Ästhetische Erfahrung der Intermedialität: Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet [1. Aufl.] 9783839417430

Der Transfer zwischen künstlerischer Avantgarde und Massenkommunikation ist ein Gründungsakt moderner Kunst. Jedoch habe

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German Pages 248 Year 2014

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Inhalt
Einleitung
Das Ready-made als Stolperstein. Duchamp und Bourdieu über die Inframedialität des feinen Geschmacks
Das Medium formuliert, die Form figuriert. Medium, Form und Figur im intermedialen Verfahren
Imperceptibles. Zur Intermedialität des Nicht-Sichtbaren
Heautonomie im Episodenfilm
Schrift als Tonfilm. Zur Intermedialität und Emotionalität von
Der Eselsschrei in der A-Dur-Sonate. Robert Bresson zu Film und Musik
›Weiche‹ Musikvideos oder: Von Intermedialität zu produsage
. . . weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Zur Entwicklung des deutschen Musikrechts im Lichte intermedialer Kreativität (Sound Sampling)
Performing Live-Electronics. Der Keyboarder Jordan Rudess
Zur Intermedialität musikalischer Bewegung. Fallbeobachtungen
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Ästhetische Erfahrung der Intermedialität: Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet [1. Aufl.]
 9783839417430

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Thomas Becker (Hg.) Ästhetische Erfahrung der Intermedialität

Thomas Becker (Hg.)

Ästhetische Erfahrung der Intermedialität Zum Transfer künstlerischer Avantgarden und ›illegitimer‹ Kunst im Zeitalter von Massenkommunikation und Internet

Die hier dokumentierte Tagung sowie die vorliegende Publikation wurden aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenen Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« finanziert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Lilith2000 / photocase.com (Detail) Satz: Martin Dieringer Lektorat: Alina Neumeyer/Daniel Kashi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1743-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Thomas Becker | 7 Das Ready-made als Stolperstein. Duchamp und Bourdieu über die Inframedialität des feinen Geschmacks

Michael Wetzel | 33 Das Medium formuliert, die Form figuriert Medium, Form und Figur im intermedialen Verfahren

Joachim Paech | 57 Imperceptibles Zur Intermedialität des Nicht-Sichtbaren

Karin Bruns | 75 Heautonomie im Episodenfilm

Michael Lommel | 97 Schrift als Tonfilm Zur Intermedialität und Emotionalität von Schrift

Bernd Scheffer | 107 Der Eselsschrei in der A-Dur-Sonate Robert Bresson zu Film und Musik

Thomas Macho | 123 ›Weiche‹ Musikvideos oder: Von Intermedialität zu produsage

Beate Ochsner | 139

. . . weil nicht sein kann, was nicht sein darf Zur Entwicklung des deutschen Musikrechts im Lichte intermedialer Kreativität (Sound Sampling)

Frédéric Döhl | 167 Performing Live-Electronics Der Keyboarder Jordan Rudess

Michael Custodis | 199 Zur Intermedialität musikalischer Bewegung Fallbeobachtungen

Elena Ungeheuer | 217 Autorinnen und Autoren | 235 Register | 239

Einleitung Thomas Becker (Berlin)

Wie schon Walter Benjamin in seinen Pionierarbeiten über die Veränderungen unserer Wahrnehmung durch Entwicklung moderner Medien feststellte, ist die massenmediale Distribution von Beginn an nicht nur Thema, sondern auch konstitutives Mittel der Formgebung moderner Avantgarden. Laut Charles Baudelaire sind in der Moderne lange epische Gedichte nicht mehr am Platz, da es um das Erzielen eines sicheren Effekts gehe.1 Neben Edgar Allan Poes Poetic Principal stellte ihm zufolge die in Zeitungen abgedruckte Karikatur das Paradigma dieser modernen Produktionsweise dar, weil man ihre Pointe auf einen Blick hin decodieren könne.2 Zugleich war der französische Lyriker jedoch auch ein unnachgiebiger Vertreter des l’art pour l’art, das massenmediale Wirkungsabsichten kategorisch ablehnte. Die ersten modernen Formen der Massenkommunikation gingen Hand in Hand mit einer als ambivalent empfundenen Virtualisierung des Publikums, die von den Künstlern ebenso begrüßt wie abgelehnt wurde. Begrüßt wurde sie, weil Massenkommunikation nie eindeutig steuerbar ist und damit zum stabilisierenden Faktor einer Avantgarde werden konnte, die ihre häretischen Prophetien gegen die institutionell abgesicherte ›Steuerungsmacht‹ etablierter Autoren durchzusetzen hatten. Abgelehnt wurde sie, weil dieselben avantgardistischen Künstler zugleich Massenkommunikation als Motor einer Nivellierung von Kultur verabscheuten. So polemisierte Gustave Flaubert gegen die kulturelle Demokratisierung durch Massenmedien, die das Proletariat

1 Mit Bezug auf E. A. Poe und der Favorisierung des kurzen Ge-

dichts, vgl. Charles Baudelaire: Œuvres Complètes, hg. v. Claude Pichois, Paris 1976, Bd. II, S. 332. 2 Vgl. Thomas Becker: Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires, in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, S. 164 ff.

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lediglich auf die Dummheit der Bourgeoisie hebe.3 Wenn Jacques Rancière die Schreibweise Flauberts als Ausdruck einer demokratischen Gleichheit versteht, die gegen jede Hierarchie gewendet sei, so dürfte dies ein der innerphilosophischen Distinktionswut geschuldetes Missverständnis sein, das einer philologischen Forschung nicht standhält.4 Rancière projiziert die Situation des ausgehenden 20. Jahrhunderts auf das intermediale Spiel zwischen high and low der traditionellen Avantgarde im 19. Jahrhundert, das einer anderen politischen Grundeinstellung als die heutige Avantgarde folgte. Die ersten dezidiert modernen Autoren trauten der massenhaften Rezeption nicht das demokratische Potenzial zu, das sie ihrer eigenen kunstinternen Adaptation von Formen der Massenkommunikation zugestanden. Stéphane Mallarmés Zusammenarbeit mit einer Modezeitschrift ist im 19. Jahrhundert keineswegs eine Ausnahme, sondern entspricht dem Selbstbewusstsein der ersten Modernen, die den anspruchsvollen Umgang mit Massenmedien als exklusive Praxis hochkultureller avantgardistischer Künstler ausstellen.5 Die Bezugnahme auf Massenkommunikation ist für sie ein strategischer Einsatz, um sich nicht nur als weltoffenere ästhetische 3 »Tout le rêve de la démocratie est d’élever le proletaire au niveau de

bêtise des bourgeois [. . .]. Il lit les mêmes journaux et a les mêmes passions.« Gustave Flaubert: Brief Nr. 2022 an Georges Sande vom 8. September 1871. 4 »Das egalitäre Versprechen ist in der Selbstgenügsamkeit [= soziale Funktionslosigkeit, Th. B.] des Werks eingeschlossen, in seiner Gleichgültigkeit gegenüber jeder bestimmten Politik [. . .]. Das Werk, das nichts will, das Werk ohne Blickpunkt [. . .] ist ›egalitär‹ gerade durch diese Gleichgültigkeit, die jede Bevorzugung, jede Hierarchie aufhebt.« Jacques Rancière: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 51. Rancière widerspricht sich hier gehörig: Wenn die Kritik an einer ästhetischen Hierarchie eben nicht identisch zu setzen ist mit dem Eintreten für politische Gleichheit, da sie ja gerade die politische und soziale Funktionslosigkeit einklagt, dann kann sie auch nicht Ausdruck einer politischen Gleichheit sein, die Flaubert dann ja konsequenterweise zurückgewiesen hat. 5 Mallarmés Mitwirkung an Modezeitschriften war auf eine Luxusproduktion hin angelegt, die aufgrund der massenhaft aufkommenden Billigangebote scheitern musste. Vgl. dazu: Bettina Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmés Kritischen Schriften, in: Stéphane Mallarmé: Kritische Schriften, hg. v. Gerhard Goebel/Bettina Rommel, Gerlingen 1998, Bd. I, S. 319. Ebenso bezeichnend Mallarmés Feststellung in dem Artikel Hérésies Artistiques von 1862,

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Prophetie von akademisch legitimierter Literatur abzugrenzen, sondern ebenso um den Ort der Autonomie von Autoren neu zu bemessen und zu definieren. Die Zitation von Massenkultur ist also in diesen Fällen nicht nur gegen akademische Autorschaft, sondern zugleich auch gegen die nivellierende und damit als heteronom empfundene demokratisierende Massenkommunikation gerichtet. Diese ambivalente Stellung der Künstler zu den Massenmedien und einer Mehrheitsdemokratie sollte nicht in einem philosophischen Eskapismus à la Rancière vergessen werden. Vergisst man dies, so übersieht man nicht nur eine wichtige historische Achse, die sich seit den späten 1950er und frühen 1960er Jahren einstellte, sondern auch die soziale Stellung der intellektuellen Beobachterposition innerhalb dieses Spiels zwischen high and low culture, wozu sich Philosophen ganz besonders eignen, wenn sie wieder einmal, um mit dem von Rancière so geschätzten Karl Marx zu reden, die Logik der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit ihrer für universell angenommen Logik verwechseln. Zu Beginn der 1960er Jahre diagnostizierte Umberto Eco in der theoretischen Auseinandersetzung der intellektuellen Beobachter von Massenkommunikation das Erbe eines aus den klassischen Avantgarden des 19. Jahrhundert her rührenden Verhaltens:6 Immer noch stünden den ›Integrierten‹ intellektuelle ›Apokalyptiker‹ gegenüber. Zu den Apokalyptikern zählt er die kulturpessimistische Frankfurter Schule – mit Ausnahme Walter Benjamins. Eco zufolge teilen die Integrierten die Ausgangsthese der Apokalyptiker von einer ebenso trivialen wie banalen Kulturindustrie, ziehen aber den gegenteiligen Schluss, dass sie als notwendiges Übel der modernen Demokratie akzeptiert werden müsse. Demnach ergänzen sich beide Positionen darin, die zeitgenössischen Entwicklungen der Massenkommunikation zu verkennen. Eco verweist auf exklusive Produktionen innerhalb der Massenproduktion des Jazz oder einzelner Comicautoren, die den zirkulären Prozess von Produktion und Rezeption der Massenmedien durchbrochen haben. Seine Diagnose sollte Recht behalten, denkt man etwa an den HolocaustComic Maus von Art Spiegelman, der an den Universitäten nicht in dem er schreibt: »L’homme peut être démocrate, l’artiste se dédouble et doit rester aristocrate.« Ebd., S. 26. 6 Zur Grundthese Ecos siehe die Einleitung in: Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a. M. 1986 [1964], S. 15–35.

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nur Stoff für historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen abgibt, sondern mittlerweile auch in den Philologien und Kunstwissenschaften wegen seiner ästhetischen Qualitäten international anerkannt ist.7 In allen Bereichen der Massenkommunikation setzte eine Differenzierung ein, die einen neuen, zwischen reiner Kulturindustrie und legitimer Hochkultur positionierten Bereich etabliert. Eine Demokratisierung schließt also nach Eco qualitativ herausragende Produktionen in der Massenkommunikation nicht aus. Damit hat er aber einen Grund benannt, warum selbst Benjamin aus heutiger Sicht keinen soziologisch adäquaten Ansatz mehr bietet. Die ästhetische Differenzierung innerhalb der Massenkommunikation und nicht mehr nur die Differenzierung der Hochkultur mittels Formen der Massenkommunikation wurde im Zeitalter der elektronischen Massenkommunikation immer sichtbarer und stellt seit den 1960er Jahren genau jene Voraussetzung für eine neue Art des Umgangs mit den Medien dar, die Benjamin eben aufgrund seines frühen tragischen Todes noch nicht kennen konnte. Auch für eine neue Soziologie der symbolischen Formen hatte Eco schon eine diagnostische Spürnase. In einer längeren Anmerkung lobte er einen jungen französischen Soziologen, der weder zu den Apokalyptikern, noch zu den Integrierten zu rechnen sei: Pierre Bourdieu.8 Bourdieu benannte ein Jahr nach Ecos Buch Apokalyptiker und Integrierte die Stellung von Kulturprodukten zwischen legitimer Hochkultur und Kulturindustrie mit dem bezeichnenden Titel L’art moyen, der irrtümlich als Eine illegitime Kunst ins Deutsche übersetzt wurde.9 Der Übersetzungsfehler einer ›illegitimen Kunst‹ von 1986 für den 1965 geprägten Titel des art moyen darf als Indiz für die neue Entwicklung in der Nachfolge der 1960er Jahre gewertet werden. Apokalyptiker wie Adorno sind heutzutage 7 Vgl. dazu: Thomas Becker: Vom Bubblegum zum Holocaust. Art

Spiegelmans MAUS, in: Markus Joch/York-Gothart Mix/Norbert Christian Wolf (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen 2009, S. 309–330. 8 Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a. M. 1984 [1964], S. 157, Anm. 18. 9 Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg 2006. Auf deutsch zuerst 1986 erschienen. Der französische Originaltitel von 1965 lautet: Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie.

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wohl weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden, sofern sie nicht dekonstruktiv ›postmodernisiert‹ wurden; an die Stelle der Apokalyptiker – und dafür steht auch der dekonstruktiv aufgeklärte Adornismus – tritt seither vielmehr eine intellektuelle Lust an Massenkommunikation: am ›Illegitimen‹.10 Den Integrierten stehen heute nicht mehr apokalyptische, sondern hyperintegrierte Intellektuelle gegenüber, welche die Integrierten durch Überbietung einzuholen versuchen. Die zu integrierende Kunst muss jetzt besonders gering legitimiert sein, mit einem Wort: am besten gänzlich ›illegitim‹, um den ästhetischen Reiz zu erhöhen: Indem genau das zum guten Geschmack erklärt wird, was vom anerkannten, ›legitimen‹ Geschmack aus gesehen als schlechter Geschmack gilt, steht man in politischer Opposition zur Vorstellung eines Machtfeldes, das die Unterhaltung der Massenkommunikation als allzu leichte und unseriöse Form der banalen Sinnesreize verwirft, die angeblich nichts mit veritabler ästhetischer Erfahrung zu tun haben.11 Dieser intellektuellen Strategie einer Hegemonie der Integration im Namen einer intellektuellen Opposition gegen den im Feld der Macht anerkannten Geschmack verdanken wir also seit den 1960er Jahren eine zunehmende Bejahung der Sinnlichkeit und Demokratisierung im Machtfeld. Warum sollte man dann dies mit dem kritischen Begriff der Hyperintegration beschreiben? Die symbolische Entgrenzung der Kunst ist nicht identisch mit einer sozialen Grenzverschiebung zwischen institutionell legitimierter Kultur und Massenkommunikation. Die Demokratie im Feld der Macht ist nicht mit Demokratisierung schlechthin zu identifizieren, was exakt den Fehler der Projektion Rancières auf die ersten modernen Avantgarden ausmacht. Wenn Baudelaire den Kron10 Legitim und insbesondere ›illegitim‹ sind nicht als normative Be-

griffe zu verstehen, sondern als Beschreibung der sozialen Stellung in Bezug auf durch Institutionen wie Universitäten und Akademien definierte Legitimität. Ein zu Institutionen verwehrter Zugang ist demnach als ›illegitim‹ zu bezeichnen, das aber einer anderen Art der Legitimität durch Mehrheitsrezeption entsprechen kann. Dennoch wird der Begriff ›illegitim‹ beibehalten, um kenntlich zu machen, dass die Liebe zur institutionell nicht legitimierten Kunst gerade deren andere Form der Legitimität übersieht. Daher ist ›illegitim‹ hier stets mit Anführungszeichen vermerkt. 11 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 760, Anm. 6 und S. 766 f.

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leuchter als wichtiger erachtet als die Aufführung, um sich vom akademischen Theater abzusetzen oder Duchamps Ready-mades in den 1960er Jahren ins Museum kommen, sind deswegen noch lange nicht alle Kloschüsseln und Kronleuchter zu legitimen Kunstwerken geworden. Eine symbolische Entgrenzung kann sogar als pointierte Grenzsetzung gegenüber dem Alltag fungieren: Weder die Populärkultur noch das Feld der Macht konnte dieser Art der Erschütterung legitimer Kultur durch Avantgarden in ihrer Zeit etwas abgewinnen. Wenn heutzutage allzu gern von einer Entgrenzung der Kunst geredet wird, wird vergessen, dass die ehemalige Forderung der russischen Avantgarde nach einer Aufhebung von Kunst in den Alltag einer Selbstverkennung entspricht, die heutige Künstler eben nicht mehr teilen. Als Roy Lichtenstein danach gefragt wurde, ob Comics Kunst seien, hat er dies definitiv zurückgewiesen.12 Insofern darf man nicht aus den Augen verlieren, dass sich trotz der veränderten politischen Grundeinstellung moderner Avantgarden auch Kontinuitäten zu älteren Avantgarden erhalten haben, weil sie als Voraussetzung von Innovation empfunden werden. Aber der Diskurs von einer Entgrenzung der Kunst scheint genuin dem 20. Jahrhundert anzugehören, weil sich die Grenzen zwischen einer institutionell legitimierten Kunst und einer ›illegitimen‹ Kunst verschoben und aufgeweicht haben. Ecos Studie zu Apokalyptiker und Integrierte ist selbst ein Monument dieses Phänomens. Die Verwendung von neuen Medien spielt hier eine entscheidende Rolle bei der Wechselwirkung von symbolischen Produktionen der Massenkommunikation und künstlerischen Avantgarden. Aber gerade diese Wechselwirkung hat neben der Aufweichung der Grenzen auch die Verkennung mittransportiert, als wäre die Grenze zwischen Massenproduktion und anspruchsvoller Ästhetik vollkommen obsolet. Die Mehrzahl an Intellektuellen mögen Asterix genüsslich lesen, aber sie kennen den Holocaust-Comic von Art Spiegelman dann meist doch nur dem Namen nach. Die Fähigkeit von Intellektuellen, sich an trivialen Gegenständen zu delektieren, hat zwar eine demokratische Befreiung und Hinwendung zur populären Kultur innerhalb des Machtfeldes gebracht, in das sie selbst integriert 12 Roy Lichtenstein im Gespräch mit David Pascal, in: Giff Wiff, revue

bimestrielle publiée par le Centre d’Etude des Littératures d’Expression Graphique, Nr. 20, Mai 1966, S. 15: »Moi, je ne considère pas la B. D. comme un art, voyez-vous, mais elle offre des possibilités, et c’est cela qui m’interesse.«

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sind, aber zugleich auch übersehen lassen, dass sich populäre Kultur längst differenziert hat – und zwar genau nach dem Modell, das von den Hyperintegrierten dann wieder bestritten wird: Innerhalb der Populärkultur gibt es nicht nur Ausnahmen von Werken mit komplexen Strukturen, wie noch Eco konstatierte; ganze Felder wie der Comic, der Film, der Trickfilm, der Jazz und die Rockmusik haben Independent-Bewegungen auf den Weg gebracht, die sich über mehr als zwei Generationen nun schon innerhalb des Massenmarktes als Gegenpol zu Major Labels erhalten haben. Diese dauerhafte Reproduktion hat aber auch eine neben der durch Institutionen abgesicherten Reproduktion legitimer Kunst eine neue, andere Form der Legitimation hervorgebracht. Wenn sich also Intellektuelle der populären Kultur hinwenden mit der Attitüde, jede Grenze zwischen legitimer und populärer Kultur verwerfen zu können, indem man die trashigsten Produkte rezipiert, nimmt man nicht nur nicht mehr die Differenz zwischen einem Pol der Innovation und dem ökonomisch dominierten Markt innerhalb der Populärkultur selbst war, sondern will sie auch nicht wahrhaben, um sich innerhalb des akademischen Diskurses prägnanter als mondäner Intellektueller abgrenzen zu können und damit das Monopol der institutionellen Legitimität zu sichern. Eine solch hyperintegrierte Haltung demonstriert etwa Dietmar Dath mit seiner Forderung nach Drastik, die er in Horrorfilmen und Pornografie ausmacht. Konstatiert er einerseits die Differenz zwischen Massenmarkt und Subkultur, so behauptet er doch andererseits Subkultur sei »unpopulär, aber massenwirksam«.13 Sicherlich trifft dies für so manche Hardcore-Pornografie zu, aber für Independent-Produktionen liegt die Sache genau umgekehrt: populär, aber nicht massenwirksam, zumindest nicht so massenhaft wie die Produktion von Major Labels. Da wendet sich ein intellektueller Autor eben ökonomisch dominierten Genres zu, um die Differenzierungen außerinstitutioneller Produktionen der Populärkultur allenfalls drastisch zu übergehen: Jeder Angriff auf legitime Kultur im Sinne des Unpopulären wird von ihm als Innovation romantisch verklärt, als befinde man sich noch im 19. Jahrhundert, wo es darum ging, um jeden Preis den bourgeois zu schockieren. Hier handelt es sich um die genau umgekehrte Richtung der enthistorisierenden Projek13 Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik

und Deutlichkeit, Frankfurt a. M. 2005, S. 16.

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tion wie bei Rancière: Das 19. Jahrhundert wird auf Produktionen des 20. Jahrhunderts, d. i. auf den Porno- und Horrorfilm, projiziert. Auch wenn Dath sich von der Frankfurter Schule abgrenzt, entspricht dies exakt dem ›postmodernisierten‹ Adornismus einem ebenso dekonstruktiv wie aufgeklärten Diskurs von verspäteten Altlinken. Es gibt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur das, was Bourdieu die anerkennende Verkennung bildungsferner Klassen nannte, die zwar die Autorität der Kunst anerkennen, aber nicht über Kompetenz und Code zu ihrem Verständnis aufgrund mangelnden kulturellen Kapitals verfügen.14 Es gibt auch die anerkennende Verkennung populärer Kultur durch Intellektuelle, die in ihrem Willen zur Distinktion diese so weit anerkennen, dass sie die Differenzierungen innerhalb der populären Kultur verkennen, um ihre Libido der Distinktion gegen Akademismus und damit ihr Monopol der institutionellen Legitimation aufrechtzuerhalten. Diese aber reproduziert nur die objektiv bestehende Hierarchie legitimer Kunst gegenüber institutionell nicht legitimierter Kunst. Damit wird das Verfahren einer Distinktion gegen die schon im Feld der Macht anerkannte Kunst mittels Formen des Massenmarktes als universal angesehen, während es allein auf Praktiken im Feld der Macht beschränkt bleibt, in das Intellektuelle durch institutionell objektivierte Legitimation integriert sind. In dieser Hyperintegration einer angeblichen Hinwendung zur populären Kultur wird gerade das entscheidende neue politische Phänomen einer intermedialen Kultur übersehen: Die Differenzierung zwischen einem Pol der Innovation einerseits und normalisierender Massenkommunikation andererseits, die laut Bourdieu zur Differenzierung legitimer Künste wie etwa der Literatur führte, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eben kein Monopol legitimer Kunst mehr. Die Behauptung einer objektiven Legitimationsstruktur15 gilt dem Diskurs der Hyperintegrierten daher auch stets als suspekt. Sie sind heute so stark darauf konzentriert, an beliebigen Formen der 14 Pierre Bourdieu, Die Feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen

Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 503–519. 15 Zur den einzelnen Individuen vorausliegenden Objektivität einer

kulturellen Legitimität: Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, in: ders., Luc Boltanski u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg 2006, S. 106.

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Massenproduktion ihre Fähigkeit zu einer komplexen, ästhetischen Decodierung unter Beweis zu stellen, dass sie leichthin übersehen, wie sehr sie damit insgeheim eine objektive Legitimationsskala unterschiedlicher Hierarchien in der Kultur voraussetzen, die sie im Namen einer gegenüber Massenkommunikation weltoffenen, durch Akademismus unverdorbenen Sinnlichkeit negieren.16 Während z. B. Comics seit Eco zunehmend zum Gegenstand versierter semiotischer Auseinandersetzungen geworden sind, zählen sie dennoch bis heute keinesfalls zum schulischen Prüfungsstoff. Die seit den 1960er Jahren immer wieder auftauchende diskursive Verneinung von Legitimationshierarchien, die sich aus Lust am ›Illegitimen‹ in der Kulturproduktion speist, hat zu einer Habitualisierung des postmodernen Intellektuellen geführt, der nicht nur ›legitime‹ Kultur in Frage stellt, was zu einer fortgesetzten Demokratisierung der Kultur beitragen könnte. Ihm erscheint eine Theorie der objektiv, allen individuellen Produktionen vorausliegenden Legitimationshierarchie grundsätzlich suspekt, zu der er selbst gehört. Aber man mag noch so postmodern sein, Noten werden gegeben, Gutachten werden erstellt, der Kanon der Lehre wird im so genannten ›Bologna-Prozess‹ neu geordnet bis hin zum Buhlen um die Aufnahme in die ›Exzellenzinitiative‹: All dies sind Kämpfe um Legitimität der Kultur. Manch einer mag einwenden, dass diese Kämpfe nichts mit dem Eigenwert von ästhetischen Erfahrungen zu tun haben. Bisher war Massenkommunikation entweder Thema der Soziologie, der cultural studies oder der semiotisch orientierten Kulturwissenschaft. Die Soziologie hat allerdings in Bezug auf ästhetische Erfahrung der Massenkommunikation das Feld vollkommen den Kulturwissenschaften überlassen. Hierzulande wird immer nur Bourdieus Theorie der Rezeption von symbolischen Produktionen ausgiebig gewürdigt, also seine Analyse in den Feinen Unterschieden. Jenseits der Feinen Unterschiede hat Bourdieu eine Machttheorie symbolischer Formen anzubieten, die weder ideologiekritisch argumentiert, noch eine rein funktionale Analyse im klassisch soziologischen Sinn erbringt, sondern die spezifische ästhetische Qualität von einzelnen Werken und Autoren als Effekt von sozialen Produktionsbedingungen zu verstehen in der Lage ist.17 Diese Macht16 Siehe dazu: Pierre Bourdieu: Der ›Gelehrte‹ und der ›Mann von Welt‹,

in: ders., Die Feinen Unterschiede, S. 125 ff. 17 Schon in einem sehr frühen Text zur Theorie der spezifischen

Felder (Literatur) polemisierte Bourdieu gegen eine rein funk-

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theorie geht insbesondere über Michel Foucault hinaus, an den sie doch in mancher Hinsicht erinnert. So spricht Foucault an einer prominenten Stelle seiner Untersuchung Die Ordnung der Dinge davon, dass die Sprache in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu ihrem eigenen Sein komme.18 Wie immer man dies sonst noch in Foucaults Theorie verorten mag, so nimmt er damit eine Autonomisierungsbewegung in den Blick. Aber in seiner späteren Phase einer expliziten Machttheorie, also in seiner Phase der Genealogie, können Diskurse nicht mehr als autonom verstanden werden; sie sind vielmehr alle von Machtstrategien durchzogen. In seiner früheren ›archäologischen‹ Phase, zu der eben auch Die Ordnung der Dinge gehört, handelt Foucault zwar in gewissem Sinn von einer Autonomisierung der Literatur, hat aber noch keine Machttheorie. Später als ›Genealoge‹ hat er dann eine Machttheorie, die jedoch autonome Diskurse ausschließt. Bei allem Respekt für die innovative Rolle der Foucaultschen Machttheorie in Bezug auf normalisierende Wissenschaftsdiskurse, die den Körper umlagern, gilt es jedoch festzuhalten, dass der Denker der Diskontinuität an keiner Stelle seines Werks die Autonomie der Kunstproduktion in der Moderne mit einer Analyse von Machtstrategien in Verbindung zu bringen gewusst hat. Für Bourdieus Theorie der spezifischen sozialen Felder kultureller Produktion ist aber jede Autonomie eines Feldes Effekt von tionale Analyse von Werken innerhalb der Soziologie, welche kulturelle Produkte allein statistisch behandelt. Dagegen stellt er die Alternative einer strukturalen Analyse auf: Pierre Bourdieu: Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe, in: Scolies. Cahiers de recherches de l’Ecole Normale Supérieure, 1971 (1), S. 10 f. Dieser Text richtet sich parallel und gemeinsam mit Foucault im Namen des Strukturalismus gegen Sartre. Sofern es sich um individuelle Phänomene wie den Autor autonomer Literatur handelt, plädiert Bourdieu nämlich für die relationale Einordung in eine Struktur als Methode der Objektivierung. Auch ein individueller Standpunkt experimenteller Literatur hat immer noch eine Position, die es folglich in ihrer relationalen Anordnung zu anderen Positionen im Feld zu objektivieren gilt. Zur qualitativen strukturellen Relationierung von Positionen als Modell für eine Objektivierung kultureller Phänomene, wo statistische Methoden nicht hinreichen: Pierre Bourdieu/Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 267. 18 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 76 f.

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Kämpfen um Legitimation. Im Laufe des 18. und des 19. Jahrhunderts bilden sich laut Bourdieu aufgrund der Massenkommunikation, die das Publikum virtualisiert, zwei unterschiedliche Märkte der Kulturproduktion heraus.19 Zum einen entsteht dadurch das ›Subfeld‹ symbolischer Großproduktion, das auf unmittelbaren ökonomischen Profit setzt. Zum anderen das ›Subfeld‹ eingeschränkter symbolischer Produktion, wo Innovation eine höhere Anerkennung genießt als der ökonomische Gewinn, weil nun Avantgarden nicht mehr für eine bestimmte soziale Gruppe oder eine bestimmte Autorität produzieren müssen. Die Virtualisierung bedeutet jedoch nicht einfach grenzenlose Freiheit der Zeichenverwendung, sondern legt den nun vom Gängelband des Akademismus befreiten Avantgarden den intensivierten Zwang zur permanenten Distinktion auf. Jede Position steht dabei in Relation zu einer anderen und setzt das ihr jeweils zu Verfügung stehende symbolische Kapital im Kampf um Positionierungen ein. Und wer keinen Sinn für den historischen Abstand der Werke zu einander hat, kann auch nicht verstehen, worin Innovation besteht. Wer also den Zusammenhang von intermedialer Vernetzung der Massenmedien und Strategien künstlerischer Avantgarden begreifen will, ohne den Eigenwert von Kunst und ästhetischen Erfahrungen an eine rein funktionsgeschichtliche Erklärung oder an eine nur auf der semantischen Ebene operierende Diskurstheorie zu verlieren, kommt an der Feldtheorie Bourdieus nicht vorbei. Diese wäre also nicht einfach ein Desiderat, das die Intermedialitätsvorstellung durch ein weiteres Theorieangebot vervollständigt, sondern ein integraler Bestandteil zu einer Analyse von Intermedialität, die Autonomisierung und Macht zusammenzudenken vermag. Wenn Autonomisierungen mit ästhetischem Eigenwert nicht mehr nur innerhalb der legitimen Künste der so genannten Hochkultur zu finden ist, sondern die Massenkultur ähnliche Phänomene der Differenzierung aufweist, dann muss man auch gegenüber den klassischen cultural studies eines John Fiske und Stuart Hall kritisch einwenden, dass Oppositionsstrukturen in der Massenkommunikation erst dann greifen, wenn sie über dauerhafte Objektivierungen im Sinne einer alternativen Legitimation verfügen. Laut Fiske aber soll es ein Widerstand sein, wenn untere soziale Klassen sich des von 19 Pierre Bourdieu: Le marché des biens symboliques, in: L’Année sociolo-

giques 1971 (22), S. 50 ff.

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Major Labels vorgesehen Konsumverhaltens verweigern, wie etwa die von ihm beobachteten Insassen eines Obdachlosenheims, die laut jubeln, wenn in einem Thriller der Polizist für einen Moment dem Terroristen unterliegt und die schließlich abschalten, als sich der Sieg der Polizei über die Kriminellen andeutet.20 Fiske übergeht vollkommen, dass solch punktuelles Verhalten keine dauerhaften oppositionellen Effekte hat, da einer solch habituellen Einstellung keine Objektivierung in symbolischen Produktionen entspricht, die über individuelle oder punktuelle Äußerungen eines Habitus hinausgingen. Punktuelle Oppositionen sind Anregungen für eine Überwachungsmacht, aufmerksamer zu verfahren und führen daher nicht zu Differenzierungen, sondern allenfalls zu Normalisierungen, von denen wir seit Foucault wissen, dass sie nicht repressiv verfahren und daher Widerstände zulassen, ja sie sogar nutzen. Muss man die cultural studies noch an die alte Hegel-Marxsche Erkenntnis gegenüber den Romantikern erinnern, dass ein Subjekt ohne seine Entäußerung in Form von dauerhaften Objektivierungen keine Subjektivität ausbilden kann? Mit anderen Worten: Solche Beispiele von einer widerständigen populären Kultur näheren wieder den Verdacht, dass sie vielmehr den intellektuellen Blick nach Distinktion innerhalb der legitimen Kultur bedienen. Es scheint, dass die die ästhetische Erfahrung der Populärkultur nur sehr einseitig durch eine intellektuelle Brille und damit zu romantisch gesehen wird. Dieselbe widerständige Populärkultur kann zu bloßer Normalisierung führen, solang sie sich nicht objektiviert und das heißt: einen eigenen modus operandi der Legitimation jenseits der institutionell vorgegebenen Legitimität gesichert hat. Bei der Analyse der populären Massenkommunikation sollte daher auch nicht vergessen werden, dass Intellektuelle immer zur institutionellen Legitimation gehören. Gerade das, was einem intellektuellen Blick besonders entgegenkommt, kann einen deformierten Blick favorisieren, welche die andere Art des modus operandi übergeht. Die cultural studies entsprechen damit exakt der von Bourdieu bisher nicht benannten anerkennenden Verkennung populärer Kulturen durch intellektuelle Positionen. Auf der anderen Seite muss indes eingestanden werden, dass die Feldsoziologie Bourdieus den Ansatz einer Analyse der illegitimen Kunst von 1965 nicht nur nicht weiterverfolgt hat. Bourdieu 20 John Fiske: Power Plays, Power Works, London 1993, S. 1–5.

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ist in seiner späten Kritik an Neoliberalismus sogar in eine extrem apokalyptische Haltung gegenüber Jugendkulturen der Massenkommunikation zurückgefallen.21 Die Frage nach einer Analyse der Wechselwirkung zwischen high and low, welche nicht nur auf der Seite der legitimen Künste, sondern auch innerhalb der institutionell nicht legitimierten Produktion der Massenkommunikation zu Differenzierungen geführt hat und zugleich eine Machtanalyse des Kampfes um die Grenzen zwischen legitimer und ›illegitimer‹ Kultur einschließt, ist also bisher noch nicht einmal gestellt worden. Dass sie Bourdieu auch weiterhin nicht gestellt hat, scheint unter anderem darin zu liegen, dass er sich vornehmlich einer historischen Analyse des literarischen Feldes zugewandt hat, also der Entstehung eines der legitimsten Felder unserer Kultur. Wenn das Thema der Intermedialität der Analyse von Machtspielen und der machtkritischen Selbstreflexion des Analysierenden innerhalb seiner Stellung legitimer Kultur bedarf, dann muss umgekehrt auch diese reflexive Analyse des Wechselspiels zwischen legitimen und ›illegitimen‹ Positionen durch die Theorie der Intermedialität ergänzt werden, um ästhetische Erfahrungen jenseits der institutionellen Legitimität in ihrer politischen, sozialen und kulturellen Transformationskraft verstehen zu können. In der Intermedialitätstheorie gehört es inzwischen zum guten Ton, das Buch Remediation von Jay David Bolter und Richard 21 »Tatsächlich setzen sich zum ersten Mal in der Geschichte (in einer

Gesellschaft, die zu den ökonomisch und politisch herrschenden gehört) die Produkte einer Popkultur, die besonders cheap sind, als besonders cool durch. Die Jugendlichen aller Länder, die baggy pants tragen, diese Hosen, deren Hosenboden am Oberschenkel hängt, wissen zweifellos nicht, dass diese Kleidermode, die sie zugleich für ultra-cool und ultra-modern halten, ihren Ursprung in den US-amerikanischen Gefängnissen hat; dasselbe gilt für eine gewisse Vorliebe für Tatoos! Das heißt, die Jeans-, Coca-Cola- und McDonald’s-›Kultur‹ hat nicht nur ökonomische, sondern auch die symbolische Macht auf ihrer Seite – eine Macht, die in Gestalt einer Verführung williger Opfer ausgeübt wird. Indem sie Kinder und Jugendliche [. . .] zu Adressaten ihrer Verkaufspolitik machen, sichern sich die großen Kulturproduktions- und Diffusionsunternehmen [. . .] einen immensen, nie zuvor dagewesenen Einfluss auf alle heutigen Gesellschaften, die dadurch einer Art Infantilisierung erliegen.« Pierre Bourdieu: Kultur in Gefahr, in: ders., Gegenfeuer 2: Für eine europäische Bewegung, Konstanz 2001, S. 87 f.

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Grusin zu zitieren. Eine ihrer Hauptaussagen lautet: »All mediation is remedition.«22 Diese Formel soll zu verstehen geben, dass nicht nur neue Medien alte Medien zitieren und intensivieren, sondern auch umgekehrt. Remedialisierung soll also nicht im Sinne Marshall McLuhans gemeint sein, wonach neue Medien in alten enthalten sind und diese dann einer erneuten Medialisierung unterzogen werden. Remedialisierung soll ein Grundphänomen aller Medien sein: »a medium is that which remediates«.23 Allerdings gibt es für letzteres im Buch von Grusin und Bolter kein einziges überzeugendes Beispiel. Wenn amerikanische Nachrichtenmagazine die Struktur des world wide web zitieren, wie sie angeben, dann reproduziert dies nur die oberflächliche Erscheinung und nicht die über das Fernsehen hinausgehende kommunikative Struktur des world wide web. Wenn Grusin und Bolter behaupten, sie wollten den telelogisch motivierten Technikdeterminismus der klassischen Medientheorie eines Marshall McLuhan überwinden, dann dürfte ihnen dies kaum gelungen sein, da sie selbst diese Teleologie als Maßstab ihrer Medientheorie aufstellen: »The supposed virtue of virtual reality, of videoconferencing and interactive television, and of the World Wide Web is that each of these technologies repairs the inadequacy of media that it now supersedes. In each case that inadequacy is represented as a lack of immediacy, and this seems to be generally true in the history of remediation. Photography was supposed more immediate than painting, film than photography, television than film, and now virtual reality fulfills the promise of immediacy and supposedly ends the progression.«24

Es ist für ihre Stellung gegenüber McLuhan durchaus bezeichnend, dass Grusin und Bolter an einem bestimmten Punkt die Logik ihrer Theorie unversehens durchbrechen. Gehen sie davon aus, dass das hypermediale Zitieren von möglichst vielen Medien zugleich die Unmittelbarkeit dieser zitierten Medien zugunsten der Unmittelbarkeit des Trägermediums bricht,25 so ist man äußerst verwundert, dass sie bei der Rockmusik genau das Gegenteil behaupten: Das 22 Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Me-

dia, Cambridge (MA) 2000, S. 55. 23 Ebd., S. 98. 24 Ebd., S. 60. 25 Ebd., S. 34: »In every manifestation, hypermediacy makes us aware

of the medium or media and (in sometimes subtle and sometimes obvious way) reminds us of our desire for immediacy.«

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permanente Zitieren von Medien in der Bühnenshow seit den 1960er Jahren ziele allein schon auf unmittelbares Erleben: »[. . .] hypermediacy can also provide an ›authentic‹ experience, at least for our current culture; otherwise, we could not account for the tremendous influence of, for example, rock music.«26 Der von Ihnen so heftig kritisierte McLuhan hatte zumindest benannt, dass auditive Phänomene viel eher der neuen grenzenlosen Kommunikation per elektronischer Datenübertragung entsprechen als die visuelle Seite.27 Im Gegensatz zu einem Druckbild sind die auditiven Phänomene ebenso wie die elektronische Distribution schwer einzugrenzen, was die heutigen Copyright-Probleme in der Musikindustrie hinlänglich unter Beweis stellen. McLuhan war vielleicht der Einzige, der in der elektronischen Massenkommunikation eben nicht nur einen Ort des visuellen, sondern vor allem eines auditiven Imaginären erkannte: nämlich den Wunsch nach der reinen, sich aus sich selbst generierenden Kommunikation um der Kommunikation willen, in der es wie in einem Dorf keine Zugangsbeschränkungen und Abgrenzungsspiele gibt.28 Wir wissen heute längst, dass dies eine illusionäre Vorstellung von der grenzenlosen elektronischen Kommunikation ist. Der Aufenthalt im Internet gleicht heutzutage eher einer Reise durch einen gefährlichen Großstadtdschungel, in dem man ohne Schutzmassnahmen erledigt und komplett ausgeraubt wird. Gleichwohl besitzt diese Imagination von der Grenzenlosigkeit einen Realitätseffekt, indem sie die intermediale Vernetzung symbolischer Formen im26 Ebd., S. 42. 27 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media,

Frankfurt a. M. 1970, S. 25: »›A Passage to India‹ [von E. M. Forster, Th. B.] [. . .] ist eine Parabel des westlichen Menschen im Zeitalter der Elektrizität und ist nur zufällig auf Europa oder den Orient bezogen. Wir erleben die Entscheidungsschlacht zwischen Sehen und Hören, zwischen der schriftlichen und mündlichen Form der Wahrnehmung und Organisation des Daseins.« 28 Ebd., S. 295: »Das Radio führt zu einer Beschleunigung der Informationsbewegung, die auch andere Medien beschleunigt. Es reduziert auf jeden Fall die Welt auf Dorfmaßstab und läßt unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen [. . .]. Das Radio kann nicht nur mit Macht alte Erinnerungen, Kräfte und Gefühle wecken, sondern dezentralisiert und ist eine pluralistische Kraft, was eigentlich für alle elektrische Medien und für den elektrischen Strom gilt.«

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mer wieder erneut anreizt. Wenn aber Grusin und Bolter glauben sollten, dass Rockmusik selbst unmittelbarer wird, indem in der Bühnenshow andere Medien bewusst werden, dann übersehen sie, dass diese Unmittelbarkeit nicht aus der Hypermedialität allein abgeleitet werden kann, sondern aus einer spezifischen ästhetischen Erfahrung, die zwar durch Medien geprägt, aber keineswegs durch diese vollkommen determiniert ist. Etwas differenzierter ist in dieser Hinsicht die Theorie der ›convergence-culture‹ von Henry Jenkins.29 Die zunehmende transmediale Verbreitung von ein und demselben Stoff durch verschiedene Medien hindurch wie z. B. Matrix als Film, Manga, Videospiel und Trickfilm ist für ihn der Grund zur Feststellung, dass die Zukunft unserer Medienkultur gerade nicht in der Zusammenfassung aller symbolischen Formen durch eine einzige black box wie den Computer liegt: »There will be no single black box that controls the flow of media into our homes.«30 Auch die Rockmusik mit ihrem Hang zur Hypermedialität wäre ein solches Beispiel einer durch ästhetische Erfahrung provozierten Konvergenz unterschiedlichster Medien. Jenkins Theorie der convergence-culture macht zumindest ernst mit einer Kritik der in Medientheorien immer wieder auftauchenden telelogisch ausgerichteten Technikdetermination. Aber er bestimmt seinerseits die ästhetische Erfahrung dieser Konvergenz nach jenem Medium, das die Legitimität der Intellektuellen am deutlichsten ausdrückt – nämlich der Schrift, womit er wieder seine soziale Stellung als intellektueller Beobachter der Medien nicht reflektiert: »Transmedia storytelling is the art of world making.«31 Können wir uns aber heute Musik ohne Visualisierung noch vorstellen? 1987 ging MTV Europe mit Money for Nothing von den Dire Straits in Europa auf Sendung. In der ersten Liedzeile hieß es: »I want my MTV«. Nicht minder steht der Song Video killed the Radio Star von der Rockband The Buggles aus den 1980ern für dieses Phänomen einer Kombination von Musik und Bild, der kurz nach Gründung von MTV zum Hit wurde. Die Plattenindustrie fand mit den Musikvideos eine neue Möglichkeit, ihren am Ende der 1970er Jahre zum ersten Mal stagnierenden Absatz anzu29 Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Col-

lide, New York/London 2006. 30 Ebd., S. 16. 31 Ebd., S. 21.

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kurbeln. Da man mit dem Medium der Videos schnellstmöglich drehen konnte, brauchte man auch kein vorbereitendes Drehbuch mehr wie bei den bis 1980 üblichen 16mm. Gerade Video konnte also das Medium der Schrift als Bedingung des Musikfilms abschaffen. 1990 hatte MTV dann 90 Millionen Haushalte erreicht, weil man sich den jeweiligen lokalen Besonderheiten von Europa bis Brasilien und Australien anschloss. Der Werbespruch Think global, act local stammt eben keineswegs von ›Politspontis‹, sondern MTV ; aber dies zeigt auch, dass es man solche Phänomene nicht allein ökonomisch verstehen kann, zumal MTV bei seiner Gründung in den ersten drei Jahren nur rote Zahlen schrieb:32 Ästhetische Erfahrungen können Märkte formen, wobei dies keineswegs, wie Fiske glaubt, immer eine oppositionelle Angelegenheit ist. Die Dominanz der philologisch motivierten Intermedialität, welche die offensichtliche Funktion des ›world-makings‹ durch Musik vernachlässigt, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wenig die Theorie der Intermedialität sich selbst als Vertreter einer legitimen Schriftkultur reflektiert. Sicherlich können auch Bilder erzählen, aber haben sie dieselbe Narratologie wie geschriebene Geschichten? Und Musik muss erst recht nichts erzählen, um die copyrightfixierte Plattenindustrie durch transmediale Kommunikation in die Knie zu zwingen. Es ist äußerst fraglich, ob storytelling den höchsten transmedialen Einfluss hat, wiewohl nicht geleugnet werden kann, dass auch Erzählungen mächtige ästhetische Anreize zu transmedialen Effekten sowohl in der Massenkommunikation wie auch in der legitimen Kunst abgeben. Viele der hier angeschnittenen Fragen werden in diesem Band sicherlich noch nicht hinreichend beantwortet werden können. Aber er sollte zumindest die philologisch dominierte Intermedialitätsforschung mit der von dieser meist nicht beachteten, aber ebenso reich in empirischen Beobachtungen bestückten musikwissenschaftlichen Intermedialitätstheorie konfrontiert werden. Zugleich wird dabei deutlich, dass das Zusammenspiel von Bild und Musik mindestens genauso dominant in der Massenkommunikation geworden ist wie das von Bild und Text, das Intermedialitätstheoretiker zu Unrecht 32 Zur kurzen Geschichte von MTV im Zusammenhang der Wer-

bung: Rhea Kyvelos: MTV, the Music Television. Globales Design und regionales Zapping, in: Global Design. Internationale Perspektiven und individuelle Konzepte, Ausstellungskatalog, hg. v. Museum für Gestaltung Zürich, Angli Sachs, Zürich 2010. S. 268–269.

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oftmals als das Paradigma von Intermedialität ansehen. Vielmehr stoßen hier unterschiedliche Formen der Grenzsetzung an Legitimation aufeinander. Nicht mehr das Wort, sondern ebenso bestimmen auch die im Leib inkorporierten ästhetischen Erfahrungen den Gebrauch von Medien. Intermedialität muss also auch wieder an der ästhetischen Erfahrung ansetzen, die selbst niemals vollkommen von Medien bestimmt wird, sondern diese sogar determinieren kann. Das Spiel zwischen high and low, zwischen institutionell legitimierten Künsten und Massenkommunikation gehört zum wichtigsten Einfallstor ästhetischer Erfahrung in die Medientheorie. Diese Frage ist zwar nicht neu: Schon die Ausstellung des Museum of Modern Art in New York zu Beginn der 1990er Jahre hatte sich dieses Themas angenommen.33 Aber inzwischen haben sich vollkommen neue Strukturen aufgrund neuer Medien und Mediennutzung eingestellt. Mehr denn je werden z. B. die Konsumenten im Prozess der Produktion miteinbezogen. Das kann ebenso normalisierende Effekte zur Folge haben, indem Großindustrien sich Produktionskosten sparen oder auch neue Differenzierungen innerhalb der Massenkultur hervorbringen, die weder von der legitimen Kultur noch von den großen Absatzmärkten kontrolliert werden können. Daher werden in diesem Band nicht nur die neueren Formen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute zum Thema gemacht, sondern auch ältere Avantgarden, um einerseits genauer die historischen Innovationsprozesse in der ästhetischen Erfahrung der Massenkommunikation und andererseits die Verschiebung der Legitimationsgrenzen und die damit zusammenhängenden Konflikte benennen zu können. Wenn von einer Wechselwirkung zwischen high and low geredet wird, kann eine die Avantgarden des 20. Jahrhunderts überstrahlende Persönlichkeit nicht unerwähnt bleiben: Marcel Duchamp. Seine Ready-mades kamen just zu einem Zeitpunkt ins Museum, als Fluxus und Pop Art ihn zu ihrem Ahnherren kürten. Michael Wetzel wendet sich in seinem Artikel allerdings nicht nur den Ready-mades zu, da sie oftmals übersehen lassen, dass wir es bei Duchamp mit noch wesentlich komplexeren Wechselwirkungen zwischen high and low zu tun haben. Schon bei Duchamp zählt 33 High and Low. Moderne Kunst und Trivialkultur: Museumskatalog

der Ausstellung des MoMA vom 7. 10. 1990–15. 1. 1991, hg. v. Kirk Varnedoe/Adam Gopnik, München 1990.

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nicht nur das Werk als solches, sondern der Diskurs um das Werk und der performative Prozess der Hervorbringung, die er beide als Inszenierung seiner Autorschaft nutzen konnte. Wetzel kann in seiner Theorie der Inframedialität wie nur Wenige die Dekonstruktion mit Bourdieus Feldanalyse verbinden. Im Gegensatz zur inzwischen schon klassisch gewordenen Dekonstruktion, die immer mehr die Unentscheidbarkeit (zwischen Kunst und Nicht-Kunst, so auch die letzte Documenta) in ihr Zentrum stellt und sich damit zunehmend einer kanonischen Entdifferenzierung verdächtig macht, hebt Wetzel mit dem Instrumentarium der Feldanalyse hervor, dass die Verfeinerung von Distinktionen zwar auf Ununterscheidbarkeit zu zielen scheint, faktisch aber damit eine neue Differenz gegenüber früheren darstellt. Inframedialität vermag also zu zeigen, wie in einer scheinbar durchmischten Intermedialität nicht die Unterschiede aufhören, sondern vielmehr einen genaueren Beobachter verlangen, der den Abstand zu früheren Produktionen zu verstehen vermag. Dass die Differenz zwischen Trägermedium und zitiertem Medium selbst als Strategie der Formgebung in künstlerischen Praktiken fungiert, kann Joachim Paech in seinem Beitrag am aktuellen Beispiel der Künstlerin Barbara Hlali zeigen, in der es um die Übermalung von digitalen Bildern des Kriegsalltags im Irak geht. In einem historischen Abriss zur Tradition der Malerei im Film, aber auch im Zusammenspiel und Konflikt zwischen Malerei und Fotografie kann er in Anspielung auf Viktor Šklovskij zeigen, dass Intermedialität ein Verfahren der künstlerischen Produktion darstellt, das seine eigene Bedingungen der Medialität als Formprozess thematisiert, ohne dass die materialen Voraussetzungen der im Verfahren zitierten Medien anwesend sein müssen. Solche Formprozesse sind eben nicht allein durch sprachliche Zeichen zu verstehen. Intermediales Verfahren als Formgebung in künstlerischen Produktionen wäre also ein gutes Beispiel dafür, dass Intermedialität nicht mehr von dem Paradigma der Intertextualität her verstanden werden kann.34 Wenn Intertextualität nur streng genommen als Intramedialität zwischen Texten gelten kann, dann kommt immer wieder die Frage 34 Für das Festhalten von Intertextualität in einem freilich erweiterten

Rahmen steht die durch eine philologische Wissenschaft geprägte Studie der Romanistin Irina Rajewski: Intermedialität, Tübingen/ Basel 2002, S. 48–58.

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auf, was in der zunehmenden intermedialen Vernetzung eigentlich die Grenzen von Medien sind. Die Grenzenlosigkeit der vernetzten Medien vermag gerade erst neue einheitliche Formate innerhalb der Intermedialität durch ästhetische Wahrnehmungen hervorzubringen. So zeigt Karin Bruns in ihrem Beitrag, wie psychologische Experimente der 1950er Jahre mit unterschwelligen Wahrnehmungsreizen in Form von Informationen, die nur einen Bruchteil von Sekunden während einer Filmvorführung andauern und unter dem Namen der subliminal images in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen sind, zwar keine Wirkung im Sinne des Experiments zeigten und auch niemals nachgewiesen werden konnten, aber alsbald als Diskurs eine Logik des Verdachts von unterschwelligen Botschaften in Filmen in Gang brachten, der ästhetisch in unterschiedlichen Filmen bis hin gar zur Parodie umgesetzt wurde, um sodann wieder die wissenschaftlichen Experimente zu unterschwelligen Wahrnehmungsreizen erneut anzuregen. Die im Grunde unsichtbaren und grenzenlosen subliminal images werden erst durch die ästhetische Erfahrung sichtbar und haben von da an ein eigenes eingegrenztes Format, das intermediale Effekte zeigt. Ebenso um die Bestimmung eines ästhetischen Eigenformats geht es in Michael Lommels Beitrag zum Episodenfilm. Seine Analyse stellt den ersten Versuch dar, den ästhetischen Eigenwert des Episodenfilms (z. B. Coffee and Cigarettes von Jim Jarmusch) zu bestimmen, was bislang nicht in Angriff genommen wurde. Dazu bedient er sich des Theorieelements der Heautonomie von Deleuze/Kant. Im Begriff der Heautonomie liegt schon die paradoxe Spannung zwischen Heteronomie und Autonomie, zwischen einem in sich gefassten Ganzen, das mehr als die Teile ist und den Teilen, die dennoch als selbstständige Narration neben das Ganze in Form der Episode treten. Mit diesem originellen Ansatz kann Lommel die ästhetische Eigenständigkeit des Formats Episodenfilm an empirischen Beispielen von Griffith über Tarantino bis Jarmusch genauer in den Blick nehmen. Auch wenn Schrift ein Medium der Intertextualität ist, so spielt Schrift im Film eine Rolle, die keineswegs die Gutenberg-Galaxis erledigt hat. Gleichwohl ist es im Sinne McLuhans, wenn Bernd Scheffer in seinem Beitrag konstatiert, dass im Film die Verwendung von Schrift Möglichkeiten erreicht, die sich wohl jede Schreibstube des Mittelalters und jede Druckerpresse gewünscht hätte: Sie kann sich bewegen, kann dreidimensional und vor allem emotionsgela-

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den sein. In jedem Fall erhält die Schrift durch den Film eine intensivierte Qualität, die ihr innerhalb der nur auf Textgenerierung beschränkten Gutenberg-Galaxis noch verwehrt blieb. Dies kann man dennoch im Sinne McLuhans sehen, weil nach dessen Ansatz ja nicht nur die neuen Medien die alten enthalten, sondern die Möglichkeiten der alten Medien dadurch sogar intensiviert werden können, zumal Scheffer konstatiert, dass die emotionale Seite der Schrift im Film deswegen so stark im modernen Tonfilm sein kann, weil sie mit Musik begleitet wird. Weit gefehlt, wer glaubt, der Stummfilm sei stumm und der Tonfilm sei der Harmonie von Ton und Bild verpflichtet. Von Robert Bresson über François Truffaut, Lars von Trier bis hin zu den Brüdern Dardenne deckt Thomas Macho im Autorenfilm eine innovative Reihe im avantgardistischen Verständnis der Intermedialität zwischen Ton und Bild auf. Galt seit Goethe und Flaubert für den modernen Roman, sich jeder Einfühlung zu verweigern, so setzt diese vorbildlich gewordene ästhetische Strategie einer modernen Avantgarde im Film mit Bresson ein, der Musik ganz selten verwendet. Film und Ton sollten gerade im Tonfilm einen jeweiligen Eigenwert haben, um Einfühlungen in den Helden, wie es der Massenmarkt bis heute demonstriert, zu verhindern. Wenn auch auf den ersten Blick Bressons Au hasard Balthasar als Ausnahme gilt, so bestätigt sich jedoch in der genaueren Analyse erst recht, dass die verwendete Musik eben nicht als Begleitung eingesetzt wird. Der stumme Esel erhält in diesem Film zwar durch Musik einen phonetischen Ausdruck, aber die Art des Zitats von Schuberts Andantino der A-Dur-Sonate und ihre Mischung mit Tonelementen von Tierschreien mit Maschinengeräuschen stellt eine eigene Information dar und keine nostalgische Einfühlung, wie bisher angenommen. MTV hat zwar ein neues Zeitalter des Konsums von Musik und Bilder eingeleitet, aber inzwischen ist es vom world wide web längst eingeholt worden. Einer der Gründe dafür ist eine neue spezifische Produktionsweise, nach der die Fans nämlich nicht nur passiv rezipieren, sondern selbst in die Produktion eingreifen können. Beate Ochsner zeigt in ihrem Beitrag, welche neue Möglichkeiten sich im MusikClip durch das Internet seitdem eröffnet haben. Ochsner geht es dabei nicht nur um den von Axel Bruns in die Debatte geworfene Strategie des produsage, also des Mitmachens von Konsumenten am Produktionsprozess. Sie zeigt an Beispielen von MusikClips im Internet wie eine bloß den Markt bestimmten Teilnahme zu un-

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terscheiden ist von avantgardistischen Projekten, in denen durch Teilnahme tatsächlich komplexe und höherwertige ästhetische Innovationen entstehen. Damit kann sie zeigen, dass das Monopol einer ästhetischen Differenzierung eben nicht mehr nur bei der institutionell legitimierten Kunstproduktion liegt. Das Sampling der DJs gilt vielen Intertextualitätstheoretikern als Beweis moderner Intertextualität. Hatte nicht schon Brecht gesampelt? Die Effekte sind aber in der Massenkommunikation ganz andere als in der legitimen Literatur. Seit Jahren beklagt die Musikindustrie den Fall ihrer Profitrate, während wohl das literarische Sampeln durch Helene Hegemann den Markt ankurbelt. Das Kopieren mit neuen Geräten hat nicht nur Fans dazu gebracht, das Copyright zu umgehen. Die von DJs gesampelten Sounds stellen eigentlich einen permanenten Verstoß gegen herrschendes Recht dar, glaubt man der Begründung des Bundesgerichtshofs. Angesichts eines konkreten Falls kann Frédéric Döhl zeigen, wie die Richter eine recht paradoxe Haltung einnehmen. Einerseits wird zwar das Sampeln als kreative Praxis zum ersten Mal höchstrichterlich anerkannt, zugleich verwenden die Richter aber Maßstäbe wie die Originalität einer Melodie, die in einem Zeitalter des Sounds keine Rolle mehr spielen. Rockmusik ist längst nicht mehr nur in der Hand von außerakademischen Virtuosen. Schon die eingängige Viola von John Cale auf der Platte Velvet Undergound & Nico von 1966 dürfte an das ersten Auftreten eines akademisch geschulten Minimalismus im Rockbereich erinnern. Michael Custodis analysiert in seinem Beitrag am aktuelleren Beispiel des Keyborders Jordan Rudess, wie sich in dessen Person high and low treffen. Rudess studierte klassisches Klavier, überträgt aber mit neuen Möglichkeiten der technischen Soundproduktion die im Rockbereich gefeierte Virtuosität des Gitarristen auf Tasteninstrumente, die auch in der Inszenierung auf der Bühne die entsprechende Wirkung zeigen. Hier trifft sich die klassische Klaviervirtuosität mit der in populären Kulturen immer wieder gefeierten Virtuosität des Technikers. Dabei harmonieren unversehens zwei diametrale Prinzipien: Während der Virtuose der Technik gerade dazu tendiert, die dem Körper antrainierte Fähigkeit durch Apparatur zu ersetzen, tendiert die klassische akademische Virtuosität zur direkten Inszenierung vor dem Publikum, das die Authentizität der körperlichen Leistung sehen will. Beide können

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in einer bildlichen Inszenierung des produzierten Sounds auf der Bühne zusammentreten. Wenn von Intermedialität zwischen Körper und Werk die Rede ist, wird meist an Tanz gedacht, nicht an den Komponisten von Musik selbst. Dabei gehört zur Musik seit der im 19. Jahrhundert gefeierten Virtuosität die körperliche Geste, die dann freilich von Komponisten des 19. Jahrhunderts wie eben von Richard Wagner dem Verdacht der Effekthascherei ausgesetzt wurde. Die elektronische Musik, wie Elena Ungeheuer in ihrem Beitrag zeigt, schien zwar zunächst die körperliche Vermittlung der Musik zu ersetzen, brachte aber schließlich auch eine Art Virtuosität der Geste hervor. Ungeheuer zeigt dies an einem Beispiel der populären Kultur, an einem MusikClip mit John Lennons Imagine, sowie an der Entstehung der elektronischen Musik der Avantgarde um Stockhausen und Koenig. Aber selbst bei Pierre Scheffers musique concrète, wo dieser Gestus zu fehlen scheint, handelt es sich immer noch um die Intermedialität eines reflexiven Hörens der durch Körper produzierten Zeit im Hören, das nur mittels Apparatur hergestellt werden kann. Scheint es zwar eine Intramedialität zu sein, wenn man nur die Wiederholung von anderen Klängen mittels einer technischen Apparatur beachtet, so muss man es aber eine Intermedialität des Medienwechsels nennen, wenn mittels der Apparatur die Aktivität des Körpers als die Zeit des Klangs produzierendes Medium bewusst gemacht wird. Wieder einmal zeigt dies, wie sehr Musik eine Grenzen sprengende Kraft der Intermedialität zu transportieren vermag. Der hier vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung im Sommer 2009, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin abgehalten wurde. Zu hoffen bleibt, dass der Band die Diskussion von einem durch Intertextualität und einem philologisch dominierten Verständnis des Intermedialitätskonzept weg zu einer Richtung zu bringen vermag, in der die Strategien und Machtspiele stärker berücksichtigt werden sollten, die nicht nur der Episteme von Wissenschaften, sondern auch dem intermedialen Spiel ästhetischer Erfahrungen inhärent sind. Der Herausgeber dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Freien Universität Berlin für die Unterstützung der Tagung. Die Drucklegung wurde mit Mitteln des DFG-geförderten SFB 626 ermöglicht.

