) mit A. 64, daß beide Vorwürfe, entweder jener der zu großen Härte oder jener der zu großen Milde jeweils im Interesse der Streitparteien zu seiner Zeit vor Gericht in Repetundenprozessen häufig verwendet würden.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

wird bzw. zwischen einem Verfahren pro tribunali und de plano unterschieden wird,64 so sei an dieser Stelle betont, daß Josephus für die beiden Vorfälle unter Pilatus zwar jedesmal den Richterstuhl (bema) erwähnt, ohne daß es sich hierbei jedoch überhaupt um eine Prozeßsituation (mit Anklägern, Verteidigung etc.) gehandelt hätte. Wenn davon ausgegangen würde, daß die jüdische Bevölkerung den Richterstuhl des Statthalters (wie zufällig) gerade zu einer Zeit umringte und bedrängte, als er einen Gerichtstag abhielt, so zeigt sich, daß während eines conventus dann unter bestimmten Bedingungen keine formelle bzw. symbolische Trennung zwischen Koerzitionsmaßnahme und Strafverfahren gemacht wurde, sondern der Statthalter seine Entscheidungen am gleichen Ort fällte. Von daher scheint das bema in unterschiedlichen Zusammenhängen als Symbol der Machtstellung und Autorität des Statthalters gedient zu haben. So läßt sich festhalten, daß sowohl das Consilium als auch der Richterstuhl kaum als eindeutige Indizien bzw. Kriterien einer formellen Abgrenzung zwischen Koerzitionsgewalt und Gerichtsbarkeit des Statthalters taugen, vielmehr allgemein im Rahmen der Strafgewaltspraxis zur Geltung kommen konnten. d) Die Rolle der provinzialen Oberschicht Bisher wurden nur Fälle erörtert, in denen sich die römischen Statthalter in einer Entscheidungssituation um anzuwendende Strafsanktionen direkt mit einer undifferenzierten Menschenmasse als Unruheherd konfrontiert sahen. Im folgenden werden Fälle behandelt, welche die besondere Rolle der provinzialen Oberschicht im Zusammenhang mit der statthalterlichen Strafgewalt zeigen. (10) Zunächst zu einem Ereignis, welches unmittelbar dem zweiten unter Cumanus geschilderten Fall vorausging.65 Der Grund für die Strafaktion gegen das Dorf, bei der ein Soldat die Thora vernichtet hatte, war, daß ganz in der Nähe ein Raubüberfall stattgefunden hatte.66 Das Opfer des Raubüberfalls war ein kaiserlicher Sklave namens Stephanus. Der Statthalter ließ daraufhin Streifscharen in die benachbarten Dörfer ausschwärmen, mit dem Befehl, „die benachbarten Dörfer zu plündern und die Vornehmsten gefesselt zu ihm zu führen, damit sie Rede und Antwort für die gewagten Taten stünden“.67 Er „machte ihnen den Vorwurf, die Räuber nicht verfolgt und festgenommen zu haben“.68 64

Vgl. unten A. 122 in Abschnitt VI. 4. Vgl. oben Fall (9) in Abschnitt V. 1. c). 66 Vgl. Joseph., AJ 20,113 f.; BJ 2,228–230. _ 67 Joseph., AJ 20,114: toÏò d' ™pi—anestÜtouò ažtwn dÞsantaò ™p' ažtÎn _ ågein lügon twn tetolmhmÝnwn eœsprÜcantaò. 65

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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Was aus dieser Anklage und den Gefangenen letztendlich wurde, erfahren wir nicht. Interessant ist hier aber, daß Josephus die Anordnung des Statthalters so schildert, als mache dieser die jüdischen Dorfoberen für unterlassene Strafverfolgung verantwortlich, indem er sie beschuldigt, den angeblich aus einem der ihrigen Dörfer stammenden Täter nicht verfolgt, festgenommen und dann ausgeliefert zu haben. Dies läßt sich als Hinweis auf eine lokale „Polizeigewalt“ verstehen, bei der die jüdischen Dorfoberen verpflichtet waren, gegen Rechtsbrecher selbst vorzugehen, um dem römischen Statthalter „Amtshilfe“ zu leisten. Tun sie dies nicht, werden sie selbst dafür zur Verantwortung gezogen und bestraft.69 Sie haften also in gewisser Beziehung für die Aufrechterhaltung römischer Ordnung auf ihrem Gebiet und sind zur Kooperation mit dem statthalterlichen Regiment verpflichtet. Wichtig ist dabei, zu sehen, daß die Dorfoberen aus Eigeninitiative hätten handeln sollen und nicht erst nach ausdrücklichem Auftrag des Statthalters. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie im Rahmen der Provinzialherrschaft bis in die einzelnen Dörfer hinein bestimmte Gruppen funktionalisiert wurden, im Interesse der Römer zu handeln. Vorauseilender Gehorsam war verlangt, wollten die Oberen auch kleinerer Siedlungseinheiten nicht selbst stellvertretend zur Verantwortung gezogen werden. Doch nicht jeder Raubüberfall in der Provinz muß bis zu den Ohren des Statthalters vorgedrungen sein. Für die Zwangskollaboration bzw. Denunziationspflicht70 bestimmter provinzialer Bevölkerungsgruppen war es wahrscheinlich wesentlich, ein Gespür dafür zu haben, welche Fälle für den _

Joseph., BJ 2,229: ™pikalwn Õti mÌ diþcanteò toÏò sullÜboien. In A. 127, S. 443 in Bd. 1 der BJ-Ausgabe von Michel/Bauernfeind gehen die Hrsg. davon aus, daß es sich bei dem Raubüberfall „sicherlich um eine Aktion der thoratreuen Zeloten“ gehandelt habe, „die die Unterstützung der Bevölkerung fand.“ Diejenigen, die in BJ mit ,Räuber‘ (lÂhstai) umschrieben sind, werden AJ 20,113 als Angehö_ rige der Neuerungspartei (™pÍ newterismÃw tineò) bezeichnet. Es sei hier auf die Stelle in Paulus, Sent. 5,3,4, verwiesen, daß derjenige, der Räuber in irgendeiner Weise unterstützte, ohne weiteres mit diesen identifiziert werden konnte (receptores adgressorum itemque latronum eadem poena adficiuntur qua ipsi latrones). Diese Stelle würde somit die Annahme stützen, daß die Dorf- und Landbewohner mit Widerstandsgruppen bzw. ,Räubern‘ sympathisierten und evtl. dem gleichen sozialen Milieu entstammten; vgl. dazu oben Abschnitt IV. 5. 69 Hier sei gesondert an den letzten Satz der oben in Abschnitt IV. 4. b) in A. 170 bereits zitierten Digestenstelle 1,18,13 erinnert: „Und mit Gewalt muß er [der Statthalter, GK] gegen ihre Kollaborateure vorgehen, ohne die ein Bandit, nicht lange versteckt bleiben kann.“ 70 So betonten auch die späteren Juristen die Pflicht eines jeden einzelnen, Banditen zu verfolgen bzw. an die lokalen Autoritäten zu verraten, wobei sie in Erfüllung ihrer Bürgerpflicht von den üblichen Rechtsregeln für Übergriffe gegen Personen (iniuria) und Totschlag ausgenommen waren, vgl. Shaw (1997), S. 358 f. mit Verweis auf Dig 9,2,7; Cod. Iust. 3,27,1–2; 9,16,13; außerdem Cod. Iust. 8,40,13 und die Bestimmung der Lex Coloniae Genetivae Iuliae aus dem Jahr 44 v. Chr. zur 68

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Statthalter eine besondere Bedeutung annehmen konnten und welche nicht. Das besondere Interesse des Statthalters an diesem Fall könnte darin gelegen haben, daß das Opfer des Überfalls ein kaiserlicher Sklave gewesen war, somit jemand, der dem Haushalt (familia) des Kaisers angehörte, dem der Statthalter direkt verpflichtet und verantwortlich war.71 Im engeren rechtlichen Sinne handelt es sich folglich um einen Übergriff auf das Eigentum des Kaisers. (11) Betrachten wir nun den umgekehrten Fall des Unglückspropheten Jesus, Sohn des Ananias, bei dem Gemeindeoberhäupter ihrer Pflicht nachkamen, einen Unruhestifter verhafteten und an den Statthalter Albinus auslieferten, letzterer jedoch den Gefangenen wieder laufen ließ.72 Dieser „Mann vom Lande“ sagte, seit dem Laubhüttenfest (62 n. Chr.) unablässig umherlaufend, den Untergang des Tempels vorher, was einige angesehene Bürger (twn dÊ ™pisÞmwn tinÊò dhmotwn) so verärgerte, daß sie ihn ergriffen und mit Schlägen züchtigten.73 Während einer darauffolgenden Befragung brachte dann der Beschuldigte nichts zu seiner Verteidigung vor, sondern wiederholte nur beständig seine früheren Unglücksworte. Deshalb glaubten die jüdischen „Obersten“ (årxonteò), diesem Benehmen läge ein „höherer Antrieb“ (daimoniþteron) zugrunde und brachten ihn vor den Statthalter. Der Statthalter Albinus ließ den „Verwirrten“ aber laufen, weil er von dessen Wahnsinn überzeugt war, nachdem er ihn zunächst hatte geißeln lassen und bei seiner kurzen Befragung weiterhin nur dessen Unglücksprophetie vernahm.74 _

_

Auch hier ist also von der Zwischengewalt der jüdischen Gemeindevorsteher die Rede, die berechtigt waren, Ruhe- bzw. Ordnungsstörer zu verhören und zu züchtigen. Nahm ein Fall Dimensionen an, bei denen zu vermuten war, es könnte mehr dahinterstecken – wobei Josephus im Unklaren Verantwortung der Städte, auf ihrem Gebiet Räuber zu fassen und dem Provinzstatthalter auszuliefern. 71 Laut Eck (1995), S. 339, gab es in den ritterlichen Provinzen keine partielle Abspaltung der Finanzkompetenzen von den Aufgaben des Statthalters, z. B. der Verwaltung der Domänenerträge und wohl auch der portoria. Deshalb unterstanden ihm als Präsidialprokurator neben dem militärischen officium auch noch kaiserliche Sklaven und Freigelassene als Subalternpersonal für die Finanzadministration. Es wäre zu erwägen, ob der hier erwähnte kaiserliche Sklave Stephanus diesem Aufgabenbereich zuzuzählen wäre. Zum Verhältnis zwischen Privinzstatthalter und speziellen Finanzprokuratoren in der Kaiserzeit, besonders wenn letztere Beisitzer eines statthalterlichen Consiliums waren, vgl. Waever (2002). 72 Vgl. Joseph., BJ 6,300–305. 73 Vgl. Joseph., BJ 6,300–302. 74 Vgl. Joseph., BJ 6,302–305. Die Haltung des Albinus wird hier anders als an anderen Stellen, z. B. Joseph., BJ 2,272–277, AJ 20,197–215, weder kritisch noch polemisch geschildert.

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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läßt, was er mit „höherem Antrieb“ meint75 – übergaben sie die Sache dem Statthalter.76 Für diesen war wohl entscheidend, daß es sich hier um eine Einzelperson handelte, deren Verhalten auf keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung oder eine Anhängerschaft schließen ließ. Ohne eine Art Massenbewegung bei den Einheimischen hervorzurufen, wie dies bei den Fällen der oben geschilderten Pseudopropheten der Fall war, stellte er für die allgemeine provinziale Ordnung keine weitere Gefahr dar. Der Statthalter kam durch sein eigenes Verhör einschließlich der dazugehörigen Folter zu dem Ergebnis, daß ihm weder ein kapitales noch ein anderweitiges Verbrechen vorgeworfen werden konnte, sondern daß der Beschuldigte allenfalls ein harmloser Geistesgestörter war, den er wieder freilassen konnte.77 Ob die Weissagung gegen den Tempel für die Gemeindeoberen einen Verstoß gegen jüdische Religionsgesetze bedeutete, scheint für den römischen Statthalter keinerlei Relevanz gehabt zu haben. Hätte es eine (eindeutige) Zuständigkeit des jüdischen Synedrions für frevelhafte Tempelprophetien gegeben, so ist an diesem Fall beachtenswert, daß er von den Gemeindeoberen nicht zunächst dem Hohepriester, sondern sogleich dem Statthalter übergeben wurde.78 Josephus liefert für einen etwaigen Statthalterprozeß keine Hinweise auf eine formelle Anklage, Zeugenaussagen, Consilium etc. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine cognitio des Statthalters, bei der zumindest bei peregrinen Provinzialen niedrigen Status’ bis auf die Tatsache des Verhörs keine prozessuale Formalien unterstellt werden müssen. Es lag je nach Bedeutung des Falls im Ermessen des Statthalters, ob er z. B. ein Consilium zu Rate zog oder mehrere Zeugenaussagen einholte. Hierfür war der Fall wohl entweder einfach nicht wichtig genug oder Josephus berichtet nur nichts darüber. Deshalb kann auch nicht geklärt werden, 75 Der höhere Antrieb kann freilich auf den Glauben des Josephus an die Kraft der Vorsehung hindeuten, wenn er seine Werke nach der Zerstörung des Tempels schrieb. Hier stellt er aber die Sache so dar, als hätten die Gemeindevorsteher diese Vorsehung mißbilligt. Entscheidend ist, daß der Fall – aus welchen Gründen auch immer – dem Statthalter übergeben wurde. 76 Nörr (1969), S. 31–33, geht zumindest für die Zeit Ciceros davon aus, daß es keine Allzuständigkeit des Statthalters für Rechtsfälle in seiner Provinz geben konnte. Die Anwesenheit des Statthalters an den Konventsorten sei hierfür zu selten und zu kurz gewesen. Die Städte konnten also in einem gewissen Umfang Rechtsstreitigkeiten ihrer Bürger selbst regeln. Schwere Fälle, wie Ehebruch, Tempelraub, Mord etc. hätten allerdings vor den Statthalter gebracht werden müssen; vgl. zur Gerichtsbarkeit in den Städten a. Stahl (1978), S. 75–105. 77 Wenn hier aus römischer Sicht nicht einmal deutlich wird, welcher Straftat er sich schuldig gemacht haben könnte, braucht auch nicht von einer eingeschränkten Schuldfähigkeit aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit als ausschlaggebenden Punkt für die Freilassung ausgegangen werden. 78 Zum religiösen Vergehen des Tempellogon vgl. Gnilka (1988), S. 17 f., 22; Grant (1973), S. 109; Müller (1988), S. 78; Bammel (1984), S. 446 f. Vgl. dazu A. 130 oben in Abschnitt IV. 4. sowie A. 134 unten in Abschnitt VI. 4.

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ob es sich nun um eine Freilassung oder um einen formellen Freispruch (im Sinne eines richterlichen Urteils) handelte, noch ist irgendwie erkennbar, welchen Unterschied dies gemacht hätte. (12) Im nächsten Fall geht es um Selbstjustiz der Bevölkerung, ohne daß die einheimische Obrigkeit miteinbezogen wurde.79 Josephus berichtet, daß Fadus bei seiner Ankunft in Judäa die jüdischen Bewohner Paräas im Streit mit den Bewohnern der Stadt Philadelphia über die Grenzen des Bezirkes namens Mia (Zia) antraf.80 Die Bewohner Paräas hatten dabei „ohne Vorwissen der Angesehenen des Landes die Waffen ergriffen und viele Bewohner Philadelphias getötet“.81 Als Fadus davon erfuhr, geriet er in Zorn, denn die Bewohner Paräas hätten, auch wenn sie sich von den Bewohnern Philadelphias benachteiligt glaubten, nicht sein Urteil übergehen und nicht ohne weiteres zu den Waffen greifen dürfen.82 Deshalb ordnete der Statthalter an, drei ihrer Anführer gefangenzunehmen, sodann einen davon hinrichten zu lassen und die beiden anderen des Landes zu verweisen.83 Während die Grenzstreitigkeiten zwischen den beiden Gebieten allenfalls die Schiedsgerichtsbarkeit des Statthalters in Anspruch genommen hätte, betreffen die in diesem Rahmen ausgeübten Gewalttaten eindeutig seine Strafkompetenz. Der Statthalter konnte es auf keinen Fall dulden, daß bei Streitigkeiten zwischen den Bewohnern einer Stadt mit der umliegenden Landbevölkerung die Provinzialen die Sache selbst in die Hand nahmen und bewaffnet austrugen. Nach Josephus wurde der Zorn des Statthalters besonders dadurch erregt wurde, daß in dieser Sache noch nicht einmal die Vornehmen des Landes konsultiert worden waren. Daraus kann man zweierlei schließen: Kommt es zu keiner friedlichen Einigung über die Bezirksgrenzen zwischen den angesehenen Repräsentanten Philadelphias und denjenigen des Landes Paräa, bleibt nur der römische Statthalter als übergeordnete Schlichtungsinstanz.84 Zudem wird deutlich, wie wichtig die Oberschicht zur Aufrechterhaltung der römischen Ordnung war. Wird selbst diese nicht mehr beachtet, lassen sich die Zustände im Land vom Statthal79

Joseph., AJ 20,2–4. Joseph., AJ 20,2. Fadus war Statthalter 44–45 n. Chr. Zur Beschreibung von Paräa, vgl. BJ 3,44–47. Die beiden betroffenen Gebiete (Paräa und Phladelphia) waren politisch voneinander unabhängige Gebiete. _ _ _ 81 Joseph., AJ 20,2: xwrÍò gnþmhò t hò twn prþtwn par' ažto iò ˜nalabün_ _ teò tJ Õpla polloÏò twn Filadel—hnwn dia—qeßrousin. _ _ 82 Joseph., AJ 20,3: Õti mÌ tÌn krßsin ažtÃw paralßpoien, eèper pÎ twn _ _ Filadel—hnwn ™nümizon ˜dike isqai, ˜ll' ™—' Õpla xwrÞseian. 83 Vgl. Joseph., AJ 20,4. Die Namen der drei Verurteilten sind Annibas, Amaramus und Eleazar. 84 Die Regelung von Grenzstreitigkeiten in der Provinz können zu den klassischen Aufgaben eines Statthalters gezählt werden, zumal sie auch in den wenigen uns erhaltenen Statthalteredikten aufgeführt sind; vgl. oben Abschnitt I. 3. 80

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ter kaum noch kontrollieren. Nach Meinung des Statthalters hätte sich der benachteiligt glaubende Bevölkerungsteil Paräas bis zu seinem Eintreffen in der Provinz gedulden müssen, um die Angelegenheit durch angesehene Vertreter vor seinen Richterstuhl zu bringen.85 Deshalb zieht er die drei Vornehmen aus der provinzialen Oberschicht zur Verantwortung. Leider fehlen jegliche Schilderungen für den Ablauf der Strafprozesse; nur die Strafurteile überliefert Josephus: eine Hinrichtung wohl für den Hauptbeschuldigten und für die beiden anderen Gefangenen die Verbannung.86 (13) Auch in einem anderen Fall87 wird die Strafkompetenz des Statthalters umgangen. Diesmal handelt es sich aber um die Kompetenzanmaßung eines ehrgeizigen Hohepriesters, nachdem Festus gestorben, sein Nachfolger Albinus aber noch nicht aus Rom in Judäa eingetroffen war. In dieser Phase habe sich der jüngere Ananos, ein sadduzäischer Hohepriester von heftiger Gemütsart,88 angemaßt, ein Synedrion der Richter einzusetzen (kaqßzei sunÝdrion kritwn), um Jakobus, den Bruder des Jesus, der Christus genannt werde,89 sowie einige andere, die er der Gesetzesübertretung (ò paranomhsÜntwn) angeklagt habe, steinigen zu lassen.90 Sodann heißt es: „Jene Leute aber, die man für überaus korrekt und sorgfältig in der Einhaltung des Gesetzes hielt“91, seien erbittert darüber gewesen und hätten insgeheim eine Abordnung an König Agrippa (den Jüngeren) geschickt, mit der _

85 Zum Problem der Gerichtsbarkeit bei Abwesenheit des Statthalters in der Provinz, vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 232 f., mit Verweis auf Dig. (Ulp.) 1,16,1; Dig. (Paul.) 1,18,3: Die Gerichtsbarkeit kann nur unter Anwesenheit des Statthalters in seinem Gerichtssprengel vollzogen werden. Die Gerichtsbarkeit beginnt mit Eintritt und endet mit dem Austritt des Statthalters in die Provinz, ruht also bei Abwesenheit. 86 Zur Strafe der Verbannung von Provinzialen liegt mir keine Literatur vor. Als römische Strafe ist sie mir nur für vom Kaisergericht verurteilte Statthalter oder hohe römische Offiziere bekannt. Es könnte aber ein Hinweis darauf sein, daß es sich bei den Verurteilten wirklich um hochgestellte Repräsentanten der provinzialen Oberschicht gehandelt hat. 87 Joseph., AJ 20,197–203. 88 Vgl. zu der negativen Charakterisierung des Ananos Joseph., AJ 20,198–200 mit der Lobeshymne auf denselben in BJ 4,319–321. Man könnte sogar vermuten, daß sich Josephus hier mit Ananos identifiziert, oder umgekehrt, daß er Ananos eine Position und Rolle innerhalb der römischen Herrschaft zuschreibt, die seiner eigenen politischen Meinung entgegenkommt. Zu Ananos’ Gegnerschaft gegenüber den Zeloten mit der Sympathie des Josephus, vgl. BJ 4,160–161. 89 Der Hrsg. Feldman (Harvard 456), S. 108, A. a, erwidert auf Schürer, der diese Stelle für eine spätere christliche Interpolation hält, daß dann Jakobus weitaus lobenswerter dargestellt worden wäre. 90 Joseph., AJ 20,199–201. _ 91 Joseph., AJ 20,201: Õsoi dÊ ™dükoun ™pieikÝstatoi twn katJ tÌn pülin _ _ e œnai kaÍ perÍ toÏò nümouò ˜kribe iò barÝwò çnegkan ™pÍ toýtÃw. Aus dieser anonymen Umschreibung wird nicht deutlich, wer genau gemeint sein könnte.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

dringenden Bitte, er möge Ananos schriftlich dazu auffordern, ein ähnliches Unterfangen zu unterlassen. Außerdem seien einige dem von Alexandria her anreisenden Albinus entgegengegangen, um ihn darüber zu unterrichten,92 daß „Ananos nicht befugt war, ohne sein [Albinus’, GK] Wissen das Synedrion einzusetzen“.93 Albinus stimmte dem zu und verfaßte daraufhin voller Zorn ein Schreiben an Ananos, worin er ihm androhte, „daß von ihm Genugtuung verlangt werden würde“. Josephus berichtet nur noch, daß der Ananos dann von König Agrippa infolge dieses Vorfalls durch einen anderen Hohepriester ersetzt worden sei.94 Ähnlich wie bei den Bewohnern Paräas im vorigen Fall erkannte der römische Statthalter, daß seine Strafkompetenz übergangen wurde, dazu noch in Fällen, in denen es zu Hinrichtungen kam. Die Anmaßung des Hohenpriesters, Kapitalstrafurteile zu fällen, verdeutlicht zum einen, daß sich in diesem Bereich ausschließlich der Statthalter zuständig fühlte,95 zum anderen aber auch, daß eine Gruppe von Provinzialen in Eigeninitiative eine Gesandtschaft bildete, um den Statthalter auf diesen Vorfall hinzuweisen. Über die genauen Motive der Gesandtschaft sind wir nur unzureichend unterrichtet. Falls es sich um jüdische Bewohner gehandelt hat, könnte dies ein Hinweis darauf sein, daß Teile der jüdischen Bevölkerung selbst Wert darauf legten, daß Kapitalsachen nicht nach einheimischem Recht durch ein Synedrion, sondern nach römischem Recht durch den Statthalter bestraft werden. Da Josephus betont, daß Ananos zur Partei der Sadduzäer gehörte, könnte es sich auch um pharisäische Gegner gehandelt haben, wobei sich die Anspielung auf die akribische Gesetzesbeachtung dann auch auf die jüdischen Gesetze bezogen haben könnte. Obgleich der Kontext nahezulegen scheint, daß er sich hier allein auf die Strafkompetenz bezieht, wäre nicht auszuschließen, daß sich der Protest der Gesandtschaft beim Statthalter auch auf die Art der Zusammensetzung oder Einberufung des Synedrions bezogen haben könnte, falls der sadduzäische Hohepriester bewußt auf die 92

Vgl. Joseph., AJ 20,201. _ _ Joseph., AJ 20,202: kaÍ didÜskousin, ò ožk ™cÎn šn \AnÜnÃw xwrÍò t hò ™keßnou gnþmhò kaqßsai sunÝdrion. Die Stelle ist hier nicht so strikt zu verstehen, als habe es einen generellen Einberufungsvorbehalt des Synedrions seitens des Statthalters gegeben, vgl. Gabba (1999), S. 135; davon ist an anderen Stellen keine Rede bzw. sie widersprechen dieser Aussage. Die Stelle meint vielmehr, daß es ohne Einwilligung des Statthalters nicht erlaubt war, das Synedrion als Strafgericht einzuberufen, und darüber hinaus noch eigenmächtig die Todesstrafe zu vollstrekken. 94 Joseph., AJ 20,203. 95 Vgl. zu dem Fall Büchsel (1931), S. 202 ff; ders. (1934), S. 84 ff.; Lietzmann (1932) und Ebeling (1936) 290 ff. Daß trotz ihrer jeweils unterschiedlichen Argumentation alle drei Autoren den Fall gründlich mißverstanden hätten, stellt Strobel (1980), 32 ff., mit überzeugender Argumentation fest. 93

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Beteiligung von Pharisäern verzichtet hätte. Jedenfalls konnte der Statthalter diesmal die Kompetenzanmaßung nicht unmittelbar bestrafen, weil der höchste geistliche Würdenträger der Juden zu dieser Zeit nicht mehr unmittelbar dem Statthalter, sondern dem Klientelkönig Agrippa unterworfen war.96 Albinus drohte zwar, den Hohepriester zu bestrafen, jedoch lief es letztendlich auf nichts anderes hinaus, als dessen Absetzung bei Agrippa zu erwirken. (14) Kommen wir schließlich noch zu einem Fall, der ein längeres Nachspiel haben wird,97 den wir hier aber vorerst nur auf der Ebene zwischen Statthalter und Provinzialen betrachten.98 Er ist ein Beispiel dafür, wie die Untätigkeit bzw. Bestechlichkeit99 eines Statthalters, nachdem angesehene Galiläer den Fall eigentlich seiner Gerichtsbarkeit unterstellen wollten, zu eigenmächtigem Handeln der Provinzialen führte. Der Anlaß war, daß einige galiläische Juden aus dem Dorf Ginaea/Gema100, die – um nach Jerusalem zu pilgern – den Weg über Samaria nehmen mußten, dort überfallen wurden, wobei einer oder mehrere umkamen.101 Sodann schildert Josephus: „Als sie von dem verübten [Verbrechen] erfuhren, kamen die Angesehenen (o prwtoi) der Galiläer zu Cumanus und forderten ihn auf, den Mord an den Getöteten zu verfolgen. Da er aber mit Geld von den Samaritanern bestochen war, vernachlässigte er die Bestrafung.“102 _

96 Agrippa II., König von Chalkis am Hermon, besaß während seiner Regierungszeit das Recht der Besetzung des hohepriesterlichen Amtes und übte die Oberaufsicht über den Tempel aus. Dies waren Rechte, die er von seinem Vater Agrippa I. übernommen hatte, vgl. Joseph., AJ 19,297–299; 20,179. 196. 197. 213. Zum Recht das Synedrion zu berufen, vgl. Joseph., AJ 20,216. 97 Vgl. unten Fall (17) in Abschnitt V. 2. und Fall (22) in Abschnitt V. 3. Vgl. die abweichende Darstellung bei Tac., Ann. 12,54,2–4 und dazu Aberbach (1949/50), S. 6 f.; Smallwood (1959); Meyer (o. A.), Bd. II, S. 28 f. 98 Joseph., AJ 20,118–124; BJ 2,232–235. 99 In Joseph., AJ 20,119, wird der Vorwurf der Bestechlichkeit (‡ dÊ xrÞmasi _ peisqeÍò pÎ twn SamarÝwn), in BJ 2,233, der der Untätigkeit erhoben: „Cumanus stellte freilich ihre dringenden Bitten hinter die im Augenblick vorliegenden Geschäfte zurück und schickte die Bittsteller unverrichteter Dinge nach Hause.“ 100 In Joseph., AJ 20,118 heißt das Dorf Ginaea; in BJ 2,232 Gema. 101 In Joseph., AJ 20,118 steht: „und es kamen viele dabei um.“; in BJ 2,232: „wurde aus der großen Zahl Juden, die zum Fest hinaufzogen, ein Galiläer ermordet.“ 102 Joseph., AJ 20,119. In BJ 2,233 heißt es: „Darauf rotteten sich zahlreiche Galiläer zusammen, um gegen die Samaritaner Krieg zu führen. Die Angesehenen unter ihnen eilten jedoch zu Cumanus und baten ihn inständigst, er möchte, bevor ein nicht wieder gut zu machender Schaden entstehe, nach Galiläa herüberkommen und die am Mord Schuldigen bestrafen. Denn so allein könne die Menge, ohne daß es zum Krieg komme, zerstreut werden.“

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Als nun die Galiläer hierüber erbittert, die Juden zum bewaffneten Freiheitskampf gegen die römische „Knechtschaft“ aufriefen,103 versuchten zunächst jene, „[die] in einem Amt [waren]“ (twn d' ™n tÝlei), die Unruhe zu begrenzen und forderten dazu auf, erneut Cumanus zur Ahndung des Verbrechens zu bewegen.104 Ihnen wurde aber keine Beachtung geschenkt, statt dessen rief man sogar den Räuberanführer Eleazar zur Waffenhilfe, um einige samaritanische Dörfer einzuäschern.105 Sobald der Statthalter Cumanus hiervon erfuhr, zog er mit der Truppe aus Sebaste, vier weiteren Kohorten und bewaffneten Samaritanern gegen die Juden aus, machte eine Menge von ihnen nieder und nahm eine noch größere Zahl gefangen.106 Zu der „übrigen Menge aber, die zur Bekriegung der Samaritaner hinausgeeilt“ war, eilten die führenden Männer von Jerusalem (o årxonteò twn ¢Ierosolýmwn), in Säcke gekleidet und das Haupt mit Asche bestreut, um sie zu beschwören, umzukehren und nicht durch die Rache an den Samaritanern die Römer gegen Jerusalem aufzubringen. Sie möchten sich doch ihrer Vaterstadt, des Tempels und ihrer eigenen Frauen und Kinder erbarmen, damit nicht alles Gefahr laufe, wegen eines einzigen Galiläers zugrunde zu gehen. Daraufhin gaben die Juden nach und zerstreuten sich.107 _

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In diesem letzten Fall geht es also zunächst um Überfall und Mord. Er bekam eine zusätzliche Brisanz, weil zwei verfeindete Bevölkerungsgruppen involviert waren. Hier wurde die Strafkompetenz des Statthalters nicht einfach ignoriert, wie die Klage der galiläischen Vertreter zeigt, sondern es ist umgekehrt der Statthalter, der sich der Annahme des Falls verweigerte. Deshalb griffen die Juden zur Selbsthilfe, was in einen ungezügelten Rachefeldzug mündete, der schließlich vom Statthalter nur mit Waffengewalt unterdrückt werden konnte. Mit der Untätigkeit des Statthalters, die als Beleidigung und ungerechte Unterlassung empfunden wurde, war der Fall für die Galiläer noch nicht erledigt. Sie wollten Rache an den Samaritanern neh103

Joseph., AJ 20,120. Joseph., AJ 20,121. 105 Vgl. Joseph., AJ 20,121; auch hier abweichend zu BJ 2,232–235, wo von den „Amtsleuten“ keine Rede ist, dafür aber davon, daß sich schon vor der Abweisung durch den Statthalter die Galiläer zusammengerottet hätten. Zudem ist in Joseph., BJ 2,235 noch von einem gewissen Alexander die Rede, der den zunächst führerlosen wilden Haufen der Juden zusammen mit Eleazar angeführt habe, um ohne Rücksicht auf Alter über die Samaritaner der Toparchie Akrabatta herzufallen und Dörfer in Brand zu stecken. 106 Vgl. Joseph., AJ 20,122; BJ 2,236. Bei dieser Truppe handelte es sich um eine Abteilung berittener Soldaten aus Sebaste, die deswegen auch oft „Sebastianer“ genannt wurden. Josephus spricht des weiteren in AJ von vier Kohorten Fußsoldaten und bewaffneten Samaritantern. In BJ ist von den weiteren Truppen, abgesehen von den Sebastianern, keine Rede. 107 Joseph., BJ 2,237–238. 104

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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men, wenn diese schon nicht durch den Statthalter bestraft würden. Der Vorfall zog dabei weit größere Kreise als in dem Fall um die Bezirksgrenzen Philadelphias. Die Galiläer riefen nach ihrer erfolglosen Klage nicht nur die Judäer, sondern auch noch einen Räuberhauptmann zur Hilfe. Wahrscheinlich wurde der Überfall und der Mord in dem Samaritanerdorf für die Juden zum Symbol der insgesamt immer stärker als ungerecht und korrupt empfundenen Römerherrschaft, da er ansonsten nicht in diesem Ausmaß den Volkszorn erregt hätte. Um so mehr war der Statthalter gezwungen, den Aufruhr militärisch niederzuringen. Wenn Josephus an einer Stelle schreibt, daß sich der Statthalter noch nicht einmal scheute, auch bewaffnete Samaritaner gegen die Juden einzusetzen, so will er damit wohl sagen, daß es dem Repräsentant römischer Herrschaft überhaupt nicht mehr auf irgendeine Unparteilichkeit gegenüber den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ankam. Es könnte jedoch auch als Hinweis verstanden werden, wie schwach seine militärischen Mittel gewesen sein mußten, wenn er auf deren Waffenhilfe zurückgreifen mußte. Ferner zeigt sich erneut die wichtige Rolle der provinzialen Oberschicht in der Vermittlung zwischen der römischen Herrschaft und der „gemeinen“ Bevölkerung. Der sich anbahnende Rachefeldzug der Galiläer konnte von irgendwelchen „Amtsleuten“ nicht geschlichtet werden und zog weitere Kreise: Zum einen wurden gesuchte Banditen in den Konflikt mit einbezogen, zum anderen griff die Unruhe auch auf die Juden Judäas über, wobei über den eigentlichen Anlaß hinaus Motive des Freiheitskampfes gegen Rom erkennbar werden. Während die normale jüdische Bevölkerung nur allzu leicht bereit war, sich ihren momentanen Rachegefühlen hinzugeben, schienen die angesehenen und vornehmen Juden Jerusalems sehr viel mehr auf das Gesamtwohl der Provinz bedacht gewesen zu sein, und versuchten den Volkszorn der übrigen Menge durch nüchterne Argumentation mit der Verhältnismäßigkeit und durch symbolische Trauerrituale zu beschwichtigen, was ihnen schließlich auch gelang.108 Haben die beiden vorhergehenden Fälle verdeutlicht, wie stark der römische Statthalter darauf bedacht sein mußte, daß seine Strafkompetenz nicht einfach mißachtet wurde, so zeigt der letzte Fall, daß ein Statthalter, wenn er denn als Richter angerufen wurde, es nicht unterlassen durfte, seine Gerichtsbarkeit in einer gespannten Lage wahrzunehmen. Kam er seiner Aufgabe nicht nach, untergrub es seine Autorität in einem Maße, daß sich die Folgen eventuell nur noch unter erheblich größerem militärischen Aufwand beseitigen ließen. Unterlassene Gerichtsbarkeit mündet somit in die Ausübung seiner Koerzitionsgewalt. 108 Vgl. dazu Acts 19,23 ff. über die Rolle der städtischen „Amtsleute“ in Ephesos während des Aufstandes der Silberschmiede bei der Beschwichtigung der aufgewiegelten Volksversammlung.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Zusammenfassend kann für die fünf in diesem Abschnitt dargelegten Fälle festgestellt werden, daß sie ein Panorama typischer Konstellationen bieten, bei denen die Rolle von Mitgliedern aus der provinzialen Oberschicht im Verhältnis zur Ausübung bzw. Unterlassung statthalterlicher Strafgewalt thematisiert werden: Im ersten Fall verdeutlich sich die Erwartung des Statthalters an die Mithilfe der Gemeindeoberen in der Strafverfolgung, deren Ausbleiben kritisiert wird. Wie sie zur Verantwortung gezogen wurden, wissen wir nicht. Im zweiten Fall kommen Gemeindeobere ihrer Mitverantwortung nach, indem sie einen Unglückspropheten an den Statthalter ausliefern, der jedoch nach Verhör und Züchtigung wieder freigelassen wird. Eventuell waren die Dorfoberen über die Freilassung enttäuscht, jedoch wäre dies nur ein Indiz für die divergierenden Rechtsauffassungen, da für den Statthalter die Unglückprophetie gegen den Tempel kein strafwürdiges Delikt darstellte, zumal, wenn er den Ausgelieferten schlicht für wahnsinnig hielt. Während also im ersten Fall die Honoratioren eindeutig die Erwartungen des Statthalters enttäuschten, so enttäuschte im zweiten Fall möglicherweise der Statthalter diejenigen der Honoratioren. Auch die nächsten drei Fälle ließen sich mit enttäuschten Verhaltenserwartungen zusammenfassen, deren Resultat dann die Selbsthilfe, Kompetenzanmaßung bzw. Selbstjustiz in verschiedenen Kontexten ist: Im Fall der Grenzstreitigkeiten werden die Handlungen der Bevölkerung als ungerechtfertigte Selbsthilfe ausgelegt, weil sie weder den Statthalter noch ihre lokalen Oberen als Schieds- bzw. Schlichtungsinstanz ersucht hatten, so daß die Hauptverantwortlichen vom Statthalter zur Rechenschaft gezogen werden. Im Fall der Verurteilung des Jakobus und einiger anderer Christen maßt sich der Hohepriester die Vollstreckung der Todesstrafe vor Eintreffen des neuen Statthalters in der Provinz an; dies fällt also in eine Phase des Machtvakuums, die vom höchsten Repräsentanten der Juden ausgenutzt wird. Dem Statthalter bleibt nur die Möglichkeit, auf Klagen einiger Provinzialen seine Absetzung zu erwirken. Während es sich in diesem Fall um die Ausübung von Strafgewalt während der Abwesenheit des Statthalters handelt, so handelt es sich im letzten Fall um die Selbsthilfe aufgrund der Unterlassung des Statthalters auf Klagen der jüdischen Provinzialen, gegen die Samaritaner nach dem Überfall auf einen Pilgerreisenden vorzugehen. Daraus droht sich ein ausweitender Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsteilen zu entwickeln, der nur durch das Einwirken Jerusalemer Autoritäten beruhigt werden kann. Ingesamt verdeutlichen die Fälle die Inkohärenz der Erwartungsstruktur in bezug auf die Strafgewaltspraxis des Statthalters. Der Statthalter erwartet die Kooperation der lokalen Eliten eindeutig im ersten Fall, im zweiten hält er sie wahrscheinlich für überflüssig, im dritten wird sie von der Bevölkerung ignoriert, so daß der Statthalter ihre Rädelsführer bestraft, im vierten

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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Fall handelt es sich nicht mehr um erwartete Kooperation, sondern um die Eigenmächtigkeit bzw. Mißachtung der statthalterlichen Strafkompetenz durch den Hohepriester; und im letzten Fall unterläßt es der Statthalter, auf eine Klage zu reagieren, so daß die Provinzialen zur Selbsthilfe schreiten, was zu einem Konflikt führt, der nur durch die Eigeninitiative jüdischer Autoritäten unabhängig von der Erwartung des Statthalters geschlichtet werden kann. Diese inkohärente Erwartungsstruktur kann als Mangel eines vereinheitlichten und berechenbaren normativen Maßstabs für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt interpretiert werden. Dies hat zum einen mit den divergierenden (jüdischen und römischen) Rechtsauffassungen zu tun (wie im Fall des Unglückspropheten oder des Hohepriesters), zum anderen mit den divergierenden Rollenerwartungen zwischen Provinzialbevölkerung, ihren Honoratioren und dem Statthalter (wie im Fall des Raubüberfalls und Mordes am kaiserlichen Sklaven oder der regionalen Grenzstreitigkeit) sowie schließlich generell mit der Unberechenbarkeit der statthalterlichen Strafgewaltspraxis, die sich je nach Ermessen, Gunst, Persönlichkeit, Parteilichkeit, Bestechlichkeit etc. unterschiedlich gestalten kann (wie insbesondere am Konflikt zwischen Juden und Samaritanern deutlich wird). e) Strafgewalt und Willkürregiment des Statthalters Für die Zeit der letzten drei Statthalter vor Ausbruch des Krieges (also etwa für den Zeitraum 60–66 n. Chr.) schildert Josephus die Zustände in Judäa als Sittenverfall und reinstes Chaos, in dem Morde, Geiselnahmen, Willkür und Korruption sich breit machten. So vermittelt sich der Eindruck, als hätten hier Statthalter nach Art eines Verres ihr Unwesen getrieben. Aber auch unter den Vornehmen und den Priestern seien feindliche, sich zügellos bekämpfende Faktionen entstanden, die um sich die rücksichtslosesten Aufrührer gesammelt hätten, so daß sich bald anarchische Zustände einstellten.109 Dies habe dazu geführt, daß schließlich über jedes Recht die _

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Joseph., AJ 20,180: ™cÜptetai dÊ kaÍ to iò ˜rxiereusi stÜsiò prÎò toÏò _ _ _ _ iò kaÍ toÏò prþtouò tou plÞqouò twn ¢Ierosolumit wn, _Òkastüò te ažtwn ere _ _ _ st i—oò ˜nqrþpwn twn qrasutÜtwn kaÍ newteristwn ŠautÃw poiÞsaò †gem„n _ šn, kaÍ surrÜssonteò ™kakolügoun te ˜llÞlouò kaÍ lßqoiò æballon. ‡ _ _ _ d' ™piplÞcwn šn oždÊ e ò, ˜ll' ò ™n ˜prostatÞtÃw pülei taut' ™prÜsseto met' ™cousßaò (Es entflammte aber auch bei den Hohepriestern eine Feindschaft gegeneinander und ein Streit sowohl gegen die Priester als auch die Ersten der Menge der Jerusalemer; und indem jeder von ihnen sich eine Bande aus den kühnsten und umstürzlerischsten Menschen schuf und um sich versammelte, war jeder ein Anführer und Befehlshaber einer Partei, und wenn sie zusammenstießen, beschimpften sie einander und warfen mit Steinen. Da war aber nicht einer, der sie tadelte und den Parteienstreit beendete, sondern wie in einer unregierbaren Stadt 109

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Gewalt zwischen den Faktionen siegte.110 Die Statthalter hätten „unsägliches Leid über die Juden“ gebracht und schreckten weder vor dem Auftrag zu Morden, Diebstahl der öffentlichen Kassen und von Privatvermögen noch vor Bestechungen im Zusammenhang mit der Freilassung von Räubern aus den Gefängnissen und willkürlichen Anklagen gegen die Bevölkerung zurück.111 Besonders Florus,112 den letzten Statthalter vor Ausbruch des Krieges, schildert Josephus als despotischen Gewaltherrscher. In einer Ereignissequenz, die sich um zwei Vorfälle gruppiert, den Grundstückstreit in Cäsarea mit Tumult zwischen Juden und Griechen sowie die Entwendung von Tempelgeldern durch den Statthalter, steigert Josephus das Moment der Konfrontation zwischen den Provinzialen und dem Statthalter so stark, daß der Eindruck einer unüberbrückbaren Kluft zwischen den Juden und dem römischen Regiment entsteht. Die Strafgewalt des Statthalters gerät dabei zum Instrument, seine eigene Bestechlichkeit und Geldgier zu überdecken. (15a) Der erste Fall113 ereignete sich im Zusammenhang mit den Spannungen, Provokationen und Gewalttätigkeiten zwischen der jüdischen und griechisch-syrischen Stadtbevölkerung in Cäsarea, die eine längere Vorgeschichte haben.114 Erneuter Unmut kam durch den Streit um ein neben der Synagoge gelegenes Grundstück auf, das die Juden erwerben wollten. Sein verübten sie dies nach Belieben). In Joseph., AJ 20,181 wird geschildert, wie die Hohepriester dann sogar den Priestern ihren Zehnten wegnehmen ließen, so daß sie verhungerten. _ _ 110 Joseph., AJ 20,181: oÖtwò ™krÜtei tou dikaßou pantÎò † twn stasiazüntwn bßa. _ 111 So z. B. Josephus’ Urteil über Gessius Florus in AJ 20,252 (pollwn _ ™nÝplhse kakwn \Ioudaßouò), vgl. bis 258. Zu Festus, der selber Morde in Auftrag gab, vgl. Joseph., AJ 20,162–164; in BJ 2,272 schreibt Josephus, für den Statthalter Albinus „kann man sich keine Schlechtigkeit vorstellen, die er übergangen hätte“. Er habe öffentliche Kassen bestohlen, eine Menge Privatleute ihres Vermögens beraubt und das ganze Volk mit Anklagen belastet. Bei der Freilassung der von seinen Vorgängern inhaftierten Räuber sei er bestechlich gewesen und habe in allem so ein schlechtes Beispiel gegeben, so daß die Bösewichter regierten, vgl. Joseph., BJ 2,272–275; BJ 2,277 betont, Florus sei noch schlimmer gewesen, denn die Verbrechen seien nicht mehr heimlich und vorsichtig ausgeführt, sondern im Gegenteil prahlerisch zur Schau gestellt worden. Diese Stellen seien hier erwähnt, um den Vorwurf zu entkräften, Josephus habe zu einseitig romfreundlich geschrieben. Seine Vorwürfe an die Statthalter gipfeln sogar in dem Vorwurf, Florus habe es geradezu auf eine Eskalation der Gewalt und einen Krieg angelegt, um unter diesem Vorwand „weiter seine Schandtaten verdecken zu können“, da er im Frieden nämlich stets damit rechnen mußte, von den Juden beim Cäsar verklagt zu werden, vgl. BJ 2,283. 112 Vgl. dazu auch die Begebenheiten in Fall (18). 113 Vgl. Joseph., BJ 2,284–292. 114 Vgl. die Fallbeschreibungen (20) und (21) in Abschnitt V. 3.

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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griechischer Eigentümer konnte jedoch auch durch ein überhöhtes Kaufpreisgebot nicht dazu bewegt werden, dieses zu veräußern. Statt dessen zog er es vor, eigene Baumaßnahmen vorzunehmen, welche die Juden vor allem deshalb erzürnten, weil er zur Synagoge nur noch einen engen und unbequemen Zugang offenließ. Nachdem der gewaltsame Versuch „junger Hitzköpfe“, die Bauarbeiten des Griechen zu verhindern, von Florus vereitelt worden war, bestachen die Juden den Statthalter mit acht Talenten, die dieser mit dem Versprechen annahm, „alles wunschgemäß auszuführen“.115 Jedoch begab sich Florus daraufhin von Cäsarea nach Sebaste und ließ „dem Aufruhr freien Lauf“, so „als ob er den Juden die Erlaubnis verkauft hätte, jetzt loszuschlagen“.116 Am darauffolgenden Tag, einem Sabbat, erbitterte ein „streitsüchtiger Bürger Cäsareas“ die zur Synagoge eilenden Juden, indem er ihr Gesetz dadurch verhöhnte, daß er vor dem Eingang auf einem umgestülpten Topf begann, Vögel zu opfern.117 Obgleich nun die gemäßigteren Juden bei der römischen Obrigkeit Schutz suchen wollten, setzten sich doch die „zum Aufruhr geneigten und von jugendlichem Feuer Begeisterten“ durch.118 Da auch die nichtjüdische Bevölkerung auf eine bewaffnete Auseinandersetzungen aus war, kam es zu einem feindlichen Zusammenstoß der Einwohner Cäsareas. Auch der zum Einschreiten beauftragte Reiterbefehlshaber Jucundus konnte dem Konflikt keinen Einhalt gebieten, so daß sich die Juden gezwungen sahen, ihre Gesetzesrollen in das jüdische Dorf Narbata zu evakuieren.119 „Die vornehmen Juden aber, Zwölf an der Zahl“ (o dÊ perÍ tÎn \IwÜnnhn dunatoÍ dþdeka) begaben sich zu Florus nach Sebaste, beklagten sich über das Vorgefallene und ersuchten ihn dringend um Hilfe, „wobei sie vorsichtig eine Erinnerung an die acht Talente anklingen ließen“. Der Statthalter ließ die Männer daraufhin jedoch unter der Anschuldigung verhaften und einsperren, daß sie die Gesetzesrol_

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115 Vgl. Joseph., BJ 2,286–288. Zur Bestechung: ˜mhxanounteò o dunatoÍ twn _ _ ˜rgurßou talÜntoiò kt„ diakwlusai \Ioudaßwn [. . .] peßqousi tÎn Flwron _ tÎ ærgon. ‡ dÊ prÎò münon tÎ labe in posxümenoò pÜnta sumprÜcein. 116 Vgl. Joseph., BJ 2,288. 117 Joseph., BJ 2,289. Die BJ-Hrsg. Michel/Bauernfeind, Bd. 1, in A. 156, S. 445: „Dies Vogelopfer war wohl ursprünglich nur eine allgemeine Verspottung des jüdischen Kultes. Die Juden jedoch faßten es als Verhöhnung des Reinigungsopfers nach überstandenem Aussatz (Lev 14,4 ff. 49 ff.) auf. Dabei spielte vielleicht noch die heidnische Überzeugung hinein, die Juden seien wegen ihres Aussatzes von den Ägyptern vertrieben worden (vgl. AJ 3,265; Ap. 1,229 ff. 279 ff.; Tac., Hist. 5,3,4).“ _ _ 118 Joseph., BJ 2,290: tÎ mÊn ožn ežstaqÊò kaÍ pr Áa on ™pÍ toÏò †gemünaò _ _ _ ˜na—eýgein Ãw eto xr hnai, tÎ stasiwdeò dÊ kaÍ ™n neüthti —legma inon ™cekaßeto prÎò mÜxhn. Was wir mit ,römische Obrigkeit‘ wiedergegeben haben, heißt im griechischen Text wörtlich „die Statthalter“. Michel/Bauernfeind übersetzen den Plural †gemünaò mit ,Behörden‘, was mir jedoch etwas zu bürokratisch klingt. 119 Vgl. Joseph., BJ 2,191.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

len aus Cäsarea entfernt hätten.120 Die Maßnahme des Statthalters erscheint wie reine Willkür, um sich der Zeugen für die Bestechungsgelder zu entledigen; die Evakuierung der Gesetzesrollen als etwaige Rechtsgrundlage wirkt zumindest so, als sei sie an den Haaren herbeigezogen. (15b) Josephus berichtet überdies, daß man über diese Vorgänge auch in Jerusalem verbittert war, man dort jedoch „die Leidenschaften“ noch im Zaum gehalten hätte. „Die Glut des Krieges“ wurde erst geschürt, als Florus aus dem Tempelschatz 17 Talente entwendete, und zwar „unter dem Vorwand, der Kaiser brauche sie.“121 Das Volk lief daraufhin im Tempel zusammen, rief den Namen des Kaisers mit durchdringendem Geschrei um die Befreiung von der Gewaltherrschaft des Florus an und „einige der aufrührerisch Gesinnten“ (ænioi dÊ twn stasiastwn) brachen in schlimmste Beschimpfungen gegen Florus aus, wobei sie in Anspielung auf Florus’ Geldgier einen Korb herumgehen ließen, um milde Gaben für den Statthalter zu erbetteln.122 Florus’ Zorn über diesen Spott verschlimmerte aber die Lage, weil dieser nun noch mehr Geld erpreßte und, statt die Ursachen des Konfliktes in Cäsarea zu lösen, von dort mit seinen Soldaten nach Jerusalem aufbrach.123 Josephus berichtet nun, wie die Juden dem Statthalter Florus in Jerusalem untertänig und mit Heilrufen entgegeneilten, „um dessen Verlangen nach Rache im voraus zu mäßigen“.124 Dieser schickte ihnen aber eine Abteilung berittene Soldaten entgegen und ließ über den Centurio Capito seinen Befehl mitteilen, sie sollten verschwinden und keine freundliche Gesinnung gegen den heucheln, den sie früher so schändlich geschmäht hätten; daraufhin hätten sich die Juden ängstlich nach Hause begaben.125 Nachdem sich dann Florus am nächsten Tag auf seinem Richterstuhl (b hma) vor dem Königspalast niedergelassen hatte, fanden sich dort „die Hohepriester (˜rxiere iò), die Vornehmen (dunatoÍ) und überhaupt die Angesehensten der Bürgerschaft“ (gnwrimþtaton t hò pülewò) ein.126 Der Statthalter verlangte von ihnen die Auslieferung derjenigen, die ihn beschimpft und beleidigt hätten; gleichzeitig drohte er, diejenigen zu bestrafen, die diesem Befehl nicht nachkommen würden. Die anschließenden Beschwichtigungsversuche der vornehmen Juden erregten den Zorn des Statthalters nur noch mehr. Josephus läßt hier die vornehmen Juden vor dem _

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Joseph., BJ 2,292. Vgl. Joseph., BJ 2,293. Es ist möglich, daß der Statthalter Florus das Geld als Kompensation für die überfällige Steuer aus dem Tempelschatz entnahm, vgl. Joseph., BJ 2,403. 405. 122 Vgl. Joseph., BJ 2,294 f. 123 Vgl. Joseph., BJ 2,296. 124 Vgl. Joseph., BJ 2,297. 125 Vgl. Joseph., BJ 2,298–300. 126 Vgl. Joseph., BJ 2,301. 121

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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Statthalter interessanterweise so argumentieren, daß man unmöglich die einzelnen Schuldigen herausfinden und bestrafen könne.127 Damit stellen die Juden hier auf die Individualschuld ab, während der Statthalter auf eine exemplarische, kollektive bzw. stellvertretende Bestrafung aus ist. So erteilte er schließlich den Befehl, die ,Oberstadt‘ zu plündern, woraufhin die Soldaten in die Häuser eindrangen, raubten und mordeten sowie eine Menge friedliebender Bürger festnahmen und zu Florus schleppten, der sie zunächst schmählich geißeln und daraufhin kreuzigen ließ.128 Josephus kommentiert die Maßnahme damit, sie sei eine „bis dahin unbekannte Grausamkeit der Römer“ gewesen, zumal Florus sich erkühnte, was „keiner seiner Vorgänger gewagt“ hätte, nämlich sogar „Männer von ritterlichem Stand vor seinem Richterstuhl geißeln und ans Kreuz nageln“ zu lassen, „die zwar ihrer Abstammung nach Juden waren, aber eine römische Würde bekleideten“.129 Florus, der letzte Statthalter vor Ausbruch der großen Revolte, wird für Josephus zum Repräsentanten korrupter Gewaltherrschaft. Die Strafgewalt des Florus geriert sich als eine auf Konflikt abzielende Willkür und Rache und scheint nicht mehr für ordnungsstiftende Maßnahmen zu stehen. Auffällig ist auch an dieser Schilderung, wie Josephus zwischen den aufbrausenden, kämpferisch gesinnten und den mäßigenden, beschwichtigenden Bevölkerungsteilen unterscheidet.130 Nunmehr scheint aber eine Radikalisierung der Gemüter stattgefunden zu haben, bei der die gemäßigteren Kräfte, die auch hier wohl eher mit der Oberschicht zu identifizieren sind, Ausschreitungen nicht mehr verhindern konnten. Kein Wunder, denn folgt man Josephus’ Schilderung, so hätten diese auch keine Verbesserung der Lage herbeigeführt, wird doch Florus als jemand geschildert, der die verhandlungsbereiten und bittstellenden Stadtoberen der Juden Cäsareas, jene „zwölf Angesehenen“, einfach unter fadenscheinigen Gründen verhaften ließ. Krasser ist der Fall noch in Jerusalem. Nicht mehr nur unterprivilegierte Peregrine werden durch die schlimmste römische Strafe der Kreuzigung hingerichtet, sondern auch die Mitglieder der jüdischen Oberschicht, die es 127

Vgl. Joseph., BJ 2,303–304. Vgl. Joseph., BJ 2,305–307. _ 129 Joseph., BJ 2,308: barutÝran te ™poßei tÌn sum—orJn tÎ kainÎn t hò _ . åndraò ¢Rwmaßwn Ÿmüthtoò â gJr mhdeÍò prüteron tüte Flwroò ™tülmhsen, _ _ _ _ _ u bÞmatoò kaÍ staur Ãw proshl wsai, ppikou tÜgmatoò mastigwsaß te prÎ to _ _ _ _ n eœ kaÍ tÎ gÝnoò \Ioudaßwn ˜llJ goun tÎ ˜cßwma ¢Rwma kÎn šn. Ob allein deshalb schon davon ausgegangen werden muß, daß der Hinrichtung der römischen Bürger ein förmliches Verfahren vorausging, weil ein bema (Richterstuhl) erwähnt ist, bleibt fraglich, zumal nicht klar ist, was dieses im Rahmen des bei Josephus geschilderten Kontextes dann besonderes beinhaltet hätte; gegen Ermann (2001), S. 374, A. 33. 130 Vgl. dazu unten Fall (21a) in Abschnitt V. 3. 128

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

sogar zum Ritterstand gebracht hatten und folglich römische Bürger waren. Ob es diese wirklich gegeben hat und wer diese römischen Würdenträger gewesen sein könnten, läßt sich nicht überprüfen.131 Josephus berichtet auch von keiner provocatio bzw. appellatio aufgrund des römischen Bürgerrechts. Man kann nur vermuten, daß Florus dies wenig beeindruckt hätte. Er unterscheidet nicht mehr zwischen römischen Bürgern und Provinzialeliten, die auf mildere Strafen hoffen konnten, und unterprivilegierten Peregrinen, die zumeist die härteste Seite der römischen Strafgewalt zu spüren bekamen. Vielmehr wird hier die jüdische Provinzialbevölkerung als Ganzes vom römischen Statthalter als rechtloser Feind behandelt. Das Band der Kooperation zwischen jüdischen Provinzialeliten und römischem Regiment scheint zerbrochen. Der Richterstuhl (bema) des Statthalters, der von den „Großen“ der Provinz umringt wurde, und auch außerhalb von Gerichtssituationen von der provinzialen Oberschicht als Verhandlungsort zur Einflußnahme auf die Geschicke des Landes genutzt wurde, verkam zum Willkürinstrument persönlicher Rachegelüste des Florus, der nach Josephus’ Schilderung bewußt den Bruch zwischen Rom und den Juden herbeiführen wollte. Auch die unterprivilegierten Schichten, welche normalerweise keinen direkten Kontakt zum römischen Statthalter hatten, sahen keine Chance mehr, über angesehene Vertreter auf dem Verhandlungswege zu einem Ausgleich mit dem Statthalter kommen. Sie verfielen deshalb in resignativen Spott und symbolische Verhöhnungsgesten als eine Protestform des Charivari, die den Zorn des Statthalters aber nur um so mehr erregten. Die Reaktionen beider Seiten wurden jeweils zum Grund und zur Rechtfertigung einer sich steigernden Konfliktbereitschaft, in welcher die Kräfte der Beschwichtigung und des Ausgleichs mehr und mehr an Boden verloren. f) Zwischenbetrachtung Was folgt aus diesen Fällen für die Charakterisierung der statthalterlichen Strafgewalt? Wir sahen, wie die Statthalter mit militärischem Einsatz militant-prophetischen Massenbewegungen begegneten und wie sie mit Räubern kurzen Prozeß machten, soweit sie ihrer habhaft werden konnten. Außerdem stellte sich heraus, daß die Statthalter bei spontanen Protestaktionen der Provinzialbevölkerung völlig unterschiedlich reagierten. Sodann wurde die Rolle der provinzialen Oberschicht in verschiedenen Situationen untersucht. Da war einmal der Vorwurf der unterlassenen Strafverfolgung im Interesse des Statthalters mit evtl. geheimem Kollaborationsverdacht gegenüber den Gemeindevorstehern, die dafür zur Verantwortung gezogen wur131 Vgl. Demougin (1988), S. 549 f.; Stein, A. (1927), S. 409, dort auch der Hinweis auf die Öffnung zu öffentlichen Ämtern für Juden bei Septimius Severus, vgl. Dig. 50,2,3,3.

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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den. Zudem wurde von der Festnahme und Züchtigung eines Unruhestifters durch die Gemeindeoberen berichtet, die ihn zur weiteren Untersuchung an den Statthalter auslieferten, der den Beschuldigten jedoch als harmlosen Geistesgestörten wieder laufen ließ. Ferner gab es den Fall einer Grenzstreitigkeit zwischen einer Stadt und der umliegenden Landbevölkerung. Dabei griff die Landbevölkerung ohne Vorwissen der Oberschicht zu gewalttätigen Maßnahmen, legte den Fall also auch nicht in die Hände von Prozeßvertretern, die die Angelegenheit vor dem Statthalter hätten verhandeln können. Deshalb wurden die Verantwortlichen der gewalttätigen Ausschreitungen exemplarisch bestraft. Außerdem gab es den Fall eines Hohepriesters, der die Abwesenheit des Statthalters ausnutzte, indem er sich die Kapitalstrafkompetenz anmaßte, um nach Einberufung des Synedrions einige Provinziale steinigen zu lassen. Eine Gesandtschaft aus Provinzialen protestierte dagegen bei dem sich noch außerhalb der Provinz befindlichen Statthalter, welcher daraufhin die Absetzung des Hohepriesters bei Agrippa erwirkte. Schließlich wurde noch geschildert, wie anläßlich eines Raubüberfalls durch Unterlassung der Strafverfolgung des Statthalters ein Krieg zwischen zwei verfeindeten Volksgruppen auszubrechen drohte, welcher nur mittels Militärmacht des Statthalters und der Schlichtung durch Autoritäten aus Jerusalem abgewendet werden konnte. Zuletzt ging es um die Ausübung der Strafgewalt eines Statthalters, der ohne Unterschied die jüdischen Provinzialen wie persönliche Feinde behandelte und sogar die vornehmsten und angesehensten jüdischen Notabeln, darunter auch solche mit dem römischen Bürgerrecht, hinrichten ließ. Josephus zeigt, daß alle judäischen Statthalter Todesurteile fällten und demnach das ius gladii ausübten. Abgesehen von Exekutionen im Rahmen militärischer Maßnahmen und der summarischen Erwähnungen von Hinrichtungen wurde über Einzelpersonen folgendes berichtet: die Enthauptung des Pseudopropheten Theudas, dessen Kopf nach Jerusalem gebracht wurde; die sofortige Hinrichtung des Erzbriganten Tholomäus, die wahrscheinlich auch dem Eleazar gedroht hätte, wäre er nicht nach Rom überstellt worden; die Enthauptung eines Soldaten nach frevelhaftem Verhalten; die Freilassung eines für wahnsinnig befundenen Propheten nach Befragung unter Folter; eine Hinrichtung und zwei Verbannungen bei Leuten, die dazu angestachelt hatten, das Recht wegen einer regionalen Grenzstreitigkeit selbst in die Hand zu nehmen; die Verhaftung und Einkerkerung von zwölf Mitgliedern einer jüdischen Gesandtschaft, die einen zuvor bestochenen Statthalter an die von ihm erwartete Gegenleistung erinnerten; schließlich die Geißelung und anschließende Kreuzigung vornehmer Juden, von denen einige sogar römische Ritter und folglich Bürger waren. Das Ensemble an Strafmaßnahmen, die hier freilich aus dem Kontext gerissen sind, seien auch deshalb noch einmal aufgezählt, um zu zeigen, daß

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

anhand der Informationen des Josephus eine Analyse abgestufter Strafmaße je nach rechtlichem bzw. sozialem Status der Betroffenen kaum möglich scheint. Deshalb erwecken sie in der Summe zunächst den Eindruck völlig willkürlich ausgeübter Strafaktionen. Berücksichtigt man jedoch den Einzelfall, die jeweiligen Umstände und den unterschiedlichen Herrschaftsstil der Statthalter, sollte man sich vor der voreiligen Schlußfolgerung auf ein durchweg regelloses, rein summarisches Verfahren verwahren. Wie bereits an anderer Stelle betont, interessiert sich Josephus in den meisten Fällen nicht für etwaige Verfahrensfragen, sondern vor allem um das Ergebnis statthalterlicher Strafgewalt. Hierbei ist zumindest das Spektrum abgestufter Strafpraktiken erkennbar: Freilassung, Verbannung, Überstellung nach Rom, Enthauptung und Kreuzigung.132 Wenn wider Erwarten die Strafmaße nicht dem bei Josephus angedeuteten sozialem Status der Bestraften entsprochen haben, so erklärt sich das in einigen Fällen zum einen aus der wahrscheinlich vom Statthalter beabsichtigten Nachwirkung seiner Strafanordnung: Theudas und Eleazar werden wahrscheinlich nur deshalb nicht gekreuzigt, weil der abgetrennte Kopf des ersteren in Jerusalem und der lebendige Körper des zweiten in Rom noch die symbolische Bedeutung einer Art Trophäe zukommen sollte. Zum anderen zeigt sich in einigen Fällen, insbesondere bei der Geißelung und Kreuzigung römischer Ritter jüdischer Abstammung, wie die Skandalisierung des Josephus, der dies als einmaligen und unerhörten Bruch mit den Konventionen betrachtet, den Umkehrschluß fordert, ein „besserer“ Statthalter hätte den hohen Status der Betroffenen berücksichtigen müssen. Der einzige Fall, der ausführlicher von Josephus dargestellt wird, nämlich der des Unglückspropheten Jesus, läßt bezeichnenderweise auch gewisse Regeln des Ablaufs bis zur Entscheidung eines Statthalters erkennen: Auslieferung durch Dorfhonoratioren, sodann die Befragung und Geißelung als Verhör, schließlich die Freilassung wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit. Allgemein ist bei den ausführlicheren Fallschilderungen des Josephus zu berücksichtigen, daß es sich ausschließlich um solche Fälle handelt, bei denen aus Sicht der römischen Ordnungsmacht eine massive Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegeben waren; aufgrund des Genres und der Darstellungsabsicht des Josephus sind anders gelagerte Fälle schwerlich zu erwarten. Wären wir über die Vorwürfe gegen einzelne Statthalter133 ähnlich detailliert informiert, wie das in Ciceros Verrinen der Fall ist, hätte sich möglicherweise ein ähnliches Bild ergeben, daß nämlich 132

Geißelung und Einkerkerung brauchen hier nicht als Resultat eines Strafurteils betrachtet werden, da es sich um ein Mittel des Verhörs bzw. um Koerzitionsmaßnahmen gehandelt haben kann, die vor Anordnung der Strafvollstreckung gängige Praxis waren. Vgl. zu den abgestuften Strafmaßen das Urteil des syrischen Statthalters unten in Fall (17). 133 Vgl. oben A. 111 in Abschnitt V. 1. e).

1. Statthalterliche Strafgewalt und Provinzialbevölkerung

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die Wahrnehmung großer Ermessenspielräume nicht notwendig auf ein gänzlich regelloses Verfahren deuten muß. Aber genau hier lassen uns die Berichte des Josephus im stich. Somit bleibt nur die Vermutung, daß eine ausführlichere Schilderung der Urteils- bzw. Entscheidungsfindung der Statthalter – etwa bei der Überstellung des Räubers nach Rom oder der Hinzuziehung eine Consiliums bei der Bestrafung des Soldaten – ein weniger summarisches und willkürliches Bild ergeben hätte. Welche Funktionen der Strafgewalt werden durch die Berichte des Josephus deutlich? Die Strafgewalt war einmal Disziplinierungsmittel gegen Volkserhebungen, welche sich gegen die römische Herrschaft richteten, sei es, weil eine unmittelbare Anordnung des Statthalters von jüdischen Provinzialen als Sakrileg gegen ihre religiös determinierte Rechtsvorstellung empfunden wurde, sei es, weil messianische oder eschatologische Bewegungen die römische Ordnung der Provinz in Gefahr zu bringen drohten. Ferner diente sie der Unterdrückung von räuberischen Banden, die die Sicherheit der Provinz gefährdeten. Zudem stellte sie die Autorität wieder her, falls die Provinzialen versuchten, am Statthalter vorbei ihre Streitigkeiten auszutragen, und zwar in Fällen, die der Statthalter eindeutig in seiner Amtsgewalt wähnte. In all diesen Fällen handelt es sich also um ein Herrschaftsmittel, das aber außer durch militärische Strafsanktionen gegenüber bestimmten Gruppen auch durch exemplarische Strafurteile gegen einzelne Personen ausgeübt (oder auch bewußt unterlassen) wurde. Die Fälle verdeutlichen die Bruchlinie zwischen römisch-imperialer und religiös determinierter Rechts- und Herrschaftsauffassung der jüdischen Provinzialen. Der Bruch konnte nur vermieden werden, wenn die gemäßigten Elemente der jüdischen Provinzialelite und die religiöse Toleranz des römischen Statthalters zusammenfanden. In Stichworten könnte man die Funktion der provinzialen Oberschicht mit Schlichtung, Mäßigung, Vermittlung, Kooperation und Information zusammenfassen. Wollte der Statthalter nicht allein durch das Schwert seiner Soldaten regieren, war er auf die provinziale Elite angewiesen, und zwar schon allein deswegen, weil er keinen Verwaltungsapparat zur Verfügung hatte, der diese Aufgaben in ausreichendem Maß hätte selbst bewerkstelligen können. Hier bestätigt sich die simple Tatsache, „daß es dem Römischen Reich trotz seines Auftretens als ein Staat von bisher nicht gekannter Größe an jeglicher organisierten Ordnungsmacht fehlte, die als Gegenstück zu einer militärischen Herrschaft hätte dienen können.“134 In die Lücke sprangen gewissermaßen „Aushandlungsprozesse“ mit der Provinzialelite. Hinsichtlich der Ausübung der Strafgewalt könnte das Ver134

Vgl. Shaw (1997), S. 358.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

hältnis des Statthalters zu den Repräsentanten und Funktionsträgern der Provinzialbevölkerung als ,offenes Interaktionsfeld‘ umschrieben werden, wobei von einer gegenseitigen Abhängigkeit in der Wahrung der öffentlichen Ordnung auszugehen ist, der Statthalter im Konfliktfall aber das letzte Wort hat. Die Rechte und Pflichten waren jedoch unbestimmt und störanfällig. Das informelle Kooperationsverhältnis135 drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten, wenn die gegenseitigen Erwartungshaltungen nicht mehr kongruierten. Die Kehrseite dieser Funktionsbestimmung ist daher die große Rechtsunsicherheit, die Gefahr von Kompetenzkollisionen und die Neigung zur Selbsthilfe. Funktioniert das Zusammenspiel zwischen Provinzialelite und Statthalter nicht mehr, droht ein Bürgerkriegszustand mit der Folge, daß dann die Strafgewalt des Statthalters brutal nach Art des Kriegsrechts eines Militärgouverneurs ausgeübt wurde. Insgesamt vermittelt die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt, wie sie bei Josephus dargestellt wird, nicht den Eindruck einer rechtlich fixierten und fest institutionalisierten Herrschaftspraxis. Vielmehr wurde besonders im Zusammenhang mit der informellen Rolle der provinzialen Oberschicht deutlich, daß sie von der konkreten Situation und den persönlichen Erwägungen des Statthalters abhing. Deutlicher wird dies noch, wenn wir die Strafgewalt des judäischen Statthalters mit dem römischen Statthalter in Syrien und dem Kaiser in Rom in Beziehung bringen. 2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter Waren die Provinzialen wegen eines Urteils bzw. einer Maßnahme oder aus sonstigen Gründen mit dem Regiment des judäischen Statthalters unzufrieden, konnten sie sich darüber beim syrischen Statthalter beschweren. Bei dieser Möglichkeit stellt sich die Frage, inwiefern sie der Statthalter in Judäa zu berücksichtigen hatte. (16) Josephus berichtet,136 daß, nachdem Pilatus die Samaritaner gewaltsam davon abgehalten hatte, den Berg Gerazim zu besteigen137 und sich der Aufruhr (qorýboò) gelegt hatte, der „Rat der Samaritaner (SamarÝwn † boulÌ)138 zu L. Vitellius139, einem Konsular, der die Statthalterschaft Sy135

Vgl. dazu das Konzept der Ritualisierung persönlicher Machtbeziehungen bei Shaw (1993), dessen Hauptaugenmerk zwar auf der Beziehung zwischen König Herodes und mächtigen „Räuberanführern“ liegt, das sich aber auch auf das Verhältnis Statthalter-provinziale Oberschicht anwenden läßt. 136 Vgl. Joseph., AJ 18,85–89; keine Erwähnung in BJ. 137 Vgl. oben Fall (1) in Abschnitt V. 1. a). 138 Der Hrsg. der AJ-Ausg. Feldman (Havard Bd. 433), S. 62 f. A. b, merkt an, aus dem Kontext ergebe sich, daß es sich um einen Rat der gesamten samaritanischen Gemeinschaft gehandelt habe und nicht bloß der Stadt Samaria.