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Das Ready-made als Stolperstein Duchamp und Bourdieu über die Inframedialität des feinen Geschmacks

Michael Wetzel (Bonn)

»Nur durch eine fortdauernde immer wiederholte Störung ist Leben möglich.«1

In aller Unscheinbarkeit wenn nicht gar Unmerklichkeit ist am 2. Oktober 2008 ein Ereignis vorübergegangen, dessen wir uns bei aller 68er-Euphorie nicht erinnert haben: der 40. Todestag von Marcel Duchamp (Abbildung 1, nächste Seite). Der Tod von Marcel Duchamp blieb sozusagen »inapercu«, unbemerkt und unauffällig, ein »inapercu«, also kein geistreicher Einfall, wie der von Duchamp selbst entworfene Grabspruch: »Übrigens sind es immer die anderen, die sterben«. Ob er nun wirklich an einem Lachanfall verstorben ist, sei dahin gestellt, auf jeden Fall ist es nicht unbedeutend, dass dieser Künstler gerade im Jahre 1968 gestorben ist, also in dem Jahr, in dem eine Revolte auch die revolutionäre Kraft der Phantasie wieder entdecken wollte, wobei die blaue Blume der Romantik für sie tiefrot gefärbt war. Und dass es an einem Lachanfall gewesen sein soll, ist auch nicht ohne Signifikanz, wenn man an die vom Lachen entfesselte sprengende Kraft des Witzes denkt, wie sie gerade an der vorletzten Jahrhundertwende gefeiert wurde: von Sigmund Freud etwa in der Analyse der Beziehung des Witzes zum Unbewussten, von Henri Bergson in seiner Abhandlung über das Lachen aber vorher schon in der Nonsense-Literatur eines Lewis Carroll oder später dann vom Dadaismus, als dessen geistiger Vater Duchamp gern in Anspruch genommen wird. Dieser Künstler war aber eher ein Meister der Verwirrung, der Entdifferenzierung mit dem Ziele der Erzeugung von Kippfiguren und unentscheidbaren Doppeldeutigkeiten, die Vertrautes unver1 Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre. Kritische Friedrich-Schle-

gel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, Bd. XVIII, München 1963, S. 419.

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Michael Wetzel

Abbildung 1: Marcel Duchamp, Fotografie 1926 (Archives Bettmann),

aus: Revue Etant Donné, No. 1, Paris 1999, S. 9.

traut, Bekanntes fremd, Erkanntes rätselhaft werden lassen. Dies als Kunst der Verfremdung zu bezeichnen, wäre zu schwach. Was Duchamp mit den Dingen tut, ist diabolisch. Er beraubt sie ihrer Identität, um sie als Fetische zirkulieren zu lassen, als im Sinne von Marx »sinnlich-übersinnliche[n] Dinge[n]«, wie der tanzende Tisch im Warenfetischismus-Kapitel im 1. Band des Kapitals. Das gilt übrigens, vorweg greifend schon formuliert, auch und in besonderem Maße für die Frage der Inter-Medialität, die ja immer auch eine Frage nach der Unterscheidbarkeit der Einzelmedien impliziert, bevor es daran geht, ihre Interpenetration oder Supplementarität zu untersuchen. Duchamp mischt die Medien, buchstäblich die Materialien seines Kunstschaffens, die Apparate der künstlerischen Produktion, vor allem aber die Codes der ästhetischen Berechnung, um sie einer spielerischen Indifferenz, einer ästhetischen Indifferenz zu unterwerfen. Und das, was dahinter steht, ist ein neuartiges Verständnis von künstlerischer Selbstinszenierung, von artistischer Agency, die über das klassische Verständnis von schöpferischem Künstlertum hinausgeht, ja es unterläuft. Für Duchamp stand immer das Tun oder Handeln im Vordergrund und nicht das Werk. Die immer noch in Umlauf befindliche Behauptung, er habe schon früh mit dem Arbeiten aufgehört und

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sich nur noch dem Schachspiel gewidmet, ist Teil dieser Inszenierung als – wie man heute sagen würde – performative artist. Das Handeln auch als Verhandeln von Zusammenhängen im Sinne eines symbolischen Handelns durch Worte markiert die Leistung des Künstlers als Eingriff in seine soziale Umwelt, um durch Verstellen, Entstellen oder auch nur Umstellen die Funktionsweise des Gestells herauszustellen. Ex-Position wäre das beide Bereiche, Kunst und Leben, umgreifende Wort, auf Englisch wäre es exhibition! Das so genannte Werk hat demgegenüber nur Residualfunktion. Es steht nicht mehr im Zeichen von Vollendung, Offenbarung oder Sichtbarkeit insgesamt, sondern dokumentiert nur einen Prozess in dementsprechend marginalen und kontingenten Zeitschnitten und zwar selbst wiederum wie in experimentellen Anordnungen und Variationen, die den Werken eher Zeichencharakter zusprechen. Das Handeln selbst aber folgt dem Anspruch einer Positionierung des Künstlers und seines Programms in einem Kontext, der gleichermaßen für die Bestimmung von Künstlertum relevant ist: dem, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als das »literarisch-künstlerische Feld« bezeichnet hat. Duchamp war vielleicht der erste und begnadetste, der dieses Netzwerk bespielt und damit auch manipuliert hat. Und wenn von Netzwerk die Rede ist, dann impliziert das natürlich in erster Linie die Medien und die intermedialen Verhältnisse. Bei Duchamp wird das schon spürbar auf der Ebene der Materialien und ihrer Collage, sodann auf der Ebene der Information und Kommunikation des Programms, das bei Duchamp eben eine größere Rolle spielte als das Präsentierbare. Opus und Actus sind Gegensätze, die schon für die Romantik von Bedeutung waren. Peter von Matt hat dieses Spannungsverhältnis als Grundfigur der Erzählungen E. T. A. Hoffmanns erkannt,2 bei denen es immer um das Ungenügen am ausgeführten Endprodukt geht, das als ergon nicht die energetische Entladung der künstlerischen Vision wiedergeben kann. Bei Duchamp kehrt dies wieder als die Polemik gegen das Retinale der Malerei, auf die erscheinende schöne Form, der als piktorialer Nominalismus eine Orientierung an Ideen und Konzepten gegenübergestellt wird.3 Bei Duchamp stellt 2 Vgl. Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns

Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst, Tübingen 1971. 3 Vgl. die Notizen von Marcel Duchamp in: Marcel Duchamp: Du-

champ du signe, hg. v. Michel Sanouillet, Paris 1994, S. 111 u. 183.

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sich der kreative Prozess dezidiert als ein medialer Zusammenhang dar, der sich in einem Kommunikations- bzw. Interaktionsfeld realisiert, das nicht mehr von Subjektintentionen bestimmt ist, sondern von unbewussten Energieübertragungen zwischen Akteuren, Vermittlern, Rezeptoren etc., ein Zusammenspiel von Faktoren, das Duchamp mit Begriffen wie »Transfer«, »Osmose«, »Koeffizienz« oder »Transsubstantiation« beschreibt.4 Genau diese Prozessualität hat Bourdieu in seinen Feld-Studien über die Regeln der Kunst zum zentralen Thema gemacht, um die klassische Machtposition des souveränen Genie-Künstlers zu dekonstruieren und an seine gesellschaftlich-historischen Inaugurationsbedingungen rückzubinden. Der entscheidende Mechanismus ist dabei die Distinktion – heute spricht man gern von der Herausstellung von Alleinstellungsmerkmalen –, d. h. einer Entscheidung durch Unterscheidung, die Bourdieu einer Dialektik überführt, einer am Sprachspiel von Modernität und Mode festmachbaren Dialektik, die »dazu verleitet, das literarische Leben in der Logik der Mode zu denken, und das es erlaubt, eine Tendenz, Strömung oder Schule mit dem bloßen Argument zu verurteilen, sie sei ›überholt‹.«5 Es geht also um die Markierung von Differenz als innovativer Begründung von Originalität, die auf die stiftende Intention eines AutorKünstlers verweisen soll. Der Autor zumindest steht seit Beginn der Neuzeit und erst recht der Moderne am Ursprungsort, der durch die ästhetische Frage nach dem Sinn und Wert des Kunstwerkes markiert wird. Aber genau diese Intention, die zur »Erklärung jenes Wunders der Transsubstantiation«6 herangezogen wird, ist wieder abhängig von einer Klassifikation und Vermessung der geschmacklichen Finesse/Raffinement im intermedialen und – durch diesen geprägt – vor allem im intersubjektiven Raum oder Feld ihrer Positionierungen, um das Individuelle am Allgemeinen zu markieren und zugleich als Abweichung zu demarkieren. Entscheidend für Bourdieus Ansatz ist aber die »relative Autonomie« dieser Logik des künstlerisch-literarischen Feldes, die eine »differentielle, distinktive Wahrnehmung« als Bedingung der Möglichkeit für den »Abstand« 4 Vgl. Marcel Duchamp: Le processus créatif, in: ebd., S. 187–190, hier:

S. 188 f. 5 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des lite-

rarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999, S. 205. 6 Ebd., S. 457.

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fordert, der ein neues Werk von anderen und älteren trennt.7 Es geht also durchaus im kantischen Sinne um eine kritische Wende, die allerdings nicht im künstlerischen Subjekt, sondern im sozialhistorischen Rahmen seiner Erscheinung als solcher die transzendentalen Entstehungsbedingungen für künstlerische Intention benennt. Schon in La distinction – critique sociale du jugement schreibt Bourdieu über diese Genese künstlerischer Intention als gleichzeitige Ablösung von jeglicher Orientierung an ontologischen Qualitäten des Kunst-Werkes: »En fait, cette ›intention‹ est elle-même le produit des normes et des conventions sociales qui concourent à définir la frontière toujours incertaine et historiquement changeante entre les simples objets techniques et les objets d’art: [. . .] un art qui, comme toute la peinture postimpressionniste par exemple, est le produit d’une intention artistique affirmant le primat absolu de la forme sur la fonction, du mode de représentation sur l’objet de la représentation, exige catégoriquement une disposition purement esthétique que l’art antérieur n’exigeait que conditionnellement; l’ambition démiurgique de l’artiste, capable d’appliquer à un objet quelconque l’intention pure d’une recherche artistique qui est à elle-même sa fin, appelle l’infinie disponibilité de l’esthète capable d’appliquer l’intention proprement esthétique à n’importe quel objet, qu’il ait été ou non produit selon une intention artistique.«8

Im so genannten künstlerischen – oder mit Rücksicht der bildenden und dichtenden Künste: literarisch-künstlerischen – Feld, wie es sich im 19. Jahrhundert als autonome Vermittlungssphäre herausgebildet hat, konstituiert sich also eine Art subjektloser Intention als formale, zeremonielle oder rituelle, an Diskursen, Zeichen, Institutionen etc. festgemachte Geste, die kraft ihrer Autorität alles zur Kunst machen kann. Mit der Wahl des Feld-Modells reagiert Bourdieu auf eine begriffliche Entwicklung, die sich einer seit fast zwei Jahrhunderten andauernden Krise oder besser Umorientierung des Raumdenkens verdankt und die ihren Ausgang von der Erkenntnis in die Falsifizierbarkeit bzw. Relativität der euklidischen Geometrie nimmt. Seit der von Michael Faraday und James Clerk Maxwell entwickelten Physik der Elementarteilchen bricht die Quantenfeldtheorie mit der noch von Kant verfochtenen Vorstellung des Raums als Form subjektiver Anschauung, in der sich 7 Ebd., S. 393. 8 Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris

1979, S. 30.

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die Begriffsschemata gewissermaßen als ›res extensa‹ realisieren. Als Feld mit seinen konstitutiven elektrostatischen und elektromagnetischen Induktionen behauptet die physikalische Realität eine relative Autonomie, die in den so genannten Feld-Gleichungen eigenen Beschleunigungsgesetzen der Materie im Raum folgt. Diese neue Verräumlichungsvorstellung als Feldtheorie erfährt durch Albert Einsteins relativistische Gravitationstheorie mit ihrer Integrierung der Krümmungstensoren des Riemann’schen, vierdimensionalen Raumes eine weitere Verfeinerung, die immer deutlicher werden lässt, wie die transzendentale Voraussetzung einer energetisch als Feld zu denkenden Verräumlichung den als ergon, also Werk, zu bezeichnenden Fakten den Boden bereitet. Wolfgang Köhlers Weiterführungen eines psychophysiologischen Feld-Begriffs zeigte auch für die Gestalttheorie die Bedeutung der internen zeitlichen Dynamik möglicher Zustandsveränderung innerhalb der Raumpunkte eines Feldes auf. Übertragen auf den Zusammenhang der Genese künstlerischer Kreativität macht nun Bourdieu diese aus dem Zusammenhang psycho-physischer Gesetzmäßigkeiten gewonnenen Einsichten für eine Beschreibung fruchtbar, die das mannigfaltige Zusammenspiel der sozialhistorischen Faktoren der Repräsentation und Evaluation von Kunst in ihrer produktiven und nicht etwa nur rezeptiven Funktion verdeutlicht. Der Begriff Feld scheint zwar noch einer planimetrischen Bildlichkeit zu folgen, die aber eingedenk der quantenphysikalischen Tradition dem Induktionsmodell eines internen, mehrdimensionalen Spannungsaufbaus weicht. Als Medien geben die Elemente in diesem Feld nicht einfach weiter, was Künstlersubjekte in sie an Intentionen einspeisen, sondern diese aktivieren im Feld potentieller Kräfte Energienentladungen, als deren Spuren sich die Kunstwerke und ihre Signaturen einschreiben. Bourdieu folgt mit dieser Umkehrung der Genealogie der Kränkungsgeschichte, die Freud mit Kopernikus, Darwin und sich selbst überschreibt und die für den Bereich der neuzeitlichen Künstlernobilitierung eine besondere Drastik der Entthronung bedeutet. Zugleich betont Bourdieu die Multimedialität der im literarisch-künstlerischen Feld aktiven Instanzen ökonomischer, politischer, kultureller, publizistischer, epistemischer oder archivarischer Natur, deren institutionelle Autorität erst den Künstler als Schaffenden autorisiert und zwar kraft dessen, was als Habitus im Kreuzungspunkt des intermedialen Kräftefeldes von Außen her die Rolle von »aktiven, erfinderischen,

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›schöpferischen‹ Fähigkeiten«, d. h. die »generative Potenz« als »etwas Erworbenes« bereitstellt.9 Anders gesagt, will Bourdieu mit diesem Topos des Habitus selbst eine intermediäre Position bestimmen, die in der Rolle eines sozialen Akteurs als konstitutivem Operateur das Kapital einer Handlungsmacht beibehalten will, ohne darin die individuelle Leistung eines transzendentalen Subjekts anzuerkennen. In diesem Kräfteparallelogramm des ästhetischen Feldes spielt der Künstler für Bourdieu eher eine Rolle, die er sich als Verinnerlichung dieses sozialen Dispositivs im Habitus angeeignet hat. Seine Macht gewinnt er angesichts einer zunehmenden Autonomisierung des Feldes also erst sekundär durch Nutzung des sozialen Energiefeldes dieses ästhetischen Dispositivs, was niemand besser zu nutzen wusste als der Künstler, der sich für Bourdieu »im Feld der Kunst wie ein Fisch im Wasser« bewegte, nämlich der »durchtriebene Künstler« Marcel Duchamp.10 Er, der mit Namen und Begriffen die Spiele der Buchstaben zu spielen liebte, fand schon in seinem Familiennamen die Herkunft aus dem literarisch-künstlerischen Feld eingeschrieben: Du-Champ, d. h. »der, der aus dem Feld hervorgeht«. Er verweigerte sich nicht der Einsicht, dass der Autor ein Effekt des Feldes ist, und affirmiert daher hemmungslos die Feldkräfte im Eingehen auf das Spiel, um sich desto besser zu dessen Meister zu machen, und vor allem, um die intermediale Konfiguration der Werkgenese im Zusammenwirken von Ausstellung und interpretativem Diskurs für seine Zwecke zu nutzen, indem er die Position des Produzenten bloß schweigender Gegenstände und damit für den retinalen Genuss bewusst verweigerte.11 Duchamps Gegenkonzept des piktorialen Nominalismus stellte nämlich nicht nur das Konzeptuelle der Werke über deren materielle Ausführung, sondern begleitete diese vorbereitend, kommentierend bzw. komplettierend, bisweilen sogar in effigie durch eine reichhaltige Textproduktion von parergonalen Titelformulierungen, Notizen, Essays oder auch Interviews. Vielfältig ist in dieser Hinsicht der Bruch Duchamps mit allen ästhetischen Traditionen: angefangen bei Goethes »Bilde Künstler, 9 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 286; vgl. ders.: Künstleri-

sche Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1970, S. 75–124, hier: S. 112. 10 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 391. 11 Vgl. ebd., S. 223.

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Abbildung 2: Le Grand Verre (Das Große Glas). La mariée mise à nue

par ses célibataires, même, 1915–23, aus: The Complete Works of Marcel Duchamp, hg. v. Arturo Schwarz, New York 2000, Vol. 1, Abb. 111, S. 361.

rede nicht«, das wie Lessings Laokoon die Grenze zwischen bildenden und sprachlichen Künsten markieren sollte (die aber schon zu Goethes Zeiten von den Romantikern längst überwunden war), bis hin zum künstlerischen Schaffensakt, an dessen Stelle er die Manipulation der gesellschaftlichen Prozesse der Qualifikation von Dingen als Kunstwerke im künstlerischen Feld setzte, um auf diesem Wege die Legende seiner selbst als Künstler bzw. – mit den Worten Bourdieus – »sich selbst als Maler«12 zu produzieren. Allerdings ist Bourdieus Zugangsweise zum Werk Duchamps eigenwillig verkürzt, indem er sich nur auf die Ready-mades konzentriert, also auf die großen Projekte des Großen Glases (Abbildung 2) oder Etant donné nicht eingeht und hierbei auch das Moment der Indifferenz bei der Auswahl von Alltagsgegenständen und deren Verweigerung des Kunstwerkhaften unterbelichtet. Entscheidend ist nämlich an solchen Beispielen wie dem legendären Urinoir genannt Fontaine/ Fountain (Abbildung 3), dass sie ursprünglich nicht als Kunstwerke ausgestellt wurden, sondern ihrer Musealisierung auf den verschlun12 Ebd., S. 386.

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Abbildung 3: Fountain, Fotografie von Alfred Stieglitz 1917, aus: The

Complete Works of Marcel Duchamp, hg. v. Arturo Schwarz, New York 2000, Vol. 1, Abb. 125, S. 373.

genen Pfaden einer geschickt inszenierten Transformation entgegeneilten. In seriösesten Einführungen zur Kunst der Gegenwart kann man immer wieder lesen, dass mit Duchamp die Künstler begännen, Alltagsgegenstände aus ihrem Verwendungszusammenhang herauszunehmen, um sie ins Museum als Kunstwerke zu transferieren. Nichts von alledem bei Duchamp. Sein Objekt Fontaine wurde zwar in dem für Kunst nicht gerade zuständigen Sanitärfachgeschäft Mott Iron Works in New York erstanden und unter dem Fake-Namen R. Mutt (so die Signatur) bei der Ausstellung der Society of Independent Artists 1917 eingereicht – aber, nach seiner Ablehnung durch das Auswahlkomitée, nie ausgestellt, geschweige denn in die heiligen Hallen eines Museums gebracht. Was von ihm blieb, ist die meisterlich vor dem Ölgemälde eines unbekannten Künstlers inszenierte Photographie des auf den Rücken gelegten Urinoirs. Danach verliert sich die Spur. Erst nach der Popularität Duchamps in den 60er Jahren fertigte er auf Wunsch von Sammlern wie Arturo Schwarz Repliken seiner Ready-mades an, die heute die Sammlungen der Museen für moderne Kunst zieren, wobei er damit nur konsequent eine andere Praxis seiner künstlerischen Tätigkeit fortsetzte: nämlich die Produktion der boxes oder boîtes en valise mit den miniaturisierenden Photographien seiner Hauptwerke in Form eines vom Künstler selbst antizipierten »musée imaginaire« (André Malraux).

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Entscheidend an diesem Prozess, der genau genommen eine ›Inszenierung‹ von Ready-mades auf dem künstlerischen Feld darstellt, ist also diese Abfolge von: Auswahl, kunstwerkartiger Präsentation, photographischer Reproduktion, Entzug und kunstmarktgerechter Replikation. Es herrscht, wie Nathalie Heinich feststellt, eine konstitutive Nachträglichkeit (»effet d’après-coup«) des ästhetischen Effekts, die entscheidende »décalage entre temps de la fabrication et temps de la consécration«.13 Im Zwischenraum dieser Verzögerung kommen zugleich die unterschiedlichsten Medien ins Spiel, um das Künstlertum über eine veritable Autorisierungsstrategie von Autorschaft zu begründen. Heinich unterscheidet dabei sechs verschiedene Operationen in der Transformationsgeschichte des Urinoirs: 1. Die Verschiebung des Gegenstandes aus seinem eigentlichen Kontext (Sanitärbedarf) in den der Kunst (Einreichung für den Salon), 2. seine Entfunktionalisierung als Urinoir durch die Rückenlage, 3. die Signatur mit dem fiktiven Namen »R. Mutt«, 4. die Datierung auf das Jahr 1917 der Ausstellung, 5. die Titelgebung Fountain und 6. die Ersetzung durch das Photo von Stieglitz, das einen Monat nach der Ablehnung in der von Duchamp herausgegebenen Zeitschrift The Blind Man zusammen mit einem Text erschien, in dem Duchamp sich über das Schicksal des von ihm erfundenen Doppelgängers R. Mutt als eines gescheiterten Künstlers ausließ.14 Man könnte die ›Geschichte‹ weiter ausdehnen und den Nachträglichkeitsprozess auf die Legendenbildung um die durchweg verschwundenen und unauffindbaren ›originalen‹ Readymades ausdehnen. Denn schließlich war es die an verschiedenen Orten zirkulierende Rede von unbekannten Meisterwerken, die u. a. den Ruhm Duchamps wachsen ließ und das Begehren des Marktes nach Repliken derselben weckte. Was Bourdieu als Spiel mit den Mechanismen des literarisch-künstlerischen Feldes und Heinich als Evident-Machen der Intermedialität von Objektinformationen, Bildern, Diskursen, Wertvorstellungen und Institutionen beschreiben, kann man auch von einer anderen Seite her als Nutzung von Marktmechanismen zur Propagierung des Kunstwerkes als Ware qualifizieren. Es geht dabei um die Erzeugung eines Mehrwertes, den schon Marx im Kapital mit metaphysischen Mucken 13 Nathalie Heinich: Le triple jeu de l’art contemporain. Sociologie des arts

plastiques, Paris 1998, S. 40. 14 Vgl. ebd., S. 28.

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Abbildung 4: Fotos von Marcel Duchamps Atelier, New York 1917–

18, aus: The Complete Works of Marcel Duchamp, hg. v. Arturo Schwarz, New York 2000, Vol. 1, Abb. 113/4, S. 363.

und Fetischismus in Zusammenhang gebracht hat. Dazu zählt auch eine forcierte Legendenbildung, wie die von Marcel Duchamp als eines einsamen Schachspielers ohne Kunstwerk. Zwar hat Bourdieu zu Recht darauf hingewiesen, wie sehr das strategische Denken des tatsächlich von Duchamp passioniert betriebenen Schachspiels mit seinem Vorausdenken der einzelnen Züge und ihrer Konsequenzen auch für die Selbstinszenierung des Künstlers als Künstler von Bedeutung war. Schon so populäre Bilder wie das aus Pasadena, auf dem Duchamp mit der nackten Kunststudentin Eve Babitz eine Partie spielt, strafen die Rede vom abwesenden »Werk« Lüge, da der Raum angefüllt ist mit Beispielen des Schaffens und nicht zuletzt dem monumentalen Großen Glas. Nicht dagegen da sind die ursprünglichen Ready-mades wie das Urinoir, von dem so angesehene Kunsttheoretiker wie Arthur Danto nur mit einiger Ignoranz behaupten konnten, dass Duchamp sie durch Ausstellen »von einem bloßen Ding zu einem Kunstwerk erhoben«15 habe, was zum unüberprüften Nachbeten der Legende von den musealen Ready15 Vgl. Arthur Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M.

1984, S. 23 f. u. 79; vgl. ders.: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993, S. 35 ff.

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mades führte, die es ursprünglich niemals gegeben hat, statt ihre historisch faktische Funktion als »gadgets« im Atelier Duchamps zu erkennen, wo sie zeitweilig herumlagen, was nur durch Photos dokumentiert ist, als die sie eben ihr Fortleben fristeten (Abbildung 4, vorige Seite). Das zeigt sich auch besonders am Beispiel des vielleicht in den meisten Abhandlungen übersehenen (inapercu) und unscheinbaren Kleiderhakens, der als Trébuchet Eingang ins Verzeichnis der Ready-mades gefunden hat (Abbildung 5). 1917 hat Duchamp den Kleiderhaken nebst Hutständer angeblich abgeschraubt und mit diesem Titel versehen, der somit auf die Funktion eines bestimmten Stellungstyps im Schachspiel verweist: die taktische Bewegung, die ein Bauernopfer so platziert, dass es den Gegner dazu bringt, zu stolpern (bzw. in eine Falle »trap« zu stolpern, wie bei den mehrdeutigen Titeln der meisten Werke Duchamps der Rezipient in hermeneutische Fallen – »pièges à hermeneutique«16 – gelockt werden soll). Nun hat Duchamp diesen Kleiderhaken auf den Boden seines Ateliers buchstäblich so angeordnet, dass die Leute darüber stolperten, bzw. sich wie in einer Falle verfingen. Unter ›trébuchet‹ kann im Französischen auch eine ›Präzisionswaage‹ verstanden werden, oder eine ›Vogelfalle‹, aber das Arrangement verweist auf das Stolpern als Moment der Störung – von Zuhandenheit und Weglichkeit –, das im Sinne Bergsons aber zugleich eine der häufigsten Ursachen für das Lachen, für Effekte des Komischen ist. Das von ihm selbst gegebene erste Beispiel ist ein Stolpern (»Ein Mann läuft auf der Straße, stolpert und fällt«), um hieran zu verdeutlichen, dass an diesem Vorfall nicht allein die Fehlleistung, sondern auch die unfreiwillige Transformation der Körperbewegung in den Mechanismus eines Hampelmannes lächerlich ist, dass also im Komischen auch gerade jenes Mechanische im Leben schlagartig bewusst wird, das sich laut Bergson auch im Lächerlichen mechanischer Wiederholungen oder serieller Reproduktion eben wie bei den Readymades zeigt.17 Anders gesprochen, hat das Stolpern als Störung eines Handlungszusammenhangs die eminente und konstruktive Funktion, eine Aufmerksamkeit für Auffälligkeiten zu erwecken, für Unge16 Nathalie Heinich: Le triple jeu de l’art contemporain, S. 41. 17 Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des

Komischen, Zürich 1972, S. 15, 27 u. 30.

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Abbildung 5: Trébuchet, 1917/18, aus: The Complete Works of Marcel

Duchamp, hg. v. Arturo Schwarz, New York 2000, Vol. 1, Abb. 126, S. 375.

oder Übersehenes, und sei es, im Sinne der Bergson’schen Theorie des Lachens, für die verborgenen Mechanismen des Lebens. Genau das aber ist die Aufgabe überhaupt der Ready-mades Duchamps, die nicht einfach nur als Alltagsgegenstände Kunstweihen empfangen wollen, sondern in der durch den Künstler inszenierten Transformation ihre Dinglichkeit durch Entzug der ursprünglichen Funktion in den Vordergrund rücken und verrätseln oder – eingedenk der diskursiven Dimension – zur Diskussion stellen. Anders nämlich als in der ursprünglichen Bedeutung von »ready-made«, ein aus dem Spätmittelalter entstammender Begriff, der keineswegs – wie Bourdieu und mit ihm viele meinten – von Duchamp erfunden wurde, sondern schon lange existierte und seit dem 19. Jahrhundert speziell auf industriell gefertigte Kleidung (als Entsprechung des französischen Ausdrucks »tout-fait«, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Bezeichnung für massenhafte Fertig- oder Konfektionswaren auftaucht, die seriell und nach standardisierten Maßen hergestellt wurden) angewandt wurde, mutieren Duchamps Ready-mades also durch Auswahl und Arrangement des Künstlers zu Dispositiven, deren Überdeterminiertheit einen unmerklichen, hauchdünnen Bedeutungswandel durch buchstäbliche Entstellung oder Übertragung evident und disponibel werden lässt. Bergson hatte als einer der ersten die Auswirkungen im kulturell übertragenen Sinne des Ready-made- oder Tout-fait-Reproduktionsmodells auf das Denken kritisiert und vor den stereotypen, vorfabrizierten und insbesondere nicht-entwicklungsfähigen Formen der »conceptions toutes-faites« des Alltags gewarnt, denen er ein qualitatives Denken nach Maß (»sur mesure«) gegenüberstellte.18 Bergson war 18 Vgl. Henri Bergson: La pensée et le mouvement, Paris 1987, S. 196 f.

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Abbildung 6: Trois Stoppages Etalon, 1964, aus: Marcel Duchamp, Aus-

stellungskatalog des Museum Tinguely Basel, Ostfildern-Ruit 2002, S. 69.

zudem der erste, der den Mangel dieses »Konfektionswaren«-Denkens als eine Missachtung der Zeitlichkeit aller Prozesse bzw. als Reduzierung von Zeit auf Raum diagnostizierte.19 Eine Überwindung dieser Starre formuliert er mit seinem Konzept der Zeit als Dauer, die in ihrem bereits infra-fein gedachten Gewebe Veränderung und schöpferisches Werden miteinschließt und das »tout fait« durch »ce qui se fait« ersetzt, um dem kontinuierlichen Wandel gerecht zu werden und Bewegung nicht von außen in seinem ausgestellten Ergebnis (»résultat étalé«), sondern von innen, in seiner Tendenz zu wechseln (»tendance à changer«), zu begreifen.20 Wenn man also in diesem Sinne das Ready-made als ironischkritische Denunzierung des Starren, Stereotypen oder Statistischen der modernen Industriewelt und seiner institutionellen Warenförmigkeit (auch des Kunstbetriebs) versteht, so findet sich über sie hinaus in der künstlerischen Praxis Duchamps auch die ganz andere Tendenz einer Suche nach Darstellungsformen der Zeit als der vierten Dimension der Bewegung, des Werdens, der intensiven Temporalisierung von Sein. Wie äußert sie sich im oder als Kunstwerk, 19 Vgl. Henri Bergson: L’évolution créatrice, Paris 2003, S. X . 20 Vgl. H. Bergson: La pensée et le mouvement, S. 214.

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Abbildung 7: Trois Stoppages Etalon, 1913–14, aus: The Complete Works

of Marcel Duchamp, hg. v. Arturo Schwarz, New York 2000, Vol. 1, Abb. 96, S. 346.

zum Beispiel in Duchamps Arbeit als Experiment? Die Antwort lautet: als Ereignis und zwar im radikalen Sinne des unberechenbaren, unvorhersehbaren Ereignisses als Zufall. Der Surrealismus, dem Duchamp nahestand, hatte dieses Prinzip schon mit der Berufung auf die legendäre Urszene der Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch in Lautréamonts Maldoror gefeiert als neuen Umgang mit dem ›Zufall‹, den nach Stéphane Mallarmé kein Würfelwurf abschaffen, sprich reduzieren bzw. berechenbar machen wird. Zu-Fall, das ist Fallendes wie nach einem Stolpern, was der Fall (›étant donné‹) ist, was einfällt als zu-künftiges, als Einfall/Öffnung des Raumes für die Zeit als vierte Dimension. Eng damit verbunden ist die Vorstellung von Kunst als Experiment, wie sie schon seit der Renaissance als Idee zirkulierte und speziell im Ingenieurwissen à la Leonardo da Vinci für Duchamp zum Vorbild wurde. Eines der entscheidendsten Beispiele ist sicherlich die Arbeit mit dem Titel Trois stoppages étalon (Abbildung 6). Laut eigener Aussage ließ Duchamp dabei drei Fäden von einem Meter Länge aus einem Meter Höhe auf schwarze Leinwände fallen, auf denen er das Ergebnis der auf dem Boden zufällig entstehenden Figuren fixierte. Hier wird die Vorgehensweise der Naturwissenschaften nachgeahmt, in-

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dem das Ergebnis einer Versuchsanordnung festgehalten, sichtbar, messbar gemacht wird. Zugleich wird wiederum ein signifikanter Abstand zur Exaktheit und Zuverlässigkeit des cartesischen Geistes als Parodie markiert, denn für wissenschaftliche Experimente kommt es gerade darauf an, den Zufall zu eliminieren und nur das zu verstetigen, was wiederholbar und damit berechenbar ist. Darauf spielt der mehrdeutige Titel stoppages an, der französisch an Stopfen erinnert, Verstopfen, Zustopfen jeder Lücke im System (wozu auch der kleine Betrug gehört, dass die Fäden länger als ein Meter sind, durch die Leinwand durchgezogen und auf der Rückseite vernäht), englisch aber als stoppages, d. h. Anhaltepunkte gelesen werden können: Erstarren, Arretieren einer Wissenschaft, die nur untersuchen kann, was sie vorher mortifiziert hat. Was Duchamp als Ergebnis präsentiert, erinnert aber eher an William Hogarths line of beauty, an die Sichtbarkeit der figura serpentinata als Schönheitssymbol. In einer zweiten Wendung jedoch erklärt er diese wiederum in Anspielung auf das französische Urmeter zum wissenschaftlichen Ideal von Exaktheit, zur Maßeinheit: »étalon« = Eich-/Prüfmaß, Goldstandard für eine Währung, ursprünglich aber Zuchthengst von »étaler«: ausstellen, entfalten, protzen (»étalage« = Darbietung, Auslage, Schaufenster, Kasten). Es geht darum, den Zufall zur Maßeinheit zu machen, was Duchamp auch dadurch erreicht hat, dass er die Linien als Holzlineale nachschneiden ließ, die zum Ziehen von Verbindungslinien in anderen Kunstwerken benutzt wurden (Abbildung 7, vorige Seite), wobei französisch Lineal auch »règle« heißt (engl. »ruler«). Die Regeln der Kunst sind also nichts anderes als Kunstlineale: règles d’art, künstliche Lineale. Die Zufallslinien als Regeln der Kunst, das ist die Kernaussage, die er an vielen Stellen praktiziert hat, indem er z. B. frühere Bilder mit diesem Liniennetzwerk überzog oder im Großen Glas die Junggesellen mit der libidinösen Energiemaschine über solche Linien verband, an denen er sie wie Marionetten tanzen ließ (Abbildung 8), wobei – eingedenk der intensiven Auseinandersetzung mit Perspektivstudien – auch eine weitere Bedeutungsebene nicht vergessen werden soll, nämlich die der von Albrecht Dürer eingeführten Technik der Perspektivenmarkierung durch Fäden. Was Duchamp letztendlich damit inszeniert, ist ein ähnlicher Effekt wie bei den Ready-mades, indem er uns über einen Mechanismus im übertragenen Sinne stolpern lässt und mit dessen Paradox spielt, dass

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Abbildung 8: Ausschnitt aus Le Grand Verre, siehe Abbildung 2, S. 40

zufällige Konstellationen einem Standardmaß gehorchen: als iterierbarer Zufall wie die wiederholbare Einmaligkeit der Signatur. Als Eichmaß-System werden die Trois stoppages étalon in ihrer Form als erstarrte Standardformen des Zufalls auf einer Leinwand konserviert und von Duchamp auch ironisch dem Prinzip des Zufalls in der Konserve (»hasard en conserve«)21 unterstellt; wiederum eine wohl kalkulierte und eben nicht zufällige Doppeldeutigkeit, die den Zufall konserviert denkt und zugleich – im Sinne des von Andy Warhol ausgeschlachteten Prinzips der Konservendose – wie ein Industrieprodukt reproduzierbar macht. Die Vorstellung der erstarrten Bewegung verweist ironisch auf das Wissenschaftsideal des Exakten, das neben der schon genannten Kritik Bergsons am Vergessen der zeitlichen Dimension auch vom Zeitgenossen Henri Poincaré zur Diskussion gestellt wird. Der Hintergrund oder Einsatzort ist für beide die Frage der vierten Dimension des ZeitRaumes, der sich den Kriterien des »euklidischen« Raumes entzieht. Poincaré geht es bei der Beschreibung seiner Experimente zwar um den Erfolg verlässlicher wissenschaftlicher Aussagen und vor allem um die Fähigkeit der Voraussage, aber er weiß, dass die beschriebenen Dimensionen des Raumes immer nur Schnitte durch eine übergeordnete Dimension pluraler Zeiten darstellen.22 Duchamp muss diese Argumentation vertraut gewesen sein, denn er zitiert und karikiert sie zugleich indirekt in den Konstruktionsregeln seiner Anweisungen zum Großen Glas, in denen ebenfalls von einer 21 M. Duchamp: Duchamp du signe, S. 50. 22 Vgl. Henri Poincaré: Letzte Gedanken, Berlin 2003, S. 36 f.; vgl.

ders.: Der Wert der Wissenschaften, Berlin 2003, S. 41.

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Abfolge der Schnitte in den Dimensionen die Rede ist.23 Aber er weiß auch um die Mahnung Bergsons, dass man aus Unbeweglichem in Form gemessener Schnitte keine Bewegung konstruieren kann, bzw. dass der Schnitt nicht Zeit wiedergibt.24 Wenn man also das Große Glas in seiner skulpturalen Eigenschaft auch als Schnitt durch den Raum sehen kann, so ist dieser Raum zugleich in die vierte Dimension der Zeit gestellt. An der Oberfläche des Glases mit seiner Transparenz oder des Spiegels mit seiner Reflexion einer Heterotopie wird eine Grenze markiert aber auch überschritten. Duchamp geht hier also von Poincaré aus, aber auch über ihn hinaus in Richtung von Bergsons Forderung einer schöpferischen Entwicklung. Ihr Werden ist nicht von außen her, durch unbewegliche Schnitte rekonstruierbar, sondern muss wie bei den Readymades durch Überwindung der erstarrten Alltagsbedeutung zugunsten einer mobilen Sichtweise hauch-dünner Entwicklungsschichten bzw. Evolutionen gewonnen werden. Kunstwerke werden in diesem Sinne zu Experimentalobjekten25 und zwar durch eine künstlerische Praxis, die selbst am Experiment orientiert ist, am Spiel mit dem Zufall als Erwartung des Unerwarteten, als Öffnung für ein Werden möglicher Neubestimmungen. Sie werden zu Medien im vollen Wortsinne, deren Botschaft nicht einfach übertragen wird und schon vorher existierte, sondern sich erst im Verlauf ihrer Verwendungs- bzw. Rezeptionsweise und nie endgültig konstituiert. Ihre Medialität wird so exemplarisch in den Horizont einer Zeitlichkeit gestellt, die sich als kontinuierlicher Aufschub, als »différance« im Sinne Derridas begreifen lässt, als die Bewegung der Spur, die die Differenz hervorbringt, aber als inframediale Dissemination der Doppelmarkierung eines hauchfeinen Gegensinns. Gegen die linearisierte Form des wissenschaftlichen Präzisionismus, der nur karikierend aufgerufen wird, besinnt sich also der selbst ernannte Präzisionsoptiker Duchamp zurück auf die anderen physikalischen Lehren Bergsons und die von diesem eröffnete Debatte um das Darstellen von Bewegung, seine Polemik gegen das Kino, die später dann von Gilles Deleuze im Zusammenspiel von »Bewegungs-« und »Zeit-Bild« wiederaufgegriffen und aufge23 Vgl. M. Duchamp: Duchamp du signe, S. 127 u. 136. 24 Vgl. H. Bergson: La pensée et le mouvement, S. 22 u. 213. 25 Vgl. Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps

»3 Kunststopf-Normalmasse«, München 2006.

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wertet werden sollte: Zwar besteht auch der Film materialiter aus Einzelbildern, aus Schnitten in der Zeit, aber die Montage der »beweglichen Schnitte«26 ist nur möglich aufgrund der Voraussetzung eines Zeitkontinuums, in dem die Bewegung als Dauer aufgehoben ist. Deleuze beruft sich dabei auf die in Plotins »Enneaden« gebrauchte Unterscheidung von Chronos und Aion als zwei Zeitbegriffe, in denen ein feiner, aber bedeutender Unterschied zwischen quantifizierender und qualifizierender Zeitvorstellung berührt wird: Zeit als Dauer muss nämlich von chronologisch ablaufender Bewegung unterschieden werden, ja Zeit muss als inframediale Dimension der Bewegung von dieser überhaupt vorausgesetzt werden, sozusagen als Urspur einer différance, die bahnend und aufschiebend den Unterschied raumzeitlicher Dimension erst hervorbringt, denn – so Plotin: Bewegung kann anfangen und aufhören, Zeit als Zeit dagegen nicht, sie dauert. Die Öffnung dieser Dimension hat für das Kunstwerkverständnis Duchamps eine maßgebliche Konsequenz, die die Aufmerksamkeit zurücklenkt auf die eigenwillige Umgangsweise mit den ›Regeln/ Linealen der Kunst‹, ihre Zufälligkeit des Falls, ausgelöst durch ein Stolpern über readymade Selbstverständliches. Stolpern kann auch synonym verstanden werden mit Kippen, Umkippen, Changieren, wobei das Regelhafte in Regelloses, das Maßgebende in Maßloses umschlagen kann, ein feiner Unterschied, der sich im Augenblick der Berührung der Gegensätze ergibt und zu dem Duchamp immer wieder betont, dass dieses Umschlagen nicht als Ausnahmezustand des Ereignisses geschieht, sondern in dessen Zufälligkeit unmerklich, unterschwellig mitgegeben ist: als inframince. Duchamp hat dieses Konzept des inframince in den letzten nahezu 30 Jahren seines Schaffens immer wieder erprobt, um eine hauchdünne Differenz zwischen einer Gegebenheit und ihrer Wiederholung, ihrer potentiellen Variation oder Wirkung auch im umgekehrten oder gegensätzlichen Sinne zu bezeichnen. Es trägt zugleich der zunehmenden Hybridisierung von Autor-Funktion und künstlerischer Funktion in der Inszenierung der Ready-mades, Pseudoexperimente oder Nominalismen von Schaffens-Gesten, -Konzepten oder -Intentionen Rechnung, eine weniger intermediale als vielmehr hypermediale oder inframediale Autorschaft, die ein konzeptuelles Künstler26 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1989,

S. 16.

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Sein entstehen lässt durch immaterielle Gesten, virtuelle Züge und infra-feine Distinktionen oder Positionswechsel auf dem literarischkünstlerischen Feld.27 Das Präfix »infra-« bezieht sich dabei ebenso auf das physikalische Modell einer impliziten aber unmerklichen und kaum wahrnehmbaren thermischen Strahlung (die übertragen als Indiz eines kreativen Potentials nur als Infrarot apparativ nachgewiesen werden kann) wie auf die geometrische Komplikation einer topologischen Binnenstruktur oder Verwindung. Es wird aber z. B. im Französischen auch für die interne Verweisung in einem Textkorpus (»weiter unten«) gebraucht. Das Epitheton »mince« (dünn, schmal, winzig, gering, fein) schließt an die mathematischen Erkenntnisse infinitesimaler Bestimmung von Intervallen zwischen Zahlen an, die eine höhere »Mächtigkeit« (im Sinne Cantors) der Mengen und die Möglichkeit eines Unendlichkleinen offenbaren, und markiert zugleich eine Wahrnehmungsschwelle nanophysischer Mikrowelten. In diesem Sinne lässt sich für die oben genannte Medialität der Kunstwerke als Überträger und Induktoren der semantischen Besetzungen des künstlerischen Feldes auch eine Inframedialität im Verweis auf die internen, infrastrukturellen Momente medialer Konfigurationen als Bedingung der Möglichkeit für intermediale Übertragungen und Extensionen namhaft machen. Das Mediale impliziert als Dispositiv also ein semantisches Potential, dessen Überdeterminiertheit einen kontinuierlichen Wandel der Bedeutung generiert. Duchamp diskutiert in seinen Notizen, die erst im Nachlass publiziert wurden, unterschiedlichste Modelle einer Unentscheidbarkeit zwischen überfein oder raffiniert enggeführten Gegensätzen modaler (Möglichkeit, Werden), rhetorischer (Analogie, Allegorie, Ironie), topologischer (Passage, Spur, Abdruck, Kontakt, Berührung, Dichte), physikalischer (Wärme, Dynamik, Reibung, Geschwindigkeit/Ruhe), logisch-mathematischer (Gleichheit, Ähnlichkeit, Identität, Separation, Intervall), optischer (Spiegelreflexion, Blickwechsel, Schattenwurf, Transparenz, Lichtbrechung auf Oberflächen, Lupenwirkung, Röntgenstrahlen) und typo-fotografischer (Abguß, Abdruck, Abzug) Struktur.28 Den ersten öffentlichen Auftritt hat das Konzept inframince schon bei der Umschlaggestaltung für die Duchamp 27 Vgl. Nathalie Heinich: Le triple jeu de l’art contemporain, S. 26. 28 Vgl. Marcel Duchamp: Notes, hg. v. Paul Matisse, Paris 1999, S. 21–

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gewidmeten Ausgabe Nr. V der Zeitschrift View von 1945. Der Begriff taucht hier als Bezeichnung für ein olfaktorisches Phänomen der Doppeldeutigkeit auf: In einer Textcollage ist von Tabakrauch die Rede, dessen Geruch sich mit dem des ihn ausatmenden Mundes »auf hauchdünne Weise« vermähle; eine Photomontage auf der Titelseite wiederholt diese Umkehrung von Innen und Außen anhand Abbildung 9: Titelseite des Modells einer Flasche, deren Inhalt der Zeitschrift View, New als in einen Sternenhimmel entweiYork März 1945, aus: The chender Rauch sichtbar gemacht wird Complete Works of Marcel (Abbildung 9).29 Duchamp, hg. v. Arturo Die intensivste Ausarbeitung dieses Schwarz, New York 2000, Medialitäts-Konzepts von Kunst findet Vol. 1, Abb. 196, S. 412. aber schon in Duchamps Hauptwerk, dem Großen Glas (mit dem Untertitel La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même) statt. Duchamp hatte hier die Überwindung einer Fixierung des Werdens im Medium des starren, auf den Augenblick reduzierten Bildes konsequent durch den Wechsel des Bildträgermediums von der Leinwand zum Glas als Prinzip der Transparenz vorangetrieben, das gewissermaßen eine Parallelentwicklung zum Konzept des inframince ist. Das Kunstwerk betont so schon in seiner Konzeption (und nicht erst in der Konsequenz des Endzustandes) seine Unfertigkeit bzw. Offenheit für die zu kommende Zeit, indem es in seiner Bildlichkeit den Zeitraum seiner Ausstellung spiegelnd und durchscheinend mitaufnimmt. Als Plastik im Raum muss man das Große Glas auch begehen, es selbst durch Bewegung erschließen, und nicht nur frontal anschauen, um so je nach Blickwinkel die Nuancen und Finessen der Figurationen selbst erst optisch zu konstituieren. »Ce sont les REGARDEURS qui font les tableaux«,30 wie Duchamp gern betonte, um im Rezipienten gewissermaßen den Nachfolger des Künstlers im gemeinsamen Projekt der Inszenierung von Kunst auf dem künstlerischen Feld zu nominieren (und zu nobilitieren). Auch hier gibt es Trennungen und zugleich fließende 29 Vgl. M. Duchamp: Duchamp du signe, S. 210. 30 M. Duchamp: Duchamp du signe, S. 247.

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Übergänge durch Berührungen und Übertragungen bis in den Zeitraum der Rezeption des plastischen Bildes, dessen Elemente in eine Konstellation produktiven Zusammenhangs treten. Das Ganze versteht sich mehr als Motor einer Maschine, die Bilder generiert unter Einschluss der konstruktionstheoretischen Metaebene in der miniaturisierenden Weise der boîtes en valise, die verkleinerte MusterReproduktionen sowohl des Großen Glases als auch der einzelnen Figuren enthalten, sowie der Textcollagen der Schachteln als einer Art von Bauplänen. Der Versuch, Bewegung im Bild zu antizipieren, durchzieht das Projekt als »tableau de fréquence«, das Geschwindigkeit als »extra-rapide« Beschleunigung eines augenblicklichen Ruhezustandes (»repos instantané«) oder als Übersetzung einer »représentation statique du mouvement« in eine »forme en mouvement« intendiert.31 Im Vordergrund steht also bei dieser inframedialen Strategie immer wieder die Transformation des Bildmediums in ein Dispositiv, das ein Erden des Kunstwerkes als Bewegung im Übergang zwischen den vier raumzeitlichen Dimensionen ermöglicht und so ein virtuelles Sicht-Entfalten/Aufblühen, ein »épanouissement cinématique« als »figuration d’un possible« bewirkt.32 Duchamp hat auch in anderen Experimenten z. B. mit den Rotoreliefs und seinem Experimentalfilm Cinéma Anèmic versucht, durch Drehung bzw. Rotation die einzelnen Dimensionen auseinander hervorgehen zu lassen, was sowohl Michael Faradays Vorstudien zur filmischen Bewegung in seinen Stroboskopexperimenten als auch Etienne-Jules Mareys Versuche mit der Chronophotographie rotierender Drähte wiederaufgreift. Diese nicht-logische Differenz der inframedialen Umkehrungen, Umstülpungen oder Invaginationen soll verdeutlichen, was es heißt, letztlich mit den Regeln der Kunst zu brechen, um das künstlerische Feld in einen Zeitraum infra-feiner Distinktionen zu transformieren: Der regulierte, vermessene, arretierte Raum wird ständig überdeterminiert, überlagert durch seine deregulierten Strömungen, Intensitäten des Möglichen. Das Aktuelle wird umlagert vom Potentiellen, in die es ständig in der Zeit übergeht, ohne je den Vorrat an Möglichkeiten zu erschöpfen. Genau dort hat Duchamp mit seinen Transformationen, als welche die Ready-mades 31 Vgl. ebd., S. 38, 43 u. 171. 32 Vgl. ebd., S. 62 u. 104.

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anzusehen sind, angesetzt, um mittels des hauch-feinen inframedialen Übergangs vom Werk zum Diskurs den Betrachter stolpern zu lassen. Denn es wäre falsch, die von ihm gewählte Strategie allein auf die Provokation einer Anerkennung der Ready-mades als Kunst zu reduzieren. Nathalie Heinich erinnert zurecht daran, dass die Ready-mades nicht in ihrer Materialität als Kunstwerke anerkannt wurden, sondern in dem Maße ihrer Veränderung, ihrer »manipulation«33 durch den Künstler mit seinem Sinn für den feinen Unterschied zwischen dem Objekt z. B. im Sanitärfachgeschäft und auf dem Photo von Stieglitz oder im Diskurs des Blind man etc., denn – wie beim berühmten Bild Magrittes gilt auch hier die Einsicht: ceci n’est pas un urinoir. Traditionelle Kunst kann das nicht darstellen, aber sich dafür öffnen: als die Zukunft des Kunstwerkes. Duchamp war sich dessen durchaus bewusst, indem er denjenigen, diejenige, dasjenige mitbedachte, die auf das Kunstwerk zukommen: Betrachter. Ein Betrachter ist nicht auf das Optische reduziert, sondern schließt die mentalen Ebenen des Bedenkens und Besprechens, die Zirkulation also im Raum der Diskurse mit ein. Wen geht das etwas an? Nun, Bourdieu würde sagen: denjenigen, der einen feinen Geschmack hat.

Literatur Bergson, Henri: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, Zürich 1972. Bergson, Henri: La pensée et le mouvement, Paris 1987. Bergson, Henri: L’évolution créatrice, Paris 2003. Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1970, S. 75–124. Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M. 1984. Danto, Arthur: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993. 33 Nathalie Heinich: Le triple jeu de l’art contemporain, S. 62.

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Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1989. Duchamp, Marcel: Duchamp du signe, hg. v. Michel Sanouillet, Paris 1994. Duchamp, Marcel: Le processus créatif, in: Marcel Duchamp: Duchamp du signe, hg. v. Michel Sanouillet, Paris 1994, S. 187–190. Duchamp, Marcel: Notes, hg. v. Paul Matisse, Paris 1999. Heinich, Nathalie: Le triple jeu de l’art contemporain. Sociologie des arts plastiques, Paris 1998. Molderings, Herbert: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmasse«, München 2006. Poincaré, Henri: Letzte Gedanken, Berlin 2003 Poincaré, Henri: Der Wert der Wissenschaften, Berlin 2003. Schlegel, Friedrich: Philosophische Lehrjahre. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, Bd. XVIII, München 1963 Matt, Peter von: Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst, Tübingen 1971.

Das Medium formuliert, die Form figuriert Medium, Form und Figur im intermedialen Verfahren

Joachim Paech (Konstanz)

Ein kurzer Film mit dem Titel Painting Paradise aus dem Jahr 2008 von Barbara Hlali zeigt mit Mitteln der Malerei bearbeitete dokumentarische Bilder aus dem Irak. Wir sehen, wie Mauern im Film mit friedlichen Bildern von Palmen angemalt werden, was auf das Painting Paradise hindeutet, das offenbar den grauen Alltag und die Spuren des Krieges verdecken soll. Aber auch der (schwarzweiße) Film selbst ist stellenweise übermalt: Panzer, die durch das Bild fahren, haben sich in bunte Lastwagen verwandelt, Uniformen von Soldaten sind unter freundlichen Sommerkleidern der vorübergehenden Menschen sichtbar. Der Film wiederholt ›als Film‹, was er zugleich dokumentiert, dass im Irak die Folgen von Krieg und Gewalt notdürftig übertüncht werden, so, wie der Film selbst seine Bilder mit freundlichen Farben und Formen übermalt, in denen doch die Wirklichkeit des Krieges erkennbar bleibt. Diese Praxis, Film und Malerei zu verbinden, werde ich im Folgenden als intermediales Verfahren behandeln, wobei das Zusammenwirken von Film und Malerei nur eines unter vielen anderen Möglichkeiten intermedialer Verfahren des Films (und . . .) ist. Die Verbindung von Malerei (oder Farbe) und Film hat eine lange Tradition, auch ohne dass von einem intermedialen Verfahren die Rede war. Seit Georges Méliès wurden Filme handkoloriert, und die Avantgarden haben den künstlerischen (gegen den kommerziellen literarischen) Film durch die Nähe zur Malerei ausgezeichnet. Walter Ruttmann zum Beispiel, der in seinen ersten Filmen etwas Ähnliches gemacht hat, indem er wiederholt bemalte Glasplatten tricktechnisch abgefilmt hat, sprach »von einer ganz neue(n) Kunst. Nicht etwa ein neuer Stil oder dergleichen. Sondern eine allen bekannten Künsten verschiedene Ausdrucksmöglichkeit, eine ganz neue Art Lebensgefühl

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Abbildung 1: Barbara Hlali: Painting Paradise, 2008, Gouache auf TV-

Bildschirm, Videostills, Länge 5:30

in künstlerische Form zu bringen, Malerei mit Zeit«1 sei auf diese Weise entstanden. Eine künstlerische Praxis, die Malerei, wurde mit dem Film um einen die Grenzen der Malerei überschreitenden Faktor, die Zeit, erweitert und zu einer gänzlich anderen, neuen Kunst als Ausdruck einer neuen Zeit erklärt. Warum sprechen wir von Intermedialität, wo Ruttmann eine neue Kunst schaffen wollte? Und was heißt hier Intermedialität, wenn es sich bei Painting Paradise nicht einmal mehr um Film handelt, wie ihn Ruttmann in seiner materialen Konsistenz zugrunde gelegt hat, sondern um elektronisch aufgezeichnete analoge oder sogar digitale Bewegungsbilder, die in der Verbindung mit Malerei – und was heißt hier Malerei? – etwas Neues ergeben, was schließlich digital aufgezeichnet und per DVD wiedergegeben wird? Während Ruttmanns Verfahren der filmischen Aufzeichnung bemalter Glasplatten auf Zelluloid und deren Projektion durch1 Walter Ruttmann: Kunst und Kino (1919/20), in: Jeanpaul Goergen

(Hg.): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin (Freunde der Deutschen Kinemathek) 1989, S. 74.

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aus als intermediales Verfahren der Verbindung zweier materialer künstlerischer Praxen, also Pinsel und Farbe einerseits und Fotografie andererseits, im filmischen Bewegungsbild anzusehen wäre, von ihm aber synthetisierend als neue Kunst deklariert wird, könnte der Film von Barbara Hlali wesentliche Voraussetzungen dafür vermissen lassen, überhaupt von einer Beziehung zwischen den Medien Film und Malerei sprechen zu können, wenn man im Film nicht nur bestimmte malerische oder filmische Formen wieder erkennt, sondern mit Medien ganz konkrete materiale Grundlagen für unterschiedliche künstlerische Verfahren meint, die in ihrer Verbindung diese Formen erst hervorbringen, im vorliegenden Verfahren als Medien (Malerei und Fotografie) diese Rolle womöglich gar nicht mehr spielen, sondern nur noch als Formzitate2 übernommen werden? Wann also spricht man von einer neuen (auch digitalen) Kunst, die ihre medialen Differenzen in sich aufgehoben und wann sollte man explizit von intermedialen Verfahren sprechen, die einer künstlerischen Praxis ihren Stempel aufgedrückt hat? Deutlich ist, dass man noch immer nicht oder sogar immer weniger voraussetzungslos von Intermedialität sprechen kann, je mehr analoge durch digitale Verfahren abgelöst werden. Ich werde daher zunächst zu begründen versuchen, wann und warum es Sinn macht, in einem bestimmten Kontext den Begriff Intermedialität zu verwenden. Ähnliches gilt für Intermedialität als Verfahren, in dem Formprozesse beobachtbar sind, die auf bestimmte mediale Eigenschaften zurückzuführen und von einer Ebene der Figuration zu unterscheiden sind. Abschließend soll noch einmal die Praxis der gemalten oder übermalten Filme exemplarisch für die Intermedialität als Verfahren am Beispiel von Painting Paradise von Barbara Hlali diskutiert werden.

1. Ich gehe davon aus, dass (diskursgeschichtlich) die Rede von der Intermedialität als Beobachtung und Beschreibung für Repräsentationen im kulturellen Umfeld erst neueren Datums ist, seit in einem umfassenderen Sinne von Medien gesprochen wird und es folgerichtig auch zu einer Medienwissenschaft gekommen ist. Medien (zum Beispiel im okkultistischen Sinne) oder intermedia (als 2 Vgl. Andreas Böhn (Hg.): Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert

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künstlerische Strömung der Moderne) hat es auch vorher schon gegeben – Intermedialität im aktuellen semantischen Feld der Medien ist neu.3 Wenn Walter Ruttmann die Verbindung von Malerei und Film in den 1920er Jahren synthetisierend als neue Kunst bezeichnete, dann war das genau die Ebene, auf der die neue Verbindung traditioneller und technisch-apparativer Verfahren angeordnet werden konnte, um ihr künstlerisch Geltung zu verschaffen. Ein Film wie Lichtspiel Opus 1 von 1921 mit der Musik von Max Butting und seinen rhythmisch schwellenden farbigen Formen konnte nur als Werk seines Autors als Maler und Filmemacher wahrgenommen und künstlerisch ernst genommen werden. Als Werk zielt es auf eine neue Einheit, die in den traditionellen Ordnungssystemen (Kunstgeschichte, Katalog etc.) identifizierbar ist. Während der Film als Massenware sich der Kunst mit ihren kulturellen Barrieren deutlich entzog (und heute auch zu 80% verschollen ist), hat sich der Film mit kulturellen Ansprüchen, die auch von der Literatur geborgt sein konnten, bemüht, als Kunst und Werk in einem Ordnungssystem wahrgenommen zu werden, in dem die Abgrenzung, also ausdrücklich die Differenz zwischen den Werken ihre Identität garantiert. Dieses traditionelle Begehren der Kunst hat dem Film Anerkennung verschafft und das Überleben in seinen besonderen Werken mit entsprechender Signatur (Titel und Autorennamen) ermöglicht (während alle anderen Filme in der Regel zerstört und zum Beispiel als Schuhcreme recycled wurden). Der Film im Kontext der traditionellen Darbietungsform Theater, im Filmtheater also, hat seiner Wahrnehmung als Kunst Vorschub geleistet. Das neue Leitmedium seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, das Fernsehen (auch das Radio), hat eine neue Eigenschaft mitgebracht, seine netzförmige Struktur als Massenmedium. In ihr haben die Künste, sofern sie als kulturelle Ereignisse auf Information und Öffentlichkeit angewiesen sind, ihren neuen Ort gefunden, der sie zugleich verändert hat. Die Wahrnehmung der Kunst ist wie das Medium, das sie darstellt, netzförmig, ihre gemeinsame Struktur ist der Text, ihr Material sind Zeichenrelationen. In den 1960er bis 1980er Jahren ist es der Text, vom singulären Text bis zur universellen Textualität der Kultur, der die Anschlüsse unter den kulturellen Ausdrucksformen strukturiert. Intertextualität beschreibt sowohl die Beziehung zwischen Literatur und Film als auch zwi3 Vgl. Joachim Paech: Warum Medien?, Konstanz 2008.

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schen Filmen und Fernsehprogrammen, in denen Filme inzwischen überwiegend erscheinen. Bevorzugtes Paradigma der textuellen Beziehungen ist die Narration, die Anschlüsse bis zur Psychoanalyse gewährleistet; problematisch in diesem Kontext bleibt die Bildlichkeit des Films, die, wie die Metapher im literarischen Text, in intertextuellen Beziehungen fremd bleibt oder störend wirkt, weil sie offensichtlich quer zur bloßen Textualität anders begründet und angeordnet ist. Die Große Syntagmatik der bedeutendsten semiotischen Filmtheorie dieser Epoche von Christian Metz hat im Sinne einer Grammatik sequenzielle Raum-, Zeit- und Handlungseinheiten angeordnet, nicht jedoch die Elemente, die sichtbar und hörbar den Raum ausmachen, die Zeit füllen und die Handlung vor allem in der Zwischenzeit zwischen den Räumen jenseits von Fabel und Sujet verorten. Die Beobachtung intertextueller Beziehungen auf der universellen Ebene der Zeichenrelationen konnte auf ideale Weise die Arbeit jedweder Texte an ihren Bedeutungen ›lesbar‹ machen; was ihr vollständig entging, war die materiale Spezifik der Textgenerierung oder der Anteil nicht-semiotischer Voraussetzungen an der Generierung von Formen, die erst im Netz ihrer Verbindungen textuell relevant wurden. Anfang der 1980er Jahre hat dann das Wort von der Medienvergessenheit der Texte die Runde gemacht. Seitdem sind wir endgültig im Medienzeitalter angekommen. Wenn von nun an kulturelle Phänomene hinsichtlich ihrer medialen Eigenschaften beurteilt werden, dann macht das ihre semiotische oder textuelle Betrachtung nicht überflüssig, relativiert sie jedoch und reduziert ihre Relevanz auf bestimmte Bereiche (zum Beispiel die Narrativik, die immer noch textuell sinnvoll behandelt wird). Gegenüber dem Allgemeinen intertextueller Beziehungen (Text soll für Filme, Literatur, Fotografien etc. derselbe sein) betont die Beobachtung ihrer Intermedialität die Besonderheit der für die Generierung der jeweiligen Formen und ihrer Relationen untereinander vorausgesetzten medialen Eigenschaften, die sie in ihrem Zusammenwirken unterscheidet. Ein Beispiel mag diese Verschiebung veranschaulichen. Für die intertextuelle Analyse von Filmen spielte es keine Rolle, ob der Film im Kino projiziert wurde oder im Fernsehen gesehen oder per Videorecorder analysiert wurde. Der Unterschied ermöglichte vor allem ein intensiveres Eindringen in die textuelle Struktur des Films per Videorecorder, wo der Film auch gegen seinen zeitlichen Verlauf angehalten und wie ein Buch gelesen werden kann,

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ohne dass eine mediale Differenz der technischen Darstellung des Films ins Gewicht fällt. Eine intermediale Analyse muss sich dafür interessieren, dass (analoger) Film im Kino nicht derselbe ist wie im Fernsehen oder auf VHS, geschweige denn DVD . Die fotografische Hervorbringung filmischer Formen des Bewegungsbildes kehrt elektronisch nur scheinbar wieder, nämlich als bloße Form, die in ihrem neuen Medium reformuliert dennoch ganz andere Verbindungen mit Formen anderer medialer Hervorbringung eingehen kann, als das beim fotografischen Film der Fall ist. Auf der Ebene der Intermedialität wird der Einfluss medialer Differenz auf die beobachtbaren Formprozesse hervorgehoben, was gegenüber der Horizontalität textueller Beziehungen (die ebenfalls Tiefenstrukturen kennen) die Betonung vertikaler Verbindungen und Schichtungen bedeutet. Palimpsestartige Figuren medialer Schichten werden wiederum in Bildern und ihren Verbindungen deutlicher als in bildlosen Texten. Es ist paradox und doch symptomatisch, dass ausgerechnet unter Dominanz eines so universellen Mediums wie des Computers, der jede mediale Form ohne Rekurs auf ein anderes generierendes Medium darstellen kann und nur Formprozesse kennt, die mediale Differenz als Form im intermedialen Verfahren eine so besondere Rolle spielt, weil nur so mediale Differenzen formuliert werden können. Zugleich wird auf diese Weise das intermediale Verfahren als Formprozess auf kulturelle Phänomene im engeren Sinne festgeschrieben. Wir werden kaum die Verbindung von einem Flugzeug und einem Schiff im Flugboot intermedial beschreiben, sondern von einer hybriden Technik sprechen. Die Fotografie eines Flugbootes in einem Roman über die Luftfahrt würde dagegen einem intermedialen (ebenso einem intertextuellen) Verfahren zwischen einem fotografischen und einem literarischen Medium entsprechen. Das entsprechende Buch (hardware) hätte, wenn es verfilmt würde, nicht unmittelbar mit Intermedialität zu tun, wohl aber das Literarische der Vorlage (software), das durch das gedruckte Buch formuliert unabhängig vom Thema im Film mehr oder weniger deutlich reformuliert und was die Fotografie betrifft, sogar auf der Oberfläche des Films wiederholt werden kann. Was bedeutet es, vom intermedialen Verfahren als einem Formprozess zu sprechen, wenn doch der Verweis auf das Mediale gerade die Einbeziehung medialer, meist auch materialer Eigenschaften der Hervorbringung von Formen meint?

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Medien sind Mittel zum Zweck. Sie sind niemals als sie selbst, sondern im anderen, das sie ermöglichen und von dem aus sie erst lokalisiert werden können, bestimmbar. Medien, sagt Niklas Luhmann,4 sind in den Formen, die sie ermöglichen, beobachtbar, weil sie auf der anderen Seite der Form wiederum als (zweiseitige) Form beobachtet werden können: Als mediatisierte Form und als Form ihres Mediums, was ihre grundsätzliche Reflexivität zur Folge hat. Medien sind keine Objekte, sondern Bedingungen oder Möglichkeiten ihrer Formprozesse und deren Beobachtung. Daraus folgt die »Einsicht, dass die Unterscheidung von Medium und Form selbst eine Form ist – eine Form mit zwei Seiten, die auf der einen Seite, auf der Form-Seite, sich selbst enthält.« Das bedeutet also, »dass die Unterscheidung in sich selbst wieder eintritt, in sich selbst auf einer ihrer Seiten wieder vorkommt.«5 Diese reflexive Konstruktion des Medium/Form-Verhältnisses versuche ich dadurch zu verdeutlichen, dass ich diese Seite der in sich wiederholten Form ›Figur‹ und den Prozess ihrer Formulierung ›Figuration‹ nenne. Im Unterschied zur Form, in der sich das Medium formuliert, operieren Figuren von vornherein auf der Formseite des Mediums. Man kann also sagen, dass das Medium Formen ermöglicht, in denen es einerseits anschaulich wird und wo auf der anderen Seite der Form diese sich als diese oder jene Figur unterscheidet. Die Form bleibt auf das Medium bezogen, das sie formuliert (ähnlich der Gestalt im Verhältnis zum Grund in der psychologischen Gestalttheorie). Die Figur ist auf die Form bezogen, die sich im Prozess der Figuration differenziert (in diesem Sinne ist die Form auch wieder Medium der Figur wie zum Beispiel bei Kippfiguren). Eine der Figuren in diesem Prozess ist der Vorgang reflexiver Formbildung selbst. Mediale Formprozesse können auf diese Weise selbst in der Figuration ihres Verfahrens anschaulich (ästhetisch) werden. Intermedialität als Verfahren ist daher als eine bestimmte Figur(ation) medialer Formprozesse zu beschreiben, nämlich als Wiederholung oder Wiedereinschreibung eines Mediums als Form in die Form eines (anderen) Mediums, wo das Verfahren der Intermedialität figuriert, also anschaulich wird und reflexiv auf sich selbst als Verfahren verweist. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff Verfahren stammt von den russischen Formalisten aus den 1920er Jahren. Dort 4 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. 5 Ebd. S. 169.

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bedeutet Verfahren in der Kunst (Šklovskij),6 dass alle Elemente, die zur Konstruktion von Bedeutung beitragen, so eingesetzt werden, dass sie auf sich selbst als Verfahren zurückverweisen, zum Beispiel als Verfahren der Verfremdung, wodurch die eingesetzten künstlerischen Mittel selbst kenntlich werden. So kann die diskursive Ebene der Kontinuität und Kausalität, die unmittelbar transparent zur lesbaren Bedeutung ist, durch figurale Elemente wie Metaphern unterbrochen werden, die den Zugang zur Bedeutung erschweren und zunächst auf sich selbst als Figuren der Rede verweisen. Verfremdung (ostranenie) und erschwerte Form (zatrudnenie) sind zwei Verfahren, mit denen literarisch oder filmisch (auch in allen anderen Künsten, zum Beispiel auf dem Theater Bertolt Brechts) die Elemente sichtbar gemacht werden, die zur jeweiligen Konstruktion von lesbarer, sichtbarer etc. Bedeutung eingesetzt werden und die mitgelesen oder mit gesehen werden müssen. Man kann derartige Verfahren durchaus als Stilfiguren bezeichnen, wenn sie zum Beispiel zu einem erschwerten Stil beitragen. Als Stilfiguren sind sie isolierbar und als Figuren eines literarischen oder filmischen (etc.) Verfahrens beschreibbar. Intermedialität als Verfahren der Literatur, des Films oder kultureller Hervorbringungen überhaupt beruht auf einem Formprozess, in dem sich die beteiligten Medien formulieren und auf einem Prozess der Figuration, in dem die Intermedialität selbst als eine Figur unter anderem beobachtbar und beschreibbar ist. Intermedialität habe ich als Wiederholung oder Wiedereinschreibung a.) eines Mediums als Form in b.) die Form eines (anderen) Mediums definiert, als eine mediale Konstellation also, in der a.) dasselbe oder ein anderes Medium als Form (oder Formulierung) in b.) demselben oder einem anderen Medium als Form wiederkehrt. Diese Wiederholung auf der Formseite des Mediums ist das reflexive intermediale Verfahren, das als ein figuraler Prozess beschrieben werden kann, wenn die figurale Ausdifferenzierung der Formseite reflexiv auch das Verfahren selbst als eine Figur enthält. Es handelt sich dann um eine besondere (reflexive) Figur, die auf sich selbst verweist und daher als Störung im Formbildungsprozess erfahren wird, der in der (klassischen) Regel seine (medialen und auch formalen) Voraussetzungen unsichtbar macht. 6 Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, in: Jurij Striedter (Hg.):

Russischer Formalismus, München 1971, S. 3–35.

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2. Beispiele aus der Filmgeschichte sollen diesen Vorschlag für die Beschreibung von Intermedialität als Verfahren anschaulicher machen, die sich im vorliegenden Rahmen auf die intermediale Konstellation Malerei und Film beziehen. In diesem Zusammenhang wird dann Painting Paradise von Barbara Hlali noch einmal eine besondere Rolle spielen. Die Beziehung zwischen Malerei und Film beginnt eigentlich schon mit der Konkurrenz der Malerei zur Fotografie. Beide, das künstlerisch handwerkliche und das technische Abbildungsverfahren, sind am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bewegungsbild, der bewegten Abbildung von Bewegung, konfrontiert. Die Fotografie wird zum Bestandteil dieser neuen kinematographischen Technik, während die moderne Malerei im Futurismus, Kubismus etc. eigene, medienspezifische Möglichkeiten der Darstellung von Bewegung sucht. Diese beiden Tendenzen verbinden sich auf der Seite der Kinematographie in den Filmen der verschiedenen Avantgarden der 1920er Jahre, dem Absoluten Film oder cinéma pur, wozu auch Walter Ruttmanns Opus 1, von dem schon die Rede war oder die Filmexperimente des Bauhauses (Moholy-Nagy)7 etc. gehören. In diesem Kontext ist das Verhältnis von Malerei und Film explizit Thema, die Malerei will sich im Film als ›Malerei in Bewegung‹ fortsetzen, während der Film die Malerei für die Dominanz des Visuellen (gegen das Narrative) in Anspruch nimmt. Darüber hinaus hat der Film intermediale Beziehungen immer dann gesucht, wenn bestimmte Ansprüche durch die Kinematographie selbst nicht befriedigt werden konnten, und der als ›mangelhaft‹ empfundene Film bei anderen Medien (!) Mittel zur Vervollkommnung ausborgen musste. Das betrifft die Vertretung des gesprochenen Dialogs durch die Schrift im Stummfilm oder die Kombination des stummen Films mit dem Phonographen, bis die Tonspur unmittelbar Bestandteil des Films wurde. Und das betrifft die Farbe,8 die dem Film so lange ›von außen‹ hinzugefügt wurde, bis der Farbfilm von vornherein über eigene Techniken der Wiedergabe einer bunten Wirklichkeit verfügte. Jedes Mal wurde die Kombination unterschiedlicher Medien oder künstlerischer Verfahren immer dann 7 Laszlo Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film, Mainz, Berlin 1967. 8 Vgl. Gert Koshofer: Color. Die Farben des Films, Berlin 1988.

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Abbildung 2: Oskar Messter: Salomes Tanz, 1906

als eine eigene Figur ihres intermedialen Verfahrens hörbar oder sichtbar, wenn die Synchronisation von Phonograph nicht gelang oder die kolorierten Filme mehr Farbrauschen als farbige Bilder enthielten. Die Kolorierung der frühen Stummfilme wurde am filmischen Fliessband mühsam mit der Hand aufgetragen, später durch ein Maskenverfahren und Viragierungen industrialisiert. Bis dahin war jedoch der Farbauftrag von der Figur, die eingefärbt wurde, zu unterscheiden, Farbe und dargestellte Figur wollten nicht verschmelzen, die Intermedialität zwischen beiden medialen Seiten Film und Malerei wurde als Verfahren (Kolorierung) wiederum zu einer reflexiven Figur, in der das Verfahren figuriert und beobachtbar ist und lange als Störung empfunden wurde, bis es heute einen eigenen ästhetischen Reiz ausmacht. Um es mit der bekannten Formel zu beschreiben: Das Medium (Film) formuliert sich in der kinematographischen Form des projizierten Bewegungsbildes, das wiederum figural differenziert erscheint und in das die Form eines anderen Mediums, der Malerei, als Farbauftrag eingefügt ist. Es ist deutlich, dass auf der figuralen Ebene die Synchronisation beider Formen ihrer Medien im Verfahren der Handkolorierung nicht vollständig gelingt, was zur Figuration der Beziehung, also Beobachtung des Misslingens als Figur (Rauschen, Störung) Anlass gibt, wo das intermediale Verfahren der Verbindung zwischen Malerei und Film zu einer eigenen Figur wird. In einem gewissen Sinne kann das Verfahren des amerikanischen Avantgardefilmers Len Lye hier direkt anschließen. Len Lye hat direkt mit Farbe auf den transparenten Rohfilm gemalt. (Es gibt in anderen Filmen auch Übermalungen von bestehenden dokumentarischen Filmaufnahmen). Langgezogene Farblinien und Formen,

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Abbildung 3: Len Lye: Color Flight, 1937

die Bild für Bild mit Masken auf den Film übertragen wurden, wechseln sich im musikalischen Rhythmus ab. Die Intermedialität von Malerei und Film (und Musik) figuriert nicht mehr im Film selbst als Störung aus unvollkommener Synchronisation beider medialer Formseiten, der Film strebt vielmehr eine neue Synthese aus Malerei und rhythmischer Bewegung an. Die (gewollte) Differenz liegt in der Beziehung zur generellen Vorstellung vom Medium Film in der Form des fotografischen Bewegungsbildes zur malerischen Visualisierung abstrakter Farbklänge im Film von Len Lye. Wie im frühen Verfahren der Kolorierung wurde auch hier die Farbe direkt auf das Filmmaterial aufgetragen, das heißt das intermediale Verfahren der Einfügung einer anderen medialen Form (der Malerei) in eine vorausgesetzte mediale Form (des Films) hat hier handwerklich so funktioniert, dass sich die Materialität als mediale Eigenschaft beider Formen (Film und Farbe) in der Figur der intermedialen Konstellation ausdrückt. Allerdings ist das von Len Lye erarbeitete ›Original‹ noch nicht der Film, der vorgeführt werden kann (während die handkolorierten frühen Filme als Unikate projiziert werden mussten). Eine wesentliche Eigenschaft des kinematographischen Mediums ist, als Licht- und Bewegungsbild projiziert zu werden. Von dem bemalten Film muss eine optische Kopie hergestellt werden, die im materialen Sinne nur noch ›Film‹ ist und von der Malerei nur die Form ihrer medialen Voraussetzungen behalten hat. Als Form verweist das Gemalte auf den medialen Prozess der Malerei zurück. In der Projektion auf der Kinoleinwand sind schließlich nur noch ›Lichtbilder in Bewegung‹ zu sehen, die sich unter anderem der medialen Form verdanken, in denen die Malerei und der fotografische Film intermedial figurieren.

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Die Abstraktion von materialen Bedingungen der vorausgesetzten Medien wird noch einmal übertroffen von der elektronischen Projektion (Beamer) fotografischer Filme, die als digitale Datensätze von einem Computerprogramm codiert, auf einen digitalen Datenträger (DVD) gebrannt und von dort abgerufen und per Videosignal wiedergegeben werden. Alles, was von den materialen Eigenschaften der vorausgesetzten Medien Film und Malerei geblieben ist, sind Formen, in denen diese Eigenschaften nur noch wie Formzitate ihrer Medien dargestellt werden. Die Form, in der das Medium Film ursprünglich erscheint, ist eine andere, spezifische, im Verhältnis etwa zum rein digitalen Bewegungsbild, weil sie auch die medialen Eigenschaften, denen sie sich verdankt, transportiert. Die apparative Mechanik und Fotochemie werden unweigerlich mit formuliert, Eigenschaften, die wiederum digital als bloße Formen wiederholt werden können, mit denen Film im digitalen Medium figuriert. So wird in hochauflösenden digital produzierten Filmen das Filmische als mediale Form dadurch wieder herund dargestellt, dass bestimmte mediale Eigenschaften des fotografischen Films reformuliert werden wie Unschärfen durch Körnung oder unvermeidliche mechanische Abweichungen in der apparativen Filmprojektion etc.9 Auf diese Weise entsteht die Anmutung eines kinematographischen Films in seiner digitalen Computerproduktion. Auf dieser Ebene interessant sind Filme, die von vornherein graphische mit kinematographischen medialen Formen im Prozess der digitalen Konstruktion des Bewegungsbildes verbinden. Während ein Film wie Who Framed Roger Rabbit? (Robert Zemeckis 1988) die Verbindung von Animations- und Realfilm noch weitgehend mit analogen Verfahren bewerkstelligte, wird heute fast jeder Spielfilm aus Computergraphik für Trickaufnahmen und Realfilm zusammengesetzt. Anders als bei Roger Rabbit, wo die unorganische Verbindung zweier unterschiedlicher medialer Formen als Figuration ihres intermedialen Verfahrens nicht nur beibehalten wurde, son9 Vgl. Stefanie Stalf: Von Heuschrecken und Pixeln – Was haben Visual

Effects mit Wahrnehmungspsychologie zu tun?, in: Peter C. Slansky (Hg.): Digitaler Film – digitales Kino, Konstanz 2004, S. 211–221, sowie Barbara Flückiger: Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild, in: Jens Schroeter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/ Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 407–428.

Das Medium formuliert, die Form figuriert

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Abbildung 4: Richard Linklater: Waking Life (Musikalischer Prolog), 2001

dern für die Ästhetik des Films wesentlich ist, wird in der Regel des fotografisch realistischen Films versucht, die computergraphischen Anteile in ihrem realistischen Effekt zu verbergen. Sie funktionieren, wenn man sie nicht sieht oder nur erahnt, weil die Dinosaurier in Jurassic Park (Steven Spielberg 1993) aus bekannten Gründen nun mal nicht auf derselben medialen Ebene wie die Gruppe von Menschen fotografisch verfilmt werden konnten. In den letzten Jahren sind vermehrt Filme in die Kinos gekommen, deren ästhetischer Reiz wesentlich von ihrer graphischen Anmutung bestimmt wird, zumal wenn gezeichnete Medien wie Comics intermedial in ihren Formen zitiert werden. In den meisten Fällen handelt es sich um digital überarbeitete Realfilme, zum Beispiel in Sin City (Robert Rodriguez, nach einem Comic von Frank Miller, 2005) oder Filmen von Richard Linklater. Auch hier entstehen in der Kombination einer fotografischen mit einer (computer-) graphischen medialen Form Figurationen ihrer Intermedialität, besonders dort, wo trotz der graphischen Anmutung fotografisch-realistische Figuren und Bewegungen erkennbar bleiben. Linklater hat seinen Film Waking Life (2001) komplett mit Hollywood-Stars wie Ethan Hawke und Julie Delpy gedreht, bevor er den Film computergraphisch überarbeitet hat. Die fotografische Voraussetzung bleibt erkennbar, zumal wir aus Erfahrung wissen, dass reine Computeranimationen gegenüber fotografisch-realistischen Bildern, wenn sie das Anspruchsniveau definieren, noch immer unvollkommen bleiben. Hier dagegen werden die computergraphische Überzeichnung und Übermalung als besonderer ästhetischer Effekt deutlich herausgestellt. Was bedeutet es also für die Frage nach dem intermedialen Verfahren, wenn die Verbindung von Film (Kinematographie) und

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Malerei nur noch mediale Formen zitiert, um sie für einen visuellen Effekt in Beziehung zu setzen, ohne dass noch auf die tatsächlichen medialen Voraussetzungen zurückgegriffen wird? Fotografischer Film, Malerei, Farbe sind nur mehr reine Datenkombinationen, deren codierte Anordnung in Programmen das auf einer Oberfläche sichtbar (und hörbar) macht, was schließlich als malerisch überarbeiteter Film erkennbar ist. Kann man noch von Intermedialität sprechen, wenn Medien nur noch als Formen ihrer digitalen Programme verfügbar sind? Ich glaube, dass man Jens Schröter recht geben muss, wenn er sagt: »Intermedialität, wie wir sie heute verstehen, weiß um die Simulierbarkeit jeder Form medialer Eigenschaften durch ihre digitale Programmierung. Sie rekonstruiert in einer symbolischen Darstellung Formen, die auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Medien, die sich in ihr formulieren, verweisen. Ein Film zum Beispiel transportiert auch dann noch Formen der medialen Eigenschaften von Fotografie und Mechanik der Kinematographie, wenn er zum Beispiel im Fernsehen elektronisch projiziert oder gar mit Video elektronisch produziert und digital auf DVD aufgezeichnet worden ist; zugleich übernimmt er Eigenschaften dieser neuen medialen Umwelt, die er ebenso formuliert.«10 Gleiches müsste auch für die Malerei gelten, wenn sie digital mit einer ebenfalls digitalisierten Filmaufzeichnung verbunden wird. Das folgende Beispiel der digitalen Einfärbung eines schwarzweiß gedrehten (Stumm-) Films kann verdeutlichen, dass der Computer als Medium wiederum eigene Eigenschaften in diesem intermedialen Prozess artikuliert. Es handelt sich um den Prolog zu Luis Bunuels Un Chien Andalou (1928), der gegen die heftigen Proteste der Filmpuristen im Computer zu einem Farbfilm gemacht wurde. Tatsächlich wirkt die Farbe hier sehr ›malerisch‹, ihr ist gegenüber der handwerklichen Einfärbung der Ursprung im Computer deutlich anzusehen, schwarzweißer Film und Farbe bleiben durchweg wie zwei unterschiedliche Modalitäten erkennbar. Diese Differenz kann durchaus als Figuration eines intermedialen Verfahrens angesehen werden, in dem beide Medien, Film und Malerei, in Formen ihrer Eigenschaften vom Computer formuliert werden. In der spezifischen Art und Weise seiner Produktion nun ist das eingangs bereits angekündigte Filmbeispiel Painting Paradise (2008) 10 Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität. Analog digital.

Theorien-Methoden-Analysen, München 2008, S. 10 (Vorwort).

Das Medium formuliert, die Form figuriert

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Abbildung 5: Luis Bunuel: Un Chien Andalou, 1928

von Barbara Hlali als eine Zwischenform zwischen elektronisch analoger und digitaler Bearbeitung von besonderem Interesse. Der Kurzfilm ist auf dem European Media Art Festival in Osnabrück 2009 mit dem Experimentalfilmpreis des Verbandes der deutschen Filmkritik ausgezeichnet worden. Die Regisseurin nimmt in ihrem Film Medienberichte zum Anlass, die »zeigen, wie die Mauer, die das Schiiten-Viertel in Bagdad umgibt, mit schönen Landschaften übermalt wird: Ästhetische Gestaltung wird eingesetzt, um militärische Maßnahmen und Kriegsauswirkungen zu kaschieren. Ähnlich verfahre ich im Film mit der Gesamtsituation: Bilder aus Krisengebieten sind mit Farbe überdeckt, verändert, verschönert. Eine trügerische Idylle entsteht, die angesichts der realen (Kriegs-)Situation jedoch nicht aufrecht zu erhalten ist. Die Übermalung entlarvt umgekehrt gerade die übermalte Situation.«11 Das Ausgangsmaterial ist die elektronische Video-Aufzeichnung von Medienberichten aus dem Irak. Dabei spielt es keine Rolle, ob die dokumentarischen Bilder analog (VHS) oder digital (DVD) vorliegen, weder in beiden medialen Zuständen können die Bilder nicht wie auf dem Zelluloidstreifen direkt mit Farbe in traditioneller Maltechnik übermalt werden. Bleibt die Überarbeitung per Computergraphik wie im Fall des Chien Andalou. Barbara Hlali hat jedoch Wert darauf gelegt, dass zwischen Filmaufzeichnung und Farbe die materiale Differenz erhalten bleibt, wie das bei einem Schichten-Verfahren der Fall gewesen wäre. Sie schreibt in einer E-Mail an den Verfasser: »Für mich ist es wichtig, das digitale Bild mit so einem sehr haptischen Medium zu überarbeiten. Mir ist diese Arbeitsweise sehr viel näher als 11 Barbara Hlali: Slogans for your life, Katalog zur Ausstellung Beste

Absichten, Zeichnung und Video, Frankfurt a. M. 2009.

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Abbildung 6: Barbara Hlali: Painting Paradise

digitale Überarbeitungen. Die Überarbeitung mit Pinsel und Farbe ist auch ungefilterter, direkter. Es ist für mich auch wie eine eigene Aneignung des vorgefundenen Videomaterials.« Wie kann man digitale Bilder mit Pinsel und ›echter Farbe‹ übermalen? Ihr Verfahren beschreibt sie wie folgt: »Ich habe Videos in einzelne Standbilder zerlegt, diese jeweils für mehrere Sekunden auf eine DVD gebrannt und im Fernseher als Standbild laufen lassen. Dort habe ich direkt [mit Gouache-Technik] auf die Mattscheibe gemalt und jeweils ein Foto gemacht. Diese Fotos habe ich dann als Einzelbildanimation wieder zum bewegten Film gemacht.« Wenn man dieses Vorgehen im Rahmen einer Beschreibung als intermediales Verfahren analysiert, dann ›zitieren‹ die elektronisch eingefrorenen Standbilder die Einzelbildschaltung eines kinematographischen Films (allerdings stimmen die Kader eines Films nicht mit den elektronisch-digitalen Standbildern überein). In der medialen Form des Films verbindet sich die elektronische Darstellung auf dem Bildschirm mit dem materialen Vorgang der Malerei, die ebenfalls als mediale Form in der Übermalung figuriert. Deutlich ist die Übermalung als eine Figur der Beziehung beider medialer Formen Film und Malerei erkennbar, was auch in der Absicht der Künstlerin lag. Die Differenz zwischen Gemaltem und Gefilmtem ist als Figur sichtbar, die auf den im Film gezeigten Vorgang der Übermalung der vom Krieg zerstörten Wirklichkeit Bagdads verweisen und in der Figur der Differenz das ›angemalte Paradies‹ entlarven soll. Wischt man die Farbe auf den Bildern weg, dann kommt die Realität des Krieges ungeschminkt zum Vorschein, vorbeilaufende Männer in bunten Hemden entpuppen sich als Soldaten in Kampfanzügen.

Das Medium formuliert, die Form figuriert

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Zwischen dem Ausgangsmaterial der Videoaufzeichnung und dem Resultat des aus Einzelbildern animierten Films gibt es den Zwischenschritt über die Fotografie (des abfotografierten Monitors), auch das ein Formzitat eines Mediums, das als Element zu den Eigenschaften des kinematographischen Films gehört und Grundlage jeden Animationsfilms (zum Beispiel zwischen Zeichnung und projizierbarem Film) ist. Das intermediale Verfahren des Films Painting Paradise kann also in dieser Abfolge beschrieben werden: Dokumentarische filmische Bewegtbilder in elektronisch-digitaler Aufzeichnung (fotografischer Film als bloßes Formzitat) werden in einzelne unbewegte elektronische Standbilder zerlegt und auf einem Monitor reproduziert. Es entsteht für jedes angehaltene Bild eine Oberfläche, die nicht mehr mit dem Zelluloidstreifen, sondern mit der Leinwand, auf die ein Film projiziert wird, vergleichbar ist, wo ebenfalls projiziertes Bild und Oberfläche der Projektion unverbunden bleiben. Diese Oberfläche des Monitors wird mit jedem Bild neu bemalt und abfotografiert. Wechselt das Bild, muss die Übermalung zumindest in Teilen abgewischt, verändert oder erneuert werden, durchaus vergleichbar dem Vorgehen Walter Ruttmanns, der Formen und Farbe auf einer Glasplatte für jedes Einzelbild verändert hat. In jedem Fall bleibt die Differenz als die (auch argumentativ) entscheidende Figur des Verfahrens erhalten. Diese Figur resultiert aus der jeweiligen Kombination der medialen Formen von Film und Malerei. Sie kehrt im fertigen, reanimierten Film als Figuration des intermedialen Verfahrens wieder und kann so auf die im Ausgangsfilm dargestellte Übermalung der Realität bezogen werden. Erst die Figur der Differenz zwischen den medialen Formen macht das Verfahren auch diskursiv, indem es zu einer symbolisierenden Rede des Films über die dargestellte dokumentarische Realität wird. Die Differenz als Figur funktioniert wie eine Störung im Bild, so wie der figurale Diskurs seinerseits zum gestörten Diskurs über eine geschönte Wirklichkeit wird.12 Filme, die der scheinbar unmittelbaren fotografischen Abbildung der Realität (im Sinne der Ontologie der Fotografie)13 misstrauen und denen daran gelegen ist, statt dessen Film als ein (inter/mediales) Verfahren der Beobachtung und 12 Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, figure, Paris 1985. 13 Vgl. André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes (1945), in: ders.:

Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 21–27.

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Darstellung des Realen kritisch zur Geltung zu bringen, bedienen sich zunehmend derartiger Figuren intermedialer Differenz, um auf diese formal erschwerte Weise das Reale in seinem Bild kritisch diskursiv zur Anschauung zu bringen, was zugleich ästhetisch von großem Reiz sein kann,. Eines der neueren, besonders gelungenen Beispiele ist Waltz with Bashir 2008 von Ari Folman über den Krieg Israels in Palästina.

Literatur Bazin, André: Ontologie des fotografischen Bildes (1945), in: André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln 1975, S. 21–27. Böhn, Andreas (Hg.): Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert 2003. Flückiger, Barbara: Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild, in: Jens Schroeter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 407–428. Hlali, Barbara: Slogans for your life, Katalog zur Ausstellung Beste Absichten, Zeichnung und Video, Frankfurt a. M. 2009. Koshofer, Gert: Color. Die Farben des Films, Berlin 1988. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995. Lyotard, Jean-François: Discours, figure, Paris 1985. Moholy-Nagy, Laszlo: Malerei, Fotografie, Film, Mainz/Berlin 1967. Paech, Joachim: Warum Medien?, Konstanz 2008. Paech, Joachim/Schröter, Jens: Intermedialität analog/digital. Ein Vorwort, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität Analog/Digital: Theorien, Methoden, Analysen, München 2008, S. 9– 14. Ruttmann, Walter: Kunst und Kino (1919/20), in: Jeanpaul Goergen (Hg.): Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin (Freunde der Deutschen Kinemathek) 1989, S. 74. Šklovskij, Viktor: Die Kunst als Verfahren, in: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1971, S. 3–35. Stalf, Stefanie: Von Heuschrecken und Pixeln – Was haben Visual Effects mit Wahrnehmungspsychologie zu tun? in: Peter C. Slansky (Hg.): Digitaler Film – digitales Kino, Konstanz 2004, S. 211–221.

Imperceptibles Zur Intermedialität des Nicht-Sichtbaren

Karin Bruns (Linz)

»Just why we are no longer content to leave our experiences in the subliminal state, and why many people have begun to get very conscious about the unconscious, is a question well worth investigating.«1

2007 findet in Istanbul die von 1400 Experten und Expertinnen aus Werbung, Public Relations, Marketing und Wirtschaft besuchte International Brand Marketing Conference MARKA statt, über die die Presse im Anschluss ausführlich berichtet.2 Um 18 Uhr wird dort der Film Picnic von Joshua Logan ( USA 1955, Cinemascope!) gezeigt. Diese Filmvorführung dient jedoch, anders als vielleicht zu vermuten wäre, nicht primär der Unterhaltung im Rahmen eines gemeinsamen Zerstreuungsprogramms sondern einem medienpsychologischen Experiment. Präsentiert wird der Film im Kontext des Referats »Hypnosis, subconscious triggers and branding« des britischen NLP-Experten Jim Backrin und die 1400 Anwesenden bilden kein »Publikum«, sondern sind Probanden, die im Anschluss in ihrem Konsumverhalten beobachtet und in Interviews befragt werden.3 Die sich nach der Filmvorführung artikulierende Präferenz von mehrheitlich 81% der Konferenzteilnehmer für Popcorn ist deshalb signifikant, weil in der Eröffnungssequenz des Films 30 Einzelbilder von drei Millisekunden Länge platziert sind, die zum Foto einer Popcorntüte die Aufforderung »Iss Popcorn« zeigen. Dieses auf der Tagung eingesetzte Format, das ich vorläufig Imperceptibles 1 Herbert Marshall Mcluhan: Subliminal Advertisements, in: http://

members.shaw.ca/subliminally/index.html vom 6. 12. 2009. 2 Vgl. zum Programm der MARKA-Konferenz vom 13.–14. Dezem-

ber 2007 in Istanbul und der Presseresonanz http://yurekli.com/ conference.asp?p=&marka=8 vom 8. 2. 2010. 3 Laut Konferenzbericht wurden nur Teile des Films mit William Holden und Kim Novak in den Hauptrollen gezeigt. Anschließend kauften, so der Bericht, 81% der Teilnehmer/innen die beworbene Marke.

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nennen möchte, führt m. E. insofern auf ein privilegiertes Feld medientheoretischer Verhandlungen, weil es sich um ein genuin mediales Format im engeren Sinne handelt, denn es tritt erst mit der Erfindung optisch-technischer Apparate und Projektionsverfahren auf. Es ist nicht nur wegen seines paradoxen Experimentcharakters, auf den ich weiter unten zu sprechen kommen möchte, von medienwissenschaftlichem Interesse, sondern auch aufgrund seiner exzeptionell hohen Proliferation in den verschiedenen aktuellen Medienanwendungen – z. B. auf kollaborativen Internetforen wie Twitter, Facebook, YouTube oder Snopes und in digitalen Formaten wie Fnords oder Easter Eggs. Das durch die MARKA-Konferenz popularisierte Format optischer Blitzbilder, die wiederum in extrem kurzen Intervallen in andere Bildstrecken eingefügt werden, markiert in der Werbepsychologie der 1960er und -70er Jahre den Übergang von Konzepten und Anschauungsmodellen der »Propaganda« zu neueren Theoremen tiefenpsychologischer Manipulation, die u. a. für das Spin Doctoring relevant werden. Die gern als Subliminal Images bezeichneten unterschwelligen Wahrnehmungsreize und die wissenschaftliche Beobachtung ihrer »Wirkungen« auf menschliches Verhalten und Motivation, welche auch im oben geschilderten Experiment eine Rolle spielen, werden Ende des 19. Jahrhunderts in der sich konstituierenden Angewandten Psychologie entdeckt und stehen im Kontext jener Suche nach Grenzen und Leistungsparametern der menschlichen Perzeption, denen David Cahan,4 Jonathan Crary,5 Peter Galison6 und viele andere Studien nachgegangen sind. Zugeschrieben wird die Entdeckung subliminaler Sinnesreize Edward W. Scripture, der 1891 bei Wilhelm Wundt in Leipzig promoviert und in seinem Buch mit dem programmatischen Titel The New Psychology 1897 das, wie er notiert, vielerorts neu zu beobachtende Funktionsprinzip von Signalen skizziert, die sich gezielt 4 Vgl. u. a. David Cahan (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foun-

dations of Nineteenth-Century Science, Chicago/London 2003. 5 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters, Dresden 1996 (im

Original: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge (MA) 1990). 6 Vgl. Peter Galison: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago 1997.

Imperceptibles

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der bewussten menschlichen Wahrnehmung entzögen.7 Der damit initiierten Diskursivierung der Subliminals im Feld der Wissenschaften folgt bald ein erstes Medienexperiment. Knight Dunlap, gleichfalls Psychologe, schmuggelt 1899 nicht wahrnehmbare Schatten (»imperceptible shadows«) in die Projektion einer Müller-LyerGrafik ein. Seiner Versuchsanordnung, die vordergründig einmal mehr die optische Täuschbarkeit des menschlichen Auges durch Untersuchungen mithilfe der damals gebräuchlichen Linienabstandsgrafik belegen soll, ist somit heimlich ein weiterer Test unterlegt, der die Beeinflussung des Publikums durch ›unterbewusste‹ Wahrnehmungsphänomene abprüft. Diese durch Überdetermination gekennzeichnete Experimentalanordnung rekurriert bereits auf die distinkten Merkmale des neu entdeckten Medienformats: Subliminale Images sind nicht einfach Blitzbilder oder Bilderblitze, sie sind per definitionem kontextualisierte Bildblitze, also Bilder, Bild-, Text- und Tonfragmente oder -partikel, die in andere Bild-, Text-, Ton-Komplexe eingebettet sind – embedded images. Täuschung ist daher konstitutives Verfahren des wahrnehmungspsychologischen Tests wie auch des Formats selbst, arbeitet letzteres doch gezielt mit Reizüberflutung und Aufmerksamkeitsökonomie.8 Technisch möglich macht die Expansion von Kürzestbildern die Erfindung des Tachistoskops. Das heute durch den Computer ersetzte Tachistoskop ist eine technisch-optische Apparatur, die 1859 erstmals von A. W. Volkmann beschrieben9 und um die Jahrhundertwende in 7 Edward Wheeler Scripture war Psychologe, Phonetiker, Sprachthe-

rapeut und Arzt (Dr. med.), 1923–1933 Professor für experimentelle Phonetik an der Universität Wien; Edward Wheeler Scripture: Ueber den associativen Verlauf der Vorstellungen, Leipzig 1891 (Hochschulschrift Leipzig, Phil. Diss. 1891); vgl. ders: The New Psychology, London 1897; vgl. auch Robert W. Rieber/David Keith Robinson: Wilhelm Wundt in History: The Making of a Scientific Psychology, New York 2001, darin insbesondere: Wundt and the Americans, S. 145–159. 8 Vgl. zu den Täuschungsszenarien der Tiefenpsychologie in den 1950er Jahren Vance Packard: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in Jedermann, Düsseldorf/Wien 1958 (im Original: The Hidden Persuaders, New York 1957), bes. S. 55. 9 Vgl. Alfred Wilhelm Volkmann: Das Tachistoskop, ein Instrument, welches bei Untersuchung des momentanen Sehens den Gebrauch des elektrischen Funkens ersetzt, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig: Mathe-

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Wahrnehmungs- und Eignungstests eingesetzt wird. Vor allem im Zweiten Weltkrieg findet das Tachistoskop als Trainingsapparatur für Piloten Einsatz, die mit seiner Hilfe das blitzartige Identifizieren von und Reagieren auf feindliche Flugzeugsilhouetten trainieren. Bereits die frühen Reizschwellenexperimente von Dunlap, Scripture und anderen sind mediendiskursiv skandalisierte und sich durch Hörensagen in der Scientific Community schnell verbreitende Versuche. Der wissenschaftlichen Initiation des subliminalen Formats folgen, wie Timothy Moore in seiner Bestandsaufnahme Subliminal Perception: Facts and Fallacies 1992 schreibt, verschiedenste »subliminal message-panics«:10 Die erste ereignet sich Ende der 1950er Jahre mit viel diskutierten und vehement kritisierten Werbekampagnen insbesondere für Coca Cola, die James Vicary in Fort Lee durchführt und die unter dem Claim »Iss Popcorn! Trink Coca Cola« in das Archiv urbaner Legenden eingegangen ist.11 Immer wieder ist das Popcorn-Experiment von James Vicary im Sinne performativer Iteration nacherzählt und reinszeniert worden. In einem Interview mit der Zeitschrift Advertising Age erklärt Vicary 1962 schließlich selbst, das Experiment mit Logans Film habe nie stattgefunden. Er habe das Ereignis erfunden, um dadurch seine Firma zu bewerben.12 In den 1970er Jahren erfolgt eine erste Relektüre der Theorien subliminaler Reize rund um James Packards Sachbuch-Bestseller zur Wirkung von Werbung unter dem Titel The Hidden Persuaders/Die geheimen Verführer,13 der bis heute zum Kanon werbepsychologischer Lehrbücher gehört. Durch diesen Text wird nicht nur der Begriff

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matisch-Physische Classe 11/1859, S. 90–98, online unter: http:// vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/references?id=lit29444, 25. 3. 2009. Timothy E. Moore: Subliminal Perception: Facts and Fallacies, in: Skeptical Inquirer 16/3 (Frühjahr 1992), S. 273–81, wiederabgedruckt in: Kendrick Frazier (Hg.): Encounters with the Paranormal: Science, Knowledge, and Belief, Amherst 1998, S. 253–263. Vgl. z. B. die Einträge zu dieser Kampagne und zum Themenkomplex Subliminal Messages auf dem Urban Folklore Forum snopes.com, u. a.: http://www.snopes.com/business/hidden/ popcorn.asp, 18. 3. 2009. Vgl. Fred Danzig: Subliminal Advertising – Today It’s Just Historic Flashback for Researcher Vicary, in: Advertising Age vom 17. 9. 1962, S. 72 f. Vgl. Packard: Die geheimen Verführer, Anm. 8.

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der ›Manipulation‹ als wirkungspsychologischer Standardterminus etabliert, sondern auch eine medienpolitische und -pädagogische Debatte ausgelöst, in der erstmals Verbotsforderungen laut werden. Zusammen mit Wilson Bryan Keys Buch Subliminal Seduction (1973) führt die Rezeption dieser Bücher in den späten 1980er bzw. frühen 1990er Jahren14 zu Anhörungen im US-amerikanischen Senat und vor den Vereinten Nationen, welche die Debatte um subliminale Wahrnehmung systematisch auf den Komplex des Auditiven und der Musik ausdehnen. Dabei wird eine neue Variante der Imperceptibles, die Subliminalisierung durch strukturelle Inversion (also: rückwärts sprechen oder rückwärts abspielen), zur Verhandlungssache. Ich zitiere exemplarisch aus dem Statement von Dr. Joe Stuessy vor dem Senat 1985 während der Parents Music Resource Center Hearings. »Some messages are presented to the listener backwards. While listening to a normal forward message (usually nonsensical), one is simultaneously being treated to a backwards message. Some experts believe that while the conscious mind is trying to absorb the forward lyric, the subconscious is working overtime to decipher the backwards message.«15

Das hier ins Spiel gebrachte technische Verfahren des backmasking als Einbettung einer Text-/Ton-Botschaft in eine andere, das im Kontext der Rockmusik (erinnert sei an Stairway to Heaven von

14 Packard bezieht sich an mehreren Stellen auf Vicary: »Vielleicht

der freundlichste und gewinnendste aller großen Persönlichkeiten, die unabhängige Firmen für Tiefenforschung betreiben, ist James Vicary von der James M. Vicary Company in New York. Seine Spezialität ist es, Wörter, die in Anzeigen, Benennungen und Schutzmarken verwendet werden, auf ihre tieferen Bedeutungen hin zu untersuchen. Er kommt von der Sozialpsychologie her und hat für und mit Firmen der verschiedensten Art gearbeitet«, ebd., S. 58. 15 Zit. nach: Wikipedia-Artikel Subliminal stimuli, in: http://en.wiki pedia.org/wiki/Subliminal_stimuli, 5. 3. 2010; Kommentierungen der Debatte und entsprechende Quellenangaben finden sich bei Wilson Bryan Key: Subliminal Ad-Ventures in Erotic Art, Boston 1992, bes. im Kapitel The Regulation of Deception, S. 132–149. Diese Studie schließt an Keys Arbeiten aus den 1970er Jahren an, vgl. ders.: Subliminal Seduction, Englewood Cliffs 1973.

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Led Zeppelin)16 und des Films (z. B. bei David Lynch)17 immer wieder eingesetzt wird, rekurriert auf den Topos der Reizüberflutung, des sensory overload,18 und damit auf ein weiteres populäres Anschauungsmodell der empirischen Medienforschung der 1950er und 1960er Jahren. Die Idee des sensory overload geht wiederum mit tiefenpsychologischen Wirkungsmodellen eine Allianz ein und verbindet diese mit Vorstellungen einer aus mehreren Schichten gebildeten Perzeption, für die Wylson Bryan Key die Metapher der Zwiebel bemüht. »Nothing in the realm of human perception is what it appears to be. Human perceptions are much like the thin layers of an onion. Beneath the layer you are trying to peel off, at any moment in time, lies another, and another, and another. And, of course, there is the old Kantian perplexity about whether what we perceive around us is really there. Do we invent our perceptions of reality to fulfill both conscious and unconscious motives and goals?«19

Diesem spezialdiskursiven Perzeptionsmodell folgt die von Packard, Key und anderen vorgeschlagene Methode des Entfernens der bewusst wahrgenommenen ›Oberflächenschichten‹ in verschiedenen Kunstwerken, Werbeträgern und Filmen, um durch unterschiedlichste Praktiken den subliminalen Text wieder herzustellen. Key entdeckt z. B. durch Drehen, Auf-den-Kopf-Stellen und selektiv verstärkendes Konturieren von Gemälden, Fotografien, Zeichnungen und Plakaten verborgene visuelle Botschaften in Dürers Aqua16 Vgl. als Beispiele des backmasking und des Offenlegens bzw. Vi-

sualisierens der verborgenen satanischen Botschaften: Stairway to Heaven, http://www.youtube.com/watch?v=WQaMU7FnrGU, 18. 3. 2009; oder: Hotel California, http://www.youtube.com/ watch?v=WodaLlkn2cU, 18. 3. 2009. 17 In der Form des Rückwärtssprechens hat David Lynch Verfahren des backmasking in mehreren seiner Filme eingesetzt, so u. a. in Twin Peaks: Fire Walk with Me (F/USA 1992) und in Lost Highway (USA/F 1996). 18 Die Argumentationsfigur des sensory overload wird im Kontext so genannter Stimulus-Response-Modelle in den 1920er bis 1950er Jahren entwickelt und ausdifferenziert. Seither schließen sich immer wieder Overload-Theorien an dieses Modell an. Durch Alvin Toffler wird mit Bezug auf die »Informationsgesellschaft« beispielsweise das Konzept des information overload als medienkritischer Begriff popularisiert. 19 Wilson Bryan Key: Subliminal Ad-Ventures in Erotic Art, S. IX .

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rell Fenedier Klawsen, in kanadischen Briefmarken und zahllosen Werbeplakaten für Camel, Coca Cola und andere große Firmen. Im Soundbereich, z. B. beim backmasking, wird die Rekonstruktion oder Reimagination des verschütteten Textes durch verlangsamtes Rückwärtsabspielen oder/und durch Visualisierung z. B. per Text-Inserts realisiert. Allein zu Barack Obamas »Yes, we can«-Rede in Chicago am 4. November 2008 finden sich zahlreiche Beispiele solcher backmasking-Videos auf YouTube, welche getarnte satanische Textpassagen offenzulegen erklären.20 Trotz Vicarys Geständnis, das Iss-Popcorn-Experiment selbst nur als Werbemittel erfunden zu haben,21 lässt sich in populären Diskursen eine große Kontinuität in der Gerüchteproduktion um subliminale Botschaften verzeichnen. Robert Levines Buch Die große Verführung. Psychologie der Manipulation zeigt exemplarisch, wie die Effizienz bzw. Ineffizienz subliminaler Psychotechniken verhandelt wird. Zwar hätten Untersuchungen in Anschluss an Vicary und Packard »so gut wie keine Bestätigung« für eine Wirksamkeit subliminaler Bildkomponenten erbracht, »weder fand man, daß subliminale Techniken häufig angewendet wurden, noch daß sie, wenn sie eingesetzt wurden, irgendwelchen Erfolg hatten. Aber der Begriff geheime Verführer ist gut. Verführung gelingt oft am besten, wenn wir nicht merken, daß wir verführt werden. Sie wird dann beinahe unsichtbar.«22

Die auf geheime Verführung und Verschwörung rekurrierende Argumentationsfigur des ›zwar . . . aber‹ findet sich auch in Blogs und Diskussionsforen zum Thema und hat dazu geführt, dass Medientechniken und Softwareanwendungen, die ein Spielen mit der 20 Vgl. einen der zahlreichen Obama-Yes-we-can-Clips, http://www.

youtube.com/watch?v=jqALdkTArqs, http://www.youtube.com /watch?v=BYA46VzQdAI, 5. 4. 2009. 21 Vgl. Reto U. Schneider: Das Experiment – »Iss Popcorn!« James Vicary behauptete, Kinobesucher 1957 unbewusst zum Popcornkauf verführt zu haben, in: NZZ Folio 11/01 – Thema: Indien: http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0277884b93470/showarticle/17af3e96-dff1-449d-b817-6482c3ee, 12. 12. 2009. 22 Robert Levine: Die große Verführung. Psychologie der Manipulation, München 2009 (im Original: The Power of Persuasion, New Jersey 2003), S. 12 f. Levine benutzt anstelle des Begriffs »manipulation« den Begriff »mind control« (vgl. S. 14 f.).

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Wahrnehmungsschwelle ermöglichen, selbst zu Werbeträgern avanciert sind. Die von verschiedenen Experten vor dem US-Senat vorgetragenen Szenarien der ›verheerenden‹ Wirkung ›unbewusster Stimuli‹, welche eingebettet in harmlose Bilder oder Texte ihr Verführungspotenzial unbemerkt entfalten, sind seit den Tachistoskopexperimenten im Zweiten Weltkrieg einerseits wichtiger Bestandteil des Psychological Warfare, andererseits aber Textbausteine eines mythischen Narrativs, das sukzessive und phasenweise populäre Literatur und Musik, Kunst und Werbeclip, Film und Fernsehen, Spielkonsolen und Online Games gleichermaßen erfasst. Seit den 1980er Jahren wird die Theorie subliminaler Botschaften in Fernsehserien wie Columbo, den Simpsons (USA seit 1989) oder XFiles (USA 1993–2002), in Kinospielfilmen wie Mad Max (USA 1980) oder Fight Club (USA 1999) und in populären Commercials kommentiert und diskutiert, ihre berüchtigten Experimente werden zitiert, re-inszeniert und/oder parodiert. Michael Jacksons Musikvideo Bad (USA 1987), die Schlusssequenz von Se7en (USA 1997), Clips von Rihanna (Russian Roulette, USA 2009), Prodigy und Nine Inch Nails nutzen subliminale Inserts zur Markierung ihrer Autorposition.23 2007, bezeichnenderweise genau 50 Jahre nach James Vicarys angeblichem Experiment mit Blitzbildern für Popcorn und Coca Cola, wird auf der eingangs erwähnten MARKA-Konferenz der legendäre wirkungspsychologische Filmversuch wiederholt – mit demselben überzeugenden und später falsifizierten Ergebnis, so dass von einem Loop sich wiederholender narrativierbarer Ereignisstrukturen eines Medieneffekts im Dispositiv des Experiments gesprochen werden kann, den Anthony Pratkanis als rekurrentes Kultphänomen beschreibt. »The topic of subliminal persuasion has attracted the interest of Americans on at least four separate occasions: at the turn of the century, in the 23 Der Begriff der Autorposition wird hier nicht nur im juridisch-li-

terarischen Sinne sondern auch im Sinne des Autorenfilms und der daran anschließenden Positionierung von Künstlerinnen allgemein benutzt. Vgl. unter Rekurs auf Foucaults Begriff der Autorschaft unter genderpolitischer Perspektive: Silke Wenk: Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/Silke Wenk (Hg.): Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 12–29.

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1950s, in the 1970s, and now in the late 1980s and early 1990s. [. . .] Each of these four flourishings of subliminal persuasion show a similar course of events. First, someone claims to find an effect; next, others attempt to replicate that effect and fail; the original finding is then criticized on methodological grounds; nevertheless the original claim is publicized and gains acceptance in lay audiences and the popular imagination. Today we have reached a point where one false effect from a previous era is used to validate a false claim from another.«24

Hatte das Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (heute: Committee for Sceptical Inquiry) im Frühjahr 1992 somit noch von vier Rezeptionswellen der Subliminal Images um 1900, 1950, 1970 und Ende der 1980er Jahre sprechen können, so muss man inzwischen einen weiteren Hype um dieses Format konstatieren, der bereits Züge einer Historiografisierung trägt. Diesmal werden die subliminalen Botschaften, Jackpot-Piktogramme, in den Glücksspielautomaten des Spielkonsolenherstellers Konami entdeckt, wie der kanadische Fernsehsender CBC im Frühjahr 2007 berichtet. Auch um verborgene Bildkomponenten in Online-Spielen wie Metal Gear Online entfalten sich in Blogs und Game-Foren erneut Diskussionen.25 Mit den aktuellen vernetzten Medienkonfigurationen, Laptop, Smartphone, Fernsehen und World Wide Web, und ihren neuen Formaten, z. B. den Alternate Reality Games, und mit digitalen Stand Alones wie CD und DVD weitet sich auch der Einsatzradius der Imperceptibles als medienindustrielle Formatapplikation aus. Versteckte Nutzungsoptionen wie die Easter Eggs, die erst nach Online-Recherche die verborgenen Features einer DVD oder eines Games sichtbar und damit nutzbar machen,26 demonstrieren, dass die Imperceptibles dem Remediationsprinzip folgen. So war 24 Anthony R. Pratkanis: The Cargo-Cult Science of Subliminal Persua-

sion, in: Skeptical Inquirer (Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal) Spring 1992, S. 260–272; online unter: http://www.csicop.org/si/9204/subliminal-persuasion. html, 11. 06. 2009. 25 Vgl. http://news.softpedia.com/news/Konami-Pulling-The-Plug -on-Metal-Gear-Online-48230.shtml, 12. 3. 2010. 26 Zu den Easter Eggs vgl. Jan Distelmeyer: Spielräume. Videospiele, Kino und die intermediale Architektur der Film-DVD, in: Rainer Leschke/Jochen Venus (Hg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld 2007, S. 389– 416, hier: S. 399 f.