2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter

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riens innehatte“ ging, um „Pilatus wegen des Abschlachtens der Umgekommenen“ anzuklagen.140 Sich selbst verteidigten die Samaritaner mit dem Argument, daß sie sich damals nicht „zwecks Abfalls von den Römern“ in Tirathana versammelt hätten, sondern zur „Rettung vor der Gewalttätigkeit des Pilatus“.141 Vitellius sandte dann „von seinen Freunden Marcellus als Aufseher (epimeletes) zu den Juden“142 und befahl Pilatus, sich nach Rom zu begeben, „um über das, weswegen die Samaritaner ihn anklagten, den Alleinherrscher zu unterrichten.“143 Aus dem Kontext, aber auch aus der Tatsache, daß Josephus den Ausdruck epimeletes (Besorger, Aufseher, Befehlshaber) sonst nicht für Statthalter verwendet, geht hervor, daß Marcellus hier wohl als eine Art Interimsverwalter fungieren sollte, bis der Kaiser einen neuen Statthalter für Judäa ernannt hatte. Pilatus kam der Anweisung des syrischen Statthalters nach und eilte nach Rom, „weil den Befehlen [des Vitellius] nicht zu widersprechen war“.144 Über ein etwaiges Verfahren gegen Pilatus in Rom haben wir keine weiteren Informationen. Wir erfahren nur, daß Kaiser Tiberius in der Zwischenzeit verstorben war (März 37 n. Chr.), bevor Pilatus in Rom eintraf.145 Festzuhalten bleibt, daß der syrische Statthalter der Beschwerde der samaritanischen Repräsentanten stattgab und Pilatus befahl, sich nach Rom zu begeben, um dem Kaiser über die Angelegenheit zu berichten. Die überlegene Stellung des syrischen Statthalters gegenüber demjenigen in Judäa wird von Josephus deutlich herausgestellt: einmal, indem er dessen senatorischen Rang betont, sodann, indem er schreibt, daß Pilatus nach Rom „ge139 Bei Vitellius handelt es sich um den Vater des späteren Kaisers Vitellius. Vgl. zu diesem syrischen Statthalter (35–39 n. Chr.) Da˛browa (1998), S. 38–41. _ _ _ 140 Joseph., AJ 18,88: kaÍ PilÜtou kathgüroun ™pÍ t Âh s—ag Âh twn ˜polwlütwn. _ 141 Joseph., AJ 18,88: ož gJr ™pÍ ˜postÜsei twn ¢Rwmaßwn, ˜ll' ™pÍ dia_ _ —ug Âh t hò PilÜtou Öbrewò eœò tÌn TiraqanJ paragenÝsqai. Hier geht es also um die Tatsache, daß es sich um eine bewaffnete Versammlung gehandelt hat. Zu der vorgebrachten Unterscheidung zwischen der römischen Herrschaft als solcher und der Herrschaft eines römischen Statthalters vgl. die ähnliche Argumentation der Juden in Joseph., BJ 2,402–403 gegenüber König Agrippa, der seine Landsleute davon abhalten wollte, sich gegen den Statthalter Florus zu empören. _ _ 142 Joseph., AJ 18,89: kaÍ OžitÝllioò MÜrkellon twn ažtou —ßlwn ™kpÝ_ myaò ™pimelhtÌn to iò \Ioudaßoiò. 143 Joseph., AJ 18,89: ™kÝleusen ™pÍ ¢Rþmhò ˜piÝnai prÎò Ø kathgoro_ien o _ Samare itai didÜconta tÎn ažtokrÜtora. Der Wort didaskô (lehren, unterrichten, unterweisen) scheint mir hier äußerst neutral gewählt, falls diese Stelle auf eine Verteidigung und Rechtfertigung vor dem Kaiser hinauslaufen soll. 144 Joseph., AJ 18,89: ta_iò Ožitellßou peiqümenoò ™ntola_iò ožk ïn ˜ntei_ pe in. 145 Vgl. Joseph., AJ 18,88; dazu Smallwood (1954) zu den chronologischen Schwierigkeiten der Bestimmung des Absetzungsdatums von Pilatus.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

eilt“ (špeßgeto) sei, d. h. der Anweisung des Vitellius unverzüglich Folge leistete; und schließlich noch durch die kurze Bemerkung, daß Pilatus nicht zu widersprechen wagte. War Pilatus deshalb schon ein Angeklagter und mußte sich gegen die Anschuldigungen der Samaritaner vor dem Kaisergericht verantworten? Aus welchem Grund hätte der syrische Statthalter den immerhin seit zehn Jahren amtierenden Pilatus als Angeklagten vor das Kaisergericht bringen können? Wir erinnern uns, daß Pilatus immerhin eine bewaffnete (!) Menschenmenge auseinandergetrieben hatte und sein brutales Vorgehen deshalb vom syrischen Statthalter als durchaus berechtigte Ausübung der Strafgewalt hätte gebilligt werden können. Wieso sollte Vitellius der Klage der Samaritaner einfach Glauben schenken, wenn diese in ihrer Schilderung den Vorfall einfach umkehrten und behaupteten, sie hätten sich nur bewaffnet, um sich gegen Pilatus’ Gewalttätigkeit zu wehren? Aber auch diese Argumentation erstaunt, da sie davon auszugehen scheint, es habe ein Selbstverteidigungsrecht gegenüber der Ordnungsmacht des judäischen Statthalters gegeben. Dies konnte wohl schwerlich akzeptiert werden. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Klage der samaritanischen Gesandtschaft nur eine gute Gelegenheit war, um Pilatus als Statthalter in Judäa loszuwerden, vielleicht weil der syrische Statthalter in ihm einen Störfaktor für das politische Gleichgewicht im syropalästinensischen Raum sah oder einfach, weil sich die Politik des Kaisers in Rom für diese Region geändert hatte. Jedenfalls verdeutlicht Josephus’ Bericht, daß der ritterliche Statthalter in Judäa der Autorität des syrischen Legaten nichts entgegenzusetzen hatte und seinen Anweisungen Folge leistete. Es wäre aber unangemessen, dieses Autoritätsgefälle im Sinne einer umfassenden Weisungskompetenz des syrischen Statthalters gegenüber dem judäischen Statthalter zu verstehen, schon gar nicht in der Weise, daß letzterer generell von Entscheidungen des ersteren abhing. Alles, was Vitellius gegen Pilatus unternehmen konnte, war nur mittelbar über die Entscheidung des Kaisers möglich. Der syrische Statthalter konnte nicht selbst den judäischen Statthalter absetzen, da dieser vom Kaiser ernannt wurde und somit auch nur von diesem wieder abberufen werden konnte. Deswegen hätte der syrische Statthalter nur erreichen können, daß Pilatus vom Kaiser abgesetzt wurde. Freilich wäre auch ein Hochverratsprozeß gegen Pilatus möglich gewesen, zumal sich solche Prozesse unter der Regierungszeit des Tiberius stark gehäuft hatten und auch unter den fadenscheinigsten Anklagen geführt wurden. Was aber eine mögliche Absetzung durch den Kaiser anbetrifft, so wäre schließlich noch zu bedenken, daß Tiberius in den letzten Lebensjahren bis zu seinem Tod bekanntlich vergrämt und isoliert auf der Insel Capri weilte, folglich bei einem Magistratsprozeß vor dem Senat nicht anwesend gewesen wäre. Man kann nur vermuten, daß Vitellius den Pilatus aus ir-

2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter

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gendwelchen Gründen aus seinem Einflußbereich entfernt wissen wollte und ihm die Klage der Samaritaner dazu eine passende Gelegenheit bot. Dies bleibt Spekulation und wir erfahren nur, daß Pilatus nach dem Tod des Kaisers Tiberius in Rom eintraf. Auch dies könnte der Grund dafür gewesen sein, daß der syrische Statthalter einen „Interimsverwalter“ in Judäa einsetzte, der kommissarisch dessen Aufgaben wahrnahm, bis vom nachfolgenden Kaiser ein neuer Statthalter entsandt wurde. Mit dem Tod des Tiberius war auch die persönliche Bindung des Pilatus an den Kaiser entfallen. Dies könnte die Absetzung des Pilatus ungemein erleichtert haben, wenn man annimmt, daß der neue Kaiser weder die Günstlinge noch deren Schwierigkeiten von seinem Vorgänger „erben“ wollte. (17) Auch nach der Eskalation des Konflikts zwischen den Samaritanern und den Juden146 kam es (52 n. Chr.) zur Klage von Provinzialen beim syrischen Statthalter.147 Diesmal richtete sich die Klage aber nicht nur gegen den judäischen Statthalter, sondern die beiden Volksgruppen verklagten sich auch gegenseitig. Die Vornehmen (dunatoÍ bzw. prwtoi) der Samaritaner hatten sich nach Tyrus begeben, um die Juden dort bei C. Ummidius Quadratus148 wegen der Plünderung und Einäscherung samaritanischer Dörfer zu verklagen.149 Josephus zitiert bzw. unterstellt eine geschickte Begründung der Samaritaner für ihre Klage vor dem syrischen Statthalter: Es gehe ihnen bei ihrer Beschwerde weniger um das von ihnen selbst erlittene Unrecht; vielmehr seien sie darüber verärgert, „daß sie [die Juden] die Römer verachtet hatten, zu denen sie als Richter, falls sie [die Samaritaner] denn Unrecht getan haben sollten, hätten kommen müssen, statt jetzt gegen sie anzustürmen, als hätten sie nicht Römer zu Statthaltern. Daher seien sie zu ihm gekommen, um sich Vergeltung zu verschaffen.“150 Die Samaritaner setzten also das Regiment des Statthalters mit der Herrschaft der Römer gleich, und versuchten die Juden mit der Behauptung in Mißkredit zu bringen, daß sie beides mißachtet hätten. Josephus könnte man hier sogar eine gewisse Ironie unterstellen, wenn er formuliert, daß die Samaritaner Vergeltung (™kdikßaò) suchten, die den Vertretern der galiläischen Juden aufgrund der Bestechung des Statthalters Cumanus durch die Samaritaner zuvor ver_

146

Vgl. oben Fall (14) in Abschnitt V. 1. d), unten Fall (22) in Abschnitt V. 3. Joseph., BJ 2,239–244; AJ 20,125–133. 148 Vgl. zu diesem syrischen Statthalter (51–60 n. Chr.) Da˛browa (1998), S. 49– 53. Michel/ Bauernfeind in der BJ-Ausg., A. 134, S. 443, gehen dagegen davon aus, daß Ummidius Quadratus nur kurze Zeit im Jahr 50 n. Chr. Statthalter von Syrien war. 149 Vgl. Joseph., AJ 20,125; BJ 2,239. 150 Joseph., AJ 20,126: ò Õti ¢Rwmaßwn kata—ronÞseian, ™—' oãò kritJò _ _ paragenÝsqai, í nun ò ožk ™xüntwn †gemü™xr hn ažtoÏò eèper šdßkoun _ _ . naò ¢Rwmaßouò katadrame in Ókein ožn ™p' ažtÎn ™kdikßaò teucümenoi. 147

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

weigert worden war.151 Im übrigen handelt es sich um genau die entgegengesetzte Argumentation wie in dem oben für Pilatus geschilderten Fall, dessen Maßnahme gegen die Samaritaner von den Klägern gerade nicht mit einer Maßnahme Roms identifiziert wurde. Die jüdische Gegenpartei verteidigte sich jedenfalls mit dem Argument, daß die Samaritaner die eigentlichen Urheber des Aufstandes gewesen seien, „vor allem aber [der judäische Statthalter] Cumanus, der mit Geschenken von ihnen [den Samaritanern] verführt worden sei und den Mord an den Getöteten schweigend übergangen habe.“152 Während also die Samaritaner die Juden beschuldigten, die Amtsgewalt des judäischen Statthalters mißachtet zu haben, rechtfertigten sich die jüdischen Vertreter mit dem Vorwurf der Bestechlichkeit bzw. parteiischen Untätigkeit des Statthalters in Judäa, der es unterlassen habe, den eigentlichen Anlaß des Aufstandes zu bestrafen.153 In Josephus’ Schilderung bündeln sich demnach drei verschiedene Anklagepunkte: die Mordanklage der Juden gegen die Samaritaner, die Klage der Juden gegen den judäischen Statthalter wegen unterlassener Ausübung seiner Strafgewalt und schließlich die Klage der Samaritaner gegen die Juden wegen Mißachtung der Autorität des judäischen Statthalters. Dadurch entsteht der Eindruck, daß die Frage nach der Verursachung des Konflikts zwischen Juden und Samaritanern über die Frage der effektiven Ausübung der Strafgewalt des judäischen Statthalters ausgetragen wurde. Der syrische Statthalter Quadratus vertagte unter diesen Umständen sein Urteil und vertröstete die streitenden Parteien darauf, den Fall genauer untersuchen zu wollen, wenn er den samaritanischen Teil der Provinz Judäa bereise.154 Das nun Folgende ist von besonderer Bedeutung für die Frage, wie weit die Interventionsbefugnisse des syrischen Statthalters in der Provinz Judäa reichten. Konnte Ummidius Quadratus dort einfach Strafurteile fällen, obwohl diese eindeutig in den Kompetenzbereich des Cumanus fielen? Josephus’ Schilderung für das weitere Vorgehen des syrischen Statthalters weichen in den ,Altertümern‘ und im ,Jüdischen Krieg‘ erheblich voneinander ab, so daß wir in diesem Fall die jeweils einschlägigen Passagen zunächst getrennt darstellen müssen, um sie dann vergleichend zu erörtern.

151

Vgl. AJ 20,119 bzw. oben Fall (14). _ Joseph., AJ 20,127: prÎ pÜntwn dÊ KoumanÎn dþroiò p' ažtwn —qa_ rÝnta kaÍ parasiwpÞsanta tÎn twn ˜nÂhrhmÝnwn —ünon. In Joseph., BJ 2,240, heißt es nur, daß Cumanus für den weiteren Verlauf der Unruhen verantwortlich sei, weil er es „unterlassen habe, die Mörder zu bestrafen“; von Bestechung ist hier nicht die Rede. 153 Vgl. dazu die m. E. wenig plausible Analyse dieses Falls bei Bammel (1974), S. 40–42. 154 Vgl. Joseph., AJ 20,129; BJ 2,241. 152

2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter

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Im ,Jüdischen Krieg‘ heißt es lediglich, daß Quadratus, als er nach Judäa gekommen sei, „alle kreuzigen ließ, die von Cumanus lebend gefangengenommen worden waren“.155 In den ,Altertümern‘ steht, daß der syrische Statthalter nach Samaria – also nicht nach Cäsarea – gekommen sei, wo er nach dem Verhör zu dem Urteil gelangte, daß die Samaritaner am Aufruhr schuld gewesen seien. Danach habe er alle Samaritaner und Juden kreuzigen lassen, von denen er vernahm, daß sie am Aufruhr beteiligt und von Cumanus gefangengenommen worden waren.156 Die Schuldzuweisung des Quadratus für den Ausbruch des Aufruhrs an die Samaritaner konnte sich nur auf den Mord beziehen. Um so erstaunlicher ist, daß der syrische Statthalter sowohl Juden als auch Samaritaner kreuzigen ließ. Josephus gibt aber auch den Grund hierfür an, nämlich die Beteiligung an der Rebellion. Der Mord als Ausgangspunkt für die Unruhen tritt in den Strafurteilen ganz zurück, und Quadratus scheint hier nur noch die Teilnahme an der Rebellion zu interessieren.157 Beide Josephusschriften geben an, daß der syrische Statthalter daraufhin nach Lydda reiste. Im ,Jüdischen Krieg‘ wird berichtet, daß er nach einem erneuten Verhör der Samaritaner „achtzehn Juden, über die er erfahren hatte, daß sie am Kampf teilgenommen hatten, mit dem Beil hinrichten ließ“.158 In den ,Altertümern‘ heißt es, daß er sich in Lydda auf den „Richtstuhl gesetzt und die Samaritaner zum zweiten Mal verhört“ habe. Einer von diesen habe ihn „belehrt, daß von den Juden ein Vornehmer namens Doëtos und einige Umstürzler mit ihm, vier an der Zahl, die Volksmenge zum Abfall von den Römern überredet“ hätten, woraufhin Quadratus die Denunzierten hinrichten ließ.159 Die unterschiedliche Zahl der Verurteil_

155 Joseph., BJ 2,241: toÏò pÎ Koumanou zwgrhqÝntaò ˜nestaýrwsen pÜntaò. Michel/Bauernefeind übersetzen, daß er „alle von Cumanus gefangenen Juden kreuzigen“ ließ. Die Stelle erwähnt aber nur Gefangene ohne die Einschränkung, es habe sich um Juden gehandelt. Folglich ist es möglich, daß auch Samaritaner darunter waren, wie es die Parallelstelle in AJ schildert. 156 Joseph., AJ 20,129: SamarÝwn dÊ kaÍ \Ioudaßwn oÖstinaò newterßsantaò æmaqen ˜nestaýrwsen oãò KoumanÎò ælaben aœxmalþtouò. 157 Vergleicht man diese Passage mit der Klage der Samaritaner beim syrischen Statthalter gegen Pilatus im Fall (16), so wird abermals deutlich, daß ihr Argument der Selbstverteidigung gegen die bewaffnete Gewalt eher ein „Eigentor“ dargestellt haben müßte und kaum der eigentliche Grund (höchstens der Anlaß) für die Absetzung des Pilatus gewesen sein kann. _ 158 Joseph., BJ 2,242: kaÍ metapemyÜmenoò ktwkaßdeka twn \Ioudaßwn, oãò _ ™pÝpusto metesxhkÝnai t hò mÜxhò, pelÝkei diexeirßsato. _ 159 Joseph., AJ 20,130 f.: kaqßsaò ™pÍ bÞmatoò k˜k deutÝrou twn SamarÝwn _ _ diakoýsaò didÜsketai parÜ tinoò_ SamarÝwò, Õti twn \Ioudaßwn tiò prwtoò énoma Dühtoò kaß tineò sÏn ažtÃw newteristaÍ tÝssareò tÎn ˜riqmÎn _peß_ seian _tÎn éxlon ™pÍ t Âh ¢Rwmaßwn ˜postÜsei. k˜keßnouò mÊn ‡ Kouadr atoò ˜nele in prosÝtacen.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

ten braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Sicherlich handelte es sich aber um Angehörige aus der Oberschicht, da Josephus erwähnt, daß sie nicht gekreuzigt, sondern enthauptet wurden und eine namentlich hervorgehobene Person als Vornehmer bezeichnet wird. Erstaunlich ist, daß Quadratus in Lydda nur Samaritaner verhört haben soll. Damit bot er nur ihnen die Möglichkeit, Juden zu denunzieren, so daß folglich auch nur von der Hinrichtung von Juden die Rede ist. Der syrische Statthalter faßte aber in Lydda noch weitere Beschlüsse. So geht aus beiden Josephusschriften hervor, daß Quadratus sowohl die Bedeutendsten/Vornehmsten der Samaritaner als auch der Juden – darunter die Hohepriester Jonathan und Ananias und dessen Sohn, den Tempelhauptmann Ananos – an das Kaisergericht überwies. Auch den judäischen Statthalter Cumanus sowie den Präfekten Celer160 habe er zum Kaiser gesandt.161 Auffällig ist an Josephus’ Bericht, daß die offiziellen Vertreter beider Volksgruppen und die bis dahin auftretenden Autoritäten nach ihrer Initiative den Einfluß auf den weiteren Fortgang der Handlung verlieren. Sogar der judäische Statthalter Cumanus sinkt zu einem Objekt der Maßnahmen des syrischen Statthalters herab. Man könnte den Eindruck gewinnen, als habe Quadratus in der Provinz Judäa wie selbstverständlich die in den römischen Provinzen übliche Reisegerichtsbarkeit betrieben und in Cäsarea bzw. Samaria und in Lydda einen conventus abgehalten, bei dem er sich die Klagen der Provinzialen anhörte und Urteile fällte.162 Die Art der Schilderung des Josephus legt die Vermutung nahe, daß es sich eher um einen Sonderfall zur Untersuchung des jüdisch-samaritanischen Konfliktes mit den einhergehenden Unruhen gehandelt hat. Der syrische Statthalter könnte zur Vorbeugung einer weiteren Eskalation des Konfliktes dabei übergeordnete politische Gesichtspunkte im Blick gehabt haben, besonders wenn herausragende Autoritäten der Provinzialbevölkerung und der judäische Statthalter selbst darin involviert waren. Eventuell könnte der syrische Statthalter hierfür einen Spezialauftrag vom Kaiser erhalten haben, um in der Provinz Judäa für Ordnung zu sorgen. Die Urteile gegen Mitglieder der jüdischen Oberschicht bergen eine gewisse Widersprüchlichkeit in sich, wenn man bedenkt, daß sie – besonders die Vornehmsten aus Jerusalem – zur Zeit der Unruhen von Josephus als das mäßigende Element beschrieben wurden, die letztlich sogar dazu beitrugen, die Lage zu beruhigen. Möglicherweise gab es aber nicht nur „Tau160

Wahrscheinlich ein Kohorten- bzw. Alanenpräfekt. Vgl. Joseph., BJ 2,243–244; AJ 20,131–132. 162 Vgl. zur Reisetätigkeit des Statthalters und seiner Rechtsprechung an verschiedenen Gerichtsorten (iuridici conventus, iurisdictiones) Karlowa (1885), Bd. 1, S. 571; Mommsen (1955), S. 234–36; Kunkel (1995), 358–366, Burton (1975). 161

2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter

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ben“, sondern auch „Falken“ unter der jüdischen Provinzialelite. Aus den unterschiedlichen Strafmaßen geht deutlich die Berücksichtigung des jeweiligen sozialen Status’ der Verurteilten hervor: Gewöhnliche Provinziale werden gekreuzigt, vornehmere Mitglieder enthauptet und die wichtigsten Vertreter aus der Oberschicht ebenso wie die römischen Amtsträger Cumanus und Celer nach Rom geschickt, um vom Kaiser gerichtet zu werden. Aus welchem Grund die Mitglieder aus der hohepriesterlichen Familie und die ebenfalls erwähnten samaritanischen Großen nach Rom geschickt wurden, ist nicht eindeutig erkennbar. Dies muß aber nicht heißen, daß sie persönlich eine Rolle während des Aufruhrs gespielt haben, denn möglicherweise wurden sie schlicht als Prozeßvertreter ihrer Volksgruppen für das Kaisergericht ausgesucht, um dort den Hergang der Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern und dabei über die Rolle des Statthalters Cumanus zu berichten. Im Unterschied zu Pilatus lassen sich für Cumanus leichter Vermutungen über die Beschuldigungen anstellen. Die erwähnte Bestechung könnte ein Hinweis auf einen folgenden Repetundenprozeß in Rom sein,163 der dazu gedient haben könnte, einen Statthalter abzusetzen, der sich unfähig gezeigt hatte, die Ordnung in seiner Provinz aufrecht zu erhalten. Eine wesentliche Tatsache bleibt, falls man der Chronologie der Ereignisse bei Josephus Glauben schenkt, daß der syrische Statthalter in Cäsarea bzw. Samaria schon Strafurteile fällte, bevor der judäische Statthalter in Lydda nach Rom geschickt wurde. Daraus kann man folgern, daß es für den syrischen Statthalter möglich war, auch in der Provinz seine Strafgewalt auszuüben, die eigentlich dem judäischen Statthalter unterstand. Dies bedeutet, daß der syrische Statthalter in bezug auf Judäa in Krisenzeiten nicht nur eine militärische Mitverantwortung trug, sondern auch – zumindest in politisch brisanten Fällen, die zu einem Krieg zwischen Bevölkerungsgruppen eskalieren konnten – eine Art Oberaufsicht in bezug auf die Strafgewalt ausübte. Beides fällt wie selbstverständlich zusammen. Deshalb kann im Verhältnis zwischen den beiden Provinzen Judäa und Syrien von keiner strikten territorialen und verwaltungsrechtlichen Abgrenzung zweier zentraler statthalterlicher Zuständigkeitsbereiche ausgegangen werden. Damit wäre durchaus verständlich, warum Judäa als ein „Anhängsel“ Syriens betrachtet wurde.164 Was bedeutet dies für den judäischen Statthalter? Sicherlich hat sich der syrische Statthalter nicht regelmäßig und in gewöhnlichen Fällen in die Strafgerichtsbarkeit der benachbarten Provinz eingemischt. Wie auch seine 163

Der Vorwurf der repetundae deckt auch die malae administratae provinciae. Eine Aufzählung von Straftatbeständen findet sich in Madvig (1882), Bd. 2, 274– 282. Vgl. die wichtige Analyse von Brunt (1961). 164 Vgl. dazu oben den Abschnitt IV. 3. c).

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

militärische Unterstützung in Judäa nur gefragt war, wenn es der Legionsstärke bedurfte und die Auxiliartruppen des judäischen Statthalters nicht ausreichten, machte der syrische Statthalter höchstwahrscheinlich auch nur in Ausnahmefällen mit größeren politischen Implikationen von seiner Strafgewalt in Judäa Gebrauch. Auch darin zeigt sich eine Art Gesamtverantwortung des syrischen Statthalters für den palästinensischen Raum: zum einen konnte die verbitterte Feindschaft zwischen Samaritanern und Juden leicht zu einem Konflikt eskalieren, der die Kräfte des judäischen Statthalters überstieg; zum anderen scheint der judäische Statthalter Cumanus an der drohenden Eskalation nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein, wie aus dem Bestechlichkeitsvorwurf hervorgeht. Beides zusammen machte es notwendig, daß eine übergeordnete Gewalt die Sache in die Hand nahm. Im Unterschied zu anderen Provinzen bot sich die Autorität des syrischen Statthalters aus herrschaftspragmatischer Sicht für solche Aufgaben geradezu an. Angesichts der gespannten Verhältnisse in Judäa war es für den judäischen Statthalter nur schwer voraussehbar, ob aus einem Einzelverbrechen nicht eine Art Bürgerkrieg zwischen verfeindeten Gruppen oder ein Volksaufstand erwachsen würde. Wenn für die judäischen Provinzialen die Möglichkeit bestand, sich an den syrischen Statthalter zu wenden und sich dort über ihren Statthalter zu beschweren, wenn ferner der syrische Statthalter dies zum Anlaß nehmen konnte, in der benachbarten Provinz über den Kopf des judäischen Statthalters hinweg seine Strafgewalt auszuüben und er sogar dazu berechtigt war, den judäischen Statthalter vor das Gericht des Kaisers zu bringen, so bedeutete dies für den judäischen Statthalter letztendlich, daß er bei all seinen Entscheidungen165 – vor allem aber in Ausübung seiner Strafgewalt in politisch brisanten Fällen – die mögliche Reaktion des syrischen Statthalters berücksichtigen mußte. Reichte eine Klage der Provinzialen aus Judäa beim syrischen Statthalter aus, damit dieser in die Verhältnisse der benachbarten Provinz eingriff? Unter dieser Voraussetzung könnte beinahe von einer Art Instanzenzug gesprochen werden. Möglicherweise barg eine Klage der Provinzialen beim syrischen Statthalter aber auch Risiken in sich, so daß sie davon absahen. Ebenso könnte es Gründe für den syrischen Statthalter gegeben haben, es trotz einer Klage zu unterlassen, gegen den Statthalter in Judäa vorzugehen. Darüber erfahren wir mehr aus Josephus’ Bericht über die letzte Statthalterschaft in Judäa vor Ausbruch des Jüdischen Krieges. 165 Haben wir die Interventionsbefugnisse des syrischen Statthalters in Judäa bisher nur auf der Ebene der Gerichtsbarkeit und des Militärischen betrachtet, so deuten die Absetzungen von Hohepriester und die Rückgabe der Prachtgewänder sowie die Steuerbefreiung in Joseph., AJ 18,90 auf eine noch viel weitgehendere Interventionsbefugnis hin.

2. Provinziale, judäischer und syrischer Statthalter

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(18) Dort heißt es,166 daß „solange nun Cestius Gallus167 als Statthalter der Provinz in Syrien blieb, (. . .) keiner den Mut [hatte], sich bei ihm mit einer Gesandtschaft über Florus zu beklagen“.168 Als dieser dann aber zum Passahfest nach Jerusalem kam, umringte ihn eine riesige Menschenmasse169 und flehte ihn an, „er möge doch Erbarmen haben mit dem Unglück des Volkes“; gleichzeitig brachen sie „in Klagerufe über Florus, den Verderber des Landes, aus“.170 Florus, der selbst anwesend war und neben Cestius stand, erwiderte diese Klagen nur mit Spott. Cestius hingegen versuchte, die Menge mit dem Versprechen zu beschwichtigen, „er werde dafür sorgen, daß sich Florus in Zukunft gemäßigter (metriþteron) zu ihnen verhalte,“ woraufhin er nach Antiochia zurückkehrte.171 Dabei begleitete Florus den syrischen Statthalter noch bis Cäsarea und nutzte die Gelegenheit, den Cestius über die wahre Lage hinwegzutäuschen. Josephus berichtet, daß Florus seit dieser Zeit „den Krieg gegen das jüdische Volk“ ins Auge gefaßt hätte, „durch den allein er seine eigenen Verbrechen zu verschleiern hoffte“, zumal er damit rechnen mußte, „die Juden würden, falls der Frieden andauerte, eines Tages als seine Ankläger vor dem Kaiser stehen; brächte er sie jedoch zum Abfall, so konnte er erwarten, durch das größere Unheil den Arm der Gerechtigkeit von der Verfolgung der kleineren Mißstände abzuziehen“.172 166 Die hier geschilderten Vorkommnisse aus Joseph., BJ 2,280–283 gehen in Josephus’ Bericht den in Abschnitt V. 1. e) geschilderten Fällen (15) und (16) unmittelbar voraus. 167 Nach Tac., Ann. 15,25 übernahm C. Cestius Gallus im Jahre 63 n. Chr. die Verwaltung Syriens, während die militärische Befehlsgewalt vorläufig noch dem Cn. Domitius Corbulo (syrischer Statthalter 60–63 n. Chr.) vorbehalten war. Nach dem Friedensschluß mit Tiridates erhielt Cestius Gallus auch die militärische Befehlsgewalt. Kurz vor dem Passah 66 n. Chr. kam Cestius erstmals nach Jerusalem, vgl. Joseph., BJ 6,420–427. Cestius starb 67 n. Chr., vgl. Tac., Hist. 5,10. Vgl. Da˛browa (1998), S. 53–56 zu Domitius Corbulo, ebd. S. 56 f. zu Cestius Gallus. _ _ 168 Joseph., BJ 2,280: MÝxri mÊn ožn ™n SurßÁa KÝstioò GÜlloò šn diÝpwn _ tÌn ™parxßan, oždÊ presbeýsasqaß tiò prÎò ažtÎn ™tülmhsen katJ tou Flþrou. 169 Josephus’ Angabe von drei Millionen ist unglaubwürdig, auch wenn der Herausgeber und Übersetzer H. Clementz einer älteren deutschen Ausgabe der „Geschichte des Jüdischen Krieges“ diese „ungeheure Zahl“ für nicht übertrieben hält, wenn man bedenke, daß nach der jüdischen Gesetzesvorschrift (vgl. Ex 23,17; 34,23; bes. Deut 16,16) jeder männliche Israelit vom 13. Lebensjahr an alljährlich zu den drei Hauptfesten „vor dem Herrn erscheinen“, also auch nach Jerusalem pilgern mußte, vgl. ebd. A. 1, S. 236. _ _ 170 Joseph., BJ 2,280: kÝteuon ™le hsai tJò tou æqnouò sum—orJò kaÍ tÎn _ _ _ lumewna t hò xþraò Flwron ™kekrÜgesan. 171 Vgl. Joseph., BJ 2,281. _ 172 Joseph., BJ 2,282 f.: proÝpempe dÊ ažtÎn mÝxri Kaisareßaò Flwroò ™ca_ _ _ Á münÃw sugkrýyein tJò patwn kaÍ pülemon çdh tÃw æqnei skopoýmenoò, 

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Zunächst schildert Josephus also die Furcht der Provinzialen, eine Gesandtschaft zum syrischen Statthalter zu schicken, um dort Florus zu verklagen. Warum? Diese Furcht wäre nur begründet, wenn sie davon ausgehen mußten, daß der syrische Statthalter ihre Klage abweisen und nichts unternehmen würde. Der judäische Statthalter hätte davon aber gewiß erfahren und sich in irgendeiner Weise revanchiert. Darauf lief es hinaus, als Cestius kurz vor dem Passahfest in Jerusalem erschien. Anders als sein Vorgänger Vitellius reagierte der syrische Statthalter Cestius zögerlich auf die Klagen der Provinzialen, obwohl der Druck der Juden hier sehr viel größer war. Cestius wollte nur beschwichtigen, zog aber keineswegs die Möglichkeit in Erwägung, Florus beim Kaiser wegen Amtsmißbrauch zu verklagen. Die Anwesenheit des Florus während der vorgebrachten Klagen mußte den syrischen Statthalter in eine peinliche Situation gebracht haben. Das selbstbewußte Auftreten des Florus könnte es Cestius noch zusätzlich schwerer gemacht haben, konkrete Schritte gegen ihn einzuleiten. Dabei ist freilich zu bedenken, daß Florus über seine Frau gute Beziehungen zum kaiserlichen Hof hatte.173 Es war demnach je nach den persönlichen Beziehungen zum Kaiser auch für den syrischen Statthalter nicht ganz ohne Risiko, etwas gegen den Statthalter in Judäa zu unternehmen. Florus’ größte Sorge bleibt jedoch, daß die Juden ihn mittels einer Gesandtschaft beim Kaiser verklagen könnten, und Josephus steigert Florus’ diesbezügliches Kalkül bis zu dem Punkt, einen Krieg riskieren zu wollen, um die eigenen Verbrechen zu kaschieren. Auch wenn dies übertrieben scheint, liegt der Gedanke nicht allzu fern, nach Rechtfertigungsgründen für das harte und brutale Regiment zu suchen. Nichts war hierfür geeigneter, als den aufrührerischen Charakter der Juden gegen die römische Herrschaft herauszustellen, auch wenn die Regierungsweise des Statthalters hierfür wiederum selbst der Grund war. Die Paradoxität einer solchen „Gewaltspirale“ tritt hier klar zutage. a) Zwischenbetrachtung Was das Verhältnis der Strafgewalt der beiden Statthalter betrifft, so haben die Beispiele des Cumanus und des Pilatus gezeigt, daß der syrische Statthalter nicht nur die diesbezügliche Amtsgewalt des judäischen Statthalters an sich ziehen konnte, sondern auch so etwas wie eine „unvollständige Gerichtsbarkeit“ über den judäischen Statthalter selbst ausüben konnte: Wurde dieser bei ihm verklagt, war er befugt, den Anschuldigungen nachŠautou paranomßaò pelÜmbanen . eœrÞnhò mÊn gJr ojshò kathgürouò Òcein ™pÍ _ Kaßsaroò \Ioudaßouò prosedüka, pragmateusÜmenoò dÊ ˜püstasin _ _ _ ažtwn tÃw meßzoni kakÃw perispÜsein tÎn ælegxon ˜pÎ twn metriwtÝrwn. 173 So verdankte er seine Stellung der Freundschaft seiner Frau Cleopatra mit der Kaisergattin Poppaea Sabina, vgl. Joseph., AJ 20,252. _

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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zugehen. Ergab die Untersuchung, daß die Anschuldigungen berechtigt waren, konnte er den judäischen Statthalter zwar nicht selbst verurteilen, aber bewirken, daß dieser sich vor dem Kaisergericht verantworten mußte. Somit wird deutlich, wie die Amtsgewalt des syrischen Statthalters auch die Funktion einer intermediären Kontrollinstanz über den judäischen Statthalter hatte, bevor sein Fall dann an das Kaisergericht in Rom ging. Die Klagemöglichkeit beim syrischen Statthalter barg aber auch gewisse Risiken sowohl für die klagenden Provinzialen als auch für den syrischen Statthalter in sich und gestaltete sich somit für beide Seiten keineswegs unproblematisch. Josephus vermittelt nicht das Bild eines institutionalisierten Instanzenzuges, sondern von einem Interaktionsfeld, welches von der jeweiligen konkreten Situation und den persönlichen Beziehungen der Statthalter untereinander sowie nach Rom bestimmt wurde. Folglich hing auch die Ausübung der Strafgewalt des Statthalters in Judäa viel eher von persönlichkeits- und situationsgebundenen Faktoren im Rahmen der Herrschaftspraxis ab, als von der Berücksichtigung irgendwelcher rechtlich fixierter und übergeordneter Verwaltungsgrundsätze. Dies wird noch deutlicher, wenn wir in die Beziehungskonstellationen schließlich noch die Ebene des Kaisers mit berücksichtigen. 3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom Bisher wurden die von Josephus geschilderten Fälle auf der Ebene der Strafgewalt des judäischen Statthalters und einer diesbezüglichen Interventionsmöglichkeit des syrischen Statthalters dargestellt. Dabei wurde schon deutlich, daß einige Fälle schließlich in die „dritte Runde“ vor das Kaisergericht in Rom gingen. Uns interessiert besonders die Frage, ob Josephus Hinweise gibt, nach welchen Kriterien der Kaiser seine Urteile fällte und inwiefern der judäische Statthalter bei Ausübung seiner Strafgewalt neben der des syrischen Statthalters auch die Position des Kaisers berücksichtigen mußte. Dabei stellt sich auch das Problem, auf welche Art und Weise und unter welchen Voraussetzungen die Provinzialen die Möglichkeit besaßen, sich direkt, d. h. ohne vorheriges Einverständnis des Statthalters, an den Kaiser zu wenden. Von daher scheint ein kurzer Exkurs zu den Kommunikationswegen zwischen Kaiser, Statthalter und Provinzialen angebracht, bevor wir wieder auf die bei Josephus geschilderten Fälle zurückkommen. a) Exkurs: Kommunikationswege (Kaiser, Statthalter, Provinziale) P. Garnsey weist auf die Möglichkeit der Provinzialen hin, eine Petition an den Kaiser zu senden.174 In den meisten Fällen eines solchen libellus habe der Kaiser geantwortet: eum qui provinciae regunt praeest adire

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

potes. Manchmal sei ein Statthalter aber auch froh gewesen, einen Fall los werden zu können. War einem Kläger der direkte Zugang zum Kaiser auch nicht völlig verschlossen, so hatte der Statthalter immerhin die Möglichkeit, dem libellus ein Begleitschreiben (litterae) beizulegen, indem er seine Gegenposition vertreten konnte. Auch für die Fälle der Überstellung eines Gefangenen nach Rom sei der Statthalter verantwortlich gewesen: „There is no sign that any governor was ever persuaded by an ordinary provincial plaintiff to send a case out of his jurisdiction to a higher tribunal“.175 Zudem gibt Garnsey zu bedenken, daß die Reise- und Prozeßkosten bei einem Verfahren in Rom für durchschnittliche Provinzialen kaum zu tragen gewesen seien. Ein Fall mußte schon von großer Bedeutung sein, um vor dem Kaiser verhandelt zu werden. P. A. Brunt hingegen meint, daß zweifellos Privatbriefe römischer Bürger aus den Provinzen nach Rom über dortige Vorfälle berichten konnten.176 Auch seien Einzelpersonen aus den Provinzen öfters nach Rom gereist, die Freunde und Patrone in der römischen Oberschicht hatten. Briefe und Gesandtschaften, die über private Kanäle übermittelt wurden, hätten aber sicherlich nicht das gleiche Gewicht gehabt wie offizielle Petitionen und Klagen, d. h. solche mit Einverständnis der lokalen Autoritäten. Sämtliche Beispiele aus den Quellen, die Brunt anführt, deuten darauf, daß Beschwerden von Städten kaum ohne Mitwissen des Statthalters nach Rom gelangen konnten. War dies jedoch der Fall, so mußten sie damit rechnen, daß der Kaiser die Angelegenheit an die betroffenen Amtsträger in der Provinz zurückverwies. Einzelbeschwerden hatten es schwer, überhaupt bis an den kaiserlichen Hof vorzudringen; außerdem bargen sie ein gewisses Risiko falls der Statthalter in der Gunst des Kaisers stand. F. Millar stellt fest, daß die Korrespondenz zwischen Kaiser und Statthaltern zumeist von letzteren ausging.177 Es kam also weniger zu einer direkten Klage der Provinzialen beim Kaiser, der dann dem Statthalter etwas anordnete, als daß es der Statthalter selbst war, der zur Entscheidung eines Falles eine Anfrage an den Kaiser stellte. W. Eck kritisiert Millars Sichtweise des libellus-Verfahrens als eine Art passive Benachrichtigung seitens eines reaktiven Zentrums.178 Als Beispiel dafür, daß Rom auch aktiv anordnete, bringt er u. a. das Edikt von Kaiser Claudius 42 n. Chr., mit dem er allen im Reich lebenden Juden dieselben Rechte zuerkannt habe, wie er sie bereits vorher den alexandrischen Juden bestätigt hatte.179 Liest man jedoch 174 175 176 177 178

Vgl. Garnsey (1970), S. 67–74. Garnsey (1970), S. 72. Vgl. Brunt (1961), S. 207 ff. Vgl. Millar (1966), S. 158. Vgl. Eck (1995), S. 56 ff.

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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den bei Josephus zitierten Briefinhalt, so geht daraus eindeutig hervor, daß dieses Edikt auf die Initiative der Könige Agrippa und Herodes zurückging.180 Deshalb scheint mir die These vom römischen Kaiserhof als vorwiegend reagierendes Zentrum keineswegs widerlegt. b) Das Kaisergericht in der Schilderung des Josephus (19) Bei Josephus ist in der Frage um das Aufbewahrungs- und Verfügungsrecht über das Prachtgewand des Hohepriesters von einer Gesandtschaft an den Kaiser die Rede, der hierüber entscheiden sollte. So hatte sich einst der syrische Statthalter Vitellius bei den Juden beliebt gemacht, als er ihnen gestattete, über die priesterlichen Prachtgewänder (stolÌn tou ˜rxierÝwò) frei nach der Vorväter Sitte zu verfügen. Diese waren zuvor unter römischer Aufsicht auf der Burg Antonia aufbewahrt und den Hohepriestern nur an den drei höchsten jüdischen Festtagen ausgehändigt wurden.181 Ungefähr ein Jahrzehnt später bat dann der judäische Statthalter Fadus auf kaiserlichen Befehl die Priester und Vornehmen von Jerusalem (˜rxiere iò kaÍ toÏò prþtouò) zu sich und forderte sie auf, die heiligen Gewandstücke (erJn stolÌn) wieder auf die Burg Antonia zu bringen, damit sie wie früher der Obhut der Römer unterständen.182 Die Versammelten, die nicht wagten, der Anordnung zu widersprechen, baten daraufhin Fadus und den ebenfalls anwesenden syrischen Statthalter Longinus, in dieser Angelegenheit eine Gesandtschaft zum Kaiser schicken zu dürfen und sich so lange zu gedulden, bis sie von Claudius Antwort erhalten hätten.183 _

_

179

W. Eck gibt Joseph., AJ 19,291 als Beleg an. _ Joseph., AJ 19,288: aœthsamÝnwn me basilÝwò \Agrßppa kaÍ ¢Hrþdou twn —iltÜtwn moi, Õpwò sugxwrÞsaimi tJ ažtJ dßkaia usw. 181 Zur Geschichte des Umgangs mit den priesterlichen Prachtgewändern vgl. Joseph., AJ 18,90–95 in Verbindung mit AJ 15,403–408. Josephus berichtet von Vitellius’ erstem Besuch 36 n. Chr. in Jerusalem (AJ 15,405), wo er das priesterliche Ornat nach einem Schreiben an Tiberius, der der Bitte der Juden nachgekommen sei, an diese ausgehändigt habe. Das Passahfest ist hier nicht erwähnt. Joseph., AJ 18,123 berichtet von einem zweiten Besuch während des Passahfestes 37 n. Chr. Die Rückgabe der Prachtgewänder ging einher mit einer Steuerbefreiung Jerusalems (AJ 18,90), evtl. jene, die schon Archelaos zu Beginn seiner Regierungszeit gefordert hatte, (AJ 17,205); sie betraf die die Abgabe auf öffentlich gekaufte und verkaufte Waren. Zur Bedeutung des priesterlichen Ornats, vgl. Jeremias (1962), S. 168 f. 182 Joseph., AJ 20,6; vgl. dazu BJ 2,220, wo der Statthalter Cuspius Fadus als jemand gepriesen wird, der sich nicht in die jüdischen Sitten eingemischt und deshalb Frieden bewahrt hätte. Die Aufforderung, die priesterlichen Prachtgewänder wieder auf der Burg Antonia aufzubewahren, stellt eine solche Einmischung dar, jedoch geht deutlich aus dem Bericht hervor, daß der judäische Statthalter dies im Auftrag des Kaisers tat. 180

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Sowohl der judäische als auch der syrische Statthalter hatten gegen diesen Vorschlag keine Einwände, da besonders letzterer einen Aufruhr des Volkes befürchtete, wenn man diesem Verlangen nicht nachkäme.184 Sie stellten aber die Bedingung, daß die Gesandten ihre Kinder als Geiseln stellen müßten.185 Als dann die Gesandtschaft in Rom eintraf, setzte sich besonders der jüngere Agrippa, der damals am Hof des Kaisers lebte, bei Claudius dafür ein, den Wunsch der Juden zu erfüllen und Fadus mit entsprechender Weisung zu versehen. Daraufhin ließ Claudius die Gesandten zu sich kommen und erklärte ihnen, daß er dem Gesuch stattgeben würde; zu danken hätten sie dies aber nur Agrippa, auf dessen Verwendung er so handele.186 Was hier mit ,Weisung‘ übersetzt wurde, heißt im Text schlicht Brief (epistolai). Wahrscheinlich handelte es sich um ein rescriptum des Kaisers, das normalerweise ein Rückschreiben auf Nachfrage des Statthalters darstellte.187 Interessant ist an dem oben geschilderten Fall zunächst die Tatsache, daß der syrische und der judäische Statthalter zusammen eine Entscheidung treffen. Dadurch entsteht der Eindruck, die Entscheidung werde hier gemeinschaftlich ausgeübt, falls sich der syrische Statthalter gerade in Jerusalem aufhielt. Ob aber der syrische Statthalter das letzte Wort hatte und der judäische Statthalter nur eine beratende Funktion ausübte oder der syrische Statthalter nur die erforderliche Rückendeckung bot, falls die Anordnung des judäischen Statthalters auf größeren Widerstand stoßen würde, oder ob beide hier in Form einer asymmetrischen Kollegialität eine Entscheidung fällten, geht aus Josephus’ Bericht nicht hervor. Wir hören aber davon, daß es der judäische Statthalter war, der das Rückschreiben des Kaisers erhielt. Somit kann davon ausgegangen werden, daß Fadus hier den eigentlichen Entscheidungsträger verkörperte. An anderer Stelle berichtet Josephus hingegen, daß der Kaiser mittelbar über Agrippa den syrischen Statthalter Vi_

_

183 Joseph., AJ 20,7: prwton mÊn ažto iò ™pitrÝyai prÝsbeiò ò Kaßsara _ _ stolÌn pÎ tÌn ažtwn pÝmyai toÏò aœthsomÝnouò par' ažtou tÌn erJn _ _ _ _ ™cousßan æxein, e œta dÊ perime inai mÝxriò ën gnwsin, tß prÎò tauta Klaýdioò ˜pokrßnaito. 184 Joseph., AJ 20,8; AJ 20,7 berichtet, daß der syrische Statthalter Longinus wohl vorsorglich mit einem großen Truppenkontingent nach Jerusalem gekommen war, weil er befürchtete, daß Fadus’ Entscheidung die Rebellion der Juden hervorrufen würde. 185 Vgl. Joseph., AJ 20,8: o dÊ ™pitrÝyein ažto_iò æ—asan ˜poste_ilai toÏò _ prÝsbeiò, eœ lÜboien toÏò pa idaò ‡mhreýsontaò. 186 Joseph., AJ 20,10. Josephus zitiert den Briefinhalt in AJ 20,11–14. Dieser enthält die Achtung und den Schutz der religiösen Sitten der Völker, den Einfluß Agrippas auf seine Entscheidung, die Freundschaft und Hochachtung gegenüber Herodes, König von Chalkis, und dessen Sohn Aristobulos dem Jüngeren sowie die Information, daß der Prokurator Cuspius Fadus bereits ebenfalls durch ein Schreiben informiert worden sei. 187 Vgl. Sherwin-White (1963), S. 2.

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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tellius damit beauftrage, den Juden die Kontrolle über die priesterlichen Prachtgewänder zu garantieren. 188 Wahrscheinlich stellte die Anwesenheit des syrischen Statthalters hier eine Art Garantie zur Ausführung des Kaiserbefehls dar, dessen Anordnung und Ausführung aber dem judäischen Statthalter vorbehalten war. Am Schluß von Josephus’ Schilderung erfährt man, was den eigentlichen Ausschlag für das revidierte kaiserliche Urteil gegeben hat. Es war nämlich nicht die jüdische Gesandtschaft aus der Provinz selbst, die eine Änderung der Anordnung des Kaisers Claudius erwirkte, sondern die Einflußnahme des am kaiserlichen Hof lebenden und in der Gunst des Kaisers stehenden Agrippa. Wie wichtig es für die Gesandten der Provinz bei der Vertretung ihrer Interessen vor dem Kaiser gewesen sein mußte, mächtige und einflußreiche Fürsprecher am kaiserlichen Hof zu finden, werden wir noch in weiteren Fällen sehen. An dieser Stelle ist die Frage wichtig, auf welche Weise sich die Vertreter der jüdischen Bevölkerung an den Kaiser wenden konnten. Der geschilderte Fall vermittelt den Eindruck, daß hierfür die Zustimmung der Statthalter notwendig war, wobei zudem noch gewisse Bedingungen, wie die Stellung von Geiseln, erfüllt werden mußten. Es handelte sich hier nicht um eine einfache Berufung gegen eine statthalterliche Entscheidung, sondern um den Versuch, den Kaiser zur Revision einer bereits von ihm selbst getroffenen Entscheidung zu bewegen, welche der Statthalter nur auszuführen hatte. In einem ähnlichen, von Josephus überlieferten Fall erfahren wir aber nichts von einem Nachsuchen der Provinzialvertreter beim Statthalter, eine Abordnung an den Kaiser schicken zu dürfen. Dies muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß eine vorherige Absprache mit dem Statthalter nicht trotzdem stattgefunden hat. (20) Der Hintergrund dieses Falls war, daß es nach dem Tod Agrippas zu Konflikten zwischen den Einwohnern in Cäsarea und Sebaste (= Samaria) gekommen war.189 Cuspius Fadus erhielt daraufhin vom Kaiser den Auf188 Joseph., AJ 15,407. Vgl. zum guten Verhältnis zwischen Kaiser Claudius und dem syrischen Statthalter Vitellius auch Tac., Ann. 6,32; Suet. Vit. 2; Cass. Dio 60,21,2. 189 Vgl. Joseph., AJ 19,356–362. Josephus berichtet, daß die Bewohner von Sebaste und Cäsarea die Wohltaten des König Agrippas bald vergessen hatten, und sich wie die schlimmsten Feinde benahmen, indem sie den Verstorbenen mit Schmähungen überhäuften. All jene, die in der römischen Armee dienten, und dies seien etliche gewesen, schändeten die Standbilder der Töchter Agrippas, indem sie diese auf die Dächer der Bordelle stellten; außerdem feierten sie auf öffentlichen Plätzen große Gelage. Dabei hätten sie dem Charon geopfert und auf den Verstorbenen getrunken. So hätten sie nicht nur dem Angedenken des zu ihnen so freigebigen Agrippa ihre Undankbarkeit erwiesen, sondern auch gegenüber dessen Großvater

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

trag, die aufmüpfigen Stadtbewohner zu bestrafen und jene Truppenteile, die aus Bürgern dieser Städte bestünden, zum Kriegsdienst nach Pontus abzukommandieren. Sie sollten dort von den in Syrien stationierten römischen Soldaten ersetzt werden.190 Dazu kam es jedoch nicht, weil die Angehörigen dieser Truppen eine Gesandtschaft an Claudius sandten, die den Kaiser umzustimmen wußte.191 Was bewegte den Kaiser, seine Entscheidung zu ändern? Einerseits konnte er es nicht zulassen, daß das Andenken einer den Römern treu ergebenen Dynastie entehrt wurde, andererseits war die römische Herrschaft auf jenen Bevölkerungsteil angewiesen, der in der römischen Armee seinen Dienst ableistete. Wirkt dieser Bericht zunächst so, als hätten sich die Stadtbewohner ohne vorherige Absprachen mit dem Statthalter direkt an den Kaiser gewandt, so könnte man einwenden, Josephus berichte hiervon einfach nichts. Die Stadtbewohner wollten aber – wie die Juden im Fall der priesterlichen Prachtgewänder – den Statthalter davon abhalten, die Anordnung des Kaisers sogleich auszuführen und solange in der Schwebe lassen, bis eine neue Entscheidung vom Kaiser erging. Folglich mußte der Statthalter über das Vorhaben der Stadtbewohner informiert worden sein. Außerdem war der Statthalter auch der Befehlshaber der Auxiliartruppen, so daß ihn schon allein deswegen die Angelegenheit unmittelbar betraf. Es ist deshalb mehr als wahrscheinlich, daß auch hier zunächst eine Absprache mit dem Statthalter stattgefunden hatte, bevor sich die Gesandtschaft an den Kaiser wandte. Dies würde auch erklären, warum die Korrespondenz zwischen Kaiser und Statthalter meistens von letzterem ausging. Es kam also weniger zu einer direkten Klage der Provinzialen beim Kaiser, der dann dem Statthalter etwas anordnete, sondern es war der Statthalter selbst, der zur Entscheidung eines Falles eine Anfrage an den Kaiser stellte, nachdem dies mit Vertretern der Provinzialbevölkerung ausgehandelt worden war.192 (21a) Ungefähr 15 Jahre später kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den jüdischen und syrisch-griechischen Bewohnern CäsaHerodes, dem großzügigen Stadtgründer. Zu letzterem vgl. Joseph., AJ 15,296–298. Der gleichnamige Sohn des verstorbenen Agrippa, der in Rom weilte, berichtete am Hof des Kaisers Claudius über die Vorfälle, so daß dieser über diese Undankbarkeit in Zorn geriet und beschloß, daß der jüngere Agrippa als Nachfolger seines Vaters das Königtum übernehmen solle, womit er sein früheres eidliches Versprechen (AJ 19,275) bestätigte. Die Freigelassenen und Freunde des Kaisers warnten denselben hingegen, einem so jungen und unerfahrenen Nachfolger in dem wichtigen Königtum eine dermaßen große Verantwortung aufzubürden, so daß der Kaiser schließlich entschied, Cuspius Fadus als Statthalter dorthin zu entsenden (44. n. Chr.). 190 Joseph., AJ 19,354–365. 191 Joseph., AJ 19,366: ož mÌn o keleusqÝnteò metÝsthsan . presbeusÜmenoi _ gJr Klaýdion ˜pemeilßcanto kaÍ mÝnein ™pÍ t hò \Ioudaßaò ™pÝtuxon. 192 Vgl. dazu die Feststellung von Millar (1966), S. 158.

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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reas, die nun als Streit über die Gleichwertigkeit des Bürgerrechts (perÍ œsopoliteßaò) ausgetragen wurde.193 Die Juden machten dabei geltend, daß Herodes die Stadt gegründet habe. Zwar wurde dies von den anderen nicht geleugnet, jedoch stellten sie heraus, daß der ältere Name (Turm von Straton) darauf hinweise, daß dort zuvor Nichtjuden gelebt hätten. Außerdem habe Herodes selbst dort Tempel und Statuen im hellenischen Stil errichtet.194 Bald entwickelte sich der Streit zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, und die Heißsporne (qrasýteroi) beider Seiten lieferten sich blutige Gefechte, da die Ältesten (geraioÍ) der Juden nicht in der Lage gewesen seien, die Anführer ihrer Seite zurückzuhalten und auch die Hellenen es für eine Schande gehalten hätten, hinter den Juden zurückzustehen.195 Solange die Konflikte auf Zivilisten beschränkt waren, hätten die Juden wegen ihres größeren Reichtums den Vorteil auf ihrer Seite gehabt.196 Jedoch sei dem hellenischen Bevölkerungsteil ihre Stammesverwandtschaft zu den Streitkräften aus Sebaste und Cäsarea zur Hilfe gereicht, die zum Großteil in Syrien ausgehoben wurden.197 Der römischen Obrigkeit lag sehr daran, die Unruhen niederzuhalten, und sie bestrafte die Streithungrigen mit Geißelung und Gefängnis.198 Dies stachelte aber die Empörung nur noch mehr an, und als einmal wieder die Juden die Oberhand gewannen, schritt der Statthalter Felix mit Soldaten ein, tötete viele, konfiszierte ihren Besitz und erlaubte den Soldaten, die reichen Häuser zu plündern.199 „Die Anständigsten und auf Grund ihrer Würdigkeit Herausragenden der Juden“ hätten nun, „weil sie um sich selbst fürchteten“, den Statthalter Felix gebeten, „die Soldaten zurückzurufen und den Rest von ihnen zu verschonen sowie eine [Möglichkeit zur] Buße für das Vorgefallene zu geben“, wozu sich Felix schließlich überreden ließ.200

193

Vgl. zu dem jüdisch-griechischen Konflikt in Cäsarea im Vergleich zum Konflikt in Alexandria zwei Dekaden früher Levine (1974). 194 Vgl. Joseph., AJ 20,173; BJ 2,266. 195 Vgl. Joseph., BJ 2,267. 196 Vgl. Joseph., BJ 2,268; deutlicher ist AJ 20,175: pÜlin gJr o katJ tÌn _ _ _ _ _ _ pülin \Iouda ioi tÃw ploýtÃw qarrounteò kaÍ diJ touto kata—ronounteò twn Sýrwn (Denn erneut lästerten die Juden in der Stadt, die aufgrund ihres Reichtums Mut faßten und deswegen die Syrer verachteten). _ _ _ 197 Joseph., BJ 2,268: tÎ dÊ ¢EllhnikÎn t Âh parJ twn stratiwtwn ˜mýnÂh tÎ _ _ _ gJr plÝon ¢Rwmaßoiò t hò ™ke i dunÜmewò ™k Surßaò šn kateilegmÝnon kaÍ ka_ _ qÜper suggene iò šsan prÎò tJò bohqeßaò Òtoimoi. Vgl. Joseph., AJ 20,176. 198 Vgl. Joseph., AJ 20,174; BJ 2,269. 199 Vgl. Joseph., BJ 2,269 f.; AJ 20,177. _ 200 Joseph., AJ 20,178: o dØ twn \Ioudaßwn ™pieikÝsteroi kaÍ proýxonteò _ wn parekÜloun tÎn FÞlika toÏò stra katJ tÌn ˜cßwsin deßsanteò perÍ Šaut _ _ _ tÎ loipÎn ažtwn dounaß tiþtaò ˜nakalÝsasqai t Âh sÜlpiggi kaÍ —eßsasqai _ _ te metÜnoian ™pÍ to iò pepragmÝnoiò. kaÍ F hlic ™peßsqh.

234

V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Bis dahin hätte der Fall auch in unseren Abschnitt zur Rolle der provinzialen Oberschicht gepaßt.201 Josephus unterscheidet auch hier deutlich zwischen den „Hitzköpfen“ und den gemäßigten „Vornehmen“ unter den Juden. Letztere versuchten zunächst vergeblich, ihre kampfeslustigen Landsleute zu mäßigen, und den Streit der Entscheidung des Statthalters anheimzustellen. Schließlich flehten sie um Gnade beim Statthalter, wobei man davon ausgehen kann, daß sie auch stärker von den Plünderungen der Soldaten betroffen waren, wenn man vermutet, daß ihnen bzw. ihren Angehörigen die erwähnten „reichen Häuser“ gehörten. Zugleich wird damit deutlich, daß der ethnische Konflikt zugleich ein sozialer war, weil ein Wohlstandsgefälle zwischen den Juden und „Hellenen“ in der Stadt bestand. Die ärmeren nichtjüdischen Stadtbewohner vertrauten jedoch darauf, ihren Nachteil durch die Hilfe ihrer Landsleute auszugleichen, die in den Auxiliartruppen des Statthalters ihren Dienst verrichteten, was sich auch bewahrheiten sollte. Josephus betont ausdrücklich, daß sich auch der Statthalter auf die Seite der nichtjüdischen Bevölkerung schlug, indem er, sobald die Juden sich durchzusetzen vermochten, mit Soldatenmacht brutal gegen sie vorging. Daß er es dabei auf die Konfiskation der Besitztümer reicher Juden abgesehen haben könnte, ist anzunehmen. Zugleich bot sich die Möglichkeit, durch die Plünderung den Soldaten einen beliebten Zusatzverdienst zukommen zu lassen. Damit ist der Zusammenhang mit dem zuvor geschilderten Fall (20) hergestellt, aus dem hervorging, daß sich der Kaiser nicht dazu entschließen konnte, diese Truppenteile auszutauschen. Josephus weist selbst darauf hin, daß dies „in der folgenden Zeit die Ursache der größten Leiden für die Juden“ werden würde.202 Für welche Seite würde sich der derzeitige Kaiser in diesem Fall entscheiden und aus welchem Grund? (21b) Der Konflikt über die Gleichheit der Stadtbürgerrechte, welcher weder von den Stadtoberen noch vom Statthalter mit seinen Auxiliartruppen völlig niedergerungen werden konnte, kam vor das Kaisergericht. Felix habe dazu „von beiden Seiten die Angesehensten“ herausgesucht und eine „Gesandtschaft zu Nero [geschickt], damit sie ihren Rechtshandel dort weiter ausfechten könnten“.203 Um 59/60 n. Chr. wurde Felix von Festus als Statthalter abgelöst. Die jüdische Gesandtschaft aus Cäsarea nutzte deshalb die Gelegenheit, den abgesetzten Felix beim Kaiser anzuzeigen, der jedoch dank dessen immer noch einflußreichen Bruders Pallas von einer Bestrafung des Felix absah.204 Was die Entscheidung über die Bürgerrechte anbe201

Vgl. dazu bes. die Ähnlichkeit zu Fall (15) in Abschnitt V. 1. e). _ _ _ Joseph., AJ 19,366: oá kaÍ to iò ™pio usi xrünoiò twn megßstwn \Ioudaßoiò _ _ _ ™gÝnonto sum—orwn ˜rxÌ tou katJ Flwron polÝmou spÝrmata balünteò. _ 203 Joseph., BJ 2,270: menoýshò dÊ t hò stÜsewò ™pilÝcaò ŠkatÝrwqen toÏò _ gnwrßmouò æpemyen prÝsbeiò ™pÍ NÝrwna dialecomÝnouò perÍ twn dikaßwn. 202

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

235

traf, berichtet Josephus, daß die Vornehmen der in Cäsarea lebenden Syrer (o prwtoi Sýrwn) Beryllos – der einst der Lehrer Neros gewesen war und nun das Amt des ab epistulis Graecis innehatte – mit viel Geld bestachen (peßqousi pollo iò xrÞmasin), um von Kaiser Nero einen Brief zu erbitten, der das ihnen gegenüber gleichwertige Bürgerrecht der Juden abschaffen sollte. Dies habe Beryllos schließlich auch erreicht, was den Konflikt zwischen Juden und Syrern in Cäsarea aber noch verschlimmerte.205 _

_

Auch hier wird deutlich, daß die Gesandtschaft der Provinzialen nicht aus eigenem Antrieb zustande kam, sondern der Statthalter nach gescheiterter Befriedung des Konflikts hierfür die würdigen Vertreter beider Streitparteien aussuchte und nach Rom schickte. Der Isopolitiestreit sollte also vom Kaiser neu entschieden werden. Wahrscheinlich erachtete der Statthalter zur Beruhigung der Lage das Urteil der höchsten Autorität als notwendig. Zudem war er selbst nicht befugt, über Fragen des Bürgerrechts zu entscheiden. Nur die Klage der Juden gegen seine Amtsführung geschah aus eigener Initiative, jedoch – wie üblich – erst nach seiner Absetzung.206 Beide Entscheidungen des Kaisers fielen jeweils zu Ungunsten der Juden aus. Felix blieb aufgrund seines einflußreichen Bruders Pallas unbehelligt, und die isopoliteia der Juden wurde aufgehoben, weil die nichtjüdische Gesandtschaft den Kopf des kaiserlichen Sekretariats, Beryllos, dazu bewegen konnte, sich für sie einzusetzen, wodurch die Juden folglich zu Bürgern zweiter Klasse degradiert wurden.207 Betrachtet man die Fälle der Ausein204 Joseph., AJ 20,182 wörtlich: „und er [Felix] hätte sicher Genugtuung leisten müssen für die gegen die Juden [begangenen] Ungerechtigkeiten, wenn nicht Nero ihn bereitwillig dessen Bruder Pallas, der [darum] gebeten hatte, überlassen hätte, weil er jenen eben damals besonders in Ehren hielt“ (kaÍ pÜntwò ën ™dedþkei _ timwrßan twn eœò \Ioudaßouò ˜dikhmÜtwn, eœ mÌ pollJ ažtÎn ‡ NÝrwn t˜_ _ parakalÝsanti sunexþrhsen mÜlista dÌ tüte diJ tim hò del—Ãw PÜllanti _ ågwn ™ke inon). Zum Urteil des Tacitus über Felix, vgl. Hist. 5,9; Ann. 17,54. Zu Pallas vgl. Joseph., AJ 20,137. 205 Vgl. Joseph., AJ 20,183 f. Zur Wirkung des kaiserlichen Urteils vgl. auch Joseph., BJ 2,284 bzw. oben Fall (15) in Abschnitt V. 1. e). Josephus nennt Beryllos einerseits paidagogos, und andererseits läßt er ihn einen Posten in der Kanzleiabteilung ab epistulis Graecis bekleiden. Die Existenz eines solchen Beryllos wurde angezweifelt, weil er dann zumindest in seiner Eigenschaft als Erzieher Neros in anderen Quellen erwähnt sein müßte. Die Möglichkeit, daß es sich evtl. um Afranius Burrus handelt, der bei Tac., Ann. 13,2,1 als rector imperatoriae iuventae bezeichnet wird, ist umstritten, vgl. Henze (1897), Art. ,Beryllos‘, in: RE 3, Sp. 319 f. 206 Ein solches Vorgehen der Provinzialen befürchtete auch der Statthalter Florus, vgl. Joseph., BJ 2,283 f. bzw. oben Fall (18). 207 Vgl. Stern (1974), S. 368. Zu ethnischen Spannungen in Cäsarea, vgl. Joseph., BJ 2,266–270; AJ 20,173. Bei den vorgenannten Stellen ist vom Gegensatz zwischen Juden und Syrern unter dem Statthalter Felix die Rede, während die spätere Auseinandersetzung unter dem Statthalter Florus von Josephus als Konflikt zwischen Juden und Hellenen geschildert wird, vgl. Joseph., BJ 2,284–305. Es ist aber

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

andersetzungen in Cäsarea im Zusammenhang, so wird deutlich, daß sich – wenn es darauf ankam – nicht nur die Statthalter, sondern auch die beiden Kaiser Claudius und Nero gegen die Interessen der jüdischen und für diejenigen der griechisch-syrischen Bevölkerung entschieden. Josephus läßt keinen Zweifel daran, daß dies auch mit der Tatsache zu tun hatte, daß die nichtjüdische Bevölkerung im Gegensatz zu den Juden in den in Sebaste und Cäsarea stationierten Auxiliartruppen diente. Rom war also nicht geneigt, sich gegen diejenigen Untertanen zu entscheiden, die in derselben Region als Soldaten die römische Macht bzw. „Ordnung“ sicherten. Neben diesem strategischen Kalkül betont Josephus den ausschlaggebenden Faktor für die kaiserliche Entscheidungen: nämlich gerade nicht der eigentliche Prozeß mit den jeweiligen Verteidigungs- bzw. Anklagereden, sondern die informelle Einflußnahme herausragender Persönlichkeiten am kaiserlichen Hof. (22) Auch der bereits behandelte Rechtsstreit zwischen Samaritanern und Juden208 kam vor das Kaisergericht. Auch hier zeigt sich, wie wichtig die Einflußnahme mächtiger Fürsprecher am kaiserlichen Hof für das Urteil war. Nachdem nämlich der Statthalter Cumanus mit den Vornehmsten der Samaritaner in Rom angekommen war und der Kaiser den Verhandlungstag festgelegt hatte, setzten sich die „Freigelassenen und Vertrauten des Kaisers für Cumanus und die Samaritaner“ ein.209 Aber auch die jüdischen Prozeßvertreter fanden die Hilfe von Verbündeten. Als der gerade in Rom weilende Agrippa die „bedenkliche Lage der jüdischen Vornehmen“ erkannte, wirkte er auf die Gemahlin des Kaisers ein, so daß Agrippina Claudius inständigst bat, daß er „bei der Entscheidung des Streites die wirklichen Schuldigen zur gerechten Strafe ziehe.“210 Von ihrer Bitte beeindruckt, durchaus möglich, daß die Stellen eine Sinneinheit ergeben und zwischen syrischen und griechischen Bewohnern Cäsareas von Josephus nicht scharf unterschieden wird. In Joseph., BJ 2,266 argumentieren die syrischen Bewohner, um ihren Vorrang vor den jüdischen Bewohnern zu behaupten, nämlich damit, daß ein Jude Cäsarea zwar gegründet habe (Herodes der Große), die Stadt selbst aber Eigentum der Griechen sei, weil sonst keine Tempel und Bildsäulen darin errichtet worden wären. Vgl. zu Cäsarea Levine (1975), S. 18–30. 208 Vgl. oben Fall (14) in Abschnitt V. 1. d) sowie (17) in Abschnitt V. 2. _ 209 Joseph., AJ 20,134 f.: O perÍ KoumanÎn dÊ kaÍ toÏò prþtouò twn _ SamarÝwn ˜napem—qÝnteò eœò ¢Rþmhn lambÜnousi parJ tou ažtokrÜtoroò _ ˜llÞlouò ˜m—isbhtÞsewn lÝgein æmellon. †mÝran, kaq' ¤n perÍ twn prÎò _ _ _ _ _ _ spoudÌ dÊ megßsth tÃw KoumanÃw kaÍ to iò Samareusin šn parJ twn Kaßsaroò ˜peleuqÝrwn kaÍ —ßlwn. _ 210 Joseph., AJ 20,135: kën periegÝnonto twn \Ioudaßwn, eœ mÞ per \Agrßp_ _ kataspeudomÝnouò œd„n toÏò twn paò ‡ neþteroò ™n t Âh ¢RþmÂh tugxÜnwn _ _ gunaikÎò \Agrip\Ioudaßwn_ prþtouò ™deÞqh pollJ t hò tou ažtokrÜtoroò _ _ prepüntwò t Âh Šautou dikaiosýnÂh pßnhò pe isai tÎn åndra diakoýsanta _ timwrÞsasqai toÏò Ñtßouò t hò ˜postÜsewò. Zur Freundschaft zwischen Agrip-

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

237

habe Claudius dann bei seiner Vernehmung „in den Samaritanern die Urheber der gesamten Feindseligkeiten“ erkannt und ließ „diejenigen, die sich bei ihm eingefunden hatten, hinrichten“.211 Der Statthalter Cumanus wurde in die Verbannung geschickt und der Tribun Celer, nachdem er zurück nach Jerusalem gebracht worden sei, wurde dort zunächst „öffentlich durch die ganze Stadt geführt“ und schließlich enthauptet.212 Abgesehen von der Bedeutung der Einflußnahme bestimmter Fürsprecher im Vorfeld des Prozesses wird auch hier die standesmäßige Abstufung in den Strafurteilen des Kaisers erkennbar: Die schuldig gesprochenen Provinzialen werden hingerichtet, wobei wir nicht erfahren, auf welche Art die Todesstrafe vollzogen wurde. Der römische Tribun wird wahrscheinlich zur Genugtuung der Provinzialen in Jerusalem enthauptet. Der Statthalter Cumanus wird hingegen verbannt, eine Strafe, die dem Rang eines Statthalters üblicherweise entsprach. c) Exkurs: Kaiser Gaius (Caligula) und der syrische Legat Petronius Wir haben bereits davon gehört, daß Provinziale einen Aufschub der Ausführung eines kaiserlichen Befehls beim Statthalter erbitten konnten. In welch schwierige Lage es einen Statthalter bringen konnte, wenn er eine kaiserliche Anordnung wegen des Protestes und Widerstandes der Provinzialen nicht sogleich in die Tat umsetzte, bezeugt der ausführlich geschilderte Fall um die Aufstellung des Standbildes von Gaius (Caligula) im Tempel von Jerusalem.213 Der judäische Statthalter spielt dabei keine Rolle, so daß wir den Vorfall als ein Beispiel für die Rolle des syrischen Statthalters in Judäa betrachten. Dieses für die Juden traumatische Ereignis214 ist pina (Enkelin der Antonia) und Agrippa I. vgl. Joseph., AJ 18,143; in BJ 2,245, steht nur: „In Rom hörte der Kaiser Cumanus und die Samaritaner an; es war aber auch Agrippa anwesend, der sich mit großem Eifer für die Juden einsetzte, während _ _ Cumanus bei vielen der vornehmsten Römer Beistand fand“ (tÃw KoumanÃw dÊ —ugÌn ™pÝbalen, KÝlera dÊ tÎn xilßarxon_ ™kÝleusen ˜gagüntaò eœò tJ ¢Iero_ süluma pÜntwn ‡rþntwn ™pÍ tÌn pülin p asan sýrantaò oÖtwò ˜pokte inai.) Nach Suet. Claud. 15 hat der Kaiser nur eine Seite angehört. Sen., Apocol. 12,3 behauptet sogar, Claudius habe überhaupt keine Partei angehört. Möglicherweise könnte auch Pallas auf den Kaiser eingewirkt haben, denn immerhin wurde nach der Verurteilung des Cumanus Pallas’ Bruder Felix zum Statthalter ernannt, vgl. Joseph., BJ 2,247; AJ 20,137. 211 Joseph., AJ 20,136. In BJ 2,245 sind es nur „drei der einflußreichsten“ (tre_iò [. . .] toÏò dunatwtÜtouò) Samaritaner, die hingerichtet werden. _ _ 212 Joseph., AJ 20,136: tÃw KoumanÃw dÊ —ugÌn ™pÝbalen, KÝlera dÊ tÎn xilßarxon _™kÝleusen ˜gagüntaò eœò tJ ¢Ierosüluma pÜntwn ‡rþntwn ™pÍ tÌn _ pülin p asan sýrantaò oÖtwò ˜pokte inai. Keine abweichende Aussage in BJ 2,245. Dies muß sich 52 n. Chr. ereignet haben. 213 Joseph., AJ 18,261–307; BJ 2,184–203.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

von besonderer Bedeutung, weil Josephus hier eine dramatische Verhandlungssituation zwischen dem syrischen Legaten und der jüdischen Provinzialbevölkerung schildert, wie sie uns für den judäischen Statthalter in dieser Ausführlichkeit nicht überliefert ist. Die Argumentationsweise beider Seiten gibt aber aufschlußreiche Hinweise auf die Bedingungen und Grenzen provinzialer Herrschaft, die auch für die Ausübung der Strafgewalt eine Rolle gespielt haben dürften. (23) Josephus berichtet zunächst von Kaiser Gaius’ Größenwahn, als Gott verehrt werden zu wollen,215 und von seinem Zorn gegen die Juden, die sich als einzige im Reich gegen eine solche Verehrung sträubten.216 Gaius schickte den Legaten P. Petronius als Nachfolger des L. Vitellius nach Syrien, um mit starker Heeresmacht in Judäa einzurücken und die Aufstellung seines Standbildes im Tempel von Jerusalem zu erzwingen.217 214

Tac., Hist. 5,9,2 berichtet schlicht: dein iussi a C. Caesare effigiem eius in templo locare arma potius sumpsere, quem motum Caesaris mors diremit (Danach sollten die Juden auf den Befehl des Gaius Cäsar sein Bild im Tempel aufstellen, griffen aber lieber zu den Waffen und erregten einen Aufstand, der erst mit dem Tode des Kaisers zu Ende ging). 215 Joseph., AJ 18,256: „Gaius aber übte im ersten Jahr und im folgenden großmütig die Staatsgeschäfte aus, und indem er sich maßvoll zeigte, erzielte er viel Ergebenheit sowohl bei den Römern selbst als auch bei den Unterworfenen. Fortschreitend aber wurde er davon abgebracht, menschlich [von sich] zu denken, so daß er sich wegen der Größe seiner Herrschaft zum Gott machte“ (GÜioò dÊ tÎn _ _ _ _ mÊn prwton ™niautÎn kaÍ tÎn Šc hò pÜnu megalo—rünwò ™xr hto to iò prÜgmasin kaÍ mÝtrion_ parÝxwn atÎn eœò ejnoian pollÌn prouxþrei parÜ te _ _ Proú„n d' ™cßstato tou ˜nqrwpßnwò ¢Rwmaßoiò ažto iò kaÍ to_iò phküoiò. _ _ in pÎ megÝqouò _t hò ˜rx hò ™kqeiÜzwn ŠautÎn kaÍ tJ pÜnta ™p' ˜timßÁa —rone _ tou qeßou politeýein šrto); zur anfänglich guten Regierung des Kaisers vgl. a. Philo, Leg. 13 f., 22; Suet. Cal. 37; Cass. Dio 59,2,6 u. 3,1. 216 Joseph., AJ 18,261: „Gaius aber, der in Empörung geriet, weil er von den _ Juden allein so unbeachtet gelassen wurde . . .“ (GÜioò dÊ ™n deinÃw —Ýrwn eœò to_ sünde pÎ \Ioudaßwn periw—qai münwn). Der Fall muß im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Juden und Griechen in Alexandria gesehen werden, von dem Philos Legatio ad Gaium ausführlich berichtet. Vgl. dazu Pucci Ben Zeev (1990). In Joseph., AJ 18,257–260 traf der griechische Prozeßvertreter Apion den empfindlichen Nerv kaiserlicher Eitelkeit, indem er auf die vernachlässigte Kaiserverehrung der Juden anspielt: „Während alle – jedenfalls soweit sie der Herrschaft der Römer tributpflichtig sind – Gaius Altäre und Tempel errichten und in allem anderen ihn wie die Götter annehmen, halten allein diese [die Juden] es für unrühmlich, ihn mit_ den Standbildern zu ehren _und Eid bei seinem Namen_ zu leisten _ _ _ ˜rx h  potele iò e œen bwmoÏò tÃw GaÀÃw kaÍ (pÜntwn goun ‡püsoi t Âh ¢Rwmaßwn _ ×sper toÏò qeoÏò dexomÝnwn, müne„ò drumÝnwn tÜ te ålla p asin ažtÎn _ _ _ _ nouò_ toýsde ådocon †ge isqai ˜ndri asi tim an kaÍ Õrkion ažtou tÎ énoma poie isqai). 217 Joseph., AJ 18,261, wo nur von einem Standbild die Rede ist, das im Tempel aufgestellt werden sollte. In Joseph., BJ 2,165 heißt es: „Den Petronius sandte er jetzt mit einem Heer nach Jerusalem, indem er anordnete, im Tempel Standbilder

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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Nachdem Petronius die Statthalterschaft in Syrien übernommen hatte, wollte er sogleich dem Befehl des Kaisers nachkommen und bezog in Ptolemaïs mit zwei Legionen und vielen Hilfstruppen Winterquartier. Tausende Juden zogen nun dorthin, um ihn zu bitten, er möge sie doch nicht zwingen, ihr väterliches Gesetz zu übertreten. Hierbei beteuerten sie, lieber sterben zu wollen, als zuzulassen, daß etwas sowohl gegen den Willen ihres Gesetzgebers als auch ihrer Vorfahren geschehe.218 Petronius erwiderte: „Wenn ich der Alleinherrscher wäre und durch meinen eigenen Entschluß solches zu tun beabsichtigte, dann wäret ihr mir gegenüber zu solcher Rede berechtigt. Da mich aber nun der Kaiser geschickt hat, bin ich verpflichtet, das von ihm Bestimmte auszuführen, denn der Ungehorsam dagegen bringt unerbittlichste Strafe.“219 Die Juden entgegneten Petronius, falls er die Befehle des Gaius nicht übergehen wolle, es ihnen gleichfalls verboten sei, die traditionellen Sitten zu mißachten und die Anordnungen ihres Gottes zu übertreten; der Zorn ihres Gottes sei mächtiger als der des Gaius und von ihm hänge ihr ganzes Schicksal ab.220 Josephus spitzt hier also das Moment der Konfrontation zwischen der religiösen Rechtsauffassung der Juden und dem Gott-Kaiser-Kult des Gaius aufs Äußerste zu. Während Petronius auf den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Kaiser verwies, argumentierten die Juden, daß ihre Gehorsamspflicht gegenüber ihrem göttlichen Gesetzgeber größer sei als diejenige gegenüber dem Kaiser. Die Rede der Juden verdeutlicht, daß ihr gesamtes Schicksal bzw. ihre geschichtliche Existenz auf dem unmittelbaren Bund mit ihrem Gott beruhte und folglich das göttliche Recht über Einzelschicksale und die konkrete Situation hinaus eine Verpflichtung für ihr gesamtes Volk darstellte. Ihr göttliches Recht sei mächtiger als das Recht des römischen Kaisers, dessen Göttlichkeit anzuerkennen zugleich den Abfall vom eigenen Gott bedeuten würde. Mit dem kaiserlichen Auftrag des syrischen aufzustellen, wenn die Juden [dies] nicht hinnehmen, die, die Widerstand leisteten, zu töten und das ganze übrige Volk zu Sklaven zu machen“. Vgl. Da˛browa (1998), S. 38–41, zu Vitellius (syrischer Statthalter 35–39 n. Chr.) und S. 42 f. zu Petronius (39–42 n. Chr.). 218 Vgl. Joseph., AJ 18,262–264; BJ 2,192. Joseph., AJ 18,263 f.: katJ deÞseiò _ _ nümou. mhdÊn ™pÍ paranomßÁa s— aò ™panagkÜzein kaÍ parabÜsei tou_ patrßou _ an, †m aò ažtoÏò eœ dÝ soi pÜntwò prükeitai tÎn ˜ndriÜnta —Ýrein kaÍ st _ prüteron metaxeirisÜmenoò pr asse tJ dedogmÝna . oždÊ gJr_dunÜmeqa peri_ _ ünteò qewre in _prÜgmata †m in_ ˜phgoreumÝna ˜ciþmatß te tou nomoqÝtou kaÍ propatürwn twn †metÝrwn twn eœò ˜retÌn ˜nÞkein ažtJ kexeirotonhkütwn. _ _ 219 Joseph., AJ 18,265: ˜ll' eœ mÊn ažtokrÜtwr ñn bouleýmasi xr hsqai to iò _ _ _ _ šn m in prüò me otoò ‡ lü™mautou tÜde prÜssein ™penüoun, kën dßkaioò _ _ _ goò. nunÍ dÝ moi Kaßsaroò ™pestalkütoò p asa ˜nÜgkh diakone isqai to iò ™keßnÃw proaneyh—ismÝnoiò diJ tÎ eœò ˜nhkestotÝran —Ýrein zhmßan tÌn _ parakrüasin ažtwn. 220 Vgl. AJ 18,266–268.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Statthalters und der Berufung der jüdischen Bevölkerung auf ihr göttliches Recht prallten also zwei unvereinbare Rechtsauffassungen aufeinander. Josephus fährt fort, daß Petronius erkannte, den Befehl des Gaius nicht ohne ein Blutbad ausführen zu können. Daraufhin begab er sich mit seinen Freunden und Dienern nach Tiberias, wo er das Volk und die Vornehmen zusammenrief.221 Die Juden, die ebenfalls die Gefahr eines Krieges erkannt hatten, kamen nun zu Tausenden nach Tiberias, um Petronius erneut anzuflehen, nicht durch die Aufstellung der Bildsäule ihre Hauptstadt zu entweihen.222 Der syrische Statthalter stellte ihnen daraufhin die Macht Roms und die Drohungen des Kaisers vor Augen: Ihr Widerstand, der einem Aufstand gleichkäme, sei unsinnig; nur die Juden leisteten ihn, während die anderen unterworfenen Völkerschaften in ihren Städten neben anderen Götterstatuen auch Kaiserbilder aufgestellt hätten.223 Nachdem die Juden darauf dem syrischen Legaten ihr Bilderverbot darlegten und erklärten, gegebenenfalls dafür Leiden auf sich nehmen zu wollen, stellte Petronius die Frage, ob sie trotz ihrer Schwäche den Krieg gegen den Kaiser wagen wollten.224 Die Juden antworteten, daß sie das keineswegs wollten, es jedoch vorzögen, eher zu sterben, als ihre religiösen Gesetze zu übertreten. Danach warfen sie sich zu Boden, boten ihren Nacken dar und unterließen es vierzig Tage lang, die Felder zu bestellen.225

221

Vgl. Joseph., AJ 18,269; BJ 2,193. In AJ schreibt Josephus, daß Petronius nach Tiberias reiste, „weil er wünschte, die Verhältnisse bei den Juden, so wie sie waren, kennenzulernen.“ 222 Vgl. Joseph., AJ 18,270. 223 Joseph., BJ 2,193 f.: tÞn te ¢Rwmaßwn diecÂÞei dýnamin kaÍ tJò Kaßsaroò _ ˜peilÜò, æti dÊ_ tÌn ˜cßwsin ˜pݗainen ˜gnþmona . _pÜntwn gJr t_wn potetagmÝnwn ™qnwn katJ pülin sugkaqidrukütwn to iò ålloiò_ qeo iò kaÍ tJò Kaßsaroò eœkünaò tÎ münouò ™keßnouò ˜ntitÜssesqai prÎò touto sxedÎn ˜—i_ stamÝnwn e œnai kaÍ meq' Öbrewò. 224 Vgl. Joseph., AJ 18,271; BJ 2,196. 225 Joseph., AJ 18,271 f. Die körperliche Geste der todesmutigen Entschlossenheit fehlt in BJ, dafür enthält Joseph., BJ 2,197 ein Argument, das in AJ unerwähnt bleibt und die genaue Grenze der Kaiserverehrung und Loyalität der Juden herausstellt. Josephus pointiert die Antwort der Juden folgendermaßen: „Wir opfern für den Kaiser und das Volk der Römer zwei Mal am Tage; will er aber darauf bestehen, die Bildsäulen aufzustellen, so muß er zuvor das ganze jüdische Volk als _ _ _ ioi perÍ mÊn Kaßsaroò kaÍ to u dÞmou twn Opfer darbringen“ (kaÍ \Iouda _ æ—asan, eœ dÊ boýletai tJò eœkünaò ™gkaqi¢Rwmaßwn dÍò t hò †mÝraò qýein _ drýein, prüteron ažtÎn de in Ñpan tÎ \Ioudaßwn æqnoò proqýsasqai). Dieses Opfer wurde seit Augustus im Tempel von Jerusalem ständig vollzogen. Nach Philo, Leg. 157. 317 wurde es vom Kaiser bezahlt, nach Joseph., Ap. 2,77 von den Juden. In Joseph., BJ 2,409 wird die Verweigerung dieses Opfers ein entscheidender Grund für den Ausbruch des Jüdischen Krieges.