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das Easter Egg der DVD zu Memento (USA 2000, Christopher Nolan),27 das den Userinnen ermöglichte, den Film als lineare und chronologische Filmerzählung abzuspielen, weder im Nutzungsmenue der DVD noch auf der Rückseite des Covers aufgeführt. Um das Feature abzurufen, war man daher gezwungen, nach Internetrecherche im Trial-and-Error-Prinzip auf eine ungefähre und nicht explizit markierte Position im Submenue zu klicken.28 Doch auch in den traditionellen Einzelmedien Film und Fernsehen setzt sich der Diskurs um subliminale Botschaften und Bild-Inserts fort, wie der Vorwurf der österreichischen Kronenzeitung vom April 2009 zeigt, der ORF habe die Schlusssequenz der Ausstrahlung von Spiderman 2 (USA 2004) durch Blitzbilder mit Fotos einer FruchtsaftWerbung kontaminiert.29 Als Medienformat, das in dem Ruf steht, Kontrollmechanismen sowohl des Subjekts wie auch des Staatsapparats zu unterlaufen, gelten die Imperceptibles somit auch heute noch als subversiv, gefährlich oder, sofern sie sexuelle Botschaften transportieren, als skandalös; dies umso mehr, als in den subliminalen Entitäten, Bildern und Tönen wie auch Texten, überaus häufig die Komplexe Sexualität und Satanismus adressiert werden. Die öffentliche Debatte um die unbewusste Verführung führt aus diesen Gründen in den 1970er Jahren in vielen angelsächsischen Ländern zur juridischen Codifizierung und zu Verboten, z. B. 1974 im Rahmen des Federal Communication Commission Policy Statement in den USA und Kanada. Diese Verbotspraxis ist auch heute noch in diesen Ländern wirksam, während in Deutschland und anderen europäischen Staaten kein generelles Verbot subliminaler Techniken herrscht. Die heute anerkannte Theoriebildung in der Kognitionspsychologie spricht in der Regel nicht mehr von subliminalen Botschaften, sondern von präattentiver, also ›vorbewusster Wahrnehmung‹. Diese Denkfigur findet Eingang in die Theorie des Priming, die auf das

27 In der Kinoversion besteht der Film aus zwei distinkten Narrati-

onssträngen, von denen einer in der Handlungschronologie von hinten nach vorne montiert ist. 28 Diese Lokalisierung des Easter Eggs fand sich auf der englischen DVD-Ausgabe des Films; die verborgenen Features in Deutschland oder Frankreich waren anderweitig verortet bzw. versteckt. 29 http://derstandard.at/fs/1237229823753/Spiderman-Krone-bastelt -urbane-Legenden?sap=2&_seite=3: »Krone« bastelt urbane Legenden, 6. 2. 2010.

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weit verbreitete Gehirnhälftenmodell rekurriert.30 In den Testszenarien des Priming wird den Versuchspersonen in einem extrem kurzen Zeitintervall ein visueller Reiz geboten, der den Nachbildeffekt nutzt, um im Gehirn eine Art Vorprogrammierung zu erzeugen. So wird beispielsweise zuerst ein nach rechts weisender Pfeil unterhalb der Wahrnehmungsschwelle visualisiert, der die Testperson dann auf das anschließende Erscheinen eines Bildes schneller reagieren lässt, wenn die erforderliche Reaktion, z. B. das Drücken einer Taste, gleichfalls rechtsseitig erfolgen muss: »der Pfeil, der in diese Richtung zeigt, hat das Gehirn gewissermaßen darauf vorbereitet, dass rechts gleich irgendetwas getan werden muss. Obwohl die Versuchsperson selbst gar nicht weiß, dass der Pfeil da war.«31 Die im Priming erzeugten Gedächtnisspuren bewegen sich, so argumentiert das Modell, entlang der Demarkationslinie zwischen bewusst und nicht bewusst, wahrnehmbar und unsichtbar. Die szientifische Erfassung der Imperceptibles bündelt, wie vor allem die Juridifizierungsprozesse vermuten lassen, mächtige Interessen der Humanwissenschaften, der Werbeindustrie und der Politik. Doch wie Michel Foucault bereits in Überwachen und Strafen feststellt, bindet sich an Praktiken des Verbots und der Regulierung stets die diskursive Expansion.32 Zu den hier zitierten interdiskursiven und kollektivsymbolischen33 Ausschweifungen, die an die subliminalen Images anschließen, trägt nicht zuletzt die Biografie James Vicarys selbst bei, die sich in den Archiven der populären Diskurse verliert. Nicht nur zieht Vicary seine Behauptung, er habe in Fort Lee mit subliminalen Botschaften im Spielfilm experimentiert, zurück, auch über seine weiteren beruflichen Aktivitäten liegen insgesamt nur vage und widersprüchliche Behauptungen vor. Die 30 Vgl. zu Modellen des Gehirns und des Denkens die verschiedenen

Beiträge in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte diskurstheorie 19 (November 1988): Modelle von Gehirn und Seele. 31 Christian Stöcker: Unterschwellige Beeinflussung. Die Angst vor dem Hexenwerk, in: Spiegel Online vom 9. 3. 2007, http://www.spiegel. de/wissenschaft/mensch/0,1518,470831,00.html 32 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1994. 33 Zu Begriff und Theorie der Kollektivsymbolik vgl. Jürgen Link: Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik, in: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider u. a. (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse: Theorien und Methoden, Wiesbaden 2008, S. 408–427.

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Spuren seiner Erfindung wie auch seiner Person scheinen buchstäblich im Nichts zu verlaufen. Reto U. Schneider behauptet in einem Artikel 2001 gar, dass Vicary später »spurlos verschwunden« sei.34 Die am 7. Mai 1958 beantragte und Vicary zugeschriebene Patentierung für einen »Apparat zur Erzeugung visueller Stimulation«, der für eine Nutzung zur Präsentation von Kürzestbildern geeignet wäre, ist unter der Nummer 3 060 795 auf Robert E. Corrigan und Hal C. Becker für die Firma Precon and Equipment Corporation in New Orleans registriert.35 Vicarys mediales Experimental-Szenario subliminaler Botschaften, das die prosperierende Werbepsychologie der 1960er Jahre feiert, konvertiert nicht zuletzt zum satirisch gewendeten Werbesujet. In einem Werbespot für Tonic Water parodiert John Cleese 1996 beispielsweise die öffentliche Rede von den ubiquitären unterschwelligen oder »präattentiven« Werbetexten und -bildern. Der Werbespot steht in einer Reihe mit anderen Celebrity Ads mit John Cleese für Firmen wie Schweppes oder Hewlett Packard, die allesamt Film- und Werbesujets parodieren. Der Starimago von Cleese entsprechend wird in dem Subliminal-Werbeclip die Existenz unterschwelliger Werbebotschaften vehement bestritten, während hinter Cleeses Rücken verborgene Bildprojektionen erscheinen und trotz ihrer z. T. monumentalen Größe von ihm unbemerkt wieder verschwinden.36 In längeren Kino- oder TV-Filmen wie Columbo – Double Exposure (USA 1973, deutscher Titel: Ein gründlich motivierter Tod, 3. Staffel: Episode 4, Richard Quine) oder Fight Club werden präattentive Wahrnehmungseffekte wie die Subliminals präsentiert, debattiert und in Erzählung wie auch Filmdramaturgie integriert. Double Exposure erzählt von einem Mordfall um den Motivationspsychologen Dr. Bart Keppel, der mit subliminalen Inserts in Werbefilmen arbeitet, seinen Erfolg aber wesentlich darauf gründet, dass er seine Klienten erpresst. Als sein Kunde Victor Norris dies offenlegen will, ermordet ihn Keppel, wobei er sich die Funktionsweise unterbewusster Botschaften zunutze macht, um schließlich von Inspektor Columbo mit derselben Methode überführt zu werden. Im Kontext 34 Reto U. Schneider: Das Experiment – »Iss Popcorn!« James Vicary

behauptete, Kinobesucher 1957 unbewusst zum Popcornkauf verführt zu haben, siehe Anm. 21. 35 Vgl. ebd. 36 John-Cleese-Schweppes-Ad: http://video.aol.de/video-detail/ schweppes-john-cleese-subliminal/3807096906, 15. 3. 2010.

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dieser Narration führt die Serienepisode einen ausgedehnten und in diversen Dialogen situierten populärpsychologischen Diskurs über Theorien und Verfahren der Tiefen-, Motivations- und Werbepsychologie. In Setting (einem privaten Institut für Angewandte Psychologie) und Szenarien (mehreren Filmtestvorführungen) werden Biografie und Geschichte von James Vicary (teilweise auch von Vance Packard) und seinem legendären Experiment referenzialisiert. Selbstreferenziell verweist die Episode in einer erklärenden und demonstrierenden Narration auch auf die Verfahren der Filmherstellung (insbesondere des Schnitts), der Filmvorführung und seiner Wirkung auf das Publikum. Double Exposure beginnt bereits mit der Inszenierung einer wirkungspsychologischen Testvorführung, in der das in der Werbeindustrie gebräuchliche Prinzip mehrfacher medialer Beobachtung mit anschließender Protokollierung der Publikumsreaktionen gezeigt wird. Der Testfilm, ein Ad für Werbung und die Werbeindustrie, beginnt bereits mit einem programmatischen werbepsychologischen Off-Kommentar, der von Vicary oder Packard stammen könnte: »Es kann in diesem Lande nichts geschehen, ohne dass irgendjemand irgendetwas verkauft«. Ausführlich zu Beginn eingeführt wird auch die Technik der Einzelbildschaltung und des Inserts37 zur Realisierung der subliminalen Botschaften, das mediale Überwachungssystem des Instituts (Schwarz-Weiß-Videokameras), der Kassettenrekorder zur Dokumentation der Aussagen des Filmpublikums und das Priming-Modell als Mittel der Motivationsforschung mit dem Ziel der Verkaufsförderung. Die Figur des Bart Keppel als Antipode des Kommissars ist – einmal mehr in der Serie – als Prominenter eingeführt und mit Robert Culp besetzt.38 In einem wechselseitigen Spiel der Verführung (im nichterotischen Sinne), in dem die verschiedenen Register der Tiefenund Werbepsychologie zum Einsatz kommen, erfolgt die Investigation und Lösung des Mordfalls bis zur Überführung des Täters. 37 Vgl. zur medienästhetischen Funktion von Inserts am Beispiel von

Video im Film Karin Bruns: Stück-Werk. Zur ästhetischen Funktion von Video-Inserts in Film und Computerspiel, in: Ralf Adelmann/ Hilde Hofmann/Rolf F. Nohr (Hg.): REC – Video als mediales Phänomen. Weimar 2002, S. 183–199. 38 Die Konfrontation von unterprivilegiertem Kommissar, dem ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, und privilegierten, meist wohlhabenden Gegenspielern und Gegenspielerinnen gehört zum Narrationsschema der Serie, die von 1971 bis 2003 lief.

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Dabei werden die Fixpunkte des mythischen Narrativs detailgenau abgearbeitet: Der berühmte Autor psychologischer Bestsellerliteratur mit plakativen fiktiven Titeln wie Die Werbung und der motivierte Kauf, Das Gängelband des Verstandes und wie man es benutzt, Innere Werte und menschliche Beweggründe, das Ritual der tiefenpsychologischen Interpretation von auf Video aufgezeichnetem (Kauf-)Verhalten, das Lesen und Deuten körpersprachlicher Signale, das Priming, bei dem »Bilder, die ins Nicht-Bewusstsein dringen« (Keppel) in einen Film eingefügt werden, die notorischen Produktbeispiele Popcorn,39 Coca Cola und Hamburger, die Verbotsdebatte und -praxis (»Es wurde als ungesetzlich verboten«) und der popularisierte Spezialdiskurs, der in den Dialogen ausgebreitet wird: »Sie sehen es nicht mit Ihrem Auge, Sie sehen es mit Ihrem Nicht-Bewusstsein. Das ist schneller als Ihr Auge«. Auch in diesem Fernsehfilm wird trotz deutlicher Ironiesignale der Sieg subliminaler Suggestion über die menschliche Intention vorgeführt. Gleich dreimal wird die in der Theorie behauptete Kombination von Prädisposition (z. B. Durst haben) und subliminaler Verstärkung dieses Bedürfnisses in die Filmhandlung integriert: gleich zu Anfang im Kontext der Mordszene, in der Mitte im Rahmen mehrerer erläuternder Dialoge über Filmmontage und Insert-Technik zwischen dem Inspektor, einem Filmcutter und dem Motivationspsychologen und schließlich am Ende des Films. »[Columbo über das Insert eines Hamburgers:] Das Ding macht einen hungrig, wenn man es nicht sieht? [Cutter:] Die Bilder werden im Nichtbewusstsein wahrgenommen, weil sie wegen der kurzen Einblendungszeit unter der Wahrnehmungsschwelle liegen. Und wenn das mehrfach geschieht, verstärkt das den Effekt beim Betrachter.«

Die narrative Pointe besteht darin, dass Columbo schließlich den Mörder selbst einem Subliminal-Experiment unterzieht, indem er Einzelbilder einer Investigationssituation einem Commercial einfügt, um so den Mörder dazu zu bringen, sich selbst zu verraten. Auch hier also laufen die narrativen Bewegungen des ›zwar . . . aber‹ auf die Schlussfolgerung hinaus, dass subliminale Bilder eben doch Wirkung zeigen. 39 Columbo: »Ich las das Kapitel mit dem Popcorn«; zit. nach der

DVD-Kopie.

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Abschließend möchte ich noch einmal die Frage aufwerfen, ob die Imperceptibles ein eigenes mediales Format konstituieren, wie ich zu Anfang implizit unterstellt habe, das auf distinkte Weise mediales Wissen und eine spezifische und strikt westlich-industrielle Medienerfahrung nutzt und bearbeitet. Vieles spricht dafür. Erstens untersscheiden sich die Imperceptibles schon medientechnisch von anderen Formaten und Genres durch ihre extreme Kürze, d. h. durch eine tachistoskopische Darbietungszeit. Die als operativ geltende Wahrnehmungsgrenze verschiebt sich dabei jedoch beständig: 1957 in Fort Lee (»Iss Popcorn. Trink Coca Cola«) beträgt sie angeblich eine 3000stel Sekunde. 2004 in der Other Race-Faces-Studie, die ethnische Zuschreibungen subliminaler Bildeffekte untersucht,40 ist sie mit 3 1000stel Sekunden angegeben. 2006 in einer Studie für Lipton Eistee wird sie auf 24 1000stel Sekunden festgelegt. Spielfilme und Commercials arbeiten mit Inserts von einem bis sechs Frames, die je eine 24stel Sekunde lang sind. Zweitens sind die Subliminalen Images durch Iteration, z. B. in 5Sekunden-Intervallen in einer festgelegten Darbietungssequenz gekennzeichnet, die gleichfalls in den verschiedenen Testszenarien variiert und bei James Vicary eineinhalb Minuten betragen haben soll. Drittens findet eine Einbettung in einen visuellen oder/und auditiven Kontext statt, der eine zu den Subliminal Images distinkte Länge aufweisen muss, und viertens schließlich lässt sich ein spezifisches Signal-Rausch-Verhältnis beobachten,41 wie die Informationstechnik formulieren würde, das durch diverse medienästhetische Verfahren realisiert werden kann, z. B. durch Überlagerung mit einem zweiten Störreiz (etwa einer Maske aus zufälligen Punkten), durch den Darbietungszeitpunkt42 oder durch einen vorgeschalteten ablenkenden Reiz, etwa einen attentional blink. Deshalb sind subliminale Bilder nicht pauschal dem Register der Stör-, Test- und Schwarzbilder 40 Vgl. June E. Chance/Al G. Goldstein: The other-race effect and eye-

witness identification, in: Siegfried L. Sporer/Roy S. Malpass (Hg.): Psychological Issues in Eyewitness Identification, New Jersey 1996, S. 153–176. 41 Vgl. Wikipedia-Artikel Subliminal (Psychologie), in: http://de.wiki pedia.org/wiki/Subliminal_(Psychologie), 15. 6. 2009. 42 Dieses Verfahren, die subliminalen Wahrnehmungsreize zu einem für die Rezipienten ungünstigen Zeitpunkt darzubieten, wird in der angewandten Psychologie als sakkadische Suppression bezeichnet.

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zuzurechnen, denen Lorenz Engell die »Befreiung (. . .) von jedweder Expressivität« bescheinigt hat,43 ganz im Gegenteil: sie sind extrem mit Bedeutung aufgeladen, jedoch mit einer gefährlichen und schleichenden Signifikanz, die das Gehirn der Probandinnen und Probanden penetriert. Subliminale Botschaften sind, folgt man der psychologischen Theoriebildung seit den 1950er Jahren, gerade aufgrund ihrer extremen Kürze so übersemantisiert, dass sie ein Maximum an Wirkungseffekten erzeugen – »mind control«, wie Robert Levine schreibt. Doch während Kognitionspsychologie und Medienwirkungsforschung Überzeugungs- und Überredungsfunktionen der subliminalen Botschaften konstatieren, eröffnen die neuen digitalen und im World Wide Web verorteten Formatierungen der Bildblitze ganz neue Schauplätze und Praktiken der Mediennutzung. Als unterschwellige embedded images adressieren die neuen Imperceptibles, die sich vom Tachistoskop emanzipiert haben, strategisch auf höchst elaborierte Weise die ästhetische Erfahrung, das mediale Wissen und die Medienkompetenz ihres Publikums, das sie durch doppelte Adressierung mithilfe von Ablenk- und Störreizen gezielt überfordern sollen. Ihr Produktionskalkül ist eine Art Reflex auf Theorien medialer Kommunikation und wird von spezialdiskursiven und interdiskursiven Theoremen der Lesbarkeit und Perzipierbarkeit von Bildern und Tönen gespeist. Das zentrale ästhetische Verfahren der Anlagerung von Störreizen und Irritationsbildern44 um ein tachistoskopisches Bildsignal (den target stimulus), fußt auf permanenten Ersetzungs- und Verschiebungsprozessen, welche Jay D. Bolters und Richard Grusins lakonische Definition des Mediums als Logik der Remediation, »a medium is that which remediates«,45 geradezu exemplarisch zu illustrieren scheint. Dies ist sicher einer der Gründe, weshalb das in der Wirkungspsychologie der 1960er Jahre 43 Lorenz Engell: Drei kleine Theorien des Testbildes, in: Matthias

Bruhn/Kai-Uwe Hemken (Hg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 299–320, hier: S. 305. 44 In diesem Sinne wären Farbgebung und Detailreichtum in Kunstwerken wie Fenedier Klawsen als Äquivalent solcher die Aufmerksamkeit absorbierender Störzeichen zu sehen. 45 Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge (MA) 2000, S. 98.

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definierte Format subliminaler Bild-Botschaften inzwischen vielgesichtige intermediale Filiationen gebildet hat. Von einem Format, das spezifischen apparativen Ordnungen, wie sie vom Tachistoskop erzeugt werden, unterworfen ist, weiten sich die Imperceptibles zu einem mit dem Medienverbundsystem taktisch operierenden und digital erzeugten Format aus. Die »unterbewussten« oder »vorbewussten« Botschaften zirkulieren nicht mehr nur in und zwischen den Medien, Sparten, Genres und Ausgabegeräten, sondern wesentlich auch auf und zwischen den verschiedenen Social Networks, Blogs und Videosharing Platforms des World Wide Web: auf Facebook, Twitter oder YouTube. In ihrem intermedialen Migrationsprozess46 verwandeln sich die Imperceptibles anderen Online-Formaten an, appropriieren und remediieren sie. Am Ende der Remediationskette steht in der Logik und operativen Strategie der Ersetzung (»replacement«)47 die Redefinition, das heißt ein neues Format oder Subformat. Easter Eggs, fnords und backmasking-Exponate48 sind solche neueren Re-Formierungen und Redefinitionen des Ausgangsformats. Kurioserweise unternehmen diese neuen Formate, die als Reaktion auf die subliminalen Botschaften produziert werden, den Versuch einer Re-Visualisierung der verborgenen, verschütteten, unsichtba46 Als Analogon zu Jacques Derridas Theoriefigur der Mimesis zeigt

sich Remediation nach Bolter/Grusin in drei Modalitäten: »repurposing« (S. 45), »replacement« (S. 44) und »reform« (S. 61) im Sinne von Re-Formierung. Dieser theoretischen Denkfigur liegen Zyklikvorstellungen zugrunde: »All media depend on other media in cycles of remediation« (ebd., S. 61). Zum Konzept der Remediation im Kontext der Intermedialitätsforschung seit den 1980er Jahren vgl. Irina Rajewski: Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital, München 2008, S. 47–60. 47 Bolter/Grusin: Remediation, S. 45. Paradigmatisches Beispiel für den replacement-Prozess ist bei Bolter/Grusin das Windowsprinzip, das für jeden Link oder jede neue Anwendung ein eigenes Fenster auf dem Bildschirm öffnet. 48 Definitionen von und Beispiele für Fnords und verwandte Formate finden sich in den englischsprachigen Wikipedia-Artikeln unter den entsprechenden Stichworten, z. B. »Fnord is the typographic representation of disinformation or irrelevant information intending to misdirect, with the implication of a worldwide conspiracy.«, http://en.wikipedia.org/wiki/Fnord, 14. 9. 2010.

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ren oder nicht hörbaren Bild- und Tonelemente, wie verschiedene Kurzfilme auf YouTube oder auf Fight-Club-Fanforen eindrücklich bezeugen.49 Selbst zu backmasking-Szenen wie der berühmten RedRoom-Sequenz in David Lynchs Twin Peaks: Fire Walk with Me (F/USA 1992), in der rückwärts gesprochen wird, lassen sich neben Clips, die diesen Text backmasken und damit verstehbar machen, sogar Tutorials im Rückwärtssprechen.50 Indem sie Komponenten des Ausgangsformats, den subliminalen Text oder die verborgene optische/akustische Struktur, quasi zurücknehmen, bringen sie weitere Bearbeitungen und Manifestationen der verborgenen Bedeutungen hervor. Aufgrund der Identität von Botschaft und Medium, also Nicht-Wahrnehmbares ist Content und Formatkonstituens zugleich, sind die Imperceptibles zwischen den Registern von Bild und Ton, Bild und Schrift, Ton und Schrift zu lokalisieren. Am deutlichsten wird dies bei den Easter Eggs, denn sie visualisieren und bringen zu Gehör, was im Produktionsprozess ausgeschlossen wurde, z. B. die chronologische Montage in Christopher Nolans Memento, und eröffnen so neben den dominanten Lesarten des Medientextes andere, abweichende, subversive oder nicht dem Director’s Cut entsprechende Lesarten. Lorenz Engell folgend in der Annahme, dass Massenmedien eigentlich niemals Neuigkeiten übertragen, sondern eher das, was alle bereits wissen,51 lässt sich so auch die wortreiche Debatte um unterschwellige Botschaften in den Medien von Fernsehserien wie den Simpsons bis zu Online-Foren wie YouTube oder Twitter erklären, denn nicht Innovation interessiert, sondern Iteration. In Spielfilm und Mainstreamkino bedürfen die Imperceptibels jedoch, wie das Columbo-Beispiel zeigt, grundsätzlich einer expliziten Legitimierung durch den Erzählkontext. In Jonny Mnemonic (USA 1995, Robert Longo), The Matrix (USA/AUS 1999, Andy und Larry Wachowski) 49 Beispiele für den auf YouTube herrschenden Hype um sublimi-

nale Botschaften finden sich unter dem Motto »The Secrets are Revealed. Open Your Mind« z. B. unter http://www.youtube. com/watch?v=zwFiBWbegFM oder http://www.youtube.com/ watch?v=E9JtYaCrRag, 12. 9. 2010; zu David Finchers Subliminals in Fight Club siehe z. B. http://www.youtube.com/watch? v=mGPyXgtKzDE, 23. 2. 2010. 50 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=E_q7rZJljKY, 23. 2. 10. 51 Vgl. Lorenz Engell: Drei kleine Theorien des Testbildes, siehe Anm. 43.

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oder Das fünfte Element (USA/F 1997, Luc Besson) korrespondieren die Bildblitzsequenzen beispielsweise mit futuristisch-technoiden Szenarien der Mnemotechnik, des Infowar und des Speichermediums Gedächtnis. In Lola rennt (D 1998, Tom Tykwer) dienen die aus 6-Frame-Foto-Einheiten bestehenden Vorausblenden/Flashforwards um die Nebenfiguren Frau Doris, den Radfahrer Mike und die Bankangestellte Frau Jäger der Markierung von narrativer Multikursalität.52 Der privilegierte Ort der Imperceptibles in Kino und Fernsehen sind demzufolge die filmischen Paratexte Trailer, Vorspann, Creditsequenz und Abspann,53 in denen die elliptischen medientechnischen Prozeduren extremer Verkürzung seit vielen Jahrzehnten legitimiert sind. Doch auch wenn die Imperceptibles zuweilen tatsächlich primär die ästhetische Funktion von Störzeichen besitzen, verweisen sie stets auf höchst Bedeutungsvolles: auf den Komplex der Verschwörung und des Bösen (beispielsweise in Fichers Fight Club und den Clips der Gruppe Nine Inch Nails). Damit dienen sie zugleich der künstlerischen Positionierung und der Rekrutierung von Fan-Gemeinschaften und Communities. Unter dieser Perspektive haben die neuen Formate des ›Unsichtbaren‹ sich weit von ihrem Ausgangsformat, den tachistoskopischen Text-Bild-Botschaften der Werbung, entfernt. Imperceptibles sind heute vielfältige Formate, die durch die technisch-narrativ-ästhetische Organisation von Blitzbildern, Flash Cuts, Smash Cuts und anderen (auch auditiven) Störzeichen und -prozeduren intendiertermaßen die perzeptive Grenze von Auge und Ohr umspielen oder/und die urbane Legende der subliminalen Botschaften als produktiven Ausgangspunkt nutzen. Darüber hinaus rekurrieren sie auf und begründen gleichermaßen Fan-Gemeinden, die Medieneffekte als solche goutieren und psychologisch interpretieren können, die den Spuren der Subliminals folgen und am Format weiterarbeiten, z. B. durch Re-Visualisierung der sublimi52 Zu Begriff und Effekt der Multikursalität in Anschluss an Espen

J. Aarseth vgl. Karin Bruns: Das widerspenstige Publikum. Thesen zu einer Theorie multikursaler Medienformate, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital, München 2008, S. 531–546. 53 Zur Figur des Paratextes vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1994 (Discours du récit, Paris 1972), sowie: Paratexte. Frankfurt a. M. 1989.

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nalen Texte im backmasking oder durch einen Eintrag auf Webforen wie snopes.com. Die Imperceptibles sind also nicht nur der langen Mediengeschichte der Störung verpflichtet,54 sondern markieren auch einen Einschnitt in der Kulturgeschichte der Kurz- und Kürzestformate, in der sie Genres wie der Kurzgeschichte oder dem Aphorismus neue Formate hinzufügen. Die in der aktuellen Kinematographie und Television zu konstatierenden Strategien einer »Eventisierung« der Montage55 und des Zoom (siehe »Flash Zooms«), in denen der Schnitt bzw. Zoom selbst zum Aufmerksamkeit reklamierenden Verfahren zeitbasierten Erzählens mutiert, sind, wenngleich sie eine völlig andere Funktion besitzen, insofern lediglich eine weitere Remediation der Subliminal Images. Und auch in die Entwicklung interaktiver Interfaces haben die Imperceptibles Einzug gehalten. Eine multisensorielle Unsichtbarmachung des Medialen bei gleichzeitiger Maximierung von Medienwirkung ist bereits, so paradox dies auch klingen mag, seit einigen Jahren Zielsetzung der Disziplinen des Pervasive Computing und der Digital Odor Interface-Entwicklung.

Literatur Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge (MA) 2000. Bruns, Karin: Stück-Werk. Zur ästhetischen Funktion von Video-Inserts in Film und Computerspiel, in: Ralf Adelmann/Hilde Hofmann/ Rolf F. Nohr (Hg.): REC – Video als mediales Phänomen, Weimar 2002, S. 183–199. Bruns, Karin: Das widerspenstige Publikum. Thesen zu einer Theorie multikursaler Medienformate, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital, München 2008, S. 531– 546. Cahan, David (Hg.): Hermann von Helmholtz and the Foundations of Nineteenth-Century Science, Chicago/London 2003. 54 Vgl. dazu u. a. Dietmar Kamper: Bildstörungen. Im Orbit des Ima-

ginären. Stuttgart 1991. 55 Vgl. u. a. Jan Speckenbach: Eventmontage. Das Kampffeld von Raum

und Zeit, in: Der Schnitt Online, http://www.schnitt.de/212,5697 ,01, 14. 9. 2010.

Imperceptibles

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Karin Bruns

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Heautonomie im Episodenfilm Michael Lommel (Siegen)

In diesem Aufsatz geht es um die »Heautonomie«, die Kopräsenz von Autonomie und wechselseitiger Einwirkung (Konvergenz) im Episodenfilm. Zunächst befasse ich mich mit Jim Jarmuschs Champagne, dem letzten, abschließenden Teil des Episodenfilms Coffee and Cigarettes, der 2003 in die Kinos kam. Meine beiden Ausgangsfragen lauten: 1. Welchen Ort – oder Nicht-Ort – hat die Musik in Champagne?

Ich werde den prekären Ort der Musik mit dem Begriff der Heautonomie beschreiben, den Deleuze von Immanuel Kant übernimmt. Die Heautonomie der Musik findet ihren Ausdruck, ihre semantische Form, in Friedrich Rückerts Vers »Ich bin der Welt abhanden gekommen«. 2. Wie lassen sich Formen der Heautonomie im Episodenfilm, also

das Verhältnis von Teil und Ganzem, näher bestimmen? Dabei stelle ich zwei Erzählverfahren gegenüber: die Addition (wie bei Coffee and Cigarettes) und die Alternation (wie bei Griffiths Intolerance).

1. »Ich bin der Welt abhanden gekommen« – Jim Jarmuschs Champagne Jarmuschs Champagne dauert knapp sechs Minuten. Das triste und karge Interieur könnte aus einem Stück von Samuel Beckett stammen, zum Beispiel Endspiel. Es ist später Nachmittag, Bill und Taylor haben gerade Kaffeepause. Die unbewegliche Kamera wechselt nur zwischen wenigen Einstellungsgrößen und konzentriert sich ganz auf das Gespräch. Die einzige Bewegung findet wie ein Schattenspiel im Bildhintergrund statt: Ein Mann fegt in geradezu meditativer Gemächlichkeit den Boden. Taylor erinnert sich nun an ein Lied von Gustav Mahler. Um eine Proust’sche mémoire in-

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Michael Lommel

volontaire handelt es sich nicht, denn es gibt keinen unmittelbaren sinnlichen Anlass für die Erinnerung.1 Mahlers Lied »Ich bin der Welt abhanden gekommen« ist die Vertonung eines Gedichts von Friedrich Rückert. Es stammt aus Mahlers Zyklus 5 Rückertlieder, den er 1901 komponierte. Jarmusch verwendet die Referenzaufnahme von 1969 mit Janet Baker, Mezzosopran, unter dem Dirigat von Sir John Barbirolli. Barbirolli wünschte sich übrigens, dass dieses Lied auf seiner Beerdigung gespielt werden sollte, was dann auch geschah – als er der Welt abhanden gekommen war. Ich zitiere jene Verse aus der ersten und dritten Strophe, auf die ich näher eingehe: Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mit der ich sonst viele Zeit verdorben, Sie hat so lange nichts von mir vernommen, Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben! [. . .] Ich bin gestorben dem Weltgetümmel, Und ruh’ in einem stillen Gebiet! [. . .] (Friedrich Rückert)

Der titelgebende Vers »Ich bin der Welt abhanden gekommen« verweist auf den Topos der literarischen Romantik: die Sehnsucht des Künstlers, sich vom »Weltgetümmel« zurückzuziehen, dorthin, wo sein Geist zur Ruhe kommen kann. Romantische Innerlichkeit also als Rückzugsraum aus der Entfremdung von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Zweckrationalität kontrastiert mit dem wenig romantischen setting, der trostlosen Gegenwart irgendeines OneDollar-Jobs in der »armery«, einem Kriegs- oder Waffenmuseum. Meine Frage lautet nun: Welchen Ort, welche Quelle hat eigentlich die Musik in Champagne? Im Wikipedia-Eintrag über Jarmusch steht, die Musik komme »von nirgendwo«. Diese Angabe scheint jedoch so ungenau wie in dem Schlager von Christian Anders »Es fährt ein Zug nach Nirgendwo«. Der Ort oder Nicht-Ort der Musik, so meine These, ist vielmehr der Zwischenraum von Bild und Ton. Und diesen Zwischenraum meint Deleuze mit »Heautonomie«, einem Begriff, der sich in Kants dritter Kritik findet. 1 Zur musikalisch-akustischen memoire involontaire vgl. Lommel, Mi-

chael: Erinnerung und Dissolve. Zum Gedächtniskino in James Joyce’ Erzählung The Dead, in: LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 152 (2008), S. 113–126.

Heautonomie im Episodenfilm

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Dort bezeichnet Kant die Autonomie der Urteilskraft als heautonom.2 In der Lesart von Deleuze haben das Hörbare und das Sichtbare trotz ihrer Eigenwertigkeit, ihrer Autonomie, eine gemeinsame Grenze. Diese Grenze trennt sie und bezieht sie gleichzeitig aufeinander. Sie sind autonom und zugleich heteronom.3 Darin zeigt sich nach Deleuze eine neue Form des Tonfilms etwa seit dem Ende der 50er Jahre. Man denke nur an Resnais’ und Robbe-Grillets Film L’année dernière a Marienbad von 1960 oder Marguerite Duras’ India Song von 1965. Der Ton klebt nicht mehr an den Bildern, er muss im Visuellen keinerlei Verankerung mehr haben. Aber: Dadurch, dass beide im Film wieder zusammenkommen, in ein und derselben Verlaufszeit der sich abwickelnden Filmspur, bahnt sich das Visuelle einen Weg ins Akustische, das Akustische ins Visuelle: Wie frei der audiovisuelle Vertrag auch immer ausgehandelt wird, er bleibt gültig. Die Musik in Champagne ist heautonom, weil sie nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Man weiß eben nicht, ob Taylor die Musik hört, ob sie akustisch erklingt, ob sie re-soniert, oder nur in seinem Kopf als Fantasie- oder Erinnerungsvorstellung vorkommt. Und als Zuschauer und Zuhörer können wir genau das nicht differenzieren, wir können nicht wissen, ob die Musik Resonante oder Reminiszenz ist. Denn wir hören sie ja, gleichgültig, ob sie nun imaginär ist oder auf eine ursächliche Quelle zurückgeführt werden kann. Taylor spricht gegenüber Bill von der Resonanz der Musik im Raum, während er, um besser zu hören, die Hand ans Ohr legt. Das Lied wird in Champagne zweimal angespielt, gleich zu Beginn und dann noch einmal am Ende. Es ist kein Zufall, dass die Filmepisode und damit der Episodenfilm Coffee and Cigarettes genau danach enden. Ist Mahlers Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen Vorschein der Müdigkeit, die der Schlaf temporär heilt, oder Vorschein finaler Lebenserschöpfung? Ist Taylor eingeschlafen oder im Wortsinn entschlafen? Wir können es genauso wenig beurteilen 2 Immanuel Kant: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteils-

kraft, in: ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10. Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 11 1990, S. 39. 3 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 291 ff. Vgl. Michael Lommel: Stimme und Blick: Paradoxien synästhetischer Medienrezeption, in: Navigationen – Siegener Beiträge zur Medien- und Kulturwissenschaft 2 (2002), S. 7–16.

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Abbildung 1: Taylor und Bill in Jim Jarmuschs

Champagne (Coffee and Cigarettes)

wie die Frage, wo die Musik herkommt. Der prekäre Ort oder Nicht-Ort der Musik korreliert mit der Ambivalenz von Schlaf und Tod. Daher endet Champagne überaus präzise: musikalisch gesprochen, auf den Takt genau, den Takt, den Abstrich, den Bills Fingerschnippen, mit dem er Taylor in die abhanden gekommene Welt zurückholen will, synkopiert. Wo sind wir, wenn wir Musik hören?

Noch einmal, aus einer anderen Perspektive, wende ich mich dem Vers »Ich bin der Welt abhanden gekommen« zu. Indem ein Verlust verzeichnet, ein Fehlen oder Mangel auffällig wird, fällt die Welt, um Heidegger etwas abzuwandeln, von der Zuhandenheit in die Abhandenheit. »Abhanden sein« ist nicht dasselbe wie »abwesend sein«. Wie aber ist es zu erklären, dass gerade die Musik und Janet Bakers Gesang, der Gesang als Linguistik der Nichtstimme, wie es Mladen Dolar formuliert,4 Affekte freisetzt, die dem Hörer die Welt abhanden kommen lassen? Wo sind wir, wenn wir Musik hören? So fragt Peter Sloterdijk. Hören sei eine im Mutterleib erworbene Erst-Kompetenz, das Ohr »Führungsorgan« menschlicher Annäherung an die Welt. Es hört den Rhythmus der Herztöne, den »Parlandosopran der Mutterstimme«. Dieser »utopische Kontinent« der Muttermusik kommt mit der Geburt abhanden. Wir erleiden den Verzicht auf das erste – intime – Klangkontinuum unseres Lebens.5 4 Vgl. Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme,

Frankfurt a. M. 2007, S. 35 ff. »Gesang eignet sich ja nicht wirklich zur Kommunikation, weil er das Textverständnis behindert. [. . .] Wovon man nicht sprechen kann, davon kann man singen« (S. 45). 5 Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, hg. v. Peter Weibel, Hamburg 2007, S. 8–15.

Heautonomie im Episodenfilm

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Für Taylor stellt das Lied Mahlers ohne Zweifel eine utopische Gegenwelt zur trostlosen Gegenwart vor, dem »Weltgetümmel«, wie es bei Rückert heißt, eine Regression, die am Punkt der Lebenserschöpfung im Lied anhebt. Jede Musik geschieht daher als »Wiederholungsobsession«, als »musique retrouvée« (Sloterdijk). Viel ist die Rede vom so genannten Lebensfilm, der im Todesmoment ablaufe – im Kino ein beliebtes Motiv wie in Mark Fosters Stay oder Paul Austers Lulu on the Bridge. Hier aber haben wir es mit einer musikalischen Reminiszenz zu tun. Laut Sloterdijk sehnt sich das Ohr zurück »an die archaische Euphonie des vorweltlichen Innen, es aktiviert die Erinnerung [. . .], die uns wie ein Nachleuchten vom Paradies her begleitet.« Daher strebt »das individuierte oder unglückliche Ohr [. . .] unwiderleglich fort von der realen Welt hin zu einem Raum inniger akosmischer Reminiszenzen.«6 Sloterdijks These ist denkbar einfach, aber sie kann gut erklären, was derzeit auch die neurowissenschaftliche Musikpsychologie untersucht: weshalb uns Musik so ergreift, weshalb sie Tiefenschichten unserer Gefühle erreicht. Taylor, in Jarmuschs Film selbst ein unglückliches Ohr, hört Mahlers Musik scheinbar aus dem Jenseits. Das Ohr strebt hier aus der Fülle, der Dissonanz und der Überlastung, der Weltarena, ins Weltlose hinein. Sloterdijk nennt das den »nirvanischen Zug« der Heimkehr, des Zuendekommens, Erlöschens und Ruhens: »Wo sind wir also, wenn wir Musik hören? Die Ortsangabe bleibt vage – sicher ist nur, dass man beim Musikhören nie ganz in der Welt sein kann.«7 Und gerade wegen ihrer Ortlosigkeit ist die Musik eines der wichtigsten Verzahnungsmittel im Episodenfilm – wie beispielsweise auch Tom Waits’ Song in Night on Earth, der über die Bilder und Schauplätze hinweg fünf Metropolen miteinander verzahnt.

2. Heautonomie der Episoden (Griffith) Anhand von Champagne zeigt sich die vermeintlich paradoxe, aber zugleich offensichtliche Tatsache, dass scheinbar unabhängige und eigenständige Teile zu einer Komposition zusammen gefügt stets aufeinander wirken und das Ganze somit mehr ist, als die Summe seiner Teile. Und genau dieses scheinbare Paradox der Heauto6 Ebd., S. 56 f. 7 Ebd., S. 62 f.

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nomie, das Kant der Urteilskraft zuweist und Deleuze der AudioVision im ›Neuen Tonfilm‹, kennzeichnet den Episodenfilm. Und mit diesem Gedanken komme ich zum zweiten Abschnitt meiner Überlegungen, in dem ich die Konvergenzformen des Episodenfilms untersuche. Wie verhält sich etwa die Episode Champagne zu Coffee and Cigarettes? Um dieses heautonome Verhältnis zu klären, sind terminologische Vorüberlegungen hilfreich. Zunächst zur Filmgeschichte: Der Episodenfilm, der sich fast durch die gesamte Filmgeschichte zieht, erlebt seit Anfang der 1990er Jahre einen regelrechten Boom. Obwohl er längst zu den beliebtesten Erzählformen des internationalen Gegenwartskinos zählt, ist eine systematische Forschung kaum vorhanden. Es ist daher kaum überraschend, dass unterschiedliche, nicht selten unvereinbare Definitionen des Begriffs im ungesicherten Gelände der Forschung kursieren. Ich schlage folgende Definition vor: »Ein Episodenfilm besteht aus autonomen Teilen oder Einzelfilmen, die durch Gemeinsamkeiten oder Berührungspunkte verbunden sind.« Das Ganze, der Episodenfilm, muss mehr sein als die Summe seiner Teile. Entscheidend ist dabei, dass die Eigenständigkeit der Einzelepisoden nicht aufgelöst wird: Grundsätzlich – und damit kann ich Coffee and Cigarettes in eine erste Klassifikation einordnen – bieten sich zwei Erzählformen an: 1. Alternation (oder Verflechtung): Mittels Parallel- bzw. Akzelera-

tionsmontage wird zwischen den Episoden hin- und hergeschnitten. Griffiths Intolerance von 1916, auf den ich gleich näher eingehe, ist meines Wissens der erste Film dieser Art. Aktuellere Beispiele aus den 1990er und 2000er Jahren, aus der Blütezeit des ›Neuen Episodenfilms‹, sind Altmans Short Cuts, P. T. Andersons Magnolia, Paul Haggis’ L. A. Crash, Wayne Kramers Crossing over und viele andere. Auch wenn mehr als 60 Jahre zwischen dem Stummfilmklassiker von 1916 und diesen aktuellen Filmen liegen (und in der Filmgeschichte ist das natürlich eine sehr lange Zeit), führt doch unverkennbar eine Linie von Griffiths virtuoser Parallelführung zum alternierenden Episodenfilm der Jahrtausendwende. 2. Addition (oder Reihung): Die Episoden werden wie in sich ge-

schlossene Kurzfilme aneinandergereiht. Viele Omnibusfilme, so werden Gemeinschaftsfilme mehrerer Regisseure genannt, zählen dazu, etwa die Kollektivfilme des italienischen Neorealismus und der 68er Jahre in Frankreich, bis hin zu Filmen zu historischen Er-

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eignissen (9/11, Syriana), philosophischen Fragestellungen wie Was ist Zeit? (Ten Minutes older: The Trumpet/The Cello) oder Hommagen auf Metropolen (Paris je t’aime, New York Stories, New York, I love you). Additive Episodenfilme können aber auch Filme einzelner Regisseure sein. Jim Jarmusch ist geradezu Spezialist für diese Erzählform (Mystery Train, Night on Earth, Coffee and Cigarettes). Natürlich gibt es alle möglichen Mischformen und Kombinationen zwischen diesen beiden Erzählgrundformen. Additive Episodenfilme können Erzählstränge komplex verknüpfen und so Korrespondenzen herstellen, etwa mittels der chronologisch verschobenen Erzählweise in Tarantinos Pulp Fiction. Andererseits sind in manchen verschachtelten Filmen die einzelnen Episoden so gedehnt, dass sie wie eine Reihung wirken – zum Beispiel in Babel. 1. Zunächst zur Addition: In Coffee and Cigarettes, der in Schwarzweiß gedreht wurde, ist erst einmal das setting verbindendes Element, die augenfälligste Konvergenzform der zwölf Episoden. Wir haben es in Champagne gesehen: Zwei Personen sitzen zusammen an einem Tisch, rauchen, trinken Kaffee oder (seltener) Tee und führen Gespräche, die meist auf ein Missverständnis hinauslaufen. Jarmusch hat erkannt, dass nicht die gelingende, die verständige Kommunikation, sondern mit Adorno gesprochen das Missverständnis – die Kommunikation des Unkommunizierbaren8 – Reibungshitze erzeugt. Ein Beispiel für das Unkommunizierbare wäre Bills Erwähnung Nicola Teslas, die Taylor nicht versteht und gar nicht verstehen kann. Jim Jarmusch stellt hier lediglich einen Zusammenhang her mit einer anderen Episode des Films, in der es um eine Erfindung eben dieses Nicola Tesla geht. Dieser Zusammenhang ist nur auf den ersten Blick ein inhaltlicher, in Wahrheit aber rein strukturell. Wie in den anderen Episoden spielen die beiden Darsteller in Champagne nicht nur eine Rolle, sondern zugleich sich selbst. Die beiden Männer heißen Bill Rice und Taylor Mead und sind zwei Urgesteine des New Yorker Undergroundkinos, von dem ja auch Jim Jarmusch herkommt. Weitere Beispiele in Coffee and Cigarettes: Bill Murray spielt Bill Murray, Alfred Molina Alfred Molina, Tom Waits Tom Waits usw. Jarmuschs großes Vorbild Godard hatte schon in den 60er Jahren Prominente wie den Philosophen Francis Jean8 So die Bemerkung Adornos in einer Fernseh-Diskussion (1962)

über Beckett.

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Michael Lommel

son (La Chinoise) als dokufiktionale Vermittler zwischen Fiktion und Realität in seine Spielfilme integriert. 2. Nach der Addition nun zur Alternation: Griffith treibt mit sei-

nem Film Intolerance dieses Prinzip bereits 1916 ins Extrem. Griffith gibt das Vorbild, das Muster für die meisten folgenden verschachtelten Episodenfilme ab. Anders als die dialektische Montage der sowjetischen Schule eines Eisenstein und Pudowkin setzt die amerikanische Schule mit ihrem Hauptvertreter Griffith auf die Einheit, die Verschmelzung verschiedener Handlungen und Einstellungen, auf die Konvergenz des Verschiedenen. Die vier Episoden in Intolerance, so Griffith, »werden sich abwechseln. Anfangs werden ihre Wellen getrennt, langsam und ruhig fließen; aber allmählich werden sie einander näherkommen und immer schneller anschwellen, bis zur Lösung, wo sie sich in einer einzigen Flut gewaltiger Erregung vereinen«.9 Die vier Episoden verteilen sich auf vier historische Epochen: 1. Griffiths Gegenwart, der Erste Weltkrieg. Ein junger Arbeiter wird zu Unrecht eines Mordes angeklagt und soll nun gehenkt werden. 2. Der Untergang Babylons, das einer Intrige des konservativen Priestertums zum Opfer fällt. 3. Die Kreuzigung Jesu auf Golgatha. 4. Die Bartholomäusnacht im Paris des Jahres 1572, das Massaker an den Hugenotten. Während Griffith schon vor Intolerance die Parallel- und Konvergenzmontage zweier Handlungsstränge erprobt hat, verschachtelt er nun vier zeitlich und räumlich unabhängige Episoden. Die Filmkritik hatte mit dieser Innovation durchaus ihre Schwierigkeiten und bemerkte eine »schier unverständliche« Erzählstruktur. Gerade das alternierende (statt additive) Verfahren war für die Zeitgenossen unerwartet und verwirrend, obwohl Griffith, was heutige Episodenfilmemacher belächeln würden, dem Zuschauer durch erläuternde 9 Zit. in Georges Sadoul: Geschichte der Filmkunst, Frankfurt a. M.

1982, S. 135. Zur Innovation der Bild-, Blick-, Montage- und Raumtechniken in Griffiths Intolerance vgl. grundsätzlich Harun Farockis ebenso schöne wie lehrreiche Videoinstallation Zur Bauweise des Films bei Griffith (2006).

Heautonomie im Episodenfilm

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Abbildung 2: Vier historische Epochen in Griffith’ Intolerance

Zwischentitel den Wechsel erleichtern wollte: »zurück zu unserer Geschichte in der Gegenwart . . .«, »und wieder in Babylon« usw.10 Von dem französischen Filmkritiker und Regisseur Louis Delluc stammt eine berühmte Kritik an der Akzeleration der vier Episoden in Intolerance. Vor allem am Ende des Films gebe es – ich zitiere Delluc – eine »unbeschreibliche Verwirrung, in deren Verlauf Katharina von Medici die Armen New Yorks besucht, während Jesus die Kurtisanen des Königs Balthasar segnet und die Armeen des Darius [= Kyros, M. L.] die Stromschnellen von Chicago im Sturm einnehmen«.11 Charakterisiert aber Delluc nicht genau das Prinzip, die Machart und Ästhetik, die Heautonomie des Episodenfilms, nämlich das Prinzip der Kon-Fusion? Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, die dennoch autonom bleiben. Ist Dellucs kritisch gemeinte Bemerkung also nicht eine ausgezeichnete Definition des alternierenden Episodenfilms? Viele Episodenfilme versuchen genau diese Wirkung zu erreichen: dass die einzelnen Episoden getrennt, aber nicht isoliert bleiben: dass sie sich gegenseitig durch10 Zur Funktion der Zwischentitel in Intolerance siehe Dietrich Scheu-

nemann: Intolerance – Caligari – Potemkin: Zur ästhetischen Funktion der Zwischentitel im Film, in: Paul Goetsch/Dietrich Scheunemann (Hg.): Text und Ton im Film, Tübingen 1997, S. 11–46. 11 Zit. in Sadoul, S. 136. Vgl. dazu auch Jürgen Kühnel: Einführung in die Filmanalyse, Teil 1: Die Zeichen des Films. Siegen 2004, S. 231– 287.

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Michael Lommel

dringen, mischen und im besten Sinn ›unbeschreiblich verwirren‹ – so wie bei der Bezugnahme auf Nicola Tesla in Champagne. Ob man spätere Filme wie Short Cuts, Magnolia, The Hours, Amores perros oder andere heranzieht, der Episodenfilm ist erst dann emergent, wenn die Trennung zwischen den Handlungssträngen, Räumen und Zeiten implodiert, wenn Katharina von Medici die Armen New Yorks besucht, wenn in The Hours die Lebenslinien von drei Frauen in drei Epochen sich schneiden. Der Episodenfilm lebt genau von dieser Spannung zwischen Konvergenz und Eigenständigkeit seiner Teile. Er ermöglicht multiperspektivisches Erzählen, in einer Zeit, in der uns die Welt als einheitliche abhanden gekommen ist.

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Schrift als Tonfilm Zur Intermedialität und Emotionalität von Schrift

Bernd Scheffer (München)

Durch Film und Fernsehen, vor allem aber durch Computerprogramme, durch Internet, Mobilfunk und elektronische Bücher sind Schrift und Bild und Ton unverkennbar in Bewegung geraten. Wir beobachten dabei zwar den Abbau der alten Totalität des Buches, aber dennoch keinen ›Untergang der Schriftkultur‹,1 kein ›Ende der Gutenberg-Galaxis‹,2 sondern eher im Gegenteil: eine Wiederkehr der Schrift, einen Aufstieg der Schrift, freilich mit durchaus erheblichen Veränderungen, nicht zuletzt durch die Möglichkeiten ihrer Digitalisierung. Insbesondere das Internet erweist sich mittlerweile als gigantisches Medium bildhafter Schrift und beschrifteter Bilder, aber eben auch vertonter Bilder und vertonter Schrift. Wie kaum ein anderes Mediengenre bieten gerade Schriftfilme Einblicke in kulturelle und mediale Entwicklungen, sie ermöglichen Rückblicke und Gegenwartsdiagnosen, aber auch Ausblicke in die Zukunft (nicht zuletzt in die der interaktiven Medien). Schriftfilme verdeutlichen, wie sich eine Kultur, die lange Zeit von einer statischen Schrift dominiert war, nun durch technisch-elektronische Medien zunehmend zu einer offenen, beweglichen Schriftund-Bild-und-Ton-Kultur verändert. Schriftfilme – das sind analog oder digital basierte Kurzfilme oder Filmteile aus künstlerischen Arbeiten, aus Spielfilmen, Werbespots, Musikvideos oder aus dem so genannten TV Motion Design, in denen bewegte, animierte und grafisch auffällig gestaltete, meist farbige und meist auch vertonte Schrift jeweils die Hauptrolle spielt.

1 Ein ›Untergang der Schriftkultur‹ wird verschiedentlich diskutiert

bei Vilem Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1987; Vilem Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1995. 2 Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 32008.

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Bernd Scheffer

Die Bezeichnung Schriftfilm ist zum ersten Mal programmatisch von dem österreichischen Künstler Marc Adrian verwendet worden.3 Neben der Bezeichnung Schriftfilm sind als Bezeichnungen gebräuchlich etwa Textfilm oder Motion Types oder Types in Motion oder Motion Graphics. Schriftfilme stammen aus sechs Bereichen:

1. Künstlerische Filme, die ausschließlich oder überwiegend Schrift-

zeichen in ungewöhnliche Bewegungen versetzen. Aus der langen Reihe von Beispielen wären etwa zu nennen Arbeiten von Marc Adrian, Philippe Bootz, Stan Brakhage, Marcel Duchamp, Isidore Isou, Maurice Lemaître, Len Lye, Man Ray, Diter Rot, Gerhard Rühm, Paul Sharits, Jeffrey Shaw und sehr vielen anderen, vor allem auch jüngeren Künstlerinnen und Künstlern.4 2. Sequenzen aus dem Vorspann beziehungsweise Abspann von Fil-

men, sofern es sich dabei um ungewöhnliche, herausragende Darbietungen bewegter Schrift handelt (wie zum Beispiel im Vorspann zu Matrix Reloaded oder zu Se7en).5 Zu nennen sind hier auch Zwischentitel beziehungsweise so genannte Inserts, sofern sie durch eine aufwendige Gestaltung herausragen (wie zum Beispiel die frühen animierten Zwischentitel, die so genannten jumble announcements, in Edwin S. Porters Stummfilm-Komödien [USA 1905] oder Zwischentitel, in denen Schrift wie das gesprochene Wort in3 Schriftfilm (Idee 1954; Realisation 1959/60), vgl. Marc Adrian: Ein-

blicke, in: Otto Mörth (Hg.): Marc Adrian. Das filmische Werk, Wien 1999, S. 35–53. 4 Zu nennen sind unter dieser Rubrik auch die durchaus bemerkenswerten Schriftanimationen der so genannten Demo-Szene in denen Computerfreaks bis heute versuchen, auf den ersten allgemein verbreiteten Rechnern wie Amiga und Commodore die Mittel der Schriftgestaltung und Schriftbewegung auszuschöpfen. – Eine besondere Sparte der künstlerischen Schriftfilme bilden sodann jene Arbeiten aus dem Bereich der so genannten Digitalen Poesie, dem Bereich der Hypertexte, die neben dem literarischen Experiment vorzugsweise mit der visuellen, äußeren Form der Schriftzeichen experimentieren (wie zum Beispiel Eduardo Kac, der im Rahmen seiner Holopoetry durch fluid signs ephemere Formen zwischen Schrift und Bild erschaffen möchte). 5 The Matrix Reloaded, Regie und Drehbuch: Andy und Larry Wachowski, USA, 2003; Se7en, Regie: David Fincher, USA, 1995. Vorspann-Design: Kyle Cooper.

Schrift als Tonfilm

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szeniert wird; zum Beispiel als Visualisierung eines telefonischen Dialogs wie in Porters College Chums [USA 1907] oder wie in Adolf Gärtners Des Pfarrers Töchterlein [Deutschland 1913]). Bekanntestes Beispiel aus der Frühzeit des Kinos ist freilich Das Cabinet des Dr. Caligari, in dem Schrift an einer markanten Stelle der Narration als Film-Bild, geradezu als ›Aggressor‹ innerhalb der filmischen Diegese auftritt.6 3. Werbespots, deren vorrangiges Gestaltungsmittel die Animation von Schrift ist (wie zum Beispiel bestimmte Werbespots für BMW, Ericsson, Gauloises, Marlboro, Microsoft). 4. Musikvideos, deren Hauptattraktion in der Präsentation animier-

ter Schrift liegt, wie zum Beispiel die Musiksequenz zu Bob Dylans Subterranean Homesick Blues, die Videos zu Alex Gophers The Child, zu Prince’ Alphabet Street oder Sign o’ the Times, um nur einige wenige Beispiele aus der Anfangsphase der schrift-orientierten Musikvideos zu nennen.7 Inzwischen ist die Zahl solcher Videos unübersehbar geworden; täglich kommen auf YouTube neue hinzu. 5. TV Motion Design betreffen jene auffälligen Schriftanimationen

und Vertonungen, die den Auftakt zu regelmäßig wiederkehrenden Fernsehsendungen bilden, etwa zur Kultursendung Metropolis auf Arte. 6. Medienfassaden mit hohem Anteil an bewegter Schrift im öffentlichen Raum: Projektionen, LED zum Beispiel am Times Square, 6 Regie: Robert Wiene. Deutschland 1920; Aufführung in New

York 1921 (vgl. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt a. M. 1979). – »Die Sequenz, in der Dr. Caligari von den Rufen ›Caligari Du musst Caligari werden‹, die als dynamische Schriftinserts an wechselnden Stellen eingeblendet sind, richtiggehend materialiter bedrängt wird, weist in ihrem experimentellen Charakter weit über ihre Zeit hinaus.« Alexander Schwarz: Der geschriebene Film. Drehbücher des deutschen und russischen Stummfilms, München 1994, S. 92. Zu nennen wären viele weitere Beispiele aus der Stummfilmzeit, so etwa der Film Der müde Tod (1921) von Fritz Lang, der je nach Handlungsort orientalisch oder chinesisch anmutende Zwischentitel einsetzt. 7 Das großartige Musikvideo zu Alex Gophers The Child haben Hervé de Crécy, Ludovic Houplain und Antoine Bardou-Jacquet 1999 hergestellt; es ist im Internet zu sehen unter http://www. youtube.com/watch?v=ZGWkdNWFZiI, 11. 10. 2010.