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

241

Der Statthalter stand also vor dem Dilemma zwischen Krieg bei treuer Ausführung des Kaiserbefehls und der Vermeidung des Krieges bei gleichzeitiger Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Kaiser. Die Juden zeigten, daß sie in dieser Frage nicht nachgeben konnten, und stellten somit die Entscheidung über Krieg und Frieden allein in die Verantwortung des Statthalters. Josephus berichtet nun, wie Mitglieder der jüdischen Hocharistokratie und weitere „Vornehme“ in die scheinbar ausweglose Situation eingriffen.226 Dabei legt er ihnen Argumente in den Mund, die sich von den bisherigen theologischen Gründen durch ihr zusätzlich weltliches Kalkül unterscheiden. Diese ersuchten nämlich den Statthalter, dem Kaiser zwar auch von der todesverachtenden Standhaftigkeit der Juden gegenüber ihrem religiösen Gesetz zu berichten, ihn zudem aber über den Ernteausfall zu informieren. Dies brächte die Gefahr mit sich, daß die „Räuberei“ anwachse, weil die Steuern dann unmöglich bezahlt werden könnten.227 Vielleicht könnte Gaius dadurch erweicht werden, nicht nach der Vernichtung des Volkes zu trachten (mhdÊ ™p' ˜nastÜsei —ron hsai tou æqnouò), wenn nicht, habe Petronius immer noch die Möglichkeit, das Land mit Krieg zu überziehen.228 _

_

226 Vgl. Joseph., AJ 18,273; die Rede ist hier von „Aristobolos, der Bruder von König Agrippa, zusammen mit Helkias der Ältere sowie die anderen Vornehmsten des Hauses und den übrigen mächtigsten Mitgliedern des Hauses und mit ihnen [zusammen] Vornehmen [der Juden].“ _ _ 227 Joseph., AJ 18,274: ™peidÌ tÌn proqumßan ‡rÁa t hò plhqýoò, mhdÊn eœò _ _ _ in, ˜llJ grܗein prÎò GÜion tÎ ˜nÞkeston ažtwn ˜pünoian ažt hò parakine _ _ _ _ prÎò tÌn ˜podoxÌn_ tou ˜ndriÜntoò, pwò te ˜postÜnteò tou gewrge in ˜nti_ ën dýnasqai, qane in _d' kaqÝzontai, poleme in mÊn ož_boulümenoi diJ tÎ mhd' _ _ ˜spürou t hò g hò æxonteò †donÌn _prÍn parab hnai tJ nümima ažto iò,_ ×ste _ genomÝnhò lÂhste iai ën —ýointo ˜dunamßÁa katabol hò twn —ürwn. In BJ ist von der Einflußnahme hochgestellter Persönlichkeiten keine Rede, sondern der Fall wird so geschildert, als ob der syrische Statthalter aufgrund eigener Überlegungen zu der Überzeugung gelangt sei, einen Brief an den Kaiser zu schreiben, um ihn von seinem Auftrag abzubringen. Aber auch hier (Joseph., BJ 2,200) wird der Ernteausfall als Grund für einen Überredungsversuch angegeben: Als sie keinem Überredungsversuch nachgaben und er sah, daß das Land in der Gefahr war, ohne Saat zu bleiben, denn zur Zeit der Aussaat hatte das Volk schon 50 Tage untätig bei ihm zugebracht, da versammelte er sie ein letztes Mal und sagte [. . .]“ (prÎò dÊ mhde_ mßan pe iran ™ndidüntwn ò Šþra kaÍ tÌn xþran kinduneýousan åsporon _ katJ gJr ×ran_ spürou pentÞkonta †mÝraò ˜rgJ prosdiÝtriben me inai, _ ažtÃw tJ plÞqh, teleuta ion ˜qroßsaò ažtoÏò kaÍ). Vgl. a. Philo, Leg. 248 f., der das Argument des Ernteausfalls in das Kalkül des Petronius legt, damit er so die Verzögerung entschuldigen konnte, den kaiserlichen Befehl nicht sogleich ausgeführt zu haben. Denn Petronius habe befürchtet, daß die Juden bei Verletzung ihrer Sitten durch die Aufstellung der Kaiserstatue ihre Felder verwüsten und ihr Korn in Brand stecken würden, so daß er zudem noch die Ernte und die Felder durch Truppen sichern lassen müßte. 228 Vgl. Joseph., AJ 18,275.

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

Die Absicht der aufschiebenden Wirkung tritt in dieser Argumentation klar zutage. Noch geschickter war hier aber der Hinweis auf den potentiellen ökonomischen Schaden und die daraus resultierende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, wenn jene, die die Steuern nicht aufbringen konnten, sich Räuberbanden anschließen würden. Wahrscheinlich war es eher dieses Argument als die Bewunderung der religiösen Standhaftigkeit, warum Petronius der Bitte der jüdischen Verhandlungsführer stattgab; zumindest hatte er nun einen guten Grund, um vom Kaiser zu erbitten, nochmals seinen Auftrag abzuwägen, ohne sich sogleich der Befehlsverweigerung schuldig zu machen.229 Trotzdem ging Petronius das persönliche Risiko ein, beim Kaiser in Ungnade zu fallen, falls sich seine nüchternen Darlegungen über die römischen Interessen in der Provinz Judäa an dessen hartnäckig vertretenem Göttlichkeitsanspruch brechen würden. So kam es dann letztlich auch, wie das Reskript des Gaius an Petronius verdeutlicht, das zugleich einen Bestechungsvorwurf sowie eine angedeutete Aufforderung enthielt, als Strafe den Freitod zu wählen.230 Nur die Tatsache, daß der Brief später eintraf als die Nachricht über den Tod des Kaisers, verschonte den syrischen Statthalter.231 Der Fall zeigt also, wie zwei unvereinbare Rechtsvorstellungen aufeinandertreffen und wie problematisch es für den Statthalter war, den Kaiser von seiner bereits getroffenen Entscheidung wieder abzubringen, zumal, wenn jener sich dadurch in seiner göttlichen Autorität angegriffen sah und die persönliche Eitelkeit über rationale Nutzenerwägungen stellte. Wenn man 229

Sehr pathetisch ist Josephus in BJ 2,201, wenn er Petronius sagen läßt: „entweder gelingt es mir, mit Gottes Hilfe den Kaiser zu überreden, dann freue ich mich, mit euch zusammen gerettet zu werden, oder aber er gerät in Zorn, dann bin ich bereit, mein Leben für so viele Menschen hinzugeben.“ Vgl. parallel dazu Joseph., AJ 18,277–288, eine Passage, in der Petronius beinahe zum jüdischen Heiland stilisiert wird. Josephus untermauert die Episode noch durch das Wunder eines „göttlichen Regens“. Dies ist wohl auch der Grund dafür, warum Petronius in späterer Zeit für die Juden eine Art Volksheld wurde. Man ist an den Pilatus des Johannesevangeliums erinnert, wo dieser beim Verhör Jesu beinahe zum moralisierenden Philosophen geriert, weshalb er noch heute von den koptischen Christen als Heiliger verehrt wird. 230 Vgl. Joseph., AJ 18,304. 231 Vgl. Joseph., AJ 18,305; BJ 2,203. In Joseph., AJ 18,298–302 ist noch die Agrippaepisode eingefügt, welche erzählt, wie dieser durch ein äußerst großzügiges Gelage die Gunst des Kaisers gewann, bei dem er schließlich sogar einen Wunsch frei hatte. Diesen nutzte Agrippa, um sich für die Juden einzusetzen und Gaius mit schmeichelnden Worten zu bitten, von der Aufstellung der Kaiserbüste in Jerusalem abzusehen. Deshalb zitiert Josephus dann auch einen ersten Brief an Petronius (AJ 18,301), in welchem er anordnet, sich nicht weiter um die Aufstellung des Standbildes zu kümmern. Joseph., AJ 18,302 berichtet dann aber vom Sinneswandel des Kaisers, weil er einen Aufstand der Juden gegen die Römer befürchtete, der ihn zu dem bereits zitierten zweiten Schreiben veranlaßte.

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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einmal von der durch Josephus stark idealisierten religiösen Bewunderung des Petronius für das Judentum absieht, verkörpert der syrische Statthalter die gegensätzliche Herrschaftsauffassung: Er erkundet zunächst die Lage in der Provinz, hört sich die Argumente der Provinzialen an und wägt die möglichen Folgen in ihrem Verhältnis zum Nutzen ab, wobei er sich die Argumente der Mitglieder aus der einheimischen Aristokratie zu eigen macht. Unnötiges Blutvergießen, ausfallende Steuereinnahmen und anwachsendes Banditentum stehen für Petronius in keinem Verhältnis zur Verwirklichung der Wahnidee des Kaisers. Trotzdem ist er dem Willen des Alleinherrschers ausgeliefert. Entweder dieser läßt sich überzeugen, oder er muß damit rechnen, für sein als Illoyalität aufgefaßtes Zögern bestraft zu werden. Josephus’ Bericht, deren Redesituationen freilich von ihm unterstellt sind, könnte immerhin dahingehend interpretiert werden, daß die herrschaftspragmatischen Gesichtspunkte in der Ausübung der Provinzialherrschaft bei Kollision der Interessenlagen letztlich der persönlichen Herrschaftsauffassung des Kaisers unterzuordnen waren. d) Zwischenbetrachtung Welche Wirkung hatte der Kaiser auf die Ausübung der Strafgewalt des Statthalters? Zunächst haben wir zu berücksichtigen, welche Art von Fällen überhaupt bis vor den Kaiser gelangten. Es handelte sich um Fälle, bei denen entweder eine bereits getroffene Anordnung des Kaisers an den Statthalter auf Verlangen der Provinzialen revidiert werden sollte, oder um Fälle mit einer hohen politischen Brisanz, wie z. B. die Konflikte zwischen zwei Bevölkerungsgruppen (Samaritaner-Juden bzw. Griechen/Syrer-Juden), die der Statthalter selbst dem Urteil des Kaisergerichts übergab. Selbstverständlich konnte auch beides zutreffen, nämlich daß der Kaiser ein Urteil oder eine Entscheidung bezüglich zweier Volksgruppen fällte, die dann aber aus Sicht der benachteiligten Volksgruppe geändert werden sollte, so daß sie um eine Gesandtschaft beim Kaiser ersuchte, damit er die bereits getroffene Entscheidung noch einmal überdenke. Josephus’ Schilderungen legen die Vermutung nahe, daß sich die Provinzialen nicht einfach am Statthalter vorbei an den Kaiser wenden konnten: entweder ersuchten sie den Statthalter zuvor um seine Zustimmung oder dieser verfaßte auf ihre Veranlassung selbst einen Brief an den Kaiser und schilderte darin die Lage, damit der Kaiser hierüber entscheide. Natürlich ist auch hier beides möglich, daß nämlich der Statthalter eine Gesandtschaft an den Kaiser zuließ, eventuell sogar die Vertreter der Streitparteien auswählte und zusätzlich in einem Schreiben an den Kaiser seine Sicht der Dinge darlegte. Der Fall unter Gaius verdeutlicht, daß ein solcher Versuch vom Kaiser auch als illoyales Verhalten und Autoritätsmißachtung seitens

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V. Die Strafgewaltspraxis des Statthalters in Judäa

des Statthalters ausgelegt werden konnte. Ergänzend sollte auch der umgekehrte Fall bedacht werden, in dem die treue Ausführung eines kaiserlichen Befehls dem Statthalter zum Vorwurf gemacht werden könnte, falls sich daraus Folgen ergeben würden, die zur Zeit der Anordnung durch den Kaiser noch nicht absehbar waren und eine erneute Einschätzung der Lage notwendig erscheinen ließen. Hierbei sollte man bedenken, daß die Kommunikation zwischen Rom und der Provinz erhebliche Zeit beanspruchen konnte. Eine präzise verfahrenstechnische Regelung der Kommunikation zwischen provinzialer Oberschicht, dem judäischen Statthalter, dem syrischen Statthalter und dem Kaiser läßt sich aus Josephus’ Berichten jedenfalls nicht ableiten. Vielmehr stehen die Charaktereigenschaften, die persönlichen Beziehungen und das individuelle Herrschaftskalkül des Entscheidungsträgers im Vordergrund, wenn es um die Ausübung der Strafgewalt in einer konkreten Situation geht. Welche Schußfolgerungen können für die Ausübung der Strafgewalt des judäischen Statthalters gezogen werden? Am auffälligsten ist an Josephus’ Darstellung, daß er fast sämtliche Urteile der Kaiser in Fällen, die aus der Provinz an sie herangetragen wurden, auf die Einflußnahme mächtiger Persönlichkeiten am kaiserlichen Hof zurückführt. Dies muß zunächst nicht unbedingt in einem so strikten Sinne verstanden werden, daß die Kaiser keinen eigenen Willen besaßen, sondern könnte als Hinweis gewertet werden, wie wichtig es für die Streitparteien war, Verbündete zu finden und indirekt im Vorfeld der eigentlichen Verhandlung auf den Kaiser einzuwirken, weil dieser nicht über sämtliche Vorfälle im Reich selbst ausreichend unterrichtet sein konnte und somit zumindest graduell vom Rat seiner Vertrauten abhängig war. Ob sie ihren Einfluß (sieht man von dem Einfluß der Kaisergattin Agrippina ab) dabei jeweils im Rahmen eines consilium principis geltend machten, läßt sich nicht mit Sicherheit behaupten. Wenn es sich in den hier dargelegten Fällen um Fälle aus einer kaiserlichen Provinz handelte, so ist es durchaus möglich, daß die Kaiser hier weniger Wert auf eine neutrale Beratungsgrundlage legten als in Fällen, bei denen sich der Senat betroffen fühlte.232 Jedenfalls machen Josephus’ Schilderungen an keinem 232

Diese Differenzierung nimmt Kunkel (1968), S. 266 vor; vgl. a. S. 298. Kunkel wendet sich vor allem gegen die Analyse von Crook (1955), der zu sehr die Parteilichkeit des kaiserlichen Consiliums betone, wenn sich der Kaiser, obgleich ihm bei Auswahl der Beisitzer der ganze Senat zur Verfügung gestanden habe, allein auf die Hinzuziehung persönlicher Freunde und Mitarbeiter beschränkt habe; vgl. Kunkel (1968), S. 263 mit A. 8. Man kann diesbezüglich auf die bereits (engl. Orig. 1939) von Syme (2002), S. 422 f., vorgenommene Differenzierung zurückgreifen, nämlich daß Agustus zum einen einen ständigen Senatsausschuß mit geregelt wechselnder Mitgliedschaft schuf, zum anderen aber noch zusätzlich verschiedene juristische consilia sowie weitere Beratungsgremien einberief, deren Mitglieder je nach den Anlässen wechselten, wobei einige bedeutende und repräsentative Persön-

3. Provinziale, die Statthalter und der Kaiser in Rom

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Beispiel deutlich, daß es die Fachkompetenz bestimmter Leute gewesen wäre, die vom Kaiser gesucht und berücksichtigt wurde. Vielmehr war es stets die Berücksichtigung persönlicher Günstlingsbeziehungen, die unabhängig vom jeweiligen Sachverhalt der Streitfälle bestanden und schließlich den Ausschlag für ein kaiserliches Urteil gaben. Wenn sich nun ein Statthalter bei Ausübung seiner Strafgewalt zu entscheiden hatte, z. B. gegen eine bestimmte Volksgruppe in der von ihm beaufsichtigten Provinz vorzugehen, dabei aber die Möglichkeit der betroffenen Volksgruppe bestand, sich darüber beim syrischen Statthalter zu beschweren mit der möglichen Folge, daß dieser dem Kaiser darüber berichtete oder sogar den judäischen Statthalter selbst vor das Kaisergericht stellte, so muß man annehmen, daß es für den judäischen Statthalter wichtig gewesen sein mußte, über die persönlichen Günstlingsbeziehungen am kaiserlichen Hof unterrichtet gewesen zu sein und vor Ausübung der Strafgewalt die jeweiligen Fürsprecher oder Günstlinge einer Volksgruppe beim Kaiser mit einzukalkulieren. Am sichersten war es für den Statthalter, wenn er selbst den Schutz eines einflußreichen Freundes oder Verwandten genoß, der dem Kaiser nahestand. Da der judäische Statthalter vom Kaiser eingesetzt und diesem persönlich verpflichtet war, von ihm auch abgesetzt, befördert oder verbannt werden konnte, mußte der Statthalter bei Ausübung seiner Amtsgewalt und insbesondere der Strafgewalt darauf bedacht gewesen sein, welche Rückwirkungen seine Entscheidungen am kaiserlichen Hof haben konnten. Hier bündelten sich die Verpflichtungen und Beziehungen von Informanten, Günstlingen und Höflingen mit ihren jeweiligen Interessen und verwandtschaftlichen Beziehungen. Selbstverständlich galt dies nicht für sämtliche statthalterliche Entscheidungen im Rahmen seiner Strafgewalt, aber eben für die wichtigsten: Fälle, bei denen es zu größerem Massenprotest der Provinzialen, wenn nicht zum Aufstand gegen die römische Herrschaft kommen konnte, die den Konflikt zweier Volkgruppen heraufbeschwören konnte, oder solche, welche die freie Religionsausübung oder die Gleichheit des Stadtbürgerrechts betrafen, und jene, in welche herausragende Mitglieder der Provinzialelite involviert waren. Auch wenn der judäische Statthalter die volle Amtsgewalt einschließlich des ius gladii ausübte, so mußte er neben den Einflußmöglichkeiten des Statthalters in Syrien zumindest in den wichtigsten Fällen der Ausübung seiner Strafgewalt das politische Zentrum in Rom bei seinen Entscheidungen berücksichtigen.

lichkeiten und Mitglieder der regierenden Familie bei den meisten Beratungen zugegen waren. Also auch hier gilt das Prinzip der pragmatischen Variation in bezug auf die Heranziehung eines Consiliums.

VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth Eine Untersuchung zur statthalterlichen Strafgewalt in Judäa wird die Kreuzigung Jesu von Nazareth unter Pontius Pilatus nicht übergehen können, handelt es sich aus heutiger Sicht nicht nur um das folgenreichste Todesurteil der antiken Geschichte, sondern auch um das Paradebeispiel eines provinzialen Strafprozesses gegen einen Peregrinen zur Zeit des Frühprinzipats, auf das in der alt- und rechtshistorischen Forschung immer wieder zurückgegriffen wird. Klar ist, daß sämtliche Evangelien keinen Beitrag zur juristischen Aufklärung im Sinne einer exakten Schilderung eines Strafprozesses liefern wollten. Jedoch kann diese Absicht auch anderen antiken Quellen zur frühen Kaiserzeit nicht unterstellt werden; im Vergleich dazu liefern die Passionsberichte sogar noch ungewöhnlich ausführliche Darstellungen. Sicherlich messen die Evangelien dem Tod Jesu einen Sinn- und Bedeutungsgehalt bei, den die damals daran Beteiligten niemals auch nur hätten ahnen können. In diesem Zusammenhang gilt es zu bedenken, daß die „Vergöttlichung“ Jesu wohl erst nach dem Ostererlebnis einsetzte und er sich selbst dazu aller Wahrscheinlichkeit nach niemals eindeutig äußerte. So könnte es sich bei den entsprechenden Stellen in den Evangelien, die ein Bekenntnis zu Jesus mit Anspruch auf göttliche Würde voraussetzen, auch um nachösterliche Rückprojektionen der Gemeinde gehandelt haben. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, daß der Messiasanspruch bei den jüdischen Autoritäten und zumal vor dem Synedrion keine Rolle spielte; im Gegenteil ist davon auszugehen, daß er hier eine religionspolitische Bedeutung hatte, die im Rahmen der Beschuldigungen vor dem Statthalter in einen politischen Herrschaftsanspruch umgemünzt wurde und nach der ersten Ostererfahrung im Rahmen der Kreuzestheologie, Auferstehungslehre und Endzeiterwartung mit neuem Sinn versehen und umgedeutet wurde. Was die genauen Umstände und den Ablauf der Ereignisse um den Tod Jesu anbetrifft, so ist in der Forschung bis auf die Kernaussage, daß Jesus von Pontius Pilatus auf Initiative jüdischer Autoritäten gekreuzigt wurde,1 1 Diesbezüglich kann man sich an die Feststellung halten: „Die Frage nach der ,Schuld‘ am Tode Jesu ist unsachgemäß. Beantworten läßt sich nur die Frage nach der Verantwortung für seine Hinrichtung. Sie liegt bei den Römern, die auf Initiative der jüdischen Lokalaristokratie handelten“, so Theissen/Merz (1997), S. 409; oder anders ausgedrückt Paulus (1985), S. 440: daß „egal, wie sich die Praxis mit

VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

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beinahe alles umstritten. Die Kreuzigung selbst braucht jedoch nicht angezweifelt zu werden, es sei denn man hielte die Evangelien für reine Fiktion ohne historischen Kerngehalt. Zu einem solch radikalen Skeptizismus besteht jedoch kein Anlaß.2 Wohl nicht zufällig begegnen wir in den Passionsberichten in konzentrierter Form denselben Problemen, wie bei den von Josephus überlieferten und hier zuvor behandelten Fällen, seien es die Motive bzw. die Interessenlage des Statthalters, sei es die Rolle lokaler Eliten, d. h. die Frage nach der Mitwirkung des Synedrions, den Einflußmöglichkeiten der Hohepriester, eines Klientelkönigs oder schließlich der Haltung des in Jerusalem anwesenden Volkes. Sieht man einmal von der Tatsache der Hinrichtung Jesu unter dem Statthalter Pontius Pilatus ab, so bleiben aufgrund der widersprüchlichen Quelleninformationen viele Fragen offen. Auch hier wird keinesfalls der Anspruch auf eine endgültige Rekonstruktion der letzten Tage und Stunden Jesu erhoben, zumal die unzähligen und gegensätzlichen Hypothesen in der Forschungsliteratur bereits Zeugnis von der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens ablegen. Allein diese zu referieren, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.3 einem Nebeneinander von rechtlichem und faktischem ius gladii arrangiert hatte – der Bericht von der Auslieferung Jesu durch das Synedrium an Pilatus mit dem Ziel, seine Verurteilung und Hinrichtung zu erreichen, historische Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann.“ Zur „Wer-hat-Schuld-Literatur“ vgl. Horsley (1994), S. 401–404; Brown (1994), Bd. 1, S. 383–397. 2 Dies ist vor allem der Fall aufgrund der bereits in anderem Zusammenhang (hinsichtlich der problematischen Prokurator-Titulatur) diskutierten Stelle bei Tac., Ann. 15,44,3 im Anschluß an seine Schilderung vom Brand Roms und den Christenverfolgungen Neros im Jahre 64: Auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfestus erat. Zu anderen paganen Referenzen vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 381–383. 3 Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die jeweils einschlägige Literatur detailliert zu erörtern. Dann hätte zu jedem zitierten Satz der Evangelien ein überbordender Anmerkungsapparat hinzuzufügt werden müssen. Statt dessen verweise ich auf das zweibändige Monumentalwerk von Brown (1994), in welchem dieses Unterfangen in bisher unüberbotener Weise unternommen wurde. Unvermeidbar selektiv verweise ich darüber hinaus auf einige Untersuchungen, die besonders pointiert bestimmte Forschungspositionen wiedergeben. Allgemein bieten Theissen/Merz (1997), bes. § 14, einen vorzüglichen Überblick über die Forschungsprobleme unter Diskussion des einschlägigen Quellenmaterials. Die ebenso neutrale wie knappe Form ihrer Darstellung kann hinsichtlich der sachlichen Prägnanz wohl kaum überboten werden. Hervorzuheben ist auch die Abhandlung von Bickermann (1935), die nicht nur in ihrer Polemik gegen ältere Forschungen, sondern auch mit Blick auf moderne Veröffentlichungen immer noch eine der hellsichtigsten Untersuchungen darstellt. Eine vom Materialreichtum bestechende und damit immer noch eine der wichtigsten, wenngleich in Teilen m. E. revisionsbedürftige Monographie ist Blinzler (1969). Ebd. S. 22 ff. findet sich auch ein guter Überblick über die ältere Forschung bis Ende der 60er Jahre.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

So ist u. a. umstritten,4 ob es sich überhaupt um einen regulären Prozeß oder nur um ein Verhör oder eine schnelle Standgerichtsbarkeit gehandelt hat; von denjenigen, die von einem Prozeß ausgehen, gibt es unterschiedliche Vermutungen darüber, um welche Verfahrensart es sich gehandelt haben könnte. Außerdem wird darüber spekuliert, welcher formale Straftatbestand nach damaligem Recht zur Verurteilung Jesu geführt haben könnte. Abgesehen von der Unterschiedlichkeit der Erklärungsansätze, in denen entweder mehr die formalen Rechtsgrundlagen oder die herrschaftspragmatischen Gesichtspunkte herausgearbeitet werden, entweder mehr die religiösen oder aber die politischen Implikationen betont werden, gibt es eine ausgedehnte Forschungsdiskussion über die Mitwirkungsmöglichkeiten jüdischer Autoritäten und über eventuelle Ausnahmeregelungen für eine eigenständige jüdische Kapitalgerichtsbarkeit bei Religionsvergehen.5 War in der Forschung zu Josephus lange der Gegensatz ,Juden vs. Römer‘ bestimmend, so dominierte in bezug auf die Leidensgeschichte Jesu der bereits in den Evangelien angelegte Gegensatz ,Christus vs. Juden‘, und zwar nicht selten mit der Tendenz, die Römer (d. h. Pilatus) weitgehend von der Verantwortung an der Hinrichtung Jesu auszunehmen, um sie möglichst den Juden (d. h. dem Synedrion) anzulasten.6 Jedoch sollte aus der bisherigen Darstellung bereits deutlich geworden sein, daß es sich hierbei 4 Doerr (1920) liefert S. 3–5 eine brauchbare Einteilung der älteren deutschen Forschung: 1. die Vertreter der sog. Rechtfertigungstheorie, die im großen und ganzen von einem meritorischen, formal geordneten Verfahren mit sachlich begründeter Erkenntnis ausgingen, wobei man jedoch Zugeständnisse macht, daß Jesus das Opfer von jüdischen Fanatikern wurde, wenn der Statthalter teils aus politischer Rücksicht, teils aus Furcht um die eigene Stellung ihn preisgab; 2. die Anhänger der Inkompetenztheorie gingen davon aus, daß Jesus nicht nach römischen Gesetz gerichtet worden sei, sondern durch einen irreguläres Verfahren unter Anleitung einer anmaßenden jüdischen Schar blinder Fanatiker, mit einigen einflußreichen Priestern an der Spitze, so daß die Hinrichtung einen Justizmord darstelle; 3. hält dagegen eine ,dritte Theorie‘ – man könnte sie Rebellentheorie nennen – ein jüdisches Gericht für unwahrscheinlich und nimmt an, daß nur die Römer Jesus richten konnten und ihn wegen seines Messiasanspruchs aus politischen Gründen als Rebellen nach der Denunziation von Juden verurteilten und hinrichteten. Doerrs eigene Darstellung ist ein krudes Gemisch aus Fleiß im Detail, unangebrachten Wertungen und nicht mehr haltbaren Unterstellungen, das auf eine Theorie der Willkürjustiz hinausläuft. 5 Vgl. zur Strafkompetenz der Statthalter und zum Synedrion oben die Abschnitte IV. 3. a) und IV. 4. 6 Auf die Literatur zu den Ursprüngen des christlichen Antijudaismus aus dem Geist der Evangelien oder besser einiger ihrer Interpreten wird hier nicht eingegangen, da solche Themenstellungen zwar etwas über die Wirkungsgeschichte sowie über gewisse Motivationslagen hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Tod Jesu aussagen, jedoch zur Erhellung der zeitgenössischen Umstände kaum beitragen. Als derzeit prominentestes Beispiel vgl. Crossan (1999). Einen Überblick über die zweihundertjährige jüdische Historiographiegeschichte zum Prozeß Jesu einschließlich

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letztlich nicht nur um eine Simplifikation, sondern um eine schlichtweg falsche Perspektive handelt, da hier quasi-nationale Identitäten über vorgeblich homogene Religionsgruppen konstruiert werden, wie sie für die damalige Zeit nicht unterstellt werden dürfen.7 Die Spannungen zwischen den Jesusanhängern und „Juden“, die im Neuen Testament zur Sprache kommen, müssen als Konflikte zwischen innerjüdischen Gruppierungen betrachtet werden, von denen es eine Vielzahl gegeben hat, zumal die allgemeine Bezeichnung ,Christen‘ zur Zeit Jesu noch gar nicht existierte.8 Was die Quellen betrifft, so sei in bezug auf die rabbinische Literatur vorweg betont,9 daß sie aus einer späteren Perspektive seit dem 2. Jahrhundert verfaßt worden ist, was ihre Deutung der Person und des Todes Jesu insofern prägte, als sich die historische Situation des Judentums mit der Zerstörung des „zweiten“ Tempels fundamental gewandelt hatte und mit Ausbreitung des Christentums das Abgrenzungsproblem zwischen Judentum und Christentum zu einem Thema wurde, das zur Zeit Jesu in dieser Weise noch nicht bestand.10 Aus dem selben Grund wird die Tendenz einer „antijüdischen“ und prorömischen Haltung in der christlichen Überlieferung um so deutlicher erkennbar, je später die Abfassungszeit der jeweiligen Evangelien datiert wird.11 Sieht man einmal von den erheblichen Zweifeln ab, ob die rabbinische Literatur überhaupt brauchbare Informationen zum jüdischen Recht und zur Funktionsweise des Synedrions für den Zeitraum vor Zerstörung des zweiten Tempels bietet, finden sich im Unterschied zu den Evangelien – soweit ich sehe – keine verwertbaren Aussagen, die sich direkt auf die Ausübung der Strafgewalt römischer Statthalters bezögen. Insgesamt stellt sich das Problem der Rückprojektion bestimmter Aussagen ihrer jeweiligen zeitgenössischen Implikationen in Auseinandersetzung mit der christlichen Forschung verschafft Catchpole (1971). 7 Vgl. dazu die bestechende Kritik von Horsley (1994), S. 397, 407 f.; 414 f., 418 f., sowie ausführlicher ders. (1993). 8 Die Fremdbezeichnung Christianoi (d. h. im Grunde die „Messiasleute“) ist am frühesten für die Gemeinde in Antiochia (Acts 11,26) erwähnt, wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Caligulaunruhen zwischen 39 und 41 n. Chr.; dazu und zu den „Parteinamen“ vgl. Hengel (1999), S. 207 f., der davon ausgeht, daß sich die Trennung vom Judentum erst im 2. Jh. n. Chr. vollzogen hat. 9 Zur Entwicklung der rabbinischen Literatur nach Zerstörung des 2. Tempels vgl. Schäfer (1983), S. 147 ff. 10 Vgl. Horsley (1994), S. 398. Theissen/Merz (1997), S. 405, zu der jüdischen Quelle bSanh 43a (ebd. S. 83 zitiert), nach der Jesus als Mesith (griech. = planos) hingerichtet wurde, d. h. als jemand, der Privatpersonen zum Götzendienst verführt. Solche Belege „gehören in eine Zeit, in der Juden und Christen sich getrennt hatten und Juden in Jesus einen Verführer sehen konnten, der seine Anhänger von der jüdischen Religion abtrünnig gemacht hat.“ Vgl. ausführlicher zum Jesusbild in der talmudischen Überlieferung Maier, J. (1978), bes. S. 210–235. 11 Theissen/Merz (1997), S. 394 f.

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aus Talmud bzw. Mischna auf die Zeit Jesu jedenfalls noch weit gravierender als das der rückwärtsgewandten Deutungen, wie sie für die Passionsgeschichte der kanonischen Evangelien zu vermuten sind. Wenn allein letztere als Quellengrundlage dienen, so kann darin eine darstellungspragmatische Vorentscheidung für eine Untersuchung gesehen werden, die sich darauf beschränkt, die Frage aufzuwerfen, welches Bild die Passionsgeschichte von der statthalterlichen Strafgewaltspraxis vermitteln und ob dieses im Vergleich zu den Berichten des Josephus als historisch unglaubwürdige gelten muß.12 Eine Besonderheit der Passionsberichte besteht darin, daß sie eine zusammenhängende Ereignisfolge und somit beinahe einen in sich geschlossenen Part bilden,13 bei dem Wundergeschichten im Vergleich zur restlichen Überlieferung weitgehend fehlen. Wann immer die Evangelien ihre endgültige Fassung erhalten haben mögen, so geht eine gut fundierte communis opinio davon aus, daß die Passionsberichte auf frühe Gemeindetradition zurückgehen. Ob die Passionsgeschichte deshalb zum ältesten Teil des Neuen Testament gehört, kann hier offenbleiben; es ist jedenfalls wahrscheinlich, daß sie auf einer sehr frühen und eigenständigen Überlieferung beruht, auf welche die Evangelisten mit je eigenen Akzentuierungen zurückgegriffen haben. Über die jeweilige Datierung der Evangelien sowie über ihre Interdependenzen herrscht in der Forschung keine Einigkeit; hier scheint mir die sogenannte Zweiquellentheorie noch den zuverlässigsten Orientierungsrahmen auch hinsichtlich der je eigenen Darstellungstendenzen in den Passionsberichten zu bieten.14 12 Diese Vorentscheidung betrifft dann freilich auch den Verzicht auf die Erörterung der apokryphen Evangelien. 13 Vgl. Mk 14,43–15,41; Mt 26,47–27,56; Lk 22,47–23,49; Joh 18,1–19,37. 14 Die Zweiquellentheorie wird in beinahe jedem Handbuch zu den Evangelien dargestellt, so daß ich hier nicht eigens auf Literatur verweise. Die Zweiquellentheorie geht davon aus, daß von den drei synoptischen Evangelien Mk das älteste ist (um das Jahr 70 n. Chr.), auf welches dann auch die späteren Evangelien nach Mt (80/90er Jahre) und Lk (zwischen 70 u. 140/150 n. Chr., wobei die letzte Jahresangabe eine extreme Spätdatierung darstellt) zurückgreifen. Darüberhinaus verwenden Mt und Lk noch eine gemeinsame Logienquelle (Q), die sich aus ihnen rekonstruieren läßt, und zudem ein jeweils voneinander unabhängiges Sondergut (Mts; Lks). Von den literarisch partiell voneinander abhängigen synoptischen Evangelien unterscheidet sich deutlich das Johannesevangelium (um 100 n. Chr.) im Darstellungsstil, in der theologischen Ausgestaltung sowie im Jesusbild. Erhebliche Abweichungen in einigen sachlichen Aussagen sind hier auch in bezug auf die Passion Christi im Vergleich zu den synoptischen Evangelien zu finden. Wenn nicht ganz auszuschließen ist, daß Joh Kenntnis mindestens eines synoptischen Evangeliums hatte, scheint er unabhängig von den Synoptikern auf synoptisch geprägte Quellen sowohl in der Erzählform als auch in der Spruchüberlieferung zurückzugreifen. Wahrscheinlich ist auch, daß er auf eine von den Synoptikern unabhängige Passionsüberlieferung zurückgreifen konnte.

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Generell überwiegt in der Forschung zum „Prozeß Jesu“ die Tendenz, jeweils einem der Evangelien größere historische Glaubwürdigkeit einzuräumen, an dem gemessen dann die Informationen aus den anderen Evangelien kritisiert werden: so etwa dem Markusevangelium, weil es schlichtweg als das älteste Evangelium gilt, das den anderen Synoptikern zudem als Vorlage diente, folglich dem historischen Ereignis am nächsten ist und außerdem die kürzeste bzw. „schlichteste“ Erzählung bietet, bei der sich noch nicht in so starkem Ausmaß die Motive der literarischen bzw. kerygmatischen Ausgestaltung eingeschlichen haben; oder aber dem Lukasevangelium, weil Lukas noch am ehesten den Eindruck erweckt, mit den Gepflogenheiten des römischen Rechts und Strafprozesses vertraut zu sein; aber auch das Johannesevangelium findet trotz seines ganz eigenen Charakters Befürworter, da hier noch am deutlichsten die politischen Motive artikuliert werden, welche für die Kreuzigung Jesu eine Rolle gespielt haben könnten. Freilich sind sämtliche Argumentationsweisen angreifbar: Die zeitliche Nähe des Markusevangeliums spricht nicht per se für größere Glaubwürdigkeit; die „Rechtskenntnisse“ des Lukas besagen nichts darüber, ob sie der Vorgehensweise des Statthalters Pontius Pilatus wirklich entsprochen haben oder auch nur ein Mittel der literarischen Ausgestaltung darstellen; schwieriger liegen die Dinge beim Johannesevangelium, bei welchem die „vergeistigten“ Züge15 möglicherweise mehr das Verständnis der hellenisierten bzw. gebildeten römischen Oberschicht ansprechen konnte, zum anderen die Tendenz am deutlichsten erkennbar wird, die Römer, d. h. hier vor allem den Statthalter Pontius Pilatus, von der Verantwortung für den Tod Jesu möglichst auszunehmen, sofern er als jemand beschrieben wird, der allein auf Druck der in Jerusalem weilenden Juden die Hinrichtung Jesu anordnete. Die Favorisierung eines der Evangelien korrespondiert in der Forschung zumeist mit dem jeweils vorwiegenden Erkenntnisinteresse und entsprechenden methodischen Ansatz, wobei die politischen, religionsgeschichtlichen, rechtshistorischen, literaturkritischen, theologischen Motive jeweils gegeneinander ausgespielt werden können. Außerdem besteht ein Dilemma darin, daß im quellenkritischen Vergleich der Evangelien Abweichungen und unterschiedliche Darstellungstendenzen erkennbar sind, die es in methodischer Hinsicht unangebracht erscheinen lassen, diese zu homogenisieren, um zu einem historisch einheitlichen Bild der historischen Ereignisse um den Tod Jesu zu gelangen. Das fundamentale Methodenproblem besteht dann in der unausweichlichen Selektivität der Informationsauswahl, wenn es darum geht, den vermeintlich hinter den Evangelien verborgenen real15 Der „spirituelle Charakter“ des Johannesevangeliums im Vergleich zu den Synoptikern wurde spätestens in der Zeit des Clemens von Alexandria als typisches Merkmal hervorgehoben, vgl. Euseb., Hist. eccl. 6,14,7.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

historischen Gehalt ihrer Aussagen zu bergen, ohne daß sich hierfür objektivierbare Maßstäbe finden lassen.16 Somit bleibt man bei gegensätzlichen Aussagen in den Evangelien auf die Logik verwiesen, entweder die historische Glaubhaftigkeit der Evangelien generell in Frage zu stellen oder sich für eine der Überlieferungen entscheiden zu müssen, da zwei sich widersprechende Bezüge auf den selben Sachverhalt nicht beide wahr sein können.17 Dessen ungeachtet besteht dann aber das Problem, beurteilen zu müssen, warum einige Passionsberichte glaubhafter sein sollen als andere, zumal, wenn sie nicht mit dem übereinstimmen, was wir aus anderen Zeugnissen (wie insbesondere Josephus) wissen.18 Es ist aufgrund der Quellenlage also nicht möglich, Fakten und Fiktionen mit Rücksicht auf historische Realitäten zu unterscheiden.19 Folglich kann es nicht um historische Wahrheit im strikten Sinne gehen, sondern allenfalls darum, welche Informationen aus der Überlieferung historische Plausibilität für sich beanspruchen können, was nicht gleichbedeutend ist mit der Behauptung, daß sich der ,Prozeß Jesu‘ tatsächlich so abgespielt haben muß. Der Status der Aussagen in der neutestamentarischen Überlieferung beruht also darauf, was von den Evangelisten für historisch als wahrscheinlich empfunden wurde, um der Leidensgeschichte Jesu im Rahmen einer Heilsgeschichte einen glaubwürdigen Kontext zu geben. Angesichts der unüberschaubaren Forschungslage muß das folgende Unternehmen äußerst bescheiden anmuten und kann allenfalls dahingehend eine gewisse Originalität beanspruchen, daß der Blickwinkel der Schlußfolgerungen vom Überlieferten auf das Gewesene nicht unerheblich verschoben wird: Im Gegensatz zu zahlreichen Ansätzen soll nämlich gezeigt werden, daß sämtliche der Evangelien hinsichtlich ihrer für die rechtshistori16 Ich verzichte auf redaktionsgeschichtliche Spekulationen im Rahmen der Quellenkritik, sofern sie über die Zweiquellentheorie hinausgehen. Vgl. dazu a. die Kritik von Bickermann (1935), S. 169 f. und McGing (1986), S. 68 f. Aufgrund des missing link zu den etwaigen Quellen der Evangelisten, aus welchen sie ihre Informationen zur Kreuzigung Jesu bezogen, kann sicherlich bei jeder Abweichung zwischen den Evangelien bzw. völlig neu auftauchenden Elementen ein Sondergut, eine redaktionelle Korrektur, eine spezifisch theologische Ausformung, eine verlorengegangene Quelle, eine Verkürzung, ein implizites Wissen, eine Ausblendung oder einfach nur eine unfertige bzw. mangelhaft ausgeführte Darstellung vermutet werden. Statt die Kontingenzen auflösen zu wollen und der Problematik der Quellenüberlieferung zuzuordnen, kann man die Kontingenzen vorweg auch erst einmal akzeptieren und darin einen Nachweis für die Offenheit des historisch Möglichen erkennen, soweit vergleichbare Situationen in anderen Quellen überliefert sind. 17 Vgl. Millar (1990), S. 363. 18 Vgl. Millar (1990) S. 356. Er selbst (S. 355) privilegiert das Johannesevangelium aufgrund seiner größeren Fülle an topographischen Angaben und Details zur jüdischen Gesetzesbeachtung. 19 Vgl. Millar (1990), S. 356.

1. Die Verhaftung Jesu

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sche Forschung einschlägigen Kernaussagen historische Glaubwürdigkeit beanspruchen können.20 Dies hat jedoch weniger damit etwas zu tun, daß die Evangelisten allesamt darum bemüht gewesen wären, die statthalterliche Vorgehensweise gegen Jesu jeweils auf ihre Art in Ausrichtung an die realhistorischen Begebenheiten darzustellen, sondern hängt schlicht damit zusammen, daß – wie hoffentlich aus den vorherigen Kapiteln deutlich geworden ist – der Handlungsspielraum des Statthalters in Ausübung seiner Strafgewalt (zumal gegenüber einem Peregrinen mit geringem sozialen Status) sich so vielfältig und offen gestaltete, daß auch voneinander abweichende Informationen aus den Evangelien für historisch glaubhaft gehalten werden können. Deshalb soll im folgenden nicht darauf verzichtet werden, alle vier kanonische Evangelien heranzuziehen. Das Problem im Fall Jesu besteht darin, daß die politisch-herrschaftlichen, religiösen und/oder strafrechtlichen Gründe, die zu seiner Hinrichtung geführt haben könnten, so miteinander verwoben sind, daß bereits die Gefahr einer Verzerrung sehr groß ist, wenn man vorweg einer bestimmten Begründung den Primat einräumt. Hier geht es nicht darum, Jesus vorschnell als Revolutionär, Räuber, Tempelfrevler, Zelot, Unruhestifter, politisches Opfer, Essener, falschen Propheten, Königsprätendenten, Feind der Sadduzäer oder Pharisäer zu identifizieren.21 In den Evangelien lassen sich jeweils genug einschlägige Anhaltspunkte finden, egal welche These auch immer aus römischer, jüdischer oder christlicher Perspektive verstärkt ihre Bestätigung finden soll. Statt dessen soll im folgenden der in den Evangelien angelegte Interaktions- und Ermessenspielraum des römischen Statthalters am Vergleichsmaterial der bei Josephus überlieferten Fälle ausgelotet sowie den möglichen Entscheidungsmotiven nachgespürt werden. 1. Die Verhaftung Jesu Die Schilderungen der Gefangennahme Jesu in den Evangelien22 stimmen darin überein, daß er nach dem Verrat des Judas Iskariot23 von Män20 So schon Bickermann (1935), dessen Ergebnisse in der Forschung aber entweder nicht ausreichend berücksichtigt oder zu wenig ernst genommen wurden. 21 Zu verweisen ist auf die knapp kommentierte Bibliographie von Evans (1996), S. 219–234, die einen hilfreichen Überblick über die verschiedenen in der Forschung vertretenen Thesen liefert. Speziell zu den Ansätzen, die in Jesus einen Sozialrevolutionär sehen wollen, vgl. Bammel (1984a); kritisch gegenüber solchen Ansätzen Hengel (1973). Prominent wurde vor allem die These von Brandon (1967) u. ders. (1968), bes. Kap. 6, der Jesus zwar nicht selbst den Zeloten zugerechnet wissen möchte, da er unabhängig von ihnen agierte, jedoch über seine feindliche Einstellung gegenüber dem Tempel und der Priesteroligarchie, mit ihnen verwandte Züge aufweise; insbesondere Judas Iskariot könnte Zelot gewesen sein. 22 Vgl. Mk 14,43–46; Mt 26,47–50; Lk 22,47–48; Joh 18,2–8a.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

nern auf Initiative jüdischer Autoritäten und nicht des römischen Statthalters gefangengenommen wurde. Wenn sämtliche Evangelien hierfür nur auf jüdische Ordnungskräfte verweisen und nur Joh 18,2 eine speira erwähnt, so muß dies auch bei ihm keineswegs bedeuten, daß Jesus von einer römischen „Kohorte“ verhaftet wurde,24 obgleich nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, daß römische Soldaten beteiligt waren.25 Eine ganze Kohorte stünde schon aufgrund der knappen Truppenkontingente, die in Judäa stationiert waren, außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit.26 Wenn überhaupt von einer Beteiligung römischer Soldaten ausgegangen werden soll, ist es wahrscheinlicher, daß die Hohepriester zur Unterstützung ihrer eigenen Ordnungskräfte für den Tempel die Hilfe von einigen Angehörigen der römischen Auxiliartruppen erbeten haben könnten.27 Dies wäre nicht erstaunlich, wenn kurz vor dem Passahfest in Jerusalem aufgrund befürchteter Unruhen stets erhöhte Sicherheitsmaßnahmen veranlaßt wurden.28 Die jüdische Obrigkeit hätte in der Anwesenheit Jesu mit seinen Jüngern in Jerusalem ein Unruhepotential erblicken oder diese zumindest als solches hin23

Zu Judas Iskariot vgl. Brown (1994), Bd. 2, Appendix IV, S. 1394–1418. Vgl. dazu den Kommentar von Brown (1994), Bd. I, S. 248 f.: speira entspreche dem lateinischen manipulus (ca. 200 Soldaten), werde aber auch zur Bezeichnung einer römischen Kohorte (ca. 600 Soldaten) gebraucht. Daß Joh das letztere meine, lege der Titel chiliarchos in 18,12 nahe, was dem tribunus militium als dem Kommandeur einer Kohorte entspreche, während derjenige über ein manipulus dem decurio gleichkäme. Die speira werde auch in Mt 15,16 und Mt 27,27 erwähnt, wo die gesamte „Kohorte“ im Prätorium des Pilatus zusammengerufen werde. Vgl. auch Acts 23,23. Catchpole (1971), S. 148–151, schließt aus, daß Römer beteiligt waren; Rensberger (1984), S. 399 mit A. 16, stellt heraus daß Joh immerhin klar zwischen speira und hyperetai der Hohepriester unterscheide, so daß Joh sicherlich darauf abstelle, daß Römer anwesend gewesen seien, ohne daß dies jedoch als Hinweis verstanden werden dürfe, daß dem so war. 25 Bei Mk wie bei Mt ist von einer „Schar von Männern, die mit Schwertern (machaira) und Knüppeln (xylos) bewaffnet waren“ die Rede, die im Gefolge des Judas Jesus festnehmen und von den Hohepriestern und den „Ältesten des Volkes“ (Mt) bzw. „den Schriftgelehrten und den Ältesten“ (Mk) dazu beauftragt waren. Lk spricht anfangs (22,47) nur von einer „Schar Männer“, erwähnt dann aber (22,52) die Anwesenheit von Hohepriestern, die Hauptleute der Tempelwache und den Ältesten und bezieht diese folglich in Abweichung zu Mk und Mt unmittelbar in das Geschehen der Verhaftung mit ein; bei Joh 18,3 heißt es, Judas habe eine „Kohorte“ (speira) und die Gerichtsdiener der Hohepriester und der Pharisäer“ geholt, die mit „Fackeln, Laternen und Waffen“ kamen. 26 Gleiches gilt auch für Mk 15,16: „Die Soldaten aber führten ihn in den Palast und riefen eine ganze speira zusammen.“ 27 Es sei an dieser Stelle nur noch einmal betont, daß sich die Auxiliartruppen bis auf die Offiziere zumeist aus der regionalen peregrinen Bevölkerung rekrutierten, also keine Soldaten mit römischen Bürgerrecht waren. 28 Vgl. dazu oben Fall (8) in Abschnitt V. 1. c) bzw. Joseph., AJ 20,106; BJ 2,224. Vgl. dazu auch Joseph., BJ 7,523. 24

1. Die Verhaftung Jesu

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stellen können, so daß es nicht aus der Luft gegriffen wäre, wenn sich römische Soldaten an der Festnahme beteiligt hätten, ohne erst lange zu fragen, welche konkreten Verdachtsmomente für diese „Polizeimaßnahme“ vorlagen. Da eine Beteiligung römischer Soldaten nur sehr vage bei Joh angedeutet ist, ist es aber wahrscheinlicher, daß allein jüdische Ordnungskräfte die Verhaftung Jesu durchführten, zumal er andernfalls wohl direkt dem Statthalter ausgeliefert worden wäre.29 Ob der/die Hohepriester selbst bei der Verhaftung zugegen war(en) (Lk) oder nur den Auftrag dazu erteilt hatten (Mk, Mt, Joh), kann offen blieben. Interessanter scheint mir der Hinweis auf die Art der Vorgehensweise gegen Jesus, so als gelte es, einen „Räuber“ (lestes) dingfest zu machen.30 Wenn Jesus dabei auf seine Friedfertigkeit und damit auf die unnötige Bewaffnung der Männer anspielt, die ihn festnehmen wollen, so kontrastiert dies immerhin mit dem Bericht bei allen vier Evangelisten, daß mindestens einer der Begleiter Jesu ein Schwert mit sich trug und damit dem Diener des Hohepriesters ein Ohr abschlug.31 Erstaunlicherweise berichten die Evangelien von keiner Gegenreaktion, obwohl es schwer vorstellbar ist, daß die Verletzung eines Dieners des bedeutendsten Mitglieds der provinzialen Oberschicht ungeahndet geblieben wäre.32 An der grundsätzlichen Berechtigung zur Durchführung einer Verhaftung allein auf Initiative jüdischer Autoritäten braucht man keinen Zweifel hegen, sind uns doch ausreichend Belege aus den Schriften des Josephus bekannt, wo Stadtobere oder sonstige Mitglieder aus der provinzialen Oberschicht ausdrücklich aufgefordert waren, an der Strafverfolgung aus eigener Initiative mitzuwirken.33 29 Außerdem gilt es zu bedenken, daß Josephus römische Militärbezeichnungen auch für eindeutig nichtrömische Soldaten verwendet, vgl. z. B. Joseph., BJ 2,11; AJ 17,215. 30 Vgl. Mt 26,55; Mk 14,48; Lk 52. Vgl. dazu Brown (1994), Bd. 1, S. 283 f. 31 Bei allen Synoptikern (Mt 26,51; Mk 14,47; Lk 22,50) ist von einem „Diener (doulos) des Hohepriesters“ die Rede, dem im Rahmen der Verhaftung von einem der Begleiter Jesu das Ohr abgeschlagen wurde; diese Tat wird bei Joh 18,10, vgl. 28,26, Petrus zugeschrieben. Vgl. dazu ausführlich Brown (1994), Bd. 1, S. 265 ff. Die „Bewaffnung“ mit einem Schwert muß dabei noch nicht als Hinweis auf den militanten Charakter eines Teils der Jünger Jesu gedeutet werden, zumal auch von den Essenern überliefert ist, daß sie Waffen für die Reise mit sich führen durften, vgl. Joseph., BJ 2,125. 32 Der Befehl Jesu, das Schwert wieder in die Scheide zurückzustecken (Mt 26,52; nicht bei Mk; in Lk 22,51 heilt Jesus auch sogleich das Ohr – übrigens das einzige „Wunder“ in den Passionsberichten; bei Joh 18,11 geht der Befehl an Petrus), hätte die Männer der Gegenseite kaum beeindrucken müssen. Schneider (1972), S. 291 f., wertet die erstaunliche Tatsache der fehlenden Reaktion des Verhaftungskommandos auf den Schwerthieb als Indiz, daß es sich hier (er untersucht Mk) nicht um eine geschlossene Erzählung gehandelt haben kann, und hält Vers 47 für einen Nachtrag. Vgl. dazu Brown (1994), Bd. 1, S. 274 ff.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

2. Das Verhör vor dem Synedrion Die Evangelien berichten im Anschluß an die Verhaftung von einem Verhör Jesu vor jüdischen Autoritäten, das nach den Synoptikern im Haus/ Palast des Hohepriesters Kaiphas stattfand und als ein Synedrion bezeichnet wird.34 Hierbei wurden zunächst falsche Zeugenaussagen gegen Jesus bemüht,35 die jedoch anscheinend wegen ihrer Widersprüchlichkeit unbrauchbar waren.36 Dies betrifft auch die eigens hervorgehobenen Zeugenaussagen zweier Männer, von denen nur Mk und Mt etwas berichten und welche die Äußerung Jesu betreffen, daß er den Tempel niederreißen und in drei Tagen einen neuen errichten werde; Jesus schweigt zu diesen Aussagen.37 So kommt das Synedrion erst auf die direkte Frage des Hohepriesters Kaiphas an Jesus, ob er der Messias sei, und Jesus dies nicht eindeutig verneinte,38 zu dem (erwünschten)39 Beschluß, ihm blasphemia vorwerfen zu können,40 um hierfür die Hinrichtung41 und Auslieferung an den Statthalter zu fordern.42 33

Vgl. oben Abschnitt V. 1. d). Zum Synedrion unter Beteiligung der „Hohepriester“, „Ältesten (des Volkes)“ und „Schriftgelehrten“ vgl. Mt 26,57; Mk 14,53; Lk 22,66 ohne Erwähnung der „Ältesten“. 35 Vgl. Mt 26,59; Mk 14,55; bei Lk wird die Frage des Hohepriesters vorgezogen und dann (22,71) festgestellt, daß Zeugenaussagen nicht mehr nötig sind. Die Stelle könnte sich auf Dtn 17,6 beziehen, falls hier die Beweisregel impliziert wäre, daß zwei oder drei Zeugen zu übereinstimmenden Aussagen kommen mußten. 36 Mt 26,60; Mk 14,55–57.59. Vgl. dazu Bickermann (1935), S. 184. Ausführlich zu den falschen Zeugenaussagen wegen des Tempelworts vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 430–460. 37 Explizit geht dies nur aus Mk 14,58 f. hervor. Auf die Frage des Hohepriesters, was er dazu zu sagen habe, schweigt Jesus (14,60 f.); aber auch bei Mt 26,61 gibt es Aussagen wegen der Äußerung Jesu zum Tempel, jedoch läßt sich die Falschheit der diesbezüglichen Zeugenaussage nur behaupten, wenn man sie auf den entsprechenden vorrangehenden Satz bezöge. Auch bei Mt ist die Reaktion Jesu das Schweigen (26,62 f.). Zu den zeitgenössischen messianischen Vorstellungen einer Neuerrichtung des Tempels vgl. Bickermann (1935), S. 185–187; er bezieht Messiasanspruch und Tempelaussage direkt aufeinander (S. 187): „La parole de Jésus sur le temple et sa profession messianique sont ici mises en rapport direct, comme une preuve et l’aveu du crime, qui est la prétention messianique. C’est le point d’accusation.“ 38 Bei Mk 14,62 heißt es eindeutig „Ich bin es“; bei Mt 26,64 weniger eindeutig „Du hast es gesagt“; bei Lk heißt es zuerst (22,68), „Auch wenn ich es euch sage – ihr glaubt mir ja doch nicht“, später dann (22,71), „Ihr sagt es – ich bin es“. Zum Messias- und Gottessohnanspruch vgl. ausführlich Brown (1994), Bd. 1, S. 461–515. 39 Daß die Tötung von vornherein beabsichtigt war, unterstellen zumindest Mk und Mt im Rahmen der falschen Zeugenaussagen, die dazu führen sollten; die Tötungsabsicht geht aber auch aus der Judasepisode hervor. Vgl. zum Vorhaben, Jesus zu töten, Grundmann (1984). 34

2. Das Verhör vor dem Synedrion

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Joh gibt demgegenüber eine stark abweichende Schilderung mit dem Hauptmerkmal, daß von einem Verhör vor dem Synedrion keine Rede ist;43 vielmehr entsteht hier der Eindruck einer Befragung über die allgemeinen Lehren Jesu im kleinen Kreis im Hause des ehemaligen Hohepriesters Hannas/Ananos.44 Hier kommt es auch zu einer Züchtigung. Erst darauf wird Jesus (ohne daß Weiteres berichtet würde) zunächst an dessen Schwiegersohn und amtierenden Hohepriester Kaiphas übersandt, um ihn von dort wiederum zum Prätorium des römischen Statthalters zu bringen.45 Abgesehen davon, daß Joh und Lk von einem „Todesurteil“ des Synedrions nichts berichten, scheint es auch im Hinblick auf die beiden anderen Evangelien keineswegs zwingend, von einer institutionalisierten Gerichtssituation beim Verhör Jesu vor dem Synedrion auszugehen,46 bei dem es 40 Bickermann (1935), S. 176–180, stellt fest, daß sich um den Begriff blasphemia über die Übersetzungen in die Vulgata Mißverständnisse eingeschlichen hätten, da das griechische Wort keinesfalls nur ein Vergehen gegen eine Gottheit impliziere, sondern allgemein eine Beleidigung gegen wen auch immer. Auch bei Mk habe es nicht die Bedeutung eines Sakrilegs, sondern allgemein von „ourtage, affront“. Vgl. zum Blasphemievorwurf auch Brown (1994), Bd. 1, S. 520–547. 41 Vgl. Mt 26,66; Mk 14,64; bei Lk ist kein „Todesurteil“ erwähnt, sondern er geht direkt zur Anklage bei Pilatus über. Wäre Jesus wegen Blasphemie nach Lev 24,16 hingerichtet worden, so hätte er gesteinigt werden müssen. 42 Vgl. Mt 27,1 f.; Mk 15,1; Lk 23,1. 43 Zur Auslassung des Synedrions bei Joh vgl. Rensberger (1984), S. 400; Bikkermann (1935), S. 219–222; 44 Vgl. Joh 18,13; aus 18,15 geht hervor, daß es sich um den „Palast des Hohepriesters“ gehandelt hat. 45 Vgl. Joh 18,24. 28. 46 Vgl. zur Abgrenzung von meinem Ansatz die Zusammenstellung der Forschungsansätze Theissen/Merz (1997), S. 404 und 393 f.: 1. Von der Geschichtlichkeit des Prozesses vor dem Synedrion gehen sowohl Blinzler (1969) als auch Strobel (1980) aus. Während Blinzler (S. 216–229) vermutet, daß Jesus nach sadduzäischem Recht verurteilt wurde, das direkt auf die Thora zurückgreift und härter war als das pharisäische, das in die Mischna aufgenommen wurde, meint Strobel (S. 46– 61, 85 u. ö.), daß auch das pharisäische Recht in Geltung stand, jedoch nicht zur Anwendung kam, weil gegen Jesus ein „außergewöhnliches Strafverfahren“ angestrengt wurde; dieses Verfahren sei in der späteren talmudischen Literatur mehrfach bezeugt. Vgl. Blinzler (1969), S. 204 ff., der diese Stellen jedoch für reine Fiktion zur Rechtfertigung früherer, nicht „rechtmäßig“ durchgeführter Prozesse hält. Für Blinzler ist Jesus vom Synedrion zum Tode verurteilt worden, jedoch sei dieses zur Vollstreckung auf das Einverständnis des Statthalters Pilatus angewiesen gewesen. 2. Ein älterer Ansatz, den besonders Lietzmann profiliert hat und der später auch von Winter (1974) vertreten wurde, geht gerade deshalb von der Ungeschichtlichkeit des Prozesses Jesu vor dem Synedrion aus, da es zu seiner Zeit die unbeschränkte Kapitalgerichtsbarkeit besessen habe und Jesus durch Steinigung hätte hinrichten lassen können. Da Jesus aber gekreuzigt wurde, sei seine Beteiligung unhistorisch. Obwohl seinerzeit einflußreich, gilt diese These in der heutigen Forschung als unhaltbar. 3. Ferner wurde vermutet, vgl. Gnilka (1979), S. 284–288,

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

zu einem förmlichen Urteil auf Grundlage jüdischen Rechts gekommen wäre.47 Auch die griechische Formulierung kann hierfür nicht als Beleg angeführt werden, da sie nicht im technischen Sinne als „Strafurteil“ verstanden werden muß, sondern einfach als Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses nach beratender Untersuchung.48 daß ein Verhör vor dem Synedrion im Fall Jesu später zu einem Prozeß umstilisiert wurde. Historisch sei das Verhör Jesu durch Hohepriester und einige Mitglieder des Synedrions, das der Vorbereitung einer Anklage vor Pilatus diente. Unter dem Eindruck der Zeit von 41–44 n. Chr. wurde dieses Verhör umgestaltet, als jüdische Instanzen das ius gladii besaßen und auch Christen wie Jakobus (Acts 12,1 f.) hinrichteten. Aus dieser Erfahrung sei dann das Verhör Jesu zu einem regulären Prozeß umgedeutet worden. 4. Schließlich wurde davon ausgegangen, daß wegen der zeitlichen Unstimmigkeiten in den Evangelien mehrere getrennte Vorgänge zu einem Prozeß verschmolzen wurden. So vertritt Brown (1994), Bd. 1, S. 362 f., 553 ff. die These, daß eine formelle Sitzung des Synedrions mit Beschluß der Tötung Jesu bereits lange vor seiner Inhaftierung stattgefunden habe (vgl. Mk 11,18; 14,2 f.; Joh 11,47 ff.), es jedoch erst nach der Gefangennahme zu einem Verhör kam. Mk habe die Vorgänge zu einer kerygmatisch beeindruckenden Erzählung verschmolzen. 47 In der Forschung wurden diesbezüglich vor allem vier Anklagepunkte nach jüdischem Recht geltend gemacht, die für das Vorgehen des Synedrions gegen Jesus eine Rolle gespielt hätten: 1. die Tempelweissagung, vgl. dazu insbes. Müller (1988); 2. die falsche Prophetie und Verführung des Volkes, vgl. Strobel (1980), S. 81 ff.; 3. der Messiasanspruch Jesu; vgl. Blinzler (1969), S. 186–197; Betz (1982), 633 ff.; 4. der Anspruch auf göttliche Würde, vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 520–527, 531 ff. Vgl. die Zusammenstellung bei Theissen/Merz (1997), S. 405 f., mit Verweis auf die jeweils einschlägigen jüdischen Quellen. Ebd. wird geltend gemacht, daß die Tempelweissagung vor Pilatus keine Rolle spielen konnte, da der Statthalter gewiß kein „Eiferer“ für die Heiligkeit des Tempels war und diese für ihn allenfalls eine innerjüdische Angelegenheit darstellte. Die Belege zur falschen Prophetie und Verführung des Volkes gehörten in die Zeit der Trennung zwischen Judentum und Christentum. Der Messiasanspruch erfüllte nach jüdischem Recht nicht den Straftatbestand der Gotteslästerung, hatte jedoch politische Brisanz, der auch für das Synedrion eine Rolle gespielt haben könnte, und zwar unabhängig davon ob Jesus selbst den Messiasanspruch erhob oder dieser ihm nur unterstellt wurde. Zumindest habe er sich, da er als „König der Juden“ hingerichtet wurde, nicht eindeutig von messianischen Erwartungen, die auf ihn gerichtet waren, distanziert. Wenn der Messiasanspruch noch keine Blasphemie war, so eventuell doch der Anspruch auf „göttliche Würde“ (vgl. Joh 19,7; Mk 14,62), wobei dies im Kontext der „Vergöttlichung“ als nachösterliches Bekenntnis gesehen werden müsse. 48 Zur Formulierung: Mk 14,64 „Sie aber verurteilten ihn alle, daß er des Todes schuldig sei“; Mt 26,66: „Was ist eure Meinung? Sie antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig“. Bickermann (1935), S. 181, betont auch hier, daß es sich um eine Verengung des griechischem Verbs durch die Vulgata-Übersetzung handelt, da kategorein nicht nur strafrechtliche Bedeutung hatte, sondern nach dem etymologischen Sinn als iudicare adversus aliquem verstanden werden könnte; vgl. Mt 12,41; Lk 11,31; Joseph., AJ 3,308. Wenn das Synedrion ausspreche, Jesus sei enochon thanatu, so heiße dies keineswegs, daß die Todesstrafe ausgesprochen wurde, sondern allenfalls, daß er die Todesstrafe verdient habe; vgl. ebd. S. 181 f. mit Vergleichsbelegen. Deshalb sei zu übersetzen (S. 183), „tous se prononcèrent contre lui

2. Das Verhör vor dem Synedrion

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Sämtliche Evangelien berichten, daß unabhängig vom nächtlichen Verhör am frühen Morgen der Beschluß gefaßt wurde, Jesus dem Statthalter zu überstellen, wobei im Detail aber Abweichungen festzustellen sind: Mk erweckt am deutlichsten den Eindruck, als handle es sich um einen abermaligen Beschluß des Synedrions, der mit dem nächtlichen Verhör nur mittelbar etwas zu tun hat; bei Lk wird Jesus zwar nach seiner Verhaftung in das Haus des Hohepriesters gebracht und dort von Wächtern verspottet, jedoch wird die Versammlung des Synedrions nur für den nächsten Morgen erwähnt, an welchem dann auch das Verhör stattfindet. Lk steht damit im größten Gegensatz zu Joh, der nur von einem nächtlichen Verhör und der morgendlichen Auslieferung berichtet, jedoch nichts von einem morgendlichen Synedrion, dessen „Strafurteil“ und „Überstellungsbeschluß“. Zusammengenommen vermitteln die Evangelien also kein einheitliches Bild über einen vermeintlichen „jüdischen Strafprozeß“.49 Löst man sich hingegen von prozeßrechtlichen Vorstellungen,50 braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, daß die erwähnten Mitglieder des Synedrions die Mitverantwortung zur Aufsicht über die Verhältnisse in Jerusalem und der Provinz hatten, zumal wenn es um militant religiöse „Bewegungen“ oder einzelne Unruhestifter ging, für die der römische Statthalter wohl ebenfalls wenig Verständnis übrig hatte. In diesem Rahmen konnten die Hohepriester eigene Untersuchungen einschließlich Befragung und gegebenenfalls auch Züchtigung ausüben, ohne daß es sich deshalb um ein förmliches Gerichtsverfahren gehandelt haben müßte. Andernfalls sieht man sich entweder gezwungen, davon auszugehen, daß das Verfahren vor dem Synedrion keinen prozessualen Beschränkungen (förmliche Anklage, Abstimmung etc.) insbesondere im Hinblick auf die dominierende Stellung des comme ayant mérité la mort.“ Daß das Synedrion kein kapitales Strafurteil ausgesprochen haben kann, verdeutlicht Bickermann dann noch einmal umfassend am Vergleichsmaterial S. 188–193; vgl. speziell zum Lukasevangelium S. 202–204. 49 Da es mehr als zweifelhaft ist, ob Informationen aus der späteren rabbinischen Literatur einen Kontrollmaßstab für die Richtigkeit der Evangelienberichte bieten, seien sie hier nur kurz erwähnt: Nach der Mischna Sanhedrin 4,1, u. a. durften Kapitalprozesse nur am Tage stattfinden, außerdem nicht am Sabbat und an Festtagen, Todesurteile durften erst durch erneute Sitzung des Synedrions am darauffolgenden Tag gefällt werden; vgl. dazu ausführlicher Brown (1994), Bd. 1, S. 357–363; Theissen/Merz (1997), S. 403–407. 50 McLaren (1991), S. 101, meint, diese Formalisierung sei von den Evangelisten selbst so gewollt, „simply because the people involved had the ability to achieve their aim. Furthermore, the references to the synedrion are a Christian embellishment. The Evangelists are not aware of the exact charge laid against Jesus, if there was one, and they do not seek to make a distinction between religion and politics. A public threat to certain people’s status, based on doctrinal differences, was readily expressed in terms which suggested that the established temporal order was threatened.“

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

Hohepriesters unterlag oder daß es diese sehr wohl gegeben haben könnte, die Quellen darüber jedoch nichts berichten. Letztes Argument läßt sich freilich unter Entwertung der Quelleninformationen immer behaupten; nimmt man diese jedoch ernst, so könnte sich in Verbindung mit den einleitenden Überlegungen zum Synedrion51 folgendes Bild ergeben: Ein Hohepriester (der amtierende oder ein vormaliger) ruft das Synedrion ad hoc zusammen, um gegen jemanden vorzugehen, bestimmt dabei maßgeblich die Beteiligten bzw. Mitglieder des Synedrions und bleibt die dominierende Figur, kann Zeugen sowie den Beschuldigten befragen, letzteren dabei auch züchtigen, wobei die anderen Mitgliedern des Synedrions allenfalls eine konsultative, jedoch keine richterliche Funktion innehaben. Somit könnte man zu der Vermutung gelangen, der Hohepriester agiere in Verbindung mit dem Synedrion wie ein Statthalter mit seinem Consilium und könne gegen jüdische Peregrine aufgrund seiner autoritativen Stellung vom Züchtigungsrecht ähnlich wie der Statthalter im Rahmen seiner Koerzitionsgewalt Gebrauch machen. Betrachtet man das Verhör Jesu vor dem Synedrion auf diese Weise, läßt sich die Hypothese vertreten, daß es sich im Fall Jesu weniger um einen förmlichen Prozeß mit einer von Rom eingeräumten Gerichtsbarkeit handelte, sondern um eine Art „Sicherheitsmaßnahme“ im Rahmen einer zugestandenen „Aufsichtspflicht“ des Hohepriesters gegenüber jüdischen Provinzialen, sofern sie keine römischen Bürger waren. Dann hätte es sich um eine Art „Voruntersuchung“ gehandelt,52 zu deren Berechtigung die Genehmigung des Statthalters nicht eigens eingeholt werden mußte, sondern im Rahmen der Kooperation zwischen dem Stellvertreter des Kaisers und der privilegierten Priesteroligarchie einfach vorausgesetzt wurde.53 Daß die kritische Grenze dieser Kooperation in der Vollstreckung von Todesurteilen lag, haben wir bereits in den von Josephus überlieferten Fällen kennengelernt.54 Im Fall Jesu wird jedenfalls nichts über den Plan einer eigenmächtigen Vollstreckung des Todesurteils berichtet; dagegen ist die Auslieferung an den römischen Statthal51

Siehe oben Abschnitt IV. 4. Vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 344, 348–350. 53 Damit aber auch gegen Heusler (2000), S. 45, die völlig konträr zu den Informationen des Lukasevangeliums in falscher Analogisierung zu Acts 22,30 auch für den Prozeß Jesu einfach behauptet, daß das jüdische Synedrion „zu keinem Zeitpunkt ein eigenständiges Unternehmen der jüdischen Führer war“, sondern von vornherein in das „Vorgehen der römischen Obrigkeit gegen den Delinquenten“ eingebunden war; dies sei ein „erster Teil des großen römischen Prozesses gegen Jesus“. 54 Daß es hierbei auch zur stillschweigenden Duldung von Kompetenzanmaßungen kommen konnte, betonen Müller (1988), S. 51; Bickermann (1935), S. 188–192. Vgl. oben den Fall (13) der Steinigung des Jakobus in Abschnitt V. 1. d) sowie allgemein Abschnitt IV. 4. 52

3. Jesus vor dem Statthalter Pilatus

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ter durch alle vier Evangelien bezeugt.55 Der Zeitpunkt der Auslieferung könnte damit zusammenhängen, daß die jüdischen Autoritäten zum einen ihr Verhör nicht auf den Sabbat fallen lassen wollten, weshalb es auch in der Nacht oder am frühen Morgen zuvor stattfand; zum anderen damit, daß sie die Anwesenheit des Statthalters zu einem Gerichtstag am Passahfest ausnutzen wollten, bevor dieser wieder nach Cäsarea in seine Residenz zurückkehrte.56 3. Jesus vor dem Statthalter Pilatus Alle vier Evangelien berichten, daß Jesus nach seiner Auslieferung vom Statthalter gefragt wurde, ob er der König der Juden sei.57 An dieser Stelle zeigt sich im Übergang vom Verhör durch den Hohepriester zu demjenigen durch den römischen Statthalter eine Art „Übersetzung“ der Anschuldigung von jüdischen zu römischen Kriterien, da nicht vorausgesetzt werden kann, daß der Statthalter sich für innerjüdische Religionsstreitigkeiten interessierte, außer wenn dahinter eine offenkundige Bedrohung der öffentlichen Ordnung erkannt werden konnte.58 Genau an diesem Punkt der „Übersetzung“ setzt die abweichende Ausgestaltung des weiteren Ablaufs der Untersuchung vor Pilatus in den Evangelien ein. Bezeichnenderweise eignet sich gerade der Königsanspruch sowohl für eine religiöse als auch politische Interpretation, weil der Messiasanspruch, um dem es ausdrücklich noch vor dem Synedrion (außer bei Joh) gegangen war, in einen weltlichen Anspruch auf Königsherrschaft umgemünzt werden konnte, demgegenüber auch der römische Statthalter hellhörig gewesen sein dürfte.59 Wie wir aus 55 Vgl. parallel dazu die oben bei Josephus geschilderten Fälle: (4) ohne daß wir wüßten, wer Tholomäus ausgeliefert hat; (10) zu den Folgen der Unterlassung einer Auslieferung durch Dorfobere; am wichtigsten erscheint der Vergleich mit Fall (11), wo ein anderer Jesus von Gemeindeobersten ob seiner Unglücksprophetie an den Statthalter Albinus ausgeliefert wird. Vgl. Brown (1994), Bd. 1, 246–252; Bickermann (1935), S. 188 f. 56 Vgl. Kinman (1991), S. 295. Zur Anwesenheit des Statthalters in Jerusalem am Passahfest vgl. die Fälle (8) und (18) bei Josephus. 57 Vgl. Mt 27,11; Mk 15,2; Lk 23,3; Joh 18,33. Bei Mk gebraucht Pilatus die Bezeichnung „König der Juden“; zudem bei seiner Befragung des Volkes im Rahmen des Begnadigungsaktes, und zwar einmal als einfache Nennung (15,9), sodann (15,12) mit dem Hinweis, daß er vom Volk so genannt würde. Bei Mk 27,22 heißt es dagegen, „von dem gesagt wird, er sei der christos“. 58 Die Aufgeregtheit bei Blinzler (1969), S. 245 ff., daß die Juden mit Auslieferung den Anklagepunkt verändert hätten, erscheint mir heute keiner Erörterung mehr wert. Vgl. dagegen Bammel (1984c), S. 417 ff. 59 Während hier die Verquickung des religiösen Messiasanspruchs mit dem politischen Königsanspruch bei allen Evangelien festzustellen ist, kommt dies am deutlichsten bei Joh zum Tragen: zum einen wird Todesstrafe nach jüdischem Gesetz

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den Berichten des Josephus wissen, lassen sich mit der Königstitulatur zwei Bereiche in Verbindung bringen: Erstens die eschatologische Heilserwartung auf ein von Gott sanktioniertes Königtum im Rahmen der Bundestheologie zwischen Jahwe und dem auserwählten Volk, wie sie in unterschiedlichen Ausprägungen bei diversen jüdischen Gruppierungen auch zur Zeit Jesu existierten,60 wobei sich auch radikal-militante Gruppen im Widerstand gegen die römische Fremdherrschaft formiert hatten;61 zweitens die Tatsache, daß sich „Räuber“ aus welchen Motiven auch immer (seien sie religiöser oder einfach materieller bzw. herrschaftlicher Art) in der Zeit der Thronfolgekämpfe nach dem Tod des Herodes königliche Attribute zugelegt und den Römern bereits vor Errichtung ihrer direkten Herrschaft in Judäa schwer zu schaffen gemacht hatten.62 Freilich können beide Aspekte auch als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden, da der Anspruch auf ein „messianisches Königtum“ schlicht als „Räubertum“ diffamiert werden konnte, und zwar nicht nur aus Sicht der Römer oder eines Josephus, sondern auch bei der kooperationsbereiten, religiös gemäßigten jüdischen Oberschicht, besonders der Priesteroligarchie, die in enger Beziehung zum Statthalter stand und durch den Messianismus ihre eigene privilegierte Stellung in Frage gestellt sehen konnte.63 Jedenfalls muß die Anklage bzw. Beschuldigung gegenüber Jesus, d. h. der Anspruch, König der Juden zu sein, als Strafgrund, in welchem sich politische und religiöse Motive verschränken, von vornherein ernst gebei Anmaßung der Gottessohnschaft ausdrücklich erwähnt (19,7), zum anderen aber auch der politische Grund der Königsanmaßung nach römischen Recht geltend gemacht, vgl. 19,12. 15. 60 Vgl. oben den Abschnitt V. 1. Vgl. Rensberger (1984), S. 398; McGing (1986), S. 57 ff.; Horsley (1984), S. 484 ff.; Schumann (1965), S. 319 f.; Stegemann, W. (1996); Bammel (1984b). 61 Inwieweit solche Vorstellungen stärker in den ärmeren Schichten der Landbevölkerung verbreitet waren als in jenen der hellenisierten Städte, braucht hier nicht erörtert werden; zumindest läßt sich eine Spannbreite von einer apolitisch-quietistischen Variante bei den Qumran-Essenern über die Täuferbewegung des Johannes bis hin zu militanten Gruppen eines Judas aus Galiläa zeigen, wie sie uns von Josephus überliefert sind. Vgl. a. Mk 15,43 mit Erwähnung des Josef, einem Ratsherrn aus Arimathäa, „der auf das Reich Gottes wartete“ (vgl. Lk 23,50 f.; Mt 27,57 und Joh 19,38), was darauf hindeutet, daß die messianische Endzeiterwartung auch bei der städtischen Honoratiorenschicht verbreitet war. 62 Vgl. oben Abschnitt V. 1. b); dazu Müller (1988), S. 80–82. Die Diffamierung Jesu als Räuber entspringt freilich mehr späteren antichristlichen Polemiken als dem Neuen Testament selbst, vgl. dazu Horbury (1984). 63 Es wäre ein eigenes Unterfangen, diese „Legitimationskrise“ der jüdischen Priesteraristokratie aus der Sicht der Evangelisten darzustellen. Zum Verhältnis zwischen Priesteraristokratie und den Lehren Jesu im Kontext der Herrschaftsstruktur vgl. Horsley (1993); Borg (1972). Zu den Verbindungen zwischen Jesusanhängern und Zeloten vgl. Bammel (1984b), S. 115 f., 122 ff.