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Abbildung 1: Jeffrey Shaw: The Legible City (Von Shaw dem Verfasser

zur Verfügung gestellt)

am Piccadilly Circus, an Flughäfen, Bahnhöfen, aber auch künstlerische Präsentationen im öffentlichen Raum, zum Beispiel von Jenny Holzer. Zu den öffentlichen Inszenierungen von Schrift sind auch exemplarische Darbietungen der Holopoetry und der Digitalen Poesie (beispielsweise von Eduardo Kac) zu zählen. Die schon seit Gutenberg beweglichen Lettern haben das Papier nicht mehr nur als einziges Trägermedium, sondern sie sind jetzt gewissermaßen weiter gewandert zu den Screens (von der Filmleinwand bis zum TV- oder Computerbildschirm). Dabei haben sich Spielräume für die Schrift eröffnet, die in den Kulturen des Buchdrucks zwar zum Teil erhofft wurden, deren Realisierung aber kaum zu erahnen war. Weniger denn je vollzieht sich die Rezeption von Schrift als ein reglementiertes Nach-Buchstabieren, vielmehr geht es jetzt um komplexe, intermediale, die gesamte sinnliche Wahrnehmung betreffende, durchaus entgrenzte Zeichenprozesse in allen Lebensbereichen. Am Beispiel von Schriftfilmen kann man zeigen, dass bei jeder Wahrnehmung verschiedene Zeichensysteme und im Prinzip auch alle Sinne zusammenspielen. Hartnäckige Vorurteile, die eine strikte Schrift-Bild-Polarisierung behaupten, lassen sich nunmehr korrigieren. Schriftfilme widerlegen alle pessimistischen Annahmen, die einen Verfall oder zumindest eine Marginalisierung der Schrift befürchten, vielmehr verleiten sie eher zu einer Schrift-Euphorie: ›Es fängt jetzt erst überhaupt richtig an!‹ Jetzt können nämlich viele der alten, um nicht zu sagen uralten Erwartungen, die schon immer mit Schrift verbunden waren, ein-

Schrift als Tonfilm

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gelöst werden. Schrift kann jetzt, Buchstabe für Buchstabe, leichter gestaltet werden als in den Schreibwerkstätten mittelalterlicher Klöster: Schrift kann jetzt in Bewegung geraten, Schrift kann jetzt dreidimensional, skulptural, geradezu körperlich werden, Schrift kann jetzt unmittelbar mündlich werden, vertont werden – und schließlich lassen sich auch die emotionalen Implikationen der Schrift nun verstärkt ausbauen und steigern. Schriftfilme erzielen verschiedene Arten der Bewegung, die die festgefügten Lettern handgeschriebener oder gedruckter Texte zuvor nicht erreichen konnten – angefangen bei den medialen, kulturellen und historischen Bewegungen und Veränderungen, die Schriftfilme repräsentieren, bis hin zu jenen Bewegungen, die in den gestalterischen Darbietungen, aber gerade auch in der physiologischen und psychologischen Verarbeitung von Schrift, Bild und Ton liegen. Mit Schriftfilmen kommen nun deutlich auch emotionale Möglichkeiten des Schreibens und Lesens ins Spiel, und zwar vor allem durch Farbe, Dreidimensionalität, Beschleunigungen und insbesondere Ton – also erneut durch Möglichkeiten, die in den herkömmlichen Darbietungen von meist ›kalten‹ Schriftzeichen kaum zu finden waren. Lesen ist nun kein reglementiertes, ›linientreues‹, oft gefühlloses Nachbuchstabieren mehr, sondern eine lockere, leichte, anti-autoritäre, um nicht zu sagen ›coole‹ Rekonstruktion und Dekonstruktion der vielfältigen Schriften, Bilder und Töne, die uns zumal im städtischen Raum allseits umgeben. In Schriftfilmen wird Schrift bunt, leuchtend und dreidimensional (wie in Jeffrey Shaws interaktiver Installation The Legible City, 1988–91, Abbildung 1),8 und obwohl sie in ihrer Virtualität nicht unmittelbar mit Händen zu greifen ist, wird Schrift in Schriftfilmen gleichwohl haptisch, taktil, unmittelbar körperlich spürbar, fühlbar. Fast alle Schriftfilme sind nicht zuletzt deshalb emotionale Steigerungen von Schrift, weil sie eng mit Musik verknüpft sind; nicht selten tanzen die Buchstaben passend zur Musik. Fast alle Schriftfilme sind auch akustisch gestaltet: Schriftdarbietungen sind also nicht nur visuell erweitert und in Bewegung gebracht worden, sondern sie sind auch in einem ungeahnten Ausmaß hörbar geworden: Regis8 Vgl. Florian Rötzer: The Legible City, in: Eleonora Louis/Toni

Stoos (Hg.): Die Sprache der Kunst. Die Beziehungen von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Wien 1993, S. 337–342.

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Abbildung 2: Aus einer Buchmalerei des Spätmittelalters (Private Auf-

nahme)

trieren lässt sich eine »Wiederkehr der Stimme«,9 eine Ausweitung der Mündlichkeit von Texten. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine ganz neue Gattung von Schriftfilmen, zu sehen auf YouTube: Berühmte Filmdialoge werden akustisch in der Originalversion dargeboten, aber die dazu passenden Filmbilder fehlen; statt der originalen Film-Bilder werden jetzt zum Originalton bestimmte Schriftanimationen gezeigt, die dem Inhalt der Dialoge entsprechen sollen – etwa zu Szenen aus Pulp Fiction oder Fight Club.10 Die traditionell an Sprache und Schrift gebundene Ordnung der Dinge gerät in produktive Un-Ordnung. Nicht nur auf den Screens der Leinwände und Bildschirme tanzen und fliegen die Buchstaben, sondern auch auf Kleidungsstücken, vorzugsweise auf T-Shirts. In Anlehnung an Peter Weibel: Schrift, Fotografie und Malerei arretieren, Video und digitale Kunst akzellieren dagegen.11 In Schriftfilmen hingegen wird Schrift aus den Arresten der Buchkultur befreit; jedenfalls findet eine Entgrenzung statt. 9 Vgl. Hans Georg Pott: Die Wiederkehr der Stimme. Telekommunika-

tion im Zeitalter der Post-Moderne, Wien 1995. 10 zu sehen im Internet unter http://www.youtube.com/results?se-

arch_query=pulp%20fiction%20typo, 11. 10. 2010, bzw.: http:// www.youtube.com/results?search_query=fight%20club%20typo graphy, 11. 10. 2010. 11 Vgl. Peter Weibel: Die Beschleunigung der Bilder in der Chronokratie, Bern 1987, S. 120.

Schrift als Tonfilm

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Abbildung 3: aus einer Zisterzienser-Handschrift des 12. Jahrhunderts (Aus einer Zeitschrift Konkrete Poesie aus den 1960er Jahren. Ohne Jahresangabe und Seitenzahl.)

Schriftfilme stellen exemplarische Entgrenzungen, exemplarische Grenzüberschreitungen dar: Dies betrifft bei Schriftfilmen erstens die Überschreitungen, die Verwischungen der Grenzen der herkömmlichen Kunstgattungen; es betrifft zweitens die Überschreitungen der zum Teil heute noch eng gesetzten Grenzen von hoher Kunst und banaler Alltagswirklichkeit durch die offenkundig zunehmende Ästhetisierung aller Lebensbereiche (vor allem im Zuge von Pop und Werbung); und es betrifft drittens die Überschreitung ehemals deutlicher Diskurs-Grenzen, etwa durch Grenzverwischungen zwischen Kunst und Wissenschaft, so z. B., wenn Schriftfilme sich gleichermaßen als künstlerische wie wissenschaftliche ›Lehrveranstaltungen‹ in Sachen von Schrift, Bild und Ton präsentieren. Es gibt vielfältige Vorformen, Vorläufer von Schriftfilmen: An keinem ihrer Anfänge war die Schrift vom Bild getrennt: Alle uns bekannten Ursprünge der Schrift zeigen Bild(er)schriften, zeigen also eine zunächst unauflösliche Einheit von Schrift und Bild. Auch die spätere europäische Trennung von Schrift und Bild durch die Lautzeichen einer Alphabet-Schrift hat niemals die Versuche enden

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lassen, diesen, inzwischen von deutlichen Bildreferenzen freien Schriftzeichen dann doch wieder eine prominente Bildlichkeit zu verleihen – von antiken Schriftgestaltungen bis hin zur Konkreten Poesie, von der überragenden Rolle der Schrift in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen. In der Buchmalerei des Mittelalters wurde nicht nur versucht, Schriftelemente ›formschön‹ und einem Bild zum Verwechseln ähnlich darzubieten, sondern es zeigt sich gerade immer wieder auch das Bemühen, Bewegung, geradezu filmische Bewegung, aber auch Töne zu schreiben beziehungsweise zu malen.12 Auch wenn die Behauptung, Multimedialität, Intermedialität, RemeAbbildung 4: The Mouse’s diation und Hypertext habe es immer Tale aus: Lewis Carroll, schon gegeben, wenig Sinn macht Alice’s Adventures in (weil sie Entwicklungen und VerWonderland, MacMillan stärkungen vernachlässigt), so kann 1865, S. 38 man doch zeigen, dass es seit langem Versuche zu ganzheitlicher Zeichendarbietung gibt. In illustrierten Handschriften des Mittelalters wachsen Spruchbänder, um nicht zu sagen Sprechblasen aus den Mündern der Heiligen (Abbildung 2, S. 112). Solche Illustrationen kann man nicht nur als erste Bausteine späterer Comics verstehen, sondern auch als Antizipation der erst später vollends realisierbaren Versuche zur Bewegung und Vertonung von Schrift. Ebenso zeigen mittelalterliche Handschriften erste deutliche Bestrebungen, Buchstaben und Körperformen bis zur Verwechslung 12 Vgl. Christel Meier/Uwe Ruberg (Hg.): Text und Bild. Aspekte des

Zusammenseins zweier Künste im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1980.

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Abbildung 5: Stéphane Mallarmé: Un Coup des Dés (1897) (Stéphane

Mallarmé, Werke I: Gedichte, übersetzt und kommentiert v. Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Frauke Bünde und Bettina Rommel, Gerlingen S. 279.)

miteinander zu verbinden; dies veranschaulicht die lange und beispielreiche Geschichte der Körper-Alphabete (Abbildung 3, S. 113). Fibeln und Kinderbücher bringen die Schriftzeichen in Bewegung und emotionalisieren sie dabei (dafür gibt es unzählige Beispiele seit dem Buchstaben-Mauseschwanz von Lewis Carrolls Alice in Wonderland, Abbildung 4). Ein neues Kapitel der ›Schrift als Bild und Ton‹ wird aufgeschlagen mit Stéphane Mallarmés Un Coup des dés (1897, Abbildung 5). Und hier kommt vor allem auch die akustische Dimension deutlich zum Vorschein, die dann bei den Schriftfilmen später eine so große Rolle spielen soll; Mallarmé verstand seinen Würfelwurf auch als Partitur für lautes Lesen.13 13 Vgl. Ferdinand Kriwett: Über die Wirklichkeiten und Möglichkeiten

einer visuell wahrnehmbaren Literatur, in: Gotthart Wunberg (Hg.): Theoretische Positionen zur konkreten Poesie, Tübingen 1974.

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Abbildung 6: Graffiti-Zug (München) (Private Aufnahme)

Abbildung 7: Katsuhiro Otomo: Akira – Tetsuos Macht (Katsuhiro

Otomo: Akira, Vol. 1, Hamburg 2000, S. 130.)

Und wenn man sich dann fast ein Jahrhundert später vor Augen führt, dass jedenfalls in der Anfangszeit der Graffitis die besprayten Züge von S-Bahnen und U-Bahnen der bevorzugte Schauplatz der Graffiti-Sprayer sind, dann macht das außerordentliche Bewegungsmoment dieser Schriftbilder, die über Schienen wie eine Laufschrift, wie ein Film durch die Stadt fuhren und die überall deutlich zu sehen sind, aus dem Graffiti eine Art von alltäglichem Schriftfilm (ohne dass es eines dunklen Kinoraums bedarf) (Abbildung 6). Und Hiphop liefert den Ton, den charakteristischen Sound der Graffitis. Wenn man im Internet unter »Graffiti Zug« oder »graffiti train« recherchiert, findet man eine Reihe von Videos. Comics, Cartoons, Graphic Novels funktionieren weder über pures Lesen, noch über pures Ansehen der Bilder. Obwohl Comics vordergründig einen Stillstand der Bilder und der Schrift zeigen, bieten sie dennoch Bewegung; obwohl sie stumm sind, bieten sie dennoch Geräusche; obwohl sie statisch sind, sind sie dennoch filmähnlich. Die Handlungen werden zusätzlich illustriert durch Speedlines mit dazugehörigen Geräuschen wie ›quietsch, zisch, whromm, whrusch‹ usw. (Abbildung 7). Schriftfilme sind keine Filme, die thematisch an einen ganz bestimmten Ort gebunden sind; wenn Schriftfilme überhaupt einen realen Ort haben, dann ist dieser Ort die Stadt. In der Stadt ist Schrift

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Abbildung 8: London: Picadilly Circus (2006) (http://www.lucagalli.

net/photoalbum/london/slides/Piccadilly Circus.html, 21. 11. 2010.)

ohnehin in permanenter Bewegung, und die ›Lesbarkeit der Stadt‹ bezieht sich dabei ja nicht allein auf die Flut an Schrift auf Schildern, Verkehrszeichen, Inschriften und Werbeofferten, sondern umfasst alle Arten von Zeichen, die beim Gehen, beim Flanieren oder beim realen beziehungsweise virtuellen Surfen durch eine Stadt nicht zuletzt auch akustisch begleitet werden – auf Medienfassaden (Abbildung 8). Dieser Prozess der Stadt als Schriftfilm ist wenig linear, kaum chronologisch (wie im Fall einer strikten Lektüre), sondern vielfältig, alle Sinne betreffend, simultan, beschleunigt, fragmentarisch, schwerlich auf den Punkt zu bringen, kaum fassbar, stets flüchtig, meist zufällig, jedenfalls ohne autoritäre oder privilegierte VorabBestimmung des Vorankommens, daher neben aller Lesbarkeit gerade auch unlesbar, entgrenzt. Schriftfilm-charakteristische Mediennutzungsformen wie ›Textsurfen‹ mit Merkmalen wie Flüchtigkeit, Flächigkeit, Beschleunigung, Bewegung sind nicht neu. Schon 1929 versteht Franz Hessel das Flanieren in Städten als »[. . .] eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.«14 14 Franz Hessel: Ein Flaneur (1929), Berlin 1984, S. 145. Ähnliche

Überlegungen findet man bei Siegfried Kracauer: Aus dem Fenster gesehen, in: Inka Mülder-Bach: Schriften. Bd. 5.2. Aufsätze 1927 bis

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Abbildung 9: Gauloise-Werbung von Heike Sperling (http://www.

heikesperling.de/gauloises_blondes_text.0.html, 21. 11. 2010)

Eine Traditionslinie der Schriftfilme ist selbstverständlich die Filmtradition selbst. Schriftfilme gibt es seit der Erfindung des Films: Aus dem Jahr 1896 stammt ein Werbefilm für Admiral Cigarettes, in dem die Parole »We all smoke Admiral Cigarettes!« in großen Lettern auf einem großen Spruchband, das während der kurzen Szene erst aufgerollt wird, zu sehen ist.15 Schriftfilme machen die im normalen Gebrauch unsichtbaren, transparenten Medien sichtbar – dadurch, dass in Schriftfilmen gewissermaßen der Film regelmäßig reißt, wird die Materialität und Mediengebundenheit deutlich. Es ergeben sich produktive »Formkatastrophen« – wie zum Beispiel im Werbefilm von Heike Sperling: Erst scrollt nur eine, noch leicht lesbare Zeile über die Leinwand (und jede Zeile thematisiert selbstrefentiell den Vorgang des Lesens), dann eine zweite, dann eine dritte, und es zeigt sich, dass niemand drei Zeilen gleichzeitig lesen kann. Es kommt zu einer reizvollen »Formkatastrophe« (Abbildung 9).16 Schrift nähert sich hier dem Ornament, der Arabeske. Zwar gilt Schrift im abendländischen Kulturkreis nach wie vor (und selbstverständlich nicht völlig grundlos) als ›bewusst‹, ›linear‹, ›logisch‹, 1931, Frankfurt a. M. 1990; Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M. 1970 und Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1998. 15 vgl. Christine Stenzer: Hauptdarsteller Schrift. Ein historisch-systematischer Überblick über Schrift in Film und Video von 1895–2008, Würzburg 2010. 16 Peter Fuchs hat den Begriff bei einem Vortrag in München 2003 gebraucht: Die Form des Mediums. Zur Beobachtung von Formkatastrophen.

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›rational‹, ›sequentiell‹, ›historisch‹ doch diese Tendenzen schwächen sich im Zuge der Ausbreitung von Schriftfilmen ab. Zwar ist die explizite Kritik der Schriftfilme an der nach wie vor deutlichen Macht der Schrift gering, aber die implizite Kritik der Schriftfilme richtet sich dann doch deutlich gegen die herkömmlichen schweren Trägermedien der Schrift, insbesondere gegen die Buchform und die damit verbundene Autorität. Nicht zuletzt aus ihrem Zusammenhang mit Werbung und Musikvideos, mit ihrer kommerziellen Funktion also ergibt sich der nach wie vor rebellische Charakter vieler Schriftfilme.17 Multimedialität, Intermedialität, Remediation, Hypertextualität

Die an Texten gewonnenen Beschreibungs-Möglichkeiten reichen für die Potentiale neuerer und neuester Medien, reichen für Multimedialität, Intermedialität, Remediation und Hypertext weniger denn je aus. Ein wie auch immer kultur- und medienwissenschaftlich ausgeweiteter text- und schrift-orientierter Blick erfasst die neuen Medienphänomene immer nur gewissermaßen ›rückfällig‹ oder bekommt sie nur noch, wie aus dem Heckfenster blickend und sich dabei immer weiter von ihnen entfernend, zu Gesicht. Es versteht sich von selbst, dass die neue Zeichenwelt weitaus mehr als nur die Sprach- und Schriftzeichen umfasst und dass diese anderen, zusätzlichen Zeichen auch nicht sogleich wieder in Sprach- und Schriftzeichen rück-überführbar sind. Es gibt längst nicht mehr nur das eine zu untersuchende Medium, sondern eine Vielzahl von verschachtelten Medien. Es ist zunehmend problematisch geworden, umfassendere Überlegungen zur kulturellen und gesellschaftlichen Situation der Gegenwart monomedial auf Schrift beziehungsweise Bild verengen zu wollen. Stattdessen gilt es zu achten auf Netzwerk, Verflechtung, Ver17 »Die Reklame fordert ästhetischen Avantgardistisches heraus, tut

dies aus ihrem Zwang zur Übertreibung heraus. [. . .] Überproduktion von Bewegung, Geschwindigkeit, Überschuss an ästhetischen Werten und an kommunikativer Kompetenz. Es ist wild, es ist zahm, es ist jedenfalls lose, das Bündnis von ästhetischer Innovation und kommerzieller Aggressivität; es ist unberechenbar – bei aller Kalkulation.« (Erwin Reiss: Videoclips. Die audiovisuellen Rebellen und der Apparat des Fernsehens, in: Siegfried Zielinski (Hg.): Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt a. M. 1992, S. 331).

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knüpfung, Mehrfachkodierung, Integration, Pluralität, Simultaneität, Multimedialität, Intermedialität, Remediation, Hypertext, Hybridtext etc. Zweifellos gibt es Formen der Medienkonkurrenz, besonders in den Entstehungsphasen neuer Medien, aber die Anschlussmöglichkeiten, die Koexistenzen und die Vernetzungen, die geradezu unauflösbaren Verbindungen von Schrift und Bild sind vorherrschend.18 Medien sind entwicklungsoffen: Es kann zu Verstärkungen und zu Abschwächungen des Zusammenspiels der einzelnen Medien kommen, aber es gibt keinen Anfang und kein Ende der Medienverknüpfung. Es gibt kein außer-mediales Bewusstsein. Noch fehlt ein umfassendes, holistisches, also gleichsam ganzheitliches Konzept der neuen Seh-, Sprech-, Schreib-, Hör- und Denkweisen. Und diese neuen Medienentwicklungen werden sich dabei nur dann verstehen lassen, wenn wir uns auch das Unvorstellbare erarbeiten, wenn wir herkömmliche, harte Kategorien und Polarisierung auflösen und den Blick öffnen für jene Veränderungen, die im Genre der Schriftfilme exemplarisch werden und zwischen ›Augenschein‹, ›Wortlaut‹ und ›Musik‹ einander zum Verwechseln ähnlich sind.

Literatur Adrian, Marc: Einblicke, in: Otto Mörth (Hg.): Marc Adrian. Das filmische Werk, Wien 1999, S. 35–53. Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M. 1970. Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, 3München 2008. Flusser, Vilem: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1995. Flusser, Vilem: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1987. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 2002. Hessel, Franz: Ein Flaneur (1929), Berlin 1984. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), Frankfurt a. M. 1979. Kracauer, Siegfried: Aus dem Fenster gesehen, in: Inka Mülder-Bach: Schriften. Bd. 5.2. Aufsätze 1927 bis 1931, Frankfurt a. M. 1990. 18 Multimedialität, Intermedialität, Remediation und Hypertextua-

lität sind im Übrigen entscheidende Stichworte einer wie eng beziehungsweise wie weit gefassten Digitalen Poesie.

Schrift als Tonfilm

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Kriwett, Ferdinand: Über die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer visuell wahrnehmbaren Literatur, in: Gotthart Wunberg (Hg.): Theoretische Positionen zur konkreten Poesie, Tübingen 1974. Meier, Christel/Ruberg, Uwe (Hg.): Text und Bild. Aspekte des Zusammenseins zweier Künste im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1980. Pott, Hans Georg: Die Wiederkehr der Stimme. Telekommunikation im Zeitalter der Post-Moderne, Wien 1995. Reiss, Erwin: Videoclips. Die audiovisuellen Rebellen und der Apparat des Fernsehens, in: Siegfried Zielinski (Hg.): Video – Apparat/ Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt a. M. 1992. Rötzer, Florian: The Legible City, in: Eleonora Louis/Toni Stoos (Hg.): Die Sprache der Kunst. Die Beziehungen von Bild und Text in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Wien 1993, S. 337–342. Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film. Drehbücher des deutschen und russischen Stummfilms, München 1994. Stenzer, Christine: Hauptdarsteller Schrift. Ein historisch-systematischer Überblick über Schrift in Film und Video von 1895–2008, Würzburg 2010. Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1998. Weibel, Peter: Die Beschleunigung der Bilder in der Chronokratie, Bern 1987.

Filmographie Schriftfilm (Marc Adrian, 1959/60). The Matrix Reloaded (Regie und Drehbuch: Andy und Larry Wachowski, USA 2003). Se7en (Regie: David Fincher, USA 1995). Das Cabinet des Dr. Caligari (Regie: Robert Wiene, Deutschland 1920). Der müde Tod (Regie: Fritz Lang, Deutschland 1921).

Der Eselsschrei in der A-Dur-Sonate Robert Bresson zu Film und Musik

Thomas Macho (Berlin)

1. Die Geschichte des Kinos begann stumm, aber nicht still und leise. Die silent movies waren vielmehr unerträglich laut. Mit nahezu neurotischer Intensität wurde der erzwungene Verzicht auf die Stimme kompensiert, und zwar nicht nur durch Zwischentitel, sondern auch durch Pianisten, Orchester und Spezialisten für die Erzeugung von Geräuschen. Selbst die Dreharbeiten wurden musikalisch begleitet; kleine Kapellen und Bands sorgten für die richtige Stimmung am Set. In den Pionierjahren wurden häufig mehrere Filme gleichzeitig in nebeneinander stehenden Kulissen gedreht, so dass es mitunter zur musikalischen Austragung von Konkurrenzkämpfen kommen konnte: Trauermarsch gegen Tanzmusik. Im Gespräch mit Peter Bogdanovich erinnerte sich Allan Dwan an eine Fehde zwischen Pola Negri und Gloria Swanson: »Wir arbeiteten alle immer noch auf offenen Bühnen, und die Negri stand an einem Ende der Bühne und wir am anderen, und sie hatte immer ihren großen Auftritt. Alles hatte stillzustehen: Alle verstummten und standen auf, während Pola Negri in ihrer Garderobe auf die Bühne schwebte. Das hat mich natürlich sehr amüsiert. Also ließ ich Gloria in diesem Palm-Beach-Rollstuhl über das Gelände fahren, den ein Bursche schob, während ein zweiter einen Sonnenschirm über sie hielt. Und wenn sie auf die Bühne kam, ließen wir ein kleines Orchester spielen, und das störte Pola Negri, die meinte, sie könnte bei unserer Musik nicht ihre Gefühlsausbrüche mimen. Sie marschierte indigniert von ihrem Set, um Ärger im Büro zu machen, und dann kamen sie von dort herüber und fragten mich: ›Können Sie die Musik nicht ein bisschen leiser spielen?‹ Ich sagte: ›Nein, Miss Swanson muss begrüßt werden, genau wie die Negri.‹ Das ging so lange weiter, bis eine von ihnen einfach gehen musste, und ich dachte mir, na schön, bring ich die Sache mal zu Ende. Ich ließ eine dieser großen Schulkapellen kommen, es müssen um die siebzig Leute in dieser verdammten Band gewesen sein, alle in Uniform, und als sich Gloria in den Rollstuhl setzte, trat die Band auf und ›Tschingderassabumm!‹ Sie spielten den ›Marsch der Trojaner‹ oder so was, und davon

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Thomas Macho

fielen fast die Kulissen um. Dann sagte ich: ›Wir behalten die Band, weil unser kleines Orchester nicht laut genug ist. Da ist so viel Lärm drüben am Set von der Negri, dass wir die Musik nicht hören und uns gefühlsmäßig einstellen können. Also nehmen wir die Band.‹ Das war das Ende der Fehde, die Negri gab auf, und wir kehrten schließlich zu unserem Tendler-Streichquartett zurück, das sehr schön spielte. Es war über all die Jahre bei mir.«1

Heute gehört es zum Stolz mancher Programmkinos, den frühen Krach der Stummfilme als besondere Attraktion zu reproduzieren. Stummfilm-Retrospektiven werden konsequent mit der Drohung angekündigt, einen Pianisten oder gar ein kleines Orchester zur Filmbegleitung engagiert zu haben, und noch die verdienstvolle Restaurierung bedeutender Stummfilme scheint regelmäßig dem Zwang zu erliegen, die Bilder mit möglichst gefühlvoller Musik ausstatten zu müssen, als könnten die Bilder in der Stille keinesfalls überleben. So löste etwa die großartige Passion de Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer (Abbildung 1) – mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung im Jahr 1928 – einen regelrechten Wettkampf der Filmkomponisten aus. Dabei hatte dieser Film, der nach dem Willen des Regisseurs ohne Originalmusik gedreht wurde, eine schwierige Vorgeschichte absolviert. In Frankreich wurde er nach Interventionen der katholischen Kirche bearbeitet und um fünfzehn Minuten gekürzt, in England wurde er verboten, weil die kritische Darstellung der englischen Soldaten nicht akzeptabel schien. Eine unzensierte Originalfassung lagerte zwar in den UFA-Studios bei Berlin, verbrannte dort aber im Dezember 1928. Dreyer schnitt danach aus Kopien, Fragmenten und Resten eine zweite Version, die dem Originalfilm recht ähnlich war, doch fiel auch diese Fassung ein Jahr später dem Feuer zum Opfer, bevor 1951 eine Kopie in den Gaumont-Archiven entdeckt wurde. Nach weiteren dreißig Jahren kam es schließlich 1981 – ausgerechnet in einer Nervenheilanstalt bei Oslo – zur Auffindung einer Version mit dänischen Untertiteln: Es handelte sich um die erste unzensierte Filmfassung, die erstaunlich gut erhalten war und erfolgreich restau1 Peter Bogdanovich: Allan Dwan: Der letzte Pionier, in: Wer hat

denn den gedreht? Gespräche mit Robert Aldrich, George Cukor, Allan Dwan, Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Chuck Jones, Fritz Lang, Joseph H. Lewis, Sidney Lumet, Leo McCarey, Otto Preminger, Don Siegel, Josef von Sternberg, Frank Tashlin, Edgar G. Ulmer und Raoul Walsh, Zürich 2000, S. 57–154, hier S. 114 f.

Der Eselsschrei in der A-Dur-Sonate

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Abbildung 1: Carl Theodor Dreyer:

Abbildung 2: Alfred Hitchcock:

Passion de Jeanne d’Arc (1928)

Blackmail (1929)

riert werden konnte. Und prompt wurden verschiedene Versuche unternommen, die passende Filmmusik zu diesem Meisterwerk zu kreieren: Nach Ole Schmid (1982) und Jo van den Booren (1985) war es Richard Einhorn, der 1994 das Oratorium der Voices of Light als Soundtrack zur Passion komponierte; 2007 folgte ein weiterer Versuch des Videospiel-Komponisten Jesper Kyd, und ein Jahr danach produzierte die neoklassische Musik- und Künstlergruppe In the Nursery die vorläufig letzte Variante einer Musik zu Dreyers Film. Dabei widersetzt sich die minimalistische Strenge der Passion geradezu den Strategien programmatischer Verstärkung durch Musik, etwa einer Begleitung der Affektbilder des Gesichts von Renée Falconetti, Darstellerin der Jeanne d’Arc, durch Einhorns PseudoGregorianik. Dreyers Film stand 1928 genau an der historischen Schwelle zwischen Stumm- und Tonfilm; angeblich wollte der dänische Regisseur zuerst sogar einen Tonfilm drehen, scheiterte dann aber an finanziellen Limits der Produktion. Zur selben Zeit – zwischen 1928 und 1929 – drehte Alfred Hitchcock seinen Film Blackmail (Abbildung 2) in zwei Versionen, als Stummfilm und danach als Tonfilm. Und er gestattete sich das Vergnügen, das notorische Klavier in der vertonten Fassung vom Kinosaal auf die Leinwand zu übersiedeln: Anders als in der Stummfilmversion sollte nun der verkrachte Künstler Mr. Crewe (gespielt von Cyril Ritchard) die Heldin Alice White (gespielt von Anny Ondra) auch durch Klavierspiel mit Gesang beeindrucken. Und was sang und spielte der Verführer? Einen Song des britischen Pianisten und Komponisten Billy Mayerl, mit dem Titel »Miss Up-to-Date«: vielleicht auch ein ironischer Kommentar zu Anny Ondras starkem Akzent, der die

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Thomas Macho

Abbildung 3: Carl Theodor Dreyer:

Abbildung 4: Samuel Beckett:

Gertrud (1964)

Film (1965)

erste Synchronisation der Filmgeschichte erzwang. Im Gespräch mit François Truffaut erinnerte sich Hitchcock: »Synchronisieren, wie man es heute macht, gab es damals noch nicht. Ich habe das Problem gelöst, indem ich eine junge englische Schauspielerin, Joan Barry, in eine Kabine außerhalb des Blickfeldes setzte und sie die Dialoge in ein Mikrophon sprechen ließ, während Fräulein Ondra die Wörter nur markierte. Ich verfolgte ihr Spiel und hörte über Kopfhörer die Texte von Joan Barry.«2

Hitchcock war genial und erfinderisch darin, die technischen Möglichkeiten des Films zu erweitern; er hat Stumm- und Tonfilme, in Schwarzweiß, Farbe und einmal sogar in 3D gedreht, für Kino und Fernsehen. Dreyers Bedeutung wurde dagegen erst nach seinem Tod (am 20. März 1968 in Kopenhagen) angemessen erkannt und gewürdigt; noch 1964 war sein letzter Film Gertrud (Abbildung 3) auf dem Festival von Cannes gnadenlos durchgefallen. Ein Jahr später gelang es dagegen Samuel Beckett – in Film (Abbildung 4) – das Wesentliche zum Thema Stummfilm auszudrücken: mit Hilfe einer Tonspur, die nicht bespielt wurde. Selbst das ursprünglich als einziger Laut vorgesehene »Psst« der Dame mit jenem Schoßäffchen, das unter Alan Schneiders Regie einer Zeitung wich, wurde später getilgt, und zwar zugunsten der schlichten Geste des auf die geschlossenen Lippen gelegten Zeigefingers.3 2 François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott) in:

Robert Fischer (Hg.): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 2003, S. 57. 3 Vgl. Samuel Beckett: Film/He, Joe, Frankfurt a. M. 1968, S. 13. Vgl. auch: Maurice Harmon (Hg.): No Author Better Served. The Correspondence of Samuel Beckett and Alan Schneider, Cambridge (MA)/ London 1998, S. 187.

Der Eselsschrei in der A-Dur-Sonate

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2. Der Film kann als Steigerung der Oper erscheinen, als Erbe des Gesamtkunstwerks, in dem Bild, Gesang, Musik, Bühne und Architektur verschmelzen; er kann aber auch als asketische Reduktion praktiziert werden, als Allianz einer visuellen Semiotik mit den Zeichen der Schrift, wie sie zunächst in den Zwischentiteln der Stummfilme auftrat. Zu den Idealen des Filmregisseurs Robert Bresson – sein Leben, vom 25. September 1901 bis zum 18. Dezember 1999, reichte an die Grenzen des 20. Jahrhunderts heran – gehörte die Forderung, keine Gefühle, sondern Bewegungen mit Hilfe von Bildern aufzuschreiben: Kinematographie in wörtlichem Sinne. Das Gewicht dieses ausdrücklich theater- und opernkritischen Ideals demonstrierte Bresson exemplarisch an den autographischen Praktiken des Landpfarrers in Journal d’un curé de campagne von 1951 (Abbildung 5, nächste Seite); fast zwei Jahrzehnte später folgte ihm François Truffaut mit seiner Darstellung des Arztes und Taubstummenlehrers Jean Marc Gaspard Itard (1774–1838), den er – in L’enfant sauvage von 1969 (Abbildung 6) – wiederholt bei den Aufzeichnungen über die Methoden und Versuche der Erziehung des wilden Jungen von Aveyron zeigte. Bressons oder Truffauts Filme brauchten fast keine Musik; die Bilderschrift sollte dezidiert von keiner affektiven Melodie begleitet und kommentiert werden. Gerade im Namen des Tonfilms proklamierte Bresson die Trennung der Bilder von der Musik. »Le cinéma sonore a inventé le silence«, »Der Tonfilm hat die Stille erfunden«, bemerkte er in seinen Notes sur le cinématographe.4 Aus dieser treffenden Beobachtung leitete er eine Reihe von Regeln ab, beispielsweise ein Verbot aller Programmmusik im Kino: »Keine Musik zur Begleitung, zur Unterstützung oder zur Verstärkung. Überhaupt keine Musik.«5 Nur eine einzige Ausnahme sollte gelten: »Musik, die von sichtbaren Instrumenten gespielt wird«,6 wie etwa auf dem Klavier in Hitchcocks Blackmail. Noch im Manifest der Gruppe Dogma 95 – unterzeichnet am 13. März 1995 von den dänischen Filmregisseuren Lars von Trier und Thomas Vinterberg – lautete die zweite Regel des »Vow 4 Robert Bresson: Notes sur le cinématographe, Paris 1988, S. 50. In

deutscher Übersetzung: Notizen zum Kinematographen, hg. v. Robert Fischer, Berlin 2007, S. 43. 5 Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen, S. 29. 6 Ebd., S. 29 (Fußnote 4).

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Abbildung 5: Robert Bresson: Journal d’un curé de campagne (1951)

Abbildung 6: François Truffaut:

L’enfant sauvage (1969)

of Chastity«: »The sound must never be produced apart from the images or vice versa. (Music must not be used unless it occurs where the scene is being shot).«7 Anders gesagt: Musik soll nur als Ton, als Sound eingesetzt werden: »Die Geräusche müssen Musik werden.«8 Sie werden hörbar wie die Stimmen der Personen im Film, doch ohne mit den Bildern zu konkurrieren; denn was »für das Auge ist, soll keine bloße Verdopplung dessen sein, was für das Ohr ist.«9 Gesucht wird eben kein Gesamtkunstwerk. »Wenn das Auge ganz erobert ist, nichts oder fast nichts dem Ohr geben. (Und umgekehrt, wenn das Ohr ganz erobert ist, nichts dem Auge geben.) Man kann nicht gleichzeitig ganz Auge und ganz Ohr sein. Wenn ein Ton ein Bild ersetzen kann, das Bild weglassen oder neutralisieren. Das Ohr geht mehr nach innen, das Auge nach außen. Ein Ton soll niemals einem Bild zu Hilfe kommen, ein Bild nie einem Ton. Ist ein Ton die zwingende Ergänzung eines Bildes, entweder dem Ton oder dem Bild den Vorrang geben. Im Gleichgewicht schaden sie sich oder schlagen sich tot, wie man von Farben sagt. Bild und Ton sollen sich nicht gegenseitig unterstützen, sondern sich abwechseln, gewissermaßen Schicht arbeiten.«10

Denn die Kinematographie ist keine Bühne, sondern eine »Schrift mit Bildern in Bewegung und mit Tönen«.11 Darum wollte Bresson keine Schauspieler engagieren, sondern bloß »Modelle«: Sie soll7 Vgl. Andreas Sudmann: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Mög8 9 10 11

lichen, Hannover 2001, S. 195. Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen, S. 29. Ebd., S. 52. Ebd., S. 52 f. Ebd., S. 17.

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Abbildung 7: Robert Bresson: Au hasard Balthazar (1966)

ten nichts darstellen, simulieren oder bedeuten. Ernst Bloch fragte einmal, ob die Dinge auch ihre Rolle spielen: »Ist man im Theater und brennen etwa die Kerzen im letzten Akt Wallenstein auf dem Tisch und Wallenstein unterschreibt den Vertrag mit Wrangel: so sind die Kerzen und der Tisch wirklich Kerzen und Tisch, schauspielern nicht. Sie waren nicht die selben, aber sind auch nicht anders Kerzen und Tisch gewesen, als sich der wirkliche Wallenstein dem wirklichen General verschrieben hat. Doch die jetzigen Menschen um Kerze und Tisch, kurz, die jetzigen Akteure sind Schauspieler; wieso entsteht also kein Riß, wieso fühlt der Zuschauer, Illusion hin oder her, keine verschiedenen Ebenen des Ernstes? Schauspielern denn auch die Dinge? – und auf der Bühne hat ihre ›Verstellung‹, weit davon entfernt, einen Riß zu erzeugen, grade homogenen Raum?«12

Robert Bresson hätte Blochs Frage nach dem ontologischen Riss bejaht: »Kein möglicher Zusammenhang zwischen einem Schauspieler und einem Baum. Sie gehören zwei verschiedenen Welten an. (Ein Theaterbaum simuliert einen echten Baum.)«13 Wenn der Theaterbaum so wirklich sein will wie ein Baum im Wald, erweckt er Zweifel und Irritationen. »Auf der Bühne verursachen ein Pferd, ein Hund, wenn sie nicht aus Gips oder Pappe sind, Unbehagen. Im Gegensatz zum Kinematographen ist es im Theater verhängnisvoll, eine Wahrheit im Wirklichen zu suchen.«14 – Der Satz kann leicht umgekehrt werden: Im Unterschied zum Theater wäre es in der Kinematographie verhängnisvoll, die Wahrheit nicht im Wirklichen zu suchen. Und wie kann das Wirkliche gesucht und aufgefunden werden? Nur durch Verbote der Simulation, der Bühnenbilder und der Schauspielerei. Anne Wiazemsky, Darstellerin der Marie in Bressons Au hasard Balthazar (1966, Abbildung 7), hat in ihrem 12 Ernst Bloch: Der Rücken der Dinge, in: Spuren [1930], Frankfurt

a. M. 1969, S. 172–175, hier S. 173. 13 Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen, S. 19. 14 Ebd., S. 54.

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Roman Jeune fille (2007) anschaulich beschrieben, wie der Regisseur seine »Modelle« zu Leseübungen anhielt, um zu erreichen, dass sie nicht spielten oder interpretierten. »Ich möchte, dass Sie jede Absicht unterdrücken«, zitiert Anne Wiazemsky die Grundsätze Bressons: »Sie sollen nicht Innerlichkeit oder Einfachheit spielen. Es geht darum, überhaupt nicht zu spielen.«15 Als Walter Green, Darsteller des Jacques, nicht verstehen will, dass das Spiel schon bei der falschen Betonung eines einzigen Wortes beginnt, lässt Bresson seine Marie aus dem Drehbuch vorlesen: »Ich kam seiner Aufforderung nach. Ab und zu stolperte ich über ein Wort und unterbrach mich, verwirrt. Mit einer kleinen Handbewegung ermunterte er mich dann fortzufahren. [. . .] Schließlich bedeutete er mir, dass die Übung beendet war, und wandte sich wieder Walter zu: ›Haben Sie gehört?‹ ›Ja, Monsieur.‹ ›Sie sind also in der Lage, hoffe ich, zu begreifen, dass Anne Marie die Person meines Filmes ist, weil sie bereit ist, sie selbst zu bleiben. Sie fügt keine Absicht hinzu, sie betreibt keine Psychologie, sie ist, wie sie ist, und sie ist wahrhaftig. Das ist es, was ich von Ihnen verlange.‹«16

Auf der Suche nach solcher Wahrhaftigkeit schätzte Bresson seine tierischen »Modelle« – die Katze in Les Anges du péché, den Hund und die Tauben in Procès de Jeanne d’Arc, den Hasen in Mouchette, den Esel in Au hasard Balthazar, die Pferde in Lancelot du Lac – womöglich höher als seine besten Laiendarsteller.17 Zwar folgte ihm der Esel nicht, wie Anne Wiazemsky erzählt: »Mehr als eine Stunde lang hatte Robert Bresson auf den Esel eingeredet und ihn angefleht, und das angesichts des gesamten Teams, das kurz vor einem hysterischen Lachkoller stand. Entmutigt gab er auf: ›Er hört nicht auf mich‹.«18 Aber er wusste genau, warum er solche kommunikative Unerreichbarkeit in Kauf nahm: Der Esel war das ideale »Modell«. Daher bestand Bresson darauf, die Zirkusszenen, für die der Esel dressiert werden musste, mehrere Monate nach dem vorläufigen Abschluss der Dreharbeiten zu filmen; der Esel sollte nicht durch 15 Anne Wiazemsky: Jeune fille, München 2009, S. 139. 16 Ebd., S. 140 f. Vgl. auch Robert Bresson: Notizen zum Kinematogra-

phen, S. 88. 17 Vgl. Sulgi Lie: Kreatürliches Kino. Zur ästhetischen Egalität in Robert

Bressons Tierbildern, in: Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, hg. v. Maren Möhring/Massimo Perinelli/Olaf Stieglitz, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 63–78. 18 Anne Wiazemsky: Jeune fille, S. 135.

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Übungen zum Schauspieler gemacht werden. Auch Michael Haneke – der Bressons Werk viel verdankt – betonte, die »Modell«Theorie habe in Au hasard Balthazar ihre »klarste und stimmigste Ausformung« gefunden. Denn in diesem Film sei der »Held« auf der Leinwand »kein zur Identifikation anstiftender Charakter, der uns Gefühle vorlebt, die wir nachempfinden dürfen, sondern eine Projektionsfläche, ein unbeschriebenes Blatt, dessen einzige Aufgabe es ist, mit den Gedanken und Gefühlen des Zuschauers gefüllt zu werden. Dieser Esel spielt uns nicht vor, dass er traurig ist oder leidet, wenn das Leben ihm zusetzt – nicht er weint, wir weinen über eine Ikone der erzwungenen Duldsamkeit, gerade weil sie nicht wie ein Schauspieler mit der Sichtbarmachung ihrer Gefühle hausiert. Das Tier Balthazar und die in ihre scheppernden Rüstungen eingesperrten Ritter aus dem späteren Lancelot du Lac sind Bressons überzeugendstes ›Modell‹, weil sie per definitionem unfähig sind, uns etwas vorzumachen.«19

3. Zu Recht bemerkt Donald Richie, dass Bresson – ebenso wie die Dogma-Gruppe – nicht immer seinen eigenen Regeln gefolgt sei, zum Beispiel der Regel, dass Filmmusik nur von sichtbaren Instrumenten gespielt werden dürfe. »Yet Bresson often uses music in his films and the visible instruments are few, among them the portable pop in Au hasard Balthazar, the caféloudspeakers in Mouchette, the brasserie jazz in Le Diable probablement, the recorded classical music in Une femme douce, the radio guitar in Quatre nuits d’un rêveur, the ›Benedictus‹ and bagpipe in Lancelot du Lac, pianoplayed Bach in L’Argent. Most of the other music in Bresson’s films is played by, as it were, invisible instruments: those of Monteverdi, Bach, Mozart, Purcell, Lully.«20

Freilich konzediert Richie, Bresson habe es vermieden, Musik bloß als Begleitung, Unterstützung oder Verstärkung einzusetzen; er habe Musik stets als »Information« verstanden, »in the same way 19 Michael Haneke: Schrecken und Utopie der Form. Bressons »Au ha-

sard Balthazar«, in: Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer, Berlin 2008, S. 135–153, hier S. 142 f. 20 Donald Richie: Bresson and Music, in: James Quandt (Hg.): Robert Bresson. Cinematheque Ontario Monographs No 2, Ontario/Bloomington 2000, S. 299–305, hier S. 299.

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Abbildung 8: Robert Bresson: Au

Abbildung 9: Klagemauer mit

hasard Balthazar (1966)

Gebetszetteln ( Jerusalem)

as other sounds were used«.21 Die Effekte dieser Auffassung demonstriert Richie an der Verwendung des Kyrie aus der c-MollMesse Mozarts (KV 427) in Un condamné à mort s’est échappé und des Magnificat aus Monteverdis Vespro della Beata Vergine (1610) in Mouchette, bevor er die Funktionen Schuberts in Au hasard Balthazar kommentiert: »In Balthazar the protagonist is not only young and innocent, but an animal as well, a donkey, alien from the human world he must inhabit. Nor can he speak – except through the music of Franz Schubert. This identification is plainly stated at the beginning of the film when the introduction to the slow movement of the piano sonata (no. 20 D 959) is interrupted by the brayings of Balthazar. The film’s opening image is that of the protagonist as a baby, Balthazar being nursed by his mother. The Schubert fades and we hear sheep bells. At the end we will again hear the bells, and as the donkey dies, will realize, that the film has encompassed his life. When Balthazar appears, Schubert appears; this visitation is not invariable but it occurs often enough that we perceive the connection. [. . .] Schubert is representative of the otherwise inexpressible.«22

Richies Beschreibungen sind freilich nicht ganz korrekt. Schuberts Sonate wird nicht erst hörbar, sobald der kleine Esel gezeigt wird, sondern schon während des Vorspanns, in dem die Schriftzeichen auf eine Mauer projiziert werden (Abbildung 8), die der Zuschauer mit der Klagemauer assoziieren könnte: als eine Mauer, in der Gebetszettel stecken wie Schreie (Abbildung 9). Das Schreien (crier im Französischen) ist ja mit dem Schreiben (écrire) ebenso verwandt wie das Brüllen des Esels (brailler, englisch: braying) mit dem Beten (prier, englisch: praying). Auch beginnt die Musik nicht mit den ersten Takten des langsamen zweiten Satzes der A-Dur-Klaviersonate (»the 21 Ebd., S. 299. 22 Ebd., S. 302.

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introduction to the slow movement«), sondern mit Takt 69. Das Andantino ist ja – in seiner dreiteiligen A-B-A-Struktur – gebaut wie ein Lied; doch was zunächst mit einer traurigen Melodie in fismoll (Teil A) beginnt, wird (in Teil B) jäh kontrastiert von chromatischen Arpeggien und verminderten Septakkorden in Fortissimo, die noch den zaghaften Versuch einer Rückkehr zum Thema immer wieder – in weit auseinandergezogenen Lagen und maximaler Lautstärke – unterbrechen. In Teil B des Andantino dominieren Skalen und Akkorde, Unterbrechungen, die wie musikalische Schreie wirken, bevor im dritten Teil des Satzes das Liedthema wieder aufgenommen wird. Wenn also Donald Richie behauptet, dass wir mit Bressons Hilfe Schuberts Musik besser verstehen – »We can even understand what Schubert is saying. He speaks of a simpler time, of an age, gone by, he sings of nostalgia«23 – hat er Recht und Unrecht zugleich. Tatsächlich kommentiert Bresson das Andantino der A-Dur-Sonate, doch eben nicht als nostalgischen Gesang. Daher beginnt er mit Teil B des langsamen Satzes, zunächst von Takt 69 bis Takt 94, wo das Klavierspiel (in einer Aufnahme des Pianisten und Musikschriftstellers Jean-Joël Barbier) vom Eselsschrei unterbrochen wird, um danach fortzusetzen bis Takt 108, zur akustischen Überblendung der Musik in den Klang der Schafsglocken. Die Anfangsmelodie des langsamen Satzes (Teil A) erklingt ein wenig später, nach der Taufe Balthazars, während zwei Namen genannt werden: Jacques und Marie. Zuvor schon erklingt der leitmotivisch häufig wiederkehrende Ruf – »Marie, Marie!« –, der in gewisser Hinsicht den Zusammenhang mit der bekannten Umschrift des Eselsschreis – »I-Ah, I-Ah« – ebenso zitiert wie preisgibt. Gewiss kannte Bresson die christliche Bedeutung des Esels und seine Assoziation mit Maria: Auf einem Esel ritt die Gottesmutter nach Bethlehem, Ochs und Esel standen an der Krippe, auf einem Esel floh die heilige Familie nach Ägypten; und vielleicht kannte er sogar die musikalischen Konnotationen des Esels, wie sie der Bonner Musikwissenschaftler Martin Vogel in kenntnisreichen Untersuchungen zu Chiron und zu Onos Lyras, dem Esel mit der Leier, dargestellt und analysiert hat.24

23 Ebd., S. 302. 24 Vgl. Martin Vogel: Onos Lyras. Der Esel mit der Leier, Düsseldorf

1973; derselbe: Chiron. Der Kentaur mit der Kithara, Bonn/Bad Godesberg 1978.

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Abbildung 10: Robert Bresson: Au hasard Balthazar (1966)

Robert Bresson hat das Andantino Schuberts in eine Beziehung zum Göttlichen (»Marie, Marie!«) und zum Eselsschrei gestellt, aber auch zu einer Reihe anderer Klänge: zu den Glocken der Lämmer, zum Moped Gerards, zu den Geräuschen der Pumpe, die der Esel mühsam im Kreisgang bewegt (Abbildung 10), um Wasser aus dem Brunnen des Getreidehändlers (gespielt von Pierre Klossowski) zu fördern, Wasser, das er selbst zu trinken verweigert. Die Kontraste des zweiten Satzes der A-Dur-Sonate werden also interpretiert im Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Gott, Tier und Mensch, aber auch im Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Körpern und Maschinen (wie dem Moped und der Wasserpumpe). Gerade die mechanischen Geräusche kommentieren – ebenso wie der Mittelteil des Andantino – die Ausdrucksformen des Eselsschreis, der zumeist nicht wie die Vokalisierung von I und A klingt, sondern wie ein Knarren, Scheppern, Rasseln, Quietschen und Pumpen. Musik wird nicht als Medium der Begleitung, Induktion oder Verstärkung von Gefühlen genutzt, sondern tatsächlich als vielgestaltige Information. Der Film ›bedient‹ sich nicht bei der Musik Schuberts; er will sie nicht nur verstehen, sondern versucht vielmehr, sie zu interpretieren: den Bruch, der das traurige Lied in der Mitte zerreißt, in »the wildest outburst of fantasy Schubert ever committed to paper«, »the most ›irrational‹ piece of music the composer ever wrote. The movement is the only one in all of Schubert’s sonatas labeled andantino, a determination that may also differentiate the film’s pace from the allegro of the three that precede it. The donkey’s braying halts the frenetic buildup of this movement, shifting the perceptual mode of the listener, and spectator, from the entangled web of Romantic discord to the clarity and simplicity of a single voice. Indeed the primary musical theme heard intermittently has a slow, ambling, but persistent rhythm that parallels the way Balthazar moves.«25 25 Tony Pipolo: Robert Bresson: A Passion for Film, Oxford/New York

2010, S. 186.

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Abbildung 11: Jean-Pierre und Luc Dardenne:

Le Silence de Lorna (2008)

4. Die formale Konstruktion der Beziehungen zwischen Bild und Ton in Bressons Film führt – anstatt das Auge dem Ohr, oder das Ohr dem Auge zu unterwerfen – zu kreativen intermedialen Anreicherungen, die nicht nur die Erscheinung des Esels mit Schuberts Musik, sondern eben auch das Andantino mit dem Eselsschrei verschränken. Seitdem ich Au hasard Balthazar gesehen habe, gelingt es mir nicht mehr, den langsamen Satz der A-Dur-Sonate ohne den rätselhaften Tierlaut in Takt 94 zu hören. Der Eselsschrei referiert auf Schubert, und Schubert erzählt zunehmend zwingend vom Leben eines Esels. Der Film wird reicher durch die Musik, aber auch die Musik wird reicher durch den Film. Dieser Effekt lässt sich ebenso genau an neueren Filmen studieren, etwa am achten und bisher letzten Film der belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne: Le Silence de Lorna (2008, Abbildung 11). Die beiden Brüder Dardenne sind wohl – neben Haneke – die wichtigsten Vertreter eines zeitgenössischen Kinos im Sinne Bressons; und Le Silence de Lorna ist darüber hinaus ein Film über Stimme, Ton und Musik. Kurz die Geschichte: Sie handelt von einer jungen Albanerin – großartig verkörpert von Arta Dobroshi –, die durch die Scheinehe mit dem drogensüchtigen Claudy ( Jérémie Renier, der bereits die Hauptrolle in L’Enfant gespielt hatte, einem Film der Brüder Dardenne, der 2005 mit der Palme d’Or in Cannes ausgezeichnet wurde) die belgische Staatsbürgerschaft erwirbt. Eingefädelt wurde die Ehe von Fabio (Fabrizio Rongione), der die frischgebackene Belgierin am liebsten sofort mit einem reichen Russen verheiraten würde: im Zuge von Eheschließungen als einer Art von Pyramidenspiel. Doch Claudy will keine schnelle Scheidung; der Junkie klammert sich an Lorna und versucht sogar, von den Drogen loszukommen. Er wird

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brutal aus dem Weg geräumt. Ein ähnliches Schicksal scheint Lorna bevorzustehen, die – gegen alle ärztlichen Befunde – ein Kind von Claudy zu erwarten glaubt; sie wird verschleppt, doch schafft sie es, ihren Fahrer und Bewacher niederzuschlagen und aus dem Auto in den Wald zu fliehen. Was bis zu diesem Moment als nüchtern-unsentimental fortschreitender Prozess der Entdifferenzierung von Praktiken des Waren- und Menschenhandels gezeigt wird, bricht während der abschließenden Sequenz im Wald schlicht ab: zugunsten des allmählichen Aufbaus einer irrealen, märchenhaften Szenerie. Der Straßenlärm verschwindet, es wird still. Lorna wendet sich dem unsichtbaren, womöglich imaginären Kind in ihrem Leib zu, während sie auf mühsam eroberte Zugehörigkeiten verzichtet, auf ihre Position in einer Welt aus Arbeit, Geld, Abhängigkeiten und Zweckbeziehungen. Sie bricht in eine verlassene Hütte ein, findet Schutz und eine Stimme, mit der sie sich selbst – und ihrem Kind – Mut zuspricht: »Ich kann uns ein Feuer machen. Ich geh uns ein paar Zweige suchen.« Im Freien zwitschert ein Vogel, und sie fragt: »Hörst du das? Ich werde dich nicht sterben lassen. Niemals. Ich habe deinen Vater sterben lassen, aber du wirst leben.« Sie entzündet das Feuer, verschließt das Fenster mit einem Tuch: »Wir werden jetzt schlafen, und morgen früh gehen wir weiter. Dann suchen wir uns was zu trinken und zu essen. Wir gehen in irgendein Haus und fragen. Du kannst ganz beruhigt sein: Irgendjemand wird uns schon was geben.« Sie stellt zwei Holzbänke nebeneinander, um sich zum Schlafen hinzulegen; und im selben Augenblick – das Stichwort lautet »geben« – erklingen die ersten Takte des zweiten Satzes von Ludwig van Beethovens letzter Klaviersonate in c-Moll (op. 111): das Adagio molto semplice e cantabile (C-Dur), zunächst im 9/16-Takt. Kurze Pause. »Schlaf gut«, sagt Lorna, und fasst an ihren Bauch. Sie liegt, seitlich gekrümmt, auf den beiden Bänken, endgültig abgedichtet gegen den gesamten Kosmos. Das Bild wird ausgeblendet, und mit dem Abspann beginnt nochmals der zweite Satz von Beethovens Klaviersonate op. 111. Konsequenter und strenger als Bresson oder die Dogma-Gruppe haben die Brüder Dardenne bisher auf die Verwendung von Musik in ihren Filmen verzichtet; die Anfangstakte der Beethoven-Sonate bilden eine große Ausnahme. Wie Schuberts Andantino in Au hasard Balthazar kann das Thema der Variationen in op. 111 auch als Kommentar zu Beethoven gehört werden, als Erinnerung an Stille

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und Schweigen, die der Errichtung eines Innenraums folgen. In diesem Innenraum ist Lorna geschützt vor der Welt; erst in diesem Innenraum kann sie sprechen und ein Selbstverhältnis entwickeln, das einer Schwangerschaft gleicht. Ist es erlaubt, diesen Innenraum Lornas mit dem kreativen Innenraum des tauben Komponisten zu vergleichen? Die Stille Schuberts mit dem Schweigen Balthazars? Vielleicht geht es darum, eine elementare »Verwandtschaft« zu »finden zwischen Bild, Ton und Stille. Ihnen den Anschein geben, als gefiele es ihnen miteinander, als hätten sie ihren Platz gewählt. Milton: Silence was pleased.«26 Und vielleicht wird diese Verwandtschaft im Sinne Bressons (oder Miltons) gerade am Anfang und Ende eines Films besonders deutlich gespürt: wenn die Schriften zu Bildern werden und – als Vorspann oder Nachspann – die Kinoleinwand auszufüllen beginnen.

Literatur Beckett, Samuel: Film/He, Joe, Frankfurt a. M. 1968. Bloch, Ernst: Der Rücken der Dinge, in: Spuren [1930], Frankfurt a. M. 1969, S. 172–175. Bogdanovich, Peter: Allan Dwan: Der letzte Pionier, in: Wer hat denn den gedreht? Gespräche mit Robert Aldrich, George Cukor, Allan Dwan, Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Chuck Jones, Fritz Lang, Joseph H. Lewis, Sidney Lumet, Leo McCarey, Otto Preminger, Don Siegel, Josef von Sternberg, Frank Tashlin, Edgar G. Ulmer und Raoul Walsh, Zürich 2000. S. 57–154. Bresson, Robert: Notes sur le cinématographe, Paris 1988. In deutscher Übersetzung: Notizen zum Kinematographen, hg. v. Robert Fischer, Berlin 2007. Fischer, Robert (Hg.): Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 2003. Haneke, Michael: Schrecken und Utopie der Form. Bressons »Au hasard Balthazar«, in: Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer, Berlin 2008, S. 135–153. Lie, Sulgi: Kreatürliches Kino. Zur ästhetischen Egalität in Robert Bressons Tierbildern, in: Tiere im Film. Eine Menschheitsgeschichte der Moderne, hg. v. Maren Möhring/Massimo Perinelli/Olaf Stieglitz, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 63–78. 26 Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen, S. 50.

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Pipolo, Tony: Robert Bresson: A Passion for Film, Oxford/New York 2010. Richie, Donald: Bresson and Music, in: James Quandt (Hg.): Robert Bresson. Cinematheque Ontario Monographs No 2, Ontario/ Bloomington 2000, S. 299–305. Sudmann, Andreas: Dogma 95. Die Abkehr vom Zwang des Möglichen, Hannover 2001. Vogel, Martin: Onos Lyras. Der Esel mit der Leier, Düsseldorf 1973. Vogel, Martin: Chiron. Der Kentaur mit der Kithara, Bonn/Bad Godesberg 1978. Wiazemsky, Anne: Jeune fille, München 2009.

Filmographie Passion de Jeanne d’Arc (Regie: Carl Theodor Dreyer, Frankreich 1928). Gertrud (Regie: Carl Theodor Dreyer, Dänemark 1964). Les Anges du péché (Regie: Robert Bresson, Frankreich 1943). Journal d’un curé de campagne (Regie: Robert Bresson, Frankreich 1951). Un condamné à mort s’est échappé (Regie: Robert Bresson, Frankreich 1956). Au hasard Balthazar (Regie: Robert Bresson, Frankreich/Schweden 1966). Mouchette (Regie: Robert Bresson, Frankreich 1967). Lancelot du Lac (Regie: Robert Bresson, Frankreich 1974). Blackmail (Regie: Alfred Hitchcock, England 1929). Film (Regie: Samuel Beckett in Zusammenarbeit mit Alan Schneider, 1964). L’enfant sauvage (Regie: François Truffaut, Frankreich 1969). L’Enfant (Regie: Jean-Pierre u. Luc Dardenne, Belgien 2005). Le Silence de Lorna (Regie: Jean-Pierre u. Luc Dardenne, Belgien 2008).

›Weiche‹1 Musikvideos oder: Von Intermedialität zu produsage Beate Ochsner (Konstanz)

Als Dieter Daniels vor nunmehr über zehn Jahren vermutete, dass der Wettstreit zwischen Kunst und Technik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle des Wettstreits der Künste getreten sei, stand weder die Bestimmung des Gewinners, noch die Entscheidung, ob die technische Innovation erst die künstlerische erzeugt oder die artistischen Modifikationen erst die Voraussetzung für die Entstehung neuer Technologien bilden, im Vordergrund seiner Fragestellung.2 Vielmehr ging es um die Erkenntnis, dass die im Kontext der Avantgarden des 20. Jahrhunderts erprobte Korrelation künstlerischer Arbeit mit neuen Techniken die produktiven Interferenzen zwischen verschiedenen Medien wie auch ihren Gattungen und Stilen auf besondere Weise hervortreten lässt.3 1 Der Begriff des »weichen« wird hier in Anlehnung an die von Lev

Manovich formulierte These vom Weich- oder Soft-Werden der Medien im Zusammenhang der Digitalisierung analoger Medien und der damit einhergehenden Auflösung von Medien- und Genregrenzen verwendet. Vgl. Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge 2001, S. 133. 2 Vgl. Dieter Daniels: Der Multimedia-Paragone, in: Akademie der Künste (Hg.): Klangkunst, München 1996, S. 247–250, online unter: http://netzspannung.org/database/150875/de, 23. 12. 2009. 3 Eine im politischen Sinne formulierte Absage an monomediale Einstimmigkeit liefern im Bereich des Films visuelle Symphonien, dadaistische Experimente sowie das reine oder das absolute Kino der 1920er und 30er Jahre, der amerikanische Experimentalfilm der 1950er und 60er Jahre, das Expanded Cinema der 1960er und 70er und die Britische Avantgarde der 1980er Jahre. Im Kontext intermedialer Verbindungen von Musik und Bild hebt Daniels vor allem die Arbeiten John Cages hervor, der mit seiner entgrenzenden Gleichsetzung von Klängen und Geräuschen und der Einführung der Aktion in die Musik sowohl auf die Bedeutung der (unabhängigen) performativen Ebene wie auch auf die enge und im folgenden besonders relevante Verbindung von akustischer und optischer

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Beate Ochsner

Die Geschichte des Musikvideos scheint diese historische Tendenz zunehmender intermedialer Konvergenz und Komplexität zunächst fortzuschreiben, doch auf die anfänglich digitale (Wieder-)Aufbereitung oder remediation früherer Visionen der IntermediaKunst folgt eine grundlegende Veränderung unserer kulturellen Alltagspraxis und damit auch der Produktion, Distribution und Rezeption des Musikvideos.4 Die wechselseitige Bedingtheit unterschiedlicher medialer und kultureller Techniken deute sich – so Daniels weiter – bereits in Eric Saties musique d’ameublement an, die als Tonkunst im Rahmen einer veränderten Aufmerksamkeitsstruktur zwangsweise nach eye-catchern verlange: »Kein Hit mehr ohne Clip? Musik muss sich mittlerweile visualisieren, um noch zu einem identifizierbaren und damit kaufbaren Produkt zu werden. Der MusikClip ist eine Konsequenz aus unserem intermedialen Alltag.«5 Letztlich aber, so Steve Reiss und Neil Fineman, seien zumindest Pop- und Rockmusik nie frei von visuellem Input gewesen, wie die häufig ökonomische Verbindung von Musik mit Mode, Life-Style, bestimmten Tanzbewegungen, musikalischer Aufführungspraxis, Magazinberichterstattungen, Film- oder Fernsehbeiträgen als einer »subconscious world of sources«6 beweise.7 Tatsächlich scheinen weder die Daniel’sche Banalisierungsthese noch der von Régis Debray beschriebene mediologische Übergang in zwei Phasen – zunächst Huldigung, dann Vertreibung – der Komplexität der oben genannten Beziehungen zwischen intermedialer Kunst, kommerzieller Produktion sowie massenindustrieller und gleichzeitig zunehmend personalisierten Formen populärer Kultur gerecht zu werden. Wenn die oben angesprochenen bzw. weiter unten aufzuzeigenden künstlerisch wie auch politisch ambitionierten intermedialen und eklektizistischen Musikvideos in ihrer neuen In-

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Dimension aufmerksam gemacht habe. Auf intermediale Konstellationen zwischen Musik und (in diesem Falle elektronischem) Bild verweist auch der Titel der ersten Videokunstausstellung Nam June Paiks Exposition of Music? Electronic Television (1964 in Wuppertal), die z. T. bereits Interaktionen des Benutzers mit Klang- und Bildmaterial visierte. Vgl. D. Daniels: Der Multimedia-Paragone. Ebd. Steve Reiss/Neil Fineman: Introduction, in: dies.: Thirty frames per second: the visionary art of the music video, New York 2000, 0:00:11. Vgl. ebd.

›Weiche‹ Musikvideos

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ternet-Heimat womöglich geringere Aufmerksamkeit erhalten, so scheint die Eigenproduktion von Videos im Rahmen einer nichtprofessionellen Selfmade- und Recycling-Kultur und mit Hilfe anderer user bzw. auf der Basis der Bereitstellung entsprechender opensource tools auf immer größere Resonanz zu stoßen. Diese grundlegende Veränderung findet eine theoretische Basis in den Ansätzen der Cultural Studies und darunter vor allem im Verständnis John Fiskes, demzufolge »popular culture [. . .] the art of making do with what the system provides«8 zu beschreiben ist. Die bekannte These von der Populärkultur als Ort des Widerständigen findet ihren Ausdruck in Formen subversiver Mediennutzung, wie Fiske im Folgenden beschreibt: »I want to theorize popular pleasure as occuring at that interface between the powerbearing apparatuses and the intransigent social experiences of the subordinated groups. [. . ..] There is a double pleasure here, the pleasure of socially pertinent meanings the subordinate, as opposed to the dominant, meanings of subordination and powerlessness, and the pleasure of being involved, being productive, in the making of these meanings.«9

Das ungleiche Machtverhältnis zwischen einem »power block« und den »people«10 bzw. die Subversion durch untergeordnete und unterlegene Gruppen steht bei Fiske im Vordergrund seiner kulturwissenschaftlichen Analysen. Eine solche grundlegende soziologische Theorie des Verbraucher- oder Alltagsverhaltens bzw. derjenigen Strategien und Taktiken, die eine solche Populärkultur erst ermöglichen, findet sich auch in Michel de Certeaus Kunst des Handelns ausführlich beschrieben.11 Die zentrale Denkfigur bildet dabei das 8 John Fiske, zit. nach Eggo Müller: Pleasure and Resistance: John

Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie, in: montage/av 2/1 (1993), S. 52–66, hier: S. 63, online unter: http://www.montage-av. de/pdf/021_1993/02_1_Eggo_Mueller_Pleasure_and_Resistance .pdf, 29. 11. 2009. 9 John Fiske: Reading the popular, Boston 1989, S. 183. 10 Mit »the people, [. . .] I refer to this shifting set of social forces or social allegiances, which are described better in terms of people’s feit collectivity than in terms of extemal sociological factors.« John Fiske: Popular television and commercial culture: Beyond political economy, in: Gary Burns/Robert Thompson (Hg.): Television studies: Textual analyses, New York/Westport/London 1989, S. 21–37, hier: S. 23. 11 Vgl. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (Original: Arts de Faire, Paris 1980).

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sogenannte aktive Konsumieren im Sinne einer »andere[n] Produktion, die als Konsum bezeichnet wird«12 . In diesem Sinne muss der Konsument nicht als passiver Abnehmer, sondern als aktiver Produzent begriffen werden, der allein durch seine Produktauswahl an seiner Identität »bastelt«. De Certeaus Unterscheidung zwischen der machtorientierten Strategie als fortschreitender Kontrolle von Raum und Zeit und der subversiven Taktik als Ausnutzung der entstehenden Lücken, Unwägbarkeiten und Inkonsistenzen einer vorgegebenen spatio-temporellen Ordnung beschreibt die kulturelle Produktion oder »culture making«13 als einen Prozess kontinuierlicher Zirkulation, innerhalb dessen die Rezipienten (= Produzenten) in ihrer spezifischen Aneignung kulturindustrieller Produkte eine eigene kulturelle Ökonomie mit zum Teil sehr unterschiedlichen und zuweilen nonkonformen Lebensformen und Subkulturen entwickeln. Durch den alltäglichen und differierenden Gebrauch kommerzieller Kultur stellen die Benutzer Sinn und Bedeutung einer abweichenden Populärkultur her, deren Interessen sich die Kulturindustrie zwangsläufig mehr oder weniger beugen muss. Weniger politisch und deutlich stärker ökonomisch motiviert beschreibt Axel Bruns eine ähnliche Art der Produktion, die er – in Weiterentwicklung des von Alvin Toffler geprägten Begriffes des prosumers14 – als produser bzw. produsage bezeichnet, worunter er »[t]he collaborative, iterative, and user-led production of content by participants in a hybrid user-producer, or produser role«15 verstehen möchte. Dabei ist zu jedoch zu beachten: »The processes of produsage are often massively distributed, and not all participants are even aware of their contribution to produsage projects; their motivations may 12 Ebd., S. 13. 13 J. Fiske: Reading the popular, S. 1. 14 Vgl. Alvin Toffler: Die dritte Welle, Zukunftschance. Perspektiven für

die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, München 1983 (Original: The third wave, 1980). 15 Axel Bruns: Towards produsage: Future for user-led content production, in: Fay Sudweeks/Herbert Hrachovec/Charles Ess (Hg.): Cultural Attitudes towards Technology and Communication, Perth 2006, S. 275– 284, hier: S. 275. Vgl. ebenso Axel Bruns: Anyone can edit. Vom Nutzer zum Produtzer, in: kommunikation@gesellschaft. Journal für alte und neue Medien aus soziologischer, kulturanthropologischer und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive 10 (2009), online unter: http://www.kommunikation-gesellschaft.de/, 30. 12. 2009.

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be mainly social or individual, and still their acts of participation can be harnessed as contributions to produsage.«16 Mit dem Wechsel der Musikvideos ins Inter- bzw. vor allem ins so genannte »Mitmach«-net Web 2.0 sowie den damit einhergehenden ökonomischen wie auch ästhetischen Modifikationen können – wie generell im Kontext der Diskussionen um das social net – nun nicht nur die technologischen Grundlagen der zunehmenden Hybridisierung von Produktion, Distribution und Rezeption im Bereich kultureller Produktion offengelegt werden, es besteht hier auch die Möglichkeit aufzuzeigen, inwieweit die vielfach geäußerten Hoffnungen oder auch Befürchtungen im Kontext des Web 2.0 sich am konkreten Beispiel der Entwicklung und potentiellen Zukunft des Musikvideos sowie seiner produser bestätigen oder falsifizieren lassen: Lässt sich anhand der zunehmenden Verlagerung des Musikvideos ins Internet tatsächlich die häufig angepriesene basisdemokratische und populäre produsage-Kultur aufzeigen oder aber entpuppt sich der Medienwechsel als primär marketingträchtiges Re-Auratisierungs- und, um in der Metaphorik des Titels zu bleiben, ästhetisch eher anspruchsloses ›Weichspülprogramm‹? Schauen wir uns zunächst Beispiele komplexer intermedialer Musikvideos an, um dann zur weiteren Entwicklung dieses Produkts nach seiner ›De-Platzierung‹17 ins Internet überzugehen.

1. Intermedialität als ästhetisches Verfahren »[D]ie Faszination, die [. . .] vom Video- oder Music-Clip ausgeht, verdankt sich sicherlich dem hybriden Charakter dieser Kunstform, die ein Paradebeispiel für Intermedialitätsverhältnisse darzustellen scheint.«18

Im Zusammenspiel von Bild, Musik und literarischem Text stellt das Musikvideo offensichtlich eine Gattung dar, in der mehrere mediale Formen zusammentreffen. Gleichwohl bedeutet die Rede 16 Axel Bruns im Interview mit Henry Jenkins, online unter: http:

//henryjenkins.org/2008/05/interview_with_axel_bruns.html, 1. 1. 2010. 17 Vgl. hierzu Maureen Turim: The Displacement of Architecture in Avant-Garde Films, in: Iris 12 (1991), S. 25–38. 18 Michael Wetzel: Von der Intermedialität zur Inframedialität. Marcel Duchamps Genealogie des Virtuellen, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital, München 2008, S. 137–154, hier: S. 139.

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vom intermedialen Musikvideo nicht, Eulen nach Athen zu tragen, trifft diese Bezeichnung doch nur dann zu, wenn im Kontext des Zusammenspiels der verschiedenen Medien über ein reines Nebeneinander oder Formen von mixed media hinausgehend komplexe interaktionelle Beziehungsgefüge konstituiert werden, im Rahmen derer neue und vor allem produktive intermediale Differenzen aufscheinen können. So können z. B. die auf der Basis verschiedener Animationstechniken wie Stop Motion, Rotoscoping oder CGI entstandenen Musikvideos wie A-Has Clip Take on Me (1985), der als zweites Video zu diesem Song in die Heavy Rotation bei MTV gelangte, das 2004 entstandene Video zu Breaking The Habit der Gruppe Linkin Park sowie das von Tommy Pallotta produzierte Video zum Song Destiny (2001) von Zero 7 als intermedial bezeichnet werden.19 Ein anderes, berühmtes Beispiel für ein intermediales Musikvideo stellt Michel Gondrys Clip zum Song Je danse le MIA der Gruppe IAM (1995) dar, in dem sich – wie übrigens in zahlreichen Gondry’schen Musikvideos – eine narrative Interaktion zwischen Elementen des Tones (hier dem rhythmischen und rhythmisierenden Klatschen) und dem Bild etabliert, das mit jedem Klatschen weiter in die durch die (Kamera-)Bewegung entstehende Geschichte einzoomt. Ein letztes Beispiel aus dieser Gruppe stellt Antoine Bardou-Jacquets Musikvideo für den Song The Child (1999) von Alex Gopher dar, in dem mit verschiedenen intermedialen Konstellationen von Schrift und Bild kongenial gespielt wird: Während Plot, Figuren und Dialoge sowie die Visualisierung in Form bewegter Bilder der Welt des Films zuzuordnen sind, stammen die aus einzelnen Buchstaben und Wörtern gebildeten Akteure, Autos, Häuser, Brücken und Straßen aus der Welt der Schrift. Die Typographie korrespondiert und verstärkt deren semantische Bedeutung und bildet so eine weitere Ebene zwischen Film- und Schriftbild. Beschreibungen oder Gedanken werden ebenso wie verschiedene Geräusche ins Off verlagert. Das Video wurde 2004 in Düsseldorf ausgestellt und gilt als eines der 100 einflussreichsten und künstlerisch ambitioniertesten Videos der Geschichte. 19 Der CGI -Technik bedient sich u. a. die Gruppe Gorillaz, die auf

diese Weise nicht nur die Videos selbst, sondern auch ihr eigenes Erscheinungsbild programmiert. Die Band besteht übrigens aus dem Blur-Sänger Damon Albarn sowie dem Tank-Girl-Zeichner Jamie Hewlett.

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2. Die neuen Musikvideos im Internet Sicherlich hätte man noch weitere, durchaus ebenso komplexe oder gar komplexere Beispiele erwähnen können, dies aber möchte ich mir an dieser Stelle sparen und lediglich auf zahlreiche Publikationen zu diesem Thema verweisen.20 Von größerer Relevanz für unseren Ansatz erscheinen mit die im Rahmen des Internets und des Web 2.0 sich eröffnenden Möglichkeiten des Musikvideos zu sein, wie sie sich aus dem Spannungsfeld zwischen experimentell anspruchsvoller und revolutionärer Videokunst mit Verweisen auf Avantgarde-, Experimental- und Undergroundfilm, massenkulturell wirksamer Promotion für den Tonträger, den Musiker, den Regisseur, der entsprechenden Warenwelt und dem Life-Style-Gesamtpaket abzeichnen. In den 1980er und auch noch 1990er Jahren präsentieren sich Musikvideos innovativ und subversiv inszeniert, was nicht zuletzt mit der von Felix Guattari beschriebenen deterritorialisierenden und kaum signifizierenden kulturellen Form der Musik zusammenhängt, die Bedeutungsstrukturen aufbricht und umformt.21 Die Fähigkeit, Emotionen zu wecken und unmittelbar zu befriedigen, wird dabei von Anfang an und mehr oder weniger unkritisch an den Promotionszweck rückgebunden.22 Seit dem 20 Hier nur stellvertretend: Veruschka Bódy/Peter Weibel (Hg.): Clip,

Klapp, Bum. Von der visuellen Musik zum Musikvideo, Köln 1987; Ulrike Bergermann/Felix Holtschoppen (Hg.): Clips. Eine Collage, Münster/Hamburg 2004; Matt Hanson: Re-inventing Music Video. Next-generation directors, their inspiration and work, Mies 2006; Saul Austerlitz: Money for nothing. A History of the Music Video from the Beatles to the White Stripes, New York/London 2007; Henry Keazor/Thorsten Wübbena: Video thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen, Bielefeld 2007. Vgl. auch das Programm und die Ergebnisse des Forschungsworkshops Die Bedeutung populärer Musik in audiovisuellen Formaten, der vom 5.–6. 2. 2009 an der Universität Basel stattfand. Hier wurde u. a. der Frage nachgegangen, welche Funktion die Musik bzw. die Musikvideos in verschiedenen Mediengattungen und Genres sowie in sozialen Bedeutungsgefügen einnehmen. Die Vorträge und Diskussionen bezogen sich jedoch in erster Linie auf die Produkte selbst und weniger auf die Frage nach der Produktion. 21 Vgl. Felix Guattari: Molecular Revolution: Psychiatry and Politics, New York 1984. 22 Gleichzeitig warnt Lawrence Grossberg schon zu Beginn der Musikvideo-Ära vor dem »death of the rock culture« und für den

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Ende der 1990er Jahre und den damit einhergegangenen Modifikationen im Musikfernsehen sowie der Abwanderung des Musikvideos ins Internet ist ein radikaler Wandel zu konstatieren, der nicht nur die Produktion der Clips beeinflusst, sondern auch die erweiterten Möglichkeiten auf Vermarktungsplattformen wie YouTube, Dailymotion, Myvideo, antville.org oder in sozialen Netzwerken wie Facebook, MySpace oder OpenSocial (Google) zur Diskussion stellt.23 Die Digitalisierung spielt hier generell eine entscheidende Rolle, wobei zwischen der digitalen Bearbeitung oder Produktion einzelner Musikvideos und einer wesentlich weiter greifenden Digitalisierung kultureller Techniken unterschieden werden muss, wie sie sich im Kontext der Verortung des Musikvideos im Internet zeigt: So geht es nicht allein um die digitale Simulation verschiedener Medien, sondern um eine grundlegende ›De-platzierung‹ des Musikvideos im Internet sowie damit einhergehende grundlegend modifizierte Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen. Diese neuen Konditionen – so Jan Kühnemund – scheint besonders Lady Gaga begriffen zu haben. So revolutioniere der unter der Regie von Jonas Åkerlund entstandene, zehnminütige Kurzfilm zur Single Telephone das Popgeschäft, indem z. B. die Musik vom Video entkoppelt werde und auf diese Weise die neuen Spielregeln des Internets bediene.24 Freilich haben wir diese Innovationen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen bereits in Michael Jacksons Thriller oder auch in der kongenialen Zusammenarbeit zwischen Chris Cunningham und Aphex Twin (z. B. bei Come to Daddy [1997] oder auch Windowlicker [1999]) erlebt, gleichwohl verstehe die neue Diva des Pop die »Funktionsweisen des Web 2.0 besser [. . .] als die meisenglischen Musikkritiker Biba Kopf markiert jeder Clip »eine Station jenes Kreuzwegs, an dessen Ende die Kreuzigung der gesamten Popmusik steht.« Vgl. Justin Hoffman: Das Musikvideo als ökonomische Strategie, in: xCult. Texte für Kultur und Medien, http://www.xcult.org/texte/hoffmann/videoclips.html, 13. 7. 09. 23 Vgl. YouTube 2005, dailymotion 2005, MyVideo 2006, Musikfernsehen: DeluxeMusic 2005, bunch.tv 2005 (auch in Second life), motor.tv 2007, balcony.tv 2007, urban.tv 2007 (seit 2009 auch online), tape.tv 2008, sony BMG musicbox (2008); soziale Netzwerke wie Facebook 2004, studivz 2005, MySpace 2006 (Schwerpunkt Musik) u. v. m. 24 Vgl. Jan Kühnemund: So geht Musikvideo heute: Lady Gaga, in: ZEIT online vom 23. 3. 2010, http://www.zeit.de/kultur/musik/ 2010-03/lady-gaga-telephone, 14. 4. 2010.

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ten«25 : So komponiere sie ihre Clips im Hinblick auf die Größe des YouTube-Fensterchens oder Handy-Displays, indem Details einen größeren Bildanteil besetzen und sie die Möglichkeiten des Spiels mit der Unschärfe ästhetisch gezielt einsetze, auch wenn – so der Autor – das Video letztlich in erster Linie die Konvention erfülle, unkonventionell zu sein. Was nun für manche das Ende des Musikvideos indiziert, begreifen andere vielmehr als dessen digitale (Wieder-)Auferstehung im Rettermedium Internet; dieses Mal nur in anderer Form, als Teil der neuen produsage-Kultur nämlich, die das »Weich-Werden« der Medien »in einer neuen, punkigen Form«26 anzupreisen scheint: »Hier [im Internet, B. O.] wird eine neue Art von Kunst geschaffen, irgendwo einzuordnen zwischen Kurzfilm, Experiment und Parodie. Gruppen wie ICKE & ER oder MUSHFILO geben alle pseudoharten Gangsterrapper mit ihrem grandiosen Song/Clip Fi**en, Geld, Drogen, Nutten der Lächerlichkeit preis.«27

Ganz nebenbei avancieren in diesem Umfeld Self-made-Musiker wie ICKE & ER zu Rockstars mit ausverkauften Tourneen, und tatsächlich wurde ihr Track Richtig geil (2007) mehrere zehntausend Male heruntergeladen.28 Den so genannten Home-made-Look verwenden freilich auch bereits bekannte Bands, und das ausgesprochen erfolgreiche hausgemachte Video für OK Go Here it goes again (2006) gilt als Meilenstein dieser Entwicklung. Es wurde über 31 000 000 Mal auf YouTube abgespielt und angesehen und konnte zahlreiche Preise gewinnen. Und galt das bereits 1998 von Spike Jonze produzierte Video zu Fatboy Slims Praise you (1998) anfänglich noch als Außenseiter, so avanciert dieses Video mit seinem hausgemachthandwerklichen Stil zu einem richtungsweisenden Modell, wie sich

25 Ebd. 26 Thilo Gosejohann: Die große Gleichberechtigung. YouTube – und wie

es dazu kam, in: Deadline 03 (2009), S. 52–53, hier: S. 53: »Der MusikClip drohte beinahe auszusterben, da kam die Rettung durch das Internet. Nur in einer neuartigen, punkigen Form.« 27 Ebd., S. 53. Gosejohann prognostiziert, dass es in »nicht allzu ferner Zukunft [. . .] mit Sicherheit die ersten YouTube-Classics-Filmtage geben« (ebd., S. 53) wird. 28 ICKE & ER : Richtig geil (2007), online unter: http://www.you tube.com/watch?v=a0zwlds5JtMV, 31. 12. 2009.

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auch im Photo-to-Movie-Video zum Song Reklamation von Wir sind Helden (2003) zeigt.29 Der unerwartete und kaum zu kalkulierende Erfolg bescherte dem Berliner Duo des Weiteren zahlreiche Presseartikel und Fernseh-beiträge, obwohl bis Ende Oktober 2006 noch nicht einmal eine Single veröffentlicht wurde. Dies liegt am Konzept des so genannten »viralen Marketing«,30 das mit Hilfe der aufmerksamkeitssteigernden Möglichkeiten sozialer Netzwerke und Medien neue Helden erschafft, wie dies auch der Gruppe Tekkan widerfahren ist, deren selbstgedrehtes und bei YouTube eingestelltes Video zum Song Wo bist du mein Sonnenlicht? binnen kurzer Zeit Kultstatus erreichte und den jungen Männern kurzzeitig sogar einen Plattenvertrag bei Universal einbrachte.31 Parallel zur Abwanderung des Musikvideos aus den gängigen Musikfernsehsendern wie MTV oder VIVA werden die Videos nun auf Wunsch von den entsprechenden Internetplattformen wie zum Beispiel YouTube, Dailymotion, MyVideo oder videocure.com abgerufen oder auf Online-Musiksendern wie tunespoon.tv, putpat.tv, tape.tv, Deluxe Music, Sputnik7 oder dem Musikvideo-Portal PutPat angeschaut. Desweiteren bieten zahlreiche Fernsehsender Mediatheken mit mehr oder weniger guten Archivdiensten an. Hilfe bei der Suche bieten auch Seiten wie Findvideos oder dessen deutsches Pendant Popzoot, bei denen entsprechende Links gesammelt werden. Gleichzeitig können sich die user natürlich auch eigene Playlisten oder Programme zusammenstellen oder, wenn ihnen dies lieber ist, Musiksender per Videostream empfangen. An dieser Stelle vom Verschwinden des Musikvideos zu sprechen wäre eine, wie Bernhard Steinweg vermutet, »verkürzte und sentimentale Sichtweise«32 : 29 Online unter: http://www.youtube.com/watch?v=jJ03IjzY2m8,

31. 12. 09. 30 Vgl. Markus Roder in einem Interview mit Sandra Goetz: Viral

Marketing fuels Communities, 2007, in: http://www.adzine.de/de/ site//17721/page/newsletter.xml#pos79323, 1. 1. 2010. 31 Die Originalversion des Videos ist nur noch als Aufruf zum Wettbewerb zu sehen (http://www.youtube.com/watch?v=Y02VC BvZPlw, 31. 12. 2009), daneben existiert eine offizielle Studioversion (http://www.youtube.com/watch?v=Mue6Vc_T9Ds, 31. 12. 2009) sowie zahlreiche Parodien unterschiedlicher Qualität und Provenienz. 32 Bernhard Steinweg: Beyoncés Toilette, in: ZEIT online vom 14. 11.

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Heutzutage sei Popmusik – so der Autor weiter – ein Gebrauchsartikel und dies spiegele sich in unterschiedlichen Hör- (und Seh-!) gewohnheiten sowie verschiedenartigem Musikkonsum wider, und derjenige, der auf den richtigen Plattformen oder auch in den Musikvideoarchiven von Yahoo und Rhapsody sucht, kann so gut wie jeden Clip und vor allem zu jeder Zeit und – je nach Mobilität des Gerätes – an jedem Ort sehen und hören. So führt der Ortswechsel des Musikvideos zwar nicht zu dessen Ende, gleichwohl sollte er nicht als einfache lokale Verlagerung begriffen werden; vielmehr zeigt sich, dass das Dispositiv Internet dem traditionell für das Musikfernsehen produzierten sowie mittels des gleichen Mediums distribuierten und rezipierten Musikvideo entscheidende neue Impulse gibt und einen – Enthusiasten zufolge – kreativen Umgang der Fan-prod-user mit den Clips erzeugt. Einer der innovativen Aspekte lässt sich unter dem Stichwort Interaktivität verzeichnen, die – so sie beim Musikvideo auftritt – nach Francois Fluckiger in vier Punkte oder Anpassungsgrade unterteilt werden kann:33 Erstens kann der user den Zeitpunkt des Betrachtens frei wählen, zweitens kann er den Ablauf des Videos bestimmen, drittens kann er die Geschwindigkeit der Wiedergabe beeinflussen und zuletzt kann der prod-user auch die Form des Videos manipulieren.34 Die Idee eines solcherart freien und kreativen produsers basiert auf einer offenen Akteur-Netzwerk-Struktur, die die Reziprozität des Beziehungsgeflechts organisations-förmiger und natürlicher Rezipienten und Akteure fördert, so dass jene permanent zwischen Produktion und Rezeption wechseln und ihnen mithin keine festen Plätze mehr zugewiesen werden können.35 Dies konstatiert auch Isabelle Arvers in ihrer Eröffnungsrede zu Game Time (2004): 2006, online unter: http://www.zeit.de/online/2006/46/bilder galerie-mtv, 31. 12. 2009. 33 Vgl. François Fluckiger: Multimedia im Netz, München/London 1996, S. 69. 34 Vgl. hierzu die Diplomarbeit von Thorsten Konrad: Schöne neue Welt, 2007, in: http://www.takethisdance.com/, vom 13. 7. 2009. 35 Vgl. u. a. Anna T. Theis-Berglmaier: Der vernetzte Computer als Herausforderung für die Kommunikationswissenschaft und –praxis. Zur Relevanz von Begriffen für das Begreifen von Entwicklungen, in: dies. (Hg.): Internet und die Zukunft der Printmedien: Kommunikationswissenschaftliche und medienökonomische Aspekte, Münster/Hamburg/ London 2002, S. 216–246.

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»A new generation of creators is born. This is the ›home made‹ generation that grew up with video games, 3D & manga animation, Internet and electronic music. Their creations tend to break the frontiers between artistic disciplines from the traditional art world, to cinema, music, web, animation and games. Moviemakers become game designers, graphic designers become movie makers, multimedia engineers, video Clips makers and musicians, multimedia authors.«36

Das Konzept findet seinen Niederschlag in der großen Anzahl der mit Hilfe der von professionellen Webseitenbetreibern oder Produzenten bereitgestellten Software in Eigenarbeit produzierten, gemashten oder gemoddeten Videos auf YouTube. So wirbt z. B. MTV2 mit einem MusikVideoSpiel-Morphing für das Modding generell: »Yes, you can have your cake and eat it too: video games and music videos all in one morphed mix. MTV2’s Video Mods transforms music videos by injecting a unique video game environment and featuring characters from one or even a few video games.«37

Leider aber funktionieren die weiterführenden Links auf dieser Seite nicht mehr, und der stets beispielhaft genannte Video Mod zu Franz Ferdinands Take me out mit verschiedenen Szenen aus den Star Wars-Episoden wurde von YouTube.de aus rechtlichen Gründen gesperrt.38 Während Günther Anders Mitte der 50er Jahre die Idee, den Zuschauer zum »Heimarbeiter«39 zu degradieren, noch anprangerte, so stößt das Beschäftigungsverhältnis der Internet-users als FreizeitMitarbeiter seit einiger Zeit auf wachsendes Interesse. Mit dem 2006 von Outsourcing abgeleiteten Begriff des Crowdsourcing oder der Schwarm-auslagerung bezeichnen die Wired-Autoren Jeff Howe 36 http://www.isabelle-arvers.com/texts/gametime_curatorship.rtf,

31. 12. 09. 37 http://www.mtv.com/ontv/dyn/video_mods/series.jhtml, 31. 12.

2009. 38 Das Video enthält Inhalte von Domino Records und ist in

Deutschland nicht mehr verfügbar. Der OriginalClip im DadaLook ist weiterhin unter http://www.youtube.com/watch?v= xZGcw9HHOkU, 31. 12. 2009, einzusehen. 39 In seiner pessimistischen Medienkritik Die Antiquiertheit des Menschen bezeichnete Günther Anders den Fernsehzuschauer als »Heimarbeiter«. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, München 1987, S. 103.

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und Mark Robinson jene basisdemokratische Arbeitsteilung auf freiwilliger Basis: »Crowdsourcing [nutzt] die Weisheit der Masse, indem zu lösende Problemstellungen an Freizeitarbeiter im Internet abgegeben werden.«40 Das Prinzip ist ebenso einfach wie faszinierend und besteht darin, komplexe Aufgaben in Teilaufgaben zu zerlegen, von digital vernetzten Gruppen unabhängig von Ort und Zeit lösen zu lassen und die Ergebnisse zum Schluss wieder zusammenzufügen. Eine solche Arbeitsteilung wird im Falle der Video Mods oder auch Mashes vorwiegend in Bezug auf Hilfesuche und Diskussionen über die selbst produzierten Videos in Blogs oder sozialen Netzwerken realisiert. Die Gruppe Radiohead zeichnet sich einmal mehr durch ihre kreative Herangehensweise aus und stellt ihr außergewöhnliches Video zu House of Cards (2008), das von Aaron Koblin (technischer Direktor) und James Frost ohne Kamera und Licht, sondern statt dessen mit Hilfe zweier neuer IT-Verfahren produziert wurde, die das Licht durch Laserscans so einfangen, dass detaillierte 3DDarstellungen von aufgezeichneten Objekten und der umliegenden Umgebung wiedergegeben werden können: »Solche neuen Wege der Datenvisualisierung, die fernab von traditionellen Mustern liegen, interessieren uns sehr,«41 so Kay Oberbeck, Sprecher von Google Nordeuropa, auf dessen Plattform das Video selbst wie auch den Film zum Making-Of-Video sowie entsprechende Anweisungen zur Nutzung der ebenfalls kostenlos downloadbaren Visualisierungssoftware präsentiert wird. Der innovative Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen, die marketingträchtige Aufforderung an die User, eigene Videos zu kreieren,42 schafft gleichzeitig eine 40 Susanne Stauch: KREATIVE ENTFESSELUNG – Eine sozio-

kulturelle Betrachtung der Verdrängung des paralysierten Empfängers durch den partizipatorischen Sender, 2008. Es handelt sich um eine theoretische Diplomarbeit, die im August 2008 im Fachgebiet Produktdesign an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee angefertigt wurde. Sie ist online einzusehen unter: http://goldprodukt.de/individualized/wp-content/uploads/2008/ 09/kreative-entfesselung_susanne-stauch.pdf, 31. 12. 2009. 41 Overbeck, zit. nach »Radiohead dreht Musikvideo ohne Kamera und Licht«, in: Computerwoche vom 15. 7. 2008, online unter http://www.computerwoche.de/hardware/home-it/1868664/, 17. 08. 2010. 42 »If you manage to create a data visualization that you’d wish to share, the band would love to see it. You can share your videos on

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Kundenbindung, die die (vordergründige) Identifikation mit der Band, letztlich aber auch diejenige mit Google fördert. Die mittlerweile 94 zum Teil erstaunlich guten Ergebnisse können unter der angegebenen Webseite der auf 501 Personen angewachsenen Radiohead-Gruppe eingesehen werden.43 Von der Brisanz des Themas Musikfernsehen im Internet im allgemeinen und dem offensichtlich ökonomischen und weniger basisdemokratischen Interesse professioneller Produzenten zeugt auch die Allianz der MTViGroup mit den fünf großen Musiklabels sowie das von AOL Time Warner Deutschland und VIVA großangelegte Joint Venture bezüglich der Onlinepräsenz www.viva.tv und des zweiten Fernsehkanals Viva+.44 Unter dem Titel »MTV Pushes Interactive Limits«45 beschreibt Sandra Garcia die interaktive Experimentierfreude beim New Yorker MTV -Sender: Die digitale Revolution sei in vollem Gange, und das Online-Team MTV.com verschiebe die Grenzen des Mediums immer weiter. Für die [»Awards« ist Plural] MTV Video Music Awards wurden 21 Musikvideoregisseure (darunter auch solch namhafte Vertreter wie Hype Williams, Michel Gondry oder Floria Sigismondi) mit führenden Digitaldesignern zusammengebracht, um eine interaktive Galerie digitaler Kurzfilme – music digitals oder digital shorts – zu erstellen, die die verschiedenen Kategorien der VMA repräsentieren sollten. Darüber hinaus wurden einige Webeos – d. h. »full length, interactive online music videos« – the House of Cards YouTube group.« [http://code.google.com/ intl/de-DE/creative/radiohead/, 31. 12. 2009] Das Video war 2009 für den Grammy nominiert (Best Short Form Music Video), in England für das beste Rock Video (Best Rock Video) und mit einem Preis des British Design Museum Awards versehen. 43 Online unter http://www.youtube.com/group/houseofcards, 31. 12. 2009. Anmerkung des Herausgebers: YouTube Groups sind leider ab dem 1. Dezember 2010 nicht mehr im Netz abrufbar. 44 Auch Deutschland, so konstatiert H. Poganatz, spüre den Wandel, das Web gerate durch kurze Trickfilme oder animierte WerbeClips immer mehr in Bewegung: »Das Netz wird dem Fernsehen immer ähnlicher.« Hilmar Poganatz: Das Web gerät in Bewegung, in: Welt online, 27. 9. 2000, online unter: http://www.welt.de/print-welt/ article535405/Das_Web_geraet_in_Bewegung.html, 31. 12. 2009. 45 Sandra Garcia: Music Video Directors go digital for ’99 Video Music Awards, in: Shoot Magazine, 24. 9. 1999. Die entsprechende Webseite http://www.nwpainc.com/2005/music-video-internet.html vom 3. 7. 2009 ist leider nicht mehr verfügbar.

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produziert,46 für die Kim I. Morgan, Senior Producer bei MTV, Stars wie Busta Rhymes, Moby oder Björk mit entsprechend exzellenten Regisseuren und Digitaldesignern zusammenbrachte, um so einen »uniquely savory approach to interactivity« 47 zu garantieren: »You have to orchestrate a completely different paradigm of creation. [. . .] It’s an exercise in aesthetic and interactive juxtaposition. We went for combinations that either emphasized aesthetic similarities across the parties or cool dissimilarities it’s that delicate process of fit.«48

Während die Zuschauer des Björk-Webeos I’ve seen it all unter der Regie von Floria Sigismondi auf Text- und Tonebene eingreifen können, beschränken sich die anderen beiden Beispiele, Busta Rhymes’ Make Noise und Mobys Porcelain auf Collage, Audiovariationen oder Animation: Besonders im Björk-Webeo sieht man Effekte des Autorentools, dessen Bilder auf die frühe Filmsprache verweisen: »Bemerkenswert ist, dass das Auge und Blickvorrichtungen als Leitmotiv den Clip durchziehen. Anfangs entströmen Björks Augenhöhlen Kugeln, die wie Glühwürmer den post-kinematographischen Raum in sanftes Licht tauchen. Später bilden ornamentale Lamellen in der Form eines Blendenverschlusses den Rahmen für das Bild.«49

Das allgemeine Urteil des soeben zitierten Krystian Woznicki bezüglich der künstlerischen Qualität der Webeos fällt jedoch eher pragmatisch aus: »Dass die Webeos und i-Clips von MTV nicht unbedingt an die Videokunst im Experimentiergeist der 60er Jahre anknüpfen, war auch zu erwarten gewesen. Betrachten wir das Experiment mit den Online-Clips also auf seinem eigenen Terrain, aus der besonderen Position, die MTV in der Entertainment-Welt einnimmt.«50 46 Auch dieser Link, http://hyperphonic.com/webeos/, 3. 7. 2009),

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funktioniert aktuell (Zugriffsversuch am 31. 12. 2009) leider nicht mehr. Leider ist auch diese Seite mit der Rede Kim I. Morangs, von 1998– 2001 Senior Producer bei MTVN Digital/MTV .com, online unter http://www.kimimorgan.com/mtv_digital.html, 3. 7. 2009, nicht mehr verfügbar. Ebd. Krystian Woznicki: Mit Björk im Bitstream. MTV spielt mit Formaten zur WWW-gerechten Umsetzung von Video-Clips, in: Telepolis vom 8. 9. 2000. Ebd.

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Wie bereits mehrfach erwähnt – und dies bestätigt Woznicki zumindest aus Sicht der professionellen Produzenten – lassen sich von diesen Ende der 90er Jahre ambitionierten Projekten kaum noch Hinweise im Netz finden. Doch nicht nur Fernsehsender reagierten und provozierten den Wandel: Digitaldesigner (zum Beispiel Brilliant) oder Softwareunternehmen wie Shockwave, Magix und Macromedia werben seit 1999 für so genannte I-Clips (interaktive Clips), Webeos, multiple internet videos,51 digital shorts, digital music und viele andere Formate des Musikvideos. Der Softwareproduzent Magix zum Beispiel reagierte mit einem Wettbewerb und der Auspreisung der zehn gelungensten I-Clips, die sich als Online-Pendant zum klassischen TV-Clip verstehen sollten. Im Rahmen des Popkomm-Wettbewerbs 2005 engagierte Magix Teams, deren Teilnehmer sich aus vierzig Designhochschulen rekrutierten.52 Das als Resultat eines Vertrages zwischen Digital HipHop und Island Def Jam Music Group entstandene multiple internet video zu Ja Rules Song 6 feet Underground verweist direkt auf das dahinterstehende Marketingkonzept: Auf mehr als dreihundert Seiten (inklusive VH-1, Yahoo, Warner Bros. On-line, Roadrunner, USA Networks und Lycos) distribuiert, fordert das animierte 3D-interaktive online-Musikvideo Besucher dazu auf, Objekte zu lokalisieren und auf diese Weise verschiedene Merchandise-Gegenstände zu 51 Vgl. hierzu auch: Ja Rule, 6 feet Underground als animierte 3D-

interaktive online-Musik oder Multiple Internet Video als Resultat eines Vertrages zwischen Digital HipHop und Island Def Jam Music Group. Vgl. die Meldung in Business Wire vom 8. 2. 2001, online unter: http://www.thefreelibrary.com/Island+Def+ Jam+Music,+Brilliant+Digital+Entertainment+and+Digital... -a071061904, 31. 12. 2009. 52 Katja Bittner, Direktorin der Popkomm, kommentiert: »Die Bedingungen, unter denen Musik und Musikvideos konsumiert werden, befinden sich in einem radikalen Umbruch. Die Popkomm bietet dem MAGIX-iClip-Award 2005 ein Forum, weil wir glauben, dass hier an der Schnittstelle von Musik und Film ein Stück Zukunft entstanden ist«, in: http://www1.messe-berlin.de/ vip8_1/website/Internet/Internet/www.popkomm/deutsch/Pres se/Pressemitteilungen/index.jsp?lang=0&newslang=de&newssys_ id=19010&source_oid=14074&year=2005, 31. 12. 2009. In der Jury waren neben Smudo von den Fantas, Tita von Hardenberg oder auch Jürgen Jaron, CEO der MAGIX AG .

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gewinnen oder aber käuflich zu erwerben. Ein neues Level ökonomisch motivierter Partizipation53 schafft auch das ausschließlich für das Internet produzierte Video Nicotine & Gravy (2000) von Beck, das mit dem letzten Bild direkt in den e-commerce-shop auf Becks Website führt: »Just another hyper kinetic MTV offering«54 oder spielerische Rückkehr zu den kommerziellen Ursprüngen des Musikvideos? Aber können die Grenzen zwischen Kunst, Kommerz, Werbung, Spiel, Video, Kurzfilm etc. im multiple internet video überhaupt noch reklamiert werden? Das e-mercial für den Mercedes GLK kommt ebenso als interaktives Computerspiel und Musikvideo daher wie das weiter unten besprochene (angeblich) erste interaktive Musikvideo Neuruppin (2008) der Gruppe KIZ : »Der Nutzer [fährt] mit dem neuen GLK durch eine urbane Szenerie und ist aktiv an der Gestaltung der Umgebung und des Songs Taken away des Hamburger Elektro-House-Duos Digitalism beteiligt. Setting und Fahrzeug sind komplett in CGI (Computer Generated Imagery) erstellt. [. . .] So verändern Umgebung und Objekte, an denen der GLK vorbeisteuert, ihre Form, so bald der Nutzer mit ihnen interagiert und empfinden die kantige Linienführung des GLK nach. Die Interaktion mit den Objekten verändert gleichzeitig auch die Musik. Ähnlich eines Remixes wird der Song durch neue Sound-Effekte modifiziert. [. . .] Der user kann sich während der Fahrt im Musikvideo seinen Lieblings-GLK selbst zusammenstellen.«55 53 Für Digital HipHop ergab sich so eine Kombination mit Brilliant

Digital, die sie auf einem »new level of participation« direkt in das »center of young american culture« befördern und die Zukunft für Musikprogrammierung im Netz darstellen sollte. (»Island Def Jam Music Agrees to Multi-Song Internet Production Deal for Ja Rule, DMX and Jay-Z With Digital HipHop Studio«, online unter http://www.thefreelibrary.com/Island+Def+Jam+Music+Agrees +to+Multi-Song+Internet+Production+Deal...-a066657558, 19. 08. 2010). 54 Matthew Mirapaul: TECHNOLOGY : Music Videos Enter the Digital Age, in: The New York Times vom 21. 8. 2000, online unter: http://www.nytimes.com/2000/08/21/business/technolo gy-music-videos-enter-the-digital-age.html?pagewanted=1, 31. 12. 2009. 55 Vgl. Daimlers euphorische Pressemeldung unter: »MercedesBenz startet interaktives Webspecial zur Einführung des GLK« (Stuttgart, 16. 05. 2008), online unter: http://media.daimler.com/ dcmedia/0-921-1097729-49-1082771-1-0-0-0-0-0-11701-854 934-0-1-0-0-0-0-0.html, 19. 08. 2010, Hervorhebungen B. O.

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Während sich die von Fluckiger prognostizierte Interaktivität und Beteiligung des produsers im Falle des Mercedes-Spots auf die freilich limitierte individuelle Ausgestaltung seines neuen Fahrzeuges beschränkt, rühmt sich das angeblich erste interaktive Musikvideo Neuruppin von KIZ, produziert von der Bremer Agentur Kubikfoto, explizit damit, »ganz bewusst Grenzen« zu überschreiten.56 Damit sind zum einen mediale Grenzen zwischen Musikvideo und Computerspiel gemeint, zum anderen aber auch Tabugrenzen in Bezug auf Gewalt und Sexualität. Gleichwohl hält sich die hier vorgestellte Interaktivität doch an das vergleichsweise enge Ziel des Spieles, die Bandmitglieder im Video aufzufinden. Die Musik hingegen ist nicht zu manipulieren. Mit der grundlegenden Aufforderung zur aktiven Partizipation produzierte die britische Plattenfirma EMI das Musikvideo zur neuen Singleauskopplung Something beautiful von Robbie Williams, das einen Wettbewerb zeigt, bei dem Fans für den Titel des besten Robbie-Imitators antreten. Da per SMS gewählt wurde, sind es letztlich die Fans selbst, die sowohl den besten Imitator wie auch den Schluss des Videos bestimmen während die erste Version mit der Aufforderung zu Wahl endet, sieht die zweite ein Treffen zwischen Robbie Williams und dem Gewinner an einer Bushaltestelle vor. Diese Version allerdings fällt in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich aus. Als Grund für diese einer Reality-Show ähnelnden Produktion gab man an, dass Robbie Williams selbst zu beschäftigt gewesen war, um das Video zu produzieren.57 Das spanische Musikvideo Pintando una Canción von Labuat lädt zum gemeinsamen Singen und Malen ein,58 wobei der Zuhörer/ 56 Ole Leifels und Holger F. Weber von Kubikfoto, zitiert n. »Ers-

tes interaktives Musikvideo: K. I. Z. ›Neuruppin‹«, online unter: http://www.mzee.com/newscenter/show.php?artikel=1000 74858, 19. 08. 2010. Weitere interaktive Clips finden sich z. B. unter http://www.getinteractive.tv/getinteractive/?adid=20089915 185684, 31. 12. 2009. 57 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=3gcXFQNeOMY, 31. 12. 2009. 58 Vgl. http://soytuaire.labuat.com/, 31. 12. 2009. Offensichtlich sind diese und andere interaktive, spielerische Musikvideos im Bereich der Musikpädagogik schon länger beheimatet, wie mir die Musikwissenschaftlerin Elena Ungeheuer (Berlin) dankenswerterweise mitteilte.

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-schauer per Mausbewegung die Visualisierung der Musik (wenn auch in geringem Maße!) beeinflussen kann. Bei genauerem Hinsehen fällt die Ähnlichkeit zu Brendan Croskerrys Me and Miss Rand auf: Vermutlich nutzen beide Videos das gleiche construction kit für animierte VektorClips. Eine andere interaktive bzw. personalisierende Verbindung von Video und Web 2.0 stellt das von Thorsten Konrad u. a. realisierte realtime mashup-musicvideo-Projekt Take this dance and forget my name (2007) dar, in dem ein traditionelles Musikvideo mit Daten aus sozialen Plattformen wie Google.org, flickR, geonames.org und Maxmind in Echtzeit angereichert wird. Dabei wird die IP-Adresse des Betrachters ermittelt und an Maxmind gesendet. Der von dort eruierte Aufenthaltsort wird an Webdienste wie Google und FlickR weitergegeben. Falls die Ermittlung des Ortes erfolgreich war, senden die APIs (application programming interfaces oder »Schnittstellen zur Anwendungsprogrammierung«) diejenigen Daten zurück, die dann im Video erscheinen. Sollte die Identifikation fehlschlagen, sieht man die Daten der Weltstadt New York. In diesem Projekt einer Verbindung traditioneller linearer Medien mit dem Web 2.0 gerät der Begriff der Interaktivität zumindest insofern in eine Schräglage, als es nicht um eine Aktivität des users geht – jener soll sich entspannt zurücklehnen und genießen – sondern um verschiedene Anwendungen sowie deren Daten, die unterund miteinander interagieren.59 Dieser sicherlich unvollständigen Übersicht möchte ich mit einem letzten Beispiel für die intermedialen, interaktiven, digitalen MusikSpielAnimationMachinimaCommercialSelfmadekurzfilme im Internet beenden. Es handelt sich dabei um eine Produktion der Fountainhead Entertainment, die mit zwei Machinima-Produktionen bekannt wurde. Machinima, ein Begriff, der aus der Verschmelzung von machine, cinema und animation entstanden ist, verbindet Techniken des Films mit denjenigen der Animation und des Computerspiel-Designs. Als erstes Machinima-Musikvideo gilt das Mash-upVideo zu In the Waiting Line der Gruppe Zero 7 und dem Sci-FiSpielfilm Sidrial, erstellt mit Hilfe eines point-and-click software package namens Machinimation, das über das Computervideospiel Quake III verteilt und auf MTV gezeigt wurde. Es finden sich parallel dazu 59 Auszuprobieren unter: http://www.takethisdance.com/, 31. 12.

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ein offensichtlich professionell produziertes Video,60 zu dem jedoch leider keine weiteren Angaben gefunden werden konnten, sowie zahlreiche Coverversionen, in denen verschiedene junge Menschen den Song nachsingen und sich selbst dabei auf der Gitarre begleiten.61 Da alle diese Aufnahmen sich in auffallender Weise ähneln, kann man davon ausgehen, dass sie sich gegenseitig kopierten. Ein gleichfalls ähnliches, in Eigenarbeit entstandenes, gespieltes und gesungenes Musikvideo liefert die YouTube-userin Missthai (2007),62 eine rotoskopierte Coverversion dieser Coverversion produziert der user Ockstarray noch im gleichen Jahr.63 Diese »classic new wave music video[s]«64 – so Kathrin Peters und Andrea Seier – erhalten das Musikvideo zum einen als solches, verformen oder parodieren es jedoch gleichsam mit dem Schwerpunkt audiomedialer Referenz.65 Gleichzeitig – so die Autorinnen weiter – werden diese Videos von MTV oder der Werbung wiederaufgegriffen oder re-used66 und generieren auf diese Weise ein Archiv von Posen und Formaten, das die Ähnlichkeit der Selfmade-Videos untereinander erklären mag und gleichzeitig einen gänzlich neuen Aspekt von Kanonisierung als ständige Verhandlung eröffnet, wie er sich anhand des YouTubeeigenen Starsystems unternehmerischer Selbste zeigt, die im Kontext der zirkulären Struktur von Rezeption, Distribution (mit oder ohne Kommentierung) und, erneut, (Re-)Produktion entstehen – und vergehen.

60 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=72H5pNHPagQ,

31. 12. 2009. 61 Vgl. u. a.: http://www.youtube.com/watch?v=BbT_UE49Ksk,

62 63 64

65

66

http://www.youtube.com/watch?v=-bI-WfnYi3U, http:// www.youtube.com/watch?v=v-dImLf3Hq4, alle 31. 12. 2009. Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=hVDIYYl81Bs, 31. 12. 2009. Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=36LWN7TM6lY, 31. 12. 2009. Vgl. Kathrin Peters/Andrea Seier: Home Dance. Mediacy and Aesthetics of the Self on YouTube, in: Pelle Snickars/Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader, Stockholm 2009, S. 187–203, hier: S. 191. Ebd. Zum Stichwort der Automedialität vgl. Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, München 2008. Ebd., S. 193, Anm. 13.

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3. Conclusio Kehren wir nach diesen beispielhaften Ausführungen zu unserer eingangs formulierten Frage nach der qualitativen Veränderung im Bereich des Musikvideos im Besonderen bzw. der kulturellen Produktion im Allgemeinen zurück. Im Sinne der bereits erwähnten, von Lev Manovich als »deep-remixability«67 bezeichneten MedienTechnik-Kultur könnte das so genannte »Weichwerden« der Mediengrenzen wie auch der kulturellen Techniken als durchaus heterogenes Recycling kultureller Produktions-, Distributions- und Rezeptionstechniken in einem Hyper-Apparat beschrieben werden und so den von Jay Bolter und Richard Grusin geprägten Begriff der remediation68 ersetzen: »My thesis about media remixability applies both to cultural forms and the software used to create them. Just as the moving image media made by designers today mix the formats, assumptions, and techniques of different media, the toolboxes and interfaces of the software they use are also remixes.«69

Tatsächlich geht es in diesem Konzept nicht mehr (nur) um die mit remediation oder hypermediacy beschriebene mediale Wiedereinführung bzw. re-entry. Auch die häufig zitierte »cultural cannibalization«,70 mithin das als musikvideospezifischen »Umgang mit anderen Kulturen« zu verstehende »gegenseitige [. . .] Sichaufes67 Lev Manovich: Deep remixability, online unter: http://pzwart.

wdka.hro.nl/mdr/pubsfolder/manovichessay/, 19. 08. 2010. Wie am Ende des Aufsatzes vermerkt, handelt es sich bei diesem Text um das Ergebnis der Research Fellowship in Media Design am Piet Zwart Institut in Rotterdam (http://www.pzwart.wdka.hro.nl): »This logic is one of remixability: not only of the content of different media or simply their aesthetics, but their fundamental techniques, working methods, languages, and assumptions. United within the common software environment, cinematography, animation, computer animation, special effects, graphic design, and typography have come to form a new metamedium.« 68 Vgl. Jay Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding new Media, Cambridge 2000. 69 Lev Manovich: Deep remixability, online unter: http://pzwart.wdka. hro.nl/mdr/pubsfolder/manovichessay/, 19. 08. 2010. 70 Jody Berland: Sound, Image and Social Space: Music Video and Media Reconstruction, in: Simon Frith u. a. (Hg.): Sound And Vision. The Music Video Reader, London/New York 1993, S. 25–43, hier: S. 37.

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sen, Ausscheiden, Koprophagieren«71 vermag zwar die kulturellästhetische, nicht aber gleichermaßen die technologische Dimension zu fassen, die Winfried Gerling folgendermaßen beschreibt: Alle Elemente folgten den Gesetzen der Digitalität, deren zentrales Prinzip in der »wechselseitige[n] mathematische[n] Beeinflussbarkeit der zusammengeführten Medien«72 liege. Tatsächlich galt schon im künstlerischen Einsatz das Medium Video als »mehrdimensionale Schnittstelle zwischen herkömmlicher und zukünftiger Bilderproduktion«73 und beeindruckte weniger durch spezifische Eigenschaften, denn durch die formale und inhaltliche Adaptationsfähigkeit. Das von Gerling beschriebene »reale Zusammenwachsen der Medien« bzw. die Zusammenführung aller Daten auf einer digitalen Basis, die gleichermaßen Kalkulierbarkeit und mithin stetige Wiederhol- und gleichzeitige Transformierbarkeit garantiert, trifft auf sozio-mediale Bewegungen und Trends, wie sie sich – so unsere These – in einer derzeitigen in vorgegebenen Hard- oder SoftwareRahmen vornehmlich auf Personalisierung ausgerichteten SelfmadeKultur niederschlagen, die im »Mitmachinternet« – Marcus Theurers Begriff für das Web 2.074 – eine Art sanktionsfreies Spielfeld für allerlei weich gewordene Medienhybride findet. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der von Axel Bruns geprägte und hier stark gemachte Begriff der produsage vom Autor selbst nicht explizit auf die kulturelle Produktion angewendet wird, gleichwohl erscheint das Konzept in unserem Kontext von be71 Kollektiv blutende Schwertlilie (alias Jutta Koether und Diedrich

Diederichsen): Wenn Worte nicht mehr ausreichen. Was will das Video, und wer sind seine Eltern?, in: V. Bódy/P. Weibel (Hg.): Clip, Klapp, Bum, S. 242–263. 72 Winfried Gerling: Verstärker. Fotografie im Musikvideo, in: nach dem film 08 (2005), http://www.nachdemfilm.de/content/verstärker-0, 19. 08. 2010. Vgl. hierzu auch Beate Ochsner: Zwischen Intermedialität und Hybridisierung oder: Zum Phänomen kalkulierter Freiheit, in: Medienwissenschaft 4 (2008), S. 378–387 (erscheint in ausführlicherer Form in: Andy Blättler/Doris Gassert/Susanna Parikka/Miriam Ronsdorf (Hg.): Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung. Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte, Bielefeld 2010. 73 Gerda Lampalzer: Videokunst. Historischer Überblick und theoretische Zugänge, Wien 1992, S. 123 und 128. 74 Marcus Theurer: Digitale Auferstehung, in: F.A.Z. vom 20. 9. 2007, Nr. 219, S. 16.

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sonderem Belang, da das Musikvideo im (wie gesehen) weitesten Sinne als Artefakt75 wie auch als kommerzielles Promotionsinstrument von Beginn an zwischen ökonomische und gleichermaßen ästhetische Produktions-, Distributions- wie auch Rezeptionsbedingungen fällt, wie sie in dem von Pierre Bourdieu beschriebenen populären Spektakel mit individueller Teilnahme des Zuschauers am Stück und kollektiver Teilnahme am Fest erkennbar werden.76 Nun besteht der französische Soziologe auf der grundlegenden Differenz dieser Art »gewöhnlicher Alltagseinstellung« (»low culture«) und der »genuin ästhetische[n] [d. h. mit Distanz operierenden, B. O.] Einstellung«77 gegenüber Kunstprodukten (»high culture«), die freilich einerseits der Wahrung des sogenannten Bildungskapitals dient, andererseits jedoch von primär marketingorientierten und in diesem Sinne re-auratisierenden Reproduktionsmechanismen nicht ausgenommen werden kann, wie Bourdieu in einer Kritik an Adorno aufzeigt.78 Geht man nun davon aus, dass dieses Kapital im Kontext der soeben aufgezeigten neuen produsage – oder Artefaktkultur prekär zu werden scheint, dann in erster Linie deshalb, weil hier das Monopol der Unterscheidung zwischen symbolischem und Massenmarkt, das bislang der institutionell legitimierten Kunst zugesprochen wurde, in Frage gestellt wird.79 Darüber hinaus ist in gleichem Maße am Erfolg einer primär ökonomisch legitimierten Produktion zu zweifeln, wie anhand der zahlreichen ihre professionell aufbereiteter Angebote auf dem Sektor interaktiver oder zumindest mitzugestaltender Videos gezeigt werden konnte. Die meisten Initiativen dieser Art wurden schnell wieder eingestellt und sind heute kaum noch recherchierbar. An dieser Stelle muss aus Platzgründen auf eine Diskussion über Internet-Memetik bzw. Meme verzichtet werden, die nach dem darwinistischen Marke75 Bruns zieht im Kontext der produsage den die Unfertigkeit des

76 77 78

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Produktes hervorhebenden Begriff des Artefakts demjenigen des Produkts vor. Vgl. A. Bruns: Anyone can edit. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1984, S. 62 ff. Ebd., S. 64. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 602, Anm. 18. Diesen Hinweis verdanke ich Thomas Becker, dem Leiter der Tagung, anlässlich derer dieser Beitrag entstand. Auch diese m. E. nachvollziehbare Lesart Bourdieus schulde ich Thomas Becker, vgl. Anm. 78

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tingprinzip des survival of the fittest ausgewählte Wirte suchen, um sich selbst zu reproduzieren. Im Falle der Webeos oder auch der MTV2Mods kann im Vergleich zu anderen Memen die oben erwähnte relative Erfolgslosigkeit und mithin das schnelle Absterben konstatiert werden.80 Dies mag auch daran liegen, dass hier letztlich keine produsage-Kultur und damit keine aktive Mitarbeit des produsers gefordert wird, vielmehr geht es um marketingträchtige Projekte von (im alten Sinne) ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet des Gesangs und der Performance und der zur Produktion notwendigen Software. Diese Produktionslogik entspricht einem womöglich veralteten prosumer-Modell,81 nicht jedoch der auf beständiges gemeinsames Verfertigen, Verbessern und Evaluieren von Artefakten ausgerichteten produsage-Kultur. Wenn die Hochzeit teurer, professionell erstellter und aufwändig produzierter Musikvideos dem alten Jahrtausend verpflichtet zu sein scheint,82 so bringt das Internet mit seinen verschiedenen Möglichkeiten der Kombination und Verbindung traditioneller mit neuen sozialen Medien und Netzwerken hybride Formen von MusikSpielAnimationMachinimaCommercialSelfmadekurzfilmen hervor, in denen sich zum einen im Sinne der Manovich’schen »deep remixability« Hard- und Software mit kulturellen Formen ihres Gebrauchs mischen, und die gleichzeitig – wie besonders am Beispiel des Song In the Waiting Line von Zero 7 deutlich wird – den vier grundlegenden Prinzipien der produsage-Kultur (offene Teilnahme und gemeinsame Evaluation, flüssige Heterarchie oder Ad-Hoc-Meritokratie sowie Herstellung von Artefakten in kontinuierlicher Weiterentwicklung und in Form eines gemeinsamem Eigentums mit individueller Belohnung) verpflichtet sind, auch wenn sich dabei nicht immer alle 80 Internet-Meme, ein Begriff der in Anlehnung an die 1976 von Ri-

chard Dawkins erfundenen Meme gebildet wurde, verhalten sich wie Informationseinheiten, die lediglich auf das eigene Überleben durch Reproduktion im geeigneten Wirt bedacht sind. Vgl. hierzu auch den weiter oben angewendeten Begriff des viralen Marketings, der der gleichen Denkfigur entstammt. 81 Vgl. Anm. 11. 82 Wenn auch die großen Budgets nicht vollständig verschwunden sind, so nimmt doch die Anzahl derjenigen, die größere Summen in Clips investieren, deutlich ab, wie der Regisseur Uwe Flade in einem Interview vom 30. 3. 2008 bestätigt. Online unter: http:// de.wikinews.org/wiki/Interview_mit_dem_deutschen_Regisseur _von_Musikvideos,_Uwe_Flade, 19. 08. 2010.