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nommen werden, und zwar unabhängig davon, welche Haltung Jesus selbst einnahm oder inwiefern die jüdischen Autoritäten diesen Vorwurf nur instrumentalisiert haben könnten, um sich eines religiösen Gegners zu entledigen. Daß hierin der historische Kern einer Anklage gegen Jesu besteht, bezeugt nicht zuletzt die von allen Evangelisten überlieferte Tatsache der Kreuzesinschrift, welche den Grund der Hinrichtung Jesu angegeben haben soll.64 Für ihre Historizität spricht nicht nur, daß sie eindeutig aus römischer Perspektive formuliert ist, sondern vor allem, daß sie konträr zur urchristlichen Gemeindetheologie bzw. einer Christologisierung steht, die von den Evangelisten zu erwarten wäre.65 Somit steht dieses Motiv bei allen vier Evangelisten sowohl am Anfang als auch am Ende der Passionsgeschichte und kann als der historischer Rahmen betrachtet werden, welcher von den Evangelisten unterschiedlich ausgestaltet wird.66 Um die Varianzbreite der Ausübung der statthalterlichen Strafgewaltspraxis im Fall Jesu auszuloten, erscheint es sinnvoll, die Evan64 Vgl. Mk 15,26; Mt 27,37; Lk 23,38; Joh 19,19–22. Die Angabe des Strafgrundes auf einem Schild ist auch anderweitig belegt, vgl. Suet. Calig. 32,2; Dom. 10,1; Cass. Dio 54,3,7; Euseb., Hist. eccl. 5,1,44, wenngleich deshalb nicht davon ausgegangen werden kann, daß dies üblich war. Zumindest braucht der titulus crucis nicht als Dichtung betrachtet werden. Zur Wiederentdeckung der sog. Jesus-Tafel im Jahr 325 in Jerusalem, die dann über verschlungene Pfade ihren Weg als Reliquie in die Basilika S. Croce in Rom gefunden haben soll, vgl. Hesemann (1999); über die Echtheit und Bewertung des Fundes kann ich mir hier kein Urteil anmaßen. 65 Für Becker (1996), S. 435 f., zählt die Kreuzesinschrift zum Kernbereich der Überlieferung unter dem Stichwort „König der Juden“; wer hingegen aufgrund ihrer Unüblichkeit die Historizität der Inschrift verneine, verlagere die Erklärungsbedürftigkeit des Besonderen nur an eine andere Stelle. Deshalb könne man auch sagen: „Weil solche Inschriften nicht üblich waren, enthielt sie im Falle Jesu historische Erinnerung. Dies galt gerade auch, wenn man den Inhalt der Inschrift bedenkt.“ Außerdem sei der Ausdruck „König der Juden“ im Passionsbericht mehrfach, außerhalb desselben jedoch nur noch in Mt 2,2 erwähnt; ferner gebe es nirgendwo in der urchristlichen Christologie einen Hinweis darauf, daß er traditionsbildend gewirkt hätte. Schließlich spreche für die Historizität, daß sie so wiedergegeben ist, als habe ein Nichtjude einen jüdischen Prätendenten für ein Herrscheramt korrekt bezeichnet; andernfalls, d. h. aus jüdischer Sicht, hätte es „König Israels“ heißen müssen. Vgl. auch Hengel (1992), der von der Annahme eines messianischen Selbstverständnisses Jesu ausgeht, an welches sich (über Dan 7) diverse Erwartungen richten konnten: von rein religiöser Erneuerung bis hin zur politische Befreiung. Die Anklage „König der Juden“ könne hingegen keine Gemeindetheologie sein, weil damit letztlich der Schuldspruch gerechtfertigt wurde, daß Jesus wegen politischem Aufruhr hingerichtet wurde. Vgl. auch Maier, P. L. (1996), der den titulus ebenfalls für authentisch hält, da christologische Aussagen zu erwarten seien, falls er erfunden worden wäre. 66 Dabei überliefern die Evangelisten unterschiedliche Grade der Häme bzw. des Spottes, vgl. Mt 27,28–31. 39 ff.; Mk 15,16–20. 29 ff.; Lk 23,11. 35 ff.; Joh 19,1– 5.14 f.

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gelien nach folgenden Gesichtspunkten zu untersuchen: zunächst im Hinblick auf den Auslieferungsgrund und einer damit einhergehenden Anklage, sodann in bezug auf die Befragung Jesu durch Pilatus, schließlich hinsichtlich der Art der Einflußnahme jüdischer Autoritäten zusammen mit der des Volkes im Rahmen des Begnadigungsaktes zum Passahfest. a) Auslieferungsgrund und Anklage Bei Mt und Mk stellt Pilatus die Frage nach Jesu Anspruch auf das Königtum, ohne daß eine vorausgehende förmliche Anklage ersichtlich wäre. Deshalb muß irgend eine Art von Informierung des Statthalters hinsichtlich des Auslieferungsgrundes schlicht vorausgesetzt werden.67 Erst nachdem Pilatus die diesbezügliche Frage an Jesus gerichtet hat, wird erwähnt, daß die Hohepriester (und Ältesten) ihn anklagten (kategorein), ohne daß dies jedoch präzisiert würde.68 Allein dem Bericht des Lk ließe sich eine vorausgehende förmliche Anklage unterstellen; hier ist es das gesamte Synedrion, das Jesus zu Pilatus führt mit der Anschuldigung: „Wir haben festgestellt, daß dieser das Volks aufhetzt und verbietet, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und behauptet, er sei der Christus und König.“69 Während also bei Mk und Mt die Befragung Jesu durch Pilatus nach der Königsprätention völlig unvermittelt einsetzt, zudem die darauffolgenden Anklagen der jüdischen Autoritäten nicht weiter ausgeführt werden, vermittelt unter den Synoptikern allein Lk den Eindruck einer formellen Anklage. Dabei wird Jesus zum politischen Aufwiegler, seine Steuerverweigerung zeigt die Mißachtung des Kaisers wie der römischen Herrschaft insgesamt, der Königsanspruch untermauert diese Vorwürfe und die religiöse Komponente der Anklage wird nachgeschoben. Besonders der Vorwurf des Steuerboykotts läßt die Vermutung aufkommen, daß Jesus als eine Person hingestellt wurde, die zum Anhängerkreis des von Josephus erwähnten Judas aus Galiläa gehörte, der bei Einrichtung Judäas als römische Provinz dazu aufgerufen hatte.70 Wenn mit der Königs67

Vgl. Bickermann (1935), S. 194–197; Bammel (1984c), S. 417. Vgl. Mt 27,12 (Hohepriester und Älteste); Mk 15,3 (nur die Hohepriester). _ _ 69 Vgl. Lk 23,2: Touton eÖramen diastrݗonta tÎ æqnoò †mwn kaÍ kwlýonta —ürouò Kaßsari didünai kaÍ lÝgonta ŠautÎn XristÎn basilÝa _ e œnai. 70 Vgl. Joseph., AJ 18,4. Bickermann (1935), S. 204, führt die Abweichung des Anklagepunktes darauf zurück, „que Luc a remanié à dessein la relation de Marc selon ses idées sur la juridiction juive et la juridiction romaine, que nous connaissons d’après les récits des Actes et auxquelles l’enchaînement des faits dans la narration du troisième Évangile s’accorde parfaitement.“ Vgl. zur Steuerverweigerung auch Bruce (1984); Schneider (1984). 68

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titulatur der sakrale und weltliche Herrschaftsanspruch miteinander verknüpft werden können, so verdeutlicht die Erwähnung des Steuerboykotts zugleich die Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Kaiser. Beides zusammen stellt eine sich wechselseitig bestätigende Anklage wegen Aufruhrs (seditio) dar, die als maiestas vom Statthalter geahndet werden mußte.71 Dann stellt sich die Frage, ob ein förmlicher Straftatbestand, etwa nach der lex Iulia maiestatis sowie eine förmliche delatio nominis zur Verurteilung und Hinrichtung eines Provinzialen ohne Bürgerrecht und erkennbaren gehobenen sozialen Status überhaupt notwendig war, wie aus dem Lukasevangelium gefolgert werden könnte.72 Ich werde darauf nochmals zurückkommen. Joh vermittelt wie Mk und Mt ebenfalls keine Präzisierung eines Anklagegrundes, der über den Königsanspruch hinausginge. Dieser scheint in dem vorangehenden Gespräch zwischen dem Statthalter und den ausliefernden jüdischen Autoritäten vielmehr verschleiert zu werden, da statt des Strafgrundes nun die Strafkompetenz in den Mittelpunkt gerückt wird. Zwar stellt hier Pilatus eindeutig die Frage, welche Anklage (kategoria) sie gegen Jesus erhöben,73 jedoch bekommt er nur die Antwort: „Wenn er kein Übeltäter wäre, so hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert“; auf die Frage, wes71 An dieser Stelle braucht nicht diskutiert zu werden, inwieweit die schwere Landesfeindschaft (perduellio) im Maiestasdelikt aufgegangen ist. Entscheidend ist, daß Lk als einziger einen Anklagepunkt gegen Jesus formuliert, der unter das crimen leasae maiestatis populi Romani subsumiert werden könnte. Müller (1988), S. 80 f., geht davon aus, daß Jesus wegen perduellio hingerichtet wurde, Lengle (1935), S. 319, daß die Anklage wegen des Anspruchs, König der Juden zu sein, nach römischer Auffassung kein Religionsvergehen darstellte, sondern ein „Staatsverbrechen“ der maiestas minuta, dessen Aburteilung allein dem Statthalter zusteht; vgl. a. Stegemann, W. (1996). 72 Vgl. Paulus (1985), S. 443, zur Anklageerhebung nach römischen Recht, wobei der Anklagende den Magistrat unter Darlegung der Straftat um die Zulassung als Ankläger (delatio nominis) bat, dieser dann den Gegenstand der Anklage (crimen edere) dem Beschuldigten eröffnete und abschließend fragte, ob er sich schuldig bekenne (interrogatio legibus), von dessen Antwort es dann abhing, ob er confessus war oder nicht. Übertragen auf den Prozeß Jesu bedeute dies: „daß beide Evangelisten [gemeint sind Mk und Mt] die delatio nominis nicht erwähnten, sondern nur den – für den Nichtjuristen eigentlich brisanten – Vorgang des direkten Vorwurfs der Juden an Jesus berichten, und das ganze nicht ohne Recht als kategorein bezeichnen. Jesu Geständnis besteht bei dieser Erklärung nicht im sy legeis, sondern in seinem Schweigen.“ Mir erscheinen diese verfahrensrechtlichen Unterstellungen aus bereits dargelegten Gründen zu sehr an den stadtrömischen Quaestionenverfahren ausgerichtet, so daß ich eher dem zweiten Erklärungsansatz von Chr. Paulus zuneige: „Eine andere Erklärung wäre der Hinweis auf die nahezu unbeschränkte Freiheit des römischen Präfekten, das Verfahren nach seinem Belieben zu gestalten.“ _ _ _ 73 Joh 18,29: ™c hlqen ožn _‡ Pil atoò æcw prÎò ažtoÏò kaÍ —hsßn, Tßna kathgorßan —Ýrete [katJ] tou ˜nqrþpou toýtou.

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halb sie ihn dann nicht nach ihrem Gesetz richteten, antworteten sie: „Uns ist es nicht gestattet, jemanden zu töten.“74 Insbesondere der letzte Satz wurde in der Forschung als Bestätigung des Verbots einer eigenen jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit aufgegriffen, obgleich er sich – wie F. Millar hervorgehoben hat – auch nur auf ein religiöses Richtverbot am Vortag des Passahfestes und Reinheitsvorschriften in bezug auf das Betreten des Prätoriums bezogen haben könnte.75 Ansonsten wirft der kurze Dialog in seiner Gesamtheit einige Probleme auf: Zunächst erscheint die Verweigerung einer konkreten Antwort auf die Frage des Statthalters nach dem Strafgrund wie eine Frechheit nach dem Motto ,wir haben schon unsere Gründe, also tu gefälligst deine Pflicht‘; die Reaktion des Pilatus, weshalb sie Jesus nicht nach den Gesetzen der Thora richteten, steht eigenartig isoliert, da im Hinblick auf die konkreten Anschuldigungen noch gar nichts vorgebracht wurde; völlig unglaubwürdig erscheint die Szene, wenn man davon ausginge, der römische Statthalter müßte erst einmal von den jüdischen Autoritäten über seine eigenen Kompetenzen aufgeklärt werden. Der ganze Dialog gewönne nur dann eine gewisse Plausibilität, wenn man unterstellt, Pilatus sei zunächst nicht über den exakten Auslieferungsund Anklagepunkt informiert gewesen und deshalb davon ausgegangen, es handle sich um ein jüdisches Religionsdelikt, das nicht unbedingt die Kapitalstrafe nach sich zog und folglich auch von den jüdischen Autoritäten selbst hätte geahndet werden können. Somit hätte er überhaupt erst aus ihrer Antwort, daß ihnen dies verwehrt sei, darauf schließen können, daß es sich um ein Kapitalstrafdelikt handelte, welches von ihm selbst untersucht werden mußte. Dann ließe sich auch die vorangehende Antwort der jüdischen Autoritäten, sie hätten schon ihre Gründe, dahingehend verstehen, daß sie davon ausgingen, mit der Auslieferung Jesu verstehe es sich von selbst, daß es sich um einen so schweren Fall handle, der nur vom Statthalter gerichtet werden könne. So gesehen wirkt der Dialog merkwürdig konstruiert,76 da er voraussetzt, daß sich entweder die jüdischen Autoritäten _

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Joh 18,30 f.: Eœ _mÌ šn otoò kakÎn poiwn, ožk ån_ soi paredþkamen až_ _ _ œpen o žn ažto iò ‡ Pil atoò, LÜbete ažtÎn_ me iò, _kaÍ katJ tÎn nümon tün. e _ _ _ _ m_wn krßnate ažtün. e œpon [ožn] ažtÃw o \Iouda ioi, ¢Hm in ožk æcestin ˜pokte inai oždÝna . (Hervorheb., GK). 75 Vgl. Millar (1990), S. 374 f., gegen Sherwin-White (1963), S. 32 f. Millar steht damit übrigens im Einklang mit der Deutung von Augustinus, der in seinem Tractatus in Evangelium Iohannis (114,4) anmerkt, daß die Juden niemanden propter diei festi sanctitatem töten dürften. Demandt (1999), S. 38, führt an, daß der Festesfrieden nicht der Grund für die Zurückhaltung gewesen sein kann, da man „nach der Gefangennahme mit der Hinrichtung [hätte] warten können.“ Möglicherweise sollte aber genau dies vermieden werden, falls die Juden die Anwesenheit des Statthalters in Jerusalem nutzten wollten, der ansonsten in Cäsarea weilte; vgl. dazu Kinman (1991). Außerdem ergeben sich dann für die nachfolgend geschilderten Ereignisse Interpretationsprobleme. 74

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oder der Statthalter ihrer jeweiligen Strafkompetenzen nicht richtig bewußt waren. Es ist jedoch überhaupt fraglich, ob Joh ein „rechtshistorisches Verständnis“ im oben angeführten Sinne zu unterstellen ist, da es ihm, wie der darauffolgende Satz zeigt, vor allem darauf anzukommen scheint, daß sich die Art und Weise seines Todes nach Jesu eigener Voraussage erfüllen mußte.77 Sicherlich kann darin ein Anliegen aller Evangelisten gesehen werden,78 jedoch kommt sie im Zusammenhang der Auslieferung nur bei Joh zur Sprache. Dies gilt auch für den Bericht über die anschließende Befragung Jesu durch den Statthalter. b) Das Verhör Jesu durch Pontius Pilatus Auf die einhellig bei allen Evangelisten überlieferte Frage des Pilatus, ob er sich für den König der Juden halte, lautet die Antwort Jesu bei den Synoptikern jedesmal: „Du sagst es (sy legeis)“.79 Diese Antwort hat Anlaß zu Spekulationen geliefert, da sie – je nach Betonung – sowohl eine Bestätigung (es ist richtig, was du sagst) als auch eine ironische Zurückweisung (du bist es, der dies behauptet) bedeuten kann.80 Mk und Mt berichten, daß nach weiteren Anklagen der Hohepriester und dem abermaligen Fragen des Statthalters Jesus die Antwort verweigerte, was Pilatus sehr verwundert habe.81 Lk berichtet nichts davon, sondern Pilatus wendet sich sogleich den Hohepriestern sowie dem Volk zu. Für alle drei Synoptiker bleibt es charakteristisch, daß Jesus als aktives Subjekt vor dem Statthalter nicht mehr in Erscheinung tritt und nur noch zum Objekt des weiteren Geschehens wird. Bei Joh hingegen entspinnt sich ein Dialog mit Pilatus, aus dem hervorgeht, daß die Anklage nicht der persönlichen Überzeugung des Pilatus entspricht, sondern allein auf derjenigen von Jesu Landsleuten beruht. Über76

Vgl. Rensberger (1984), S. 401. Joh 18,32: „So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, mit dem er gesagt hatte, welchen Todes er sterben werde.“ Hier besteht sicherlich ein Bezug zu Joh 12,32 f.; vgl. Millar (1990), S. 371. Zur Verquickung von politischen Motiven und Christologie im Hinblick auf die basileus-Titulatur bei Joh vgl. Rensberger (1984). 78 Vgl. die Zusammenstellung von Jesu Voraussagen seines Leidens und Todes bei Brown (1994), Bd. 2, Appendix VIII, S. 1468–1491. 79 Vgl. Mt 27,11; Mk 15,2; Lk 23,3. 80 Kunkel (1974a), S 20 f.; Bickermann (1935), S. 196 f; Paulus (1985), S. 441 f. u. a., gegen P. Winter, E. Bammel und J. Blinzler, die allesamt den Fehler machten, ihre Kenntnis und ihr Verständnis insbesondere von Lk und Joh in Mk hineinzulesen. Vgl. Bammel (1984c), S. 420 ff. Vgl. dazu auch die philologische Untersuchung von Irmscher (1960) anhand von Vergleichsbelegen, der ebenfalls feststellt, daß sich die Frage nicht eindeutig beantworten läßt, ob sy legeis eher eine Bejahung oder Verneinung impliziert. 81 Vgl. Mt 27,13 f.; Mk 15,4 f. 77

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dies betont Jesus auf die Frage des Statthalters, was er denn getan habe, daß sein Königtum nicht von dieser Welt sei und seine Anhänger deshalb auch nicht mit Gewalt darum kämpfen würden;82 vielmehr lege er Zeugnis von der Wahrheit [Gottes] ab, woraufhin Pilatus den Dialog mit der Frage abbricht: „Was ist Wahrheit?“.83 Bei sämtlichen Berichten der Evangelien handelt der Statthalter also nicht auf eigene Initiative, sondern infolge der Auslieferung und Beschuldigung Jesu durch jüdische Autoritäten. Im Zentrum steht eindeutig der Vorwurf, Jesu maße sich an, König der Juden zu sein. Während diese Anschuldigung bei Mk und Mt nicht weiter ausgeführt wird, vielmehr durch die Art der Antwort Jesu sowie durch sein darauffolgendes Schweigen in der Schwebe bleibt, findet das Ganze bei Lk und Joh eine je unterschiedliche Ausgestaltung: Lk legt den Schwerpunkt von Anfang an auf den politischen Charakter der Anklage, indem er den Königsanspruch explizit mit Aufruhr und Steuerboykott gegenüber dem Kaiser in Verbindung bringt; Joh scheint dies allenfalls vorauszusetzen, geht zumindest nicht darauf ein und legt den Schwerpunkt sogleich auf die Entkräftung einer politisch motivierten Anklage, indem er Jesus erläutern läßt, daß er keinen Anspruch auf weltliche Herrschaft hege. Die Frage, wie Jesus und Pilatus dabei überhaupt miteinander kommuniziert haben, da der Statthalter wahrscheinlich Latein und Griechisch, Jesus aber nur Aramäisch, womöglich noch mit galiläischem Zungenschlag sprach, führt zu der Vermutung, daß ein Dolmetscher anwesend sein mußte.84 Dies hätte Mißverständnissen Vorschub leisten können, sei es auch nur an einem so kleinen Sätzchen, wie „Du sagst es“. Welche strafrechtlichen Folgerungen lassen sich im Vergleich der Evangelien aus der Auslieferungs- und Befragungsszene ziehen? Es sind nicht viele: Allein Lk ließen sich akkusatorische Züge eines Strafprozesses gegen Jesus unterstellen, während die Berichte des Mt und Mk allenfalls denunziatorische Merkmale aufweisen. Mit Sicherheit läßt sich nur der inquisitorische Charakter ausschließen, da Pilatus nach allen Evangelien nicht auf eigene Initiative den Fall Jesus untersuchte. Ob die Art des Strafprozesses 82 Joh 18,36: „Jesus aber antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.“ 83 Vgl. Joh 18,37: „Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?“ 84 Paulus (1985), S. 441, verweist auf das Problem der Gerichtssprache zwischen Pilatus und Jesus, das aber unlösbar sei; Cic., 2 Verr. 3,84 und Joseph., BJ 5,361 machten die Anwesenheit eines Dolmetschers wahrscheinlich.

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nach gängigen Schemata des römischen Rechts noch genauer bestimmt werden kann, läßt sich erst erweisen, wenn man den weiteren Verlauf berücksichtigt. Aus keinem der Evangelien geht jedenfalls hervor, daß Pilatus bis zu diesem Zeitpunkt bereits ein förmliches Strafurteil gefällt hätte, da sämtliche Berichte unmittelbar in das Prozedere des Begnadigungsaktes zum Passahfest übergehen.85 Folglich gibt es keinen Anhaltspunkt, daß der spätere Hinrichtungsbefehl des Pilatus eine Revision eines bereits gefällten Strafurteils impliziert haben könnte. Wenn das bisherige Verhalten Jesu nach den synoptischen Evangelien, d. h. sein Verzicht auf Verteidigung (durch Bestätigung, Uneindeutigkeit, oder Schweigen) nach römischer Auffassung als Geständnis gewertet worden wäre, so ließe sich damit erklären, daß sowohl die Heranziehung eines consilium als auch eine förmliche Verkündung eines Strafurteils nicht mehr notwendig war.86 Dies könnte auch der Grund sein, weshalb Jesus selbst für den weiteren Verlauf des Verfahrens keine Rolle mehr spielte, da das eigentliche Untersuchungsverfahren damit als abgeschlossen galt. Nur dem Johannesevangelium ließe sich diese Annahme nicht unterstellen, da Jesus hier weiterhin eine aktive Rolle spielt und sich verteidigt. Bevor wir auf diesen Unterschied wieder zurückkommen, sei noch der weitere Ablauf nach den Evangelien erörtert. c) Der Statthalter, die Hohepriester und das Volk Wie bereits angedeutet wurde, verschwindet Jesus für das weitere Geschehen als aktive Person aus den synoptischen Evangelien, so daß alles Weitere im Rahmen der Interaktion zwischen dem Statthalter und den Hohepriestern, Ältesten, Obersten sowie der in Jerusalem anwesenden Menge geschildert wird. Diese Gegenüberstellung wird ausgehend von Mk über Mt und Lk bis zu Joh immer stärker kontrastiert, wobei die Art und Weise der Ausgestaltung unterschiedliche Akzente setzt. Die Interaktion zwischen dem Statthalter und den Juden wird dabei von sämtlichen Evangelien im Rahmen eines akklamatorischen Begnadigungsaktes87 zum Passahfest ge85 Vgl. Mk 15,5 f. und Mt 27,14 f. Bei Lk schiebt sich das Verhör vor Herodes Antipas dazwischen, und 23,16 kann ebenfalls nicht als Strafurteil gewertet werden, sondern hat hier den Charakter einer Stellungnahme bzw. Ankündigung. Vgl. zur lukanischen Herodes-Antipas-Episode Brown (1994), Bd. 1, S. 760–786. 86 Ich werde darauf in der Schlußbetrachtung dieses Kapitels ausführlicher zurückkommen. 87 Ich ziehe hier den Begriff Begnadigungsakt dem in der Literatur gängigen Begriff der „Amnestie“ vor, da letzterer nur sinnvoll erschiene, wenn entweder alle oder eine größere Menge von Gefangenen freigelassen worden wären. Vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 815: Der griechische Terminus amnestia tauche selten in lateinischen Schriften auf, dann zumeist als Lehnwort. Das lateinische Äquivalent wäre abolitio, wenn es um Massenfreilassungen gehe, in diesem Sinne werde manchmal

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schildert, der anderweitig so nicht belegt ist, d. h. als Alternative zwischen zwei Gefangenen, jedoch als reale Praxis auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann.88 In der Forschung herrschen zwei Tendenzen vor, die mir beide unangemessen vorkommen: Entweder wird der Begnadiauch indulgentia verwendet. Für Individuen unabhängig von ihrer Schuld werde dagegen eher venia gebraucht. 88 Mk 15,6: „Er pflegte ihnen aber zum Fest einen Gefangenen loszugeben, welchen sie erbaten.“ Mt 27,15: „Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.“ Lk 23,17 beruht wohl auf einer späteren Überlieferung, fehlt zumindest in den besterhaltensten Texten (P75, Codices Vaticanus, Alexandrinus, Sahidic), vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 794: „I will not speculate about Luke’s reason for omitting all reference to the custom. His silence cannot with surety be used as an argument that he thought the custom incredible.“ Bei Joh 18,29 heißt es: „Es besteht aber die Gewohnheit bei euch, daß ich euch einen zum Passafest freilasse.“ Von der Historizität der „Passahfestamnestie“ geht Colin (1965) aus und versteht sie als epiboesis, wie sie für die hellenistischen Städte des Ostens bezeugt sei; zur Verbindung des Gnadenerlasses mit dem Passahfest vgl. ebd. S. 161 f. sowie Momigliano (1967), S. 79. Bickermann (1935), S. 197, merkt nur an: „L’épisode de Barabbas reste la seule partie de la procédure visée par Marc qui ne trouve pas place, dans l’état actuel de nos connaissances, au moins, dans le cadre des institutions impériales.“ Bammel (1984c), S. 427: „The privilegium Paschale makes sense as a Jewish custom (thus John 18:39), one prisoner is released in remembrance of Israel’s salvation from Egypt. In a similar way the Jews felt compelled to buy out, and were busy to buying out, a fellow countrymen who had fallen captive especially at this time. The release is likely to have been a royal prerogative vis-à-vis the Sanhedrin [und kein Privileg an die Juden generell, welches bei Josephus darunter aufgelistet worden wäre]. The Roman prefects whose office was in the succession of the Hasmonaean kings carried with this.“ Chavel (1941), S. 275 ff., führt rabbinische Quellen an (vor allem Mischna, Pesahim 91a), die zeigen würden, daß die Freilassung zum Passahfest eine jüdische Sitte gewesen sei, die bereits auf vorrömische Zeiten zurückgehe, und nur politische Gefangenen betroffen habe. Mayer-Maly (1955), S. 233, und Theissen/ Merz (1997), S. 407, verweisen als Vergleichsfall (etwa 85 n. Chr.) auf den ägyptischen Papyrus Florentinus Nr. 61, zitiert nach Deissmann (1923), S. 229 f., wo der Statthalter einen gewissen Phibion auf Verlangen des Volkes mit den Worten entläßt: „Verdient hättest Du, daß du Geißelhiebe erhieltest, [. . .] ich will Dich aber dem Volkshaufen schenken.“ Jedoch besagt dieser Fall nicht viel, da unklar ist, um was es in diesem Fall ging (es ist nur die Geißelungs- aber keine Hinrichtungsabsicht erwähnt). Daß der Statthalter nach eigenem Ermessen Gefangene bzw. Beklagte freilassen oder auf Bestrafung verzichten konnte, ist uns auch anderweitig belegt, vgl. z. B. Joseph., AJ 20,215. Vgl. zur Barabbas-Episode Brown (1994), Bd. 1, S. 788–820. Er listet ebd. S. 814, A. 51 die Forscher auf, die die Episode für glaubwürdig halten (Bammel, Blinzler, Chavel, Cole, Flusser, Merritt, Strobel) und jene, die daran zweifeln (Aus, Beare, Cohn, Gordis, Watson, Winter); zu historischen Parallelen, die jedoch kaum weiterhelfen, vgl. ebd. S. 816–820. Vgl. aber insbesondere die umfassende Untersuchung zum römischen Begnadigungsrecht von Waldstein (1964), dort besonders auch (S. 41–44) zum Prozeß Jesu mit Verweis auf anderweitig überlieferte Formen der Einzelbegnadigung, die „alle im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten vollzogen wurden“ und bereits von Merkel (1881), S. 9 ff. zusammengestellt wurden; vgl. ders. (1905).

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gungsakt in ein wie auch immer rekonstruiertes Strafverfahren gegen Jesus integriert oder im Sinne einer Lynchjustizmentalität städtischen Pöbels überzeichnet.89 Das Problem besteht darin, daß spätestens an dieser Stelle der Rahmen einer statthalterlichen Strafgerichtsbarkeit gesprengt wird und nicht mehr im Sinne eines gewöhnlichen Strafprozesses betrachtet werden kann, sondern nur im Hinblick auf die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt unter besonderen Bedingungen.90 Der zentrale Gesichtspunkt, der für den provinzialen Strafprozeß im engeren Sinne keine Bedeutung haben kann, ist die Beteiligung des Volkes, dem über die Akklamation mehr als nur ein gewisser Einfluß auf die Entscheidung des Statthalters zugestanden wird, da die Menge selbst die Wahl in der Entscheidung zwischen zwei Personen zu haben scheint; dabei geht es bekanntlich darum, entweder dem Gefangenen Barabbas oder aber Jesus die Freiheit zu schenken. Selbstredend kann die Freilassung eines Gefangenen nicht als Freispruch verstanden werden, sondern nur im Sinne des Ausbleibens der Straffolgen durch ein Ausnahmeprozedere. Die Informationen aus den Evangelien über Barabbas lassen vermuten, daß er nicht in Strafhaft, sondern in Exekutionshaft saß,91 der Gefängnisaufenthalt also nicht bereits selbst die Strafe war, sondern daß er dort nur bis zur Strafvollstreckung seiner Hinrichtung aufbewahrt wurde.92 Wäre Barabbas auf frischer Tat wegen Mordes während ei89 Einige Untersuchungen versuchen entweder dem Verfahren gegen Jesus ein zu enges Korsett anzulegen (Sherwin-White, Müller, Heusler, u. a.), in welchem der Begnadigungsakt irgendwie in einen römischen Prozeßtyp integriert wird; andere Autoren verfallen in das Gegenextrem, indem die fanatisierte Masse mit ihrer Lynchmentalität in Verantwortung für den Tod Jesu herausgestellt wird (G. Rosadi, J. Blinzler). Mehr als fraglich erscheint mir der Ansatz von Mayer-Maly (1955); zentral ist sein Begriff des „tumultarischen Verfahrens“, mit welchem dann die diversen Akklamationsformen als „Stimmungsbarometer“ und Einflußfaktoren im spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen Prozeßwesen betrachtet werden. Unabhängig von der unbestrittenen Bedeutung von Akklamationen zu dieser Zeit, vgl. dazu auch Fuhrmann (1979), S. 30, ist damit noch nicht die Frage geklärt, ob der Begnadigungsakt in den Evangelien überhaupt noch als Bestandteil eines Prozesses gewertet werden kann. Wenn Mayer-Maly zudem den „Sieg“ der jüdischen Position über Pilatus als „eindrucksvollen Beleg für die Geschichtsmächtigkeit der Demagogie, für den Triumph der Macht über das Recht“ bewertet und als „Prototyp des Versagens intellektueller Argumentation gegenüber einer tumultarischen Masse“ herausstellt (S. 235), so ist nicht erkennbar, wann das Recht unabhängig von der Macht im statthalterlichen Strafprozeß eine Rolle gespielt haben könnte, wann die Demagogie allgemein im antiken Prozeßrecht kein natürlicher Bestandteil wäre, und wann sich im besagten Fall eine intellektuelle Argumentation bei Pilatus ausmachen ließe. 90 Vgl. dazu Bammel (1984c), S. 429 ff. 91 Vgl. zur Strafhaft und Exekutionshaft Krause (1996), S. 64 ff. Vgl. auch Joseph., AJ 20,215. 92 Mk 15,7: „Es war einer, genannt Barabbas, gefangen mit den Anführern (stasiastes), die beim Aufruhr (stasis) einen Mord (phonos) begangen hatten.“ Mt 27,16

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nes Aufruhrs ergriffen worden, wie aus den synoptischen Evangelien geschlossen werden könnte, so wäre eine förmliche Verurteilung nicht mehr notwendig gewesen, da er direkt durch die Koerzitionsgewalt des Statthalters ohne Prozeß hingerichtet werden konnte.93 Wahrscheinlich wurde er in Gewahrsam gehalten, um die Strafe an einem bestimmten Tag zusammen mit anderen Gefangenen zu vollstrecken. Zumindest ist uns überliefert, daß auch Jesus zusammen mit zwei Räubern gekreuzigt wurde.94 Wenn dem so wäre, beträfe die Begnadigung in Alternative zwischen Barabbas und Jesus einen sicheren und einen potentiellen Todeskandidaten, für die bisher kein förmliches Strafurteil ergangen war bzw. gar nicht verhängt werden mußte, da der eine eventuell auf frischer Tat erwischt wurde und der andere durch sein Schweigen quasi ein Geständnis abgelegt hätte. Der Hinrichtungsbefehl hing nunmehr allein von der Akklamation des Volkes ab, wenn sich der Statthalter dessen Willen unter Einfluß der Jerusalemer Autoritäten nicht widersetzen wollte. Stellt man den römischen Statthalter in das Zentrum des Geschehens, so wird in sämtlichen Evangelien die Tendenz erkennbar, daß Pilatus in Jesus niemanden sah, der hätte gekreuzigt werden müssen, so daß er schon deshalb lieber ihn statt Barabbas freigelassen hätte. Die Unschuldsvermutung des Statthalters gegenüber Jesus wird dabei unterschiedlich deutlich herausgestellt: Bei Mk und Mt zeigt sie sich zunächst in der Wiederholung der Frage, wer im Rahmen des Begnadigungsaktes freigelassen werden soll, schließlich deutlicher in der Frage, was Jesus denn Böses getan habe.95 berichtet nur, daß Barabbas ein „berüchtigter Gefangener“ zu dieser Zeit gewesen sei; nach Lk 23,19 war Barabbas „wegen eines Aufruhrs (stasis), der in der Stadt geschehen war, und wegen eines Mordes (phonos) ins Gefängnis geworfen worden.“ Vgl. a. Lk 23,25 „Aufruhr und Mord“. Vgl. auch Acts 3,14 „Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und darum gebeten, daß man euch den Mörder schenke.“ Bei Joh 18,40 wird Barabbas schlicht zum „Räuber“ (lestes). Vgl. zu den Tatbegriffen Brown (1994), Bd 1, S. 796–800; zum Namen Barabbas und seiner Existenz als historische Person, S. 811–814. 93 Vgl. Kunkel (1974a), S. 22. 94 Vgl. Mk 15,27; Mt 27,28. 44; Lk 23,32 f.; Joh 19,18. 95 Mk 15,9. 12; Mt 27,17. 21. 22; vgl. Lk 23,16.20; bei Joh 18,30 fragt Pilatus zunächst nur einmal; im folgenden gestaltet sich die Interaktion zwischen Statthalter und Volk ungleich komplexer als im Bericht der anderen Evangelien. Zur Frage, was Jesus Böses getan habe vgl. Mk 15,14; Mt 27,23; Lk 23,22. Wäre für Pilatus der Wille der Jerusalemer Juden genehm gewesen, so hätte er die Frage ja nicht mehrmals wiederholen müssen, es sei denn man erkennt eine gewisse Sitte bzw. Gewohnheit darin, daß in solchen Fällen immer dreimal die Frage an das versammelte Volk gerichtet wurde. Foulon-Piganiol (1976), S. 628 ff., stellt die Dreizahl der Frage des Pilatus und Antworten des Volkes als ein Zeichen für ein formaljuristisches Prozedere heraus, bei welchem das Volk nicht nur „un simple rôle de pression“, sondern eine „veritable rôle judiciaire“ durch „vote par acclamation“ innegehabt habe. Mittels Überprüfung an alttestamentlichen Parallelen kommt sie zu dem

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Während Mk dabei auf die Willfährigkeit des Statthalters gegenüber den Juden abhebt,96 schmückt Mt diese Szene dahingehend aus, daß Pilatus keine Blutschuld übernehmen wollte und sich die Hände in Unschuld wusch. Während die Haltung des Pilatus bei Mk noch mit Nachgiebigkeit umschrieben werden kann, so begreift Mt die Handwaschung sogar als eine Geste der Hilflosigkeit97 in Reaktion auf die Hartnäckigkeit der Hohepriester und der von ihnen aufgewiegelten Menge.98 Außerdem verstärkt Mt im Vergleich zu Mk die Unschuldsvermutung noch mit dem an ihn übermittelten Traum seiner Gattin.99 Beide Evangelisten heben kurz hervor, daß nach der Überzeugung des Pilatus der eigentliche Auslieferungsgrund der Neid (phthonon) gewesen sei,100 wobei man sich selbst ausmalen muß, worauf sich dieser aus der Sicht eines römischen Statthalters bezogen haben könnte.101 Lk verwendet im Gegensatz zu Mt weniger symbolische Mittel (Handwaschung, Traum), um die Überzeugung des Pilatus von der Unschuld Jesu darzustellen, sondern stellt sie sachlich als Ergebnis einer persönlichen Überprüfung der Anklagepunkte dar, für welche er keine bestätigenden Hinweise findet, in deren Konsequenz eine Kreuzigung gerechtfertigt wäre.102 Die Überzeugung des Pilatus von der Unschuld Jesu wird von Ergebnis, daß die Form des Prozesses, wie sie in Jer 28,5 ff. angedeutet ist, noch in Kraft gewesen sei. Mir erscheint diese These allzu konstruiert, wie schon aus dem immensen Zeitsprung deutlich wird, „que la procédure de l’époque de Jérémie était encore en vigeur dix siècle après“ (S. 636). _ 96 Mk 15,15: „Pilatus aber wollte dem Volk zu Willen sein“ (‡ dÊ Pil atoò bou_ _ daß lümenoò tÃw éxlÃw tÎ kanÎn poi_ hsai). Vgl. Lk 23,24: „Und Pilatus urteilte, _ ihre Bitte erfüllt werde“ (kaÍ Pil atoò ™pÝkrinen genÝsqai tÎ aèthma ažtwn). 97 Mt 27,24: „Als aber Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, sondern der Tumult _ _ _ immer größer wurde (œd„n dÊ ‡ Pil atoò Õti oždÊn Ÿ—ele i ˜llJ m allon qüruboò gßnetai.), nahm er das Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!“ 98 Mt 27,20: „Aber die Hohepriester und Ältesten überredeten das Volk, daß sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.“ Mk 15,11: „Aber die Hohepriester reizten das Volk auf, daß er ihnen lieber den Barabbas losgebe.“ Bei Lk wird speziell von einer Aufhetzung nichts berichtet, statt dessen werden Hohepriester und Volk in einem anonymen „sie“ zusammengefaßt. Bei Joh 19,6 sind es zunächst die „Hohepriester und ihre Diener“, dann aber (19,7. 12) „die Juden“. Eine direkte Einwirkung der Hohepriester auf das Volk wird bei ihm nicht berichtet. 99 Mt 27,19: „Und als er auf dem Richterstuhl (bema) saß, da schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe viel erlitten im Traum um seinetwillen.“ 100 Mk 15,10; Mt 27,18. 101 Zu den Gründen der Gegnerschaft gegenüber Jesus vgl. Doerr (1920), S. 6 ff., voller unsachlicher Wertungen; besser Bickermann (1935), S. 170 f. (bei Mk), S. 200–204 (bei Lk), S. 211 (bei Joh); Grundmann (1984); Merkel (1984); Reicke (1984); Becker (1996), S. 410 f.; Theissen/Merz (1997), S. 406 f. 102 Lk 23,14: „Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht als einen, der das Volk aufwiegelt; und siehe, ich habe ihn vor euch verhört und habe an diesem Menschen

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Lk anders als bei Mk und Mt nicht mehr nur angedeutet, sondern explizit herausgestellt.103 Zusätzlich wird aufgrund der Herkunft Jesu aus Galiläa der dort zu dieser Zeit regierende Klientelkönig Herodes Antipas bemüht, um Jesus zu verhören.104 Aber auch dieser kann trotz seiner enttäuschten Erwartungen an Jesus105 und der Einflußnahme der Hohepriester106 ebenfalls zu keinem Schuldvorwurf kommen. Die Berechtigung des Herodes Antipas, im Fall Jesu selbst die Kapitalstrafe vollstrecken zu lassen, wird bei Lk implizit deutlich, indem er den Statthalter sagen läßt, er hätte ihn dann nicht wieder an ihn zurückgesandt.107 Daß Herodes Antipas die kapitale Strafgewalt in seinem Herrschaftsgebiet (Galiläa, Paräa) ausübte, braucht nicht angezweifelt zu werden; daß ihm nach Lk nunmehr diese Möglichkeit auch während seiner Anwesenheit in Jerusalem vom Statthalter Pilatus zugestanden wird, somit die Strafkompetenz nach dem Herkunftsprinzip delegiert wird, ist außergewöhnlich. Man braucht darin jedoch kein allgemeingültiges Prinzip erkennen; naheliegender ist es, daß Pilatus hier dem Landesherrn Jesu aufgrund seiner zufälligen Anwesenheit in Jerusalem diese Möglichkeit als eine Art situativ zugestandenes Privileg nur für diesen einen Fall einräumte. Hierfür ließen sich mehrere Gründe vermuten: Die Anklage wegen Steuerboykotts und Gehorsamsverweigerung könnte sich direkt auf das Gebiet Gakeine Schuld gefunden, deretwegen ihr ihn anklagt“ (ProshnÝgkatÝ moi _tÎn ån_ ˜postrݗonta tÎn laün, kaÍ œdoÏ_ ™g„ ™nþpion_ mwn ˜naqrwpon touton ò _ _ ron ™n t w à ˜nqrþpà w toýtÃw aètion n kathgore ite kat' ažkrßnaò ožqeÊn e _ tou). 103 Vgl. neben Lk 23,14 a. 23,15: „Und siehe, er hat nichts getan, was den Tod verdient. Darum will ich ihn geißeln_ lassen und freilassen“ (kaÍ œdoÏ oždÊn åcion qanÜtou ™stÍn pepragmÝnon ažtÃw)“. Während in diesem Fall die Geißelung vor der Freilassung als eigenständige Züchtigung im Rahmen der Koerzitionsgewalt betrachtet werden könnte (wie im Fall des Jesus Ananias), kann jene im Vorfeld der Kreuzigung (Mk 15,15; Mt 27,26) als zusätzlich entehrendes Element im Gesamtprozedere der öffentlichen Hinrichtung betrachtet werden. 104 Der Zusammenhang zwischen der Herkunftsregion Jesu und der Überstellung an Herodes Antipas geht aus Lk 23,5–8 hervor. 105 Von enttäuschten Erwartungen kann man sprechen, weil Lk 23,8 f. berichtet: „Als aber Herodes Jesus sah, freute er sich sehr; denn er hätte ihn längst gerne gesehen; denn er hatte von ihm gehört und hoffte, er würde Zeichen von ihm sehen. Und er fragte ihn viel. Er aber antwortete ihm nichts.“ Folglich verachtete und verspottete er ihn zusammen mit seinen Soldaten, vgl. Lk 23,11. 106 Lk 23,10: „Die Hohepriester aber und Schriftgelehrten standen dabei und verklagten ihn hart.“ 107 Daß Herodes Antipas die Strafgewalt an Jesus hätte ausüben können, wenn er ihn für schuldig befunden hätte, geht implizit aus Lk 23,15 hervor. Die Rücküberstellung Jesu an Pilatus ist für Lk gleichbedeutend mit der Tatsache, daß er ihn für unschuldig hielt; ansonsten hätte er die Kapitalstrafe selbst vollstrecken lassen können.

3. Jesus vor dem Statthalter Pilatus

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liläa beziehen; zugleich könnte das Urteil des Klientelkönigs als „Loyalitätstest“ gegenüber dem Kaiser verstanden werden; außerdem hätte Herodes Antipas die vom Statthalter zugestandene Strafgewalt als Gunstbeweis auffassen können; schließlich bot sich für den Statthalter gleichzeitig die Gelegenheit, die Verantwortung für die Verurteilung Jesu auf jemanden anderen abzuwälzen.108 108 Sherwin-White (1963), S. 28–31, übt Kritik an der Interpretaion der einschlägigen Rechtsquellen zum forum delicti bzw. domicilii bei Mommsens (1955), StrafR, S. 360 ff., ders. (1907), S. 442, die in Wirklichkeit zur Jurisdiktion gemäß des ordo und nicht zum Bereich der cognitio extra ordinem gehöre. Außerdem könne man sehen, daß weder Pilatus, Felix noch Gallio (die letzten beiden im Fall des Apostels Paulus) sich gebunden fühlten, einen Beschuldigten zur Verurteilung an ihren Herkunftsort zurückzusenden. Wenn dies geschah, so nicht zum Schutz etwaiger Rechte des Angeklagten oder bestimmter Rechte eines anderen Statthalters (bzw. Klientelkönigs), „but to enable the procurator or proconsul in question to avoid a tiresome affair altogether, if he felt inclined, either by expelling an accused person from a province to which he did not belong, or by a refusal of jurisdiction.“ Außerdem verweist er auf das bei Joseph., BJ 1,474 genannte außergewöhnliche Privileg von Cäsar an Herodes den Großen, Leute auch über sein Königreich hinaus verfolgen zu können, so daß evtl. „some remnant of this privilege underlay the sending of Christ to the second Herod: most of the activities of Christ had taken place in Galilee.“ Die andere Erklärung, Pilatus habe wegen seines obskuren Massakers an Galiläern in Jerusalem Herodes Antipas wieder beruhigen wollen (Lk 13,1), gehe von der falschen Tatsache aus, daß Galiläer in Judäa nicht gerichtet werden dürften. Vgl. auch Colin (1965), S. 161–163. Bornhäuser (1929) kommt nach seiner Überprüfung des griechischen Vokabulars bei Lk 23,6 im Vergleich zu Acts 20,38 zu dem Ergebnis, daß Herodes Antipas Jesus, nachdem er ihm das Festgewand (esthes) umgelegt hatte, nicht nur zu Pilatus „schickte“, sondern ihn dorthin auch geleitete, da pempein beides bedeuten könne, folglich zum „Zeuge in der Endphase des Prozesses“ geworden sei. Vgl. auch Bickermann (1935), S. 206–208, der an der remissio nichts ungewöhnlich findet; sein Vergleichsfall ist P Oxy. II, 237 c. 6, 32 ss.: Der ägyptische Präfekt überstellt einen Beklagten an den Strategen, der für den Bezirk zuständig ist, aus dem der Beklagte stammt; der Stratege sendet ihn jedoch nach einer ergebnislosen Debatte über die Religion samt der Klägerpartei wieder an den Präfekten zurück; vgl. auch Bammel (1984c), S. 423 f.; ebd. S. 424: „Such an event could be taken as a demonstrative gesture and be given the characterisation found in Luke 23:12 [Freundschaft zwischen Herodes Antipas und Pilatus, GK], at the end of a passage which otherwise had undergone a certain deterioration. The scene gives rather the impression to an authority not necessarily in agreement with the Sanhedirn – than a delegatio as part of a new trial.“ Tyson (1960) hat die feindliche Einstellung zwischen Jesus und Herodes Antipas im Zusammenhang mit der Enthauptung von Johannes dem Täufer herausgearbeitet, als dessen Nachfolger Jesus betrachtet werden konnte. Von Lk 23,6–16 läßt sich aber nicht unbedingt auf eine feindliche Haltung des Klientelkönigs gegenüber Jesus schließen. Daß gar Pilatus auf die Enthauptung des Täufers bei seiner Überstellung Jesu gedacht haben könnte, ist unwahrscheinlich; vgl. McGing (1986), S. 61: „It is, however, unlikely that the incident provided a precedent for Pilate: John operated in Galilee, Antipas’ territory, where Pilatus had no jurisdiction, and it is highly improbable that Pilate even heard of John’s execution, except possibly the examination of Jesus, when

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Auch Joh läßt Pilatus seine Überzeugung von der Unschuld Jesu offen aussprechen,109 wobei er den Gegensatz zu den Juden aber noch erheblich steigert, indem dies nicht nur – wie bei Lk – als Ergebnis einer Untersuchung nach Hinweisen auf strafwürdiges Verhalten gesehen wird, sondern Pilatus nunmehr sogar als eine Person geschildert wird, die Jesus bewundert, wenn nicht sogar von dessen göttlicher Sendung überzeugt zu sein scheint.110 So muß er hier von den Juden sogar erst ermahnt werden, auf daß er seiner Pflicht gegenüber dem Kaiser nachkomme: „Die Juden aber schrieen: Läßt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht [wie Jesus, GK], der ist gegen den Kaiser.“111 Damit werden von Joh die ansonsten überlieferten Rollen vertauscht: Der Stellvertreter des Kaisers wird nicht – wie in den bei Josephus überlieferten Fällen – wegen einer herrschaftlichen Entscheidung aufgrund religiöser Vorbehalte seitens der Juden bedrängt, sondern weil er diese nunmehr zu according to Luke (23:6–12), Pilate sent Jesus to Antipas, who happened to be in Jerusalem.“ Ebd. S. 66 stellt er für den Fall, daß die Historizität der Herodes Antipas-Episode bei Lk angezweifelt wird, unter Verweis auf Hoehner (1972), S. 227 ff. fest: „but it appears to serve no apologetic purposes, and has nothing inherently improbable about it. There were good diplomatic reasons for Pilate to send Jesus to Herod, and it fits the slightly weak and indecisive man we have seen: here possibly was a way out, a way of offloading his distasteful case on someone else.“ Brown (1994), Bd. 1, S. 764–768, stellt die Begriffe exousia und anakrisis heraus und deutet die Befragung Jesu weniger als juristisches Verfahren denn als eine Art externes Gutachten, zumal im Hinblick auf die galiläischen Aktivitäten von Jesus; so meint er (S. 767): „inviting Antipas to do an anakrisis about Jesus might have been an ingenious diplomatic way to neutralize the tetrarch and prevent further trouble“. 109 Joh 18,38: „Ich finde keine Schuld an ihm“ (\Eg„ oždemßan erßskw ™n _ heraus zu ažtÃw aœtßan); 19,4: „Da ging Pilatus hinaus zu ihnen: Seht, ich führe ihn _ hlqen pÜlin euch, damit _ihr erkennt, daß ich keine Schuld an ihm finde“ (KaÍ ™c _ _ _ ÇIde ågw m in ažtÎn æcw, Ôna gnwte Õti æcw ‡ Pil atoò kaÍ lÝgei ažto iò, _ oždemßan aœtßan erßskw ™n ažtÃw). 110 Joh 19,5 berichtet, daß Pilatus mit Blick auf Jesus, der die Dornenkrone und das Purpurgewand trug, aussprach „Seht, welche ein Mensch“; als er dann von den Juden hört, er habe sich selbst zu Gottes Sohn gemacht, heißt es, Pilatus fürchtete sich noch mehr, vgl. 19,8 f. Von zentraler Bedeutung ist der Wortwechsel 19,10–12: [Pilatus:] „Weißt du nicht, daß ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben her gegeben wäre: Darum: der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde. Von da an trachtete Pilatus danach, ihn freizulassen.“ Nach dem Gespräch mit Jesus führt er diesen hinaus mit dem Ausruf (19,14), „Seht das ist euer König!“. Als die Hohepriester den Statthalter wegen der Kreuzesaufschrift berichtigen wollten, er solle nicht einfach „König der Juden“ schreiben, sondern, daß Jesus dieses nur von sich behauptet habe, antwortet Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“ (19,21 f.). _ 111 Joh 19,12: o dÊ \Iouda_ioi ™kraýgazon lÝgonteò, \EJn touton ˜polýs hò, _ _ _ _ _ ožk e œ —ßloò tou Kaßsaroò . p aò ‡ basilÝa ŠautÎn poiwn ˜ntilÝgei tÃw Kaßsari.

3. Jesus vor dem Statthalter Pilatus

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vernachlässigen droht, wenn er den „König der Juden“ nicht hinrichten läßt. Während der Statthalter dem Verdacht der Untreue gegenüber dem Kaiser ausgesetzt wird, reklamieren die Hohepriester (ohne daß an dieser Stelle das Jerusalemer Volk erwähnt würde) ihrerseits, treue Untertanen des Kaisers zu sein, den sie allein als ihren König anerkennen: „Pilatus aber spricht zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohepriester antworteten: Wir haben keinen König als den Kaiser. Da überantwortete er ihnen Jesus, daß er gekreuzigt würde.“112 Joh konstruiert hier eine Art Chiasmus der Rollenerwartungen, was nur dadurch möglich wird, daß er die Entscheidungssituation des Statthalters gleichsam zu einem Loyalitätskonflikt zwischen zwei Herrschern steigert. Damit kontrastiert sein Passionsbericht am stärksten mit dem Pilatusbild bei Josephus und besonders demjenigen bei Philo.113 Ähnlich wie bei der Auslieferungsszene stellt sich bei Joh das _

_

_

Joh 19,15 f.: lÝgei_ ažto iò ‡ Pil atoò, TÎn basilÝa mwn staurþsw; ˜pe_ krßqhsan o ˜rxiere iò,_ Ožk æxomen _ basilÝa eœ mÌ Kaßsara. Tüte ožn parÝdwken ažtÎn ažto iò Ôna staurwq Âh. 113 Zum Pilatusbild vgl. auch oben A. 92 und A. 110 in Abschnitt IV. 3. e). Zum Pilatusbild in den Evangelien im Kontrast zur anderweitig belegten Haltung der Römer gegenüber den Juden vgl. Rosen (1988), S. 129, unter Verweis auf Philo, In Flacc. 105, außerdem Tac., Ann 2,85,4; Hist. 5,8,2; Joseph., AJ 18,84; Sen., Ep. 108,22; Suet. Tib. 36. Bickermann (1935), S. 209 hält polemisch dagegen: „Hélas, cette idée d’un magistrat romain dur comme fer qui jette ses légion à la première occasion contre ceux qui osent murmurer, elle appartient aux légendes scolaires. Le gouvernement impérial était plutôt faible.“ Rensberger (1984), S. 402 ff., favorisiert hingegen eine ironische Lesart des Joh, so daß sich die Zögerlichkeit weniger aus dem Glauben an Jesus als aus der Feindschaft gegenüber den Juden erkläre, Jesus ihm somit nur als Werkzeug diene, um die „nationalen“ Hoffungen der Juden auf einen Messias lächerlich zu machen. Damit habe das Johannesevangelium als Werk des späten 1. Jh. auch nicht die Tendenz, die Römer zu entlasten, sondern lasse die Entscheidung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des römischen Kaisers als Konflikt bestehen. Andererseits kontrastiere Jesus mit Barabbas, so daß sich die Betonung, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, darauf beziehe, daß er im Unterschied zu den Zeloten nicht mit weltlichen (= militärischen) Mitteln kämpfe (S. 410). Legt man dieses Verständnis dem Johannesevangelium zugrunde, so impliziert dies nicht nur eine ironische, sondern gehässige Lesart, die m. E. zu weit ginge. McGing (1986), S. 61, hebt hervor, daß Pilatus im Gegensatz zu den anderen Statthaltern noch keine Präzedenzfälle im Umgang mit messianischen Aufrührern vorlagen; von daher scheint er „not to have had any established policy to follow when faced with Jesus’ activities. One cannot argue backwards from the summary manner in which later governors treated roughly similar figures that Pilate would unquestioningly have acted in the same way, and that therefore the uncertain, hesitating, accommodating Pilate of the gospels must be an invention.“ Außerdem unterscheide sich Jesus von den ,Pseudopropheten‘ darin, daß er keine militanten Operationen plante und in seinem Fall auch nicht sogleich die anderen „ringleader“ exekutiert wurden. Wenn McGing gegen die bekannte Brandon-These behauptet (S. 62), „Jesus does not fit, even retrospectively, into a pattern of Roman policy towards Messianic figures“, so faßt er die Notwendigkeit der Erfahrungsgrundlage für die Ausübung statthalterlicher Strafgewaltspraxis zu eng, indem er vergißt, daß Pilatus 112

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

Problem, ob nun die viel deutlicher als in den anderen Evangelien zur Sprache kommenden politischen Einscheidungskriterien selektiv herausgegriffen werden können, weil man sie für historisch glaubwürdig hält, während man den „Rollentausch“ für unwahrscheinlich hält, obgleich beides zusammengenommen erst die geschilderte Gesamtsituation ausmacht. Sicherlich darf aus der Schilderung des Begnadigungsaktes zum Passahfest nicht gefolgert werden, daß Pilatus nicht hätte anders und entgegen der Forderungen der Menge urteilen können,114 zumal ein solches Verhalten in anderen Zusammenhängen bei Josephus von Pilatus belegt ist.115 Vielmehr zeigt Joh, wie groß der Faktor von „politisch-herrschaftspragmatischen“ Entscheidungskriterien für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt werden konnte, und zwar um so deutlicher, als er die Entscheidung des Pilatus zur einer „Gewissensentscheidung“ stilisiert, bei welcher der Statthalter letztendlich gegen seine persönliche Überzeugung dem Druck der Hohepriester und der Menge nachgab. 4. Fazit zum Fall Jesu Abschließend möchte ich den Fall Jesu unter drei Gesichtspunkten resümieren: zum einen hinsichtlich des äußeren Verfahrensablaufs, sodann im Hinblick auf die möglichen Motivlagen der beteiligten Akteure und schließlich in bezug auf bestimmte Kriterien für den provinzialen Strafprozeß vor dem Statthalter, mit welchen nochmals eine Präzisierung der beiden zuvor genannten Punkte versucht wird; außerdem soll in diesem Rahmen noch einmal die von den Evangelien in verschiedenem Ausmaß suggerierte Unschuldsvermutung des Pilatus gegenüber Jesus erörtert werden. Im Hinblick auf seine allgemeinen Grundzüge und den äußeren Rahmen läßt sich der Fall Jesu nach Plausibilitätsvermutungen relativ unproblematisch folgendermaßen zusammenfassen: Nachdem Jesus auf Veranlassung jüdischer Autoritäten verhaftet wurde, wird er von einem Synedrion unter Leitung eines Hohepriesters verhört. Das Synedrion muß dabei nicht als permanent und unveränderlich organisierte Gerichtsinstitution gesehen werden, sondern als ad hoc zusammentretendes Beratungs- bzw. Untersunicht unbedingt spezielle Kenntnisse und Präzedenzfälle über religiöse Bewegungen in Judäa brauchte, um gegen diese wie gegen Aufständische vorzugehen; es war schlichtweg seine Aufgabe als Statthalter, gegen antirömische Gruppierungen unabhängig von ihren Motiven vorzugehen, zumal wenn aus der Provinzialaristokratie diesbezügliche Denunziationen an ihn herangetragen wurden. 114 Darauf könnte Joh 19,10 anspielen. 115 Vgl. oben Abschnitt V. 1. c). Falls es sich bei der Begnadigung jedoch um eine gewohnheitsmäßig erwartete Sitte speziell zum Passahfest gehandelt hätte, dürfte die Schwelle, dem Druck der Menge nachzugeben, niedriger gewesen sein.

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chungsgremium, das auf Initiative eines Hohepriesters zusammengerufen wurde. Im Fall Jesu kommt es im Synedrion zu keinem Strafurteil, sondern zu einem Auslieferungsbeschluß. Die jüdischen Autoritäten nutzen die Anwesenheit des Statthalters zum (wahrscheinlich üblichen) Gerichtstag am Passahfest und wollen Jesus noch vor Anbruch des Sabbats an Pilatus überstellen. Die Anschuldigung lautet, er sei ein religiös motivierter politischer Unruhestifter. Es zeigt sich, wie die jüdischen Ankläger den Akzent ihrer Anschuldigungen vom Religiösen auf das Politische verlagern, indem sie bestimmte Selbstaussagen Jesu in einen politischen Herrschaftsanspruch ummünzen. Damit scheinen die Evangelien die Bedeutung der Schuldfeststellung durch das Synedrion eskamotieren zu wollen. Offen bleibt, ob die Klagen vor dem Statthalter denunziatorischen oder akkusatorischen Charakter hatten. Jedenfalls muß der Statthalter sich mit dem Fall befassen und befragt Jesus wegen der vorgebrachten Anschuldigungen. Nach den synoptischen Evangelien kommt es durch Jesus – aus welchen Gründen auch immer – zu keiner eindeutigen Verteidigung gegen die Vorwürfe. Folglich war es dem Statthalter anheimgestellt, den Fall weiter zu untersuchen oder das Verhalten Jesu einfach als Geständnis zu werten. Unterstellt man Pilatus ein politisches Kalkül unter den von den Evangelien geschilderten Umständen, so spricht alles dafür, daß er von einer Art „Selbstverurteilung“ Jesu ausgegangen ist. Aufgrund der Kreuzesinschrift steht zumindest fest, daß Jesus wegen der vorgebrachten Anklagen hingerichtet wurde, wobei die Königsprätention die Klammer zwischen den Anklagen der jüdischen Autoritäten und dem Kreuzigungsbefehl des Pilatus bildet. Der dazwischenliegende Begnadigungsakt in der Alternative zwischen Jesus und Barabbas braucht nicht als Bestandteil des Untersuchungsverfahrens bzw. der statthalterlichen Entscheidung betrachtet werden. Soweit können die Berichte der Synoptiker auch als Zeugnisse für ein grundsätzlich, d. h. für damalige Verhältnisse faires Verfahren gelesen werden, bei welchem dem Angeklagten rechtliches Gehör geschenkt wird; daß dieser die Chance der Verteidigung nicht nutzt, ist jedenfalls nicht dem Statthalter anzulasten. Auch wenn sich Pilatus bei der Würdigung dieser Einvernahme von Rückichten auf die Volksstimmung leiten läßt, liegt zumindest kein Ermessensmißbrauch vor. Soviel zum äußeren Handlungsgeschehen, das als Grundlage dienen kann, noch genauer die Motivlagen der beteiligten Akteure zu erörtern. Aus der Perspektive des Statthalters, so wie sie den Evangelien in unterschiedlich deutlichem Ausmaß zu entnehmen ist, bildet die Einschätzung Jesu als wahrscheinlich harmlosen, wenngleich in seiner Haltung imponierenden Wanderprediger gerade die Grundlage, weshalb seine Hinrichtung nur aus herrschaftspragmatischen Gründen erfolgen konnte. Zumindest betonen sämtliche Evangelien mehr oder weniger deutlich, daß die Hinrichtung nicht als Resultat des Verhörs erfolgte, bei dem sich die Relevanz

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

bzw. Richtigkeit der Anschuldigungen seitens der Hohepriester und ihres Gefolges in der Würdigung des Statthalters bestätigt hätte. Für den Statthalter bestand die Möglichkeit mit einem an ihn ausgelieferten Peregrinen niederen sozialen Status’ ohne römisches Bürgerrecht, der zudem bei einem Großteil seiner eigenen Landsleute unbeliebt zu sein schien,116 „kurzen Prozeß“ zu machen, um weitere Unruhen in der angespannten Situation zur Zeit des Passahfestes zu verhindern. Eingedenk dieser Möglichkeit gestaltet sich das Verfahren gegen Jesus sogar als recht aufwendig. Wegen dieses – für einen Königsprätendenten recht ärmlich daherkommenden – Galiläers, ohne größere militante Anhängerschaft oder Rückhalt bei den Provinzialeliten, brauchte sich Pilatus in bezug auf weitere Implikationen, die der Fall nach ziehen könnte, keine weitere Sorgen zu machen, etwa daß er beim syrischen Statthalter oder Kaiser deshalb angeschwärzt werden würde.117 So mußte er auch keine weiteren Nachforschungen hinsichtlich einer potentiell gefährlichen Anhängerschaft anstellen. Nach den synoptischen Evangelien ließe sich auch schlicht unterstellen, daß Jesus durch seinen Verzicht auf Verteidigung selbst den Anlaß zu seiner Hinrichtung gegeben hat.118 Schwer zu beantworten bleibt hingegen die Frage, wieso Pilatus, wenn er von der Unschuld Jesu überzeugt gewesen wäre, überhaupt das Volk vor die Alternative Jesus oder Barabbas stellte, hätte er doch auch andere Gefangene für den Begnadigungsakt auswählen können.119 Eine mögliche Er116

Dies geht nicht nur aus dem Verhalten der Menge während des Begnadigungsaktes hervor, sondern auch aus den Pressionen gegenüber den Jüngern, die sich gezwungen sahen, zu fliehen, das Treiben aus der Ferne zu betrachten und Jesus zu verleugnen; vgl. Mk 14,50–52; 14,67–71; Mt 26,56; 26,69–74; 27,44; Lk 22,56–60; 23,49; Joh 18,17.25. Vgl. Theissen/Merz (1997), S. 395 f., 398. 117 Wenn das Johannesevangelium suggeriert, daß Pilatus möglicherweise beim Kaiser hätte angeschwärzt werden können (auch eine Klage beim syrischen Statthalter wäre möglich gewesen, wissen wir doch, daß dies in einer anderen Situation ein halbes Jahrzehnt später zur Abberufung des Pilatus führen sollte), so ließe sich dies auch in bezug auf Barabbas vorstellen, etwa wenn Beschwerden eingegangen wären, wieso er anstelle des aufständischen Mörders nicht doch besser diesen vermeintlichen König der Juden, dem nichts gleichartiges vorzuwerfen war, freigelassen habe. Jedoch würde man dem Fall dann eine Bedeutung beimessen, die er in der zeitgenössischen Wahrnehmung m. E. nicht gehabt haben kann; außerdem wissen wir, daß der Statthalter im Umgang mit Gefangenen keine strikten Regeln zu befolgen hatte und Freilassungen auch auf relativ willkürlicher Basis geschehen konnten, sei es auch nur infolge von Bestechung. Man denke hierbei auch an die Freilassung von Gefangenen unter den Statthaltern in der Phase vor Ausbruch des Aufstandes; vgl. oben Abschnitt V. 1. e) mit A. 111 bzw. zum Statthalter Festus Joseph., BJ 2,272– 275. 118 Dem entspräche die christologische Sichtweise, daß Jesus sich bewußt dem Schicksal ausliefert, „das Kreuz auf sich zu nehmen“ und von daher keinen Anlaß sieht, seine von ihm selbst vorhergesehene Bestimmung durch irgendwelche Verteidigung abzuwenden.

4. Fazit zum Fall Jesu

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klärung hierfür wäre, daß Pilatus nach den schwerwiegenden Anklagen und Jesu Verzicht auf Verteidigung kaum mehr etwas anderes übrigblieb, wollte er keine nachhaltigen Spannungen mit den jüdischen Autoritäten heraufbeschwören.120 Falls Jesus auf Pilatus nicht den Eindruck gemacht hatte, einer dieser religiös-militanten Aufrührer zu sein, so bestand in der Begnadigungsalternative wenigstens eine gewisse Chance, diesen anstelle des Barabbas freilassen zu können, an dessen Verbrechen wohl weit weniger Zweifel bestanden. Zusammengenommen laufen die Informationen aus den Evangelien darauf hinaus, daß bei Unterstellung eines herrschaftspragmatisch orientierten Entscheidungskalküls die Hinrichtung Jesu aus der Situation heraus für den Statthalter mit den geringeren „politischen Kosten“ verbunden war, und zwar ohne etwas von seiner Autorität preiszugeben. Für die Haltung des Jerusalemer Volkes ließe sich die Vermutung anstellen, daß es lieber einen der „Ihren“ freihaben wollte als einen „Galiläer“, oder daß es sich ganz einfach an die Vorgaben der Jerusalemer Priesterschaft hielt.121 Von diesen Motivlagen her sprach alles gegen eine Freilassung Jesu. Die bisher angeführten möglichen Entscheidungsmotive des Statthalters können unabhängig von den jeweiligen Darstellungstendenzen der Evangelien für historisch plausibel gehalten werden, wenngleich sie hypothetische Unterstellungen bleiben. Weitaus schwieriger ist es, zu eindeutigen rechtshistorischen Befunden hinsichtlich der Verfahrensart zu gelangen, zumal wenn die hierfür relevanten Kriterien mehr unterstellt werden müssen und 119 Sicherlich ist es auch möglich, falls die Freilassung des Barabbas – aus welchen Gründen auch immer – mit der Kreuzigung Jesu zeitlich zusammenfiel, schnell eine Erzählung entstehen konnte, die nachträglich einen Zusammenhang konstruiert, ohne daß es den Brauch der Begnadigung in der von den Evangelien suggerierten Form gegeben haben muß, vgl. Gnilka (1988), S. 34–36. 120 Sherwin-White (1963), S. 25, betont, wenn es zu keiner Verteidigung gekommen ist, so sei Pilatus zur Strafe gezwungen gewesen, dies läge im Wesen des Systems, da römische Gerichte immer mehr auf Seiten eines abwesenden Anklägers als mit einem Angeklagten gewesen seien, der sich nicht selbst verteidigte. 121 Bezeichnend für die ablehnende Haltung gegenüber einem Galiläer ist möglicherweise die Identifizierung des Petrus als Anhänger Jesus in Mt 26,73: „Wahrhaftig, du bist einer von denen, denn deine Mundart verrät dich.“ Bei Lk 22,59 heißt es: „Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm, denn er ist ein Galiläer“, vgl. auch Mk 14,70. Ebertz (1993), S. 78 f. mit Verweis auf Bösen (1985) zu Galiläa, dessen jüdische Bevölkerung aus Sicht der Jerusalemer Bevölkerung an der geographischen Peripherie sowie an der Grenzscheide zweier Kulturen lag, von ökonomischer Verarmung schwer getroffen und durch politisch-administrative Maßnahmen kulturell überfremdet war. Auch die Eigenwahrnehmung, der jüdisch-palästinensischen „Gesellschaft“ anzugehören, stieß auf Ablehnung. „Aus diesem Galiläa stammten nicht nur die meisten Protest- und Widerstandsbewegungen dieser Zeit, dieser ,Winkel‘ im Winkel des römischen Reichs war auch die Heimat der Jesusbewegung, was sich aus der Zusammensetzung des engeren Jüngerkreises ablesen läßt.“ Vgl. a. Hengel (1975), S. 162 f.; Freyne (1994).