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Beteiligten ihrer Rolle(n) und vielfältigen Funktionen und Positionen bewusst sind.83 Es scheint, als weise die Richtung fort von vorgegebenen Ordnungsmustern entlang derer die ästhetische Qualität der künstlerischen Produkte situier- und nachprüfbar wäre, und hin zum Ausprobieren, Handeln und zur Eigenproduktion von Artefakten – doch auch hier ist die Frage berechtigt, ob diese vermeintliche Freiheit nicht schon im Kreislauf eines viralen oder mediendarwinistischen Marketings kalkuliert ist.

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Beate Ochsner

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. . . weil nicht sein kann, was nicht sein darf1 Zur Entwicklung des deutschen Musikrechts im Lichte intermedialer Kreativität (Sound Sampling)

Frédéric Döhl (Berlin)

1. Einleitung Sowohl Sampling als auch Intermedialität betraten als Termini in ihrem heutigen Gebrauch ungefähr zeitgleich in den frühen 1980er Jahren eine breitere Diskursbühne. Phänomene, die sich unter letzteren Begriff subsumieren lassen, sind zwar mitnichten erst zu dieser Zeit aufgetreten,2 wie schon ein Blick auf die Gegenstände musikbezogener Intermedialitätsforschung zeigt.3 Auch die Vorläufer des 1 Christian Morgenstern: Die unmögliche Tatsache, in: Christian Mor-

genstern: Alle Galgenlieder, New York 2000, S. 135. 2 Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoreti-

sches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte, in: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin 1998, S. 31–40. 3 Vgl. für explizit musikbezogene Literatur zu Intermedialität u. a. Peter V. Brinkemper: Spiegel und Echo. Intermedialität und Musikphilosophie im ›Doktor Faustus‹, Würzburg 1997; Siglind Bruhn: Vom Bild zum Text, vom Text zum Ton. Picasso, Wallace Stevens und musikalische Ekphrasis in einem Klaviergedicht Ravels, in: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, S. 165– 180; Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam 1999; Josef Kloppenburg (Hg.): Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, Laaber 2000; Ben Scheffler: Film und Musik im spanischsprachigen Roman der Gegenwart. Untersuchungen zur Intermedialität als produktionsästhetisches Verfahren, Frankfurt a. M. 2004; Andreas Sichelstiel: Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur. Möglichkeiten der Intermedialität und ihrer Funktion bei österreichischen Gegenwartsautoren, Essen 2004; Ricarda Schmidt: Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E. T. A. Hoffmann, Göttingen 2006; Calvin Scott: »Ich löse mich in tönen. . .«. Zur Intermedialität bei Stefan George und der Zweiten Wiener Schule, Berlin 2007; Ana Maria Pilar Koch: Die Herausforderung des Tanzes an den Film am Beispiel Carlos Sauras –

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Ausdrucks selbst lassen sich mindestens bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen.4 Dennoch kam es zu einer neuen Ausrichtung der Diskussion, u. a. motiviert durch die Entwicklung der älteren Intertextualitätsforschung und deren Konfrontation mit den neuen technischen Rahmenbedingungen der Digitalisierung und des Computers.5 Auch für das Sampling – hier im weiteren in seiner spezifischen Ausprägung als Sound Sampling6 im Sinne eines technischen Verfahrens zur Aneignung und Weiterverarbeitung von Akustischem im Akustischen dargelegt7 – gibt es ungeachtet zahlreicher Vorläufer, nicht zuletzt in der elektroakustischen Avantgardemusik,8 eine klare Zäsur um 1980. Diese kann an Geräten wie Fairlight CMI, Synclavier, Emulator I und IRCAM-4 festgemacht

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Streifzüge durch seine Musikfilme, in: Kirsten von Hagen (Hg.): Intermedia. Eine Festschrift zu Ehren von Franz-Josef Albersmeier, Bonn 2007, S. 145–160; Ernest W. B. Hess-Lüttich: Tristan: Sprachliche Komposition und musikalische Bedeutung. Vier Variationen des Themas in Oper/Theater, Novelle, Film und Fernsehen, in: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität – analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, München 2008, S. 261–272; Annette Simonis/ Michael Schwarte: Klänge – Worte – Bilder. Mediale Wechselwirkung und Konstruktion kultureller Identität in Liedern von Schumann, Schönberg und Henze, in: Annette Simonis (Hg.): Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien, Bielfeld 2009, S. 253–284. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte, in: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, S. 31– 40, hier S. 31; Joachim Paech: Mediales Differenzial und transformative Figuration, in: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, S. 14–30, hier S. 17; Jens Schröter, Intermedialität, http://www.theorie-der-medien.de/text_detail.php? nr=12, 1. 11. 2009. Joachim Paech: Intermedialität/Multimedialität, in: Achim Trebeß (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik, Stuttgart 2006, S. 183–184. Vgl. zu den technischen Aspekten Universität zu Köln, RRZK Multimedia Gruppe: Sound Sampling – Digitalisierung von Audiodaten, http://pda.uni-koeln.de/rrzk/multimedia/dokumentation/ audio/sampling.html, 1. 11. 2009; Martin Russ: Sound Synthesis and Sampling, Amsterdam 2008. Rolf Großmann: Sampling, in: Helmut Schanze (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, Stuttgart 2002, S. 320–321. Vgl. Elena Ungeheuer (Hg.): Elektroakustische Musik, Laaber 2002.

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werden kann und hat als »digital revolution«9 Eingang in die Musikgeschichte gefunden.10 Die zufällige zeitliche Parallelität erweist sich als überaus passend. Sampling war vor allem ab den späten 1980er Jahren bis weit in die 1990er Jahre hinein in der Bildenden Kunst und in der Musik, insbesondere in ihren populären Spielarten, bedingt durch die neuen digitalen Techniken und ihre ästhetischen Potentiale in Theorie wie Praxis ein großes Thema.11 Danach hat der Gegenstand für die theoretischen Debatten ein wenig an Aktualität verloren und wurde durch andere Inhalte verdrängt, ohne jedoch in der Musikproduktion als Mittel musikalischer Kreativität an Bedeutung zu verlieren. Ein ähnlicher Verlauf ist für das deutsche12 9 Curtis Roads: The Computer Music Tutorial, Massachusetts Institute

of Technology 1996, S. 115–156; Ross Kirk/Andy Hunt: Digital Sound Processing for Music and Multimedia, Oxford 1999, S. 26–29. 10 Vgl. die grafische Aufbereitung der zeitlichen Schwerpunkte sowohl von Sampling-Vorlagen als auch von Tonträgern auf Sampling-Basis durch Jesse Kriss: The History of Sampling, http://jklabs. net/projects/samplinghistory/, 1. 11. 2009. 11 Vgl. für musik- und medienwissenschaftliche Literatur zu Sound Sampling u. a. Thomas Porcello: The Ethics of Digital Audio-Sampling. Engineer’s Discourse, in: Popular Music 10/1 (1991), S. 69–84; Hugh Davies: A History of Sampling, in: Johannes Fritsch (Hg.): Feedback Papers 40, Köln 1994, S. 2–15; Rolf Großmann: Xtended Sampling, in: Hans Ulrich Reck/Mathias Fuchs (Hg.): Sampling (= Arbeitsbericht 4 der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie), Wien 1995, S. 38–43; Peter Zima: Literatur intermedial: Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995; Werner: The Musicalization of Fiction; Hugh Davies: Sampler, in: Stanley Sadie (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 22, London 2001, S. 219; Will Fulford-Jones: Sampling, in: Ebd., S. 219; Großmann: Sampling, in: Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, S. 320– 321; Joseph G. Schloss: Making Beats. The Art of Sample-Based Hip-Hop, Middletown CT 2004; Russ: Sound Synthesis and Sampling; Paul D. Miller (Hg.): Sound Unbound. Sampling Digital Music and Culture, Cambridge (MA) 2008; Vanessa Chang: Records that Play. The Present Past in Sampling Practice, in: Popular Music 28/2 (2009), S. 143–159; Diedrich Diederichsen, Montage/Sampling/Morphing. Zur Trias Ästhetik/Technik/Politik, in: Medien Kunst Netz. Bild und Ton, http://www.medienkunstnetz.de/themen/bild-ton-rela tionen/montage_sampling_morphing/, 1. 11. 2009, S. 1–17. 12 Das Urheberrecht ist international nach wie vor nicht einheitlich trotz zahlreicher Harmonisierungsabkommen in den vergangenen Jahrzehnten. Vorliegender Beitrag konzentriert sich daher auf das

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Musikrecht zu konstatieren. Einsetzend um 1990 und abebbend nach dem Jahrtausendwechsel widmeten sich eine ganze Reihe von juristischen Studien der Frage, wie sich das Recht zum neuen Phänomen im Lichte seiner ästhetischen Potentiale und vor allem im Angesicht seines vorherrschenden, in Werke Dritter unmittelbar eingreifenden Gebrauchs verhalten soll.13 Trotz seiner Verbreitung Recht in Deutschland. Angesichts einer grenz- und kulturüberschreitend unmittelbar rezipierenbaren Kunst wie der Musik birgt dies zwangsläufig Einschränkungen für die Allgemeingültigkeit mancher Aussagen. Für den juristisch prinzipiell anders organisierten anglo-amerikanischen Rechtsraum vgl. stellvertretend zum Sound Sampling Bruce J. McGiverin: Digital Sound Sampling, Copyright and Publicity. Protecting Against the Electronic Appropriation of Sounds, in: Columbia Law Review 87/8 (1987), S. 1723–1746; The Harvard Law Review Association: Note. A New Spin on Music Sampling. A Case for Fair Pay, in: Harvard Law Review 105/3 (1992), S. 726– 744; Jeffrey R. Houle: Digital Audio Sampling, Copyright Law and the American Music Industry. Piracy or Just a Bad »Rap«?, in: Loyola Law Review, 37/4 (1992), S. 879–902; Matthew Africa: The Misuse of Licensing Evidence in Fair Use Analysis. New Technologies, New Markets, and the Courts, in: California Law Review, 88/4 (2000), S. 1145– 1183; J. Michael Keys: Musical Musings. The Case for Rethinking Music Copyright Protection, http://www.mttlr.org/volten/Keyes.pdf, 1. 11. 2009; sowie die Blogs auf der Seite des amerikanischen Juristen Lawrence Lessig (Harvard Law School), http://www.lessig. org/, und die Fallsammlung UCLA Law/Columbia Law School: Copyright Infringement Project, http://cip.law.ucla.edu/, 1. 11. 2009. 13 Vgl. für die deutschsprachige Rechtsliteratur zu Sound Sampling aus dem angeführten Zeitraum insbesondere Thomas Hoeren: Sounds von der Datenbank – zur urheber- und wettbewerbsrechtlichen Beurteilung des Samplings in der Populärmusik, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 91 (1989), S. 11–16; Paul W. Hertin: Sounds von der Datenbank – Eine Erwiderung zu Hoeren, GRUR 1989, 11 ff., in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 91 (1989), S. 578–579; Frank Schorn: Sounds von der Datenbank – Eine notwendige Ergänzung zum Beitrag von Thomas Hoeren, GRUR 1989, 11 ff., in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 91 (1989), S. 579–580; Thomas Hoeren: Nochmals: Sounds von der Datenbank – zum Schutz des Tonträgerherstellers gegen Sampling, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 91 (1989), S. 580–581; Andreas Spieß: Urheber- und wettbewerbsrechtliche Probleme des Sampling in der Populärmusik, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 35/11 (1991), S. 524–535; Balthasar Schramm: Sample-Computer und das Recht der Musik, Berlin 1992; Nils Bortloff: Tonträgersampling als Vervielfältigung, in: Zeitschrift für

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gerade in der rechtstreitaffineren, da ökonomisch relevanteren Populärmusik führte das Sound Sampling aber bislang in der hiesigen Rechtsprechungspraxis zu vergleichsweise wenigen Verfahren und vor allem höchstrichterlichen Urteilen.14 Jene sind von besonderem Interesse, da hier die auch im Juristischen stets mannigfaltigen Auffassungen gebündelt werden – und die Streitfragen jedenfalls für den Rechtsverkehr eine verbindliche Entscheidung finden. So konnten noch Müller (1999) und Tyra (2001) für Deutschland darauf verweisen, dass sich bis dato nur das Oberlandesgericht Hamburg zum Sound Sampling äußern musste.15 International gab es einige proUrheber- und Medienrecht 37/10 (1993), S. 476–481; Michael Fromm: Urheberrechtliche Bewertung des Sampling in der Musik, Berlin 1994; Christian Klein: Digital Sampling, in: Rolf Moser/Andreas Scheuermann (Hg.): Handbuch der Musikwirtschaft, Starnberg 3 1994, S. 575– 585; Klaus Waldeck: Der Schutz von Teilen von Werken und Leistungen am Beispiel des digitalen Sound Sampling, Wien 1994; Bernhard Weßling: Der zivilrechtliche Schutz gegen digitales Sound-Sampling. Zum Schutz gegen Übernahme kleinster musikalischer Einheiten nach Urheber-, Leistungsschutz-, Wettbewerbs- und allgemeinem Persönlichkeitsrecht, Baden-Baden 1995; Reiner Münker: Urheberrechtliche Zustimmungserfordernisse beim Digital Sampling, Frankfurt a. M. 1995; Bianca Müller: Die Klage gegen unberechtigtes Sampling, in: Zeitschrift für Urheberund Medienrecht 43/7 (1999), S. 555–560; Frédéric Döhl: ›SampleClearing‹ – Rechtsprechung und Kunstproduktion, Humboldt-Universität zu Berlin 2000, http://www2.hu-berlin.de/fpm/works/doehl. htm, 1. 11. 2009; Thomas Hoeren: Sounds von der Datenbank – zum Schutz des Tonträgerherstellers gegen Sampling, in: Christian Schertz/ Hermann-Josef Omsels (Hg.): Festschrift für Paul W. Hertin, München 2000, S. 113–132; Christian Brauns: Die Entlehnungsfreiheit im Urhebergesetz, Baden-Baden 2001; Frank Tyra: Alter Hut bleibt in Mode – Rechtliche Aspekte des Samplings im Bereich sog. Dancemusic, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 45/1 (2001), S. 49–59; Frank Alpert: Zum Werk- und Werkteilbegriff bei elektronischer Musik – Tracks, Basslines, Beats, Sounds, Samples, Remixes und DJ -Sets, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 46/7 (2002), S. 525–533; Markus Häuser: Sound und Sampling. Der Schutz der Urheber, ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller gegen digitales Soundsampling nach deutschem und US-amerikanischem Recht, München 2002. 14 Martin Schaefer: § 85 Urhebergesetz, in: Artur-Alex Wandtke/Winfried Bullinger (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht, München 3 2009, S. 1199 (§ 85 Rn 25). 15 Müller: Die Klage gegen unberechtigtes Sampling, S. 555–560, hier S. 555, und Tyra: Alter Hut bleibt in Mode, S. 49 unter Verweis auf

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minente Auseinandersetzungen, die jedoch – wie im Bereich des Urheberrechts generell weithin verbreitet – selbst dann mit Vergleichen endeten, wenn diesen Klagen vorausgingen. Viel diskutierte Beispiele hierfür sind Vanilla Ice Ice Ice Baby/Queen und David Bowie Under Pressure, Roy Orbisons Pretty Woman/2 Live Crew Pretty Woman, The Rolling Stones The Last Time/The Verve Bittersweet Symphony oder das Grey Album des DJs Danger Mouse, für welches er das White Album der Beatles mit dem Black Album von Jay-Z fusionierte. Einige Entscheidungen sind nach 2000 hierzulande hinzugekommen, ebenso in geringerem Umfang Literatur zu diesem Thema.16 Abgesehen von der vor allem für die Musikwissenschaft einschlägigen Frage, wie sich Sound Sampling als künstlerische Strategie im Lichte der Diskurse um Intermedialität und zeitgenössisches Komponieren von Avantgarde bis Pop verhält, träfe Tyras den Status des Gegenstandes zusammenfassende Position aus dem Jahr 2001 allerdings Stand der Dinge nach wie vor recht treffend: »Alter Hut [in Technik und Theorie] bleibt [in der Musikausübung] in Mode.«17 Ende 2008 hatte nun allerdings der Bundesgerichtshof schließlich doch einmal Gelegenheit, in letzter Instanz über das Sound Sampling zu befinden.18 Dies ist eine Grundsatzentscheidung, weil sie die Haltung des Rechts zu jener OLG Hamburg: Urteil vom 16. Mai 1991, 3 U 237/90, in: Zeitschrift

für Urheber- und Medienrecht 35/9 (1991), S. 545–548. 16 Vgl. für höchstrichterliche Urteile u. a. Kammergericht Berlin: Ur-

teil vom 18. November 2003, 5 U 350/02, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 48/6 (2004), S. 467–472; OLG Hamburg: Urteil vom 7. Juni 2006, 5 U 48/05, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 50/10 (2006), S. 749–753. Vgl. für weitere deutschsprachige Literatur u. a. Christopher Liebscher: Der Schutz der Melodie im deutschen und im amerikanischen Recht, Frankfurt a. M. 2007; Tim Reinfeld: Der Schutz von Rhythmen im Urheberrecht, Göttingen 2007; Poto Wegener: Sound Sampling. Der Schutz von Werk- und Darbietungsteilen der Musik nach schweizerischem Urheberrechtsgesetz, Basel 2007; Emil Salagean: Sampling im deutschen, schweizerischen und US-amerikanischen Recht, Baden-Baden 2008; Sebastian Schunke: Das Bearbeitungsrecht in der Musik und dessen Wahrnehmung durch die GEMA, Berlin 2008. 17 Tyra: Alter Hut bleibt in Mode, S. 49–59. 18 BGH : Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall auf Metall, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 53/3 (2009), S. 219–223. Vgl. auch www.bundesgerichtshof.de (dort unter »Entscheidungen« mittels Eingabe des Aktenzeichens abrufbar). Der BGH hat

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kompositorischen Praxis neu bestimmt. Das Urteil bildet den Ausgang für die nachfolgenden Überlegungen. Es gibt Anlass, über den Umgang mit Musik und intermedialen Verfahren musikalischer Kreativität im Recht neu nachzudenken. Unausweichlich führt dies zu der Diagnose, dass die ausgesprochen öffentlichkeitswirksam ausgetragenen Auseinandersetzungen19 um die nach wie vor herrschende Idee eines Geistigen Eigentums an Musik in den letzten Jahren das maßgebliche Problem übersehen. Denn vor allen omnipräsenten moralischen und ökonomischen Erwägungen kommen das musikalische Schaffen, seine ästhetische Erfahrbarkeit und die Frage, wie dieses juristisch erfasst werden kann, um jene Exklusivität an Tönen herzustellen, die eine Eigentumsvorstellung beabsichtigt. In diesem Beurteilungsprozess herrschen, wie die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofs exemplarisch vorführt, weitreichende, von gravierenden Defiziten getragene Verwerfungen zwischen musikalischer und rechtlicher Sphäre. Eben diese exponiert das Sound Sampling durch seine Eigenart als intermediales Verfahren.

hier in Revision zu OLG Hamburg: Urteil vom 7. Juni 2006, 5 U 48/ 05, S. 749–753, entschieden. 19 Jüngste Höhepunkte waren die Verurteilung einer Amerikanerin zu einer Strafe von 1,9 Millionen US-Dollar für den illegalen Download von 24 Songs von einer Tauschbörse, die Verurteilung der Betreiber der schwedischen Website Pirate Bay erstinstanzlich zu Haftstrafen und die Erfolge sogenannter Piratenparteien bei den Europa- und Bundestagswahlen 2009. Nicht nur die Fachzeitschriften auch die Tagesspresse berichtet regelmäßig im großen Stil über dieses Themenfeld. Die Probleme sind tatsächlich substantiell, da sie Fragen stellen, die an den Kern der in diesem Bereich herrschenden Gesellschaftsordnung führen. Bedenkenswert bemerkt etwa Jens Mühling in der Ausgabe des Tagesspiegels vom 30. Juni 2009: »Die Unterhaltungsindustrie will intellektuelles Eigentum monopolisieren, die Piraten wollen es vergesellschaften. In beiden Modellen ist der Künstler nebensächlich.« Jens Mühling: Die Ideen der anderen. Internet-Piraten gegen Copyright-Magnaten: Kleine Einführung in die Ideologie des digitalen Freibeutertums, http://www.tagesspiegel.de/ kultur/Urheberrecht;art772,2835794, 1. 11. 2009.

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2. Sound Sampling und Intermedialität Musik als Kunst steht generell eher am Rande der Intermedialitätsdiskurse,20 die von Film, Fernsehen, Videoclip, Literatur, Tanz und Theater als Gegenständen beherrscht werden. Das gilt selbst für die über einen »genuin intermedialen Charakter«21 verfügende Popmusik – soweit sie jedenfalls nicht Gegenstand von Videoclips ist – und damit für das aus Sicht des Musikrechts mit Abstand relevanteste Einsatzfeld des Sound Sampling. Da jenes in seiner hier betrachteten spezifischen Verwendung zudem regelmäßig eine innermusikalische Angelegenheit bleibt, unterfällt es zumindest nicht dem Standardfall von Intermedialität, nämlich »intendierte, in einem Artefakt nachweisliche Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien«22 zu sein. Intermedialität lässt sich aber im Blick auf das Sound Sampling als »Übertragung« unter Verzicht auf »mediale Modulation der Konfiguration« verstehen.23 Sound Sampling ist

20 Vgl. hierzu einführend u. a. Jürgen E. Müller: Intermedialität. For-

men moderner kultureller Kommunikation, Münster 1996; Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes; Claudia Liebrand/Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien, Köln 2002; Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Stuttgart 2002; Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, Tübingen 2003; Günter Schnitzler/Edelgard Spaude (Hg.): Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten, Freiburg 2004; Paech/Schröter (Hg.): Intermedialität – analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen; Simonis: Intermedialität und Kulturaustausch. Beobachtungen im Spannungsfeld von Künsten und Medien; Schröter: Intermedialität. Für explizit musikbezogene Intermedialitätsforschung siehe Anm. 3. 21 Diederichsen: Montage/Sampling/Morphing. Zur Trias Ästhetik/Technik/Politik, in: Medien Kunst Netz. Bild und Ton, S. 1–17, hier S. 11. 22 Werner Wolf: Intermedialität, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 4 2008, S. 327–328. Vgl. auch Paech: Intermedialität/Multimedialität, in: Metzler Lexikon Ästhetik, S. 184; Rajewsky: Intermedialität, S. 13; Siebert: Intermedialität, in: Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, S. 152–154, hier S. 152. 23 Uwe Wirth: Intermedialität, in: Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 114–121, hier S. 118.

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hiernach in einen Bereich »tertiärer Intermedialität«24 als Unterfall von Bezüglichkeit, Übersetzbarkeit und Transformierbarkeit einzuordnen.25 Zwar verbleibt man in derselben Kunst, durchläuft aber dabei einen für Intermedialität signifikanten Prozess von der Aufnahme, deren Mediatisierung/Digitalisierung, der Aneignung der dort festgehaltenen digitalen Informationen via Sample-Computer und schließlich der Zuführung in innovatives musikalisches Schaffen bis zur regelmäßig abschließenden Bindung des akustisch Neuformulierten an weitere Medienträger.26 Ob Sampling hiergegen in seiner hier verhandelten musikinternen Ausprägung als Sound Sampling vor dem Hintergrund des hierbei überwiegend27 zu konstatierenden Fehlens eines Interagierens verschiedener Künste (Interart) – um an verschiedene Einordnungsversuche anzuschließen – nun Intermedialität im strengen Sinne unterfällt oder aber 1. eine Zwischenform zwischen Intertextualität und Intermedialität, 2. einen zur Intertextualität analogen Sachverhalt darstellt, 3. dies aufgreifend besser unter Intramedialität gefasst werden sollte28 oder aber 4. zwar Intermedialität entspräche, diesbezüglich abseits der techni24 Im Anschluss an die »tertiären Medien« von Harry Pross, Medienfor-

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schung, Darmstadt 1973, vgl. Wirth: Intermedialität, in: Grundbegriffe der Medientheorie, S. 114–121, hier S. 118; Michael Herczeg, Einführung in die Medieninformatik, Oldenburg 2007, S. 14 f. Paech: Mediales Differenzial und transformative Figuration, in: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, S. 14–30, hier S. 26: Intermedialität als transformatives Verfahren. Zur Dimension des Intermedialen im technischen Aspekt der Mediatisierung/Digitalisierung des Akustischen vgl. Wilhelm Füger: Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts, in: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, S. 43; Großmann: Sampling, in: Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, S. 320–321, hier S. 320; Paech/Schröter: Intermedialität analog/digital – Ein Vorwort, in: Intermedialität – analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, S. 9– 12, hier S. 10; Wolf: Intermedialität, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 327–328, hier S. 327. Zur Dimension des Intermedialen in der geschilderten Prozesshaftigkeit vgl. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, S. 81. Es kann z. B. auch eine gesungene Melodie samt Text gesamplet oder der Sample in einen intermedialen Kontext eingebettet werden, was die Gewichtung bei der Subsumtion unter den Intermedialitätsbegriff natürlich verschiebt. Rajewsky: Intermedialität, S. 12 f.

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schen Aspekte »jedoch nicht sehr interessant [sei], da es sich bei der Digitalisierung letztlich nur um eine Repräsentation eines Mediums durch ein anderes Medium handelt«,29 kann an dieser Stelle offen bleiben: In jedem Fall handelt es sich hierbei um ein Verfahren mit intermedialem, über die Musik hinausgehendem Potential. In dieser Weise ist dies auch z. B. maßgeblich für Heiner Goebbels,30 was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die erste Konjunktur des Themas vor 15 bis 20 Jahren in gleichem Maße die Musik wie die Bildende Kunst erfasste.31 Des Weiteren wird das für Intermedialität grundlegende Verhältnis analog – digital in diesem Kontext für die Musik exemplarisch verhandelt.32 Die ausgemachte medientheoretische Begrenztheit des Sound Sampling verliert ihre Stichhaltigkeit, so29 Jens Schröter: Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Ma-

schine, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 385–411. 30 So heißt nicht nur Goebbels’ Opus Surrogate Cities im Untertitel Samplersuite, sondern erweist sich dieser Verfahrensbegriff als werkkonstitutiv, vgl. Michael Custodis: Innovationspotentiale. Heiner Goebbels Surrogate Cities bei Zukunft@Bphil, in: ders.: Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik, Bielefeld 2009, S. 157– 192. Die Bedeutung von Sampling ist darüber hinaus ganz generell zentral für Goebbels’ Schaffen, vgl. Heiner Goebbels: Musik entziffern. Das Sample als Zeichen, in: Wolfgang Sander (Hg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Berlin 2002, S. 181–185; Max Nyffeler: Der dialektische Sampler. Zur kompositorischen Arbeit von Heiner Goebbels, in: Ebd., S. 173–180; Falk Hübner: Intermedialität im Werk von Heiner Goebbels, http://www.heinergoebbels.com/ en/archive/texts/articles/read/524, 1. 11. 2009, wo es unter Bezugnahme auf Kerstin Glandien: Ein entfernter Vetter des Stadtplaners – Schwarz auf Weiß und Surrogate Cities von Heiner Goebbels, in: Frieder Reininghaus/Katja Schneider (Hg.): Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber 2004, S. 321, heißt: »Der Sammelphase folgt die Kompositionsphase; das zusammengetragene Material wird gesichtet und weiterverarbeitet. Entscheidend für die Arbeitsweise von Goebbels ist hier die Verwendung von Sampling als Verfahren und Kompositionshaltung«. 31 Diederichsen: Montage/Sampling/Morphing. Zur Trias Ästhetik/Technik/Politik, in: Medien Kunst Netz. Bild und Ton, S. 1–17, hier S. 1. 32 Jens Schröter: Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?, in: Jens Schröter/Alexander Böhnke (Hg.): Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 7–30; Bernhard J. Dotzler: Analog/digital, in: Grundbegriffe der Medientheorie, S. 9–16; Paech/Schröter: Intermedialität analog/

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bald man die einfachste Variante der Kopie verlässt. Sound Sampling ist als wesentliche Fortschreibung der Tradition von Collage/Montage zu sehen.33 »Durch die Adressierbarkeit bis in jeden einzelnen Messwert und die Möglichkeit zur rechnerischen Verarbeitung der Parameter stehen weitreichende Modulationsoptionen zur Verfügung«,34 von denen auch in der Populärmusik regelmäßig Gebrauch gemacht wird. Der für die vorliegenden Betrachtungen entscheidende Punkt ist allerdings ein äußerlicher. Für das Urheberrecht verfügt Sound Sampling nämlich über weitreichende Konsequenzen. Denn wo Medientheorie bisweilen jene Fähigkeit zur digitalen Repräsentation als limitierendes Moment identifiziert, verändert gerade diese Eigenschaft aus demselben Grund den Blick des Rechts auf die Musik. Haben Gesetz und Rechtsprechung bisher schon auf einem musikalischen Werkbegriff (§ 2 Urhebergesetz) bar jeder performativen Variabilität beharrt, unabhängig davon, dass ästhetische Theorien von Hegel bis Wellmer immer wieder die davon unberücksichtigte, werkkonstitutive Dimension der Interpretation eingefordert haben, so ist durch das Sound Sampling die technische Maximierung möglich geworden.35 Hieraus entsteht das Paradox, dass Sound Sampling eigentlich das juristische Modell vom Spezifischen der Musik und ihrer daran anknüpfenden Exklusivierung zu bestätigen scheint und gleichzeitig dessen Grundfesten erschüttert, wie im Gang der Urteilsbegründung in der jüngsten BGH-Entscheidung Metall auf Metall evident wird. Diese Entscheidung ist noch aus einem zweiten Grund beachtenswert. Eben jene Fähigkeit zur weitreichenden Modulation und künstlerischen Weiterverarbeitung des Gesampleten wurde in ihrem ästhetischen Potential hier das erste Mal höchstrichterlich für das deutsche Urheberrecht anerkannt, mit weitreichenden theoretischen wie praktischen Implikationen. digital – Ein Vorwort, in: Intermedialität – analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, S. 9–12. 33 Gerhard Kaiser: Collage/Montage, in: Metzler Lexikon Ästhetik, S. 69; Eckart Voigts-Virchow: Montage/Collage, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 514–515, hier S. 514. 34 Großmann: Sampling, in: Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, S. 320–321, hier S. 320. 35 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge nach der zweiten Ausgabe von Heinrich Gustav Hothos, Berlin 1842, Bd. II, Berlin 1984; Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009.

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3. Das Urteil des Bundesgerichtshofs Metall auf Metall Der Bundesgerichtshof hat am 20. November 2008 ein Urteil in einem Rechtsstreit gefällt, dessen Gegenstand bereits aus dem Jahr 1997 stammt, das Lied Nur mir, veröffentlicht von Sabrina Setlur, geschrieben und produziert von Moses Pelham.36 Letzterer verwendete hierfür einen Sample, der von der Gruppe Kraftwerk stammt, die als Pioniere elektronischer Tanzmusik eine der meistgesampleten Formationen der Populärmusik gelten. Aus deren 1977er Veröffentlichung Metall auf Metall wurde eine zwei Sekunden lange Rhythmussequenz isoliert und als Loop in steten Wiederholungen der neuen Komposition zugrunde gelegt. Sofern nicht gesondert darauf hingewiesen wird, ist die Übernahme jedoch nicht ohne weiteres zu erkennen. In der Vorlage von Kraftwerk steht der Rhythmus isoliert. Sein ästhetischer Reiz liegt, wie schon der Titel des Stücks ausdrückt, in der Produktion eines spezifischen klanglichen Aspekts (eben Metall auf Metall), der offensiv und freistehend exponiert wird. In Nur mir wird der Sample dagegen in eine aufwendig Popinstrumentierung integriert und zudem von dem dominierenden aggressiven Sprechgesang Setlurs überlagert. Die gesamplete Sequenz, abgesehen vom Vorgang des Ausschneidens und Loopens, blieb jedoch als solche klanglich unmoduliert. Die Soundgestaltung der Vorlage wird gewiss gerade der Grund für das Sampling ausgerechnet dieser ansonsten rhythmisch eher standarttypischen Partie gewesen sein, weshalb eine weitgehende Veränderung dieser Klanglichkeit jene Motivation wohl konterkariert hätte. Dieser Umstand hatte allerdings zur Folge, dass das erstinstanzlich mit der Beweisaufnahme befasste Landgericht Hamburg die Vorlage im direkten Vergleich für eindeutig identifizierbar erachtete.37 Kraftwerk konnten, da in diesem Fall als Urheber und als Hersteller des Tonträgers auftretend, Ansprüche gegen Pelham geltend machen, da keine Lizenz für die Nutzung des Sample erteilt worden war. Die Gerichte hatten also darüber zu bestimmen, ob die in §§ 97 ff. Urhebergesetz niedergelegten Ansprüche eines geschädigten Urhebers Kraftwerk zustehen. 36 BGH : Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall auf Metall,

S. 219–223. 37 OLG Hamburg: Urteil vom 7. Juni 2006, 5 U 48/05, S. 749–753.

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Um die Tragweite des Sound Sampling als intermediales Verfahren für das Musikrecht nachvollziehbar zu machen, bedarf es zunächst einer kurzen summarischen Erläuterung der in der Urteilsbegründung ausführlich ausgeführten rechtlichen Prüfungsschritte: Aufgrund der Kürze des gesampleten Elements scheidet – wie regelmäßig beim Sound Sampling – eine Verletzung der Rechte der Urheber der Vorlage aus, da es den entnommenen Teilen, isoliert betrachtet, an der erforderlichen Werkqualität im Sinne des § 2 Abs. 2 Urhebergesetz fehlt.38 Der ausgeschnittene Teil würde für sich allein als Rhythmus nicht die sogenannte Schöpfungshöhe erreichen, die für Urheberrechtsschutz als Minimalanforderung zur Eingangsvoraussetzung bestimmt ist. Der gesamplete Teil sei für sich betrachtet zu unspezifisch. Grund für diese Hürde ist, dass das musikalische Baumaterial – Rhythmen, Formen, Akkorde etc. – frei verfügbar bleiben soll, um künftiges musikalisches Schaffen nicht zu behindern (»Freihaltebedürfnis«). Der Sound, der eigentliche kreative Witz der Arbeit von Kraftwerk, wird als solcher ebenfalls unter Verweis auf das Freihaltebedürfnis als nicht geschützt bewertet.39 An dieser Stelle scheiden folglich Kraftwerk als Urheber aus dem Rechtsstreit aus. Gestritten wurde im Folgenden demnach nur über die eigenen Rechte des Tonträgerherstellers an einer Tonaufnahme (§ 85 Abs. 1 UrhG) und ob diese durch das Sound Sampling verletzt wären.40 Mit diesem Recht wird primär eine wirtschaftliche Leis38 BGH : Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall

auf Metall, S. 219–223; Axel Nordemann: § 2 Urhebergesetz, in: Axel Nordemann/Jan Bernd Nordemann/Wilhelm Nordemann (Hg.): Fromm/Nordemann. Urheberrecht, Stuttgart 10 2008, S. 147 (§ 2 Rn 127). 39 Frédéric Döhl: Sound als Kategorie des Urheberrechts, in: Thomas Phleps/Ralf von Appen (Hg.): Pop Sounds. Klangtexturen in der Popund Rockmusik. Basics – Stories – Tracks, Bielefeld 2003, S. 179–182. 40 Ob die vom Sound Sampling betroffenen Leistungsschutzrechte der an der als Vorlage dienenden Tonaufnahme beteiligten ausübenden Künstler verletzt sind, ist im juristischen Diskurs umstritten. Den Instrumentalisten, welche die zu hörenden Rhythmen gespielt haben, könnten theoretisch eigene Rechte zustehen, die selbstständig verletzt werden können. Für die hiesige Behandlung des Themas ist dieser Punkt allerdings vernachlässigbar, da das Gericht eine solche Verletzung abgelehnt hat. Bortloff: Tonträgersampling als Vervielfältigung, S. 476–481, hier S. 477; Müller, Die Klage gegen unberechtigtes Sampling, S. 555–560, hier S. 557; Malte Stieper Anmerkung

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tung in Gestalt der Produktion des Tonträgers geschützt.41 Die erste Feststellung lautet demzufolge: Es wird zwar über die Übernahme einer als individualisierbar empfundenen musikalischen Leistung, in diesem Beispiel einem spezifisch klanglich ausgearbeiteten Rhythmus, befunden, juristisch entscheidend sind jedoch nicht die Rechte des Schöpfers der kreativen Leistung, des Urhebers – auch wenn dieser in Form der Gruppe Kraftwerk im vorliegenden Fall zufällig mit dem Tonträgerhersteller identisch war und damit im Entscheidungsprozess verblieb, was nicht die Regel ist. Das alles ist jedoch nur der Vorlauf. In seiner ausführlichen Begründung stellt der Bundesgerichthof im Folgenden, wie aufgrund der geltenden Rechtslage zu erwarten stand, zunächst die Verletzung eben jenes § 85 Abs. 1 UrhG fest (Ziffer 14 des Urteils) und bestätigt anschließend die herrschende Auffassung, dass es kein Wertungswiderspruch sei, dass die Rechte des Urhebers nach dem Urhebergesetz – also desjenigen, der sich das ausgedacht hat, um dessen vermeintlich unerlaubte Verwendung gestritten wird – nicht verletzt seien wegen der Kürze und Unspezifik der übernommenen musikalischen Elemente, aber gleichzeitig die Rechte des Herstellers des als Vorlage dienenden Tonträgers sehr wohl tangiert würden. Die juristische Begründung hierfür ist grob gesagt, dass es sich um unterschiedliche Schutzgüter – persönlich geistige Schöpfung versus wirtschaftlicher, organisatorische und technische Leistung – handelt und jenen daher nicht notwendig derselbe Schutzumfang zu Teil werden müsse.42 Mit dieser Feststellung einer Unvergleichbarkeit wird auch dem potentiellen Vorwurf entgegengetreten, dass damit in solchen Fällen des Sound Sampling Tonträgerhersteller weitergehend als Urheber geschützt würden, was faktisch die Konsequenz bleibt, auch wenn man diese aus rechtlich Gründen nicht

zu BGH, Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall auf Metall, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 53/3 (2009), S. 223–225, hier S. 224. 41 BGH : Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall auf Metall, S. 219–223; Thomas Boddien: § 85 Urhebergesetz, in: Fromm/Nordemann. Urheberrecht, S. 1308 (§ 85 Rn 3); Schaefer: § 85 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht, S. 1194 (§ 85 Rn 8). 42 BGH : Urteil vom 20. November 2008, I ZR 112/06 – Metall auf Metall, S. 219–223. Vgl. im Urteil Ziffer 16 mit zahlreichen weiteren Nachweisen.

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als eine solche Verwerfung anerkennt.43 Dass das Recht vorrangig Fragen der ökonomischen Verwertbarkeit beachtet, lässt sich kaum trefflicher vor Augen führen und entspricht der Stossrichtung der allgemeinen Diskussion über das Urheberrecht, seiner Entwicklung und Reaktion auf die technische Evolution der letzten 20 Jahre. Nach dieser Argumentation des Bundesgerichtshofs folgt nun im Urteil das für den hiesigen Kontext Entscheidende: Das Gericht fragt (Ziffer 19 ff.), ob man nicht noch eine Ausnahmevorschrift, nämlich § 24 Abs. 1 UrhG prüfen müsse, was die Instanzgerichte, der bisherigen Rechtslage folgend, unterlassen hatten. In dieser Norm geht es um die sogenannte »Freie Benutzung«: »Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden«. Unmittelbar passt die Vorschrift nicht, weil sie Werke schützt, juristisch ein Tonträger als solches nicht gewertet wird und dem gesampleten Ausschnitt der Vorlage diese Eigenschaft zuvor unter Verweis auf Kürze, Unspezifik und Freihaltebedürfnis abgesprochen worden war. In Betracht käme folglich eine analoge Anwendung. § 24 Abs. 1 UrhG gewährt grundsätzlich eine Ausnahme vom generellen Einwilligungsvorbehalt in die Werknutzung, die das Gesetz dem Urheber zuerkennt, dahingehend, dass man – wie im vorliegenden Fall – ohne Zustimmung des aus der Vorlage Berechtigten ein neues selbstständiges Werk schafft. Hinter dieser Norm stehen nicht nur pragmatische Erwägungen, sondern auch künstlerische. Sie ermöglicht juristisch z. B. das Verfahren der Parodie, bei dem notgedrungen auf die parodierte Vorlage explizit Bezug genommen werden muss, da das ästhetische Potential in der diese Referenz begleitenden Kommentierung der Vorlage liegt. Ohne diese Norm wäre jede Parodie geschützter Werke von der Einwilligung des Parodierten abhängig, was paradox wäre. An dieser Stelle macht sich der Bundesgerichtshof nun ein bisweilen, aber generell nur selten involviertes Argument zu eigen, das als Schlüsselfrage für Sound Sampling überhaupt erscheint, welches aber neben all den ökonomischen und gesellschaftspolitischen Erwägungen, die den Diskurs bestimmen, seltsam verblasst: Die Frage der Fortentwicklung des 43 Hoeren: Nochmals: Sounds von der Datenbank – zum Schutz des

Tonträgerherstellers gegen Sampling, S. 580–581, hier S. 581; Bortloff: Tonträgersampling als Vervielfältigung, S. 476–481, hier S. 478.

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Kulturschaffens. Unter Verweis eben hierauf erklärt der Bundesgerichtshof grundsätzlich § 24 Abs. 1 UrhG für analog anwendbar.44 Übersetzt bedeutet diese Entscheidung: Erstelle ich in freier Benutzung via Sampling aus dem Werk eines anderen ein selbstständiges eigenes, so darf ich das ohne dessen Erlaubnis. Das ist ein revolutionärer Schritt für die juristische Behandlung dieses intermedialen Verfahrens. Bislang wurde technisch argumentiert. Durch den digitalen Transfer des Gesampleten von einem Medienträger zu einem anderen blieb dieser aus Sicht des Rechts identisch. Gleichgültig wie groß der Sample ausfiel und ob die Rechte des Urhebers selbst überhaupt berührt würden, stets wurde erklärt, dass der Hersteller des Tonträgers per se hiervon technisch tangiert sei und daher seine Einwilligung zu geben hätte. Das Recht setzte also beim Punkt der digitalen Repräsentation am Beginn des Samplingprozesses an. Was hiernach mit dem Sample im weiteren musikalischen Schaffen geschah, ob und wie es in ein neues Werk moduliert und integriert wurde, blieb unberücksichtigt und damit alle künstlerischen Potentiale dieses intermedialen Verfahrens: Der verbriefte Triumph ökonomischer über ästhetische Erwägungen und das in jenem Teil des Rechts, der sich ästhetischen Gegenständen widmet. Nunmehr hat der Bundesgerichthof Sound Sampling mit allen anderen Arten der konkreten Inspiration, ohne die kein musikalisches Schaffen auskommt, gleichgestellt. Die analoge Anwendbarkeit von § 24 Abs. 1 UrhG bedeutet nun, dass der Individualitätsgrad der Vorlage und der des neuen Werks ins Verhältnis zu bringen sind und es zu beurteilen gilt, ob die Vorlage hinter dem Neuen verblasst. Hiermit wird die Fähigkeit des Sound Sampling zu weitreichender Modulation und künstlerischer Weiterverarbeitung des Gesampleten in ihrem ästhetischen Potential hierzulande das erste Mal juristisch anerkannt. Die Positionsverschiebung dürfte weitreichende Folgen für eine musikalische Praxis haben, in der das Sound Sampling im Gefolge der medialen Veränderungen während der vergangenen 30 Jahre zu einem dominierenden Verfahren geworden ist. Dies gilt für das Urheberrecht selbst, da der Bundesgerichtshof aus ästhetischen 44 Der BGH formuliert zwei Ausnahmen von der Ausnahme (Ziffern

23 und 24 des Urteils): Keine Anwendung, wenn der gesamplete Teil selbst einspielbar gewesen wäre und keine Anwendung bei Übernahme von Melodien wegen § 24 Abs. 2 UrhG.

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Erwägungen die bislang klare Rechtslage zum Sound Sampling aufgehoben hat. (Dies geschaht stets nur mit Erlaubnis des Tonträgerherstellers und, wenn der Urheber etwa bei großen Samples selbst betroffen ist, zusätzlich nur mit dessen Zustimmung, niemals aber erlaubnisfrei bis Ablauf der Schutzfristen für den Tonträger [§ 85 Abs. 3 Urhebergesetz: 50 Jahre ab Erscheinen]). Dabei hat es das intermediale Verfahren durch seine juristische Emanzipation und Gleichstellung nun denselben Unwägbarkeiten unterworfen, die das Urheberrecht kennzeichnen. Dies wird schon am weiteren Verlauf des Urteils selbst deutlich. Einige der daraus resultierenden Fragen seien exemplarisch angesprochen: 1. Kennzeichnend für den juristischen Umgang mit Musik ist, dass

die eigentlichen Fragen nicht geklärt sind und den Zufälligkeiten der Praxis – Gutachtermeinungen in Rechtsstreitigkeiten etc. – überlassen bleiben. Der Bundesgerichtshof erklärt § 24 Abs. 1 UrhG zwar für grundsätzlich analog anwendbar, lässt aber offen, wann dessen Voraussetzungen erfüllt sind, wann also das an eine Vorlage anknüpfende neue Werk als selbstständig angesehen werden kann. Das entscheidende Kriterium für die Bestimmung der Selbstständigkeit ist in der juristischen Argumentation ein sogenannter »ausreichender äußerer oder innerer Abstand«45 zwischen den beiden Werken, was faktisch heißt, dass die Neuschöpfung nicht nur abgekupfert, sondern eine wie auch immer geartete individuelle Leistung darstellen muss. »Die Schutzfähigkeit wird durch die Individualität begründet.«46 Man ahnt das Problem: Gewonnen ist durch diese Definitionen letztlich wenig. Angesichts dessen, dass dem Urheber ein Exklusivität gewährendes Eigentum an Geistigem zugesprochen wird, müsste man an sich, nicht zuletzt im Angesicht der gravierenden Rechtsfolgen und der langen Schutzfristen,47 präzise Kriterien erwarten. Geistiges Eigentum zielt im Fall der Musik darauf ab, jemandem Exklusivität an Musikalischem zuzusprechen. 45 Axel Nordemann: §§ 23/24 Urhebergesetz, in: Fromm/Nordemann.

Urheberrecht, S. 411–413 (§§ 23/24 Rn 43/50); Winfried Bullinger: § 24 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht, S. 377 f. (§ 24 Rn 9 f.). 46 Manfred Rehbinder: Urheberrecht, München 15 2008, S. 74. 47 Vgl. hierzu im Einzelnen Frédéric Döhl: Substantially Similar? Das Plagiat aus Sicht des Verhältnisses von Musik und Recht, in: Jochen Bung/Malte Gruber/Sebastian Kühn (Hg.): Plagiate (= Beiträge zur Rechts-, Gesellschafts- und Kulturkritik Bd. 10), Berlin 2010.

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Exklusivität setzt Abgrenzbarkeit voraus. Um abgrenzen zu können, muss der abzugrenzende Gegenstand wie sein Umfeld, zu dem Abgrenzung gesucht wird, bestimmt werden. Mangels objektiver Kriterien vollzieht sich dies jedoch notwendig im Wege ästhetischer Erfahrung. Am Ende sind also auch die Juristen auf das, was in dortiger Terminologie als »Gesamteindruck« firmiert und auf die Frage ihrer Bestimmbarkeit zurückgeworfen – nunmehr auch für das Sound Sampling. Sind die dabei ablaufenden Prozesse jedoch sprachlich zu fassen und daraus hinreichend objektivierte Vergleichskriterien ableitbar? 2. Der Bundesgerichthof statuiert zwei Gegenausnahmen, in dem er

festlegt, dass die Ausnahme des § 24 Abs. 1 UrhG erstens nur greift, wenn der Samplende das Gesamplete nicht selbst hätte einspielen können. Abgesehen von kaum lösbaren Beweisproblemen heißt dies vor allem rechtstheoretisch, dass minderbegabte Musiker bevorzugt werden.48 Man spürt an dieser in ihrer Konsequenz absurden Regelung vor allem eines, nämlich das Unbehagen des Bundesgerichtshofs über die Tragweite seiner Entscheidung. Wichtiger, da von grundsätzlicher Bedeutung, ist die zweite Gegenausnahme, auf welche der Bundesgerichtshof verwiesen hat: das Melodieprivileg des § 24 Abs. 2 UrhG. Nach dieser Bestimmung sind Melodien von freier Benutzung per se ausgenommen. Samplet man also etwas, das als Melodie im Rechtssinne zu qualifizieren ist und das im gesampleten Ausschnitt Werkqualität erreicht, unterfällt dieses dem kategorischen Einwilligungsvorbehalt jener Norm, eine Bestimmung, die den Tatbestand der freien Benutzung im übrigen nur für die Musik beschränkt und keine vergleichbaren Einschränkungen für andere Künste bereithält. Die generellen Schwierigkeiten des Rechts im Umgang mit der Musik zeigen sich ausgesprochen plastisch an diesem Punkt. Die grundsätzliche Fragwürdigkeit einer Privilegierung der Melodie kommt etwa darin zum Vorschein, wenn man sich die Argumente vergegenwärtigt, mit denen anderen Elementen musikalischer Arbeit die Schutzfähigkeit abgesprochen

48 Stieper: Anmerkung zu BGH, Urteil vom 20. November 2008, I ZR

112/06 – Metall auf Metall, S. 223–225, hier S. 225.

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wird.49 Bei Sound heißt es etwa, ihm fehle der »Inhalt«.50 Wo aber ist dieser in einer Melodie? Die Privilegierung ist nicht einmal ökonomisch konsequent, bedenkt man, wie maßgeblich heutzutage Sound und nicht Melodie die Individualität bestimmt. Das gilt selbst für die Populärmusik, was sich in Status und Prominenz der Figur des Produzenten widerspiegelt. Nach dem geltenden Recht musste der Bundesgerichtshof an der Gegenausnahme des Melodieprivilegs, § 24 Abs. 2 UrhG, festhalten und erklären, dass Sound Sampling in keinem Fall ohne Einwilligung des Urhebers an geschützten Melodien erfolgen darf. Sound Sampling als intermediales Verfahren verhält sich jedoch neutral gegenüber den Gegenständen, die gesamplet werden. Aus ihm heraus ergibt sich keine Hierarchie zwischen Melodie und z. B. Rhythmus oder Sound, den beiden prägenden musikalischen Merkmalen der Vorlage von Kraftwerk. Demnach offenbart das Sound Sampling, dass es sich hier um eine eigenständige ästhetische Entscheidung des Rechts handelt, die Melodie als Bereich musikalischer Kreativität zu bevorzugen, was beispielhaft illustriert, dass diese nicht zeitgemäß ist. In der Folge der kompositorischen Umdeutung wesentlicher Gestaltungsmittel (Melodik, Harmonik, Rhythmik, geschlossene Formen) hat sich die Dimension des Klangs im 20. Jahrhundert in allen Musikbereichen zu einer eigenständigen Kategorie entwickelt. Der ganze ästhetische Reiz der Komposition von Kraftwerk ist auf diesen Aspekt konzentriert. Schon der Begriff Sound Sampling 49 Bullinger: § 24 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht,

S. 380 (§ 24 Rn 16); Nordemann: §§ 23/24 Urhebergesetz, in: Fromm/ Nordemann. Urheberrecht, S. 414–416 (§§ 23/24 Rn 53–57). 50 Rehbinder: Urheberrecht, S. 68. Vgl. BGH : Urteil vom 3. Februar 1988, I ZR 143/86 – Fantasy, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 90 (1988), S. 810–812; BGH : Urteil vom 3. Februar 1988, I ZR 142/86 – Ein bißchen Frieden, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 90 (1988), S. 812–815; Gerhard Schricker: Anmerkung, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 90 (1988), S. 815 f.; Bullinger: § 24 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht, S. 380 (§ 24 Rn 16); Nordemann: §§ 23/24 Urhebergesetz, in: Fromm/Nordemann. Urheberrecht, S. 414 (§§ 23/24 Rn 55); Ulrich Loewenheim: § 8 Schutzumfang, in: ders. (Hg.): Handbuch des Urheberrechts, München 2 2003, S. 72 (§ 8 Rn 17); Gunda Dreyer: § 24 Urhebergesetz, in: Gunda Dreyer/Jost Kotthoff/Astrid Meckel (Hg.): Urheberecht, Heidelberg ²2009, S. 434 (§ 24 Rn 39); Hans-Jürgen Homann: Praxishandbuch Musikrecht, Berlin 2007, S. 67.

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symbolisiert diese Entwicklung. Gleichzeitig offenbart der Terminus Melodie nochmals grundsätzlich die methodischen Probleme des Rechts im Umgang mit Musik, die beinahe hilflos wirken, wenn es heißt: »Für den Begriff der Melodie können nicht die unklaren Auffassungen der Musikwissenschaft entscheidend sein, sondern er ist ein Rechtsbegriff.« »[. . .] musikwissenschaftliche Melodiebegriffe sind zu unklar und zu unbestimmt, um rechtliche Maßstäbe liefern zu können.«51 2500 Jahre theoretische Auseinandersetzungen mit dem Begriff Melodie in der Musikforschung haben natürlich einen Grund. Der Gegenstand ist nicht so einfach abschließend zu fassen und zu bestimmen wie es ein Jurist für seine Urteile benötigt. Das ist jedoch nicht der Musikwissenschaft, sondern den Eigenschaften der Musik geschuldet.52 Eben dies spiegelt sich dann auch in der vermeintlich Klarheit schaffenden juristischen Definition wider, die folgt: »Nach dem Sinn der Vorschrift des § 24 Abs. 2 UrhG ist unter Melodie eine als Einheit empfundene Tonfolge zu verstehen, die dem Werk seine individuelle Prägung gibt.«53 Wann aber ist eine Tonfolge als geschlossen anzusehen, wann verleiht sie eine individuelle Prägung? Bedenken wir dabei, dass die Juristen ergänzend – aus primär ökonomischen Motiven – keine hohen Anforderungen an die Eigentümlichkeit einer Melodie stellen wollen, um die Masse gesichtsloser Alltagsmelodik in den Genuss der ökonomischen Privilegierung durch das Recht kommen zu lassen (sogenannte »Kleine Münze«).54 In der Tonfolge müsse sich »ein individueller ästhetischer Gehalt ausdrücken«.55 Als Mehr an Maßstab existiert nur noch, den Gesamteindruck an einem »eini-

51 Ulrich Loewenheim: § 24 Urhebergesetz, in: Gerhard Schricker

(Hg.): Urheberrecht, München³ 2006, S. 532 (§ 24 Rn 28). 52 Vgl. Hans-Heinrich Eggebrecht/Albrecht Riethmüller (Hg.):

Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Wiesbaden/Stuttgart 1972–2005 (Loseblattsammlung in 40 Lieferungen). 53 Rehbinder: Urheberrecht, S. 146. Vgl. auch Bullinger: § 24 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht, S. 380 (§ 24 Rn 16); Nordemann: §§ 23/24 Urhebergesetz, in: Fromm/Nordemann. Urheberrecht, S. 414 (§§ 23/24 Rn 55). 54 BGH : Urteil vom 3. Februar 1988, I ZR 143/86 – Fantasy, S. 810–812, hier S. 810. 55 BGH : Urteil vom 3. Februar 1988, I ZR 142/86 – Ein bißchen Frieden, S. 812–815, hier S. 814.