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

nicht selbst mit Sicherheit aus den Evangelien abgeleitet werden können.122 Methodisch bieten sich zwei Optionen: entweder ein bestimmtes Verfahren zu unterstellen, Abweichungen herauszuarbeiten und Aussagen zum Verfahrenstyp zu machen, um gegebenenfalls „Unrechtmäßigkeiten“ festzustellen; oder aber die Abweichungen vom Muster selbst als typisch für den provinzialen Strafprozeß zu halten, da er sich weitestgehend nach dem Gusto des Statthalters gestaltete. Gerade wenn sich über die kanonischen Evangelien vier Berichte mit Abweichungen über denselben Vorgang erhalten haben, scheint es angebracht, zu versuchen, sich von beiden Seiten anzunähern, d. h. ein bestimmtes Muster zu unterstellen und sich dennoch der Varianzbreite des historisch Möglichen bewußt zu bleiben. Betrachtet man den Fall Jesu aus strafrechtlicher Perspektive, so scheint es angebracht, einem Interpretationsstrang zu folgen, der von W. Kunkel angeregt wurde, wobei man gezwungen ist, sich ausschließlich auf die synoptischen Evangelien zu stützen.123 Gemeint ist der vielzitierte Aufsatz, in dem er bestimmte allgemeine Prinzipien des römischen Strafverfahrens herausgearbeitet hat, die mit Abweichungen sowohl im stadtrömischen als auch im provinzialen Strafprozeß zur Geltung gekommen seien. Ohne daß man Kunkels Aussagen in allem zustimmen müßte,124 stehen uns – wie aus dem Begriff Prinzipien selbst hervorgeht125 – wenigstens einige allgemeine 122 Für Sherwin-White (1963), S. 24 f., stellt sich kaum ein Problem, wenn er zu erkennen glaubt, daß das römische Rahmenwerk einer cognitio extra ordinem gut erkennbar sei; der Strafprozeß gegen Jesu sei pro tribunali, worauf der Richterstuhl (bema) hindeute; es habe ordnungsgemäße Anklagen durch delatores gegeben, die den Klagegrund konkret angezeigt hätten. Die Mehrheit der anderen Autoren geht hingegen von einem Verfahren de plano aus. Für mich ist nicht ersichtlich, welchen Unterschied diese zwei Verfahrensarten mit sich gebracht hätten, zumal der Hinweis auf das bema – wie bereits in den jeweiligen Kontexten bei Josephus dargelegt wurde – kaum sicheren Hinweis auf irgendein spezielles rechtliches Verfahren gibt (ich komme darauf unten noch einmal zurück). Vgl. auch Theissen/Merz (1997), S. 401, A. 22, mit Verweis auf Wenger (1942), obgleich Wenger – wie erstere unterstellen – auf den Prozeß Jesu in seiner Analyse zweier Papyrus-Fragmente mit „Gerichtsprotokollen“ gänzlich anders gelagerter Fälle gar nicht eingeht. 123 Kunkel (1974a), S. 20 f., deutet seinen Interpretationsansatz zum Verfahren gegen Jesus, gestützt auf das Mk, nur kurz an. 124 Vgl. ausführlicher zu W. Kunkel oben Abschnitt I. 2. c). 125 Der methodische Vor- und Nachteil eines Ansatzes, der von „Prinzipien“ ausgeht, kommt im Spannungsverhältnis von drei Aussagen in Kunkels Aufsatz (1974a) zum Tragen: 1. (S. 11) „Aber selbst dann, wenn wir die Anfänge und das Ende der tausendjährigen Entwicklung besser kennen würden, als es tatsächlich der Fall ist, müßten wir vielleicht feststellen, daß es Grundsätze des Strafverfahrens, die in der gesamten Geschichte des antiken römischen Rechts unverändert gegolten haben, praktisch kaum gegeben hat.“ 2. Nachdem er eine zeitliche Eingrenzung (späte Republik, frühes und hohes Prinzipat) vorgenommen hat, relativiert er (S. 15) die vorherigen Aussagen: „Ich möchte im folgenden zeigen, daß der Gegensatz zwi-

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Kriterien zur Verfügung, anhand derer die Informationen aus den Evangelien erörtert werden können und die zugleich einen ausreichenden Spielraum für Abweichungen im Detail lassen. Wenn diese Aufgabe auch bereits von Chr. Paulus in konziser Weise vorgenommen wurde, erscheint es nicht überflüssig, bestimmte Punkte noch einmal zu problematisieren.126 Entscheidend ist für Kunkels Interpretationsansatz das Zusammentreffen von drei Grundannahmen: Erstens müßte davon ausgegangen werden, daß auch im provinzialen Strafprozeß in Anlehnung an die stadtrömischen Quästionengerichtshöfe das Prinzip der Zweiteilung des Verfahrens Anwendung fand, wobei es im ersten Teil nur darum ging, herauszufinden, ob sich der Beklagte schuldig bekennt oder nicht; nur im letzten Fall kommt es in einem zweiten Teil zu einer Untersuchung, aus der dann ein förmliches Strafurteil hervorgeht, andernfalls konnte der Beschuldigte unverzüglich seiner Strafe zugeführt werden.127 Zweitens müßte man davon ausgehen, daß in Fällen, wo die Schuld bereits feststand, kein Strafverfahren mehr notwendig war, sei es, weil die Tat offenkundig war oder weil der Täter sie eingestanden hatte; beides galt als „Selbstverurteilung“.128 Falls Jesus mit seiner Antwort „Du sagst es“ noch kein Geständnis abgelegt haben sollte, so wäre es außerdem möglich, daß er ein geständnisäquivalentes Verhalten an den Tag gelegt hätte. Dann müßte drittens davon ausgegangen werden, daß sein nachfolgendes Schweigen als Geständnis gewertet wurde.129 Treffen sämtschen dem Quästionenprozeß und dem magistratischen Verfahren in Wahrheit nicht so groß war, wie diese Lehre [Mommsens, GK] behauptet; daß beide Verfahrensarten in erheblichem Maß auf den gleichen Prinzipien beruhen und daß man diese Prinzipien kennen muß, um den römischen Strafprozeß der späten Republik und der Prinzipatszeit richtig zu verstehen.“ 3. Dann wird aber (S. 15) wiederum festgestellt: „Das Verfahren vor den Magistraten war im Gegensatz zu den Quästionenverfahren nicht gesetzlich geregelt und konnte darum sehr viel freier gehandhabt werden.“ 126 Vgl. Paulus (1985). Vgl. auch Wesel (2001), S. 172–175. 127 Vgl. Kunkel (1974a), S. 20, mit interssanten Vergleichen zwischen Quästionenprozeß und angelsächsischem Strafverfahren. Zugleich vollzieht Kunkel hier einen Schlenker vom Quästionenverfahren zum provinzialen Strafprozeß. Dabei geht er aber selbst davon aus, daß letzterer im Gegensatz zu ersterem nicht gesetzlich geregelt war, es zudem fraglich ist, ob hier die Strafgesetze galten wie für Rom. So wäre hinzuzufügen, daß der Ermessensspielraum des Magistraten bzw. Statthalters doch enorm groß gewesen sein muß und es in seinem Belieben stand, in welchem Ausmaß er sich an Prinzipien des Quästionenverfahrens im Rahmen seines Provinzialregimentes orientierte. Daß es hier nach Provinzen, Statthalter und auch von Fall zu Fall, je nach Situation und Status des Beklagten Abweichungen geben konnte, ist mehr als wahrscheinlich. 128 Vgl. Kunkel (1974a), S. 17 f. 129 Vgl. Kunkel (1974a), S. 19, 21; Paulus (1985), S. 441 f. mit Verweis auf den Kommentar von Asc. zu Cic., Verr. 1,5 sowie Quint., Inst. 3,6,14. Die Annahme von Rosen (1988), S. 138–143, ders. (1991), S. 55–58, daß Jesus in diesem Zusam-

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liche Annahmen zu, so sei es möglich gewesen, daß der Fall nach dem Grundsatz confessus pro iudicato est sein Ende fand und Jesus als confessus ohne weitere Untersuchung und ohne förmliches Strafurteil allein auf Grundlage der Koerzitionsgewalt hingerichtet werden konnte.130 Orientiert man sich an diesem Schema, so bieten sich folgende Vorteile: Die Zweiteilung des Verfahrens sowie die Tatsache, daß der Statthalter, wenn er die Strafe an einem confessus nicht sogleich vollstrecken lassen wollte, noch weiter nachhaken konnte, sei es durch wiederholtes Nachfragen oder durch die peinliche Befragung, decken sich mit Aussagen der sogenannten Christenbriefe des jüngeren Plinius.131 Deshalb kann vermutet werden, daß die Zweiteilung des Verfahrens zumindest prinzipiell auch für den provinzialen Strafprozeß Anwendung finden konnten, wenngleich die Evangelien diesbezüglich weniger eindeutig sind. Dessen ungeachtet ließe sich gemäß der oben angeführten Grundannahmen folgern, daß das Strafverfahren gegen Jesus mit seinem „Schweigen“ beendet und kein förmliches Strafurteil mehr notwendig war, zumal es für ersteres eindeutige und für letzteres keine eindeutigen Belege in den Evangelien gibt. Auf dieser Grundlage wäre es bei dem Begnadigungsakt zum Passahfest wirklich nur darum gegangen, dem Volk vermittels Akklamation die Wahl zwischen einem eventuell „manifesten“ Täter (Barabbas) und einem „geständigen“ Täter (Jesus) zu lassen. Prinzipiell hatten dann beide den gleichen Verbrecherstatus inne und konnten ohne Strafurteil, sondern allein kraft Koerzitionsgewalt hingerichtet werden.132 Ferner ließe sich dieser Ansatz damit menhang allein wegen seiner „Widerspenstigkeit“ (contumacia) gegenüber der Autorität des Statthalters hingerichtet wurde, erscheint mir demgegenüber eine Verengung. Wenigstens müßte geklärt werden, warum diese Annahme plausibler sein sollte als solche, die sich wenigstens noch auf einige Anhaltspunkte in den Evangelien stützen können. Rosen geht von einer cognitio de plano aus, in deren Rahmen Jesus den Fehler gemacht habe, nachdem der maiestas-Vorwurf erledigt war, daß er keine poenitentia bewies, so daß eine venia nicht in Frage kam. Jedoch habe Jesus nicht nur im Verhör versagt, sondern der schweigende Jesus beging auch contumacia gemäß Dig. (Ulp.) 11,1,4 und mußte wegen seiner Mißachtung des Gerichts bestraft werden. Rosens These hebt schlicht auf den Umstand ab, daß das Todesurteil gegen Jesus aus der Ordnungswidrigkeit des Angeklagten gegen die weltliche Obrigkeit ergangen sei; alles andere seien nachträglich hinzugefügte theologische Rechtfertigungen, welche hinter diesem eigentlichen Anlaß der Kreuzigung steckten. 130 Vgl. Kunkel (1974a), S. 17 ff., zum confessus S. 19; darauf aufbauend Paulus (1985), bes. 441 ff. 131 Vgl. Plin., Ep 10,96; dazu Paulus (1985), S. 443. 132 Der Kreuzigungsbefehl braucht nicht als Strafurteil verstanden werden, sondern konnte nach dem Begnadigungsakt zum Passahfest kraft Koerzitionsgewalt ergangen sein. Die Ausdrucksweise bei Mk 15,15, vgl. parallel Mt 27,26; Joh 19,16: Pilatus „ließ Jesus geißeln und überantwortete (paradidomi) ihn, daß er gekreuzigt werde“. Allein das epikrinein bei Lk 23,24 ließe sich – wenn auch nicht mit Gewiß-

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vereinbaren, daß der Kreuzigungsbefehl des Pilatus mit dem Hinweis erging, Jesus habe sich angemaßt, König der Juden zu sein, da sein Verhalten dann schlichtweg als Geständnis hinsichtlich der entsprechenden Anschuldigungen gelten konnte,133 also nicht wegen irgendwelcher Tempelweissagungen, wie in der Forschung gelegentlich vermutet worden ist.134 Schließlich heit – als Hinweis auf ein Strafurteil deuten, wird dann jedoch ebenfalls durch die Verwendung einer Form von paradidomi aufgeweicht. Bammel (1984c), S. 415: „Paradidomi is a word that is used in a more general and even half-metaphorical way quite often in Christian language“ unter Verweis auf: Mk 1,14; 9,31; Joh 3,36, 18,35; Joseph., AJ 14,15; 20,200; BJ 7,413.415; Euseb., Hist. eccl. 1,5,1. Die Art der Todesstrafe in Form der Kreuzigung, aber auch die Kreuzesinschrift kann nicht als eindeutiger Hinweis auf ein förmliches Strafurteil betrachtet werden, wäre sie auch als zusätzliches Mittel der Abschreckung für die Landsleute Jesu im Rahmen einer Zwangsmaßnahme vorstellbar. So sieht Müller (1988), S. 62 ff., gerade in der extensiven Anwendung der Kreuzesstrafe in der Provinz Judäa eine Bekräftigung der uneingeschränkten Koerzitionsgewalt der Statthalter. Ausführlich zur Kreuzesstrafe vgl. M. Hengel (1976), S. 137, 151, 172, mit Kritik an Kuhn (1975); vgl. auch ders. (1982); ein knapper Kommentar zu beiden und mit neuerer Literatur Horsley (1994), S. 409–414; vgl. auch Fitzmyer (1978). 133 Wenn dies in der Literatur häufig mit dem maiestas-Vergehen in Verbindung gebracht wird, so kann m. E. für den provinzialen Strafprozeß über einen Peregrinen noch nicht einmal mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß hierfür ein strafrechtlicher Titel überhaupt notwendig war. Folglich würde sich dann auch nicht die Frage stellen, ob Jesus das Opfer eines „Justizirrtums“ gewesen ist, wobei spezifische Interessenlagen seitens der lokalen Priesteraristokratie eine Rolle spielten; dies legen zwar die Evangelien mit je späterer Abfassungszeit in desto deutlicherem Ausmaß nahe, jedoch wäre darauf zu achten, daß man den Fall nicht mit rechtsstaatlichen Kategorien bewertet und mit anachronistischen Moralisierungen überfrachtet. 134 Diese These profiliert Müller (1988), S. 69 ff.; er verweist dabei besonders auf den Fall des Jesus ben Ananias bei Josephus, vgl. oben Fall (11), und sieht in der Auslieferung dieses Unheilspropheten wegen seiner Worte gegen den Tempel einen „etablierten Instanzenzug“; zum Tempellogon Jesu aus Nazareth vgl. ebd. 78 ff. Die Messiasfrage, welche in den synoptischen Berichten im Vordergrund stehe, gehe auf das Konto der späteren nachösterlichen Gemeinde und sei nachträglich zum Angelpunkt der Verurteilung Jesu stilisiert worden, was besonders bei Lk deutlich werde, der die Tempelkritik einfach wegließ, vgl. S. 80. Die These, daß die Anklage wegen eines Vergehens gegen den Tempel zunächst rein religiös motiviert war, dann aber in Verbindung mit dem Messiasbekenntnis politischen Charakter annahm, vertritt auch Schumann (1965), S. 320. Unter diesen Prämissen stellt sich schlicht das Problem, daß der Statthalter quasi zum Erfüllungsgehilfen degradiert wäre, der das Urteil des Synedrions in diesem Fall nur zu bestätigen brauchte – so etwa die These von Bammel (1984c) – ganz abgesehen von der Tatsache, daß Jesus offensichtlich nicht deswegen, sondern wegen des Königsanspruchs hingerichtet wurde, wie sowohl die Anklagen als auch die Kreuzesinschrift belegen. Vgl. die überzeugende Ablehnung der Relevanz der Tempelkritik im Fall Jesu bei Becker (1996), S. 400–413. Die Tatsache, daß die Tempelweissagung für die Untersuchung des Statthalters keine Rolle gespielt hat, muß nicht heißen, daß das Tempelwort Jesu in der Untersuchung vor dem Synedrion keine Rolle spielte, vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 454–460; auch in den Gemütern der Bevölkerung war die Tempel-

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braucht im Rahmen dieser Grundannahmen der Begnadigungsakt zum Passahfest nicht mehr als Bestandteil des Strafverfahrens – etwa im Sinne eines „tumultarischen Prozesses“ – verstanden werden; dieses konnte vielmehr nach der in den Evangelien dargestellten Sequenz (Anklagen-VerhörSchweigen als Geständnis) als abgeschlossen gelten. Wenn trotz der Zweifel des Statthalters von keinem Consilium mit Mitgliedern aus seinem Anhang die Rede ist, so ließe sich dies ebenfalls damit erklären, daß Jesus durch seinen Verzicht auf Verteidigung auch keine Argumente lieferte, die Gegenstand irgendeiner Beratung hätten werden können; deshalb muß freilich nicht – wie an anderer Stelle bereits erörtert wurde135 – mit Kunkel davon ausgegangen werden, daß andernfalls ein Consilium unablässiger Bestandteil einer Strafuntersuchung gewesen wäre, geschweige denn davon, daß dieses dann eine wirkliche Richterfunktion in Form eines abstimmenden Geschworenenkollegiums ausgeübt hätte. Prüft man noch die weiteren von Kunkel angeführten Prinzipien des römischen Strafverfahrens, so ergeben sich daraus ebenfalls keine Probleme: Daß Jesus die Möglichkeit der Verteidigung gegeben wurde, geht daraus hervor, daß er sie nicht wahrnahm; daß das Verfahren öffentlich war, ist ebenfalls kaum zu bestreiten;136 daß sich Jesus privaten Anklägern gegenüber gestellt sah, braucht nicht angezweifelt werden, zumal m. E. die Überstellung vom Synedrion an den Statthalter keinen rechtlich geregelten Instanzenzug darstellte und die Klagen der Mitglieder des Synedrions, auch wenn sie wahrscheinlich ob ihrer Mitverantwortung in der Oberaufsicht über die Provinz auf privilegiertes Gehör hoffen konnten, deshalb noch keineswegs die Funktion eines öffentlichen Anklägers ausübten. Die genannten weissagung Jesu möglicherweise ein Faktor ihrer Abneigung, wie sich in den Schmähungen während der Kreuzigung zeigt, vgl. Mk 15,29; Mt 27,40. 135 Vgl. zum Ansatz von W. Kunkel oben Abschnitt I. 2. c). 136 Bei Mk gibt es keine Angaben über den Ort des Geschehens, jedoch läßt das ganze Ambiente, insbesondere 15,16 vermuten, daß sich der Fall Jesu draußen abgespielt hat; Mt 27,19 erwähnt, daß Pilatus auf einem Richterstuhl (bema) saß; auch hier ist von den Umständen und aus 27,27 zu schließen, daß die Untersuchung Jesu in der Öffentlichkeit stattfand. Lk liefert keine Ortsangaben, doch ist es auch hier naheliegender, von einer Verhandlung vor großem Publikum auszugehen. Bei Joh ergibt sich aus der Tatsache, daß die Juden Jesus zum Prätorium führen, dieses aber nicht betreten, „damit sie nicht unrein würden, sondern das Passahmahl essen könnten“ (18,28), daß Pilatus mehrmals zwischen Drinnen (Prätorium) und Draußen wechseln mußte, vgl. 18,29. 33. 38; 19,4 f.; 9.13. Joh 19,13 f. berichtet erst für einen relativ späten Zeitpunkt des Geschehens, daß sich Pilatus auf den Richterstuhl gesetzt habe. Millar (1990) erkennt gerade in der topographischen Genauigkeit des Joh sowie in seiner Berücksichtigung von jüdischen Reinheitsvorschriften ein Element, daß für seine historische Glaubwürdigkeit spreche. Zum Problem der Interpretation des ekathisen epi bematos in Joh 19,13 vgl. Brown (1994), Bd. 2, Appendix III D., S. 1388–1393.

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Prinzipien können also unabhängig von der persönlichen Einstellung des Pilatus gegenüber Jesus sowie von Jesus gegenüber der Berechtigung der Anklagen seitens der Juden eine Bestätigung finden, ohne daß deshalb weiterreichende formale Unterstellungen zum provinzialen Strafprozeß notwendig wären. Angebracht scheint vielmehr sogleich eine Relativierung, welche die Grenzen der Bestimmbarkeit von Abläufen des provinzialen Strafprozesses offenlegt. Zumeist137 wird angeführt, es habe sich im Fall Jesu um eine cognitio (extra ordinem) gehandelt, die sich durch größtmögliche Formfreiheit auszeichnete, wobei sowohl die Vorgehensweise als auch das Strafurteil allein im Ermessen des Magistraten bzw. Statthalters lag.138 Gerade deshalb stellt sich hier das Abgrenzungsproblem zur coercitio; beides ist auch deshalb schwer auseinanderzuhalten, weil coercitio und cognitio unmittelbar ineinander übergehen konnten, etwa wenn der Statthalter jemanden festnehmen ließ und dann vor sein Gericht zog, oder umgekehrt – wie soeben auf Grundlage von Kunkels Hypothesen dargelegt wurde – eine cognitio mit der bloßen Ausübung der coercitio enden konnte. Die Evangelisten legten wahrscheinlich keinen besonderen Wert auf die Unterscheidung, ob Jesus mittels Koerzitionsgewalt oder Strafurteil des Statthalters hingerichtet wurde. Wenn die Hinweise auf einen Richterstuhl (bema) oder die Interaktion mit jüdischen Autoritäten bzw. dem Volk angeführt werden, um den formalen Prozeßtyp näher zu bestimmen, so halte ich dies nicht für überzeugend, da diese auch im Vorfeld für die Ausübung statthalterlicher Strafgewalt belegt sind, die überhaupt keinen Strafprozeßcharakter aufweisen.139 Gleiches gilt auch für die Feststellung der Öffentlichkeit des Verfahrens,140 da der Statthalter auf seinem bema in der Öffentlichkeit unterschiedlichste Amts137 Es bedarf keiner Erörterung mehr, weshalb die Prozeßform in Analogie zum Komitialprozesses oder demjenigen vor einem ordentlichen römischen Geschworenengerichtshof (quaestio) im Fall Jesu ausgeschlossen werden kann, und zwar einfach, weil es keine Hinweise darauf gibt bzw. die vorhandenen Informationen dem widersprechen. Dahingehende Versuche, wie jüngst bei Heusler (2000) im Hinblick auf das Lukasevangelium, halte ich für verfehlt, zumal sie hierbei von Voraussetzungen des stadtrömischen Prozeßwesens ausgeht, die in der Forschung nicht mehr vertreten werden; vgl. die Rezension von Nippel (2001) in: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de. 138 Zur Diskussion über den Prozeßtyp im Fall Jesu und zur cognitio (extra ordinem) vgl. Brown (1994), Bd. 1, S. 710–722. 139 Gegen Sherwin-White (1963), S. 24 f.; richtig dagegen Bammel (1984c), S. 431. Vgl. dazu die oben dargestellten von Josephus überlieferten Fälle (6), (7), (15b). 140 Dann stellt sich auch nicht das Problem, daß Kapitalfälle pro tribunali, mindere Fälle de plano verhandelt wurden.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

handlungen wahrnehmen konnte.141 Auch daß Pilatus nicht auf eigene Initiative die Bestrafung Jesu angestrebt hatte, erscheint keineswegs so erhellend, wie man es gerne hätte; denn es ist nicht so einfach, eine klare Unterscheidung zwischen initiativem und reaktivem Verhalten in Zuordnung zur Koerzitionsgewalt bzw. Gerichtsbarkeit des Statthalters vorzunehmen,142 wenn man voraussetzt, daß der Statthalter nicht allwissend sein konnte und auch im Vorfeld einer bloßen Koerzitionsmaßnahme unterrichtet werden mußte, folglich auch hier in den meisten Fällen irgendeine Form von „Anzeige“ bzw. „Denunziation“ stattfinden mußte. Insgesamt bleibt unklar, ob die „Anklage“ während der Auslieferung Jesu an den Statthalter akkusatorischen oder denunziatorischen Charakter hatte; überhaupt ist fraglich, ob dies für einen provinzialen Strafprozeß gegen einen Peregrinen von Bedeutung gewesen wäre, so daß der Hinweis auf die delatio nominis erst recht als formale Unterstellung betrachtet werden muß. All diese Punkte erscheinen mir nicht deshalb problematisch, weil sich für sie keine bestätigenden Hinweise in den Evangelien oder in anderem Quellenmaterial finden würden, vielmehr zweifle ich daran, daß sie brauchbare Abgrenzungskriterien darstellen und Aufschluß darüber geben könnten, wie sich ein „formelles“, „eigentliches“, „richtiges“, „ordentliches“ Strafverfahren in Abgrenzung von anderen Formen der Strafgewalt abgespielt haben mußte. Es soll den Kriterien auch nicht prinzipiell ihre Relevanz abgesprochen werden oder ihre Eignung, hier und da zur Identifizierung eines bestimmten Strafverfahrens in den Quellen beitragen zu können. Jedoch geht es in die Irre, anhand dieser Kriterien ein vorgeblich standardisiertes Strafverfahren zu konstruieren, um daraus dann bei Abweichungen einen „Justizirrtum“, einen Verfahrensfehler oder allgemein die Unrechtmäßigkeit der „Willkürjustiz“ etc. abzuleiten. Falls sich ein Statthalter am Quaestionenverfahren ausgerichtet haben sollte, heißt dies noch lange nicht, daß ein davon abweichendes Verfahren irregulär wäre, und falls ein Statthalter ganz anders verfahren sein sollte, so heißt dies noch nicht, daß jeder Statthalter so verfahren wäre. Auch hier gilt, daß es von den herrschaftspragmatischen Bedingungen, der speziellen Situation, der consuetudo, der Persönlichkeit des Statthalters und der Wahrnehmung seines Ermessenspielraums abhing, wie er seine Strafgewalt ausübte. Die Abweichungen, die sich mit Unterstellung von bestimmten Prinzipien eines Idealtyps feststellen lassen, sind nicht Abwei141

Zum sog. Richterstuhl (bema), eigentlich ein Podest für Richter und Redner, vgl. oben Fall (6) bzw. Joseph., BJ 2,172. 142 Davon geht z. B. Robinson (1995), S. 362 aus: „Coercitio kann aber nur reaktive Unterdrückung meinen.“ Wieso sollte die cognitio nicht als reaktive Unterdrükkung betrachtet werden und wieso sollte die coercitio nicht auch aktive Unterdrükkung beinhalten?

4. Fazit zum Fall Jesu

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chungen vom Recht (oder gar Rechtsbruch), sondern dessen Bestandteil, in gewissen Sinne die Merkmale des daraus abzuleitenden „Realtyps“. Strafen und Herrschen waren in den kaiserlichen Provinzen noch nicht in einem Maße voneinander ausdifferenziert, daß das Strafrecht sich bereits eine „Legitimität durch Verfahren“ zugelegt hätte, die den Herrschaftsaspekt verschleiert; entsprechend war die Ausübung der Strafgewalt auch noch nicht in ein enges juristisches Korsett verfahrensrechtlicher Natur gefaßt, was den Statthalter daran gehindert hätte, sein Provinzialregiment unabhängig von informellen und herrschaftspolitischen Erwägungen auszuüben. Vielmehr sollte umgekehrt – wie überhaupt beim römischen Strafprozeßwesen – davon ausgegangen werden, daß es gerade der Ermessensspielraum des Magistraten oder Statthalters war, der es auch Klägern und Denunzianten erlaubte, persönliche Gegner mit den Mitteln des Strafrechts anzugreifen, sich zu rächen oder auch nur sein Ansehen zu schmälern. Wenn im Fall Jesu häufig auf die ,Christenbriefe‘ des jüngeren Plinius verwiesen wird, so wird dabei allzu oft vergessen, daß es sich eben um Briefe handelt, die Fragen an den Kaiser richten, ob er sein Vorgehen gegen die Christen billige. Dies impliziert doch die Tatsache, daß auch noch acht Jahrzehnte nach dem Prozeß Jesu über bestimmte Verfahrensweisen keine einheitliche Auffassung und Klarheit herrschte.143 Davon abgesehen stellt sich die Frage, ob andere Statthalter, die ein selbstsichereres Auftreten zeigten als Plinius in Pontus-Bithynien, sich darüber überhaupt den Kopf zerbrachen oder ihre Aufgaben wie selbstverständlich nach eigenem Ermessen wahrnahmen. Um diesbezüglich zu einem einheitlichen Bild zu gelangen, fließen die Quellen zu spärlich; und das, was uns überliefert ist, spricht eher dagegen, überhaupt eine einheitliche Strafgewaltspraxis vorauszusetzen. Ausgehend von Kunkels Ansatz haben wir bisher nur die synoptischen Evangelien berücksichtigt, so daß noch auf das Johannesevangelium eingegangen werden muß, in welchem Jesus nicht schweigt, folglich kein Geständnis abgelegt haben kann, sich vielmehr damit verteidigt, daß sein Königsanspruch keinen weltlichen Herrschaftsanspruch impliziert. Hier hat also die Unschuldsvermutung des Pilatus eine ganz andere Dimension, wenn Jesus nicht wie in den anderen Evangelien ein Verhalten an den Tag legt, das als Schuldbekenntnis gedeutet werden könnte. Wenn der Statthalter Zweifel an der Stichhaltigkeit der Anschuldigungen hegte, möglicherweise sogar von der Unschuld Jesu überzeugt war und ihn die Antworten Jesu darin bestärkt hätten, so stellt sich schlichtweg die Frage, weshalb Pilatus dann Jesus nicht einfach freiließ und einen anderen Gefangenen in Alternative zu Barabbas beim Begnadigungsakt vorschlug. Wie läßt sich 143

Vgl. Mayer-Maly (1956), S. 316.

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VI. Die Kreuzigung Jesu von Nazareth

die Darstellungstendenz der Unschuldsvermutung verstehen, die in allen Evangelien zum Tragen kommt, bei Joh aber ein gesteigertes Maß annimmt? Die einfachste Lösung dieses Problems bestünde freilich darin, die Unschuldvermutung schlicht für historisch unglaubwürdig zu halten. Es sind jedoch auch Szenarien vorstellbar, wo sich beides miteinander vereinbaren ließe: Erstens hätte der Statthalter Jesus auch trotz seines Quasigeständnisses freilassen können,144 weil letztlich nur seine Einschätzung für den Ausgang der Untersuchung entscheidend war. Dazu war er anfänglich geneigt, jedoch gibt er im Rahmen des Begnadigungsaktes, der nicht mehr zur cognitio gehört, den Forderungen der Juden nach und befiehlt, Jesus hinzurichten. Nimmt man zweitens die synoptischen Evangelien als Ausgangsbasis, so ist Pilatus zwar trotz des Verhaltens Jesu noch nicht von dessen Schuld überzeugt, sähe sich jedoch aufgrund seines geständnisäquivalenten Verhaltens gezwungen, ihn hinzurichten, ohne daß ein förmliches Strafurteil notwendig gewesen wäre. Die einzige Möglichkeit, Jesus zu „retten“, hätte dann darin bestanden, sich für ihn im Rahmen des Begnadigungsaktes einzusetzen; jedoch scheiterte er damit, da die versammelten Juden sich davon nicht beeindrucken ließen, weshalb Pilatus dann erst recht nicht von einer Hinrichtung absehen konnte. Geht man drittens hingegen vom Johannesevangelium aus, so gibt es kein geständnisäquivalentes Verhalten, sondern Jesus vermochte Pilatus im Rahmen seiner Befragung eventuell sogar von seiner Unschuld zu überzeugen. Aufgrund der heftigen Anschuldigungen seitens der Juden wollte er ihn aber auch nicht einfach freilassen, sondern nahm ihn im Sinne eines „diplomatischen Schachzuges“, der beiden Seiten gerecht werden wollte, in das „Auswahlverfahren“ des Begnadigungsaktes hinein, in der Hoffung die versammelten Juden würden in seinem Sinne akklamieren, was jedoch nicht der Fall war. Statt dessen sieht er auf einmal seine Loyalität zum Kaiser in Frage gestellt, was den Ausschlag gab, lieber Jesus kreuzigen zu lassen, als selbst in falschen Ruf zu geraten. Alle drei Szenarien lassen den Schluß zu, daß eine Freilassung Jesu mit „politischen Kosten“ verbunden gewesen wäre, die Pilatus nicht eingehen wollte. Diese wurden oben bereits dargelegt. Welche Version unter Einräumung einer gewissen Unschuldsvermutung des Pilatus gegenüber Jesus historisch glaubhafter ist, kann offen bleiben. Fest steht nur, daß spätestens an dieser Stelle auch eine historische Untersuchung den Faden der religiö144 Vgl. oben den von Josephus überlieferten Fall (11) des Jesus ben Ananias. Vgl. dazu auch die Erörterung des Problems, ob ein Magistrat trotz Geständnis einen Fall untersuchen konnte bei W. Kunkel (1974b), S. 21 f., am Beispiel von Rhet. Her. 2,7,10; Dig. (Ulp.) 48,18,1,27. Mayer-Maly (1956), S. 317, geht nicht davon aus und verweist darauf, daß man erst in der Severerzeit dazu überging, die „Glaubwürdigkeit eines Geständnisses wie jedes anderen Beweismittels zu prüfen.“

4. Fazit zum Fall Jesu

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sen Verkündigung aufgreifen muß. Die Schere im Spannungsverhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Kreuzigungsbefehl bei Pilatus wird von den Evangelien mit je späterer Abfassungszeit immer größer und kann nur über die „Logik des Opfers“ aufgelöst werden: Der Tod Jesu konnte einerseits als Opfer politisch-herrschaftspragmatischer Umstände in der Interaktion zwischen römischem Statthalter und den Juden in Jerusalem hingestellt werden; andererseits konnte er zugleich die Bedeutung eines „religiösen Opfers“ in Verbindung mit der göttlichen Vorsehung annehmen, indem Jesus als Messias und Gottessohn das von ihm vorausgesehene Schicksal auf sich nimmt und sich für die „Sünden der Welt“ hingibt.145 Die theologische Interpretation fällt dann in den Bereich der kognitiven Dissonanzbewältigung zwischen Heilserwartung und der Schmach vom Kreuz, zwischen Messiasglaube und einer Hinrichtung durch den römischen Statthalter, wie sie für gemeine Räuber üblich war.146 Jesus konnte damit zum heilsgeschichtlichen „Opferlamm“ hypostasiert werden und wurde im nachösterlichen Auferstehungsglauben in der Endzeiterwartung immer stärker christologisch ausgestaltet, wobei man auf alttestamentarische Prophetien zurückgreifen konnte.

145 Vgl. Theissen/Merz (1997), S. 396–398, 415 ff.; vgl. jetzt a. Theissen (2000), S. 71 ff., wo die Vergöttlichung unter folgenden Gesichtspunkten gedeutet wird: Erstens im Rahmen einer kognitiven Dissonanzbewältigung in der Diskrepanz zwischen Heilserwartung an Jahwe und Unheilserfahrung der Geschichte; zweitens als Bestätigung und Intensivierung einer vorher existierenden monolatrischen Tendenz, die zum Monotheismus gesteigert wird; drittens als Konkurrenzüberbietung im Blick auf andere Gottesvorstellungen. Müller (1988), S. 81, meint, die Kreuzesinschrift umschreibe den Delikttatbestand „König der Juden“, der eine politische Beschreibung darstelle, die später religiös umgedeutet wurde. Sherwin-White (1963), S. 24, geht davon aus, daß es sich bei der Auslieferungsszene um eine generalisierte Erzählung handelte, bei der aber die Klagegründe konkret angezeigt seien, zwar nicht als Verstoß gegen ein konkretes römisches Gesetz, jedoch könne die Frage, ob Jesus der König der Juden sei, aus römischer Sicht nichts anderes bedeuten, als daß Jesus ein Rebellenführer sei. Zur Christologisierung des Verbrechertodes Jesu vgl. a. Becker (1996), S. 413–421. 146 Vgl. dazu die religionsvergleichende und geistesgeschichtliche Untersuchung zum Kreuzestod Jesu von Hengel (1976); das Wort vom Kreuz als Kern der christlichen Botschaft „widersprach nicht nur der römischen Staatsräson, sondern überhaupt gemeinantiker Religiosität und hier wiederum dem Gottesbild aller Gebildeten“ (S. 127). Der „eine präexistente Sohn des einen wahren Gottes, der Schöpfungsmittler und Welterlöser, in jüngster Zeit im hinterwäldlerischen Galiläa und als Glied des obskuren Judenvolkes geboren (. . .), ja noch schlimmer, daß er den Tod des gemeinen Verbrechers am Kreuz gestorben war, das war ein Glaube, den man eigentlich nur Verrückten zumuten konnte“ (S. 128 f.).

VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa 1. Die Apostelgeschichte und das römische Bürgerrecht Das in der Apostelgeschichte überlieferte1 Verfahren gegen Paulus in Cäsarea gilt als Paradebeispiel für die Ausübung statthalterlicher Strafgewalt gegen einen römischen Bürger zur Zeit des Frühprinzipats.2 Der Grund hierfür ist schlicht, daß es für diesen Zeitraum keine vergleichbar ausführliche Schilderung in anderen Quellen gibt.3 Was die beteiligten Gruppen, die Verhaftung, die möglichen Anklagepunkte, die allgemeinen Vorgehensweisen der Statthalter usw. anbetrifft, ließe sich dieser Prozeß in die Reihe der uns bereits bekannten Fälle stellen und könnte sogar als Modellfall für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt dienen, wäre da nicht der entscheidende Unterschied, daß bei Paulus sein römisches Bürgerrecht von zentraler Bedeutung ist. Entsprechend wird die Darstellung der Apostelgeschichte in der rechtshistorischen Forschung zumeist als eindeutige Referenz zur Bestätigung der Wirksamkeit des Provokations- bzw. Appellationsrechts herangezogen. Was jedoch die genauen Modi seiner Wirksamkeit anbetrifft, so bleiben erhebliche Fragen offen, wenn man den Handlungskontext berücksichtigt. Zumindest können Zweifel aufkommen, ob provocatio bzw. appellatio als ein einheitlich und verbindlich geregeltes Rechts1

Als Verfasser der Acts gilt gemeinhin Lukas, nach dem auch das dritte kanonische Evangelium benannt ist, so daß in der Forschung auch vom lukanischen Doppelwerk gesprochen wird. Dies entspricht der opinio communis der Forschung (vgl. dazu Acts 1,1; Lk 1,3), wenngleich sie nicht über jeden Zweifel erhaben ist, vgl. Noethlichs (2000), S. 59 f. mit A. 20. Vgl. Bruce (1985), S. 2570: „Arguments against the common authorship of the two documents have not proved persuasive.“ Vgl. ausführlicher ebd. S. 2592 ff. 2 Im folgenden verweise ich des öfteren auf Tajra (1988) sowie Rapske (1994), die beide stellvertretend für den kaum mehr überschaubaren Forschungsstand als ausgezeichnete Kommentare zum Thema herangezogen werden können. Ergänzend und unvermeidbar selektiv werden einzelne Abhandlungen angeführt, die für bestimmte Problemstellungen einschlägig sind bzw. pointiert bestimmte Forschungspositionen widerspiegeln. Desweiteren konnte ich auf ein unveröffentlichtes Vortragsmanuskript von W. Nippel: ,Paulus und das römische Bürgerrecht‘, zurückgreifen, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. 3 Die Josephusstelle der Kreuzigung von Juden im römischen Ritterstand durch den Statthalter Florus, (BJ 2,308 bzw. oben Fall 15b) gibt leider nicht mehr preis, als daß es sich hier um eine skandalöse Vorgehensweise gehandelt habe.

1. Die Apostelgeschichte und das römische Bürgerrecht

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institut im römischen Reich, zumal in den Provinzen, zu verstehen ist, welches die suspensive Wirkung gegenüber Züchtigung und Folter oder Verurteilung durch den Statthalter garantiert hätte. So wird es darauf ankommen, die Geltungsbedingungen, die genauen Umstände sowie Motive seiner Beachtung am konkreten Fallbeispiel zu erörtern. Dem Fall des Paulus kommt also paradigmatische Bedeutung zu, wenn einerseits sämtliche Abhandlungen zur provinzialen Strafgewaltspraxis gegen römische Bürger gezwungen sind, auf dieses eine Beispiel zurückzugreifen,4 andererseits das Problem seiner Repräsentativität und Verallgemeinerbarkeit kaum befriedigend beantwortet werden kann. Deshalb ist die Frage nach der historischen Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte auch grundsätzlicher Art. Die althistorische Forschung hat generell die Bedeutung der Apostelgeschichte als historische Quelle für die Entwicklung des Frühchristentum im allgemeinen sowie für die Bedeutung des römischen Bürgerrechts im besonderen weniger in Frage gestellt als die Neutestamentliche Wissenschaft.5 Bei letzterer reichen die Urteile von grundsätzlichen Zweifel an ihrem Quellenwert über solche, die nur die Aussagen zum Bürgerrecht des Paulus in Frage stellen, bis hin zu generell affirmativen Positionen.6 4

So z. B. Sherwin-White (1996), S. 273; Jacques/Scheid (1998), S. 232; Dahlheim (2000), S. 109 f. 5 Dies hängt sicherlich auch damit zusammen daß Autoritäten wie Mommsen (1955), StrafR, z. B. S. 243, A. 1; ders. (1907), S. 437, oder Meyer (o. J.), Bd. 2 [vgl. die Einleitung: Die Apostelgeschichte und ihr Verfasser], ihren Quellenwert im allgemeinen hoch einschätzten. Vgl. jetzt Botermann (1993), S. 63 f.; 66 f.; sie hält es für Hyperkritik, wenn einerseits immer wieder auf die Apostelgeschichte als Quelle zurückgegriffen werde, um sie andererseits gleichzeitig zu demontieren; deshalb verfahre man unweigerlich selektiv, was zu einer eklektizistischen Willkür geführt habe. Vgl. Noethlichs (2000), S. 60 f., A. 25, der Botermann prinzipiell zustimmt, aber kritisiert, daß sie in ihrem Vergleich zur Methodik des Thukydides zuweilen das „Kind mit dem Bade ausschüttet“. Insbesondere Hengel hat in unterschiedlichen Arbeiten dagegen polemisiert, in Lukas nur einen „freischaffenden Erbauungsschriftsteller“ und keinen Historiker zu sehen; zu seiner Kritik vgl. z. B. ders. (1975), S. 152 f.; ausführlicher ders. (1979), S. 36 ff., wo er der Apostelgeschichte gerade im Vergleich zu anderen literarischen Quellen der Antike einen hohen Quellenwert beimißt. Zur Diskussion der Apostelgeschichte nach gattungsspezifischen Gesichtspunkten mit weiterführender Literatur vgl. Wedderburn (1996), S. 303–322. Bruce (1985), S. 2600 kommt zu dem Fazit: „A writer may be at one and the same time a sound historian and a capable theologian. The author of Acts was both. The quality of his history naturally varied according to the availability and trustworthiness of his sources, but being good theologian as well as a good historian, he did not allow his theology to distort his history.“ Blaiklock (1970), S. 42, beklagt dagegen – wenn man von Sherwin-White (1963) absehe – die „conspiracy of silence“ hinsichtlich der Apostelgeschichte in angelsächsischen Standardwerken über die Frühprinzipatszeit, wovon heute wohl nicht mehr gesprochen werden kann.

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VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa

Ein Grundmerkmal der Apostelgeschichte besteht darin, daß sie einerseits aus besagten Gründen das besondere Interesse der Rechtshistoriker bei ihrer Suche nach möglichen Verfahrensregeln und Rechtsgrundlagen zu wecken vermag, ihr deshalb andererseits aber auch eine prorömische Tendenz unterstellt werden kann. Letzteres hängt damit zusammen, daß die römischen Autoritäten in den Auseinandersetzungen um Paulus als neutrale Ordnungsinstanzen dargestellt werden, die sich nur in religiöse Querelen der Provinzialen einmischen, sofern eine Störung der öffentlichen Ordnung vorliegt; daß die jüdischen Gegner des Paulus dabei in ein schlechtes Bild gerückt werden, ist die Kehrseite davon. Gerade wenn man sich bewußt ist, daß dies vor dem Hintergrund der innerjüdischen Konflikte und den Provokationen der paulinischen Lehren innerhalb der Synagogengemeinden zu verstehen ist,7 scheinen Versuche vergeblich, die „prorömische Haltung“ der Apostelgeschichte eskamotieren zu wollen.8 Es sollte jedoch auch nicht zuviel hineingelesen werden, da m. E. die Vorstellung genügt, daß die römische Obrigkeit aus der Perspektive des Lukas wohl nicht ohne Grund eine Instanz verkörperte, die Paulus nach Synagogenaufenthalten, anschließenden Züchtigungen und Verfolgungen einige Male vor Schlimmerem bewahren konnte.9 Von daher ist es auch begreiflich, wenn das Bürgerrecht des Pau6 Zweifel, die Apostelgeschichte als historische Quelle heranziehen zu können, hegt insbesondere Plümacher (1974) u. ders. (1978). Speziell zum Bürgerrecht vgl. weiter unten; eine grundsätzlich positive Bewertung vertritt Hengel (1979). 7 Vgl. dazu die Rekonstruktion der Konfliktpunkte bei Hengel (1975), S. 186 ff., unter besonderer Berücksichtigung der Hinrichtung des Stephanus. 8 So macht es sich z. B. Botermann (1993), S. 72, in ihrer Kritik an der „angeblichen prorömischen Tendenz“ zu einfach, wenn sie die Alternative aufstellt: „Entweder war die römische Administration im großen ganzen korrekt, wie die meisten Althistoriker annehmen. Dann handelt es sich nicht um eine prorömische Tendenz. Wenn dagegen jeder Mensch im römischen Reich das Unrechtshandeln der römischen Beamten ständig erlebte, wie offenbar die theologische Forschung immer noch unterstellt: dann konnte doch jedes Kind die Tendenz durchschauen.“ Abgesehen davon, daß die Alternative hinsichtlich der beiden Forschungsrichtungen sicherlich eine zu starke Vereinfachung darstellt, scheint sie mir auch in bezug auf das angesprochen Problem schief gewählt: Die Frage der Korrektheit der römischen Administration bedarf selbst der Historisierung, d. h. sie hängt von den jeweiligen Bewertungsmaßstäben ab, den einerseits die Historiker bzw. Theologen anlegen und wie sie sich andererseits in dem untersuchten Zeitraum gestellt haben könnte. Auch hier stellt sich das hermeneutische Problem weit schwieriger, als es Botermann mit ihrem berechtigten Anliegen einer Aufwertung der Apostelgeschichte als historische Quelle darstellt und hierfür die traditionelle Quellenkritik, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, als leuchtendes Vorbild für die Neutestamentliche Wissenschaft darstellt. 9 Explizit wird das Bürgerrecht des Paulus an drei Stellen der Apostelgeschichte genannt: 16,37 f.; 22,25 ff.; 23,27. Eines der Grundmuster bei Schilderung der paulinischen Mission besteht darin, daß Paulus, wenn er einen neuen Ort erreicht, stets zuerst in der Synagoge predigt und dort mit seinen Lehren den Zorn (eines Teils)

1. Die Apostelgeschichte und das römische Bürgerrecht

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lus in seiner Schutzwirkung in besonderem Maße herausgestellt wird, zumal in einem Umfeld, wo Personen dieses Privileg nur selten zukam.10 Somit verwundert nicht, daß die spezielle Frage nach der Historizität des römischen Bürgerrechts des Paulus zum Prüfstein für die generelle historische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte werden konnte. Das grundsätzliche Problem besteht darin, daß in den Paulusbriefen,11 die als Originalzeugnisse gelten und von daher größere Authentizität beanspruchen können, vom Bürgerrecht keine Rede ist. Deshalb wurde das lukanische Paulusbild auch schlichtweg als „literarische Fiktion“ beurteilt12 und die historische Aussagekraft der Apostelgeschichte in einem Teil der Forschung als gering eingestuft.13 Diesem Ansatz läßt sich jedoch entgegenhalten, daß man dann konsequenterweise die gesamte Apostelgeschichte für historisch unbrauchbar halten müßte, da beinahe die gesamte zweite Hälfte der Schilderung über die Missionsreise des Paulus auf der Annahme des Bürgerrechts beruht.14 Außerdem könnte man einwenden, daß das Bürgerrecht in den Brieder Juden wegen seiner Gotteslästerung hervorruft. In einigen Fällen entsteht ein Tumult, bei dem städtische Behörden bzw. bestimmte Amtsträger involviert werden, entweder mit der Intervention der römischen Obrigkeit gedroht wird oder diese selbst dazu veranlaßt wird, den Fall zu untersuchen. Einschlägig sind hier insbesondere drei Fälle: 1. Acts. 16,16 ff. In der römischen Kolonie Philippi nach Bekehrung einer Wahrsagerin, die damit ihrem Herrn viel Geld eingebracht hatte; vgl. dazu van Unnik (1973). 2. Acts 18,12 ff. nach Empörung der Juden in Korinth vor dem Statthalter Gallio [zum Statthalter L. Iunius Gallio Annaeanus vgl. PIR2 (I) IV, Nr. 757, S. 335 f. sowie die Inschrift, abgedruckt bei Barrett/Thornton (Hrsg. 1991), S. 52– 54, Nr. 53], vgl. a. Saddington (1994), S. 2420 f.; 3. Acts 19,23 ff. zum Aufruhr der Silberschmiede in Ephesos, vgl. dazu Stoops (1989). Allgemein zu den Synagogalstrafen vgl. Gallas (1990). 10 Vgl. dazu Noethlichs (2000), S. 68 f., A. 50. 11 Als authentische Briefe des Paulus können gelten: Röm, 1–2 Kor, Gal, Phil, 1 Thess, Phlm; als pseudonym verfaßte und damit Deuteropaulinen: Eph, Kol, 2 Thess; 1–2 Tim, Tit. Sieht man vom anonym verfaßten Hebr ab, so geht man bei den Deuteropaulinen zumindest von einer Kontinuität paulinischen Gedankengutes aus. Möglicherweise handelte es sich bei den Verfassern von Kol und Eph um Schüler des Paulus. 12 Vgl. Stegemann/Stegemann (1996), S. 260. Sofern dabei auch auf die Diskrepanz des Gesamtbildes vom sozialen Status in den Briefen und der Apostelgeschichte abgestellt wird, läßt sich dem entgegenhalten, daß über die Freilassung auch Personen mit geringem sozialen Status in den Genuß des Bürgerrechts kommen konnten. Zum anderen erwähnt auch Acts 18,3 den Beruf des Zeltmachers, der zumeist als Indiz für den geringen sozialen Status des Paulus gewertet wird, vgl. Hock (1980). 13 Vgl. Stegemann/Stegemann (1997), S. 256–260, insbesondere Stegemann, W. (1987) und auch Lüdemann (1987); beide Forschungspositionen sind zusammengefaßt bei Tajra (1988), S. 86 f. Dazu daß der Status und das Bürgerrecht des Paulus bereits von antike Autoren als Problem betrachtet haben, vgl. (am Bsp. Porphyrios, Hieronymos und Photios) Noethlichs (2000), S. 55–57.

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VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa

fen deshalb keine Erwähnung findet, weil ihr Zweck einfach keinen Anlaß dazu bot.15 Ferner erscheinen auch die Argumente, die speziell gegen das Bürgerrecht von Paulus ins Feld geführt wurden, nicht zwingend:16 Die fehlende Nennung des kompletten römischen Namens relativiert sich dadurch, daß dies auch für die Erwähnung von Römern in den anderen neutestamentarischen Schriften oder in den Werken des Josephus zutrifft;17 die Möglichkeit, daß Paulus über seinen Vater das Bürgerrecht bekommen hat, wie Acts 22,28 behauptet, ist zwar nicht anderweitig nachweisbar, jedoch nicht grundsätzlich auszuschließen.18 Mehr Zweifel läßt die Stelle aufkommen, in der ausdrücklich davon die Rede ist, daß Paulus zusätzlich das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Tarsos innehatte.19 Denn die Juden in den Städten der östlichen Reichshälfte waren gewöhnlich nicht Bürger im strengen Sinne einschließlich des passiven Wahlrechts für Magistraturen, da sie die damit verbundenen Opferpflichten in grundsätzlichen Konflikt mit dem ersten Gebot und mit religiösen Reinheitsvorschriften gebracht hätten. Jedoch muß 14

Vgl. Hengel (1991), bes. S. 193 ff., u. a. gegen Stegemann, W. (1987). So spielen z. B. römische Behörden in den Briefen keine unmittelbare Rolle, noch nicht einmal das Wort „Römer“ taucht darin auf, vgl. Noethlichs (2000), S. 58. 16 Vgl. Tajra (1988), S. 81–89. 17 Zum römischen Namen des Paulus vgl. Mommsen (1907), S. 433–435; Hengel (1991), S. 197 ff. Tajra (1989), S. 83; Doer (1968), S. 52, 69 ff. Harrer (1940), kommt zu dem Ergebnis, daß Paulus der Geburtsname des Apostels war, wobei wir nicht wissen, ob als praenomen oder nomen. Falls er nach der großen Aemilianischen Familie verliehen worden sei, so komme Paulus auch als cognomen in Frage. Saul sei jedenfalls nur ein signum. Dies bleibt freilich Spekulation. 18 So könnte sich der Vater des Paulus als Zeltmacher in Tarsos und Lieferant römischer Truppen seit Einmarsch des Pompeius im Osten besondere Verdienste erworben haben oder könnte von den Römern als Kriegssklave eingezogen und später wieder freigelassen worden sein. Vgl. Juster (1914), Bd. 2, S. 15 ff. Doer (1968), S. 54–56 geht davon aus, daß bereits dem Großvater des Paulus das Bürgerrecht verliehen worden sei. Seine Rekonstruktion bleibt jedoch obskur. Kehnscherper (1964), S. 419, hält angesichts der romfeindlichen Haltung strenggläubiger Juden nur unfreiwillige Gründe der Bürgerrechtsverleihung für wahrscheinlich; er vertritt die These, daß die Eltern des Paulus nach Gefangennahme und Sklaverei im Krieg durch Bemühung der Familie des Sergius Paulus (Acts 13,7) das Bürgerrecht erhalten hatte. So interessant diese Rekonstruktion auch ist und außerdem erklären würde, weshalb Schaoul (hebräisch), Saulos (gräzisiert) den Namen Paulus nach der üblichen Ehrung des Patrons hatte, so muß sie dennoch reine Vermutung bleiben. Allgemein zu den Möglichkeiten des Erhalts des Bürgerrechts vgl. Tajra (1988), S. 82 f.; Jacques/Scheid (1998), S. 227 ff. Das „Standardwerk“ zum römischen Bürgerrecht von Sherwin-White (1996) bietet diesbezüglich sowie für die nachfolgend erörterten Probleme kaum Hilfe, sondern stiftet m. E. eher Verwirrung. 19 Acts 21,39: „Ich bin ein jüdischer Mann aus Tarsus in Kilikien, Bürger einer _ _ nicht unbedeutenden Stadt (\Eg„ ånqrwpoò mÝn eœmi \Iouda ioò, TarseÏò t hò Kilikßaò, ožk ˜sÞmou pülewò polßthò). 15

1. Die Apostelgeschichte und das römische Bürgerrecht

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der Ausdruck polites nicht nur im strengen juristischen Sinn einer städtischen Vollbürgerschaft verstanden werden,20 da er auch im weiteren Sinn eines sozialen Statusmerkmals in Identifizierung mit einer Heimatstadt gebraucht wurde, ohne daß damit etwas über das römische Bürgerrecht einer Person ausgesagt würde.21 Paulus hätte auch römischer Bürger sein können, ohne das Vollbürgerrecht von Tarsos zu besitzen.22 Schließlich kann die Frage nach der Glaubwürdigkeit des römischen Bürgerrechts des historischen Paulus für die folgende Erörterung auch offenbleiben, wenn unbestritten festgestellt werden kann, daß die Apostelgeschichte von einem Autor verfaßt worden ist, dem gute Kenntnisse römischer Rechts- und Verwaltungspraxis unterstellt werden können, der zumindest auf hierfür einschlägige Details Wert legte.23 Somit braucht man sich nicht auf das Schicksal des historischen Paulus festlegen, sondern kann sich damit begnügen, daß ein Zeugnis darüber vorliegt, wie sich ein christlicher Autor zwischen 70 und 100 n. Chr. die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt zu Beginn der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts in Judäa vorgestellt hat und dabei die Implikationen des Bürgerrechts als Schutz gegenüber Maßnahmen der römischen Obrigkeit in besonderem Maße betont. 20 21

Vgl. Doer (1968), S. 11, 65 ff., ohne kritische Hinterfragung. Zum begriffsgeschichtlichen Befund vgl. Tajra (1989), S. 79, mit Stellenanga-

ben. 22 Als polites hätte er sich auch bezeichnen können, wenn die Juden in Tarsos möglicherweise durch kaiserliches Privileg den anderen Bürgern vermittels isopoliteia gleichgestellt waren, wie in Alexandria, Cäsarea, Antiochia (wo diese Ausnahmeprivilegien des öfteren zu Konflikten mit der nichtjüdischen Bevölkerung führten), jedoch lassen sich daraus wenig Erkenntnisse für den Status der Juden in Tarsos ableiten. Vgl. dazu Tajra (1989), S. 77 ff.; Noethlichs (2000), S. 64 ff. mit A. 40, bei besonderer Kritik an Botermann (1998), S. 519, unter Anführung einschlägiger Quellen, die ihre Behauptung der Existenz eines einheitlichen Bürgerrechts widerlegen. Vgl. auch Doer (1968), S. 65 ff., der einerseits die Seltenheit der Bürgerrechtsverleihung von hellenistischen Poleis betont, dabei herausstellt, es gebe keine Papyri, Inschriften oder sonstigen Belege, wo ein Nichtgrieche zum Polites erhoben worden sei, andererseits dann dennoch die Politie des Paulus einfach unterstellt. Schwartz, J. (1957) kommt zu dem Ergebnis: „le cas de Paul ne saurait servir à résoudre les problèmes relatifs à la condition exacte de la ,civitas libera‘ qu’était, parmis d’autres, Tarse, sous l’Empire.“ 23 So meint Doer (1968), S. 48, die fachliche Wortwahl im dramatischen Protokoll des Darstellers sei geradezu von unübertrefflicher Fachkenntnis diktiert und Lukas vergreife sich niemals in den Anredetiteln. Vgl. Sherwin-White (1963), S. 189; ausführlicher Bruce (1985), S. 2567 ff. mit Auflistung der Vergleichsquellen zur Apostelgeschichte, was Orte, Personen und Ereignisse anbetrifft. Zur Bedeutung der Gerichtsszenen und Rechtssprache vgl. Trites (1974). Besonderes Augenmerk widmet auch Heusler (2000) dem juristischen Verständnis des Verfassers der Apostelgeschichte. Dessen ungeachtet scheint mir ihre eigenen Rekonstruktion des Verfahrens gegen Paulus in die Irre zu gehen.

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2. Das Verfahren gegen Paulus in Jerusalem und Cäsarea Lukas bindet das Verfahren gegen Paulus in einen umfassenden Kontext unter Mitwirkung verschiedener Autoritäten (römische Offiziere, Synedrion, Hohepriester, Anklageredner, zwei Statthalter, Klientelkönig) ein; dabei dehnt es sich auf die drei Orte Jerusalem, Cäsarea und Rom aus und zieht sich über eine Dauer von mehreren Jahren hin. Obwohl die Statthalter nur im Rahmen der Geschehnisse in Cäsarea eine aktive Rolle spielen, scheint es angebracht, den gesamten Kontext zu berücksichtigen: Zum einen, weil die Ereignisse in Jerusalem im Vorfeld des Statthalterprozesses in Cäsarea eine wichtige Rolle spielen, zum anderen, weil die Statthalter wiederum für die Verschleppung und abschließende Überstellung des Falls nach Rom verantwortlich sind. Damit liegt uns ein Zeugnis über die „Verzahnung“ räumlich und zeitlich getrennter Momente vor, das die Funktionsweise statthalterlicher Strafgewalt in ungewohnt ausführlicher Weise freilegt. Leider bricht die Apostelgeschichte nach dem Bericht über die Haft des Paulus in Rom abrupt ab, so daß wir nicht mehr über den möglichen Prozeß vor dem Kaiser unterrichtet werden. Zwar sind uns apokryphe bzw. patristische Quellen über den Aufenthalt des Paulus in Rom erhalten, jedoch unterliegen sie einer je eigenen Überlieferungsproblematik, häufig dem Genre der späteren Märtyrererzählungen verwandt, so daß ihre Auswertung den Rahmen dieser Untersuchung gesprengt hätte.24 Die Apostelgeschichte berichtet, daß die Haft des Paulus zwei Jahre währte und Paulus auch noch in Gewahrsam war, als Porcius Festus als Nachfolger des Statthalters Felix eintraf.25 Damit fällt er in einen Zeitraum, von dem uns Josephus über zunehmende Klagen, Konflikte und Korruption im Provinzialregiment berichtet, bis Felix infolge der Zusammenstöße zwischen Juden und Griechen in Cäsarea von Festus abgelöst wurde, der in der unruhigen Provinz schnell das Einvernehmen mit den jüdischen Autoritäten wiederherstellen wollte.26 Der hier behandelte Abschnitt der Apostelgeschichte über die Geschehnisse nach der Rückkehr des Paulus nach Jerusalem dient Lukas dazu, das 24 Vgl. zum Martyrium des Paulus in Rom die Monographie von Tajra (1994) mit umfassender Auswertung und Kommentierung der Quellen; vgl. auch Pherigo (1951). 25 Acts 24,27 formuliert hier mißverständlich, da sich die Zeitangabe auch auf die Amtszeit des Felix beziehen könnte, die jedoch weit länger dauerte als zwei Jahre, wohl etwa etwa 52/53–59/60 n. Chr. Deshalb wird gemeinhin angenommen, daß sich die Angabe auf die Haftzeit bezieht. Der nachfolgende Statthalter Porcius Festus war etwa von 59/60 bis zu seinem Tod 62 n. Chr. im Amt. 26 Vgl. zu den beiden Statthaltern oben Abschnitt IV. 3. e) sowie zum Kontext der Ereignisse in Judäa oben die Fälle (3) (5) (15) (21).

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spannungsreiche Verhältnis unterschiedlicher Gruppen und Akteure in Judäa voll zu entfalten. Jedoch wird Paulus dabei nicht nur als eine Person dargestellt, die im Rahmen eines spezifischen Beziehungsgeflechts diverser Gruppen agiert, sondern aufgrund seiner Biographie zugleich Träger einer multiplen Identität ist,27 auf der die Spannungen dieser Gruppen abgebildet werden können. Paulus vereinigt diese Konflikte auf seine Person: Zum einen als Diasporajude aus Kilikien und als Jude, der in den Väterlichen Gesetzen von Gamaliel nach der pharisäischen Richtung in Jerusalem ausgebildet wurde (Verhältnis zwischen Diasporajuden und Jerusalemer Judentum bzw. zwischen griechischsprechenden und jüdischsprechenden Synagogen, zwischen Sadduzäern und Pharisäern); sodann als christlicher Missionar und Apostel, der in die ersten Spannungen über die Art und Weise der Mission und des Verhältnisses zwischen den ersten christlichen Gemeinden und ihrer Mitglieder untereinander gerät, zu denen er auch selbst beiträgt (Konflikte zwischen den sog. Judenchristen und Heidenchristen); und schließlich als Bürger Roms jüdischer Abstammung (Konflikte zwischen der Besatzungsmacht und romfeindlichen bzw. romfreundlichen Gruppierungen). Es versteht sich von selbst, daß Lukas der christlichen Identität des Paulus Priorität einräumt und diese letztlich die anderen Identitäten aufzuheben scheint. Das kommt vor allem in den ausführlichen Reden zum Ausdruck, in denen Paulus sein „theologisches Programm“ und religiöses Selbstverständnis präsentiert. Jedoch liest sich die Apostelgeschichte eben nicht nur als Programmschrift des paulinischen Christentums, sondern ist durchaus in ein realistisches Ambiente historiographischer Ereignissequenzen eingebettet. Auch hier stellt sich das seit Thukydides bekannte Problem, wie sich erga und logoi, d. h. programmatische Reden und Tatenbericht zueinander verhalten.28 Dabei ist festzustellen, daß die christliche Identität des Paulus in der Apostelgeschichte keinen erratischen Block innerhalb des Handlungskontextes darstellt, sondern je nach Kontext mit der römischen bzw. jüdischen Identität verwoben bleibt. Judentum, Römertum und Christentum stellen (noch) keine getrennten, unvereinbaren Sphären dar, sondern bilden in der Person des Paulus eine fließend-dynamische Einheit, so daß er sich den jeweiligen Situationen anpassen kann, eine seiner Identitäten verstärkt zur Geltung bringt bzw. in Konfrontation mit unterschiedlichen Gruppierungen ausspielt. Dabei gedenkt er keine seiner Identitäten aufzugeben oder über 27

Mit Blaiklock (1970), S. 41, ließe sich sagen: „citizen of Rome, a Jew by birth and heritage, a rabbi by education, a Greek by virtue of his Tarsian environment . . . in a word the first recorded person to combine in himself the three elements of Western European culture.“ 28 Vgl. den Forschungsüberblick zu den Reden des Paulus bei Bruce (1985), S. 2582 ff.

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sein eigentliches Ziel der Verkündung seiner neuen Botschaft zu stellen. Lukas kann damit die Geschichte einer paradigmatischen Persönlichkeit erzählen, die auf individuelle Weise mittels ihrer imitatio Christi alte Trennlinien zu überwinden sucht, dies realistischerweise aber nur im Rahmen eines Leidensweges verwirklichen kann, d. h. in Auseinandersetzungen mit Gruppen und Autoritäten, die für die damaligen sozialen, religiösen und politischen Verhältnisse in seinem Umfeld prägend waren und zugleich diese Trennungen verkörperten. Auch die Rückkehr des Paulus nach Jerusalem ist religiöses Programm:29 Vordergründig geht es für Paulus darum, die auf seinen Reisen eingesammelte Kollekte der Jerusalemer Gemeinde abzuliefern; zugleich ist dies auch als symbolischer Akt zu verstehen, mit dem Paulus die Autorität der Jerusalemer Gemeinde anerkennt.30 Lukas bereitet in seinem Bericht das feindliche Ambiente vor, das Paulus in Jerusalem erwarten wird. So entsteht der Eindruck, Paulus sei sich der Gefahren seines Jerusalemer Aufenthalts von vornherein voll bewußt gewesen.31 Diese bestehen darin, daß Paulus zum Problem innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geworden ist und beschuldigt wird, die Juden von ihren vorväterlichen Sitten und dem mosaischen Gesetz abzubringen.32 Dabei handelt es sich um einen Vorwurf, von dem die Judenchristen weit weniger befürchten mußten als die Heidenchristen,33 welche sich den jüdischen Gesetzen und Ritualen (Beschneidung, 29 Zu den Motiven Tajra (1989), S. 61 f.: a) Teilnahme am Fest als Loyalitätsgeste an die judenchristliche Gemeinde, die zeige, daß er noch in der jüdischer Tradition verankert sei; b) Kollekte, damit eine Demonstration von Einheit zwischen Christen jüdischen und heidnischen Ursprungs (vgl. Röm 15,25–17); geplant war womöglich nur ein Kurzaufenthalt in Jerusalem vor seiner Weitereise nach Rom und von da nach Spanien (Acts 19,21; Röm 15,24.28). 30 Auch die nur kurz in Acts 24,17 erwähnte Kollekte, die Paulus der Jerusalemer Gemeinde überbringt, gehörte wohl zu einem Kompromiß zwischen der juden- und heidenchristlichen Fraktion. Sie spielt in der weiteren Apostelgeschichte nach seiner Ankunft in Jerusalem aber keine Rolle mehr; deutlich wird nur, daß die innerchristlichen Spannungen in dieser Frage wieder aufbrechen. 31 Vgl. Acts 21,4 (Warnung über die Gefahr eines Aufenthalts in Jerusalem; 21,11 (Prophezeiung); 21,13 (Vorsehung, Paulus zeigt sich auf alles vorbereitet; er war sich also alles in allem der Gefahr bewußt (vgl. auch Röm 15,30 f.). Zunächst findet er freundliche Aufnahme bei Jakobus und den Ältesten, wo er über seine Missionserfolge bei den Heiden berichtet (21,19 f.); die Judenchristen waren hingegen nicht erfreut (21,21). 32 Vgl. Tajra (1989), S. 62 f.; Sanders (1982), S. 431 f.; vgl. Röm 3,19–31; 4,14, 4,16. 33 Zu den Zusammenhängen und der Rekonstruktion des Bestehens einer aramäischsprachigen (Hebräer) und einer griechischsprachigen christlichen Gemeinde (Hellenisten) vgl. Hengel (1974). Ebd. S. 176 zur These, daß die Verfolgungen nach dem Tod des Stephanus (wohl etwa zwischen 32 und 34 n. Chr.) offenbar nur die „Hellenisten“ traf, nicht die „Hebräer“, die in Jerusalem blieben. Somit wurden die

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Reinheitsvorschriften, Speisetabus) nicht mehr verpflichtet sahen. Der Aufenthalt des Vorkämpfers für die heidenchristliche Mission in Jerusalem nimmt somit den Charakter einer trotzig-mutigen Demonstration seiner Loyalität gegenüber dem Judentum an,34 ohne dabei sein christliches Heilsverständnis aufzugeben. Paulus war womöglich in bestimmten Kreisen bereits zu bekannt, als daß sein Aufenthalt in Jerusalem hätte unbemerkt bleiben können. Daß die folgenden Ereignisse zu einem Zeitpunkt ihren Ausgang nehmen, als gerade ein hoher jüdischer Festtag, das Wochenfest, gefeiert wird, ist bestimmt kein Zufall: Paulus, der aus heidenchristlicher Sicht als Überwinder des mosaischen Gesetzes, in den griechischsprechenden Synagogen damit aber als Gotteslästerer gilt, vollzieht den jüdischen Festritus, mit dem (50 Tage nach dem Passahfest) an den Empfang der Gesetze am Sinai erinnert wird.35

vertriebenen Hellenisten auch zu den eigentlichen Begründern der Heidenmission, in der nicht mehr die Beschneidung und die Einhaltung des Ritualgesetzes gefordert wurden. Während die „hebräische“ christliche Gemeinde und „hebräische“ Synagoge relativ problemlos nebeneinander existierten konnten, nahmen die ersten Konflikte gerade von den griechischsprechenden Synagogengemeinden in Jerusalem ihren Ausgang, die ihren ersten Höhepunkt in der Steinigung des Stephanus finden sollte. Dieser war der Wortführer der hellenistischen Christen in Jerusalem (S. 182 ff.). Seine Gegner waren aller Wahrscheinlichkeit nach griechischsprachige Pharisäer, die Stephanus Gotteslästerung vorwerfen konnten, wenn er die Gesetzeskritik des Paulus bereits vorweggenommen hatte (S. 193), insbesondere im Hinblick auf die „geistgewirkte Interpretation der Botschaft Jesu im neuen Medium der griechischen Sprache“ (S. 196). Die neuen Konturen der eschatologisch-kritischen Deutung der Thora Moses und des Tempels mußten von den griechischsprechenden und pharisäisch geprägten Synagogengemeinden als unerträgliche Lästerung ihrer heiligsten Güter empfunden werden, derentwillen ja die meisten Mitglieder nach Jerusalem gekommen waren. Wenn sich der Brückenschlag von Jesus zu Paulus dem Stephanuskreis und der ersten von ihm gegründeten griechischsprachigen Gemeinde in Jerusalem verdankt (S. 200 ff.), so müssen wahrscheinlich auch die speziellen Konfliktlagen, wie sie bei Paulus’ Rückkehr nach Jerusalem in der Apostelgeschichte geschildert werden, in diesem Zusammenhang gesehen werden. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß der gegen Paulus initiierte Tumult im Tempel von Juden aus der Provinz Asia (also griechischsprechenden Juden) verursacht wurde. 34 So vollzieht er z. B. jüdische Rituale, vgl. Acts 21,23 f. 35 Beim dem auf das Mazzotfest (Fest der ungesäuerten Brote) folgenden Erntefest (qazir) bzw. Wochenfest (schabu’ot) wurden ursprünglich die Erstlinge der Weizengaben Gott als Opfer dargebracht. Nach dem Reformprogramm des 5. Mosebuches veränderte sich Termin und Charakter des Wochenfestes. Sieben Wochen nach dem Beginn der Ernte soll das Wochenfest am zentralen Heiligtum gefeiert werden, wobei nicht mehr die Weizenerstlinge, sondern ein freiwilliges Opfer je nach Ertag der Ernte dargebracht werden soll. Der Hinweis auf die Knechtschaft in Ägypten wurde wohl nachträglich hinzugefügt. Aus dem aus nachexilischer Zeit stammenden Abschnitt Lev 23,15–22 ergibt sich die Rechnung fünfzig Tage nach dem Passa-Mazzot-Fest; vgl. Schmoldt (2000), S. 34–36.

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a) Paulus in Jerusalem Tumult und Festnahme Als einige Juden aus der Provinz Asia Paulus innerhalb des Tempelbezirks sahen, initiierten sie einen handgreiflichen Tumult gegen ihn, wobei sie riefen, daß er gegen die Juden, ihre Sitten und den Tempel predige, außerdem einen Griechen in den inneren Tempelbezirk geführt habe (21,27 f.). Der Zugang war für Nichtjuden strengsten untersagt, was auch durch eine Warninschrift unter Androhung des unmittelbaren Todes angezeigt wurde.36 Wahrscheinlich handelte es sich hier um eine religiöse Ausnahmeregelung, die auch bei den römischen Behörden akzeptiert war, womöglich sogar, wenn sie einen römischen Bürger betraf.37 Der Vorwurf, Paulus sei Anstifter zu diesem Sakrileg, fand jedoch keine Bestätigung, da kein Nichtjude in flagranti gestellt werden konnte.38 Somit hätte ihm allenfalls Anstiftung oder Mithilfe vorgeworfen werden können. Dennoch spitzte sich die Situation zu, so daß Paulus unmittelbar die Lynchjustiz drohte, nachdem er aus dem inneren Tempelbezirk in den „Vorhof der Heiden“ 39 gebracht worden war und die Tore zum Tempelinneren (wahrscheinlich von den Leviten) verschlossen worden waren, damit der Tempel nicht durch Blut befleckt werde (21,30). Paulus fand nur dadurch Rettung, daß der höchste Offizier vor Ort – ein Militärtribun (chiliarchos = tribunus cohortis)40 namens Claudius Lysias41, der die römische Truppen auf der Burg Antonia oberhalb des Tempelbezirks kommandierte42 – sogleich mit einer Abteilung Soldaten eingriff und Paulus festnehmen sowie in Ketten legen 36 Joseph., AJ 3,145; 12,145; 15,417; BJ 5,193 f.; 6,124–126;. Philo, Leg. 31,212; Eph 2,14; Entdeckung einer solchen Warninschrift durch C.S. Clermont-Ganneau im Jahr 1871, vgl. OGIS 598 abgedruckt bei Barrett/Thornton (1991), S. 60, Nr. 54; Gabba (1958), S. 83–86. Vgl. Tajra (1989), S. 65; Bickerman (1947), S. 389; Segal (1989); Rabello (1969). 37 Vgl. Joseph., BJ 6,126. 38 Lukas präzisiert die Beschuldigung (Acts 21,29): Die Juden hatten Paulus zuvor zusammen mit dem Epheser Trophimos (zuerst erwähnt in 20,4) in der Stadt gesehen und meinten nun, er habe ihn in den Tempel geführt. Streng genommen hätte sich der Aufruhr gegen Trophimos richten müssen, der jedoch keine weitere Erwähnung findet. Dies läßt vermuten, daß der konkrete Vorwurf mehr Anlaß denn eigentlicher Grund für den Tumult war. Demandt (1999), S. 38, geht vorbehaltlos davon aus, daß Paulus Trophimos tatsächlich mit in den Tempelbezirk brachte. 39 Vgl. Joseph., Ap. 2,103. 40 Vgl. Tajra (1989), S. 67; Rapske (1994), S. 144; der Tribun war der Offizier mit dem höchsten Rang in Jerusalem. Er hatte den Auftrag zur Führung einer doppelten Kohorte (Acts 21,31, vgl. Joh 18,12. Joseph., AJ 15,408; 18,93 f., spielt möglicherweise mit dem Ausdruck phrourarchos auf den gleichen Rang an; vgl. zum Erhalt des Bürgerrechts Sherwin-White (1963), S. 155 f. 41 Zum Namen vgl. Acts 23,26; 24,22.

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ließ (21,31–33). Anders als Jesus wurde Paulus also nicht von jüdischen Ordnungskräften festgenommen und von diesen an den Statthalter ausgeliefert, sondern befand sich von Anfang an in römischer Gewalt und verdankte ihr sein Leben (21,31). Noch vor Ort wollte sich der Militärtribun Lysias über die Identität des Paulus und die Berechtigung der Vorwürfe informieren, wobei er jedoch nichts Konkretes in Erfahrung bringen konnte (21,33 f.). Somit kam es auch zu keiner Denunziation oder Anzeige. Wenn Paulus anschließend im allgemeinen Getümmel abgeführt werden sollte, so verstand sich diese Maßnahme wohl eher als eine Art Schutz- bzw. Untersuchungshaft, durch welche sich der Militärtribun erst einmal Einblick in die Lage verschaffen wollte (21,34).43 Der Ausbruch feindlicher Reaktionen gab Anlaß, auf ein schweres öffentlichen Vergehen des Paulus zu schließen; auch die Rufe der Menge (21,36; vgl. 22,22) ließen womöglich ein Kapitalverbrechen vermuten, jedoch fehlten Lysias konkrete Informationen über den Grund des Aufruhrs. Auf dem Weg zur Garnison durch die zornerregte Menge (21,35 f.) sprach Paulus den Militärtribun an, der sich zunächst wunderte, daß Paulus dabei auf Griechisch redete (21,37). Der nachfolgende Dialog dient der Klarstellung, daß es sich bei Paulus nicht um den ägyptischen Aufrührer aus der Wüste handelte,44 wie Lysias zuerst vermutet hatte (21,37 f.).45 Statt dessen teilte Paulus ihm mit (21,39): „Ich bin ein jüdischer Mann aus Tarsos in Kilikien, Bürger (polites) einer nicht unbedeutenden Stadt.“ Auch wenn Paulus damit der irrtümlichen Identifizierung mit dem Ägypter begegnen konnte, stellte sich dennoch die Frage, weshalb er nicht auch gleich sein römisches Bürgerrecht erwähnte; es ist zumindest erstaunlich für eine Situation, in der der Militärtribun unter erheblichem Druck stand und es 42 Vgl. Rapske (1994), S. 137 f.; zu speira vgl. Tajra (1989), S. 67 f.; vgl. Joseph., BJ 5,243–245 bzw. oben Fall (8) zur Garnison auf der Burg Antonia, von wo aus man den Tempelbezirk übersehen (und kontrollieren) konnte; die Soldaten waren wegen der Pilgerscharen zu Festtagen sicherlich in erhöhter Alarmbereitschaft. 43 So richtig Rapske (1994), S. 136, gegen Tajra (1989), S. 69, der davon ausgeht, Paulus sei aufgrund der „oral denunciation“ in Gewahrsam genommen worden. Vgl. Cadbury (1933), S. 300: Die Maßnahme des Lysias verstehe sich „as the quelling of riot, the protection of an individual from the mob, and the arrest of an apparent disturber of peace.“ 44 Hier werden die Aufrührer Sikarier genannt, vgl. dazu Tajra (1989), S. 70 f. Vgl. Joseph., BJ 2,254–256 besonders für die Zeit des Felix und Festus. Hier findet sich in der Acts womöglich ein Reflex auf die Radikalisierung der politische Situation in Palästina. 45 Vgl. Joseph., BJ 2,261–263; AJ 20,169–172 bzw. oben Fall (3) in Abschnitt V. 1. a); aus der Stelle geht hervor, daß Felix den Ägypter und seine Anhänger verfolgt habe, dieser selbst aber entkommen konnte.

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folglich geraten schien, auf seine Verpflichtung zum Schutz eines römischen Bürgers zu verweisen. Rede vor den Juden Statt dessen ließ sich Paulus die Gelegenheit zu einer Rede46 an die anwesenden Juden einräumen, die eine Apologie seines Lebensweges vom Christenverfolger zum christlichen Missionar darstellt und vor allem zunächst dazu dient, seine Verankerung im Jerusalemer Judentum herauszustellen.47 Dies bezeugt nicht zuletzt die Tatsache, daß er die Rede auf Aramäisch hält,48 woraufhin die Menge auch sogleich verstummte (22,2). Er wandte sich hier allein an die Juden, da der römische Militärtribun diese Sprache aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verstehen konnte. Hier stellt sich die Frage, ob es im Rahmen der theologischen Streitigkeiten ein Nachteil gewesen wäre, sich als Römer zu präsentieren. Zumindest mußte Paulus im jüdischen Kontext zuerst einmal seine Loyalität gegenüber dem Judentum betonen; die Berufung auf sein römisches Bürgerrecht hätte die Kluft zu seinen Gegnern wahrscheinlich nur noch vergrößert.49 Paulus nutzte die Rede jedoch nicht nur, um sich mit den Juden zu identifizieren, sondern vor allem, um von seinem Bekehrungserlebnis zu berichten. Als er dabei auf die Steinigung des Stephanus zu sprechen kam – der er damals selbst mit Wohlgefallen als Gegner der „neuen Lehre“ beige46 Die Tatsache, daß es sich in den größeren Paulusreden um apologetische Reden gemäß der hellenisch-historiographischen Tradition und um keine wörtliche Wiedergabe handelt, braucht hier nicht eigens vertieft werden. Lukas verbindet dadurch die rechtlichen mit den theologischen Aspekten seiner Geschichte. 47 Vgl. Tajra (1989), S. 72 f. Abgesehen von der sprachlichen Identifikation mit der Zuhörerschaft über das Aramäische betont er in der Rede sein Judentum, spricht die Anwesenden mit Brüder und Väter an (Acts 22,1), teilt mit, daß er zwar aus Tarsus in Kilikien stamme, jedoch eine orthodoxe Erziehung (22,3) genossen habe und in Jerusalem ausgebildet worden sei (22,3); er habe früher selbst Christen verfolgt, wie auch die Hohepriester und Ältesten bezeugen könnten (22,4); sodann rechtfertigt er seine Heidenmission nach dem Damaskuserlebnis (22,6 ff.). Die Heidenmission war wohl der neuralgische Punkt, der wiederum den Zorn unter den Zuhörern erregt (22,22). 48 Im Text steht „Hebräisch“; da jedoch Hebräisch allenfalls noch von einer kleinen gebildeten Elite verstanden und gesprochen wurde, ist hier Hebräisch wohl im Sinne von „einem Hebräischen Dialekt“ zu verstehen. Die Volksprache auch in Jerusalem war Aramäisch. 49 Vgl. Rapske (1994), S. 142 f., der zudem feststellt, dies passe auch dazu, daß sich Paulus dem Tribun als griechischsprechender tarsischer Bürger präsentiere, gegenüber den Juden sich aber in aramäischer Sprache als eifriger Jude zeige, der – obgleich in Tarsus geboren – in Jerusalem ausgebildet worden sei. Damit wendet er sich gegen die Forschungsmeinung, die davon ausgeht, bereits in Acts 21,25 werde das römische Bürgerrecht angesprochen; vgl. z. B. Tajra (1989), S. 91.

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wohnt hatte, während er Stephanus nunmehr als Zeugen des Herrn anruft – und außerdem kundtut, daß er vom Herrn den Auftrag erhalten habe, in der Ferne zu den Heiden zu predigen, brach erneut der Zorn unter seinen Zuhörern aus (22,22 f.). Da abermals Unruhen drohten, ließ der Militärtribun Paulus erneut verhaften, um ihn endlich auf die Burg zu führen und dort durch Geißelung mehr aus ihm herauszubringen (22,24).50 Römisches Bürgerrecht Erst jetzt – als man ihn zum Geißeln festband – reklamierte Paulus sein römisches Bürgerrecht. Paulus tat dies nach der lukanischen Darstellung indirekt, indem er den mit der Geißelung beauftragten Centurio fragte, ob diese Maßnahme gegen einen unverurteilten römischen Bürger erlaubt sei (22,25 f.).51 Jedenfalls erreichte er damit unverzüglich eine suspensive Wirkung. Der Centurio meldete es dem Militärtribun, so daß Lysias sogleich herbeieilte, um sich zu informieren (22,26 f.). Daraus entspinnt sich ein kurzer Dialog, aus dem hervorgeht, daß Paulus römischer Bürger seit Geburt war, während der Militärtribun das Bürgerrecht erst kürzlich für viel Geld erworben hatte (22,28).52

50 Es handelt sich dabei um eine zwar drastische, aber nicht unrechtmäßige Maßnahme, zumal sein Bürgerrecht noch nicht bekannt ist. Die Erwähnung, daß er ein Bürger aus Tarsos sei, konnte den Tribun nicht davon abhalten. Aus zeitgenössischer Sicht muß darin keine besondere Brutalität gesehen werden; vielmehr handelt der Offizier der Situation entsprechend auf übliche Weise, zumal alle nicht-koerzitiven Maßnahmen bisher keine Aufklärung gebracht hatten, vgl. Acts 21,33 f. 39 f.; dazu Rapske (1994), S. 139. Zur Geißelung vgl. Tajra (1989), S. 74, der feststellt, daß die Geißelung nicht nur ein inquisitorisches Mittel der Koerzition sei, sondern auch eine begleitende Strafmaßnahme für Verurteilte oder auch einfach nur Mittel der magistratischen Willkür; vgl. Joseph., BJ 2,269. 612; Philo, In Flacc. 10,75; Suet. Calig. 26,3. 51 Vgl. dazu die Situation in Philippi Acts 16,37. 52 Sein Name Claudius Lysias sowie die erwähnte Tatsache der aufgebrachten Kosten zum Erhalt des Bürgerrechts deuten darauf hin, daß er Grieche war und das Bürgerrecht zu Beginn der Amtszeit des Claudius erhalten hatte. Vgl. Cass. Dio 60,17,5, wo berichtet wird, wie der Kaiser Einzelnen das Bürgerrecht entzog, wenn sie kein Lateinisch verstanden, es hingegen sowohl Einzelpersonen als auch ganzen Gruppen wahllos schenkte, sofern sie es zur Förderung ihrer Karriere unmittelbar vom Kaiser, von Messalina oder von den kaiserlichen Freigelassenen (den Sekretären der kaiserlichen Verwaltung) zu erkaufen suchten. Das cognomen Lysias läßt vermuten, daß er aus dem östlichen Teil des Reiches stammte und wie andere Tribune aus den Provinzen Achaia und Asia unter Claudius das römische Bürgerrecht erhalten hatte, vgl. Saddington (1994), S. 2416 mit A. 21 unter Verweis auf die inschriftlich belegten Fälle Ti. Claudius Balbillus, Ti. Claudius Cleonymus, Ti. Claudius Democratus und Ti. Claudius Philinus.

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Kommen wir auf die Frage zurück, weshalb Paulus zunächst nur sein tarsisches Bürgerrecht bekundet hat und erst jetzt auf sein römisches Bürgerrecht hinweist. Die in verschiedener Form vorgebrachten Argumente aus der Forschung, die auf den kaum zu unterschätzenden Stolz auf die Vaterstadt einerseits, andererseits schlicht auf die Angst vor der Geißelung verweisen, sind zwar plausibel, bieten jedoch keine ausreichende Erklärung.53 Wesentlich ist, daß Paulus sein Bürgerrecht nur vor der römischen Obrigkeit reklamiert, nicht aber in seiner Rede an die Juden. Vor den Juden wollte er sich nicht als römischer Bürger profilieren, vor den Römern konnte er nicht anders; im jüdischen Kontext standen eindeutig religiöse Motive im Vordergrund, im römischen Kontext statusrechtliche Motive;54 hier gab es keinen Grund mehr, mit seinem Bürgerrecht hinterm Berg zu halten.55 Handelte es sich hier um die klare Anerkennung des Provokationsrechts, wie in der Literatur zumeist behauptet wird? Lukas setzt hier zumindest die Kenntnis der Gesetze voraus, welche die Züchtigung eines römischen Bürgers untersagten, sofern er sich vor seiner Verurteilung auf sein Bürgerrecht beruft.56 Weshalb überstellt der Militärtribun dann Paulus nicht unverzüglich dem Statthalter, sondern behält sich selbst weitere Untersuchungen vor, und dann noch – wie wir sogleich sehen werden – unter Einbeziehung des 53 So Rapske (1994), S. 141, gegen W. M. Ramsay; R. P. C. Hanson, L. C. A. Alexander. 54 Dieses Argument kann freilich nicht für die Situation in Philippi geltend gemacht werden, wo kein Konflikt mit den Juden besteht. Ich habe keine Erklärung dafür, warum Paulus dort sein Bürgerrecht erst nachträglich reklamiert, so als habe er die örtlichen Magistrate dort bewußt hinters Licht führen wollen; vgl. Acts 16,37–40. 55 Vgl. Rapske (1994), S. 142 f., der meint, die Tatsache, daß er sich bewußt ist, der Status mit römischen Bürgerrecht zöge einen Unterschied in der Behandlung nach sich, könne so verstanden werden, daß er bereit ist, die Leiden ohne Beschwerde (vgl. Acts 21,13) auf sich zu nehmen. Rapske wendet sich damit gegen die verbreitete Annahme, Paulus wolle nur die Geißelung vermeiden und berufe sich hierfür auf sein Bürgerrecht; vgl. a. ebd. S. 142: „The temptation to judge the claim of Tarsian before Roman citizenship a blunder or narrative device to evoke suspense [gegen Haenchen, Conzelmann, Schille, GK] is best resisted. One should also resist the temptation to see in the assertion of Tarsian citizenship a low view of Roman Citizenship [gegen Cassidy, GK].“ Tarja (1989), S. 76 meint, in diesem Dialog zeige sich die Bedeutung des Bürgerrechts für Lukas: Lysias erkaufte es sich, um seine Privilegien zu genießen und seine Karriere zu fördern; Paulus ersuchte niemals um das römisches Bürgerrecht, sondern hat es einfach und mache es nur als letztes Schutzmittel geltend; er akzeptiere es als seinen Geburtsstatus, brüste sich jedoch niemals damit unter seinen verschiedenen Gesprächspartnern, weil seine primäre Identität eben religiöser und nicht rechtlicher Natur war. 56 Gemeint sind die Regelungen seit der lex Valeria, lex Porcia und die lex Iulia de vi publica et privata; zum Provokationsrecht vgl. oben Abschnitt I. 3. a).

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jüdischen Synedrions, das bestimmt keine kapitale Strafgewalt über römische Bürger hatte? Die einzige Erklärung, die sich aus dem späteren Bericht der Apostelgeschichte ergibt, ist die, daß er dem Statthalter einen Bericht mit seiner Einschätzung der Sach- und Rechtslage zu geben hatte und hierfür noch weitere Informationen einholen wollte. Karl Leo Noethlichs hat unter Heranziehung der einschlägigen, jedoch äußerst fragmentarisch-exzerptartig überlieferten Rechtsquellen behauptet,57 daß bei vielen Untersuchungen zu Paulus der falsche Eindruck entstehe, die körperliche Bestrafung römischer Bürger sei generell verboten gewesen.58 Dabei betont er, daß den Ausnahmeregelungen bei Verstößen contra disciplinam publicam zu wenig Beachtung geschenkt worden sei;59 außerdem müsse bedacht werden, daß Körperstrafen für römische Bürger durchaus möglich waren, und zwar sowohl als reguläre Bestrafung nach einem Prozeß als auch im Rahmen magistratischer Koerzition.60 Für Paulus als jemand, der mehrfach einen Tumult verursacht hat, wäre folglich nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß er trotz Provokation hätte gezüchtigt werden können.61 In bezug auf Noethlichs’ Annahmen gilt es dreierlei zu bedenken: Erstens würde die Annahme, es hätte hinsichtlich des Provokationsrechts gesetzliche oder gewohnheitsrechtliche Ausnahmeregelungen bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung gegeben, eine weitgehende Aushöhlung des57

Cic., rep. 2,31,54 (vgl. Val. Max. 4,1,1); Dig. (Ulp.) 48,6,7; Dig. (Maec.) 48,6,8; Paulus, Sent. 5,26,1–2 (FIRA II, S. 412). 58 Noethlichs (2000), S. 71. 59 Gemeint ist Paulus, Sent. 5,26,2: Hac lege excipiuntur, qui artem ludicram faciunt, iudicati etiam et confessi et qui ideo in carcerem duci iubentur, quod ius dicenti non obtemperaverint quidve contra disciplinam publicam fecerint; tribuni etiam militum et praefect classium alarumve (sc. excipiuntur), ut sine aliquo impedimento legis Iuliae per eos militare delictum coerceri possit. 60 Gegen Mommsen (1955), StrafR, S. 31 ff., der körperliche Züchtigung als eigenständige Strafe nicht gelten lassen wollte, sondern diese immer nur im Zusammenhang mit der Todesstrafe sah. Vgl. aber ders. (1954), StaatsR I, S. 156, gefolgt von Kunkel (1995), S. 166 f. mit A. 249. Noethlichs wirft jedoch Zeugnisse aus der Republik und spätere Juristentexte etwas willkürlich durcheinander. So behandelt das u. a. von ihm angeführte Dig. 48,19,28,1 ff. die verschiedenen Grade der Kapitalstrafe und besagt folglich nichts zur koerzitiven Züchtigung aus. Einen rechtsdogmatischen Überblick zum römischen Züchtigungsrecht (hauptsächlich zu den Digesten) gibt der erste Teil des Buches von Gebhardt, J. (1994), dem es aber an historischer Kontextualisierung mangelt. 61 Vgl. Noethlichs (2000), S. 74: „Aus Fesselung, Gefangennahme und körperliche Züchtigung läßt sich für oder gegen das römische Bürgerrecht des Paulus nichts Eindeutiges entnehmen“. Wir müßten die Perspektive freilich umkehren und die Frage aufwerfen, ob sich aus dem Bürgerrecht des Paulus nichts Eindeutiges in bezug auf die Praxis der Züchtigungsstrafen feststellen läßt.

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selben bedeuten. Ein Statthalter oder Magistrat hätte sich beinahe in jedem Fall auf eine tumultuöse Situation berufen und die Provokation übergehen können. Die Akzeptanz der Provokation hätte dann weitgehend vom Belieben des Statthalters abgehangen, so daß sich schließlich die Frage stellt, welchen Sinn und Zweck die Provokation überhaupt noch gehabt hätte. Zumindest widerspräche dies der Bedeutung, die dem Provokationsrecht von Livius und Cicero beigemessen wird.62 Zweitens ist es fraglich, ob das Juristenexzerpt aus dem 3. Jahrhundert den Text der lex Iulia im entscheidenden Punkt authentisch referiert.63 Drittens ergibt sich aus der insgesamt spärlichen Quellenlage zum Provokationsrecht kein konsistentes Bild, wie es mit seiner Respektierung in der Praxis wirklich aussah.64 Alle drei Argumente stellen jedoch auch zusammengenommen noch keinen Gegenbeweis zu der Hypothese dar, daß Statthaltern hinsichtlich des Provokationsrechts ein gewisser Ermessensspielraum gegeben war. Im Fall der Apostelgeschichte findet sich hierfür auch kein direkter Beleg, da in der einschlägigen Stelle von subalternen Funktionsträgern, nicht aber vom Statthalter selbst die Rede ist. Daß der Tribun sensibel reagierte, als er vom Bürgerrecht des Paulus erfuhr, konnte auch damit zusammenhängen, daß er es selbst noch nicht so lange besaß und es daher um so achtsamer vermied, einen Römischen Bürger zu mißhandeln. Lukas scheint hier sogar einen Statusvergleich zu suggerieren, der, sieht man einmal vom militärischen Rang des Tribunen ab, zugunsten des Apostels ausfiel. Ist dies möglicherweise der Grund, weshalb sich der Tribun um so vorsichtiger verhalten haben wird? Hätte er einen Römer von Geburt gezüchtigt, wäre das bei weiteren Implikationen des Falls seiner Person und Karriere wohl kaum zuträglich gewesen. Seine Furcht (22,29) war also wahrscheinlich echt. Eine grundsätzliche Frage bleibt, wie Paulus eigentlich den Nachweis für sein römisches Bürgerrecht erbringen konnte; der Militärtribun scheint seine Aussage einfach zu akzeptieren.65 Zumindest ist weder von einem Zeugenbeweis die Rede, wie im Fall des Gavius in Ciceros Verrinen,66 noch von einem „Ausweis“ (diploma), der den Bürgerstatus des Paulus 62 Vgl. oben A. 108 in Abschnitt I. 3. a) sowie A. 82 im Zusammenhang mit dem Gavius-Fall aus Ciceros Verrinen in Abschnitt II. 2. d). 63 Vgl. Crook (1964), Rez. Sherwin-White (1963), Classical Review 78, S. 199; Cloud (1989), S. 453 f. 64 Wie bereits betont, ist die Apostelgeschichte überhaupt die einzige Quelle, die ausführlicher über die Schutzfunktion des römischen Bürgerrechts im 1. Jh. unterrichtet. Zum Fall des Gavius in den Verrinen vgl. oben Abschnitt II. 2. d); die Interpretation ist insofern problematisch, als aus der rhetorischen Situation geschlossen werden kann, daß Cicero hier erheblich übertreibt und außerdem nicht die Bestrafung des Verres als solche in Frage stellt, sondern ihm nur zum Vorwurf macht, daß er den angebotenen Zeugenbeweis nicht weiter nachgegangen ist.

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möglicherweise hätte belegen können.67 Falls es letzteres zur Zeit des Paulus bereits gegeben haben sollte, verschiebt sich das Problem hin zu der Frage, ob der Nachweis von einem Amtsträger automatisch anerkannt werden mußte.68 Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die Stelle mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Klar wird jedenfalls, daß die Berufung auf das Bürgerrecht nach der Darstellung des Lukas unmittelbare Wirkung zeitigte und die Geißelung sistierte. Von daher kann die Stelle sicherlich als ein markanter Beleg für die statusabhängig divergierende Behandlung zwischen Bürger und Nichtbürger gelten; ob sie aber auch als Beleg für die systematische Anerkennung des Provokationsrecht gelten kann, scheint nicht so sicher, wie oft unterstellt wird. Zumindest sollte der Bericht nicht zu legalistisch ausgelegt werden, da Lukas selbst die persönlichen Motive der Beteiligten herausstellt. Paulus blieb zunächst im Gewahrsam der römischen Soldaten, und der Militärtribun stand immer noch vor dem Problem, nicht zu wissen, was Paulus eigentlich vorgeworfen wurde. In seinen Augen war Paulus zwar ein römischer Bürger, der eine privilegierte Behandlung beanspruchen konnte, aber immer noch eine Person, die zwei Mal (einmal im Tempel, das andere Mal nach seiner Rede) öffentliche Unruhen ausgelöst hatte. Ihn über Nacht in Gewahrsam zu nehmen, um die Angelegenheit am nächsten Tag genauer zu untersuchen (22,30), ist deshalb eine nachvollziehbare Entscheidung. Synedrion Am nächsten Tag ließ Lysias zur weiteren Untersuchung die Hohepriester und das ganze Synedrion (archiereis kai pan synedrion) zusammenkommen, führte Paulus von der Burg Antonia hinab und stellte ihn vor 65 Auch in der römischen Kolonie Philippi wird die Behauptung des Bürgerrechts von Paulus gegenüber den Stadtmagistraten ohne weitere Prüfung akzeptiert, vgl. Acts 16,37 ff. 66 Vgl. oben Abschnitt II. 2. d). 67 Vgl. Tajra (1989), S. 83–86. Zu den sog. diplomata civitatis Romanae vgl. allg. Schulz, F. (1942) und ders. (1943). Daß es so etwas gab, bezeugt Suet. Ner. 12,1. Entsprechende Belege durch die Papyri stammen aber erst aus dem 2. und 3. Jh., vgl. Schulz, F. (1943), S. 63. Im Laufe der Prinzipatszeit wurden Bestätigungsdokumente zum Erhalt des Bürgerrechts (und anderer Privilegien) vom Kaiser auch über libellus dem Betreffenden zugesandt. Dieser libellus wurde nicht nur in die Tribuslisten in Rom eingetragen, sondern höchstwahrscheinlich auch in das Register der Heimatstadt, vgl. z. B. Ehrenberg/Jones (1955), Dok. Nr. 301 (= FIRA I, Nr. 55). Ob in der Apostelgeschichte mit epignous (22,29, „als er erkannte/vernahm“ etc.) angedeutet wird, daß es irgendeinen Nachweis des Bürgerrechts im Fall des Paulus gegeben haben könnte, bleibt Spekulation. Vgl. auch Cadbury (1933), S. 316 mit A. 5. Von einem Nachweis durch „Bürgerbrief“ geht Doer (1968), S. 57 f., aus. 68 Vgl. Hengel (1991), S. 194, A. 61.

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diese Versammlung (22,30). Da der Militärtribun nicht befugt war, einen Kapitalprozeß durchzuführen, ferner aus der Situation hervorgeht, daß das Synedrion weder als Ankläger noch Gerichtshof, sondern hier nur als eine Art Beratungsgremium des Militärtribuns fungieren sollte, schließlich ein römischer Bürger auch nicht einfach an jüdische Autoritäten ausgeliefert werden konnte, läßt sich folgern, daß es sich hier weder um einen römischen noch um einen jüdischen Kapitalprozeß handelte.69 Die Schilderung des Lukas setzt voraus, daß ein römischer Offizier das Synedrion zu konsultativen Zwecken einberufen, es womöglich als eine Art Consilium im Rahmen einer „Voruntersuchung“ für einen eventuell nachfolgenden Strafprozeß beim Statthalter nutzen konnte. Wir hätten einen Beleg dafür, daß falls vom Synedrion in Jerusalem die Rede ist, es sich keineswegs um einen permanenten Gerichtshof gehandelt haben muß.70 Im speziellen Fall des Paulus war es wohl wichtig, herauszufinden, ob es sich um eine rein innerjüdische Angelegenheit handelte oder um einen Fall, der in die Strafgewalt des Statthalters fiel. Die Schilderung über die Vorgänge im Synedrion enthält einige Unklarheiten: Wir erfahren zwar, daß der Militärtribun Paulus persönlich zum Synedrion hinabführte (22,30), jedoch erfahren wir weder etwas Genaues über die Lokalität71 noch über die Anwesenheit des Tribunen während der Untersuchung. Zwei Punkte sind hier besonders auffällig: Wäre Lysias anwesend gewesen, so hätte er es tolerieren müssen, daß Paulus auf Befehl des Hohepriesters Hananias auf den Mund geschlagen (23,2), also eine Züchtigung an einem römischen Bürger ausgeübt wurde. Paulus wirft ihm in unmittelbarer Reaktion darauf auch einen Rechtsbruch vor, jedoch bezieht sich der Satz an den Hohepriester: „Sitzt du da und richtest mich nach dem Gesetz und läßt mich schlagen gegen das Gesetz“ (23,3) allem Anschein nach auf einen Verstoß gegen das jüdische Gesetz.72 Eine Geißelung, die sich Lysias nach Berufung des Paulus auf sein Bürgerrecht untersagt hatte, steht außer Verhältnis zum Schlagen auf den Mund, zumal erstere, wenn sie in brutaler Form ausgeübt wurde, immerhin den Tod nach sich ziehen konnte.73 Hier handelt es sich m. E. um eine 69 Cadbury (1933), S. 303–306, erörtert beide Alternativen, läßt aber die Frage offen, ob es sich hier um einen jüdischen Prozeß des Synedrions als Gericht unter Beteiligung des Lysias gehandelt hat oder um eine schlichte Konsultation jüdischer Autoritäten. 70 Vgl. zum Synedrion oben Abschnitt IV. 4. sowie im Zusammenhang mit der Befragung Jesu Abschnitt VI. 2. 71 Vgl. Rapske (1994), S. 147, gegen Tajra (1989), S. 97. 72 Die unmittelbar vorausgehende Äußerung von der „getünchten Wand“ scheint zumindest nahezulegen, daß sich die Äußerung des Paulus hier auf Ez 13,10–15 bezieht.

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Handlung wegen mangelnden Respekts des Paulus gegenüber einer jüdischen Autorität, die vom Tribunen konsultiert worden war, von daher auch als gegen ihn selbst gerichtet verstanden werden konnte. Wegen dieser relativ milden Form der Züchtigung wird Lysias, falls er selbst anwesend war, wohl kaum viel Aufhebens gemacht haben, zumal ja die synagogalen Züchtigungsstrafen geduldet waren.74 Zumindest hatte Paulus die Beteiligten mit „Brüder“ angeredet (23,1) und damit gezeigt, daß er ihre Autorität über sich nicht anerkannte, so wie er auch in seinem nachfolgenden Verhalten nicht im geringsten ein devotes Verhalten an den Tag legte (23,4 f.), wie es in seiner Situation zu erwarten gewesen wäre. Die Frage nach der Anwesenheit des Militärtribuns im Synedrion hängt von der Interpretation der Stelle ab, aus der hervorgeht, daß dieser, als die Zwietracht im Synedrion zu groß wurde, „die Soldaten hinabgehen und Paulus ihnen entreißen und in die Burg führen“ ließ (23,10). War Lysias selbst im Synedrion anwesend und gab jemandem den Befehl, daß die Soldaten herabkommen sollten? War er auf die Burg zurückgekehrt und kam nun selbst mit den Soldaten herab oder hatte er sich nur in der Nähe der Versammlung aufgehalten, den ausbrechenden Tumult mitbekommen und das Entsprechende veranlaßt? War es aufgrund spezieller Reinheitsvorschriften einem römischen Tribun überhaupt erlaubt, an einem Synedrion teilzunehmen? Wir wissen es nicht genau; es erscheint jedoch auf Grundlage der Apostelgeschichte plausibel, daß Lysias nach seiner Einberufung des Synedrions selbst anwesend war, da diese Sitzung schließlich seinem Verlangen nach Aufklärung diente. Somit ist nicht auszuschließen, daß das Synedrion hier als eine Art consilium des höchsten römischen Repräsentanten vor Ort fungierte.75 Andernfalls hätte der Militärtribun einen römischen Bürger aus seiner Gewalt entlassen und einem rein jüdischen Gremium überantworten müssen, was weniger glaubhaft erscheint. Schließlich wäre in diesem Zusammenhang noch das Sprachenproblem zu erwähnen, das aus den Quelleninformationen jedoch nicht lösbar ist: Weder kann ausgeschlossen werden, daß im Synedrion bei Erfordernis eine Sprache gesprochen wurde, die auch der Militärtribun verstehen konnte (also wahrscheinlich Griechisch), da für die Beteiligten ja auch in anderen Situationen (Josephus, Jesus) eine Kommunikationsmöglichkeit mit der römischen Obrigkeit vorausgesetzt werden muß, noch daß Dolmetscher zur Verfügung standen, falls Aramäisch gesprochen worden wäre. Es muß jedenfalls irgendeine Form der Verständigung unterstellt werden, da andernfalls die Ein73 Ausführlicher zu den Formen der Geißelung vgl. Rapske (1994), S. 139; Tajra (1989), S. 73 f. 74 Vgl. dazu Noethlichs (2000), S. 70. 75 Dies scheint mir auch aus Acts 23,28 hervorzugehen.

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berufung des Synedrions durch den Militärtribun sinnlos gewesen wäre. Daß diese ihm trotzdem nicht sehr viel weiterhalf, hatte andere Gründe. Paulus provozierte nämlich zum dritten Mal bei den Juden (nunmehr den höchsten Autoritäten) einen Tumult, aus dem er abermals nur durch Einschreiten römischer Soldaten entrissen werden konnte. Der Anlaß war, daß Paulus zunächst ohne Unterwürfigkeit vor dem Synedrion die Ansicht vertrat, daß ihm nichts vorzuwerfen sei (23,1), sich anschließend aber die Spaltung zwischen Sadduzäern und Pharisäern zunutze machte,76 um die Angelegenheit in einen theologischen Disput über dogmatische Fragen (Engellehre, Auferstehung, Geisterglaube) zu wenden (23,6–9). Damit erreichte er immerhin, die Pharisäer auf seine Seite ziehen, was aber die Zwietracht nur vergrößerte, so daß das Ganze in eine tumultuöse Versammlung ausartete, bis schließlich der Militärtribun Soldaten einschreiten ließ (23,9 f.).77 Paulus wurde erneut festgesetzt (23,10) und war fortan Gefangener (23,18 desmios), wenn auch als römischer Bürger nunmehr unter erleichterten Haftbedingungen.78 Der Militärtribun hatte durch die Einberufung des Synedrions zum Fall des Paulus keinerlei neue Erkenntnisse gewonnen. Als er auch noch von einem Mordkomplott (23,12–35) erfuhr,79 das gegen Paulus ausge76 Vgl. Acts 23,7 f.; Mk 12,18; Lk 20,27; Joseph., BJ 2,262–166. Der Unterschied zwischen Pharisäern und Sadduzäern bestand vor allem darin, daß letztere nicht an die Auferstehung glaubten; die Apostelgeschichte mündet hier in einen theologischen Disput, der nichts mehr mit einer Untersuchung möglicher Anklagepunkte zu tun hat. Vgl. zur Haltung der Pharisäer auch die Gamalielrede Acts 5,34–42. Im Gegensatz zum Verhör Jesu, der einem ganz feindlichen Synedrion gegenüberstand (vgl. Abschnitt VI. 2.), konnte Paulus also immerhin einen Teil des Synedrions auf seine Seite ziehen. 77 Gerade in diesem Zusammenhang läßt sich noch einmal das Argument gegen die Anwesenheit des Militärtribunen im Synedrion wegen evtl. geltender Reinheitsvorschriften aufgreifen: Wie wäre es um sie bestellt, wenn offensichtlich römische Soldaten das Synedrion auflösen, um Paulus herauszuholen? 78 Ausführlich zu den Haftbedingungen des Paulus vgl. Rapske (1994), S. 145– 149. 79 Vgl. zum Mordkomplott Tajra (1989), S. 104 f. Die Verschwörung der Juden paßt ins Bild jüdischer Zeloten (Femejustiz, Lynchakte, Schwurformeln und Selbstverfluchung, Verweigerung der Nahrung etc.). Historisch eher unwahrscheinlich ist aber der Kontakt mit Hohepriestern und Ratsmitgliedern (23,14), da diese eher romfreundlich gesinnt waren. Denkbar wäre, daß damit angedeutet ist, daß dies zu dieser Zeit nicht mehr unumschränkt so war und evtl. einige aus der sadduzäischen Fraktion mit ins Vertrauen gezogen wurden. Wie und warum ein Neffe des Paulus von dem Mordkomplott erfährt (23,16) und was er in Jerusalem tut, bleibt ungewiß. Er geriert sich als wichtiger Geheimnisträger, und nur Paulus und der Tribun werden informiert (23,16. 22), nicht aber der Centurio. Lukas scheint auf einen privilegierten Status des Paulus als Gefangener abzuheben, wenn er Besucher empfangen kann (23,17 f.). Daß der Militärtribun in Jerusalem für die Überführung des Paulus nach Cäsarea 470 Soldaten zur Verfügung stellt (23,23), ist unwahrscheinlich, schlösse die Maßnahme doch beinahe die Hälfte des gesamten Jerusalemer Truppen-

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übt werden sollte, faßte er endgültig den Entschluß, Paulus durch Soldaten nach Cäsarea bringen und dort dem Statthalter Felix übergeben zu lassen. Überstellungsbeschluß und Brief des Militärtribun Diese Entscheidung entspricht der Maßnahme, die von einem Militärtribun in Jerusalem in dieser Situation erwartet werden konnte.80 Die Überstellung erfolgte mit einem Schreiben,81 in dem der Tribun seinem Vorgesetzten einen knappen Überblick über den Fall und seine Sicht der Dinge verschaffte, d. h. er liefert in einigen Sätzen einen Bericht, was vorgefallen war, welche Maßnahmen er eingeleitet hatte, was sein Ergebnis aus der Voruntersuchung war und wie der Fall seiner Meinung nach rechtlich einzuschätzen ist. Indem Lukas diesen Brief wie ein offizielles Dokument wiedergibt, kann er den gesamten Fall vom Standpunkt eines römischen Offiziers noch einmal zusammenfassen.82 Es versteht sich von selbst, daß diekontingentes (Doppelkohorte) mit ein. Womöglich handelt es sich hier eher um eine symbolische Zahl, die verdeutlichen soll, wie stark sich der Tribun der Sicherheit eines römischen Bürgers verpflichtet wußte; zudem kann Lukas damit auch zeigen, um welch wichtige Person es sich bei dem Gefangenen Paulus gehandelt haben soll. Rapske (1994), S. 154, hält dagegen die Zahl der Soldaten für realistisch, verweist dabei auf das gespannte Verhältnis zwischen Juden und Römern zu dieser Zeit und darauf, daß die Eskorte angesichts der Feindschaft und Verschwörung gegen Paulus auf jeden Mordanschlagversuch abschreckend wirkend sollte. Hier handelt es sich m. E. um eine Schlußfolgerung in die verkehrte Richtung, welche nicht die Machtressourcen berücksichtigt. Gerade wenn es Spannungen zwischen Juden und Römern zu dieser Zeit gab, wird ein Militärtribun in Jerusalem darauf geachtet haben müssen, ausreichend Truppenreserven vor Ort aufbieten zu können (man erinnere sich, daß er ihn anfänglich mit dem aufständischen Ägypter verwechselte). Dem Paulus wird hier von Lukas eine Bedeutung zugemessen, die er aus römischer Perspektive nicht gehabt haben kann; dies ist eine Grundtendenz, die sich gegen Ende der Apostelgeschichte noch verstärken wird, so daß bald der Eindruck entsteht, die gesamte provinziale Oberschicht sei nur noch mit Paulus beschäftigt gewesen. 80 Cadbury (1933), S. 306 stellt heraus, daß der Überstellungsbeschluß des Lysias davon geleitet war, „to arrange a change of place of custody, not a change of jurisdiction“, da er Paulus der Bequemlichkeit halber auch in Jerusalem hätte in Gewahrsam halten können, bis der Statthalter Felix bei Gelegenheit anwesend gewesen wäre und den Prozeß vor Ort hätte durchführen können. 81 Zur genauen Analyse des Briefes vgl. Tajra (1989), S. 106 f. _ 82 Acts 23,26–30: Klaýdioò Lusßaò tÃw kratßstÃw †gemüni FÞliki xaßrein. _ _ _ pÎ t wn \Ioudaßwn kaÍ mÝllonta ˜naire iTÎn åndra to_uton sullhm—qÝnta _ _ t w à strateýmati ™ceilÜmhn, maq„n Õti ¢Rwma iüò sqai p' ažtwn ™pistJò sÏn _ _ tÌn aœtßan di' ¤n ™nekÜloun ažtÃw katÞgagon ™stin. boulümenüò te _™pignwnai _ _ . ân eron wn ™gkaloýmenon perÍ zhthmÜtwn tou nümou eœò tÎ sunÝdrion ažt _ _ dÊ åcion qanÜtou í desmwn _æxonta ægklhma. mhnuqeßshò dÝ ažtwn, mhdÊn _ prÎò sÝ, parag- geßmoi ™piboul_ hò eœò tÎn åndra æsesqai ™c ažtwn æpemya _ laò kaÍ to iò kathgüroiò lÝgein prÎò ažtÎn ™pÍ sou. Rapske (1994), S. 152 f.,

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ses Schreiben für die erste Einschätzung des Falls durch den Statthalter keine unwichtige Rolle gespielt haben wird. Nach der Grußformel (23,26) besagt es im wesentlichen, daß es sich bei Paulus um einen römischen Bürger handelt, der von Juden ergriffen und von diesen getötet werden sollte (23,27), daß er zur Erkundung möglicher Anklagegründe ein Synedrion einberufen habe (23,28) und daß es sich wohl um eine Frage nach jüdischem Gesetz handle, auf die nach römischem Recht kein Tod oder Gefängnis stehe (23,29).83 Als schließlich noch ein Anschlag auf Paulus habe verübt werden sollen, habe er sogleich entschieden, ihn zu überstellen und überdies einige Mitglieder aus dem Synedrion angewiesen, als Kläger (kategoroi) aufzutreten (23,30 mit 23,28; 24,1). Zwischenresümee zu den Vorgängen in Jerusalem Für das Verständnis der Funktionsweise der statthalterlichen Strafgewalt können wir resümieren: Der Statthalter residiert wie üblich in Cäsarea, hat jedoch einen römischen Offizier in Jerusalem stationiert, der zumindest partiell als sein Stellvertreter fungieren kann.84 Er gilt bei Abwesenheit des Statthalters als die oberste römische Autorität vor Ort und führt „Polizeimaßnahmen“ durch, wenn die öffentliche Ordnung gefährdet ist. Dabei agiert er aber nicht nur als Militär, sondern muß zugleich mehrere Aufgaben erfüllen, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Als „Ermittler“ untersucht er die Gründe für den Vorfall und die sich daraus ergebenden möglichen Anklagepunkte; als „Schiedsrichter“ muß er die schwierige Balance wahren, wenn es einerseits einen römischen Bürger zu schützen gilt, andererseits die jüdischen Autoritäten nicht verprellt werden sollen. Von daund ähnlich Tajra (1989), S. 107, lesen etwas zuviel hinein, wenn sie betonen, wie sehr Lysias die Dinge mit seinem Brief beschönigt habe, indem er die Informationen zu seiner anfänglichen Behandlung (Fesselung, Absicht der Geißelung) unterdrückt. Mir scheint es doch etwas zuviel erwartet, daß in seinem Bericht, der in Kürze das Wesentliche zusammenfassen soll, der Militärtribun sich auch noch hätte selbst bezichtigen sollen. Ferner kann ich mir nicht recht vorstellen, daß es den Statthalter, der selbst nicht gerade zimperlich mit den Provinzialen verfuhr, in besonderer Weise interessiert hätte, auf welche Weise Paulus gefesselt war und ab wann unter welchen Bedingungen sein Bürgerrecht bekannt wurde. Hier werden Probleme aufgeworfen, die keine sind. 83 Zu Acts 23,29: Daß es sich um eine Frage nach jüdischem Gesetz handelt, geht eindeutig aus der Formulierung „nach ihrem Recht“ hervor. Hinsichtlich des Strafmaßes ist nicht ganz eindeutig, welches Recht gemeint ist, jedoch glaube ich nicht, daß ein Militärtribun den Statthalter hier über das jüdische Gesetz informieren will. Plausibler erscheint es mir, wenn er dem Statthalter seine Einschätzung vermittelt, ob sich aus dem Vorgefallenen für den römischen Bürger Paulus eine Sanktionswürdigkeit nach römischen Recht ergibt. 84 Vgl. Smallwood (1976), S. 147.

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her war es auch nicht ungeschickt, ein Synedrion als eine Art Consilium einzuberufen, wenn durch dieses Gremium möglicherweise die Wut gegen Paulus erst einmal „kanalisiert“ werden kann und er sich dadurch gleichzeitig genauere Information zum Fall erhofft. Letzteres wird jedoch enttäuscht. Jedenfalls handelt es sich bei Paulus um eine Person, die als römischer Bürger weder einfach den jüdischen Autoritäten überlassen noch einfach freigelassen werden kann, wenn er als Aufrührer bzw. Unruhestifter auch für die römische Provinzialherrschaft ein Problem darstellt. Als „Rechtsgutachter“ betätigt sich der Militärtribun in seinem Begleitbrief an den Statthalter. Daraus geht hervor, daß er Paulus aus römischer Perspektive noch nichts Konkretes vorwerfen kann, was eine Kapitalstrafe verdient hätte. Dessen ungeachtet scheinen ihm die Vorgänge gravierend genug, um die Angelegenheit endgültig dem Statthalter zu übergeben. Anhand der Vorgänge in Jerusalem zeigt Lukas, wie eine tumultuöse und emotional aufgeladene Situation von der römischen Ordnungsmacht in prozessuale Bahnen gelenkt wird, indem einige jüdischen Autoritäten als Ankläger und Paulus als Angeklagter an das Statthaltergericht verwiesen werden. Die provinziale Oberschicht wird zunächst über Konsultation und dann in ihrer Eigenschaft als Ankläger in das Gefüge der römischen Provinzialherrschaft eingebunden. Der Militärtribun fungiert dabei als der „lange Arm“ des Statthalters, dem zwar selbst die Kompetenz zur Durchführung eines Strafprozesses fehlt, der jedoch über die Voruntersuchung und die schriftliche Berichterstattung eine wichtige Aufgabe im Vorfeld der statthalterlichen Strafgewaltspraxis wahrnimmt. b) Paulus in Cäsarea Anklage und Verteidigung vor dem Statthalter Felix Nachdem Paulus nach Cäsarea überführt worden war, wurde er dem Statthalter Felix vorgeführt, dem gleichzeitig auch der Brief des Militärtribunen ausgehändigt wurde (23,33). Felix las zunächst den Brief und fragte Paulus daraufhin nach seiner Herkunftsprovinz. Als er vernahm, daß er aus Kilikien sei, beschloß er, ihn zu verhören, sobald die Ankläger eingetroffen seien; bis dahin wurde Paulus im Herodespalast, der als Statthalterresidenz diente, in Gewahrsam gehalten (23,34 f.).85 Die Frage nach dem Herkunftsort läßt vermuten, daß Felix eventuell erwogen hat, Paulus in seine Heimatprovinz abzuschieben, um ihn dort richten zu lassen.86 Dagegen hätte allerdings gesprochen, daß er dann in bezug auf das forum domicili des 85 Zur Örtlichkeit und den Möglichkeiten, Gefangene dort unterzubringen vgl. Rapske (1994), S. 155–158.

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Paulus den Statthalter von Syrien mit der Angelegenheit hätte belästigen müssen,87 was sich nicht immer zum eigenen Vorteil auswirken mußte;88 außerdem, daß sich die Mitteilungen des Militärtribuns in seinem Brief nur auf das Jerusalemer forum delicti beziehen; und schließlich, daß schon die Ankläger – immerhin die höchsten Repräsentanten der Provinz – geladen waren, die bei Verlegung des Gerichtsorts wieder hätten ausgeladen werden müssen. Die Absicht einer Verlegung könnte jedoch andeuten, daß der Statthalter den Fall wegen seiner potentiellen politischen Brisanz am liebsten los geworden wäre; auch der weitere Bericht der Geschehnisse verstärkt diesen Eindruck. Bei den ersten Erkundigungen des Statthalters kann es sich noch nicht um den Prozeß gehandelt haben, weil ausgeführt wird, daß er Paulus erst verhören (diakusomai) wolle, nachdem auch die Ankläger eingetroffen seien (23,35). Somit fließen Verhör und die zu erwartende Verteidigungsrede des Paulus ineinander. Ferner zeigt sich, daß ein zügiger Prozeßbeginn angestrebt wurde, was nicht selbstverständlich war, da die Terminierung keinen festen Regeln unterlag und der Statthalter von unterschiedlichen Möglichkeiten der Verschleppung Gebrauch machen konnte. Dabei konnte sich ein schneller Prozeß oder eine Verzögerung je nach Lage des Falls als Gunsterweis für die eine oder die andere Prozeßpartei auswirken.89 Im Fall des Paulus hatten jedoch bereits die Maßnahmen des Militärtribuns (Auswahl und Anweisung der Ankläger) einen schnellen Prozeßbeginn eingeleitet, ohne daß damit – wie sich zeigen wird – eine schnelle Erledigung des Falls durch Urteilsspruch garantiert worden wäre. Nach fünf Tagen erschienen die Ankläger, der Hohepriester Hananias mit einigen „Ältesten“ und dem „Rhetor“ Tertullus (24,1), der als geschulter Prozeßredner der Anklage gegen Paulus wohl zusätzliches Gewicht verleihen sollte.90 Nach der einleitenden captatio benevolentiae (23,2–4)91 führte Tertullus zwei Anklagepunkte an: Paulus sei schädlich (wie die Pest, loimon), weil er überall im Römischen Reich Aufruhr (stasis) unter den Juden 86 Vgl. Tarja (1989), S. 116–18; Rapske (1994), S. 155. Vgl. zum Fall Jesu Lk 23,6 f. Dazu, daß es sich nur um eine Option, aber niemals um eine Verpflichtung handelte, Dig. 48,3,11: Illud a quibusdam observari solet, ut, cum cognovit et constituit, remittat illum cum elogio ad eum, qui provinciae praeest, unde is homo est, quod ex causa faciendum est. 87 Kilikien fiel damals unter den Herrschaftsbereich des syrischen Statthalters. 88 Vgl. dazu Abschnitt V. 2. 89 Vgl. Cadbury (1933), S. 308. 90 Die Identität des Tertullus ist unklar (Grieche, Römer, Jude), jedoch kommt es hier mehr auf seine Funktion an, mit der Lukas zugleich verdeutlichen kann, welche Bedeutung dem Fall von jüdischer Seite beigemessen wurde. Zur Person und Anklagerede des Tertullus vgl. Tajra (1989), S. 118 ff.; Rapske (1994), S. 158–160. 91 Vgl. dazu die Analyse von Winter, B. (1991); Tajra (1989), S. 120.

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errege92 und Anführer der „Nazaräersekte“93 sei (24,5); zum anderen sei er in Jerusalem ergriffen worden, als er den Tempel entweiht habe (24,6),94 was die anwesenden Juden bekräftigen könnten (24,8). Die Anklage trat hier also als Verfechter von Ruhe und Ordnung gegenüber einem notorischen Aufrührer auf. Die Erwähnung der Nazaräersekte erfolgte möglicherweise in der Absicht, darauf hinzuweisen, daß ihr Gründer Jesus bereits von einem vorherigen Statthalter verurteilt worden war. Beides zusammen lief darauf hinaus, Paulus als Rädelsführer einer romfeindlichen Vereinigung in der Tradition eines anderen Unruhestifters zu diskreditieren. Der zweite Punkt der Tempelverletzung implizierte möglicherweise den Vorwurf, daß es sich hier um eine Angelegenheit handelte, deren Ahndung jüdischen Autoritäten vorbehalten sei, welche aber durch die Intervention des Militärtribuns in Jerusalem unzulässigerweise verhindert wurde.95 Die Stelle läßt im Unterschied zur Passionsgeschichte Jesu keinen Zweifel am Vorliegen einer förmlichen Anklage; es entsteht vielmehr der Eindruck eines von allen Seiten wohlvorbereiteten Prozesses. Wie im Lukasevangelium bei der Anklage gegen Jesu96 zeigt sich auch hier die Gemengelage religiöser und politischer Motive. Jedoch konnte Paulus weder Steuerboykott noch Königsprätentionen vorgeworfen werden, und viel hing wohl davon ab, wie er den Jerusalemer Vorfall von dem allgemeinen Vorwurf der Unruhestiftung separieren konnte. Bezeichnenderweise ging Paulus in seiner Verteidigungsrede97 nur auf den zweiten Anklagepunkt über die Vorgänge in Jerusalem ein. Dazu verteidigte er sich, bei seinem dortigen zwölftägigen Aufenthalt (24,10) weder im Tempel noch in den Synagogen noch in der Stadt Streit bzw. Aufruhr angezettelt zu haben (24,11 f.); 92

Vgl. dazu die ähnliche Klage in Acts 17,6. Der Ausdruck Nazaräersekte taucht sonst im Neuen Testament nicht auf. Der Begriff „Sekte“ (hairesis) hat nicht unbedingt eine negative Konnotation (vgl. Joseph., BJ 2,119); außerdem muß er nicht bedeuten, die Nazaräer stünden außerhalb des Judentums; im Rahmen der Anklage impliziert er vielmehr einen Hinweis auf die politische Gefahr einer antirömischen Gruppierung, dessen Anführer (protostates) Paulus sei. _ _ 94 Acts 24,5 f. 9: erünteò gJr tÎn åndra touton loimÎn kaÍ kinounta_stÜs_ _ _ _ te t hò twn eiò p asin to iò \Ioudaßoiò to iò katJ tÌn oœkoumÝnhn prwtostÜthn _ Nazwraßwn arÝsewò (5), âò kaÍ tÎ erÎn ™peßrasen_ bebhlwsai, ân _kaÍ ™kratÞsamen (6), [. . .] sunepÝqento dÊ kaÍ o \Iouda ioi —Üskonteò tauta oÖtwò æxein (9). 95 Deutlich geht dies nur aus dem Einschub einer späteren Version der Apostelgeschichte 24,6b–8a hervor: „(6b) und nach unserem Gesetz richten wollen. (7) Aber der Oberst Lysias kam herzu und entriß ihn mit Gewalt unseren Händen (8a) und befahl, daß seine Ankläger zu dir kommen sollen.“ Vgl. dazu Cadbury (1933), S. 302. 96 Vgl. Lk 23,2; beide Male findet sich eine Form von heurisko. 97 Ausführliche Analyse der Apologie des Paulus Tajra (1989), S. 125–128. 93

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außerdem gebe es weder Beweise noch Belastungszeugen für einen Tempelfrevel, zumal gerade jene Juden aus Asia (die eigentlichen Auslöser des Tumults) ihn dort nur friedlich gesehen hätten und auch jetzt nicht vor dem Statthalter als Zeugen erschienen seien (24,19).98 Der Frevel im Tempel habe ihm bereits vor dem Synedrion in Jerusalem nicht nachgewiesen werden können (24,20). Auf den Vorwurf der Unruhestiftung außerhalb Judäas ging Paulus also gar nicht erst ein. Wenn Paulus seine Friedfertigkeit darlegt, hätte sich der Statthalter freilich irgendwann fragen müssen, weshalb es überhaupt zu einem Tumult im Tempel gekommen war, denn irgendeinen Anlaß mußte es ja gegeben haben. Gerade die religiösen Motive in der Verteidigungsrede des Paulus zielen deshalb darauf ab, darzulegen, daß es sich hier seitens der Ankläger eigentlich um einen Stellvertreterprozeß handelt, bei dem die falschen Vorwürfe nur dazu dienen, die eigentlichen Motive ihrer Anklage zu verdekken. So präsentiert sich Paulus zunächst als frommer Jude (24,14), nuanciert anschließend aber seine Glaubensüberzeugung dahingehend, daß er an die Auferstehung glaube (24,15). Damit bezieht sich Paulus auf die Vorgänge im Jerusalemer Synedrion, wo es zum Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern über diese Frage gekommen war. Dadurch kann er sich zu einer Person stilisieren, die nur wegen ihres Glaubens an die Auferstehung der Toten verfolgt werde (24,21) und darüber zum Opfer religionsinterner Streitigkeiten geworden war. Hier ist daran zu erinnern, daß dies bereits Lysias in seinem Brief so gesehen hatte, ohne jedoch zu wissen, um welchen Streitpunkt es dabei genau ging; jedenfalls bewertete auch er den Fall so, daß aus römischer Sicht kein Kapitaldelikt vorlag. Die Verteidigungsstrategie des Paulus im Einklang mit der brieflichen Einschätzung des Militärtribuns lief also darauf hinaus, daß ihm in Hinblick auf die konkreten Vorwürfe des Tempelfrevels mangels Zeugen und Beweisen überhaupt nichts vorzuwerfen sei; gegen ihn werde ein Stellvertreterprozeß wegen jüdischer Glaubensfragen geführt, die aus römischer Perspektive als Strafgrund irrelevant seien. Damit schildert Lukas eine Situation, in welcher der Statthalter einerseits gewichtige Vertreter der jüdischen Provinzialelite als Ankläger vor sich versammelt sieht, deren Klagen er nicht einfach vom Tisch wischen konnte bzw. wollte; andererseits hätte er Paulus freilassen müssen, falls er der Einschätzung seines 98 Vgl. Sherwin-White (1963), S. 52, verweist auf die römische Gesetzgebung mit Strafen gegen Ankläger, die ihre Klagen nicht vorbrachten (eine Rede des Claudius im Senat, die 61 n. Chr. unter Nero zum SC Turpilianum ergänzt wurde; die Straffolge sei von den späteren Juristen destitutio genannt worden. Als Beleg für dieses Prinzip im Verfahren extra ordinem, vgl. Plin., Ep. 6,31,9–12). Das Nichterscheinen eines Teils der Ankläger konnte auf die Unwirksamkeit der Klagepunkte hinauslaufen, die sie hätten vorbringen sollen.

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Militärtribuns und der Verteidigungsrede eines römischen Bürgers mehr Gewicht beigemessen hätte, zudem noch die wichtigen Belastungszeugen fehlten.99 Die erste Frage, die sich hier stellt, ist die, inwiefern beim Statthalter Felix Kenntnisse über jüdische Parteiungen vorausgesetzt werden können, damit er die Argumentation des Paulus überhaupt nachvollziehen konnte. Lukas scheint jedenfalls davon auszugehen.100 Davon abgesehen spricht dafür, daß Felix immerhin mit einer Jüdin verheiratet war (24,24), ihm also zumindest in groben Zügen bestimmte Lehrinhalte und Glaubensrichtungen der Juden nicht ganz fremd gewesen sind; ferner dürfte es sich herumgesprochen haben, daß sich innerhalb der Priesterschaft mit den Pharisäern und Sadduzäern inzwischen zwei Lager gebildet hatten;101 schließlich wußte der Statthalter wohl, daß die Hohepriester der sadduzäischen Richtung angehörten, auf deren Kooperation die Römer seit der Provinzialisierung Judäas im Vergleich zu den anderen Gruppierungen weitgehend bauen konnten. Demgegenüber sind wir von Josephus darüber informiert, daß sich inzwischen nicht nur innerhalb der Priesterschaft feindliche Faktionen herausgebildet, sondern sich auch ihr Verhältnis zum römischen Provinzialregiment verschlechtert hatte.102 Im konkreten Fall hatte Felix also über eine _

Vgl. dazu Acts 18,12 ff.: Gallßwnoò dÊ ˜nqupÜtou éntoò t hò \AxaÀaò ka_ _ tepÝsthsan ‡moqumadÎn o \Iouda ioi tÃw PaýlÃw kaÍ _çgagon ažtÎn ™pÍ tÎ _ ˜napeßqei otoò toÏò ˜nqrþpouò b hma (12), lÝgonteò Õti ParJ tÎn nümon _ _ u Paýlou ˜noßgein tÎ stüma e œpen ‡ sÝbesqai tÎn qeün (13). mÝllontoò dÊ to _ ti í . Áadioýrghma ponhrün, Gallßwn _prÎò toÏò \Ioudaßouò, Eœ mÊn šn ˜dßkhmÜ _ _ . eœ dÊ zhtÞmatÜ ™stin perÍ Ÿ \Iouda ioi, katJ lügon ën ˜nesxümhn m wn (14) _ _ lügou kaÍ nomÜtwn _kaÍ nümou tou kaq' m aò, éyesqe ažtoß . kritÌò ™g„ toýtwn ož boýlomai e œnai (15). Die Juden führen Paulus während seines längeren Aufenthalts in Korinth vor den Richterstuhl des Statthalters Gallio und klagen ihn an: „Dieser Mensch überredet die Leute, Gott zu dienen dem Gesetz zuwider.“ Gallio lehnt die Annahme der Anklage mit der Begründung ab: „Wenn es um einen Frevel oder ein Vergehen ginge, ihr Juden, so würde ich euch anhören, wie es recht ist (14); weil es aber Fragen sind über Lehre und Namen und das Gesetz bei euch, so seht ihr selber zu; ich gedenke, darüber nicht Richter zu sein (15). Und er trieb sie weg von dem Richterstuhl (16).“ Hier kommt es also gar nicht erst zu einem Prozeß, weil der Statthalter die Klagen als innerjüdische Religionsstreitigkeit betrachtet, über die er nicht zu richten gedenkt. 100 Vgl. Acts 24,22. Die Frage ist hier, ob sich die Stelle nur auf die Auferstehungslehre oder das Christentum als eine neue jüdische Sekte bezieht, wenn es heißt, daß Felix über den „[neuen] Weg“ Bescheid wußte. Christen gab es nun bereits seit 25 Jahren; ob es bereits Tausende in Jerusalem gab (21,20), bleibt fraglich, womöglich war es aber bereits eine durchaus bemerkbare Gruppierung. Felix hätte auch in Cäsarea auf die Christen aufmerksam gemacht werden können (8,1 ff.), womöglich sogar als Angehörige der römischen Streitkräfte (10,1 ff.); zur Diskussion über die christliche Gemeinde in Cäsarea vgl. Levine (1975), S. 24–26. 101 Darin besteht ein Unterschied zur Situation im Synedrion zur Zeit Jesu, soweit davon in den Evangelien überhaupt die Rede ist, vgl. oben Abschnitt VI. 2. 99

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Anklage gegen einen römischen Bürger zu befinden, die politischen Sprengstoff bot, da sie von den gewichtigsten Repräsentanten der einheimischen Bevölkerung erhoben wurde.103 In einer solchen Lage war die Verschleppung des Falls aus Sicht des Statthalters wahrscheinlich noch die beste Lösung, die auch völlig im Rahmen seiner Möglichkeiten lag.104 Verschleppung des Falls Ohne Zweifel hätte der Statthalter nach Anhörung von Anklage und Verteidigung den Fall entscheiden können.105 Jedoch fällte Felix kein Urteil, sondern vertagte den Prozeß mit dem Argument, daß er zuvor noch den Militärtribun Lysias als Zeugen vernehmen müsse (24,23).106 Bis dahin ordnete er Haft für Paulus an, jedoch unter erleichterten Bedingungen, so daß er sich durch Besucher versorgen lassen konnte (24,23).107 Somit konnte der Statthalter erst einmal Zeit gewinnen, ohne die Hoffnungen der einen oder anderen Seite enttäuscht zu haben. Zudem wird deutlich, daß Felix hier ebenfalls die Anklage auf die Vorgänge in Jerusalem verengte, denn allein darüber hätte ja der Militärtribun berichten können.108 Der Militärtribun war vermutlich nicht gleich bei Überführung des Paulus nach Cäsarea mitgekommen, weil er sich in Jerusalem für unabkömmlich hielt, zumal die 102

Vgl. zum Kontext oben Abschnitt V. 1. e). Vgl. dazu allg. Garnsey (1970), S. 78. Im speziellen Fall des judäischen Statthalters gilt es außerdem zu beachten, daß immerhin der Vorgänger des Festus, Ventidius Cumanus, wegen einer Anklage beim Kaiser in die Verbannung geschickt worden war, vgl. Joseph., AJ 20,118–136 bzw. oben Fall (22) mit (14) und (17) im Zusammenhang des Streits zwischen Samaritanern und Juden. 104 Vgl. Sherwin-White (1963), S. 53; Tajra (1989), S. 129. 105 So wie der Statthalter Gallio Acts 18,12 ff., vgl. oben A. 99 in diesem Abschnitt. 106 Zur gängigen Praxis der Prozeßverschleppung vgl. Cadbury (1933), S. 307; Mommsen (1907), S. 444. 107 Vgl. ausführlich zu den Haftbedingungen Rapske (1994), S. 167–172. 108 Gegen Rapske (1994), S. 165 f., der in bezug auf den ersten Anklagepunkt des politischen Aufruhrs meint, Felix habe befürchten können, daß die Bestrafung des Paulus als Anführer einer Sekte einen für beide Seite verlustreichen Aufruhr in der Bevölkerung hätte verursachen können. Diese Skrupel scheinen mir abwegig, zum einen, weil die Apostelgeschichte unterstellt, daß dieser Anklagepunkt einfach keine Relevanz hatte, zum anderen, weil der Statthalter dann erst recht hätte durchgreifen müssen, da darin ja eine seiner Hauptaufgaben lag, wenn es die Sicherheit und Ordnung der Provinz aufrechtzuerhalten galt. Außerdem hätte Felix solche Gedanken erst recht beim ägyptischen Propheten aus der Wüste haben müssen, dessen Anhänger er militärisch niederrang, vgl. oben Fall (3). Wenn Rapske von einer unpopulären Maßnahme in explosiver Atmosphäre spricht, dramatisiert er die Situation nicht nur unnötig, sondern mißt Paulus auch eine Bedeutung bei, die Lukas in anderer Hinsicht zwar suggeriert, die man jedoch stark relativieren muß. 103

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Stadt dann ohne gleichwertige militärische Oberaufsicht geblieben wäre. Erstaunlich ist hingegen, warum im weiteren Bericht der Apostelgeschichte die Figur des Militärtribuns überhaupt keine Rolle mehr spielt. Gerade deshalb schleicht sich der Verdacht ein, die Zeugenbenennung habe dem Statthalter nur zum Vorwand gedient, den gesamten Fall zu verschleppen. Jedenfalls kommt es unter Felix nie wieder zu einer Verhandlung. Paulus verblieb in leichtem Gewahrsam im Herodespalast, wobei ihm Kontakte nach außen erlaubt waren; mit wem genau, wissen wir nicht. Wir erfahren aber, daß Felix den Apostel seiner Frau Drusilla, einer Tochter von Herodes Agrippa I.,109 vorführte. Lukas berichtet von privaten Unterhaltungen, bei denen Drusilla Paulus zuhörte, wenn er ihr seinen Glauben an Jesus Christus darlegte (24,24). Als er dabei jedoch auch auf Gerechtigkeit (dikaiosyne) und Enthaltsamkeit (enkrateia) zu sprechen kam, habe Felix die Unterredungen abgebrochen (24,25). Möglicherweise deutet Lukas damit an, daß sich Paulus auch während seiner Haftzeit nicht devot verhielt, sondern Themen ansprach, die weder mit der Herrschaftsstil des Felix noch mit dem Lebenswandel der Drusilla in Einklang zu bringen waren. Der erste Punkt findet sogleich seine Bestätigung, wenn Lukas berichtet, Felix habe von Paulus Bestechungsgelder erwartet und ihn nicht zuletzt deshalb des öfteren zu Unterredungen kommen lassen (24,26).110 Einerseits ist unklar, aus welchen finanziellen Quellen Paulus hierfür überhaupt hätte schöpfen können;111 andererseits wird damit deutlich, daß Felix den Prozeß Zu Drusilla vgl. Joseph., BJ 2,220; AJ 18,132; 20,139–143; PIR2 (D) III, Nr. 196, S. 63. Die dritte Tochter Agrippas I. war zuerst mit Azizus, König von Emesa, verheiratet gewesen, der deshalb zum Judentum übergetreten war. Für strenggläubige Juden war die Ehe mit einem Heiden nach jüdischem Recht unzulässig, wobei dies in aristokratischen Kreisen wahrscheinlich nicht so eng gesehen wurde. Suet. Claud. 28 erwähnt, daß Felix mit drei Königinnen verheiratet gewesen sei, ohne jedoch ihre Namen zu nennen; vgl. aber Tac., Hist 5,9. 110 Dies steht im allgemeinen mit der Bewertung der Statthalterschaft des Felix als korruptes Regiment bei Josephus im Einklang; er erwähnt das Motiv der Bestechungsgelder im Zusammenhang mit den Gefängnissäuberungen unter dem Statthalter Albinus und macht es zugleich auch für dessen Vorgänger geltend; vgl. Joseph., BJ 2,273; AJ 20,215 bzw. oben Abschnitt V. 1. e); zu Felix vgl. bes. oben Fall (21a); außerdem Tac., Ann. 12,54; Hist. 5,9. Vgl. zur Bestechung auch Dig. 48,11,3,7; Aul. Gell., NA 20,1,7. 111 Eventuell kann die Möglichkeit des Empfangs von Besuchern während der Gefangenschaft des Paulus in diesem Zusammengang gesehen werden. Felix dachte möglicherweise an reiche Patrone, die Paulus hätten Geld zukommen lassen können; oder er dachte an Gelder aus der Kollekte, die Paulus in seiner Verteidigungsrede (Acts 24,17) erwähnt hatte; zumindest wäre es möglich gewesen, daß Anhänger aus den Gemeinden für ihn sammelten, wie sie es in Philippi für ihn getan hatten; vgl. Phil 1,13 f.; 4,10–20, Vgl. zum sozialhistorischen Kontext des Philipperbriefes Bormann (1995); Peterman (1997). 109

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einfach verschleppte und niemals vorhatte, Paulus entweder freizulassen oder den jüdischen Autoritäten auszuliefern. Wenn uns von Josephus überliefert ist, daß Felix wegen der Auseinandersetzungen zwischen Juden und Griechen in Cäsarea unter erheblichen politischen Druck stand, zumal Klagen beim Kaiser in Rom über ihn vorlagen,112 so ist nicht auszuschließen, daß der Gefangene Paulus wirklich in die Mühlen der Provinzialpolitik geraten war. Hätte Felix Paulus einfach freigelassen, dann hätte er die Jerusalemer Priesteraristokratie – zumindest die Sadduzäer – erzürnt; wenn zudem bekannt war, daß sich einige radikale Eiferer schon einmal gegen Paulus verschworen hatten (23,12 ff.), waren möglicherweise weitere Unruhen zu befürchten. Die Auslieferung eines römischen Bürgers an jüdische Autoritäten, ohne daß ihm ein konkretes Vergehen nachgewiesen werden konnte, kam dem Statthalter aber wohl ebenfalls nicht in den Sinn. Schenkt man dem Bericht des Josephus über den Regierungsstil des Felix Glauben, so muß keineswegs davon ausgegangen werden, daß rechtliche Skrupel ihn davon abgehalten hätten. Möglicherweise war Paulus in seinem Gewahrsam eine Art politisches Unterpfand, mit dem man sich die jüdischen Autoritäten bei passender Gelegenheit geneigter machen konnte. Wenn gegen Paulus aus römischer Sicht nichts vorlag, so bedeutete seine fortdauernde Haft wenigstens eine gewisse Konzession an die Seite seiner Gegner. Im Rahmen des virulenten Isopolitiestreits zwischen dem jüdischen und hellenischen Bevölkerungsteil in Cäsarea wäre möglicherweise bei Auslieferung des Paulus an die Juden eine Signalwirkung an die hellenische Bevölkerung ausgegangen, die Felix zu vermeiden suchte, so daß er den Fall des Paulus lieber in der Schwebe hielt.113 Zumin112

Zum Konflikt in Cäsarea vgl. oben die Fälle (15a) (20) (21). Hier ließe sich die Frage aufwerfen, welche Bedeutung die Freilassung bzw. Auslieferung an die Juden gehabt hätte, wenn man den Fall im Rahmen der Konflikte um die Isopolitie zwischen den jüdischen und hellenischen Bevölkerungsteilen in Cäsarea betrachtet; vgl. Joseph., AJ 20,173–178; BJ 2,266–270 bzw. oben bei Josephus Fall (21b). Als Symbolfigur für die eine oder andere Seite scheint sich Paulus auf den ersten Blick kaum geeignet zu haben, wenn er gewissermaßen Jude, Hellene und Römer in einem war. Wenn man einmal unterstellt, auch die nichtjüdische Bevölkerung in Cäsarea hätte den Fall des Paulus beobachtet, welche Signalwirkung wäre dann von einer Auslieferung an die Juden ausgegangen? Hätten sie in ihm einen Juden gesehen, der von jüdischen Autoritäten verfolgt wurde, wären sie wohl kaum berührt gewesen. Hätten sie jedoch die Einstellung gehabt, daß alles, was den Juden lieb war, ihnen unrecht sein müsse – und die Lage war ja in diese Richtung zugespitzt –, so hätten sie in der Auslieferung eine Handlung des Statthalters erkennen können, mit der sich zeigt, daß der Statthalter nunmehr zu einer projüdischen Politik neigt; dies hätte auch die Vorbereitung bzw. Einschätzung ihrer Klagen in Rom beeinflussen können. Als Verfolgter jüdischer Autoritäten, der griechisch sprach und aus der hellenischen Diaspora kam, hätte Paulus zu einer Art Testfall werden können, welcher Seite der Statthalter zuneigte. Wenn Paulus zudem das römische Bürgerrecht besaß, so tangiert dies zwar nicht unmittelbar die Bedeu113

2. Das Verfahren gegen Paulus in Jerusalem und Cäsarea

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dest erfahren wir, daß Paulus noch zwei Jahre in Gewahrsam blieb (24,27)114 und dies immer noch war, als Felix im Amt des Statthalters von Festus abgelöst wurde.115 Der neue Statthalter Festus Der neue Statthalter Festus zog nach Ankunft in der Provinz innerhalb von drei Tagen nach Jerusalem (25,1). Dies kann als eine Geste verstanden werden, daß er gleich nach seinem Amtsantritt das Einvernehmen mit den jüdischen Autoritäten suchte. Dort erneuerten die Hohepriester ihre Vorwürfe gegen Paulus und forderten seine Auslieferung (25,2 f.). Zugleich unterstellt Lukas (ohne Namen zu nennen) den jüdischen Autoritäten ein Mordkomplott gegen Paulus (25,3). Damit verdeutlicht er, in welch starkem Ausmaß die Person des Paulus im Verhältnis zwischen Statthalterschaft und der Jerusalemer Priesterschaft auch noch lange Zeit nach seiner Inhaftierung einen Reizpunkt darstellte. Auch der spätere Bericht des Festus gegenüber Agrippa (25,24) zeigt, daß in dieser Angelegenheit massiver Druck auf den Statthalter ausgeübt wurde. Festus scheint diesem jedoch zu widerstehen und Herr des Verfahrens zu bleiben. Jedenfalls wird die Verhandlung in Cäsarea und nicht in Jerusalem wieder aufgenommen (25,4 f.). Dort wiederholt sich die Prozedur von Anklage und Verteidigung unmittelbar am Tag nach der Rückkehr des Statthalters: Nachdem sich Festus auf den Richterstuhl (bema) gesetzt hat, bringen die Jerusalemer Autoritäten ihre heftigen Anklagen ohne stichhaltige Beweise vor, und Paulus verteidigt sich, daß er sich weder am jüdischen Gesetz, dem Tempel noch am Kaiser vergangen habe (25,7 f.). Lukas gibt die Verhandlung nur sehr summarisch wieder, wahrscheinlich um den Eindruck zu erhärten, daß sie ohne jede Substanz war.116 Statt dessen hebt er nun ein politisches Motiv des Statthalters hertung des Stadtbürgerrechts Cäsareas, jedoch hätte in der spannungsgeladenen Situation bei einer Neigung, nur noch Freund oder Feind zu sehen, durchaus eine Verbindung hergestellt werden können. Aus diesen Gründen hätte es für den Statthalter nützlicher sein können, den Fall vorerst unentschieden zu lassen. Freilich handelt es sich hier um bloße Vermutungen, da in den Quellen keine Verbindungslinie zwischen den beiden Angelegenheiten festzustellen ist und der Isopolitiestreit nur bei Josephus und der Fall des Paulus nur in der Apostelgeschichte überliefert ist. Der Bruder von Felix – der mächtige Pallas am kaiserlichen Hof – war seit 55 n. Chr. abgesetzt, vgl. Tac., Ann. 13,14, hatte jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach noch Einfluß, vgl. Joseph., AJ 20,182. 114 Zur Zeitangabe sowie zur Frage der Chronologie vgl. Tajra (1989), S. 132 f. 115 Zu den Hintergründen der Absetzung des Felix im Rahmen des Konfliktes zwischen Juden und Griechen in Cäsarea vgl. oben Fall (21b). Es gab Klagen in Rom über ihn, die schließlich zu seiner Ablösung durch Porcius Festus führten. Die Datierung des Statthalterwechsels ist nicht ganz klar, erfolgte aber wahrscheinlich 59 n. Chr.

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vor, der den „Juden eine Gunst (charis) erweisen wollte“ und Paulus fragte, ob er sich auch in Jerusalem richten lassen würde (25,9). Erneut wird deutlich, daß auch Festus kein Urteil fällen und Paulus freilassen, sondern als Geste gegenüber den Juden den Gerichtsort nach Jerusalem verlagern wollte. Was er sich genau davon versprach, wird nicht klar:117 Zum einen geht aus der Stelle hervor, daß die Verhandlung auch dort vor dem Statthalter (ep’ emou) stattfinden sollte, er Paulus also nicht allein den Jerusalemer Autoritäten auszuliefern gedachte;118 zum anderen stellt sich dann aber die Frage, weshalb er Paulus um sein Einverständnis bat, so als hätte er den Prozeß nicht gleich in Jerusalem durchführen können. Jedenfalls scheint Festus dem Paulus die Wahl des Gerichtsortes zuzugestehen. Insgesamt ist nicht klar, um was für ein Verfahren es sich in Jerusalem gehandelt haben könnte; zumindest impliziert die Stelle einen gewissen Widerspruch, wenn man nach der gängigen Forschungsmeinung entweder nur einen Prozeß vor dem Synedrion als rein jüdische Gerichtsinstanz oder den Statthalterprozeß als rein römische Angelegenheit voraussetzt. Der Widerspruch119 löst sich aber möglicherweise auf, wenn von einer anderen Hypothese ausgegangen wird: Das von Lukas leider nur angedeutete Verfahren in Jerusalem würde kein Problem darstellen, wenn man einen Prozeß für möglich hielte, bei dem der Statthalter den Vorsitz behielt und das Jerusalemer Synedrion nach Art eines römischen Consiliums mit beratender Funktion mitgewirkt hätte.120 Auch wenn wir darüber nur speku116

Daraus daß Paulus in fünf Verteidigungsreden vor Gericht (Acts 22,30–23,10; 24,1–23; 24,24 f.; 25,6–12;16,1–32) nahezu dasselbe wiederholt, hat M. Dibelius die Schlußfolgerung gezogen, hier nach Trites (1974), S. 279, daß der Verfasser damit ausdrücken wollte, diese Themen seien für die Christen jener Tage häufig zur Verteidigung gebraucht worden. Dabei versuchten sie die Vorwürfe zu entkräften, alle Christen rebellierten gegen den Tempel und das Gesetz. Zugleich werde deutlich, daß die Auferstehungsfrage einen wesentlichen Bestandteil der damaligen Dispute zwischen ihnen und den Juden ausmachten. 117 Freilich ist es auch möglich, daß der Statthalter den Fall des Paulus einfach auf einen Gerichtstag in Jerusalem vertagen wollte, vgl. Kinman (1991), S. 291; jedoch ist dabei einerseits zu bedenken, daß hier nicht einer der evtl. regelmäßigen Gerichtstage zur Zeit des Passahfestes gemeint sein kann, da dies sicherlich Erwähnung gefunden hätte, andererseits, daß der Statthalter gerade erst aus Jerusalem gekommen war, wo er sich die Klagen der Juden angehört hatte. 118 Ob damit intendiert war, daß er den Vorsitz der Verhandlung behalten oder nur physische Präsenz zeigen wollte, bleibt unklar. Von letzterem geht Tajra (1989), S. 141, aus. 119 Vgl. Tajra (1989), S. 140–142; Sherwin-White (1963), S. 67; Cadbury (1933), S. 309. 120 Vgl. Sherwin-White (1963), S. 54; Tajra (1989), S. 102 f. Diese Konstellation ist bereits durch die Untersuchung des Militärtribunen angedeutet worden, nur daß

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lieren können, hätte diese Interpretation für sich, daß damit die Anwesenheit des Statthalters und die Mitwirkung der jüdischen Autoritäten in Jerusalem miteinander vereinbar wären; außerdem wäre für den Statthalter die Möglichkeit erkennbar, Paulus weder allein einem jüdischen Gremium ausliefern zu müssen noch den Eindruck zu erwecken, keine Konzessionen an die jüdischen Autoritäten machen zu wollen; schließlich würde diese Art der Verhandlung auch der allgemeinen Darstellungstendenz der Apostelgeschichte entsprechen, die den Fall des Paulus in immer stärkerem Maße zum symbolträchtigen Politikum innerhalb des Verhältnisses zwischen jüdischer Provinzialelite und römischer Herrschaft stilisiert. Dann sähe man sich mit dem Einwand konfrontiert, daß die Verlegung des Gerichtsorts bei Austausch des Consiliums eine höchst willkürliche Maßnahme darstellen würde, zumal dann Nicht-Bürger über einen Römer in einem Kapitalurteil beraten würden. Der Einwand relativiert sich freilich dadurch, daß der Statthalter diese Verfahrensweise von der Zustimmung des Angeklagten abhängig machte. Hätte er zugestimmt, könnte von Willkür keine Rede sein, da dieses Verfahren ja dann mit seiner Einwilligung stattgefunden hätte; wenn Paulus es jedoch ablehnte, kann in dem Vorschlag des Statthalters allenfalls ein verzweifelter Versuch gesehen werden, es beiden Seiten durch ein ungewöhnlich anmutendes Verfahren recht machen zu wollen. Ein weiterer Einwand, daß das Synedrion als Consilium dem römischen Rechtsgrundsatz widersprochen hätte, daß der Richter nicht zugleich Ankläger sein dürfe, würde zum einen voraussetzen, daß ein solcher Rechtsgrundsatz im kapitalen Strafprozeß in den Provinzen streng beachtet wurde; zum anderen, daß die Ankläger des Paulus als Geschworene und damit als Richter nach Art einer stadtrömischen quaestio fungiert hätten.121 Beides erscheint jedoch keineswegs zwingend: Das erste Argument setzt eine Unparteilichkeit im Provinzialprozeß voraus, die unter Berücksichtigung der Rechtspraxis unrealistisch erscheint.122 Die zweite Annahme kann damit dieser kein eigenes Strafurteil fällen, sondern nur erste Erkundungen über die Umstände des Falls einholen konnte. 121 Von der Funktion des Synedrions als Geschworenengremium geht Haacker (1995), S. 838, aus, der sich dabei fälschlicherweise auf Garnsey (1966), S. 184, beruft, wo sich nichts von einer Geschworenenbank im Sinne eines Quaestionenprozesses findet. 122 Wie bereits anhand der Verrinen gezeigt werden konnte, stellt ein Consilium keineswegs ein neutrales Beratungsgremium dar, das sich am obersten Maßstab der Unparteilichkeit orientiert hätte. Vielmehr half es, einen Entscheid des Statthalters auf breitere Grundlage zu stellen, der aufgrund außerrechtlicher und informeller Gesichtspunkte (und waren es auch nur die höheren materiellen oder immateriellen Zuwendungen) stets mehr der einen oder anderen Seite zuneigte. Vgl. aber auch das 1. Edikt des Augustus für Kyrene Z. 5 ff., das auf die gängige Praxis verweist, daß

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entkräftet werden, daß die Orientierung an den Geschworenengerichten in Rom zwar eine (wenn auch seltene) Option darstellte, auf die ein Statthalter zurückgreifen konnte,123 es für Judäa zu dieser Zeit aber nicht nur keinerlei Hinweise darauf gibt, sondern es auch an den entsprechenden Voraussetzungen fehlte, wenn eine ausreichende Anzahl römischer Bürger für Jerusalem nicht belegt ist, die über Paulus hätte urteilen können.124 Dem gegenüber wäre schließlich noch eine weitere Hypothese zum Verfahren in Jerusalem zu bedenken: Der Statthalter Festus stellte Paulus vor die Alternative, in Jerusalem das Synedrion über die religiösen Streifragen nach jüdischem Recht urteilen zu lassen, wobei er jedoch durch seine Anwesenheit garantierte, daß an ihm kein Todesurteil vollstreckt werden würde, wenn aus römischer Sicht hierfür kein Grund gegeben war.125 Gegen diese Annahme spricht aber die gesamte Darstellungstendenz der Apostelgeschichte zum Fall des Paulus. Aus ihr geht eindeutig hervor, daß seine Gegner kompromißlos auf seinen Tod aus waren. Wäre Paulus durch den Statthalter von vornherein von der Todesstrafe für ein jüdisches Gericht ausgenommen worden, hätte dies die jüdischen Autoritäten wohl kaum zufrieden gestellt. Über was hätten sie denn noch urteilen können? Hätten sie damit beginnen sollen, darüber zu feilschen, ob Gotteslästerung, Temdie wenigen Römer der Kyrenaika in Kapitalprozessen eine Art Einung geschlossen hatten, bei der die gleichen Leute als Kläger und Zeugen auftraten und Römer zugleich die Geschworenen stellten. Vgl. die Literaturangaben zum Kyrene-Edikt oben in A. 124 in Abschnitt IV. 4. Vgl. a. die übernächste A. 124. 123 Für die Zeit der Republik, hier aus der Provinz Asia im Jahre 75 v. Chr., käme eigentlich nur ein Fall in Frage, für den eine quaestio vermutet werden könnte, vgl. oben Abschnitt II. 2. e) zum Philodamos-Fall bzw. Cic., 2 Verr. 1,73 ff. Grundsätzlich gilt es für die Prinzipatszeit zu bedenken, daß in der Forschung allgemein von einem Bedeutungsverlust der Quaestionenprozesse ausgegangen wird. 124 Auch wenn man von der Option ausgeht, der Statthalter hätte das Consilium aus jüdischen Notablen und Honoratioren mit römischem Bürgerrecht mischen können, so fehlt es in Judäa bzw. in Jerusalem schon an einer ausreichenden Zahl römischer Bürger für ein album, aus dem eine Geschworenenbank hätte gebildet werden können. Von daher erübrigt sich auch der Vergleich mit den Kyrene-Edikten des Augustus. Die Idee mit dem Quaestionenprozeß beruht wohl auf einer Parallele zum 4. Kyrene-Edikt, jedoch läßt sich der hier einmalig belegte Fall zur Möglichkeit der Bildung eines Geschworenengerichts nicht für andere Provinzen verallgemeinern; damit gegen Bleicken (1962), S. 117 ff., der dies zumindest für alle Provinzen mit einer größeren Zahl römischer Bürger tut. Außerdem ist alternativ dazu im 4. Kyrene-Edikt Z. 65 ff. von der Ausnahmemöglichkeit die Rede, daß der Statthalter in Kapitalfällen nicht unbedingt ein Geschworenengericht einsetzen mußte, sondern auch eine Eigenkognitio durchführen konnte; vgl. zum Kyrene-Edikt die oben angeführte Literatur in A. 124 sowie die vorletzte A. 122. 125 Diese Möglichkeit könnte aus einer späteren Stelle Acts 25,19 f. abgeleitet werden, in welcher Festus dem Agrippa über sein Vorgehen berichtet. Diese These vertreten Zucker (1936), S. 85, sowie Roloff (1988), S. 346.

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pelfrevel oder Anstachelung zum Abfall vom Glauben – dies waren ja ihre erkennbaren Klagemotive – doch nicht den Tod, sondern nur eine mindere Strafe verdient hätten? Mir scheint dies aus dem gesamten Kontext heraus abwegig. Sämtliche dieser Überlegungen bleiben freilich Vermutungen. Ingesamt läßt sich hier allenfalls eine gewisse Varianzbreite möglicher Verfahrensmodi aufzeigen, die dem Statthalter in Ausübung seiner Strafgewalt zur Verfügung gestanden haben könnten. Wenn der Statthalter Paulus weder völlig den Juden ausliefern noch den Eindruck erwecken wollte, keine Konzessionen an die jüdischen Autoritäten machen zu wollen, so scheint alles in allem am meisten für die Möglichkeit zu sprechen, daß das Synedrion in dem vom Statthalter vorgeschlagenen Prozeß in Jerusalem als Beratungsgremium fungiert hätte, da in dem Fall zwar innerjüdisch-religiöse Angelegenheit den Ausgangspunkt bildeten (vgl. auch 25,19 f.), sich Felix aber das Urteil über einen römischen Bürger wohl selbst vorbehielt. Wenn Paulus vom Statthalter zum bevorzugten Gerichtsort gefragt wurde (25,9.20), stellt sich nur noch die Frage, ob er das Verfahren in Jerusalem hätte ablehnen bzw. verhindern können. Die Klärung erschließt sich aus der nachfolgenden Reaktion des Paulus. Die Appellation Der Prozeß in Jerusalem kam nicht nur deshalb nicht zustande, weil Paulus den Vorschlag einfach zurückwies, sondern weil er darauf bestand, allein unter römischer Strafgewalt gerichtet zu werden. Paulus verweist auf die Anfrage des Statthalters sogleich darauf, daß er hier vor dem Richterstuhl des Kaisers stehe und vor diesem auch gerichtet werden müsse (25,10). Zunächst identifiziert er hier noch symbolisch den Richterstuhl des Statthalters mit dem des Kaisers, wenn er dessen Stellvertreter in der Provinz anspricht. Noch einmal legt er knapp die Situation im provinzialen Kontext dar: Wenn er schuldig ist, sei er bereit zu sterben; hat er aber nichts todeswürdiges getan, so dürfe er den Juden nicht preisgegeben werden (25,10 f.). Im nächsten Satz wendet er sich jedoch nicht mehr nur an den kaiserlichen Stellvertreter, sondern ruft den Kaiser direkt an (25,11): „Kaisara epikalumai (Vulgata: Caesarem appello)“. In der Appellation an den Kaiser erkannte Paulus wahrscheinlich die einzige Chance, nicht zum Opfer eines politischen Spiels zu werden, eines Kompromisses zwischen dem Statthalter und der sadduzäischen Priesteraristokratie. Es war also nicht die Ablehnung des Paulus als römischer Bürger, die es dem Statthalter untersagt hätte, ihn an jüdische Autoritäten auszuliefern126 – dieses Argument wäre zumindest irrelevant, wenn der Statthalter sich den Vorsitz in der Verhandlung vorbehalten hätte. Mehr Sinn macht es,

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wenn man die Stelle aus der bedrohlichen Situation heraus versteht, die sich für Paulus aus dem Vorschlag des Statthalters ergab:127 Der erklärten Absicht des Statthalters, in Jerusalem ein vorgeblich faires Verfahren unter seiner Kontrolle (sei es unter seinem Vorsitz oder auch nur seiner Anwesenheit) garantieren zu wollen, mußte Paulus äußerst reserviert gegenüberstehen, wenn zugleich bekannt war, daß Festus eine „Politik der Annäherung“ gegenüber der Jerusalemer Priesteraristokratie verfolgte, die gleichzeitig massiven Druck auf ihn ausübte. Deshalb blieb ihm als römischer Bürger allein das Mittel, an den Kaiser zu appellieren, um den Prozeß in Jerusalem noch abwehren zu können. Wahrscheinlich war es eine ultima ratio, wenn es darum ging, seinen Fall unter Verweis auf die höchste Autorität im Römischen Reich endlich dem Netz mächtiger Interessenlagen im provinzialen Herrschaftsgefüge zu entziehen. Welchen rechtlichen Status hat hier aber die Appellation an den Kaiser? Handelt es sich um den eindeutigen Beleg eines Rechtsanspruchs für römische Bürger auf einen Prozeß vor dem Kaiser in Rom, dem der Statthalter nachkommen mußte? Diese Ansicht wird mehrheitlich in der Forschung vertreten.128 Eine Gegenthese geht davon aus, daß dies aus der Apostelgeschichte keinesfalls zwingend abgeleitet werden könne, da sich die Appellation an den Kaiser auch anders deuten lasse: Paulus beharre „auf der staatlichen Instanz, vor der er steht! Aus der Betonung, nur den Kaiser zum Richter zu haben, der in der Provinz vom Statthalter repräsentiert wird, macht dann Festus den ,realen Kaiser‘ (25,12), zu dem er ihn hinschickt, weil er selbst nicht weiterweiß und die Juden nicht verärgern will.“129 Frag126

Vgl. Sherwin-White (1963), S. 64. Vgl. Cadbury (1933), S. 317. 128 Ausschlaggebend für diese Sichtweise ist die Autorität Mommsens (1955), StrafR, S. 243, A. 1. Vgl. a. Wenger (1950), S. 567 f. und jüngst Jacques/Scheid (1998), S. 91: „Es sei noch angemerkt, daß jeder Bürger, der von Körperstrafe oder der Todesstrafe bedroht war, das Recht auf einen Prozeß in Rom besaß, und zwar vor einer der regulären Instanzen (d. h. insbesondere vor dem Kaiser). Doch während dieses Prinzip im 1. Jahrhundert systematisch befolgt wurde (vgl. die Geschichte des Apostels Paulus), wurde es später allmählich eingeschränkt“; vgl. ebd. a. S. 100. Vgl. Tajra (1989), S. 146 f., mit weiteren Literaturhinweisen. Vgl. a. unten A. 133 in diesem Abschnitt. 129 So Noethlichs (2000), S. 79; vgl. a. Cadbury (1933), S. 318. Doer (1968), S. 62–64, geht davon aus, die Appellation habe hier nichts mit dem Provokationsrecht zu tun, sondern einfach mit der Wahl des Gerichtsorts; nachdem Paulus die Anklagen der Juden abgewehrt habe, sei er wegen ihrer Proteste gezwungen gewesen, den Kaiser anzurufen, da die Juden – mit ähnlichen religionspolitischen Gründen wie im Fall Jesu – bei Freilassung des Paulus dem Statthalter mit dem Entzug der amicitia Caesaris gedroht hätten. Hier sei noch die These von Garnsey (1966), S. 182 ff., erwähnt, die eine Minderheitsmeinung in der Forschung verkörpert, daß es sich im Fall des Paulus überhaupt nicht um eine Appellation gehandelt habe, sondern nur um eine reiectio iudicii, d. h. die Ablehnung des Beklagten von be127

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lich ist hier, ob erst Festus den symbolischen (Richterstuhl) zum realen Kaiser macht, oder Paulus letztlich nicht doch selbst den realen Kaiser in persona angerufen hatte. Die Stelle scheint für beide Interpretationen offen, wenngleich ich hier eine Appellation gleichsam in zwei Stufen für wahrscheinlicher halte: Zunächst wandte sich Paulus an den Stellvertreter des Kaisers, um den Vorschlag des Festus abzulehnen und auf einem rein römischen Urteilsspruch zu beharren; um dies aber zu erreichen, sah er sich gezwungen, in einem zweiten Schritt den Kaiser direkt anzurufen. Die Meinung Noethlichs, „für die Überstellung nach Rom braucht man eine nur dem römischen Bürger zustehende Appellation bzw. Provokation nicht, wohl aber eine gewisse politische Brisanz des Falles“130 widerspricht dem keineswegs, jedoch halte ich diesbezüglich eine Differenzierung für notwendig. Paulus besteht nicht nur darauf, innerhalb der Provinz allein unter der römischen Gewalt gerichtet zu werden, sondern gibt dem Fall durch die Anrufung des Kaisers eine neue Dimension. Damit werden drei symbolische Orte miteinander in Beziehung gesetzt: Jerusalem verkörpert die Tatsache, daß Paulus dort wahrscheinlich zum Opfer eines politischen Schauprozesses geworden wäre, wenn der Statthalter sich geneigt gezeigt hätte, dem Druck der Jerusalemer Autoritäten nachzugeben; Cäsarea als weitgehend hellenisierte Residenzstadt des römischen Statthalters verkörpert den Ort, wo Festus einem römischen Bürger zu seinem Recht hätte verhelfen und freilassen müssen, wenn sich die Anklagepunkte der jüdischen Autoritäten als unhaltbar erwiesen hatten; weil der Statthalter dazu anscheinend jedoch nicht willens war, wird der Kaiser in Rom zum Ort der Hoffnung des Paulus, den bedrohlichen Prozeßumständen in der Provinz entrinnen zu können, und für den Statthalter zur Option, den Fall an die höchste Autorität im Reich weiterzuleiten. Somit bot die Appellation des Paulus an den Kaiser für alle Beteiligte einen Ausweg aus der prozeduralen Sackgasse: Paulus sah innerhalb der Provinz keine Chance mehr auf ein faires Verfahren und konnte auf Rom hoffen;131 dem Statthalter eröffnete sich eine elegante Möglichkeit, den Fall stimmten Richtern oder einer bestimmten Prozeßform. Dagegen betont Lintott (1972), S. 264, daß Garnsey mit der Feststellung einer Ablehnung eines jüdischen Gerichtshofes zwar sicherlich richtig liege, jedoch sei dies nur ein Aspekt, da er eben appellieren mußte, um dies zu erreichen. 130 Noethlichs (2000), S. 79. 131 Später erklärt Paulus vor Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Rom, daß er sich angesichts der bedrohlichen Situation in Judäa gezwungen sah, an den Kaiser zu appellieren, damit jedoch nicht den Eindruck erwecken wollte, er beabsichtige dort sein Volk verklagen (kategorein), vgl. Acts 28,19. Auch diese Stelle scheint mir die Möglichkeit von Noethlichs Alternativdeutung eher abzuschwächen. Lukas macht hier noch einmal deutlich, daß Paulus durchaus an den Kaiser in Rom per-

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loszuwerden, ohne entweder die Jerusalemer Priesterschaft zu verprellen oder einen römischen Bürger in zu starkem Maße dem Einfluß jüdischer Honoratioren ausgesetzt zu haben; die jüdische Priesteraristokratie mußte sich der Überantwortung des Falls an den Kaiser fügen, konnte aber immer noch hoffen, dort über Gesandte bzw. Prozeßvertreter ein Urteil in ihrem Sinne zu erwirken. Lukas berichtet (25,12), daß sich Festus nach der Appellation des Paulus mit „seinen Ratgebern“ besprach, also ein kleines Consilium aus Mitgliedern seines persönlichen Stabes abhielt, und anschließend seinen Entschluß mitteilte: „Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollst du gehen.“132 Die Appellation des Paulus an den Kaiser wirft nun einige Fragen aus rechtshistorischer Perspektive auf, zumal diese Stelle der Apostelgeschichte als der früheste Beleg einer Rechtspraxis gilt, über die wir nur sehr unzureichend informiert sind: Mußte der Statthalter einer Appellation stattgeben oder hätte er den Fall auch in seiner Gewalt behalten können? Handelt es sich hier um ein garantiertes Schutzrecht für römische Bürger, das die unmittelbare Rechtsfolge der Überstellung nach Rom nach sich zog, oder nur um eine Möglichkeit mit ungewissem Ausgang, weil sie vom Einverständnis des Statthalters abhing? Klar ist, daß es sich im Fall des Paulus um kein „Berufungsverfahren“ handeln konnte, da ein Urteil in seiner Sache ja noch gar nicht ergangen war.133 Die Tatsache, daß sich der Statthalter nach der Appellation mit einem Consilium beriet, läßt vermuten, daß sie keine unmittelbare Rechtsfolge implizierte, sondern der Statthalter erst einmal darüber zu befinden hatte, ob er einer Überstellung nach Rom zustimmte oder nicht.134 Generell sprechen auch allgemeine Effektivitätserwägungen dafür, daß nicht jeder

sönlich appellierte und nicht nur darauf beharrte, vor dem Richtstuhl des Kaisers verurteilt bzw. freigesprochen zu werden. Der Verdacht, er wolle über seinen Fall beim Kaiser zugleich das jüdische Volk in Mißkredit bringen – eine Angst die anscheinend in der jüdischen Gemeinde in Rom kursierte – macht ja nur Sinn, wenn der Kaiser bzw. das Kaisergericht direkt gemeint ist. Vor dem judäischen Statthalter brauchte er es ja nicht mehr verklagen bzw. hatte ja über seine Verteidigung genug von seiner Haltung preisgegeben. 132 Acts 25,12: Kaßsara ™pikÝklhsai, ™pÍ Kaßsara poreýsÂh. 133 Vgl. oben A. 128 in diesem Abschnitt. Erst im 2. Jh. erscheint die appellatio als Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil, vgl. Paulus (1996), S. 900 f.; Mommsen (1955), StrafR, S. 468 ff. An anderer Stelle (ebd. S. 406) unterscheidet Mommsen zwischen Provokation als Einspruch, die ein Urteil verhindern soll, Appellation hingegen als Berufung gegen erstinstanzliches Urteil. Zu den unterschiedlichen Formen der appellatio im Zivilrecht und Strafrecht in republikanischer Zeit vgl. Cadbury (1933), S. 315–317. Auch Doer (1968), S. 60 f., betont, daß es sich bei Paulus nicht um eine Berufungsverhandlung gehandelt haben könne. 134 Vgl. Cadbury (1933), S. 317; Garnsey (1966), S. 184 f.

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Appellation vom Statthalter automatisch stattgegeben werden mußte, da dann das Kaisergericht in Rom wahrscheinlich lahmgelegt worden wäre.135 Überdies würde ein Automatismus zur Folge haben, daß ein Ankläger stark benachteiligt worden wäre, falls nach der Appellation des Beklagten der Fall nur in Rom hätte verhandelt werden können. Um dort einen Prozeß zu führen, waren jedenfalls größere finanzielle Mittel (Reisekosten, Anwalt, Bestechungen am Hof) nötig; außerdem konnte sich ein solcher Prozeß äußerst zeitaufwendig gestalten. Letzteres betrifft zwar auch den Beklagten, doch im Unterschied zu den Klägern hätte er dann wenigstens die Wahl gehabt. Unabhängig davon, ob ihn in Rom ein faireres Verfahren erwartete, ergibt sich zudem der Vorteil der aufschiebenden Wirkung, falls die Vollstreckung eines Todesurteil wahrscheinlich war. In bezug auf den Statthalter stellt sich das Problem anders. Gerade der Entscheidungsspielraum war ja wesentlicher Bestandteil seiner Machtstellung. Hätte es einen Automatismus der Appellation mit sistierender Wirkung auf das Verfahren gegeben, so würde dies darauf hinauslaufen, daß der Statthalter keine Strafgewalt über römische Bürger ausüben durfte, sobald es sich um Kapitalfälle handelte. Denn welcher Bürger hätte nicht appelliert, wenn dies die Möglichkeit impliziert hätte, die Vollstreckung der Strafe wenigstens hinauszuzögern. Damit wäre der Statthalter eines wichtigen Sanktionsmittels beraubt und seine Amtsgewalt in einem Maße ausgedünnt gewesen, das mit seiner Aufgabe der Oberaufsicht über alle wesentlichen Provinzialangelegenheiten schwerlich vereinbar war. Auch deshalb ist davon auszugehen, daß eine Appellation an den Kaiser nur effektiv werden konnte, sofern keine Verschleppungsabsicht bzw. Prozeßsabotage offensichtlich war oder der Aufschub eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bedeutet hätte.136 Alle drei Gesichtspunkte sind freilich auslegungsbe-

135 Solche Fragen hängen freilich von Quantifizierungen (Zahl der Bürger in den jeweiligen Provinzen bzw. im Reich) ab, die uns nicht möglich sind. Das Argument der Effektivität wird zumeist erst für die Zeit nach Erlaß der consititutio Antoniniana geltend gemacht, einem Edikt des Kaisers Caracalla (Antonius) wahrscheinlich 212 n. Chr. Damit wurde allen freien Bewohnern des Reiches (wohl aus steuerrechtlichen Gründen) das Bürgerrecht erteilt, vgl. Dig. (Ulp.) 1,5,17; Cass. Dio 78,9. Mir ist nicht klar, weshalb sich das Problem einer Überlastung der Rechtsprechung, falls es ein Anrecht auf einen Kaiserprozeß in Rom gegeben hätte, sich nicht schon früher gestellt haben sollte. Vgl. dazu auch die Diskussion in bezug auf das ius gladii in Abschnitt I. 3. b). 136 Vgl. Mommsen (1955), StrafR, S. 470 f. Die Ausnahmen scheint hier nicht die Regel zu bestätigen. Wann hätte ein Statthalter nicht die Möglichkeit, zu behaupten, ein Beklagter wolle den Prozeß nur unnötig verlängern (vgl. zum Fall des Gavius aus den Verrinen Abschnitt II. 2. d); wann wäre es nicht möglich, zu behaupten, der Beklagte stelle eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung da? Damit auch gegen Sherwin-White (1963), S. 62.

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dürftig und lassen dem Statthalter immensen Ermessensspielraum, so daß es letztlich von ihm abhing, ob er einer Appellation zustimmte oder nicht. Wie verhält es sich dann mit der Exklusivität eines dem Bürgerrecht inhärenten „Schutzrechtes“? Welcher statusgemäße Unterschied vermittelt sich durch die Appellation im Vergleich zu Nichtbürgern?137 Im Rahmen der angestellten Erörterung ließe sich die Appellation als ein Mittel charakterisieren, das zwar einen hohen Symbolwert in Erinnerung an die republikanische Bürgerfreiheit hatte, im Hinblick auf die statthalterliche Strafgewaltspraxis in den Provinzen aber weit weniger Bedeutung hatte, als in der Forschung gemeinhin angenommen wird. Es wäre dem römischen Verständnis von Amtsautorität keineswegs fremd, wenn sich die Wirkung der Appellation eines Bürgers am Ermessen des Statthalters relativiert hätte, zu dessen Aufgaben es nun einmal gehörte, die Gewalt über sämtliche Provinziale, auch über die römischen Bürger auszuüben. Ein „Recht“ auf einen Prozeß in Rom gab es im strikten Sinne m. E. nicht, allenfalls die Möglichkeit, den Statthalter zu einem erneuten Abwägen seiner Maßnahmen bzw. seines Urteils zwingen zu können. Der Wert der Appellation lag dann immerhin darin, daß dem Bürger (anders als einem Peregrinen) von sich aus ein Mittel zur Verfügung stand, zwischen Anklage und Urteilsverkündung eine Art Notbremse zu ziehen, welche die Hemmschwelle für Sanktionsmaßnahmen gegenüber einem Beklagten höher setzte. Auch ein einfacher römischer Bürger konnte damit Kriterien ins Spiel bringen, die ansonsten allenfalls für wohlhabende und einflußreiche peregrine Provinzialeliten galten, die sich in Rom mittels Briefen oder Gesandtschaften beim Kaiser beschweren konnten. Die Appellation hatte dann die Bedeutung eines Warnrufs des Beklagten etwa in dem Sinne: Bedenke, wer dir in Rom noch Probleme bereiten könnte, wenn du dir trotz Anrufung des Kaisers das Recht anmaßt, mich aus deiner eigenen Gewalt zu richten. Die Wirksamkeit dieser Anrufung für den Entscheidungsprozeß hing dann mehr von informellen Kriterien ab, dem sozialen Status des Beklagten und seinen möglichen Verbindungen zu einflußreichen Patronen, der politischen Brisanz des Falls und nicht zuletzt von der Persönlichkeit des Statthalters sowie seiner Stellung in Rom, insbesondere seiner Beziehung zum kaiserlichen Hof.138 Der Ermessensspielraum des Statthalters ver137

So verlöre die Appellation einiges von der Exklusivität im Vergleich zu den Möglichkeiten gegenüber nichtrömischen Provinzialen, wo der Statthalter bei Gesandtschaften, Bittschriften und in speziellen Fällen von Gefangenen ebenfalls darüber entscheiden konnte, eine Überstellung nach Rom entweder auf Wunsch der Betroffenen oder selbst zu veranlassen; vgl. dazu oben a. Abschnitt V. 3. a). 138 Der bei Cass. Dio 63,2,3 berichtete Fall zeigt einerseits, daß ein Legat des Galba eine Appellation an dem Kaiser höhnisch überging, dieser Legat dann dafür aber bestraft wurde. Doch aus dem Bericht läßt sich nur entnehmen, daß hier wahr-

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körpert somit nicht nur seine Macht, sondern machte ihn zugleich auch anfälliger, wenn ein Fall zum Anlaß genommen werden konnte, ihn beim Kaiser im Mißkredit zu bringen. Daß ein Beklagter gegen den Willen des Statthalters nach Rom überstellt worden wäre, erscheint unrealistisch. Wer oder was hätte dies erzwingen können? Die umgekehrte Perspektive, nämlich wann es für den Statthalter von Vorteil war, einer Überstellung nach Rom zuzustimmen, dürfte mehr Aufschluß über den Modus der Appellationswirkung geben. Wenn sie hier von Festus konzediert wurde, so muß in der Appellation kein allgemeinverbindliches Rechtsinstitut gesehen werden, das unabhängig vom jeweiligen Kontext für jeden römischen Bürger die Garantie auf einen Prozeß in Rom bedeutet hätte. Dies wäre eine zu starre Regelung, die den Erfordernissen der Provinzialherrschaft kaum gerecht würde. Plausibler scheint es deshalb, in der Appellation ein Rechtsmittel in dem Sinne zu sehen, daß der Statthalter über einen solchen Einspruch förmlich befinden mußte, in der Sache aber frei war, dem Appell stattzugeben oder nicht. Somit konnte er seine Entscheidung von einer Güterabwägung im konkreten Fall abhängig machen. Im konkreten Fall des Paulus war die Entscheidung des Festus sicherlich das Klügste: Er konnte einen lästigen Fall loswerden, ohne sich Willkür im Umgang mit einem römischen Bürger vorwerfen lassen zu müssen oder feindselige Ausbrüche in der Provinz, eventuell sogar mit Beschwerden beim Kaiser zu provozieren. So war er gegen potentielle Vorwürfe gefeit, etwa daß er in Ausübung seiner Strafgewalt zu zögerlich sei und unfähig, in den Provinzen durchzugreifen; dann bot die Appellation des Beklagten die passende Rechtfertigung dafür, den Fall nicht aus eigener Initiative aus der Hand gegeben zu haben, zumal wenn ihm dann der Vorwurf hätte gemacht werden können, den römischen Bürgern in seiner Provinz nicht ausreichend Schutz zukommen zu lassen, zudem noch unter mangelndem Respekt vor der Anrufung des Kaisers. Insgesamt bietet die Apostelgeschichte damit ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Rechtsmittel, das die politische Ventilfunktion hatte, den Fall aus der Provinz zu verlagern und damit seinem spannungsgeladenen Umfeld zu entziehen; gleichzeitig konnte der Fall einer Gewalt überantwortet werden, die für alle Beteiligten unangreifbar war. Was also zumeist als Schutzrecht für römische Bürger gegenüber der Willkür eines Magistraten oder Statthalters betrachtet wird, kann aus anderer Perspektive unter den bestehenden Herrschaftsstrukturen auch als politisches Instrument der Amtsinhaber verstanden werden: Der Kaiser konnte scheinlich die Willkür des Kaisers die Willkür des Legaten bestraft. Die Bestrafung kann sich hier auch mehr gegen die höhnisch-respektlose Geste des Legaten Capitio gegenüber dem Kaiser gerichtet haben als gegen das Übergehen der Appellation.

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sich in seiner Rolle als oberster Hüter des Rechts und schützender Patron der römischer Bürger in den Provinzen bestätigt sehen; für den Statthalter bot das Kaisergericht in Rom einen „Entlastungsraum“, wohin er Fälle, zumal solche von politischer Brisanz bzw. mit höherem Konfliktpotential abschieben konnte, um die Situation vor Ort zu entspannen; Ankläger und Beklagte konnten erst einmal ihr Gesicht wahren und mit Blick auf den Kaiserprozeß jeweils auf günstigere Umstände hoffen. Paulus vor Agrippa II. Bevor Paulus nach Rom überstellt wurde, kam es aber noch zu einer anderen von Lukas geschilderten Episode. Nach einigen Tagen trafen König Agrippa II.139 und Berenike140 in Cäsarea ein, um dem neuen Statthalter ihre Aufwartung zu machen (25,13). Darin kommt zugleich die romtreue Zu M. Iulius Agrippa II. vgl. PIR2 (I) IV, Nr. 132, S. 132–134; Saddington (1994), S. 2423 f.; detailreich zu Leben und Regentschaft ist Sullivan (1977), S. 329–345. Auch Agrippa II. wurde wie andere Mitglieder des herodianischen Herrscherhauses in Rom erzogen. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater Agrippa I starb. Demgemäß hat ihm Kaiser Claudius nicht dessen Königreich übertragen (Joseph., AJ 19,360–366; 20,134–136.200, BJ 2,200), sondern machte Judäa zusammen mit Idumäa, Samaria, Galiläa und Paräa zu einer römischen Provinz. Kaiser Claudius gab Agrippa II. das Königtum Chalcis 49/50 n. Chr. in Nachfolge von dessen Onkel Herodes (Joseph., AJ 20,140.138; BJ 2,223), vgl. zu Herodes von Chalcis PIR2 (H) IV, Nr. 156, S. 86 f. Im Jahr 53 n. Chr. gab er ihm die Tetrarchie des Philip (Trachonitis, Batanäa, Gaulanitis) zusammen mit anderen Gebieten (Joseph., AJ 10,138; BJ 2,252); entzog ihm aber Chalcis (BJ 2,247, vgl. AJ 20,138). Im Jahr 52 n. Chr. war Agrippa beim Prozeß gegen den Statthalter Cumanus in Rom infolge des jüdisch-samaritanischen Konflikts anwesend (Joseph., BJ 2,245 f.; AJ 20,134– 136), vgl. oben Fall (22) in Abschnitt V. 3. b). Wenn möglich setzte sich Agrippa für jüdische Interessen ein, ließ jedoch keinen Zweifel an seiner Loyalität gegenüber Rom, auch nicht bei Ausbruch des Jüdischen Krieges, wo er die Aufständischen davon abzuhalten suchte, sich gegen Rom zu erheben (BJ 2,345–401). Zu den Beziehungen speziell zu Festus vgl. Joseph., AJ 20,189–196. Er selbst nannte sich „der große König (basileus megas)“, „Freund von Cäsar“ und „Freund von Rom“ (IGR III 1244). Im Jahr 75 n. Chr. verlieh ihm Vespasian die ornamenta praetoria, vgl. Cass. Dio 46,15,3 f. Wie andere Herodianer handelte er je nach Umfeld als gläubiger Jude (in Jerusalem und den jüdisch besiedelten Domänen) oder als römischer Klientelkönig. 140 Zu Iulia Berenike vgl. PIR2 (I) IV, Nr. 651 S. 309 f.; Sullivan (1977), S. 311. Sie war die Tochter von Agrippa I., damit die Schwester von Agrippa II. Zuerst war sie mit Marcus, dem Bruder von Ti. Iulius Alexander, verheiratet, dann mit ihrem Onkel Herodes von Chalcis. Als dessen Witwe lebte sie seit 48 n. Chr., also auch noch zur Zeit des Paulus, in sittenwidrig engem Verhältnis mit ihrem Bruder M. Iulius Agrippa II. Vgl. Joseph., BJ 2,217; AJ 20,145; Juv. 6,155–160, Suet. Tit. 7. Nach einer Inschrift (AE 28,82) zum Gedenken an eine Wohltat in Berytus (Beirut) stilisiert sie sich zur Königin: Regina Berenice regis magni A[grippae filia] –, und nennt ihren Großvater Herodes den Großen rex proauos. 139

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Gesinnung eines Abkömmlings von Herodes dem Großen zum Ausdruck, der bei Gelegenheit als jüdischer Interessenvertreter fungierte, jedoch niemals an seiner Loyalität gegenüber Rom einen Zweifel ließ. Nach einigen Tagen kam der Statthalter gegenüber seinen Gästen auf den Fall des Paulus zu sprechen. Zunächst resümiert er, daß ihm von seinem Vorgänger Felix ein Gefangener überlassen worden sei, um dessentwillen die Hohepriester und Ältesten der Juden vor ihm erschienen seien, um einen Urteilsspruch gegen ihn zu fordern (25,15).141 Damit war klar, daß es _

Zu Acts 25,15: aœtoýmenoi kat' ažtou katadßkhn; Vulgata: postulantes adversus illum damnationem. Tajra (1989), S. 154, versteht den Satz so: „Festus’ statement reflects the real essence of the Sanhedrin’s demand: they wanted Paul transferred to the Jewish high court, where his condemnation would be a foregone conclusion.“ Das ist m. E. eine zu enge Auslegung. Es geht keinesfalls eindeutig aus der Stelle hervor, von wem Paulus hier verurteilt werden sollte, d. h. ob die Juden von Festus fordern, daß er selbst einen Urteilsspruch gegen Paulus fällen solle (so verstehe ich die Stelle), oder, daß der Statthalter ihnen die Verurteilung überlassen solle (wie Tajra die Stelle anscheinend versteht). Auch aus der Antwort des Statthalters (25,16), daß kein Beklagter nach römischer Sitte zum Tode verurteilt werde, bevor er nicht selbst anwesend sei und die Möglichkeit zur Verteidigung hatte, läßt sich nicht eindeutig dahingehend verstehen, daß eine Überstellung an das Synedrion gefordert wurde. So verengt Tajra auch seine Interpretation (S. 155) des Bezugs von ethos Romaiois/consuetudo Romanis, wenn er schreibt: „Festus states that he refused to hand over to the Sanhedrin because this would have violated the ethos; implying that such action would have flouted all that was lawful, fought all that was right and scorned all that was just.“ Die Anspielung auf den Bruch mit der consuetudo bezieht sich m. E. nicht auf die Überstellung an ein Synedrion (von dem im Text auch überhaupt keine Rede ist), sondern allein auf die genannten Verfahrensprinzipien der Anwesenheit und Verteidigungsmöglichkeit für einen Beklagten. Da es hier um eine Todesstrafe über einen römischen Bürger geht, kann es sich hier nur um den Statthalterprozeß handeln. Plausibel scheint mir die Deutung, daß die jüdischen Autoritäten vom Statthalter noch in Jerusalem als Gunsterweis das Todesurteil über Paulus forderten, der in Cäsarea in Gefangenschaft saß, was Festus als sittenwidrige Forderung zurückwies. Wenn Tajra schließlich noch auf das Verbot anonym eingereichter Klageschriften bei Plin., Ep. 10,97 rekurriert, so sagt dies für den Paulusfall überhaupt nichts aus: Weder geht es hier um Klageschriften (libelli), noch sind die Kläger im Fall des Paulus anonym. Schließlich sollte man auch den Begriff ethos/consuetudo in diesem Zusammenhang nicht mit einer Heiligkeit der Tradition verwechseln, an die der Statthalter in Ausübung seiner Strafgewalt unumgänglich gebunden gewesen wäre. Zum einen zeigt sich hier, daß es sich um eine moralisch verpflichtende Konvention und nicht um ein bindendes Gesetz handelt; wenn Tajra zum anderen auf die bis in das dritte vorchristliche Jahrhundert zurückreichende Tradition verweist, so sei hier nur an die Verrinen des Cicero erinnert, insbesondere an den Fall des Sthenius [vgl. oben Abschnitt II. 2. b)], wo sich zeigt, daß es Statthalter in den Provinzen gab, die sich solchen konventionellen Verfahrensprinzipien nicht unbedingt verpflichtet fühlten. Auch das Reskript Kaiser Trajans an den jüngeren Plinius mit dem Verbot, anonyme Klagen gegen Christen anzunehmen, muß nicht als Bestätigung einer unumstößlichen Regel betrachtet werden, sondern als Anweisung, die sich gerade gegen eine gängige Praxis richtet. 141

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sich für Agrippa um einen Fall handelte, der auf der Anklage des Hohepriesters basierte, über den er das Ernennungsrecht hatte, seitdem ihn Kaiser Claudius zum Kurator des Jerusalemer Tempels ernannt hatte.142 Felix stellte vor allem die Korrektheit seiner Vorgehensweise heraus: So habe er trotz des Drucks der Hohepriester und Ältesten Paulus nach römischer Sitte (ethos Romaiois) die Gelegenheit zu ausreichender Verteidigung gegeben (25,16); ferner habe er den Prozeß nicht aufgeschoben, sondern sei die Angelegenheit unverzüglich angegangen (25,17); jedoch hätten sich die Anklagen auf kein Kapitalvergehen bezogen, wie er es erwartet habe, sondern auf Glaubensfragen143 und herbei speziell auf einen verstorbenen Jesus, von dem Paulus behaupte, daß er noch lebe (25,19). Weil er nun von diesen Sachen nichts verstehe, habe er Paulus gefragt, ob er sich „deswegen“ (peri touton) in Jerusalem richten lasse wolle (25,20); jedoch habe dieser dann appelliert, auf daß er in Gewahrsam bleibe, bis der Kaiser den Fall untersucht habe; so habe er befohlen, ihn gefangen zu halten, bis er ihn zum Kaiser schicken könne (25,21).144 Lukas kann mit der Schilderung der Verhandlung vor Agrippa nochmals die Haltlosigkeit der Anklagen aus römischer Sicht verdeutlichen. Im Gegensatz zu der Korrektheit der Vorgehensweise des Statthalters nach der consuetudo Romana kann Lukas zugleich die Rechtsauffassung der jüdischen Autoritäten diskreditieren, die Paulus ohne seine Anwesenheit und Verteidigungsmöglichkeit zum Tode verurteilen lassen wollen. Ferner schildert er den Statthalter realistischerweise als jemanden, der von innerjüdischen Religionsstreitigkeiten nichts verstand,145 sich womöglich gerade deshalb noch einmal an einen jüdischen Regenten wendet, um sich Klarheit über die Hintergründe des Falls zu verschaffen. Lukas bezieht (wie in sei142

Vgl. Joseph., AJ 20,222 bzw. oben in Abschnitt V. 1. d) Fall (13). Acts 25,19 gebraucht hier für die Glaubensfrage den Begriff deisidaimonia, den die Vulgata mit superstitio wiedergibt. Beides hat hier, wenn auch nicht eine eindeutig negative Konnotation i. S. v. „Aberglauben“, so doch diejenige, welche das Unverständnis des Statthalters gegenüber einer ihm unbekannte Glaubensrichtung verdeutlichen soll. 144 Acts 25,16–21: prÎò oãò ˜pekrßqhn Õti ožk æstin æqoò ¢Rwmaßoiò xarßzesqaß tina ånqrwpon prÍn í ‡ kathgoroýmenoò _katJ prüswpon æxoi toÏò (16). sunelkathgürouò tüpon te ˜pologßaò lÜboi perÍ tou ™gklÞmatoò _ _ _ mhdemßan poihsÜmenoò_ t Âh Šc hò kaqßsaò ™pÍ qüntwn ožn ™nqÜde ˜nabolÌn _ _ tou bÞmatoò ™kÝleusa ˜xq hnai_ tÎn åndra (17) . perÍ o _staqÝnteò o katÞgoroi oždemßan aœtßan æ—eron n ™g„_ penüoun ponhrwn (18), zhtÞmata dÝ_ _ e œxon prÎò ažtÎn kaÍ perß tinoò \Ihsou tina perÍ t hò œdßaò deisidaimonßaò _ _ teqnhkütoò, ân æ—asken ‡ Pauloò z hn (19). ˜poroýmenoò dÊ ™g„ _tÌn perÍ toýtwn zÞthsin ælegon eœ_boýloito poreýesqai eœò ¢Ierosüluma_ k˜ke i krßnesthrhq hnai ažtÎn eœò qai perÍ toýtwn _(20). tou dÊ Paýlou ™pikalesamÝnou _ _ _ tÌn tou Sebastou diÜgnwsin, ™kÝleusa thre isqai ažtÎn Òwò o ˜napÝmyw ažtÎn prÎò Kaßsara (21). 143

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ner Passionsgeschichte)146 die Autorität eines Abkömmlings des herodianischen Königshauses in seine Darstellung mit ein, der hier als Repräsentant der Juden mit einer Art Ersatzkompetenz für das Jerusalemer Synedrion auftritt, vor dem sich Paulus auch nicht im Beisein des Statthalters hatte richten lassen wollen. Lukas verdeutlicht nun aus der Sicht des Statthalters, daß Paulus diesen Vorschlag nicht nur einfach ablehnte, sondern vor allem dadurch abwehrte, daß er vom Mittel der Appellation an den Kaiser Gebrauch machte. Agrippa wünschte nach der Schilderung des Festus, mit Paulus konfrontiert zu werden (25,22). Doch damit nicht genug: Lukas schildert, wie Paulus unter „großem Gepränge“ den beiden Herodianern unter Anwesenheit hoher Offiziere und der vornehmsten Männern der Stadt vorgeführt wird (25,23). Festus hält eine Ansprache zum Fall des Paulus, weswegen sich die „ganze Menge der Juden in Jerusalem und auch hier“ so ereifert hätten, dem aber nichts zur Last gelegt werden könnte, worauf die Todesstrafe stünde (25,26).147 Daß es sich hier trotz des förmlichen Ambientes um keinen Prozeß handelt, ist klar: Eine vorausgehende Ansprache des Statthalters wäre untypisch, zumal sie sich nicht an die Prozeßparteien richtet, sondern an Agrippa; außerdem treten keine Ankläger auf; auch Paulus richtet sein Wort nicht direkt an den Statthalter, sondern an Agrippa (26,2), nachdem dieser ihm die Erlaubnis zur freien Rede erteilt hatte (26,1). Am ehesten ließe sich das Prozedere als feierlich-offiziöse Befragung zu Ehren Agrippas beschreiben, der als „neutraler“ Repräsentant der Juden dem Statthalter sein persönliches Urteil über die Person des Paulus geben sollte.148 Als romtreuer Regent jüdischer Provenienz verkörpert er aus Sicht des Statthalters eine optimale Beratungsinstanz, um seine weitere Vorgehensweise abzusichern. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Festus sich an Agrippa 145 Dabei wird der Akzent nun verlagert, da nicht mehr die Frage der Auferstehung im allgemeinen, wie im Streit zwischen Pharisäern und Sadduzäern, im Mittelpunkt steht, sondern nunmehr konkret mit dem „verstorbenen Jesus“ verknüpft wird. 146 Vgl. Acts 25,23–27 zum Lukasevangelium hinsichtlich der Hinzuziehung eines Herodianers: In beiden Fällen nutzt der Statthalter spontan die Anwesenheit eines herodianischen Herrschers während eines Verfahrens, das von jüdischen Autoritäten angestrengt worden ist; jedesmal erfolgt eine Befragung, die von den Herodianern selbst erwünscht wird, jedoch beide Male ohne endgültiges Urteil endet (wobei unklar ist, ob dies überhaupt erwartet wurde); jedesmal läuft es auf die Bestätigung der Unschuldsvermutung seitens des Statthalters hinaus; vgl. Brown (1994), Bd. 1, 767; vgl. Bickermann (1935), S. 207; Tajra (1989), S. 153. 147 Damit kommt er zu genau dem gleichen Ergebnis, das bereits der Jerusalemer Militärtribun Lysias in seinem Schreiben an Felix (Acts 23,29) mitgeteilt hatte. 148 Vgl. Tajra (1989), S. 154, 163. Meine Bezeichnung ,neutral‘ im Text meint nur, daß der jüngere Agrippa aus Sicht des Statthalters weder Prozeßpartei war, noch als militanter Interessenvertreter der Juden auf Kosten seiner Loyalität gegenüber Rom in Erscheinung trat.

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auch gezielt in seiner Eigenschaft als Tempelkurator wenden konnte, also an jemanden, dem mit Blick auf die Klägerpartei der Hohepriester durch kaiserliches Privileg der autoritative Zugriff auf die personalen und materiellen Angelegenheiten des Jerusalemer Tempels möglich war. Von daher kann man in der Versammlung den Versuch des Statthalters erkennen, seine Entscheidung auf die bestmögliche Grundlage zu stellen, bevor er den Fall nach Rom überstellte.149 Lukas konkretisiert den Anlaß zu dieser Versammlung, indem er Festus den eigentlichen Grund verlautbaren läßt: So habe er Paulus vor sie alle und den König bringen lassen, weil er nach geschehener Befragung (anakrisis, Vulgata: interrogatio) nichts sicheres habe, was er seinem Herrn schreiben könnte; es erscheine ihm aber unsinnig, einen Gefangenen zu schicken und keine Anklagegründe (aitiai, Vulgata: causae) gegen ihn zu haben.150 Lukas führt hier die Situation beinahe an die Schwelle des Absurden: Zum einen hat er die Absicht, den Fall des Paulus zu einem Politikum zu stilisieren, bei dem sämtliche Juden der beiden wichtigsten Provinzstädte darauf aus sind, Paulus zu töten; zum anderen scheint die Versammlung aufgrund fehlender Anklagegründe keinen anderen Zweck zu verfolgen, als dem Statthalter dabei zu helfen, was er dem Kaiser in seinem Brief mitteilen solle. Lukas steigert damit das Spannungsgefälle zwischen unhaltbaren Anklagen und Bedeutung des Falls bis aufs äußerste, um seinem Helden in feierlichem Ambiente noch einmal die Gelegenheit einer ausführlichen apologia pro vita sua vom Jerusalemer Pharisäer zum Zeugen der Wahrheit Jesu Christi zu geben.151 Die Rede des Paulus dürfte Festus wohl kaum weitergeholfen haben, wenn es ihm darum gegangen wäre, Anklagepunkte an den Kaiser zu berichten; dessen ungeachtet scheint es unglaubwürdig, daß dem Statthalter auch vorher diesbezüglich nichts eingefallen wäre, immerhin hätte er einen ähnlichen Text verfassen können, wie der Militärtribun Lysias in seinem Brief an den Statthalter Felix, da sich seitdem keine neuen rechtsrelevanten Gesichtspunkte ergeben hatten.152 149 Aus der Schilderung des Lukas geht hervor, daß Agrippa den Fall des Paulus ganz aus römischer Perspektive bewertet. D. h. hier stellt sich nicht die Frage, wie Agrippa die Rede des Paulus nach jüdischem Recht beurteilt, so daß sich unterstellen ließe, der Statthalter habe eventuell doch erwogen, Paulus einem rein jüdischen Prozeß zu überlassen, sondern allein, ob die innerjüdischen Religionsfragen hier evtl. Konsequenzen für römische Rechtsauffassungen hatten. _ _ 150 Acts 25,26 f.: perÍ o ˜s—alÝò ti grÜyai tÃw kurßà w ožk æxw . diÎ _ _ _ _ kaÍ mÜlista ™pÍ so u, basile u \ A grßppa, Õpwò t hò proÞgagon ažtÎn ™—' mwn _ _ . tß grÜyw _ ålogon gÜr moi doke i pÝmponta dÝs˜nakrßsewò genomÝnhò sxw _ mion mÌ kaÍ tJò kat' ažtou aœtßaò shm anai. 151 Deshalb gibt es auch die Forschungsmeinung, die davon ausgeht, die AgrippaSzene sei frei entworfen und man könnte sie auf sich beruhen lassen, vgl. Conzelmann (1963), S. 135; Haenchen (1977), S. 644 f., 660; Roloff (1988), S. 348.

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Lukas will aber darauf hinaus, welch großen Eindruck Paulus auf Festus und Agrippa machte und letzteren beinahe zum Zeugen seiner Heilsgeschichte Christi bekehrt hätte (26,24–29).153 Was die anschließende Beratung anbetrifft, so erfahren wir nur, daß der Statthalter, Agrippa und Berenike sowie jene, die dabei saßen, sich kurz unterhielten und feststellten, daß Paulus nichts getan habe, was seinen Tod oder Gefangenschaft rechtfertigen würde (26,31). Um ein förmliches Consilium kann es sich hier schwerlich gehandelt haben, wenn zum einen die Teilnahme der Berenike an der Beratung erwähnt ist (25,26 f.) und außerdem eindeutig Agrippa die Führung in der Befragung übernommen hatte. Zentral ist nun aber der resümierend gegenüber Festus geäußerte Satz des Agrippa: „Dieser Mensch könnte freigelassen werden, wenn er nicht an den Kaiser appelliert hätte“.154 Nachdem Lukas also sämtliche denkbare Autoritäten als Beratungsinstanzen für den Statthalter auf provinzialer Ebene in seine Darstellung des Pau152 Auch der Begleitbrief des Statthalters Festus an den Kaiser hätte etwa folgenden Inhalt haben können: ,Paulus sei römischer Bürger, werde von den höchsten jüdischen Autoritäten in der Provinz aber eines Kapitalvergehens bezichtigt. Wegen ihm habe es in Jerusalem bereits einen Tumult und eine Verschwörung gegeben; außerdem habe es bereits einen Prozeß vor Felix gegeben, der jedoch kein Urteil gefällt habe, so daß er ihm als Gefangener von seinem Vorgänger überlassen worden sei. Nach Ankunft in der Provinz habe er sich sogleich des Falls angenommen. Aus seiner Sicht sei aber nichts festzustellen, was eine Kapitalstrafe verdient hätte. Dies sei ihm auch vom König Agrippa, den er zur Beratung hinzuzogen habe, bestätigt worden. Da Paulus an den Kaiser appelliert habe, habe er beschlossen, ihn seiner cognitio zu überlassen.‘ Falls ein solcher Brief dann eine Bedeutung für den Kaiser in Rom gehabt haben sollte, so enthalten die Acts aber noch ein Ereignis, das hierbei zu bedenken wäre: Wäre der Brief bei der Überfahrt nach Rom einem der Bewacher des Paulus, also wahrscheinlich dem Hauptmann Julius (27,1) mitgegeben worden, so wäre er höchstwahrscheinlich wegen des Schiffbruchs vor Malta (27,13–44) verloren gegangen bzw. beschädigt worden und hätte folglich den Kaiser nie erreicht. Freilich hätte es noch die Möglichkeit gegeben, ihn über den Landweg zu senden oder einen speziellen Gesandten zu schicken. Paulus saß in Rom noch einmal zwei Jahre in Arrest, so daß also genug Zeit war, den Kaiser zu informieren. 153 Dies ergibt sich aus dem Dialog im Anschluß an die Rede des Paulus: Zunächst läßt Lukas den Statthalter ausrufen, ob Paulus von Sinnen sei und ihn die vielen Schriften (polla grammata) wohl wahnsinnig (mania) gemacht hätten (26,24). Paulus erwidert, daß er wahre und vernünftige Worte (alethias kai sophrosynes rhemata) spreche (26,25), auf die sich der König Agrippa durchaus verstehe, da diese Dinge [die Erfüllung der Propheten (26,27) durch Jesus, GK] nicht im Verborgenen geschehen seien (26,26). Agrippa antwortet Paulus daraufhin, daß nicht viel fehle, und er werde ihn noch zum Christentum überreden (26,28), worauf Paulus erwidert, er wünschte vor Gott, daß nicht nur er, sondern alle das würden, was er sei, freilich ohne diese Fesseln (22,29). Tajra (1989), S. 169, verweist hinsichtlich der erwähnten mania des Paulus auf Dig. 48,4,7, wonach der Richter auch den Geisteszustand des Beklagten zu berücksichtigen habe. _ 154 Acts 26,32: \Apolelýsqai ™dýnato ‡ ånqrwpoò otoò eœ mÌ ™pekÝklhto Kaßsara.

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VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa

lusfalls mit einbezogen hat, steht fest, daß sich gegenüber der ersten Einschätzung im Brief des Militärtribuns Lysias an den Statthalter Felix keinerlei neue Bewertungen ergeben haben: Paulus ist aus römischer Sicht keiner Kapitalstrafe schuldig, wird jedoch wegen besonderer Umstände auch nicht freigelassen. Konnte in der ersten Phase als besonderer Umstand gelten, daß es sich (aus römischer Sicht) um einen kaum nachvollziehbaren innerjüdischen Religionskonflikt handelte, der aber immerhin die Gemüter der höchsten jüdischen Autoritäten so erhitzte, daß der Fall zum Politikum wurde, so konnte der Grund nunmehr darin gesehen werden, daß Paulus an den Kaiser appelliert hatte. Die Frage ist nun, ob Paulus es durch seine Appellation selbst verhindert hat, daß er einfach freigelassen wurde; immerhin scheint dies der Spruch des Agrippa an Festus (26,32) ausdrücken zu wollen. Womöglich handelt es sich hier aber auch nur um einen schlechten Scherz, der dann unter modernen Rechtshistorikern viel Aufhebens verursacht hat. Wir wissen freilich nicht, ob Agrippa seinen Satz mit Augenzwinkern oder mit juristischem Ernst gesagt haben soll. Jedenfalls gab es – wie gezeigt – genug Gründe, warum die Überstellung an das Kaisergericht für alle Beteiligten die beste Lösung war.155 Auch Agrippa hatte vermutlich kein Interesse daran, daß die Tempelpriester ihm schlecht gesinnt waren, falls Paulus freigelassen worden wäre. Freilich hätte nicht er die Freilassung zu verantworten gehabt, sondern der Statthalter, jedoch wäre er sicherlich mit diesem Urteil in Verbindung gebracht worden, nachdem er in der Öffentlichkeit als Berater des Festus aufgetreten war. Diese Lesart ergibt sich zumindest, wenn man den von Lukas dem Agrippa in den Mund gelegten Spruch auf Acts 25,12 bezieht. Mit sichtlicher Erleichterung hatte der Statthalter einen guten Vorwand, Paulus loszuwerden: „Auf den Kaiser hast du dich berufen, zum Kaiser sollt du gehen.“ Jetzt flunkert Agrippa gegenüber Festus, daß es keine Gründe für eine Überstellung nach Rom gäbe, außer den, daß Paulus selbst den Kaiser angerufen habe. Deshalb halte ich es für angebracht, die Stelle nicht als juristische Expertise des Agrippa zu interpretieren. Diese hätte der Statthalter in dieser Form doch auch gar nicht nötig gehabt: Hätte es einen Automatismus in der Appellationswirkung gegeben, dann bräuchte der Statthalter darüber nicht von einem Klientelkönig belehrt werden. Die Feststellung, Paulus hätte freigelassen werden können, wenn er nicht an den Kaiser appelliert hätte, impliziert die Aussage, daß Paulus, weil er eben an den Kaiser appelliert habe, nach Rom überstellt werden müsse. Wenn dies aber zuträfe, wären sämt155 Cadbury (1933), S. 318, A. 1: „We may suspect that both then and earlier the only real obstacle to the release of Paul by the procurators was not legal difficulty, but a lack of courage on their part to do justice against Jewish protest.“

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liche Maßnahmen nach der Appellation eigentlich überflüssig bzw. sinnlos gewesen – auch die feierlich-pompöse Beratung mit Agrippa vor den Augen der Honoratioren Cäsareas. Deshalb verstehe ich den Satz ironisch, wobei Agrippa gegenüber dem Statthalter auf die Erleichterung anspielt, Paulus wegen seiner Appellation nicht freilassen zu müssen, sondern nun mit guten Gründen wegen seiner Appellation nach Rom schicken zu können. Bleibt die Frage, was eigentlich gewesen wäre, wenn Paulus nicht appelliert hätte. Wäre er dann unter Einbeziehung des Synedrions in Jerusalem gerichtet worden? Dies scheint mir unter den in der Apostelgeschichte geschilderten Ausgangsbedingungen wahrscheinlich. Paulus wollte diesen Prozeß jedenfalls nicht. Auch eine andere Möglichkeit wäre nicht auszuschließen: So wie sich die Zustände in Judäa Ende der 50er Jahre gestalteten, hätte der Statthalter den Paulus auch einfach weiter in Gewahrsam halten können und ihn – wenn ihm der Sinn danach war und die Situation es erlaubte – irgendwann einfach freilassen können, so wie es uns von den „Gefängnissäuberungen“ anderer Statthalter bei Josephus überliefert ist.156 Daß es für den Verfasser der Apostelgeschichte aus heilsgeschichtlichen Gründen freilich ebenfalls von Vorteil war, den Heidenapostel in Rom sterben zu lassen, sollte nicht vergessen werden. Leider bricht die Apostelgeschichte aber unvermittelt ab, so daß wir nach dem Bericht der Überfahrt, dem Schiffbruch und dem Gewahrsam in Rom leider nicht mehr über den Kaiserprozeß informiert werden, nach welchem Paulus dann (aus christlicher Sicht) durch das Schwert den Märtyrertod gestorben sein soll.157 156

Vgl. oben die A. 111 in Abschnitt V. 1. e). Wir erfahren noch, daß sich Paulus nach seiner Ankunft in Rom (wahrscheinlich 60/61 n. Chr.) noch zwei Jahre unter militärischer Bewachung in einer von ihm gewählten Wohnung aufgehalten und Besucher empfangen konnte (Acts 28,16.30 f.). Folglich ist es während dieser Zeit zu keinem Prozeß gekommen. Wer das Verfahren durchführte, der Kaiser selbst, der Stadtpräfekt oder ein anderweitiger Vertreter des Kaisers, muß Spekulation bleiben, vgl. die Überlegungen von SherwinWhite (1963), S. 111 f.; Tajra (1994), S. 15 ff. Aufgrund der langen Zeit des Gewahrsams sind auch Überlegungen aufgekommen, daß der Prozeß hinfällig geworden war, etwa weil die jüdischen Ankläger nicht rechtzeitig in Rom eingetroffen seien, vgl. Tajra (1989), S. 191 ff.; ders. (1994), S. 47; aber auch schon Eger (1919), S. 21 ff., vgl. dagegen die Zweifel von Sherwin-White (1963), S. 112 ff. Daß Paulus zunächst wieder auf freien Fuß kam und dann später wieder wegen eines anderen Vorfalls verhaftet und schließlich hingerichtet wurde, kann hier nicht erörtert werden. Die spätere christliche Tradition spricht von Hinrichtung mit dem Schwert, vgl. Tert., Adv. Haer. 36; weitere Stellen bei Fascher (1956), S. 453. Euseb., Hist. eccl. 2,25 spricht später von einer Hinrichtung unter Nero und unterscheidet dabei zwischen der Hinrichtung mit dem Schwert bei Paulus und der Kreuzigung bei Petrus. Das andersgeartete Strafmaß für Paulus ließe sich auf die Berücksichtigung seines Status als Bürger im Rahmen eines ordentlichen Prozesses verstehen, paßt aber dann nicht zu den Strafen im Rahmen der Neronischen Christenverfolgungen im Anschluß an den Brand Roms (Tac., Ann. 15,44,4). 157

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3. Fazit zum Paulusfall Paulus wurde fünf Mal verhört (Lysias, Synedrion, Felix, Festus, Agrippa), davon aber nur zwei Mal im Rahmen einer Prozeßsituation (vor den beiden Statthaltern nach förmlicher Anklageerhebung); zwei Mal dienen die Verhöre als Anlaß, dem Apostel die Gelegenheit zu einer ausführlichen Apologie zu geben (Synedrion, Agrippa), die aus römischer Sicht mit strafrechtlichen Gesichtspunkten kaum etwas zu tun haben kann, dafür aber um so mehr mit der Bezeugung des auferstandenen Christus. Die Grundsituation bleibt die, daß Paulus sich nach Festnahme durch den Militärtribun in Jerusalem von Anfang an in römischer Gewalt befindet und auch bleibt, während die höchsten jüdischen Autoritäten darauf aus sind, ihn durch legale (Kapitalprozeß) oder illegale (Mordkomplott) Methoden zu Tode kommen zu lassen. Paulus durchläuft dabei mehrere Stationen, in die immer mehr Autoritäten auf provinzialer Ebene mit einbezogen werden: ein römischer Offizier, das Synedrion, die beiden Statthalter, ein Klientelkönig, bis schließlich die Entscheidung dem Kaiser in Rom überlassen wird. Zugleich wandert der Fall vom religiösen Zentrum des Judentums (Jerusalem) über das hellenisierte Verwaltungszentrum der Provinz (Cäsarea) zur Hauptstadt des Weltreichs (Rom). Während der Verfasser der Apostelgeschichte dadurch dem Paulusfall sowohl über die beteiligten Personen als auch über die Orte eine immer größere politische Bedeutung zukommen läßt, bleibt die rechtliche Situation von Anfang an, d. h. seit der ersten Einschätzung des Falls durch den Militärtribunen Lysias, prinzipiell gleich: Paulus kann aus römischer Sicht nicht zum Tode verurteilt werden, da es sich allein um einen innerjüdischen Konflikt über religiöse Streitfragen handelt. Paulus soll aber auch nicht einfach freigelassen werden, da sich der Fall zu einem Politikum entwickelt, bei dem es gar nicht mehr um rechtliche Belange geht, sondern um das Verhältnis zwischen römischer Provinzialherrschaft und der Autorität der Jerusalemer Priesterschaft, die selbst wiederum in Sadduzäer und Pharisäer gespalten ist. Die Sadduzäer, welche unnachgiebig auf den Tod des Paulus aus sind, verkörpern zu dieser Zeit zugleich die von Rom anerkannte Provinzialelite, welche sich bisher mit der römischen Herrschaft noch am leichtesten ins Einvernehmen versetzt hatte. Im Fall des Paulus scheint das Verhältnis, das zu dieser Zeit schon ziemlich angespannt war, einer zusätzlich harten Belastungsprobe ausgesetzt, für die auf provinzialer Ebene keine Entlastung in Sicht war: Paulus kann und soll als römischer Bürger nicht einfach den jüdischen Autoritäten ausgeliefert werden, zumal er sich aus römischer Sicht keines nachweisbaren Kapitaldelikts schuldig gemacht hatte; aus Sicht des Hohepriesters und einiger jüdischer Autoritäten bleibt er aber ein Gotteslästerer, der den Tod verdient hat. In dieser dilemmati-

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schen Situation bleiben jüdisch-rechtliche, römisch-rechtliche, religionspolitische und herrschaftspragmatische Gesichtspunkte miteinander verwoben. Im Bürgerrecht des Paulus liegt zugleich das Problem wie die Lösung für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt in diesem konkreten Fall: Das Problem besteht in der Tatsache, daß der römischen Provinzialherrschaft einerseits eine besondere Schutzpflicht gegenüber römischen Bürgern zukommt, wenn diese durch nichtrömische Kräfte verfolgt werden, andererseits dieses Provinzialregiment aber möglichst im Einvernehmen mit der Provinzialelite, d. h. in Judäa vor allem über die Autorität der Jerusalemer Priesterschaft ausgeübt werden soll. Um Paulus rankt sich nun ein Konflikt, bei dem beides nicht mehr problemlos miteinander zu vereinbaren ist. Das Bürgerrecht bietet aber zugleich auch die Lösung dieses Problems, wenn Paulus damit die Möglichkeit gegeben ist, an den Kaiser zu appellieren und sich für den Statthalter die Chance bietet, den Fall loszuwerden und an eine unangreifbare Autorität abzuschieben. Zwischen dem Problem und seiner Lösung sind freilich die Jahre der Verschleppung des Falls anzusetzen, was aber unter den damaligen Voraussetzungen weder als rechtswidrig noch als außergewöhnlich angesehen werden muß. Insgesamt bestätigt sich am Paulusfall das Bild einer Strafgewaltspraxis, bei dem man nicht selektiv einige Aspekte herausgreifen sollte, um ihn unter rechtshistorische Konstruktionen zu subsumieren, ohne den weiteren herrschaftsstrukturellen Kontext zu berücksichtigen. Dies zeigt sich gerade bei Betrachtung des Provokations- bzw. Appellationsrechts: Es handelt sich hierbei keineswegs um entkontextualisierte und von daher prinzipiell wirksame Schutzrechte für römische Bürger unabhängig vom persönlichen Ermessen des Statthalters. Zwar wird das Vorhaben der Züchtigung des Paulus nach Erwähnung seines Bürgerrechts eindeutig sistiert, jedoch kann daraus keineswegs eindeutig gefolgert werden, daß es sich um die Befolgung rechtlicher Vorschriften handelte, zumal auch persönliche Motive den Ausschlag gegeben haben konnten, ganz abgesehen davon, daß der Statthalter in der konkreten Situation gar nicht involviert war. Für die spätere Anrufung des Kaisers mit der Wirkung, daß Paulus letztlich nach Rom überstellt wird, ließe sich m. E. für die allgemeine Verfahrensweise folgendes ableiten: Der Statthalter kann abwägen, wann es geraten schien, einen Bürger selbst zu richten oder zum Kaiser zu schicken; dabei hing viel von der politischen Brisanz des Falls, dem sozialen Status des Beklagten und der Ankläger, der allgemeinen Herrschaftssituation in der Provinz sowie der Haltung der dabei maßgeblichen Parteiungen innerhalb der Provinzialelite ab. Zumindest lassen sich alle diese Punkte am Fall des Paulus verdeutlichen. Wenn es eine Lehre aus der Apostelgeschichte für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt gegenüber einem römischen Bürger gibt, so ist

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VII. Der Apostel Paulus vor den Statthaltern in Judäa

es die, daß dabei nur zu einem gewissen Teil strafrechtliche, bürgerrechtliche oder verfahrensrechtliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen, jedoch für den Ausgang bzw. eine Verschleppung des Prozesses herrschaftspragmatische Gesichtspunkte mindestens ebenso entscheidend sind. Für eine Untersuchung der statthalterlichen Strafgewaltspraxis bedeutet die Trennung der rechtlichen von der politischen Ebene ebenso einen Anachronismus wie die Überbetonung der einen oder der anderen Ebene. Herrschaftliche und rechtliche Gesichtspunkte lassen sich nicht gegenseitig ausspielen, da die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt in Provinzen essentieller Bestandteil eines obrigkeitlichen Herrschaftsrechtes war. Aus der Perspektive des Lukas ist der „Rechtsfall“ des römischen Bürgers Paulus ebenso religiös wie politisch und erlangt dadurch überhaupt erst seine Bedeutsamkeit. Wenn die zeitgenössische Bedeutung des Paulus auch unglaubhaft oder zumindest übertrieben erscheint, so als habe sich in Judäa beinahe alles nur noch um Paulus gedreht, dann hängt das sicherlich vor allem mit der Fokussierung auf den Helden zusammen. Davon abgesehen agiert dieser Held aber in keinem realitätsfernen Darstellungszusammenhang; vielmehr wird die Geschichte mit für uns heute so wertvollen historischen Details verknüpft, um der heilsgeschichtlichen Dimension (wie sie vor allem in den Reden des Paulus zum Ausdruck kommen) einen glaubwürdigen Rahmen mit den üblichen historiographischen Mitteln zu verliehen. Paulus konnte erst ein christlicher Märtyrer werden, wenn er zugleich ein politisch wie religiös Verfolgter war; beides ist für die Provinz Judäa zumeist ein und dasselbe. Sein römisches Bürgerrecht verkomplizierte die Situation und brachte jüdische wie römische Autoritäten mit ihren divergierenden Rechtsauffassungen in unmittelbare Konfrontation. Aber womöglich bot sich gerade dadurch dem Verfasser der Apostelgeschichte nach dem Jüdischen Krieg der Stoff, die exemplarische Geschichte eines Mannes zu erzählen, dessen Haltung die prinzipielle Vereinbarkeit beider Rechtsauffassungen im Rahmen des Christentums vermitteln sollte. Das wesentliche Problem ist dann aber, weshalb Paulus in Rom letztlich doch hingerichtet wurde. Es muß eine Vermutung bleiben, daß ein Zusammenhang mit der Tatsache bestehen könnte, weshalb uns Lukas über das Ende des Paulus nichts mehr berichtet.

Schlußbetrachtung Ziel dieser Arbeit war die Analyse der Strafgewaltspraxis römischer Provinzstatthalter in Judäa seit Einrichtung der Provinz 6 n. Chr. bis zum Ausbruch des großen Aufstandes gegen die römische Herrschaft im Jahr 66. Die Auswahl der Region und des Zeitraums ergab sich aus der Quellenlage, da uns mit den Werken des Flavius Josephus, den Evangelien und der Apostelgeschichte Berichte zur Herrschaftspraxis aufeinanderfolgender Statthalter über einen längeren Zeitraum in derselben Region vorliegen, die zusammengenommen in ihrer Ausführlichkeit einmalig sind. Darüberhinaus ergänzen sich die Schriften des Josephus und des Neuen Testaments in gewisser Weise: Josephus geht selten ausführlicher auf die genauen Abläufe der Sanktionsmaßnahmen gegen Einzeltäter ein, liefert jedoch ein mannigfaltiges Panorama an Fällen, wodurch die Strafgewaltspraxis vor dem Hintergrund diverser Beziehungskonstellationen zwischen Einzelakteuren oder Gruppen und damit im Rahmen der gegebenen Herrschaftsstrukturen expliziert werden können; die Evangelien und die Apostelgeschichte überliefern dagegen nur jeweils einen Fall, nämlich den des Jesus von Nazareth und den des Apostels Paulus, dies aber relativ ausführlich, so daß der Ablauf, die möglichen Motivlagen der Beteiligten und der Ermessens- und Handlungsspielraum des Statthalters noch besser greifbar werden. Der leitende Gesichtspunkt unserer Fragestellung bestand darin, herauszufinden, ob die Statthalter sich überhaupt an ein spezielles übergeordnetes Recht gebunden sahen oder ob eher informelle Faktoren ihre Entscheidungen, Urteile und Sanktionen beeinflußten. Damit stellte sich die Frage nach ihrem persönlichen Ermessensspielraum und nach dessen Kriterien in unterschiedlichen Entscheidungssituationen. Die singuläre Quellenlage ermöglichte dann auch die Entwicklung eines methodischen Ansatzes, der sich von zwei gegenläufigen Forschungsrichtungen abgrenzte: Weder sollte die statthalterliche Strafgewalt von vorgegebenen Rechtsgrundlagen aus rekonstruiert und nach rechtsimmanenten Kriterien beurteilt werden, um daraufhin die für Judäa überlieferten Fälle der statthalterlichen Strafgewaltspraxis zu bewerten, noch sollte umgekehrt die Analyse der Strafgewaltspraxis der Statthalter in den Provinzen dazu führen, ihr voreilig jegliche Rechtsförmigkeit abzusprechen bzw. sie als „persönliche Willkürjustiz“ abzutun, nur weil sich die festgestellte Rechtswirklichkeit nicht mit normativen Vorannahmen in Einklang bringen läßt. Beide Ansätze gehen unterschwellig von einer bestimmten Rechtsvorstellung aus,

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Schlußbetrachtung

die als Maßstab dient, um jeweils unter umgekehrten Vorzeichen vermeintliche Rechtsnormen und Rechtswirklichkeit gegeneinander auszuspielen; beide Ansätze bewerten die Strafgewalt der Statthalter – nicht selten sogar gegen die eigene Intention – am Maßstab eines systematisierten und generalisierten Korpus an Rechts- und Verfahrensregeln, d. h. unter der Voraussetzung, daß Einzelfallentscheidungen auf isolierte und abstrahierte Rechtssätze zurückgeführt werden können, die ein (auch begrifflich) aufeinander abgestimmtes Regelwerk bilden. Freilich wird dies in der neueren Forschung nur allzu oft als Anachronismus kritisiert. Aber auch Ansätze, die von einer „persönlichen Willkürjustiz“ des Statthalters ausgehen, bleiben dieser anachronistischen Rechtsvorstellung verhaftet. Sofern dies bewußt vor der Kontrastfolie der Rechtsysteme späterer Epochen in diachron vergleichender Absicht erfolgt, ist dagegen nichts einzuwenden, sofern nicht ein epochenspezifischer Rechtsbegriff zum universalen Maßstab für das historische Verständnis anderer Epochen erhoben wird. Andere Ansätze folgen einer anachronistischen Rechtsvorstellung mittelbar über die Methode, indem ein aus räumlich wie zeitlich disparat überlieferten Quellenfragmenten konstruiertes Strafrechtssystem vorausgesetzt wird, das es zur Zeit der Römer gar nicht gegeben hat, mittels dem dann aber die Rechtspraxis in konkreten Fällen auf ihre Rechtsförmigkeit untersucht wird. Beide Ansätze stehen (gewollt oder ungewollt) in der Tradition Theodor Mommsens, der von einer weitgehenden Kontinuität der Formen der Rechtspflege seit Errichtung der ersten Provinzen bis zur Spätantike ausging. So war es ihm vom methodischen Ansatz her möglich, die Statthalterschaft abstrahiert vom jeweiligen politischen und sozialen Kontext systematisch darzustellen. Auch neuere Forschungsansätze folgen dieser Tendenz, wenn sie das eine Bild der Statthalterschaft aus den fragmentarischen Informationen in den Quellen zu diversen Provinzen und unterschiedlichen Zeiten zu gewinnen suchen. Freilich erscheinen zeit- und raumübergreifende Analogieschlüsse aufgrund der antiken Überlieferungslage unumgänglich, jedoch hat sich gleichzeitig mit der rechtsystematischen Darstellung in verschiedenen Varianten eine kritikwürdige Grundprämisse Mommsens reproduziert: nämlich die Separierung eines „eigentlichen“ Strafrechts von der Ausübung „bloßer“ Zwangsgewalt, oder anders formuliert: die Trennung der „Strafgerichtsbarkeit“ römischer Magistrate bzw. Statthalter von ihren „Polizeimaßnahmen“, wobei das erste im Gegensatz zum zweiten jeweils der Sphäre des Rechts zugeordnet und als Abgrenzungskriterium sein höherer Formalisierungsgrad angeführt wird. In Absetzung von dieser Tendenz wurden in dieser Arbeit andere methodische Vorentscheidungen getroffen: Erstens wurde von keiner Vorannahme über die allgemeine Kompetenz des Statthalters und feststehenden Verfahrensregeln hinsichtlich seiner Gerichtsbarkeit ausgegangen; vielmehr ging

Schlußbetrachtung

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es darum, den Statthalter in Aktion zu betrachten, d. h. in Situationen, in denen er von seiner Amtsgewalt Gebrauch machte und sanktionierend in die Verhältnisse der Provinz eingriff. So mußte nicht von einem eventuell bereits gegebenen Recht auf dessen Übung geschlossen werden, sondern umgekehrt von dessen Übung auf eventuell geltendes Recht. Der fallrechtliche Charakter des römischen Rechts in Verbindung mit der pragmatischen Orientierung römischer Provinzialherrschaft legten diese Herangehensweise nahe. Entsprechend wurde zweitens die neutrale Kategorie der „Strafgewalt“ für sämtliche Zwangsmaßnahmen des Provinzgouverneurs gewählt, die er zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung einsetzte. Erst dadurch war es überhaupt möglich, die formalen Abgrenzungskriterien zwischen Koerzitionsgewalt und Gerichtsbarkeit des Statthalters nicht mehr einfach vorauszusetzen, sondern zu überprüfen. Das weiter gefaßte Ziel bestand darin, genau den Zwischenbereich vermeintlich rechtdogmatischer Formalien und reiner Willkür für die Ausübung statthalterlicher Strafgewalt zu analysieren. Deshalb wurde drittens auch die Abgrenzung zwischen einem formalisierten „eigentlichen Strafrechtssystem“ und einem rein machtpragmatisch fundierten „souveränen Herrenrecht“ ad acta gelegt, zumal sich die Ausübung der Strafgewalt und die Provinzialherrschaft wechselseitig bedingten und keine funktional ausdifferenzierten und voneinander unabhängig institutionalisierten Bereiche der Rechtspraxis darstellten, vielmehr auf die Person des Statthalters vereinigt waren. Es ist kaum vorstellbar, daß dies Mommsen und seinen Adepten nicht bewußt gewesen wäre. Man kann deshalb davon ausgehen, daß sich die Vorstellung vom eigentlichen Recht als Rechtssystem in Abgrenzung von einem „souveränen Herrenrecht“ im Sinne einer gleichsam anomischen Herrschaftspraxis der Methode einer wissenschaftlichen Darstellungsweise des Rechts verdankt, die im 19. Jahrhundert wurzelt und sich fortschrittlich von älteren antiquarischen Darstellungen der Rechtsaltertümer abzugrenzen versuchte, indem sie die systematisierende Methode dem zeitgenössischen Verständnis des Strafrechts der Römer unterstellen wollte. Dennoch wirkt sich die systematische (und dogmengeschichtliche) Darstellung des Strafrechts verzerrend auf das Bild von der historisch untersuchten Strafrechtspraxis aus, wie nicht zuletzt die legalistischen Konstruktionen Mommsens verdeutlichen, die in der neueren Forschung partiell wieder „dekonstruiert“ wurden. Freilich waren mit Mommsens Werk zum Staats- und Strafrecht, in welchem er das umfangreiche Quellenmaterial aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen zu einem System gleichsam entzeitlichter Rechtsinstitute zu integrieren vermochte, die Grundlagen für die Vorstellung eines römischen Strafrechtssystems gelegt, auf das auch die nachfolgende Forschung bis in die jüngste Zeit nicht verzichten konnte. Um seinen methodischen Implikationen zu entgehen, schien es angebracht, sich der Strafgewalt der Statthal-

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Schlußbetrachtung

ter einmal nicht von einer Rechtssystematik her zu nähern, sondern zunächst die Strafrechtspraxis aus einem zeitlich wie räumlich abgrenzbaren Quellenbestand zu analysieren, um erst dann die Frage aufzuwerfen, was sich daraus für die zeitgenössische Rechtsauffassung des Strafens ergibt. Dieses Unterfangen war aufgrund der Quellenlage nur für die Provinz Judäa zur Zeit des Frühprinzipats möglich. Der hier verfolgte Ansatz wurde zunächst ausführlicher durch die Darlegung herrschaftsstruktureller Gesichtspunkte plausibilisiert. Sie sollten zeigen, daß der Statthalter schon allein in dieser Hinsicht ein beachtliches Maß an Flexibilität für sämtliche Tätigkeitsbereiche und damit auch für die Ausübung der Strafgewalt aufzubringen hatte. Der Kaiser delegierte Herrschaftsaufgaben an den Statthalter, die er mittels eines nur sehr kleinen Personalstabes und des Oberbefehls über ein Auxiliartruppenkontingent von einigen hundert Mann bewältigen mußte. Die Strafgewalt läßt sich folglich vor allem als ein Herrschaftsrecht zur Wahrung der öffentlichen Ordnung beschreiben. Die Herstellung und Wahrung der öffentlichen Ordnung stieß bei fehlendem bürokratischen Verwaltungsapparat und begrenzter militärischer Machtpräsenz an bestimmte Grenzen. Zudem agierte der Repräsentant Roms in Judäa in einem spannungsgeladenen Kraftfeld teils ererbter, teils neu auflebender regionaler, ethnischer, religiöser, politischer und sozialer Gegensätze, die nicht selten das Potential hatten, sich zu schwer kontrollierbaren Konflikten auszuweiten. Die Strafgewalt des Statthalters konnte in der tatsächlichen Ausübung also keine die Provinz durchdringende Allkompetenz sein, sondern mußte sich auf die für den römischen Herrschaftsanspruch als wesentlich erachteten Fälle beschränken und alles Weitere den einheimischen Autoritäten überlassen. Wollte der Statthalter das Land nicht mit Krieg überziehen, so konnte er den römischen Herrschaftsanspruch nur in Kooperation mit bestimmten einheimischen Notablen- bzw. Honoratiorenschichten aufrechterhalten und sein Regiment weitgehend auf die Oberaufsicht und Kontrolle beschränken, wobei ihm freilich die Intervention in sämtliche Bereiche offenstand. Die statthalterliche Strafgewalt spiegelt damit die Dualität einer Herrschaftsstruktur wider, die sich einerseits auf die essentiellen Bereiche der Machtausübung beschränkte, wodurch andererseits das Herrschaftshandeln unter der Voraussetzung minimierter Machtressourcen möglich war. Unter der Voraussetzung einer solchen Herrschaftsökonomie läßt sich das Amt des Statthalters nicht als ein Verwaltungskörper mit bestimmten Ressorts innerhalb einer nach Kompetenzen exakt aufgegliederten Befehlshierarchie im Gefüge einer rechtlich-institutionell verfaßten Herrschaftsorganisation verstehen. Dafür fehlten allein schon die Mittel des modernen Anstaltstaates.1 Aus diesem Grund läßt sich die statthalterliche 1

So wie ihn Max Weber (1980), WuG, S. 30, 426 f., 821 ff. versteht.

Schlußbetrachtung

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Strafgewalt auch nur mangelhaft als rein rechtliches Phänomen verstehen, sofern der Begriff des Rechts auf die Beachtung vorgegebener Rechtssatzungsakte verkürzt würde. Die Amtsführung des Statthalters in Judäa war vom politischen Zentrum in Rom aus nur begrenzt und mittelbar kontrollierbar, und der Statthalter selbst war wiederum auf die Kooperation und Unterstützung einheimischer Eliten angewiesen. Dabei mußte der Statthalter idealiter auf traditionale, für die Provinz spezifische Eigenheiten Rücksicht nehmen, wobei in Judäa die Religion die herausragende Rolle spielte. Der Statthalter stand im Zentrum sich überlagernder Rechtsauffassungen und unterschiedlicher Erwartungshaltungen, freilich ohne daß er diese unbedingt hätte realisieren müssen. Die Amtsträger Roms waren sich der Machtentfaltung ihres Reiches ja durchaus bewußt, so daß ihnen eine gewisse „imperiale Arroganz“ gegenüber den unterworfenen Völkern nicht abgesprochen werden kann; jedoch war man sich wohl auch bewußt, daß die Reichsgebiete nur kontrolliert (und d. h. vor allem ökonomisch ausgebeutet sowie strategisch genutzt) werden konnten, wenn man die einheimischen Eliten für römische Herrschaftsinteressen einspannte, die ihrerseits hierfür mit dem Erhalt ihrer angestammten Stellung belohnt bzw. bei loyalem Verhalten gegenüber Rom mit Privilegien ausgezeichnet wurden. In Judäa war neben der lokal-städtischen, ländlich-regionalen oder religiösen Führungsschicht (dynatoi, protoi, presbyteroi, hoi en telei, archontes, boule, gerousia, koinon), deren Organisations- bzw. Repräsentationsformen sich aus dem Quellenmaterial nicht mehr genau bestimmen lassen, besonders die sadduzäische Priesteroligarchie für die römische Provinzialherrschaft von zentraler Bedeutung. Verkürzt könnte dieser Sachverhalt auf die Formel gebracht werden: Wer den Tempel in Jerusalem kontrollierte, der kontrollierte auch Judäa. Aus einigen wenigen Familien wurden (zunächst vom syrischen Statthalter und später von einem romtreuen Klientelkönig) die Hohepriester ernannt, die als die obersten Repräsentanten des Judentums galten, die Spitze der Jerusalemer Tempelpriesterschaft bildeten und vor allem in religiösen Angelegenheiten zusammen mit einer „Versammlung“ (synedrion) Recht sprachen. Auch hier ist die Organisationsund Verfahrensweise in dem vorliegend behandelten Zeitraum nicht exakt bestimmbar. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, daß das Jerusalemer Synedrion keineswegs eine permanent (über feste Mitgliedschaften) konstituierte Gerichtsinstitution gewesen sein muß, sondern wenigstens ein Beratungsgremium verkörperte, das häufig aus der Situation heraus für die Dauer zur Untersuchung eines bestimmten Falls ad hoc auf Initiative eines Hohepriesters zusammentrat. Letzterer behielt eine dominierende Stellung und konnte relativ eigenständig eine Entscheidung und auch Strafurteile fällen. In diesem Zusammenhang wurden Vergleiche zum statthalterlichen

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Schlußbetrachtung

Consilium gezogen und (in Bezug auf die Apostelgeschichte) Überlegungen angestellt, inwiefern die Mitglieder des Jerusalemer Synedrions nicht sogar Bestandteil eines statthalterlichen Consiliums werden konnten. Die Vollstreckung von Todesstrafen blieb jedoch prinzipiell dem römischen Statthalter vorbehalten, sofern man von den Möglichkeiten einer stillschweigenden Duldung bzw. den Schwächen einer umfassenden Kontrolle der Aktionen der Hohepriester und des Jerusalemer Synedrions einmal absieht. Dem Zusammenspiel zwischen Synedrion und statthalterlicher Strafgewalt darf keine rechtlich exakt geregelte Kompetenzabgrenzung oder gar die Form eines fest institutionalisierten Instanzenzuges unterstellt werden; vielmehr hat die Mitwirkung des Synedrions den Charakter eines von den Römern zugestandenen und daher stets widerrufbaren Privilegs und reiht sich folglich in die oben geschilderten Merkmale römischer Provinzialherrschaft ein. Im Rahmen dieser Herrschaftsstruktur ist es offensichtlich, daß der Ausübung statthalterlicher Strafgewalt ein erheblicher Entscheidungs- und Handlungsspielraum vorgelagert sein mußte. Dieser war einerseits stark von individuellen Merkmalen der jeweiligen Amtsinhaber geprägt, z. B. von bestimmten Charaktereigenschaften, privaten Interessen, kulturellen, ethnischen bzw. religiösen Ressentiments; andererseits waren Fähigkeiten gefragt, die einen Entscheidungsträger für die Interaktion mit den Einzel- und Gruppeninteressen auszeichnen, wie z. B. diplomatisches Verhandlungsgeschick, Folgenabwägung, Ausbalancieren gegensätzlicher Interessen etc. All dies läuft darauf hinaus, daß sich die Entscheidungskriterien des Statthalters bei Ausübung statthalterlicher Strafgewalt nicht in Form rechtlich determinierter Anwendungsregeln ausdrücken lassen, sondern nur im Kontext sowohl der Provinzial- als auch der Reichsstruktur verständlich werden. Neben der Achtung lokaler Sitten und Gewohnheitsrechte waren auch die sozialen Kräfte der persönlichen Feindschaft, Freundschafts- und Familienverpflichtungen, Patron-Klient-Beziehungen sowie die Bevorzugung herrschaftsnaher Gruppen und Akteure direkter Bestandteil der Rechts- und Herrschaftspraxis, deren unmittelbarer Ausläufer die statthalterliche Strafgewalt war. Man kann deshalb die Ausübung der Strafgewalt – zumindest dort, wo sie prozessuale Formen annahm – auch als ritualisierte Konfliktbewältigung begreifen, die nicht unabhängig vom Einfluß informeller Nahverhältnisse, persönlicher Machtbeziehungen und politischer Interessenlagen vollzogen wurde. Daraus wird deutlich, weshalb zur Sicherung und Wahrung römischer Herrschaftsinteressen dem Entscheidungsprozeß bis zur Ausübung der Strafgewalt (oder ihrer bewußten Unterlassung) kognitive Aushandlungsformen vorgelagert sein konnten, die keinen rechtlich positivierten Normen unterworfen waren und Raum für unterschiedlichste politische Abwägungsmotive boten.

Schlußbetrachtung

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Diese Ausführungen fanden sich durch die Untersuchung am konkreten Fallmaterial zur Provinz Judäa bestätigt, deren Ergebnisse hier nur noch einmal in den wesentlichen Gründzügen zusammengefaßt werden sollen, da die jeweiligen Zwischenresümees zu den Einzelkapiteln der Darstellung dies bereits ausführlicher getan haben. Das Herrschaftsinteresse des judäischen Statthalters war sichtlich tangiert, wenn bewaffnet-militante Gruppierungen aus welchen Motiven auch immer eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung darstellten. Hier schildert uns Josephus einfach die militärische Reaktion der Statthalter als ein brutales Durchgreifen, wobei die Rädelsführer, soweit man ihrer habhaft werden konnte, exemplarisch hingerichtet wurden. Hier sind keine „Aushandlungsprozesse“ feststellbar. Ausschlaggebend für das Vorgehen des Statthalters war schlicht die Tatsache, daß es sich um die Zusammenballung einer gewaltbereiten und bewaffneten Menschenmenge handelte, die der römischen Provinzialherrschaft gefährlich werden konnte. Anders verhält es sich dagegen bei relativ friedlichen und spontanen Protestaktionen von Teilen der Provinzialbevölkerung, bei denen die von Josephus überlieferten gegensätzlichen Reaktionen der Statthalter unter annähernd gleichen Ausgangsbedingungen zeigen, daß die Bereitschaft zur Ausübung der Strafgewalt ganz von ihrer Einschätzung der Lage abhing. Bei den beiden jeweils für Pilatus und Cumanus überlieferten Fällen ist es wahrscheinlich, daß die Statthalter jeweils aus den vorangegangenen Entscheidungen unter ähnlichen Bedingungen gelernt hatten, und nunmehr deren Folgen vermeiden wollten. Die Szene der Konfrontation des Statthalters mit einer Menschenmenge bei angedrohter Strafsanktion erweckt den Eindruck eines mentalen Kräftemessens, bei dem die Juden vor dem Statthalter ihr religiöses Gesetz verletzt glaubten und keinesfalls bereit waren, in ihren Forderungen nachzugeben. Man kann in dieser Situation gut nachvollziehen, wie die Statthalter zwischen dem Gedanken hin- und herschwankten, einerseits nicht dem Druck der Menge nachgeben zu wollen, was als Laxheit hätte ausgelegt werden können, andererseits aber auch nicht durch Ausübung der Strafgewalt eine Eskalation der Lage herbeiführen zu wollen, deren Folgen für die Provinzialherrschaft nur schwer abschätzbar waren. Während hier die Situation über die direkte Konfrontation des Statthalters mit einer Menschenmenge geschildert wird, treten einzelne Interessengruppen und Akteure in anderen Fällen deutlich hervor. Die Rolle der Provinzialeliten zeigte sich in Fällen ihrer Kooperation und Mitverantwortung für lokale Ordnungsaufgaben sowie als Vermittler zwischen Statthalterregiment und Provinzialbevölkerung. Doch auch dies bot keine Garantie gegen Ausschreitungen, Kompetenzanmaßungen und Aktionen der Selbsthilfe. Josephus überliefert hierfür ein bereites Panorama unterschiedlicher Fallbeispiele.2

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Schlußbetrachtung

Zusammengefaßt sind für die Ausübung der Strafgewalt auf provinzialer Ebene folgende Konstellationen überliefert: 1. Der Statthalter geht aus eigener Initiative gegen militante Aufstandsbewegungen vor und schlägt diese nieder. 2. Der Statthalter sieht sich mit spontanen Protestaktionen von bestimmten Bevölkerungsteilen konfrontiert und droht mit der Ausübung der Strafgewalt, falls diese nicht wieder abzögen, wobei die Unnachgiebigkeit der Provinzialen ihm nur die Möglichkeit läßt, von seiner Strafgewalt entweder Gebrauch zu machen oder selbst nachzugeben. 3. Schließlich kann sich zwischen der Aktion der Provinzialbevölkerung und der Reaktion der Statthalter (oder umgekehrt) die Provinzialelite einschalten, die dann ihrerseits in einer Grauzone zwischen der Mitverantwortung für Maßnahmen zur Ordnungssicherung und Selbsthilfeaktionen operiert. Die jeweiligen Kompetenzen waren rechtlich unbestimmt, deshalb störanfällig, und das informelle Kooperationsverhältnis drohte zu scheitern, wenn die gegenseitigen Erwartungshaltungen nicht zur Deckung gebracht werden konnten. Wenn zudem die Rücksichtnahme auf traditionale bzw. religiös verankerte Sitten sowie die Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen vom Herrschaftsstil und Charakter des Statthalters abhing, dabei die Art und Weise, Konsequenz sowie Berechenbarkeit der Strafgewaltspraxis ebenfalls daran gekoppelt war, so können die große Rechtsunsicherheit, die Gefahr von Kompetenzkollisionen und die allgemeine Neigung zur Selbsthilfe als ihre Folgeerscheinungen betrachtet werden. Fielen die Erwartungshaltungen zwischen Provinzialen und Statthalter völlig auseinander, drohte auch das Kooperationsverhältnis zwischen Provinzialelite und dem Vertreter Roms vollends zu scheitern, falls erstere nicht mehr ihre Vermittlungs- und Mäßigungsfunktion ausüben konnte bzw. wollte. Dann drohte die Provinzialordnung in eine Art anarchischen Bürgerkriegszustand überzugehen, sobald die Radikalisierung der Gemüter ein Ausmaß erreichte, das in eine Gewaltspirale mündete, bei der nicht mehr auszumachen war, ob die Strafgewalt des Statthalters der Anlaß oder die Folge delinquenten Verhaltens seitens der Provinzialen war. Josephus schildert diesen Zustand kurz vor Ausbruch des Jüdischen Krieges, vor allem unter der Statthalterschaft des Gessius Florus, die als Phase sich ständig steigernder chaotischer Zustände erscheint. Hier tritt die Ambivalenz einer Herrschaftspraxis, die auf einer diskretionären Wahrnehmung der Strafgewalt durch die Statthalter beruhte, besonders deutlich zu Tage: Im günstigsten Fall konnte die exemplarische Bestrafung von Rädelsführern die Durchsetzung der Autorität des Repräsentanten Roms gegenüber Selbsthilfeexzessen von Gruppen zumindest den Konsens mit der Führungsschicht gewährleisten, im ungünstigsten Fall machten unterschiedslose Willkürmaß2

Vgl. bes. Abschnitt V. 1. d).

Schlußbetrachtung

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nahmen mit der Brüskierung der gesamten Bevölkerung die Provinz letztlich unregierbar. Ingesamt lassen sich folgende Funktionen der Strafgewalt erkennen: die Unterdrückung von räuberischen Banden und militant-messianischen Bewegungen sowie die exemplarische Bestrafung ihrer Anführer; die Funktion eines Disziplinierungsmittels bei Protestversammlungen der Provinzialbevölkerung; die Vollstreckung von Urteilen bzw. Befehlen über Einzeltäter, die an den Statthalter ausgeliefert wurden; ferner diente die Strafgewalt der Wiederherstellung der Autorität des Statthalters, wenn er seine Amtsgewalt durch Selbsthilfeaktionen der Provinzialen in Frage gestellt sah; schließlich konnte die Strafgewalt auch zum reinen Willkürinstrument skrupelloser Gewaltherrschaft verkommen. Bisher wurden die Falltypen, die Beziehungskonstellation und die Funktionen der Strafgewalt unter vorwiegend herrschaftsstrukturellen Gesichtspunkten zusammengefaßt, die darlegen sollten, daß sämtliche angeführten Faktoren als Hinweise auf einen großen Handlungsspielraum für die statthalterliche Strafgewaltspraxis verstanden werden können. Wenn wir diesbezüglich die Frage aufgeworfen haben, wer alles auf den Ermessenspielraum des Statthalters in Judäa eingewirkt haben könnte, sind jedoch nicht nur die provinzinternen Akteure zu berücksichtigen. So hatte der judäische Statthalter bei Ausübung seiner Strafgewalt insbesondere die Stellung des syrischen Statthalters zu berücksichtigen. Dieser hatte einen der prestigeträchtigsten und wichtigsten Posten im römischen Reich inne, der so etwas wie eine Oberaufsicht und Gesamtverantwortung für den Nahen Osten mit sich brachte und Befugnisse einschloß, die über die Grenzen der von ihm verwalteten Provinz Syrien hinausreichten. Abgesehen davon, daß der judäische Statthalter in Krisenzeiten von seiner militärischen Unterstützung abhing, konnte der syrische Statthalter (zumindest zeitweise) auch Hohepriester ernennen, Steuerprivilegien erteilen und wurde mit der Ausführung kaiserlicher Befehle in Judäa beauftragt. Von besonderer Bedeutung war seine Berechtigung, Klagen judäischer Provinzialen entgegenzunehmen, die auch eine Anklage gegen den judäischen Statthalters selbst zum Inhalt haben konnten. Ging er diesen Anschuldigungen nach, so konnte der syrische den judäischen Statthalter suspendieren, vor das Kaisergericht bringen und selbst die Strafgerichtsbarkeit in der Provinz Judäa ausüben. Der judäische Statthalter hatte also bei Ausübung seiner Strafgewalt auch die Haltung des syrischen Statthalters, der eine Art intermediäre Kontrollinstanz darstellte, zu berücksichtigen, auch wenn dieser nicht persönlich anwesend war. Doch kann man auch hier aus dem überlieferten Material keineswegs ein rechtlich institutionalisiertes und durch festgelegte Kompetenzzuschreibungen hierarchisch geregeltes Verhältnis zwischen den beiden Statthaltern ableiten. Ohne Frage stand der syrische Statthalter in seiner Autorität und politischen

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Schlußbetrachtung

Bedeutung weit über dem judäischen Statthalter, doch spielten auch hier die jeweiligen konkreten Umstände, ihre persönlichen Beziehungen untereinander und diejenigen nach Rom eine maßgebliche Rolle. Auch die Aktionen des in Judäa interventionsberechtigten syrischen Legaten hingen wahrscheinlich eher von persönlichen Beziehungen und den allgemeinen politischen Verhältnissen ab, als daß seine Autorität von den Provinzialen in institutionalisierter Form gegen diejenige des Statthalters in ihrer Provinz einfach ausgespielt werden konnte. Die Petitionen der Provinzialen aus Judäa konnten nämlich auch Risiken mit sich bringen, wenn die Reaktion des syrischen Statthalters nicht absehbar war, z. B. wenn er auf ihre Klagen nicht einging und der judäische Statthalter darin dann um so mehr einen Ansporn sehen konnte, sich für die Beschwerden bei den Provinzialen auf seine Weise zu revanchieren. Schließlich hatte auch der Kaiserhof in Rom für die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt in Judäa Bedeutung. Grundsätzlich galt natürlich, daß der judäische Statthalter kaiserlichen Befehlen bedingungslosen Gehorsam zu leisten hatte. Sicherlich orientierte er sich bei seiner Amtsführung auch am allgemeinen Herrschaftsstil des Kaisers, dem gegenüber die ritterlichen Statthalter im besonderen Maße persönlich verpflichtet waren. Abgesehen davon konnte der judäische Statthalter unter normalen Umständen ein relativ selbständiges Regiment ausüben, d. h. insofern keine größeren Unruhen entstanden, die Steuerabgaben an den Fiskus erbracht wurden und keine politisch übergeordneten Interessen tangiert waren. Bestimmte Fälle jedoch, die sich in Judäa ereigneten, kamen bis zur höchsten Entscheidungsebene vor den Kaiser. Dabei handelte es sich um Fälle, wo eine bereits vom Kaiser getroffene Entscheidung und Anordnung auf großen Widerstand in der Provinzialbevölkerung stieß und revidiert werden sollte oder bei denen es sich um Konflikte zwischen zwei Volksgruppen handelte, die leicht eskalieren konnten. Entscheidend in Bezug auf die statthalterliche Strafgewalt ist die Frage, auf welche Weise die Provinzialen ihre Belange am kaiserlichen Hof vorbringen konnten. War ein Statthalter in Amt und Würden und seine Klientelbeziehung zum Kaiser gefestigt, so eröffneten die Klagen der Provinzialen wohl nur sehr beschränkte Möglichkeiten, sich den Anordnungen eines Statthalters zu widersetzen, es sei denn, sie hatten am kaiserlichen Hof mächtige Verbündete, die sich dort für ihre Interessen einsetzten. Briefe hatten wohl nicht die Wirkung wie Gesandtschaften, und letztere konnten kaum gegen den Willen des Statthalters nach Rom entsandt werden. Josephus’ Schilderungen, wie die kaiserlichen Urteile zustande kamen, vermitteln den Eindruck, daß sie hauptsächlich durch Günstlingsbeziehungen und Patronageverhältnisse beeinflußt wurden. Diese informell-persönlichen Beziehungsstrukturen galt es also vom judäischen Statthalter mit Blick auf den kaiserlichen Hof ebenfalls zu berücksichtigen,

Schlußbetrachtung

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wenn er in politisch brisanten Fällen in seiner Provinz von der Strafgewalt Gebrauch machte. Alles in allem zeigt sich, daß von einer präzisen verfahrenstechnischen Regelung der Kommunikation zwischen provinzialer Oberschicht, judäischem und syrischem Statthalter sowie dem Kaiserhof schwerlich die Rede sein kann. Die statthalterliche Strafgewalt verkörpert ein allgemeines Herrschaftsrecht, welches sich nicht durch generell-abstrakt zu fassende Kompetenzabgrenzungen bzw. -zuschreibungen hinreichend charakterisieren läßt, sondern erst in ihrer tatsächlichen Ausübung vor dem Hintergrund informell-persönlicher Machtverhältnisse in bestimmten Beziehungskonstellationen verständlich wird. Die Entscheidungen zur Anwendung der Strafgewalt sind dem persönlichen Ermessen des Statthalters anheimgestellt und eingebunden in die konkret herrschende Machtkonstellation. Daraus lassen sich kaum Gesetzmäßigkeiten für die statthalterliche Strafgewalt ableiten. Sie vermittelt nicht den Eindruck einer über Zeit und Raum stabilisierten, institutionalisierten und verfahrenstechnisch geregelten Rechtskompetenz. Soweit es aus dem Quellenbestand möglich war, haben wir am Beispiel der Statthalter in Judäa nachzuweisen versucht, daß der übergeordnete Maßstab der statthalterlichen Strafgewalt kein ausdifferenziertes allgemeingültiges bzw. gesatztes Recht war, sondern sich aus erfolgsorientierten allgemeinen Herrschaftsprinzipien im Interesse Roms und/oder den persönlichen Interessen des Statthalters selbst konstituierte, der auf eine unmittelbar-konkret vorgegebene Wirklichkeit nach eigenem Ermessen zu reagieren hatte, wobei er die Erwartungshaltungen der Provinzialelite, des syrischen Statthalters und des Kaisers in Roms mit einzukalkulieren hatte. Nachdem wir somit zu einer allgemeinen Bestimmung der statthalterlichen Strafgewalt in Einbettung in die Herrschaftsstrukturen gelangt sind, seien noch einige spezielle Punkte resümiert, die in der Untersuchung wiederholt aufgegriffen wurden: Gemeint ist zunächst das Verhältnis zwischen Strafgerichtsbarkeit und Koerzitionsgewalt, sodann die Funktionsweise des statthalterlichen Consiliums und schließlich die Effektivität des Provokations- bzw. Appellationsrechts für römische Bürger in den Provinzen. Diese Punkte ließen sich besonders an jenen Fällen erörtern, wo die Entscheidungsmotive des Statthalters bei Ausübung der Strafgewalt gegen Einzelpersonen im engeren Fallkontext deutlicher hervorgetreten sind, besonders an den neutestamentlich überlieferten Fällen von Jesus und Paulus. Außerdem war in diesem Zusammenhang der partielle Rückgriff auf die republikanische Zeit hilfreich, indem die aus Ciceros Verrinen überlieferten Fälle der Strafgewaltspraxis des Statthalters Verres in Sizilien in einem eigenen Kapitel dargestellt wurden. Die Wirkung des Provokationsrechts und der Appellation an den Kaiser konnte für Judäa nur im Rahmen der Überlieferung zum Apostel Paulus

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Schlußbetrachtung

behandelt werden. Die Interpretation der Apostelgeschichte führte hierbei zu einem ambivalenten Ergebnis: Zum einen vermittelte sich das Bild, daß die Erwähnung des römischen Bürgerrechts vor dem Jerusalemer Militärtribun unmittelbar zur Sistierung der Züchtigungsstrafe führte, in dieser Beziehung also die strikte Beachtung des Provokationsrechts suggeriert wird, daß aber die Appellation an den Kaiser nicht als Recht ausgelegt werden sollte, womit ein Bürger vor dem Statthalter ohne dessen Einverständnis einen Prozeß in Rom vor dem Kaisergericht verlangen konnte. Vielmehr schien die Wirkung der Appellation von der Einwilligung des Statthalters abzuhängen, der sich dazu erst einmal mit Mitgliedern aus seinem Gefolge in einem Consilium beriet. Der Grund dafür, daß der Appellation des Paulus schließlich stattgegeben wurde, resultierte weniger aus der Befolgung eines Gesetzes als aus einem politischen Kalkül des Statthalters: Festus konnte einen lästigen Fall loswerden, den schon sein Vorgänger verschleppt hatte und der zu einem Politikum geworden war. Wenn Paulus aus römischer Perspektive kein Kapitaldelikt nachgewiesen werden konnte und er folglich hätte freigelassen werden können, dies dann aber die Jerusalemer Priesterschaft – mit der sich der Statthalter gut stellen wollte – provoziert hätte, weil sie auf seine Hinrichtung aus war, so bot die Appellation an den Kaiser die günstige Gelegenheit und Rechtfertigung, das Urteil über Paulus ohne Ansehensverlust aus dem eigenen Verantwortungsbereich an eine unangreifbare Autorität zu verlagern. Der Fall des Paulus ist der einzige, in dem sich ein römischer Bürger mit der Strafgewalt eines Statthalter in Judäa konfrontiert sah, abgesehen von einer weiteren Episode, bei der von der Geltendmachung bzw. Respektierung des römischen Bürgerrechts aber keine Rede ist: Josephus erwähnt den Vorfall, daß der Statthalter Florus römische Ritter jüdischer Abstammung geißeln und kreuzigen ließ. Er stellt dies als bisher ungekannte Grausamkeit hin, die sich keiner seiner Vorgänger geleistet habe. Ob diese Würdenträger überhaupt die Chance zu einer Appellation bzw. Provokation hatten, erfahren wir nicht. Der Vorgang fällt in den Zeitraum, der als Willkürregiment und Gewaltherrschaft des letzten Statthalters vor Ausbruch des großen Aufstandes geschildert wird. Die geschilderten Umstände lassen auf eine exemplarische und summarische Strafaktion gegen die vornehmen Juden Jerusalems schließen. Der Skandal dieses Vorgangs bestand für Josephus darin, daß Florus seine Strafgewalt zur persönlichen Rache mißbrauchte. Denn er ließ gerade die Vornehmsten in Jerusalem dafür büßen, daß ihn eine jüdische Protestversammlung wegen seiner Geldgier zuvor verspottet hatte. Es bleibt Vermutung, ob Josephus den Skandal hier auch allein in der Art der Hinrichtung gesehen haben könnte, wenn die Kreuzigungsstrafe als grausamste Hinrichtungsart den Honoratioren normalerweise erspart blieb. Jedenfalls kann aus der Stelle nicht abgeleitet werden, daß die Statthalter

Schlußbetrachtung

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nicht befugt gewesen wären, Kapitalurteile über römische Bürger zu vollstrecken und dies dem Kaisergericht überlassen mußten. Womöglich gab ihnen bereits zu dieser Zeit das vom Kaiser verliehene ius gladii hierfür die grundsätzliche Berechtigung. Gleichwohl wurde in diesen Fällen nach der consuetudo wahrscheinlich größere Sorgfältigkeit, zumindest die Beratung mit einem Consilium vom Statthalter erwartet. Damit können wir auf die Punkte der Abgrenzbarkeit der statthalterlichen Gerichtsbarkeit von seiner Koerzitionsgewalt und die Funktion des statthalterlichen Consiliums überleiten. Es wurde darauf hingewiesen, warum die verfahrenstechnischen Regelungen der Geschworenengerichtshöfe in Rom nicht einfach auf den provinzialen Strafprozeß des Statthalters zu übertragen sind. Eine Orientierung an stadtrömischen Gerichtspraktiken kann nicht ausgeschlossen werden; es scheint aber unangemessen, die Verfahrensweisen der Statthalter vorweg auf bestimmte verfahrenstechnische Abläufe stadtrömischer Rechtspraxis festlegen zu wollen, zumal die Quaestionenprozesse zur Zeit des Frühprinzipats auch an Bedeutung verloren hatten. Wolfgang Kunkel sprach einmal davon, daß der krasse Gegensatz zwischen den formalisierten Verfahren der ,ordentlichen Strafgerichte‘ in Rom und die ,absolute Ermessenfreiheit‘ römischer Magistrate eine Art „juristische Schizophrenie“ dargestellt haben würde.3 Dem ließe sich entgegenhalten, welche Schizophrenie erst den Statthalter befallen haben müßte, wenn er sich in einer Person einerseits nach den formalisierten Verfahren der quaestiones perpetuae in Rom gerichtet hätte, die Provinz aber nach herrschaftspragmatischen Gesichtspunkten im Interesse Roms zu regieren hatte. Außerdem entstanden die Geschworenengerichtshöfe in Rom weniger aus dem Bedürfnis, gemeine Verbrecher zu bestrafen, sondern dienten als Mittel der Disziplinierung innerhalb der Nobilität; die statthalterliche Strafgewalt stand hingegen in der Tradition der formfreieren „magistratischen Strafjustiz“, die den obrigkeitlichen bzw. herrschaftlichen Charakter weit stärker hervortreten läßt. Geschworenengerichte waren geeignet, Vergehen unter annähernd Ranggleichen zu ahnden, so daß auch die Verfahren eher auf die Regeln des politischen und gesellschaftlichen Spiels innerhalb der herrschenden römischen Familien in republikanischer Zeit gemünzt waren, d. h. eine formale Symmetrie bzw. „Waffengleichheit“ unter den Parteien herzustellen versuchten, über deren „Recht“ dann eine Auswahl von „Standesgenossen“ abstimmte. Die statthalterliche Strafgewaltspraxis ist dagegen weit asymmetrischer strukturiert, da die herrschaftliche Stellung des Statthalters innerhalb der Provinz während seiner Amtszeit keine unter Gleichen war und seine Strafgewalt als Ausweis der obrigkeitlichen Stellung des Stellvertreters Roms im provinzialen Herrschaftsgefüge galt. Freilich ist es nicht aus3

Vgl. Kunkel (1974a), S. 15.

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Schlußbetrachtung

geschlossen, daß ein Statthalter auch innerhalb der Provinz den Prozeß nach Art einer quaestio in besonderen Fällen durchführen konnte. In den meisten Fällen genügte es wahrscheinlich, die Entscheidung über die Beratung mit einem Consilium auf eine breitere Grundlagen zu stellen und dadurch abzusichern, wobei die Art und Weise der Heranziehung eines Consiliums je nach provinzialen Traditionen, Lage des Falls und Ermessen des Statthalters ebenfalls variieren konnte (Größe, Mitgliedschaft). Jedoch halte ich es für falsch, diese Möglichkeiten in Festlegung auf bestimmte Verfahren und Normen vorweg verengen zu wollen. Im Rahmen der herrschaftsstrukturellen Bedingungen erscheint ein breiteres Spektrum möglicher Verfahrensweisen, mittels derer der Statthalter gegen Delinquenten vorgehen konnte, besser zur Bewerkstellung statthalterlicher Aufgaben geeignet. Je weniger sich nun die Ausübung der statthalterlichen Strafgewalt auf bestimmte formale Verfahrensweisen festlegen läßt, desto schwieriger gestaltet sich die Abgrenzung von der Ausübung der Koerzitionsgewalt. Aus der Überprüfung der gängigen Abgrenzungskriterien am Quellenmaterial ergab sich, daß eine formale Trennung in zwei grundsätzlich geschiedene Sphären der Strafgewaltpraxis kaum möglich ist. Es ist daher plausibler, von einem fließenden Kontinuum diverser Strafpraktiken auszugehen. Sowohl die cognitio als auch die coercitio fanden in der Öffentlichkeit statt. Der Hinweis auf den „Richterstuhl“ (bema) in Cäsarea oder Jerusalem reicht als Kriterium für ein reguläres Gerichtsverfahren nicht aus, da es sich hier m. E. um ein allgemeines Herrschaftssymbol handelt, von dem aus der Statthalter in unterschiedlichen Kontexten mit der Provinzialbevölkerung kommunizierte. Josephus schildert mehrere Situationen, wo der Statthalter auf dem bema saß und sich mit den Provinzialen, ihren Wünsche, Protesten und Klagen konfrontiert sah, ihnen Befehle gab, zu ihrer Erfüllung mit der Strafgewalt drohte und sie gegebenenfalls auch ausübte, ohne daß dabei irgendein „reguläres“ Gerichtsverfahren in vorgeblich formalisierten Bahnen eines Strafprozesses erkennbar wäre. Besser taugt schon das Argument, daß einem Strafprozeß irgendeine Form der Anzeige bzw. Anklage vorausgehen mußte, dann eine (peinliche) Befragung des Beklagten, eventuell ein Verhör von Zeugen sowie in manchen Fällen eine anschließende Beratung mit einem Consilium stattfand, bis schließlich der Statthalter das Urteil sprach. Sicherlich läßt sich darin das Grundmuster des statthalterlichen Strafprozesses erkennen. Es sollte daraus aber keinesfalls geschlossen werden, daß – wenn eines dieser Merkmale fehlte – es sich nicht um einen Strafprozeß gehandelt haben kann, oder wenn eines dieser Merkmale in den Quellen auftaucht, es nicht auch für die Ausübung der Koerzitionsgewalt eine Rolle gespielt haben könnte. Nur am jeweils äußeren Ende einer Skala an Möglichkeiten der statthalterlichen Strafgewaltspraxis, d. h. wenn entweder möglichst viele oder wenige dieser

Schlußbetrachtung

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Merkmale auftreten, kann mit relativer Sicherheit eine Abgrenzung vorgenommen werden. Ihre Praxisrelevanz für die betroffenen Zeitgenossen kann dessen ungeachtet angezweifelt werden, da sie dann von den Quellen auch stärker betont worden wäre. Es ist deshalb gar nicht notwendig, die Feststellung von Peter Garnsey, die Unterscheidung zwischen imperium und iurisdictio sei eine Erfindung der späteren Juristen im Dienste der sich ausbildenden Bürokratie,4 auf das ius gladii, die cognitio (extra ordinem) und die coercitio der Provinzgouverneure zu übertragen. Aber selbst wenn man die Unterscheidung beibehält, spricht gegen die formale Dichotomisierung in zwei separate Sphären der Strafgewaltspraxis schon die Tatsache, daß Gerichtsbarkeit und Koerzitionsgewalt fließend ineinander übergehen konnten: etwa wenn der Statthalter während eines Strafprozesses aufgrund eines Geständnisses, Schweigens oder halsstarrigen Verhaltens den Prozeß abbrach und ohne formales Strafurteil einen Hinrichtungsbefehl kraft Koerzitionsgewalt erteilte, oder eine Koerzitionsmaßnahme (z. B. Festnahme, Fesselung, Züchtigung, Einkerkerung) in eine Gerichtsverhandlung einmünden ließ. Schließlich ist noch zu erwägen, daß der Statthalter die Prozeduren je nach politischer Brisanz unter Berücksichtigung des sozialen und rechtlichen Status der Beteiligten sowie in Anpassung an die jeweilige Situation variieren konnte und hierbei wiederum viel von seinem persönlichen Herrschaftsstil abhing. Deshalb ist ein Variantenmodell zur Analyse und Beschreibung der statthalterlichen Strafgewalt besser geeignet als ein Dichotomisierungsmodell zwischen Strafgerichtsbarkeit und Koerzitionsgewalt. Dies konnte besonders anhand der vier Evangelienberichte zum „Prozeß“ Jesu expliziert werden. Wolfgang Kunkel hat versucht, die Unterscheidung zwischen Koerzition und Strafgerichtsbarkeit über das Kriterium der Mitwirkung eines Consiliums zu retten. Besonders in diesem Zusammenhang war der Rekurs auf Ciceros Verrinen unumgänglich. Kunkel wollte nachweisen, daß das Consilium nicht nur konsultativ an der Urteilsfindung des Statthalters in Kapitalstraffällen mitwirkte, sondern ein bindendes Votum nach Art der Geschworenengerichte abgab. Diesbezüglich konnte zweierlei gezeigt werden: Zum einen, daß diese Art der Mitwirkung des Consiliums eine mögliche Option darstellte, jedoch keinesfalls verallgemeinert werden sollte; zum anderen, daß selbst wenn Kunkels These richtig wäre, das Consilium keine formale Garantie für größere Verfahrens- und Rechtssicherheit im Hinblick auf die Unparteilichkeit eines Urteils garantierte, sondern im Gegenteil für unterschiedliche Formen der Instrumentalisierbarkeit und informellen Manipulation offen war. Auch für die Heranziehung eines Consiliums durch den Statthalter ist es besser, ein Variantenmodell zugrunde zu legen, was an4

Vgl. Garnsey (1969), S. 59 f.

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Schlußbetrachtung

hand der Kasuistik der Verrinen aufgezeigt werden konnte. Grundsätzlich war das Consilium im Vorfeld autoritärer Entscheidungen im römischen Leben ein so verbreitetes Phänomen (wie Kunkel selbst durch mehrere Abhandlungen gezeigt hat)5, daß sich die Frage stellt, weshalb ein Consilium nur im Rahmen der Strafgerichtsbarkeit, nicht aber auch im Vorfeld einer Koerzitionsmaßnahme eine Rolle gespielt haben sollte. Wenngleich dies noch einmal ausführlicher an anderem Quellenmaterial zu überprüfen wäre, so konnte immerhin an einem Fall aus den Verrinen gezeigt werden, daß die Informationen und die Begrifflichkeit hier kaum eindeutig genug sind, um ein Consilium vor Ausübung der Koerzitionsgewalt auszuschließen. Es erscheint mir jedenfalls nicht unrealistisch, daß der allgemeine Beratungsbedarf mittels eines wie auch immer gearteten Consiliums vor hoheitlichen Entscheidungen eines Statthalters größer sein konnte als allein für die Situationen regulärer Strafprozesse. In den Quellen zu Judäa im behandelten Zeitraum wird ein Consilium des Statthalters nur in zwei Fällen ausdrücklich erwähnt: einmal im Fall des Paulus nach seiner Appellation an den Kaiser und ein anderes Mal, als der Statthalter Cumanus einen seiner Soldaten wegen frevelhaften Verhaltens, das heftige Proteste unter den Juden hervorgerufen hatte, enthaupten ließ. Während man bei Paulus von einer Gerichtssituation ausgehen kann, läßt der Fall der Exekution des Soldaten mehrere Möglichkeiten zu, zumal es sich bei einem Angehörigen der Auxiliartruppen keineswegs um einen römischen Bürger gehandelt haben mußte. Wir wissen einfach nicht, ob er den Soldaten nach einem Prozeß verurteilte, eine Art militärische Standgerichtsbarkeit ausübte oder ihn schlicht kraft Koerzitionsgewalt hinrichten ließ. Beide Fälle besagen wenig über den genauen Ablauf der Beratung mit einem Consilium. Der Statthalter beriet sich jeweils mit Mitgliedern aus seinem persönlichen Gefolge (cohors amicorum), bevor er eine Entscheidung traf. Im Fall des Paulus hatte sie kein Strafurteil zur Folge, sondern eben nur den Überstellungsbeschluß an das Kaisergericht. Abschließend seien noch einige allgemeine Überlegungen angestellt, welche Schlußfolgerungen die Kasuistik der statthalterlichen Strafgewaltspraxis auf ihren Rechtscharakter zuläßt. Dort, wo sich der Statthalter selbst zur Norm der Ausübung von Strafgewalt machen kann, charakterisiert sich die Strafgewaltspraxis dadurch, daß Recht noch in starkem Maße informellen Einflußfaktoren unterliegt und partiell in kognitive Strukturen eingebettet ist, d. h. im Rahmen von Aushandlungs- und Lernprozessen in Ausrichtung an allgemeine Herrschaftserfahrung. Dabei liegt bei der Ausübung von 5 Oder in den Worten Symes (2003), S. 421: „Es war feste Gewohnheit eines jeden Römers, sich vor wichtigen Entscheidungen mit anderen zu beraten, ob er nun als Vater, als Amtsträger oder als General zu handeln hatte.“

Schlußbetrachtung

361

Strafgewalt zwischen Straftat und Rechtsfolge ein flexibler Ermessenspielraum, auf welchen sich (aus moderner Sicht scheinbar) außerrechtliche Motive, Interessenlagen und Abwägungsfaktoren auswirken können. Die Folge ist, daß Straftat und Rechtsfolge einerseits aufs engste zusammengezogen werden können, wobei die Strafgewalt den Charakter einer Art Standgerichtsbarkeit aufweist, andererseits aber Straftat und Rechtsfolge auch aufs äußerste – etwa über die Verschleppung des Falls – auseinandergezogen werden können. Im römischen Selbstverständnis des Richtens und Strafens in der Provinz, das auf den Körper, den Kopf, die Entehrung des Delinquenten zielte, handelte es sich noch nicht um einen von der Herrschaft ausdifferenzierten Bereich an Rechtspraktiken. Es ist noch nicht einmal ein abstrakter Spezialistendiskurs zur Kodierung rechtmäßigen oder rechtswidrigen Strafens erkennbar, wenngleich sich erste Ansätze in den späteren Juristenexzerpten finden. Was die Strafpraxis, ihre Bedeutung und ihren Stellenwert anbetrifft, so gab es sicherlich praxisrelevante Unterschiede, ohne daß deren Normierung notwendig gewesen wäre: den Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie, d. h. zwischen dem Herrschaftszentrum der Urbs, des italischen Umlandes, der verschiedenen Provinzen, die selbst wiederum durch ein heterogenes Geflecht sozialer und rechtlicher Einheiten (insbesondere an Städten) mit unterschiedlichem Status durchzogen waren. Ferner gab es den Unterschied der beteiligten bzw. betroffenen Personen nach ihrem Status, ihrem gesellschaftlichen und politischen Ansehen, ihren persönlichen Netzwerken, den persönlichen Freund- und Feindschaftsverhältnissen und ihren Patron-Klient-Beziehungen. Schließlich gab es die persönlichen Unterschiede des Reichtums und damit der Fähigkeit, Einfluß auszuüben, einflußreiche Leute zu bestechen oder sich einfach nur einen rhetorisch geschulten Prozeßvertreter leisten zu können. Reichtum von Provinzialen brachte aber nicht nur Vorteile mit sich, z. B. wenn er die erpresserische „Gier“ eines Statthalters auf sich zog, der seine Strafgewalt dazu mißbrauchen konnte, wohlhabende Provinzialen zu verfolgen, um sie aus seiner Gewalt freikaufen zu lassen, Bestechungsgelder entgegenzunehmen oder ihre Güter zu konfiszieren. Alles in allem scheint das Feld der Strafpraktiken durchzogen von Kraftfeldern anderer sozialer und politischer Praktiken, so daß es noch keinen selbstständigen Bereich bildete, der als funktional ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem des Rechts verstanden werden könnte. Zumindest in den unruhigen Provinzen war die Strafgewalt noch ganz in das Funktionsfeld der Herrschaft eingebettet. Dort zeigen sich noch die Spuren seiner Genese, wenn die Berechtigung zum Richten, Urteilen und Töten noch nicht das Maß an Legitimität der Okkupationsmacht aufwies, daß es als unangefochten legitime und autonome Sphäre des Rechts unab-

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Schlußbetrachtung

hängig vom Aspekt der Herrschaft hätte wahrgenommen und durchgesetzt werden können. Hier besteht auch der Zusammenhang zwischen Kontrollmöglichkeiten, Sicherungsressourcen und Spielregeln der Mächtigen sowie der Härte, Symbolhaftigkeit, und Professionalisierung in der Durchführung des Strafens, kurz: hinsichtlich der historisch abweichenden Rationalität in der Verfolgung von Delinquenz. Herrschen und Strafen bilden stets und zu allen Zeiten einen untrennbaren Komplex von Praktiken sowie Denk- und Deutungsweisen, jedoch in den unterschiedlichen Formen ihrer je eigenen Grundvoraussetzungen an Möglichkeiten der Überwachung, Verhinderung, Vorbeugung und Verfolgung von Delinquenz. Die epochenspezifische Rationalität der Strafpraktiken ist folglich an die Intensivierungs- und Extensivierungspotentiale der Durchsetzung von als verbindlich geltenden Normen und den Möglichkeiten der Bildung einer Trägerschicht mit dem Anspruch auf Anwendung legitimer Gewaltsamkeit gebunden. Entscheidend ist der Punkt, an dem sich nach einem wechselhaften und langandauernden Prozeß die Gewöhnung einstellt, daß diese Trägerschichten, ihre Institutionen, Wertvorstellungen und Herrschaftspraktiken als selbstverständlich und unhinterfragt hingenommen werden, folglich als legitim gelten und keine Veränderung über, sondern allenfalls in den Verhältnissen angestrebt wird. In Judäa war dies im zweiten Drittel des ersten Jahrhunderts nicht der Fall; wahrscheinlich trafen hier auch religionsfundierte Vorstellungswelten aufeinander, die nicht mehr außermilitärisch auf das römische Herrschaftsinteresse ausgerichtet werden konnten. Die Folge war der große Aufstand, den Josephus als den ,Jüdischen Krieg‘ beschrieben hat und der mit der Vernichtung des jüdischen „Tempelstaates“ durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. endete.

Annex: Liste der Fälle bei Josephus (zu Kapitel 5)1 Fall

Statthalter

Quelle

Feldzeichen (6)

Pilatus

AJ 18,55–59; BJ 2,169–174

Aquäduktbau (7)

Pilatus

AJ 18,60–62; BJ 2,175–177

Berg-Gerazim (1) (16)

Pilatus, Vitellius (syr.)

AJ 18,85–89

Gaius-Büste (23)

Petronius (syr.)

AJ 18,261–307; BJ 2,184–203

Agrippa-Schmähung (20)

Fadus

AJ 19,356–366

Paräa vs. Philadelphia (12)

Fadus

AJ 20,2–4

Räuber Tholomäus (4)

Fadus

AJ 20,5

Priesterornat (19)

Fadus, Longinus (syr.)

AJ 20,6–9

Pseudoprophet Theudas (2)

Fadus

AJ 20,97–99

Entblößter Wachsoldat (8)

Cumanus

AJ 20,106–112; BJ 2,224–227

Raubüberfall auf Stephanus (10) Cumanus

AJ 20,113–114; BJ 2,228–230

Soldat schändet Thorarolle (9)

AJ 20,115–117; BJ 2,230–231

Cumanus

Juden vs. Samaritaner (14) (17) Cumanus, Quadratus (syr.) AJ 20,118–136; BJ 2,232–245 (22) AJ 20,160–161; BJ 2,253

Eleazar u. a. Räuber (5)

Felix

Ägyptischer Pseudoprophet (3)

Felix

AJ 20,161–171; BJ 2,261–263

Juden vs. Syrer/Griechen in Cäsarea (15a) (20) (21a/b)

Felix, Festus, Florus

AJ 20,173–178; 183–184;

BJ 2,266–270; 284–292

Hohepriester verurteilt Jakobus Albinus u. a. (13)

AJ 20,197–203

Protest gegen Florus (18)

BJ 2,280–283

Florus, Gallus (syr.)

Hinrichtung von Würdenträgern Florus (15b)

BJ 2,294–308

Unglücksprophet Jesus (11)

BJ 6,300–305

Albinus

1 Die Liste folgt der Chronologie der Josephusdarstellung. Die Nummern in den runden Klammern der ersten Spalte verweisen auf die Fallnummern im Text dieser Arbeit (Kap. 5). In der zweiten Spalte hat der Name des judäischen Statthalters keinen Zusatz, beim syrischen Statthalter wurde (syr.) angehängt.

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Sachregister ab epistulis Graecis 235 Abstimmung 44, 106, 107, 167, 259 Akklamation 271, 272, 284, 290 ampliatio 45, 46, 106, 107, 108 Amtsbezeichnung, Titulatur 27, 140, 142, 150, 151, 152, 154, 163, 186, 217, 247, 267 Amtsführung, Herrschaftsstil 39, 51, 67, 88, 89, 91, 108, 111, 131, 157, 160, 179, 208, 214, 235, 321, 349, 352, 354, 359 Amtsgewalt, s. a. imperium 23, 31, 32, 33 Amtsmißbrauch 24, 34, 39, 58, 68, 87, 99, 120, 226 Anklage/Ankläger 15, 35, 52, 73, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 91, 92, 93, 94, 99, 100, 105, 106, 109, 111, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 134, 136, 137, 160, 185, 186, 196, 197, 199, 204, 206, 207, 208, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 224, 225, 226, 227, 228, 232, 235, 257, 258, 259, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 274, 279, 280, 281, 282, 285, 286, 288, 289, 298, 310, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 322, 323, 324, 325, 326, 328, 329, 331, 332, 334, 335, 336, 337, 338, 341, 343, 353, 354, 358, 388 Anzeige 36, 92, 93, 146, 282, 288, 291, 302, 303, 358 appellatio 58, 59, 60, 140, 212, 292, 330 Appellationsrecht, s. a. appellatio 52, 58, 59, 187, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 337, 340, 341, 355, 356, 360, 366, 389 Aquädukt 191

Arbeitslosigkeit 178 auctoritas 58, 70, 87 Auslieferung 90, 197, 210, 213, 214, 247, 256, 259, 260, 261, 266, 268, 279, 285, 288, 322, 323 Autonomie 143, 145, 150, 158, 370, 377 Auxiliartruppen 65, 135, 148, 160, 224, 232, 234, 236, 239, 254, 360 Baupolitik, Baumaßnahmen 137, 155, 177, 178, 191, 209 Begnadigung 261, 264, 269, 271, 272, 278, 279, 280, 281, 284, 289, 290, 381 Bestechung 75, 78, 114, 158, 203, 207, 208, 209, 219, 220, 223, 224, 235, 280, 321, 331, 361 boule 166, 167, 216, 349 Bürgerrecht 15, 40, 43, 55, 57, 59, 60, 75, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 110, 119, 124, 212, 213, 233, 234, 235, 254, 265, 280, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 314, 322, 326, 331, 332, 343, 344, 356 – Bürgerrechtsnachweis 93, 95, 96, 97, 98, 100, 308 christianoi 249 Civis Romanus sum 93, 96, 371, 377 coercitio 17, 22, 31, 32, 35, 88, 90, 195, 287, 288, 358, 359 cognitio 17, 24, 35, 42, 199, 275, 282, 284, 287, 288, 290, 339, 358, 359, 369 cognitio extra ordinem 24, 275, 282, 287, 359, 369 cohors amicorum 78, 110, 193, 360

Sachregister confessus (pro iudicato est) 265, 284 Consilium 17, 31, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 65, 72, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 85, 88, 90, 91, 92, 99, 100, 101, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 117, 118, 119, 135, 160, 168, 169, 193, 195, 196, 198, 199, 215, 244, 260, 269, 286, 310, 311, 315, 324, 325, 326, 330, 339, 350, 355, 356, 357, 358, 359, 360, 370, 372, 379, 388 – consilium principis 244 constitutio Atoniniana 59 consuetudo 69, 288, 335, 336, 357 contra disciplinam publicam 307 contumacia 284 conventus 49, 76, 89, 196, 222 de consilii sententia 44, 45, 46, 78, 85, 89, 109, 110 de plano 196, 282, 284, 287, 389 de rationibus 159 delatio nominis 265, 288 Delikt, Straftatbestand 23, 24, 31, 32, 37, 71, 73, 182, 248, 258, 265, 318, 356 Denunziation 35, 268 dignitas 70, 80, 87, 116 diplomata civitatis Romanae 308, 309 equites 160 Ermessen 14, 26, 35, 36, 43, 50, 51, 84, 86, 88, 98, 111, 113, 120, 143, 145, 148, 181, 187, 189, 194, 199, 207, 244, 253, 270, 283, 287, 289, 308, 332, 343, 345, 350, 351, 353, 355, 358 Essener 123, 128, 177, 253, 255, 262 exempla 21, 69, 111 Fachkompetenz 160, 161, 245 forum delicti 275, 316 forum domicili 275, 315 Freiheit – Juden 204, 205

391

– republikanische Freiheit, s. a. libertas 23, 56, 94, 97, 100 Freispruch 36, 45, 75, 76, 77, 80, 104, 200, 271, 330 Galiläer 173, 203, 204, 205, 275, 280, 281 Gefängnis(haft) 32, 54, 89, 90, 92, 109, 117, 119, 129, 183, 185, 208, 209, 213, 214, 233, 272, 298, 303, 309, 312, 313, 314, 315, 320, 321, 322, 335, 339, 341, 359, 372 – Beugehaft 90 – Exekutionshaft 271 – Freikauf 92, 361 – Freilassung 280, 289, 290, 321, 341 – Strafhaft 90, 271 – Untersuchungshaft 303 Geiselstellung 230, 231 Gerichtsbarkeit, Strafgerichtsbarkeit 25, 32, 40, 118, 196, 201, 271 – örtliche 37, 113, 199 Gerichtstag, s. a. conventus 75, 76, 78, 79, 89, 92, 104, 113, 115, 118, 196, 199, 261, 279, 324 gerousia 166, 349 Gesandtschaft 112, 135, 137, 138, 190, 202, 213, 217, 218, 225, 226, 228, 229, 231, 232, 234, 235, 243, 332, 354 Geschworenengerichtshöfe, s. a. quaestiones 22, 23, 35, 41, 45, 52, 58, 73, 106, 119, 287, 326, 357 Geständnis, s. a. confessus 41, 43, 44, 265, 269, 272, 279, 283, 285, 289, 290 Gotteslästerung 193, 258, 326 Hellenisierung 18, 177, 233, 251, 262 Herrenrecht 16, 37, 38, 40, 116, 119, 347 Herrschaft 13, 18, 22, 40, 51, 52, 64, 65, 67, 68, 69, 70, 71, 101, 111, 116, 119, 121, 131, 162, 170, 243, 262,

392

Sachregister

289, 333, 345, 348, 349, 350, 361 Hierarchie 27, 105, 140, 142, 348, Hohepriester 15, 129, 131, 138, 143, 144, 159, 162, 163, 164, 167, 168, 169, 170, 177, 199, 202, 206, 207, 208, 210, 213, 224, 229, 247, 254, 255, 256, 258, 259, 260, 261, 264, 267, 273, 274, 276, 277, 278, 280, 304, 309, 310, 316, 319, 323, 338, 342, 349, 353, 363 – archiereis 163, 167, 309 – Ernennung, Absetzung 336 – Hohepriesterornat 162, 224, 231, 232

355, 353 139, 166, 201, 222, 257, 269, 298, 335,

229,

imperium 17, 22, 23, 54, 58, 59, 64, 141, 149, 150, 185, 359 isopoliteia 235, 297 iurisdictio 17, 64, 359 ius gladii 59, 60, 139, 141, 142, 150, 185, 213, 245, 247, 258, 331, 357, 359, 379 ius publicum 22 Juden in Rom 135, 136 Judenfeindlichkeit 130, 136, 158, 161, 248, 389 Juristen 26, 60, 64, 197, 318, 359, 361 Justizirrtum 288 Kaisergericht 36, 37, 43, 58, 201, 218, 222, 223, 224, 227, 229, 234, 236, 243, 245, 330, 331, 334, 340, 353, 354, 356, 357, 360, 367, 378 Kaiserkult 143, 189, 191, 239, 240 Koerzitionsgewalt, s. a. coercitio 15, 17, 22, 26, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 40, 41, 42, 43, 46, 47, 65, 72, 86, 88, 90, 92, 99, 100, 109, 117, 118, 120, 195, 205, 260, 272, 274, 284, 287, 288, 346, 347, 355, 357, 358, 360 koinon 167, 349

Kollekte 300, 321 Kommunikation(smittel) 15, 50, 65, 83, 85, 160, 202, 227, 228, 230, 232, 241, 242, 243, 311, 313, 315, 335, 338, 339, 355, 365, 371 – libellus 227, 228, 309 – litterae 228 – rescriptum 230 Kompetenzanmaßung 201, 202, 206, 213, 215 Kompetenzbereich 25, 27, 67, 100, 140, 141, 142, 152, 165, 169, 170, 200, 201, 202, 204, 205, 207, 216, 220, 223, 248, 265, 274, 346, 350, 352, 355 Konfiskation 54, 80, 83, 147, 234, 361 Konflikt 15, 22, 52, 64, 70, 81, 129, 159, 172, 188, 205, 206, 207, 209, 210, 211, 212, 222, 224, 231, 233, 234, 235, 238, 243, 245, 249, 277, 294, 296, 297, 298, 299, 301, 306, 322, 323, 334, 342, 343, 348, 354 Königsanspruch 186, 261, 264, 265, 268, 276, 279, 289 Kooperation, Kollaboration 15, 19, 65, 66, 93, 99, 100, 113, 162, 179, 197, 206, 212, 216, 262, 352 Korruption, s. a. Bestechung 24, 74, 115, 207, 211, 298 Kreuzesinschrift 186, 263, 279, 285, 291 Kreuzigung 57, 93, 94, 95, 98, 99, 100, 181, 211, 213, 214, 221, 222, 223, 246, 251, 252, 257, 272, 274, 276, 277, 279, 281, 284, 285, 286, 290, 291, 292, 341, 356, 375, 378 Kriegsrecht 34, 43, 216 latrones 170, 175, 176, 197 Legitimität, Legitimation 13, 18, 79, 112, 113, 114, 124, 164, 174, 262, 289, 361 lestai 170, 171, 172, 176 lex – Acilia 55, 106

Sachregister – – – – – – – – – – –

Calpurnia 24 Cornelia 24, 43, 49 Cornelia de sicariis 43 Cornelia iudicaria 24 Glaucia 55 Hieronica 81 Iulia di vi publica 308 Iulia maiestatis 265 Plautia 24 Pompeia 49 Porcia 45, 53, 54, 55, 94, 97, 104, 306 – provinciae 47, 48, 49, 50 – Rupilia 49, 80, 81 – Sempronia 45, 56, 94, 97, 98 – Servlia 55 – Valeria 53, 54, 306 Lynchjustiz 67, 165, 271, 302 maiestas 24, 34, 73, 118, 182, 265, 284, 285 mandatum 140, 145 Manifester Täter 41, 42, 44, 271 Messianismus 126, 145, 171, 176, 177, 181, 246, 256, 258, 261, 262, 291 Militär(gewalt), s. a. Auxiliartruppen 14, 25, 46, 59, 65, 67, 74, 89, 104, 124, 126, 144, 154, 160, 175, 178, 181, 183, 184, 188, 189, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 198, 204, 205, 210, 213, 215, 230, 231, 232, 233, 234, 236, 254, 255, 274, 277, 302, 303, 308, 309, 311, 312, 314, 320, 353, 360, 363 Öffentliche Meinung 67, 104, 108 Öffentliche Ordnung, Sicherheit 14, 23, 24, 37, 40, 67, 89, 90, 101, 111, 136, 146, 147, 148, 156, 182, 184, 194, 208, 214, 215, 216, 242, 254, 260, 261, 273, 294, 295, 301, 302, 307, 311, 312, 314, 317, 318, 320, 331, 339, 347, 348, 351 Opferrituale 191 ordo iudiciorum publicorum 24

393

Parteilichkeit 50, 78, 110, 115, 129, 131, 205, 207, 220, 244, 325, 359 Passahfest 192, 225, 226, 229, 254, 261, 264, 269, 270, 278, 279, 284, 301, 381 Patronage 67, 70, 86, 87, 111, 112, 115, 161, 178, 228, 296, 321, 332, 334, 350, 354, 361, 368, 384 perduellio 34, 118, 182, 265 Pharisäer 123, 128, 139, 145, 164, 166, 167, 177, 202, 253, 254, 299, 301, 312, 318, 319, 337, 338, 342 Plünderung 196, 211, 219, 233, 234 Präzedenzfälle, s. a. exempla 86, 103, 277 pro tribunali 196, 282, 287, 389 Prophetie, s. a. Pseudopropheten 124, 185, 258, 291 provincia 21, 48, 51, 84, 86, 91, 148, 149, 175, 223, 227, 316 Provinzialherrschaft 14, 18, 25, 27, 47, 51, 66, 86, 87, 92, 111, 134, 140, 143, 152, 157, 181, 184, 197, 238, 243, 315, 319, 322, 333, 342, 343, 347, 349, 351 provocatio 23, 32, 52, 53, 54, 56, 57, 58, 59, 60, 95, 97, 98, 140, 212, 292, 374 Provokationsrecht, s. a. provocatio, appellatio 33, 34, 37, 41, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 92, 94, 95, 97, 98, 99, 140, 306, 307, 309, 328, 355 Prozeßverfahren – Abwesenheit des Angeklagten 80, 82, 83, 84, 85, 86, 119 – Öffentlichkeit 35, 286, 287 – Quaestionsverfahren 24, 265, 288, 326 – Terminierung 72, 83, 316 – Überstellung (nach Rom) 52, 59, 92, 98, 99, 187, 213, 214, 217, 223, 228, 235, 298, 329, 330, 332, 333, 334, 338, 340, 343 – Verschleppung 72, 298, 316, 320, 321, 343, 361 – Vertagung 77, 135, 220, 320

394

Sachregister

– Wiederaufnahme 36 – Zweiteilung 283, 284 Pseudopropheten 182, 184, 187, 194, 199, 213, 253, 258, 277 quaestio 35, 42, 77, 79, 287, 325, 326, 358 quaestiones 23, 24, 37, 41, 43, 55, 57, 357 – extraordinariae 23, 41, 43 – perpetuae 23, 24, 37, 55, 357 Räuber, s. a. latrones, lestai 15, 43, 127, 170, 171, 172, 173, 175, 176, 181, 185, 186, 187, 188, 194, 196, 197, 205, 207, 208, 212, 213, 215, 241, 242, 243, 253, 255, 262, 272, 291, 353, 363, 384, 385 Rechtsauffassung 14, 39, 40, 206, 207, 215, 239, 336, 338, 344, 348, 349 Rechtsbegriffe 17, 26, 27, 29, 33, 48, 61, 90, 118 Rechtsbeistand (Anwalt) 36, 72, 77, 84, 87, 105, 106 Rechtsdogmatik 13, 18, 25, 29, 117, 307 Rechtspraxis 17, 18, 25, 347 Rechtsschranken 23, 30, 31, 33, 35, 36, 37, 42, 56, 72, 85, 96, 100 Rechtssicherheit 101, 175, 216, 352, 359 Rechtssystem 22, 26, 27, 28, 29, 31, 36, 38, 51, 117, 131, 146, 347 Rechtsvereinheitlichung 40, 47, 51, 62, 63 Rechtswirklichkeit 17, 26, 106, 117, 169, 345 Repetundenprozeß 24, 55, 57, 72, 73, 79, 92, 97, 98, 99, 101, 112, 114, 115, 120, 195, 223, 371 rex socius et amicus populi Romani 144, 145 Richterstuhl 83, 89, 190, 191, 195, 201, 210, 211, 212, 273, 282, 286, 287, 288, 319, 323, 327, 329, 358

Sadduzäer 123, 128, 162, 167, 177, 202, 253, 299, 312, 318, 319, 322, 337, 342 Sakrileg 190, 215, 302 Samaritaner 137, 166, 172, 177, 181, 182, 184, 188, 203, 204, 206, 207, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 224, 236, 237, 243, 320, 363 Schuldfähigkeit 199 Schuldspruch, Urteilsverkündung 41, 42, 44, 78, 80, 83, 90, 93, 109, 201, 263, 269, 272, 283, 284, 285, 290 Schwertrecht, s. a. ius gladii 59, 60, 142 Selbsthilfe, s. a. Selbstjustiz 53, 67, 204, 206, 207, 216, 351, 352 Selbstjustiz 103, 200, 206 Senatsgericht 37, 367 senatus consultum – de Asclepiade 55 – Turpilianum 318 – ultimum 22, 57 sententia sine consilio 77, 78, 90, 109 Sikarier 170, 172, 173, 182, 303, 366, 375 Staat(lichkeit) 27, 28, 29, 379 Staatsfeind (hostis) 43, 57, 74, 99, 101 Staatsrecht 15, 16, 28, 29, 30, 37, 38, 61, 146, 376, 382 Statthalterarchiv 50, 51, 375 Statthalteredikt 49, 50, 80, 82 Statthaltersitz (Residenz) 75, 315 Statthalterstab, s. a. cohors amicorum 75, 76, 78, 80, 110, 114, 160, 330, 356 Status 15, 36, 43, 57, 66, 68, 69, 70, 75, 76, 78, 81, 86, 87, 90, 92, 93, 95, 96, 97, 98, 100, 106, 111, 112, 114, 117, 118, 124, 140, 141, 143, 146, 150, 152, 153, 167, 168, 178, 199, 214, 223, 237, 252, 253, 265, 280, 283, 295, 297, 306, 308, 312, 328, 332, 341, 343, 359, 361, 373 Steinigung 164, 201, 213, 257, 260, 301, 304

Sachregister Steuereintreibung, s. a. Zensus 25, 49, 66, 67, 139, 144, 146, 164, 166, 224, 229, 241, 264, 268, 317 Strafgewalt 13, 15, 25, 69, 142, 154, 194, 207, 216, 224, 288, 331, 348, 355 Strafklageverbrauch (ne bis in idem) 80 Strafmaß, s. a. Todesstrafe 36, 80, 85, 91, 98, 141, 171, 214, 341 Strafverfolgung 67, 74, 82, 103, 171, 196, 197, 206, 213, 255, 372 – unterlassene Strafverfolgung 203, 204, 212, 220 Strafvollstreckung 36, 93, 214, 271 Synagoge 156, 208, 294, 299, 301, 317 Synedrion 128, 146, 162, 164, 165, 167, 168, 169, 170, 186, 199, 201, 202, 203, 213, 246, 247, 248, 249, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 264, 278, 285, 286, 298, 307, 309, 310, 311, 312, 314, 315, 318, 319, 324, 325, 326, 327, 335, 337, 341, 342, 349, 368 Tempel (Jerusalem) 130, 131, 177, 191, 192, 237, 238, 240, 302, 303, 338 – Ordnungskräfte 222, 254 – Tempelfrevel 165, 170, 318, 327 – Tempelprophetie 199, 256, 285, 302 – Tempelschatz 178, 191, 208, 210 – Tempelsteuer 136, 177 – Tempelverbot 170, 317 – Tempelzerstörung 127, 164, 165, 199, 249 Testimonium Flavianum 181, 366 Thora 145, 146, 196, 257, 266, 301 Todesstrafe, Hinrichtung, s. a. Kreuzigung 39, 41, 45, 46, 53, 54, 57, 93, 94, 95, 98, 100, 107, 115, 136, 141, 164, 165, 170, 181, 183, 184, 185, 187, 188, 191, 193, 194, 195, 200, 201, 202, 206, 211, 213, 214, 221, 223, 237, 246, 247, 248, 251, 253, 256, 257, 258, 259, 261, 263, 265, 266, 271, 274, 275, 277, 279, 281,

395

285, 290, 291, 294, 307, 326, 328, 335, 337, 341, 350, 356, 360, 363 triumviri capitales 41 Unzurechnungsfähigkeit 199, 214 Urkundenfälschung 81, 83, 84, 85, 86 Verbannung, Exil 72, 73, 74, 116, 137, 138, 147, 201, 213, 214, 237, 245, 320 Verfahren, Prozeß 23, 24, 33, 35, 36, 37, 42, 43, 44, 58, 73, 74, 91, 108, 120, 185, 196, 211, 214, 217, 228, 248, 257, 259, 265, 271, 276, 279, 280, 282, 283, 286, 288, 289, 292, 298, 318, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 331, 341, 357, 375, 378, 389 Verfahrenssicherheit 23 Verfassung 16, 21, 22 Verhaftung 33, 184, 213, 253, 254, 255, 256, 259, 292, 302, 342, 359, 385 Verhör 42, 43, 80, 85, 90, 106, 119, 164, 185, 198, 199, 206, 213, 214, 221, 237, 242, 248, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 264, 267, 269, 273, 276, 278, 279, 284, 286, 290, 310, 312, 316, 337, 338, 339, 342, 358 Verteidigung, s. a. Rechtsbeistand 26, 35, 36, 62, 72, 77, 78, 90, 91, 118, 196, 198, 217, 221, 269, 279, 280, 281, 286, 315, 316, 317, 318, 320, 321, 323, 324, 330, 335, 336 Verwaltung 25, 27, 50, 51, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 85, 140, 150, 153, 158, 167, 198, 215, 225, 227, 305, 348, 359, 365, 371, 375, 380, 384 Vorladung 79, 85, 113 Weltreichelehre 124, 145 Willkürjustiz 13, 15, 22, 26, 64, 74, 87, 119, 158, 159, 182, 207, 210, 211, 212, 214, 248, 288, 293, 305, 325, 333, 345, 347, 353

396

Sachregister

Zeloten 128, 170, 172, 173, 174, 175, 186, 197, 201, 253, 258, 262, 277, 312, 322, 366, 375 Zensus 138, 139, 147, 151, 161 Zeugen 36, 72, 78, 80, 82, 85, 94, 95, 99, 105, 107, 199, 210, 256, 260,

275, 305, 308, 318, 320, 326, 338, 339, 358 Züchtigung 36, 42, 52, 53, 54, 82, 85, 92, 93, 94, 99, 119, 192, 198, 199, 206, 211, 213, 214, 233, 257, 259, 274, 284, 293, 305, 306, 307, 309, 310, 311, 314, 343, 356, 359