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germaßen vertrauten und hierfür aufgeschlossenen Verkehrskreis«56 zu messen, was wiederum faktisch eine Fiktion ist, da gemeinhin Fachgutachten ausschlaggebend sind, deren Ersteller allenfalls versuchen können, sich in eine Urteilsposition hineinzuversetzen, die als Spezialisten letztlich doch nicht die ihre ist. Die beiden im Urteil formulierten Gegenausnahmen illustrieren also, dass der Bundesgerichthof das Sound Sampling durch seine Entscheidung aus klaren, wenn auf unkünstlerischen Erwägungen beruhenden juristischen Spielregeln in eine in jedem Aspekt labile und vielschichtige – man möchte sagen: künstlerisch adäquate – Grauzone entlassen hat. Man darf sich dabei über die Reichweite dieser Ausnahmen nicht täuschen. § 24 Abs. 2 UrhG verhindert etwa konkrete musikalische Parodie weitestgehend und lässt faktisch nur Stilparodien und Parodien nichtmelodischen musikalischen Materials zu,57 was schon als Sonderbehandlung der Musiker gegenüber anderen Künsten seltsam anmutet und weder ökonomisch zu begründen – das US-amerikanische Recht lässt das Argument z. B. unter Verweis auf die zuweitgehende Einschränkung für die Kunstproduktion nicht gelten58 – noch strukturell zu rechtfertigen ist – die Schweiz hat z. B. in das dort geltende Urhebergesetz extra eine Ausnahmebestimmung für die Parodie aufgenommen.59 3. Letztlich offenbart das Sound Sampling – stellvertretend für viele Aspekte –, dass das Recht mit den Entwicklungen im Bereich künstlerischer Produktion Schwierigkeiten hat, Schritt zu halten, sobald es nicht mehr um die reine Repräsentation von Musik auf Tonträgern, in Noten usw. und die Behandlung dieser ›Hardware‹ geht. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen widersprechen sich die dem Recht in Sachen Musik zugrunde gelegten, jede für sich wohl56 BGH : Urteil vom 26. September 1980, I ZR 17/78 – Dirlada, in: Ge-

werblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 83 (1981), S. 267–269, hier 268. 57 Bullinger: § 24 Urhebergesetz, in: Praxiskommentar zum Urheberrecht, S. 380 (§ 24 Rn 16). 58 Supreme Court der USA : Campbell v. Acuff-Rose 510 U. S. 569 (1994) – Oh, Pretty Woman, http://cip.law.ucla.edu/cases/case_ campbellacuff.html, 1. 11. 2009. 59 Art. 11 Abs. 3 Schweizer Bundesgesetz über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte: »Zulässig ist die Verwendung bestehender Werke zur Schaffung von Parodien oder mit ihnen vergleichbaren Abwandlungen des Werks.«

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bedachten Zielsetzungen, insbesondere 1. das ›Freihaltebedürfnis‹, nachdem Auswirkung des Urheberrechts nicht die Behinderung oder gar Unterbindung der Produktion neuer Musik sein soll und folglich das musikalische Material weithin frei nutzbar zu bleiben hat, 2. die ›kleine Münze‹, wonach nur rein Handwerkliches wie Tonleitern, Akkorde, Stimmungen etc. durch die geforderte Schöpfungshöhe aus dem Privileg eines Urheberschutzes ausgenommen wird, und 3. die Gradmesser rund um Individualität, Charakteristik, Neuheit etc., mit welchen versucht wird, die Bewertungsmaßstäbe variabel zu justieren. Zum anderen widersprechen sich die Sichtweisen von Musiker und Jurist auf die Musik. Sucht der musikalische Blick das Besondere, Originelle und Individuelle zu realisieren respektive zu identifizieren, um künstlerisch Eigenständiges zu schaffen bzw. die Vielschichtigkeit des künstlerischen Schaffens und der dazu gehörigen musiktheoretischen und ästhetischen Konzepte im historischen Verlauf beschreibbar zu machen, bemüht sich das Recht, durch den Zwang zum Entscheiden zur Hierarchisierung unterschiedlicher Ansichten verurteilt, dagegen darum, Einzelbeispiele in Präzedenzfälle mit kategorischer Verbindlichkeit umzuformen und die Musik in einer Weise zu komprimieren, die juristisch geboten, ihr aber als Kunst fremd ist. Die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat nun die grundsätzlichen Urheberrechtsprobleme auch für das Feld des Sound Sampling geöffnet, von denen es bislang aufgrund der Tonträgerherstellerrechte des § 85 UrhG prinzipiell ausgeschlossen war. Für das Recht ist damit anerkannt, dass es grundsätzlich möglich ist, auf Basis von Sound Sampling neue eigenständige Musik zu schaffen. Eben jenes hat § 24 Abs. 1 UrhG zur »freien Benutzung« geschützter Musik zum Gegenstand, den die Bundesrichter für analog anwendbar erklärt haben. Dies ist eine einschneidende Veränderung im Feld des Musikrechts und kommt einer Emanzipation dieses intermedialen Verfahrens zu einer vollwertigen Kompositionstechnik bald eine Generation nach seiner Hochphase in Musik-, Medien- und Rechtstheorie und musikalischer Praxis nun auch im juristischen Alltag gleich. So erweist sich dieser Richtspruch als Beispiel dafür, wie Entwicklungen im Künstlerischen letztlich ihren Weg ins Recht finden. Gleichzeitig illustriert diese Entscheidung, wie tief die Barrieren im Denken zwischen den Sphären sind, wie groß gerade die methodischen Schwierigkeiten in der Aneignung der Perspektive der Anderen sein können und wie resis-

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tent bisweilen lang anhaltende Trends im Musikalischen ignoriert werden, obwohl doch über diese adäquat befunden werden soll. Schon das Wort Sound Sampling gemahnt daran, dass sich die Dimension des Klangs im 20. Jahrhundert in allen Musikbereichen zu einer eigenständigen Kategorie entwickelt hat und die Melodie, welche das Recht nach wie vor zu privilegieren sucht, als primären Hort musikalischer Kreativität in vielen Fällen abgelöst hat. Fasst der Begriff Intermedialität zugleich das Moment des Verbindens und gegenseitigen Beeinflussens wie das Trennende und Eigenständige mehrerer medialer Ebenen zusammen, so handelt es sich beim Verhältnis zwischen Recht und Musik (wie den Künsten überhaupt) letztlich um eine Metavariante eben dieses komplexen Beziehungsgeflechts, woraus sich manche Analogie ableiten lässt, wie das Sound Sampling zeigt, dem aber dann doch ein kardinaler Unterschied zugrunde liegt: In dieser, über das Intermediale hinausgehenden, deren Konfiguration jedoch aufnehmenden Verbindung ist das Dominanzverhältnis stets eindeutig zugunsten des Rechts entschieden. Gerade deshalb erweist es sich als Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Aufhebung der bisherigen strikten Rechtsprechung zum Sound Sampling, welche einmal die Argumente und Entwicklungen im Medialen und Ästhetischen aufgreifen und ins Recht umsetzen will, den Prozess juristischer Urteilsfindung hierüber exponentiell erschwert. Die Neuausrichtung der musikrechtlichen Reaktion auf das Sound Sampling führt exemplarisch und mit besonderer Drastik dieses grundsätzliche Dilemma des Urheberrechts vor Augen: Lässt sich das Recht auf die Komplexität der ästhetischen Sphäre ein – was es sollte, richtet es doch über deren Gegenstände –, ist es zu objektiven oder zumindest objektivierten Urteilen nicht mehr fähig und muss sich in den Bereich ästhetischer Erfahrung begeben, mit all seinen – so muss es aus juristischer Perspektive erscheinen – Limitierungen von Subjektivität, Autonomie bis letztlich Willkür, auf welche das Recht mit verzweifeltem Bemühen um stabile Kategorien reagiert (wie mit dem Melodieprivileg). Arbeitet das Recht dagegen mit objektiven Merkmalen – wie in der alten Rechtslage zum Sound Sampling mit dem technischmedialen Kriterium der Nutzung eines fremden Tonträgers –, verzehrt es die künstlerischen Gegenstände und Prozesse, über die es richtet – hier etwa in der Nichtberücksichtigung der Diversität der Möglichkeiten in Modulation und integrativer Einbettung des Samples. Dieses Dilemma nun erscheint, anders als das zuvor angeführte

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urheberrechtsinterne im Spannungsfeld von kleiner Münze, Freihaltebedürfnis und Individualität, unauflösbar zu sein. Wenn das Geistig-Künstlerische jedoch nur unter solchen Bedingungen im Rechtlichen zu erfassen ist, kann dann eine Exklusivität für Jahrzehnte zusprechende Eigentumsidee sachgerechter Weise aufrecht erhalten werden? Nur weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

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Performing Live-Electronics Der Keyboarder Jordan Rudess

Michael Custodis (Münster)

In der Annahme, dass sich das Verhältnis von Individuum und Technik als ein charakteristisches Merkmal unserer gegenwärtigen Kultur benennen lässt, liefern die im Titel aufgeführten Begriffe Performance, Live und Elektronics im Kontext der Musik diverse ästhetische und historische Ansatzpunkte, um markante Verschiebungen in diesem Verhältnis während der letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen. Das Beispiel eines klassisch ausgebildeten Musikers, der als einer der führenden Tastenvirtuosen im Bereich der Rockmusik gilt und bevorzugt mit aktuellsten elektronischen Klangmitteln arbeitet, bietet sich dabei für einen kursorischen Überblick in besonderer Weise an. Die folgenden Überlegungen beginnen daher mit einigen Bemerkungen zu Instrumentarium und Spielweise von Jordan Rudess, kontrastieren anschließend diese technischen Aspekte mit historischen Grundzügen progressiven Denkens in der Musik und skizzieren vor diesem Hintergrund Rudess’ eigenen Beitrag zur intermedialen Weiterentwicklung live-elektronischen Musizierens.

1. Instrumentarium Je nachdem, wie sehr man mit Konzertgepflogenheiten in verschiedenen Bereichen der Musik vertraut ist, erscheint die energetische Bewegung eines Instrumentalsolisten auf einer großen Bühne normal, unüblich oder spektakulär. Im Gegensatz zu anderen Genres besitzt virtuoses Brillieren im Bereich der Rockmusik noch einen positiven Wert und wird dort üblicherweise vom Sologitarristen übernommen, was von Fans und Fachleuten nicht nur toleriert, sondern direkt erwartet wird.1 Aus dieser Beliebtheit lässt sich auch der Erfolg von Guitar Hero sowie das große Interesse an Wettbe1 Vgl. hierzu das Kapitel Film Music in Concert: Metallica mit Michael

Kamen, in: Michael Custodis: Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik, Bielefeld 2009, S. 111–156, hier S. 120–125.

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werben im Luftgitarrenspiel erklären. In der Bewunderung von Virtuosen hat eine im 15. Jahrhundert aufkommende Bewertung von Musikern überdauert, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Doppelbegabungen in Personalunion Komponisten und Interpreten waren.2 Ihren historischen Höhepunkt fand diese Entwicklung bei den »Stars« ihrer Zeit Franz Liszt und Niccolò Paganini, als im Zuge des erstarkenden Werkbegriffs das Verdikt »leerer« Virtuosität aufkam, mit der das Zurschaustellen vermeintlicher spieltechnischer Unmöglichkeiten als Überheblichkeit gegenüber der Musik und dem Publikum gebrandmarkt wurde. Die acht- bis fünfundzwanzigminütigen Songs seiner Band Dream Theater sowie sein abendliches ausführliches Solo in der Mitte der üblicherweise zwei bis drei Stunden langen Konzerte, wenn ihm seine Kollegen allein die Bühne überlassen, bieten Jordan Rudess ausführlich Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen. Im Zusammenspiel mit seinen Instrumenten ist das energetische Moment von Bewegung von wesentlicher Bedeutung für Rudess’ Performance, zum einen bei der außergewöhnlichen Schnelligkeit und Präzision seiner Finger, zum anderen hinsichtlich der Mobilität seiner Instrumente. Wie in der ersten Abbildung zu erkennen ist, stehen ihm auf der Bühne mehrere Tastaturen zur Verfügung, mit denen er auf eine Fülle vorprogrammierter, dezentral auf und unter der Bühne verstauter Klangerzeuger zugreifen kann. Sein Hauptinstrument ist ein großer, 360 Grad drehbarer Synthesizer (im Bild rechts vorne), auf den weitere kleinere Geräte montiert sind, so dass er sich – anders als sein Kollege Mike Portnoy hinter seinem gigantischen Schlagzeug – beim Spielen seinen Mitmusikern oder dem Publikum zuwenden kann. 2 Anschauliche Hinweise auf diese Sichtweise bieten, neben insbe-

sondere historischen Lexika, Albrecht Riethmüller: Die Verdächtigung des Virtuosen – Zwischen Midas von Akragas und Herbert von Karajan, in: Herbert von Karajan Centrum (Hg.): Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft, Wien 2001, S. 100–124, sowie Paragraf 6c in Alban Bergs Prospekt des Vereins für musikalische Privataufführungen, in: Musik-Konzepte. Band 36 Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, München: 1984, S. 4–7, hier S. 3: »Die Aufführenden sind vorerst solche, die sich dem Verein aus Interesse an der Sache zur Verfügung stellen. Durch strenge Auswahl wird jenes Virtuosentum ausgeschaltet, dem das aufzuführende Werk nicht Selbstzweck ist.«

Performing Live-Electronics

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Abbildung 1: Jordan Rudess während der Dream Theater-Welttour-

nee Chaos in Motion (© Jordan Rudess 2008)

Ergänzend nutzt Rudess einen von der Firma Zen Riffer speziell für ihn entworfenen tragbaren Controller, der selbst keine Klänge erzeugt, sondern per Funksignal andere Klangerzeuger ansteuert.3 Losgelöst von der statischen Klaviertastatur des großen Synthesizers ermöglicht ihm dieses Instrument, frei und kabellos beweglich wie ein Gitarrist zu sein und dessen Bühnenposen einnehmen zu können. Die Funktionsweise des Controllers ist typisch für die Verbindung der Spiel- und Klangtechnik insgesamt. Neben der Beeinflussung der Tonhöhe durch eine konventionelle diatonische Klaviatur stehen diverse Regler, Joysticks und Pitch-Bend-Räder zur Verfügung, die frei bestimmten Klangeigenschaften zugeordnet und während des Spiels in Echtzeit bedient werden können. Per Funk werden diese Steuerbefehle an die klangerzeugenden Geräte im Bühnenhintergrund übertragen, was den Aktionsradius eines Keyboarders im Vergleich zu den Anfängen dieser Instrumente in den 1960er Jahren erheblich ausweitet. Dank digitaler Sampletechnik und synthetischer Klangerzeugung steht heute eine theoretisch unbegrenzte Fülle von Sounds in wenigen Rackeinheiten zur Verfügung, die noch vor wenigen Jahren nur in einem komplex verkabelten Tonstudio aufwändig zu produzieren war und einen Keyboarder in einer Live-Situation hinter imposante und kaum zu überblickende Gerätschaften verbannte, wie man sie von Veteranen wie Keith Emerson, Richard Wright (Pink Floyd) und Tony Banks (Genesis) kennt. Der Netzwerkgedanke, der sich hinter moderner, dezentraler Klangerzeugung verbirgt und den Aufbau von Rudess’ gesamtem Equipment bestimmt, wird in jenem Moment sichtbar, in dem er bei einem seiner ausführlichen Soli den vom trag3 Rich Wilson: Lifting Shadows. The Authorized Biography of Dream

Theater, London 2009, S. 347.

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Abbildung 2: Detailaufnahme von Jordan Rudess am Haken-Conti-

nuum Fingerboard (© Dream Theater 2007)

baren Keyboard-Controller gesteuerten Sound plötzlich an einem anderen Instrument weiterspielt, beispielsweise dem sogenannten Continuum-Fingerboard der Firma Haken (siehe Abbildung 2).4 Die stufenlose Oberfläche dieses Controllers bindet die Klangnuancierung gerade nicht an eine herkömmliche Tastatur (die im Bild zu erkennende Oktaveinteilung in Halbtöne dient nur zur Orientierung), sondern überlässt die Aufteilung der Spielfläche ganz den Vorlieben des Musikers. Das von Rudess mitentwickelte Continuum-Fingerboard ermöglicht eine alternative Gestaltung eines Klangs durch die Bewegung der Finger auf der tastempfindlichen Oberfläche und bietet dem Musiker den gleichzeitigen Zugriff auf kleinste Frequenzdistanzen und Filtermodulationen auf drei Ebenen. Bei einer üblichen Programmierung ist die Tonhöhe der horizontalen X-Achse (vom tiefen ins hohe Register) zugeordnet, während die vertikale Y- und die in den Gerätekorpus verlagerte Z-Achse frei mit Filtern und Effekten zu belegen sind. Diese dreidimensionale Konfiguration bewirkt eine bislang nicht gekannte, intuitive und stufenlose Nuancierung eines Tons mit nur einem Finger beim Spielen, wie man es zum Beispiel von der Modifikation einer schwingenden Saite durch die Fingerkuppe des Spielers kennt. Nicht zufällig basiert die technische Umsetzung der Tonerzeugung im Innern des Haken-Fingerboards auf gespannten Saiten. Im Zusammenspiel der verschiedenen Controller und Keyboards ist festzustellen, dass jedes von Rudess’ Terminals andere Zugriffsweisen auf die für das Solo ausgewählten Sounds verwendet, die wiederum so vielschichtig programmiert sind mit diversen Filtern, Wellenformen und Hüllkurven, dass erst die Kombination der haptischen Qualitäten der 4 Anschauliche Beispiele bieten insbesondere die Live-DVDs von

Dream Theater Score (2006) und Chaos in Motion 2007–2008 (2008).

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verschiedenen Instrumente die Komplexität der Klänge voll zur Geltung bringt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Rudess’ Präferenz im Kompositionsprozess, sich oft zunächst von den ästhetischen Qualitäten eines Klangs inspirieren zu lassen, um daraus eine Melodie, ein rhythmisches Muster oder eine dichte Soundstruktur zu entwickeln.5 Zum Verständnis eines so physischen Umgangs mit der Plastizität von Klang ist es an dieser Stelle geboten, für einen Augenblick näher auf Rudess musikalische Sozialisation einzugehen, da seine Vorliebe, die stilspezifischen, technischen und medialen Bedingungen von Musik im reinen Wortsinn spielerisch immer wieder zur Disposition zu stellen, seine Auseinandersetzung mit Musik bereits von Anfang an bestimmt hat. 1956 in New York geboren, zeigte Jordan Rudess bereits früh großes Talent am Klavier, so dass er im Alter von neun Jahren eine Ausbildung zum klassischen Pianisten an der renommierten Juillard School begann, zunächst in den Vorbereitungsklassen für Kinder.6 Als früheste musikalische Einflüsse machte man ihn dort mit dem kanonischen Virtuosenrepertoire von Bach über Liszt und Chopin bis zum französischen Impressionismus vertraut. Durch einen Freund lernte er Anfang der 1970er Jahre allerdings die progressive Rockmusik von King Crimson, Gentle Giant, Pink Floyd, Genesis, Yes und vor allem des klassikaffinen Keith Emerson und seiner Kollegen Greg Lake und Carl Palmer kennen und erkundete mit einem alsbald erworbenen Mini-Moog-Synthesizer die spieltechnischen und klanglichen Möglichkeiten der elektronischen Musik. Insbesondere die Manipulation von Klängen in Echtzeit mit Pitch Wheel und Filtern, wie sie auf dem Klavier nicht zu realisieren ist, eröffnete ihm ungeahnte Freiräume als Tastenvirtuose, so dass er sein klassisches Studium aufgab und sich fortan der experimentellen Rockmusik verschrieb.7 Im Übergang zu einer Karriere als Solokünstler und Sessionmusiker arbeitete Rudess zudem für einige Jahre als Produktspezialist für die Firma Korg und sammelte dort Erfahrungen bei der Programmierung und technischen Umsetzung elektronischer Klänge, so dass er 5 Wilson: Lifting Shadows, S. 358. 6 Wilson: Lifting Shadows, S. 234 und h t t p : / / w w w . i n d i e- mu -

sic.com/modules.php?name=News&file=article&sid=1961, 20. 6. 2009. 7 http://www.jordanrudess.com/jordan/m1bio.html, 8. 6. 2009.

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seitdem immer wieder an der Entwicklung neuartiger Controller und Soundapplikationen beteiligt war. Die Instrumentengeschichte der Synthesizer erinnert daran, dass elektronische Klangerzeuger nicht erst in den 1960er Jahren aufkamen, sondern über Pioniere wie Leo Theremin, Maurice Martenot und Oscar Sala sowie über Komponisten wie Otto Luening und Vladimir Ussachevsky, Iannis Xenakis und allen voran Karlheinz Stockhausen eng mit der von Arnold Schönberg, Anton Webern und Igor Strawinsky ihren Ausgang nehmenden Avantgarde verbunden ist. Als um die Wende zum 20. Jahrhundert die tragenden Elemente der tonalen Musik (Melodie, Harmonik, Rhythmus und Form) in Frage gestellt wurden, war von vielen Künstlern nun Klang zum Ausgangspunkt einer Suche nach neuen Ausdrucksformen genommen worden, um mit der kompositorischen Autonomisierung der Kategorie ›Klang‹ die unhandlich gewordenen Kategorien ›Melodie‹ und ›Rhythmus‹ zu restituieren. Diese Tradition der experimentellen Klangerforschung lässt sich bis zu György Ligetis postseriellen Kompositionen Apparitions (1959), Atmosphères (1961), Volumina (1962), Requiem (1963–65), Lux aeterna (1966) und Lontano (1967) und bis zur französischen Gruppe der Spektralisten um Gerard Grisey in die 1980er Jahre nachverfolgen. In besonderer Weise materialisierte sich aber das Bedürfnis, die Gestaltung des Klangs von Grund auf zu kontrollieren und alle musikalischen Elemente von Tonhöhe, Tondauer, Timbre, Rhythmus und Form aus einem gemeinsamen kompositorischen Ursprung abzuleiten, in der von Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig beim WDR in Köln entwickelten seriellen elektronischen Musik, die nur äußerst zeit- und materialaufwändig zu produzieren war. Ein anderer aus der elektronischen Musik hervorgegangener Stil, der zugleich den spielerischen Umgang mit Klängen wieder ins Zentrum des Interesses rückte, führt ins New York der frühen 1970er Jahre zu David Behrman und insbesondere zu David Tudor, der sich in den Jahren zuvor als führender Interpret für avantgardistische Klaviermusik und enger Vertrauter von John Cage einen Namen gemacht hatte. Unter den entgegengesetzten ökonomischen Bedingungen ihrer europäischen Kollegen, die in öffentlich budgetierten Experimentalstudios zumeist unter dem Dach von Rundfunksendern arbeiten konnten, konstruierten Behrman, Tudor und andere mit möglichst billigen Mitteln interak-

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tive Klangerzeuger, ihre so genannten Home Made Electronics.8 In Reaktion auf die wachsende Bedeutung von aleatorischen, improvisatorischen und performativen Qualitäten von Musik trat in der Folgezeit aber auch in den wenigen großen elektronischen Studios in Paris, Mailand und Köln das Interesse an monatelang ausgetüftelten Klängen bald hinter deren situativer Gestaltung zurück und führte zu einer Vielzahl von Solo-, Ensemble- und Orchesterstücken mit Live-Elektronik.

2. Progressives Denken in der Musik des 20. Jahrhunderts Die von Jordan Rudess verkörperte Koppelung einer klassischen Expertise mit einem für Rockmusiker typischen Zugriff auf elektronische Klangmittel zeichnet auf der biografischen Ebene eine Entwicklungsgeschichte der Musik im 20. Jahrhundert nach, die an anderer Stelle als ästhetische Diversifikation beschrieben wurde.9 Darunter ist die Pluralisierung musikalischer Stile zu verstehen, indem nach der Auflösung der Tonalität (dem bislang musikalischen Konsens stiftenden System) eine Fülle von Genres entstand, die aus Sicht des Publikums heute weitgehend ästhetisch gleichberechtigt nebeneinander existieren. Dass in der Musikgeschichte seit der Unterscheidung von Ars antiqua und Ars nova im 14. Jahrhundert Epochenwechsel immer wieder als Streitfälle verhandelt wurden und dabei auch die Grenzen zwischen Popularität und Exklusivität tangierten, lässt sich in Grundzügen auch bei der Verwendung von Synthesizern in Genres wie Jazz, Pop und Avantgarde beobachten, die in den 1970er Jahren musikalisch wenig verband. Diese Parallelität legt die Vermutung einer Abstammung des musikalisch höchst unterschiedlich artikulierten, gemeinsamen Interesses in einem progressiven Verständnis von Musik nahe. Darüber hinaus steht die in Rudess’ musikalischer Sozialisation zu beobachtende Entgrenzung klassischer und populärer Anteile im Verhältnis zur großen 8 David Behrman: Chaotische Systeme. Tudor, in: MusikTexte 14

(1996), Heft 69/70, S. 73–75; Hermann-Christoph Müller: Einheit von Klang und Technik. Die Musik des US-amerikanischen Komponisten David Behrman, in: MusikTexte 17 (2000), Heft 85, S. 31–36. 9 Siehe das entsprechend betitelte Einleitungskapitel in Custodis: Klassische Musik heute, S. 9–22.

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Zielgruppe von Hörern und Käufern solcher elektronischer Instrumente, da er – wie zuvor schon Keith Emerson und Jon Lord – als Typus des technisch versierten Künstlers zum Idol zahlloser Nachwuchsmusiker wurde. Der von populären Musikern ausgehende Werbeeffekt für Instrumententechnik – vergleichbar dem Aufstieg des Klaviers zum beliebtesten Instrument des 19. Jahrhunderts – wurde im Fall des Synthesizers erst möglich durch die Verbilligung und Vereinfachung von analogen Geräten, wie sie von Robert Moog zum Ende der 1960er zur Serienreife gebracht worden waren und gut zehn Jahre später in Form des ersten erschwinglichen digitalen Synthesizers DX-7 des japanischen Industriekonzerns Yamaha auf den Markt kamen. Nachdem zur Mitte der 1990er Jahre leistungsfähige PCs und Audioprogramme für jedes Heimstudio verfügbar wurden und die gängigen Soundlibraries und digitalen Klangerzeuger bald ihren Reiz verloren hatten, da sie zwar leicht einzusetzen, dafür aber überall zu hören waren, begann eine Rückwendung zu älteren analogen Geräten. Als ein historisch einmaliges Phänomen im 20. Jahrhundert führte dieses Interesse an den Ursprüngen der elektroakustischen Musik auch zu einer unerwarteten, bis heute andauernden Renaissance der beiden Ikonen der Kölner elektronischen Musik bzw. der Pariser Musique concrète, Karlheinz Stockhausen und Pierre Henry. Bezeichnenderweise galt das Interesse der jungen Nachwuchselektroniker an diesem Teilbereich der Avantgardegeschichte aber nicht der von Stockhausen und Henry angewandten Kompositions-, sondern der von ihnen eingesetzten Studiotechnik. Die Frage nach der Methode des Komponierens wurde also von jener nach den eingesetzten Geräten – den Sinuswellengeneratoren, Filtern und Ringmodulatoren – fast vollständig überlagert und entsprach einer Umgehung des Avantgarderepertoires mit deren eigenen Klangmitteln. Zur Erklärung dieser erstaunlichen Verschiebung in der kollektiven Wahrnehmung der Musik des 20. Jahrhunderts ist auf den Gedanken zurückzukommen, eine positive Einstellung der Künstler zu musikalischer Progressivität als gemeinsame Grundlage anzunehmen. Denn in Ergänzung dieser These scheint in der wachsenden Bedeutung der technischen Seite von Musik ein historischer Prozess auf, bei dem die Umwälzungen von Gesellschaft, Arbeitswelt und Kulturleben im 19. Jahrhundert als Fortschrittsgeschichte aufgefasst wurden. Nicht erst seit der Fortschrittspartei – jenem selbst

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ernannten Apologetenkreis um Franz Liszt und Richard Wagner – hat sich dieser Begriff in die Musikgeschichtsbücher eingeschrieben, doch wurde er spätestens mit der von Theodor W. Adorno im Streit mit Ernst Krenek 1930 ausgetragenen Debatte um Fortschritt und Reaktion sowie der Anwendung dieser Dichotomie auf Schönberg versus Strawinsky in der 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik zu einer problematischen Kategorie der Musikästhetik.10 Ohne dass Adorno genauer spezifiziert hätte, wo erstens genau die Grenzen seines postulierten objektiv-gesellschaftlichen Stands des musikalischen Materials verliefen und zweitens welche Nachbarkünste der Musik im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit und Medialisierung diesen Kriterien standhielten, konnte sich diese Vorstellung innerhalb der Avantgardetradition bis weit in die 1960er Jahre halten und ist auch heute noch vereinzelt publizistisch anzutreffen. Als Referenz, dass Musiker nicht nur Verhandlungsmasse von Fortschrittsdebatten sind, sondern auch selbst darüber reflektieren, ließe sich Arnold Schönbergs Manifest Brahms, the Progressive anführen, das die von der Wagner-Fraktion benutzten Argumente (von Brahms als akademischem, konservativem Reaktionär) ins Gegenteil verkehrte.11 Der Bogen zurück zu Jordan Rudess lässt sich mit diesen Stichworten schnell schlagen, da er sich selbst dem Genre des Progressive Metal, einer Weiterentwicklung des so genannten Prog-Rock der 1970er Jahre zuordnet. Die terminologische Klammer eines solchen »progressiven« Musikverständnisses setzt bei einem teleologischen, fortschrittsorientierten Zeitverständnis an (abgeleitet aus dem etymologischen Wortstamm von lat. progressio = Fortschritt, Steigerung) und bringt kompositorische Stile in Nachbarschaft, die gemessen an ihren musikalischen Resultaten nur wenige Berührungspunkte haben. Entsprechend kann sich auch auf der technischen Ebene des Instrumentariums die geschilderte Analogie vollziehen, dass Synthesizer zur gleichen Zeit in ästhetisch höchst unterschiedlichen Genres in Mode kamen. 10 Vgl. Theodor Wiesengrund-Adorno: Reaktion und Fortschritt, in:

Musikblätter des Anbruch 12 (1930), Heft 6 sowie Ernst Krenek: Fortschritt und Reaktion, in: ebd. 11 Arnold Schönberg: Brahms, der Fortschrittliche [1947], in: Ivan Vojtˇech (Hg.): Arnold Schönberg. Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Frankfurt a. M. 1976, S. 54–104.

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Die kompositorischen Konsequenzen jener Künstler, die sich einer neuen, modernen, progressiven Musik verschrieben, beinhalteten sowohl Kontinuitäten als auch Distinktionen, einerseits gegenüber historischen Vorläufern innerhalb der Tradition, der sie sich selbst zuordnen, andererseits gegenüber der zeitgleichen Situation in anderen Genres. Ein entsprechendes Beispiel ist die Verkürzung oder Ausdehnung etablierter Formen. So wurden beispielsweise Anton Weberns Stücke durch ihre radikale Kürze und den extrem verdichteten Tonsatz berühmt, im Gegenzug drängte es Stan Kentons als »Innovations in Modern Music« beworbenen Progressive Jazz der 1940er Jahre zur Klangfülle und zum Formenreichtum der romantischen Sinfonik. Der vom Progressive Rock der 1970er Jahre übernommene romantische Anspruch einer poetischen Innerlichkeit sowie ein Hang zu langen epischen Stücken, am deutlichsten zu erkennen an der Vorliebe für Konzeptalben, verbindet sich in der Musik von Dream Theater, den prominentesten Vorreitern des Progressive Metal, mit dem Sound und der Underdog-Attitüde des Heavy Metal. Gegründet 1985 von John Petrucci, John Myung und Mike Portnoy unter dem ursprünglichen Namen Majesty während ihrer gemeinsamen Studienzeit am Berklee College of Music in Boston widersetzt sich die Musik von Dream Theater mit verschachtelten, langen Kompositionen, großen instrumentalen Blöcken, komplexen, intrikaten Rhythmen und einem hohen virtuosen Anspruch von jeher den Normen der Musikindustrie zur Eingänglichkeit, Fasslichkeit und reduzierten Dichte radiotauglicher Songformate. Dass die Auskoppelung der achtminütigen Single Pull Me Under aus ihrem zweiten Album Images and Words (1992) der Band den Durchbruch bei einem größeren Publikum und einen langfristigen kommerziellen Erfolg bescheren sollte, widersprach daher den Erwartungen ihrer Plattenfirma und bestätigte zugleich die enge Bindung der Musiker an ihre Fans. Seit der anhaltenden Krise der Musikindustrie und dem Niedergang des kommerziellen Musikfernsehens ist die von Heavy-MetalBands und -Fans bereits seit Anfang der 1980er Jahre praktizierte möglichst direkte Vernetzung (damals durch Mailorder-Vertriebe und eigene Musikmagazine) im Zeitalter des Internets der übliche Weg, eine zu große Einflussnahme musikindustrieller Interessen zu umgehen, einen engen Austausch aller Beteiligten zu gewährleisten und – aus dieser gemeinsamen Positionierung gegen den Mehr-

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heitsgeschmack eines unüberschaubaren, anonymen Kollektivs – das Zusammengehörigkeitsgefühl einer eingeschworenen, unkommerziellen Gemeinschaft zu generieren.12 Die Widersprüche und Probleme dieser Überzeugung zeigten sich zehn Jahre später, als Metallica mit ihrem selbst betitelten schwarzen Album (1991) vom scene-act zum Hitparadenphänomen aufstiegen und die gesamte Metalszene mit ihnen zu einem globalen Massenphänomen wurde. Aufgrund ihrer musikalischen Eigenart, eingängige Melodien und komplizierte Rhythmen mit Metalsounds zu verschmelzen, erspielten sich Dream Theater im Lauf ihrer Karriere ein sehr loyales und spezielles Publikum, so dass ihre langjährige Plattenfirma Atlantic Records kein Geld in das damals gängige Werbemedium aufwändiger, teurer Musikvideos investierte, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Diese Zurückhaltung entspricht zugleich der Selbstwahrnehmung der Band, die sich vor allem über ihre Live-Präsenz definiert und mit der fiktionalen Bebilderung der eigenen Musik nie zufrieden war, wie Sänger James LaBrie in einem Interview bestätigte: »[. . .] I don’t think promo videos are really our forte to be honest with you. I think with Dream Theater, the perfect format for us is a full-length DVD which shows us in our more natural environment on stage.«13 Alle medialen Mittel, die Dream Theater in Verbindung mit ihrer Musik einsetzen, richten sich als Live-Anwendungen daher direkt an das ihnen vertraute Publikum in Form von Spielsequenzen und Animationen auf einer Großbildleinwand, worauf im folgenden, letzten Abschnitts einzugehen sein wird.

3. Aktuelle intermediale Tendenzen der Live-Elektronik Wie sich an der redaktionellen Ausrichtung von Fachmagazinen leicht feststellen lässt, gelten Keyboarder in einer Band als die technikaffinsten Musiker, da ihr Instrumentarium am grundlegendsten von den technischen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte betroffen ist. So sind im Internet zahlreiche Filme abrufbar, bei denen Jordan Rudess neue Instrumente auf Praxistauglichkeit und Handlichkeit für Amateure als auch für professionelle Anwender testet. 12 Vgl. als Pilotstudie zu diesem Thema Deena Weinstein: Heavy Me-

tal. A Cultural Sociology, New York 1991. 13 Wilson: Lifting Shadows, S. 374.

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Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass auch diese Geräte primär als Controller und Portale in die mit anderen Maschinen erzeugte Klangwelt von Keyboardern dienen, da sich der Fokus bei der Soundentwicklung zunehmend auf die Verschränkung virtuell generierter, Sample-basierter, analog produzierter und digital weiterverarbeiteter Klänge verlagert. Bezeichnenderweise schöpfen diese Instrumente somit ihr innovatives Potenzial aus intermedialen Ansätzen. Eine erste Gruppe von jüngst entwickelten Keyboard-Controllern verbindet lange gehegte Träume von Musikern zur Entwicklung alternativer Notationsformen und logisch angeordneter Tastaturen mit der synästhetischen Verschmelzung von Licht und Ton. Die verschiedenen historischen Stationen der musikalischen Notation erinnern mit antiken und so genannten außereuropäischen Schriftsystemen, den mittelalterlichen Neumen, den Tabulaturen der frühen Neuzeit, dem barocken Generalbass, Louis Brailles Adaption seiner Blindenschrift für Musiker, der zunehmend komplexen Fixierung von Ton- und Klangparametern in den bekannten fünf Linien, den Experimenten von Alois Habas und Ferruccio Busonis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie der grafischen Notation der 1960er Jahre daran, das unterschiedliche Ansprüche zur Dokumentation von Musik jeweils neue Zeichen- und Denksysteme hervorbrachten. Daran angelehnt verteilt der von der Firma CThru-Music entworfene Controller AXiS-64 die herkömmliche diatonische Skala nach Intervallverwandtschaften mittels verschiedener Farben auf einem rechteckigen Feld.14 Die daraus entstehende Fläche wandelt die Reihung der üblicherweise fünf bis acht Oktaven umfassenden Klaviatur um in eine Anordnung der Töne nach Terz-, Quart- und Quintverhältnissen, so dass sich die Logik einer solchen Aufteilung primär all jenen erschließt, die mit den intervallischen Zusammenhängen unseres Tonsystems vertraut sind. Einen ganz anderen Ansatz verfolgte die Firma Yamaha bei der Entwicklung ihres Control-Panels Tenori-On. Dieses Gerät basiert auf der Visualisierung von Ton- und Klangverläufen zur direkten Beeinflussung von abgespeicherten Rhythmen und sequenzierten Klangmustern auf 14 Siehe die Homepage des Herstellers http://www.c-thru-music.

com/cgi/?page=prod_axis-64 sowie Jordan Rudess’ Gerätetest http://www.youtube.com/watch?v=pQ4nPcGCGIs, 20. 6. 2009.

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einer Bildschirmoberfläche mittels Fingerzeig.15 Bei der Gestaltung des Displays wurde von herkömmlichen Grafiken, Parameterkurven oder anderen bildlichen Soundübersetzungen abstrahiert zugunsten einer intuitiven Spielweise. Als besonderer Clou des TenoriOn liegt in seiner Verwendung, die stark an Game-Controller wie Nintendos Wii erinnert, die Handdrehungen im Raum mit einer Software in virtuelle Bewegungen zum Beispiel in einem Computerspiel übersetzen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich solche Instrumente wirklich durchsetzen werden, da sie keine wirklich präzise Kontrolle von Tönen und Klängen zulassen. Wenn dies aber gerade nicht in der Absicht des Benutzers liegt, die Steuerung der Klänge von anderen Maschinen überwacht wird und zudem durch die Programmierbarkeit des Tenori-Ons noch viele ungeahnte Anwendungen denkbar sind, ergibt sich für die live-elektronische Performance von Keyboardern (z. B. in der Begleitband von Björks aktueller Welttournee) ein bislang kaum gekannter, durchaus wörtlich zu verstehender Spielraum. Die zweite Gruppe innovativer intermedialer Klangerzeuger greift in Form von Applikationen auf die Ressourcen und die haptischen Qualitäten des multifunktionalen iPhones der Firma Apple zurück, das seit seiner Markteinführung im Januar 2007 dank einer stetig steigenden Zahl von Anwendungsprogrammen auch für Musiker immer interessanter wird. Eine Software-Applikation, das Ellatron, ist beispielsweise eng angelehnt an das unter anderem durch die Beatles bekannt gewordene Mellatron, einer auf Tonbandschleifen basierenden mechanischen Vorform des Samplers, besonders beliebt wegen seiner auf Tastendruck abrufbaren Chöre, Streicher und Bläserklänge.16 Während das von der Firma Omenie-Software entwickelte Ellatron das iPhone als Taschencomputer nutzt, schöpft die Applikation Wivi Band von Wallander Instruments dessen spezifische Möglichkeiten als Telefon aus, indem das Mikrofon als Sensor fungiert und die Software das iPhone in ein Blasinstrument mit 15 Vgl. die Homepage des Herstellers http://tenori-on.yamaha-

europe.com/germany sowie Jordan Rudess’ Gerätetest http:// www.youtube.com/watch?v=WQQpMgbuGjU, 20. 6. 2009. 16 Vgl. die Homepage des Herstellers http://web.mac.com/omenie/ Site/Home.html sowie Jordan Rudess’ Gerätetest http://www. youtube.com/watch?v=BlqEJL2EZFA, 20. 6. 2009.

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einer Fülle von Holz- und Blechklängen verwandelt.17 Diese gezielte Umwandlung erinnert noch einmal daran, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts der technische Unterschied zwischen Telefonen und ersten elektrischen Instrumenten nicht sehr groß war und die Anwendung darüber entschied, ob die jeweilige Kombination von Schaltkreisen, Röhren, Widerständen und Lautsprechern praktischen oder ästhetischen Zwecken diente. Nachdem die elektronische Musik in den Pionierjahren zwischen 1940 und 1970 andere Geräte zur Klangerzeugung entdeckt hatte – Radioempfänger, Plattenspieler und Bandmaschinen, Sinusgeneratoren, Filter und andere Hilfsmittel der Messtechnik sowie den für die militärische Codierung und Komprimierung von Sprachnachrichten per Telefon entwickelten Vocoder –, lassen sich heute dank leistungsstarker Mikroprozessoren und Speicher viele unterschiedliche Anwendungen in kleinen Maschinen kombinieren. Seit etwa zwei Jahren hat Jordan Rudess selbst ein iPhone in sein Equipment integriert und vertreibt inzwischen als eigene Applikation den Rhythmus- und Melodiensequenzer Hexatone, der sechs unabhängige Oszillatoren in einer grafischen Menüoberfläche verbindet und den Bewegungssensor des iPhone zur dreidimensionalen Klanggestaltung nutzt.18 Geht man von der Beobachtung aus, dass besonders eindrucksvolle, visuell eigenständige Musikvideos von Künstlern wie Chris Cunningham zu sphärischen, minimalistisch elektronischen Stücken etwa von Aphex Twin vorgelegt wurden, deren Klanglichkeit dem Visuellen genügend Raum in der Rezeption belässt, so verlangt die Musik von Dream Theater in ihrer Dichte und Virtuosität größere Kompromisse von den Bildern gegenüber der Musik. Da der Fokus bei ihren Konzerten ohnehin auf der Performance der Band liegt, aber Mike Portnoy (Schlagzeug) als konzeptioneller Vordenker von Dream Theater zugleich die Inhalte der Stücke gerne mit metaphorischen Bildern kommentiert, hat die Band im Lauf der Jahre einen Weg gefunden, zu ihren Konditionen Bild und Ton zu verbinden, nämlich als Präsenzerfahrung auf der Bühne. So werden im Stil des filmischen Mickey-Mouse-Effekts, bei dem Klangbewegungen von Melodien oder Rhythmen in optische Bewegungen 17 Vgl. die Homepage des Herstellers http://www.wallanderinstru

ments.com/wiviband sowie Jordan Rudess’ Gerätetest http:// www.youtube.com/watch?v=Gn_uBjKTnkQ, 20. 6. 2009. 18 Vgl. die Homepage des Herstellers http://www.amidio.com/in dex.php/iphone-music-apps/jr-hexatone-pro, 20. 6. 2009.

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Abbildung 3: Dream Theater im ›Live Screen Projection Film‹ The

Dark Eternal Night (N.A.D.S.) (© Dream Theater und Mika Tyyskä 2008)

übertragen werden, musikalisch besonders anspruchsvolle instrumentale Passagen (etwa im Stück The Dark Eternal Night) im ComicStil ironisch konterkariert (Abbildung 3). An diesen Stil schließt die Darstellung von Rudess an, der mit einer Echtzeit-Animation in Anspielung auf seinen Spitznamen als Keyboard-Wizard in einem Zirkel von Keyboardtastaturen seine Fingerfertigkeit unter Beweis stellt (Abbildung 4, nächste Seite).19 Die intermediale Übersetzung der Fingerbewegungen auf den Tasten und der Steuerbefehle an den Joysticks und Pitch Wheels des Keyboards via MIDI-Daten in einen Grafikcomputer dient zugleich dem sehr praktischen Zweck zu zeigen, was tatsächlich gespielt wird. Es ist eine Spezialität von Dream Theater, dass im Bandsound oftmals nicht klar zu unterscheiden ist, welche Linien und Akkorde vom Keyboard und welche von der Gitarre stammen, da Rudess sich der gitarrenspezifischen Spielweise seines Kollegen John Petrucci so sehr angenähert hat, dass beide viele Soli ausharmonisiert gemeinsam spielen können. Eine bildliche Doppelung der Performance auf einem Großbildmonitor in der direkten Umgebung seines Keyboards ermöglicht dem Publikum durch die ComicÄsthetik der Animation somit eine alternative Orientierung im musikalischen Verlauf des Stücks, im Unterschied zu den Großaufnahmen einzelner Bandmitglieder, die mit den für Videoclips üblichen schnellen Schnitten und Grafikeffekten auf der Großbildleinwand im Bühnenhintergrund gezeigt werden. Für Jordan Rudess hat die hochkomplexe elektronische Klangerzeugung mit allen ihren Erweiterungen der vergangenen Jahrzehnte zwangsläu19 http://www.youtube.com/watch?v=RJUzUICoEr4, 20. 9. 2009.

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Abbildung 4: Jordan Rudess und sein Comic-Alter-Ego

(© Jordan Rudess und Robert Medina 2009)

fig insgesamt tiefgreifende Konsequenzen für seine Kreativität als Pianist und Soundentwickler: »I consider myself a progressive musician [. . .] in the sense that I try to stay aware and in touch with what’s going on with technology. I’m always interested in the latest thinking and design, and it does influence my composing.«20

Literatur Behrman, David: Chaotische Systeme. Tudor, in: MusikTexte 14 (1996), Heft 69/70, S. 73–75. Berg, Alban: Prospekt des Vereins für musikalische Privataufführungen, in: Musik–Konzepte. Band 36 Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, München: 1984, S. 4–7. Custodis, Michael: Einleitungskapitel Diversifikation der Musik, in: Michael Custodis: Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik, Bielefeld 2009, S. 9–22. Custodis, Michael: Film Music in Concert: Metallica mit Michael Kamen, in: Michael Custodis: Klassische Musik heute. Eine Spurensuche in der Rockmusik, Bielefeld 2009, S. 111–156. Krenek, Ernst: Fortschritt und Reaktion, in: Musikblätter des Anbruch 12 (1930), Heft 6, S. 196–200. Müller, Hermann-Christoph: Einheit von Klang und Technik. Die Musik des US-amerikanischen Komponisten David Behrman, in: MusikTexte 17 (2000), Heft 85, S. 31–36. Riethmüller, Albrecht: Die Verdächtigung des Virtuosen – Zwischen Midas von Akragas und Herbert von Karajan, in: Herbert von Kara20 http://www.tokafi.com/15questions/interview-with-jordan-

rudess und http://www.korg.de/artists/jordan-rudess-dream-thea ter.html, 15. 6. 2009.

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jan Centrum (Hg.): Virtuosen. Über die Eleganz der Meisterschaft, Wien 2001, S. 100–124. Schönberg, Arnold: Brahms, der Fortschrittliche [1947], in: Ivan Vojtˇech (Hg.): Arnold Schönberg. Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Frankfurt a. M. 1976, S. 54–104. Weinstein, Deena: Heavy Metal. A Cultural Sociology, New York 1991. Wiesengrund-Adorno, Theodor: Reaktion und Fortschritt, in: Musikblätter des Anbruch 12 (1930), Heft 6, S. 191–195. Wilson, Rich: Lifting Shadows. The Authorized Biography of Dream Theater, London 2009. http://www.indie-music.com/modules.php?name=News&file=ar ticle&sid=1961, slkdjf lsjd flksflk jsdljf lj fd 20. 6. 2009. http://www.jordanrudess.com/jordan/m1bio.html, 8. 6. 2009, http://www.c-thru-music.com/cgi/?page=prod_axis-64, 20. 10. 2010. http://www.youtube.com/watch?v=pQ4nPcGCGIs, 20. 6. 2009. http://tenori-on.yamaha-europe.com/germany, 20. 10. 2010. http://www.youtube.com/watch?v=WQQpMgbuGjU, 20. 6. 09. http://web.mac.com/omenie/Site/Home.html http://www.youtube.com/watch?v=BlqEJL2EZFA, 20. 6. 2009. http://www.wallanderinstruments.com/wiviband, http://www. youtube.com/watch?v=Gn_uBjKTnkQ, 20. 6. 2009. http://www.amidio.com/index.php/iphone-music-apps/jr-hexa tone-pro, 20. 6. 2009. http://www.youtube.com/watch?v=RJUzUICoEr4,20. 9. 2009. h t t p : / / w w w . t o k a f i . c o m / 15 q u e s t i o n s / i n t e r v i ew - w i t hjordan-rudess, und http://www.korg.de/artists/jordan-rudessdream-theater.html, 15. 6. 2009.

Zur Intermedialität musikalischer Bewegung Fallbeobachtungen

Elena Ungeheuer (Berlin)

In Musik und Medienkunst erscheint Bewegung als komplexes, wahrnehmungsabhängiges, dominantes und semantisch vieldeutiges Phänomen, das Merkmale des Analogen, des Kontinuierlichen und des Körperlichen annehmen kann. Bewegungsanalyse bietet somit die Gelegenheit, Überlegungen zur Intermedialität von Musik auf die gängigen Diskurse zu analogen versus digitalen Dispositiven und die damit verflochtenen Dichotomien ›kontinuierlich versus diskret‹ beziehungsweise ›Körper versus Technik‹ zu beziehen. Die Opposition analog versus digital entstammt eigentlich aus einer nachrichtentechnischen Unterscheidung in analoge Signale (der geeichte Zahlenwert, der eine physikalische Größe angibt, wird auf einer physikalischen Trägergröße abgebildet, woraus eine Analogie zwischen der physikalischen Größe und der abbildenden Größe resultiert) und digitale Signale (der Wert x der physikalischen Größe wird nicht auf einer physikalischen Trägergröße abgebildet, sondern in Zeichen irgendwelcher Art kodiert.) Auch wenn eine solche begriffliche Deutlichkeit in geisteswissenschaftlichen Kontexten kaum zu erreichen ist, bleibt es wichtig, die diskursiven Plateaus der Dichotomien argumentativ getrennt zu halten. Die Analyse von Bewegung in Kunstwerken ist immanent medienkritischer Natur. Die Fragen gelten der Identifizierung eines Bewegungsträgers (Natur, Mensch, Technik), einer bewegungsauslösende Instanz der Erzeugung von Bewegung (die Weltseele Platons, Artefakte, menschliche Kraft, Naturkräfte, die menschliche Wahrnehmung) und des Kontexts, in dem sich Bewegung artikuliert (Werkentstehung, Werkstruktur, Aufführung, Rezeption, Umwelt) sowie der Bedingungen der Wahrnehmbarkeit von Bewegung. Desweiteren gilt es, die Bewegungsqualitäten als Strukturmerkmale zu bestimmen. Erst über diese Funktionsanalyse und die sinnvolle Kombination der Einzelmerkmale (z. B.: Ist die Qualität einer sprunghaften, schnellen Bewegungsfolge dem Bewegungsauslöser

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Elena Ungeheuer

Kameraschwenk verdankt oder einem Körper als Bewegungsträger?) kann eine hermeneutische Auslegung der Bewegungskonfiguration erfolgen, so wie die semantische Aufladung von Bewegung in Kunst auf Seiten der Kunstschaffenden über diese Funktionalitäten organisiert wird.

1. Dramaturgische Intermedialität durch Inszenierung von Bewegungsauslösern Wenn es sich um Bewegung in Kunstwerken handelt, muss auf die Frage nach der Identifizierung der Bewegungsfunktionalitäten diejenige nach der Inszenierung dieser Phänomene folgen. Sie reicht von der dramaturgischen und kompositorischen Nachbildung eines physikalischen Zusammenhangs bis hin zum Sichtbarmachen realer Bewegungsauslöser. Komponierte Bewegungsauslöser können energetische Verdichtungen z. B. in Gestalt von Generalpausen, oder auch initiale Urfigurationen darstellen. Inszenierte Bewegungsauslöser werden als Menschen, Technik oder Symbole musiktheatralisch auf der Bühne sichtbar. Sie lassen sich aber auch unsichtbar im ›Off‹ inszenieren als Natur, Urgrund, Idee, Numinoses. Es ereignet sich eine semantische Transmedialität: Ein Gedanke legt sich über die verschiedenen Situationen. Der Clip von Zbig Rybczinski (1987) zum Lennon-Song Imagine1 inszeniert Bewegung auf diese Weise. Im Film sieht man von links kommend eine Gestalt, die Sequenz für Sequenz Räume von links nach rechts durchläuft, wobei sie in jedem Raum, anfangend beim Kleinkind, mit dem Durchgang durch die Tür in eine höhere Altersstufe wechselt. Je nach skizziertem Lebensalter ändert sich die spartanische Ausstattung der Räume. Wir nehmen also eine kontinuierliche Bewegung des Trägers ›alternder Mensch‹ war. Der Bewegungsauslöser ist präsent, wenn auch nicht sichtbar. Sie wird mitgelesen als eine Lebenskraft, die initial durch die Menschwerdung in einem imaginären Raum links vom ersten Raum angestoßen wird. Die Interpretation des Kontinuierlichen der im Clip wahrgenommenen Bewegung, die eigentlich etliche dramaturgische Interruptionen durchläuft, ist durch diesen Bewegungsauslöser gesteuert. Diese Bühneninszenierung verleiht dem präexistenten Song, in der Originalfassung von 1 http://vimeo.com/8120934, 18. 10. 2010.

Zur Intermedialität musikalischer Bewegung

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Lennon die Rolle, das Fließende zu unterstützen, quasi ein konstantes Schweben zu erzeugen. Der Clip zur Songbearbeitung von Imagine durch die Gruppe A Perfect Circle2 verfährt dazu gegenläufig, indem er Montage mit harten Schnitten eine durchgehende Diskontinuität erzeugt. Die soziopolitischen Dokumentaraufnahmen von Kriegen, Führern, charismatischen Köpfen, großen Gesten, menschlichem Leid liefern ihre Bewegungsauslöser jeweils thematisch selbst mit. Auch wenn es sich teilweise um statische Einzelbilder handelt, ist mit jeder neuen Aufnahme eine neue Bewegung des Geschehens, der Kamera, der Atmosphäre ausgelöst. Sichtbar ist das Konkrete, das Situative, das Wechselnde. Eine kontinuierliche Bewegung entsteht erst, wenn der Betrachter innerlich viele Schritte zurücktritt, sich damit auch aus der emotionalen Bewegung heraustritt, die durch die einzelnen Schnitte in ihm evoziert werden und die quasi statistische Fernwahrnehmung eines bunten Stroms forciert. Die Musik erhält einen harten Beat, der den visuellen Effekt unterstützt, Einzelszenen an Einzelszene zu montieren. Multimedialität überantwortet ihre Multi-Semantik dem Blick des Betrachters. Das aufgrund der Inszenierung der Lebendbilder von John Lennon und Yoko Ono authentisch wirkende Video zu Imagine3 bildet Bewegung narrativ ab. Das Kontinuierliche der Körperbewegung wird durch die Statik der Kameraeinstellung stabilisiert. Das Paar, aufgenommen von hinten, geht langsam und unaufhaltsam auf eine weiße Villa zu. In der Villa wechselt der Videostil zum Performancevideo, als Lennon an einem weißen Flügel spielt und singt. Die Bewegung ist hier stark an den Körpergang als Gestus gebunden, das Kontinuum nur noch situativ semantisiert. 2 Während dieser Beitrag entstand, wurde das hier thematisierte Vi-

deo in Deutschland gesperrt. Außerhalb Deutschlands ist es zu sehen unter: http://www.youtube.com/watch?v=dunKAwRN3P8. Von den zahlreichen Cover-Videos erreicht das unter dem Namen Maynard James Keenan firmierende (http://www.youtube.com/ watch?v=bsEaauy4s5E, 24. 10. 2010) am ehesten eine ähnliche Wirkung. Bezeichnenderweise arbeitet dieses Video konsequent mit einer Abfolge von Stills. Das schwächt zwar den dynamisierenden Effekt der kurz geschnittenen Videos im Originalvideo, aber verstärkt andererseits den Eindruck einer von außen gesteuerten Bewegungslogik. 3 http://www.youtube.com/watch?v=2xB4dbdNSXY, 19. 10. 10.

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2. Intermedialität des instrumentalen Gestus’ Der instrumentale Gestus stellt einen wesentlichen Agenten musikalischer Bewegung, in dem sich Produktion, Aufführung und Rezeption auf je spezifische Weise zusammengeführt werden. Wenn eine Geste allgemein einem Körper Ausdruck verleiht und damit auf eine dem Körper innewohnende Kraft verweist, so stiftet der instrumentale Gestus im emphatischen Sinne eine intermediale Verbindung, nämlich eine bewegte Verbindung vom Körper zum außerkörperlichen Instrument. Die Bedingungen beider Seiten definieren den Rahmen seiner Ausdehnung, in den sich ein Drittes einschreibt: die Intention, die den körperlichen Zugriff aufs Instrument begründet. So oder so ähnlich könnte eine medientheoretische Beschreibung des bislang anthropologisch und semiotisch explorierten Sonderphänomens der Geste lauten.4 Zweierlei Medien, der Körper und das Instrument, definieren die Formungsbedingungen. Die instrumentale Geste ist also in sich bereits ein intermediales Gebilde, das unterschiedlich medial funktionalisiert wird. Für Musiker ist der instrumentale Gestus eine formation professionelle, die verschiedene Rollen zu übernehmen vermag: als Modalität des Bedienens von Instrumenten, als Sichtbarkeit von Kausalbeziehung Klangquelle-Klang, als Garant für Präsenz und Direktheit der Aufführung von Musik, als Garant für Menschlichkeit des Musikalischen, als Qualität des Natürlichen in der artifiziellen Welt von Kunst. Der instrumentale Gestus zeigt als Bewegung, auch wenn er sich dem Bespielen einer Tastatur mit diskreten klangauslösenden Objekten widmet, immer eine Charakteristik des Kontinuierlichen auf. Es ist eigentlich die Konsistenz des körperlichen Bewegungsträgers, die zum Merkmal des instrumentalen Gestus wird, wenn sie – als Kontinuierlichkeit interpretiert – auch Sprünge, also örtlich und zeitlich disparate Einzelaktionen – in einer Verlaufsfigur integriert. Der instrumentale Gestus hat nicht nur in der Aufführung von Musik seinen Platz, vielmehr macht er jeden, der sich seiner bedient zu einem maître d’exécution. Elektroakustische Musik wird allgemein als interpretenlose Kunstform angenommen, eine irrtümliche Vorstellung, die nicht zuletzt durch die verschiedentlich geäußerte Hoffnung ihrer Kom4 Vgl. Günter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste: Mime-

tisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998.

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ponisten, authentisch wie ein Maler auf einem dauerhaften Medium, nämlich dem Tonträger, gestalten zu können lanciert wurde. Aufgrund des Gesagten und weil es in elektroakustischer Musik natürlich auch Interpreten gibt, zeigt der instrumentale Gestus auch in diesem Genre seine Wirkungsbereiche. Anders gesagt: Der instrumentale Gestus in elektroakustischer Musik erschöpft sich keineswegs in der Funktion, ein altes Medium, den Körper, in einem neuen Gewand, der Elektrotechnik, erscheinen zu lassen. Interpreten elektroakustischer Musik sind der Klangregisseur, der bei der Aufführung die Dynamik, gegebenenfalls auch die Raumverteilung der Klangkanäle und anderes mehr manuell aussteuert, oder der Laptop-Performer oder der Aufführende von Live-Elektronik, der traditionelle Musikinstrumente ebenso wie elektrotechnische Apparate bedient. Über die Konzertvorführung hinaus ist etliches, was früher im elektronischen Studio und heute mehrheitlich am Rechner stattfindet, ein interpretatives Geschäft, denn alle Geräte müssen bedient werden. Die Bedienungsoberfläche der Instrumente und Maschinen entscheiden über den Rahmen, in dem sich ein instrumentaler Gestus ausprägen kann. Instrument und Maschine symbolisieren zwei elementare Modi des Kunstschaffens, dem instrumentalen Gestus steht mithin ein technischer Gestus gegenüber. Ein Musikinstrument ist für die manuelle Handhabbarkeit konstruiert. Der Spieler eines Musikinstruments erzeugt im Normalfall Klang und beeinflusst diesen entlang der Möglichkeiten der Bedienungsoberfläche. Ein Musikinstrument ist formal charakterisiert durch einen Klanggenerator, ein Interface, Klangmodulatoren und – falls es nicht elektrisch verstärkt wird – durch den Resonanzkörper. Das Design bestimmt über Geschlossenheit und Offenheit hinsichtlich der Nutzungsmöglichkeiten. Das Interface eines Klaviers ist offen für die Auslösung der Klangerzeugung (etwa des durch Tastendruck veranlassten Schlags eines Hammers auf die Saite), aber geschlossen gegenüber Klangmodulation. Durch den aufklappbaren Deckel zeigt sich der den Klanggenerator einhüllende Resonanzkörper wiederum offen für die manuelle Manipulation der Saiten (z. B. auch unter Zuhilfenahme von Gegenständen wie beim Prepared Piano von John Cage). Auch die Möglichkeiten zur Klangmodulation können offen oder geschlossen zur Verfügung stehen. Offene Klappen an einer Querflöte erlauben beispielsweise gegenüber geschlossenen Klappen detailliertere Klangveränderungen. Die Orgel wiederum bündelt die

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Möglichkeiten der Klangmanipulation durch ein eigenes Kombinationsinterface in Gestalt der Register. Somit liegt eine wiederum relativ geschlossene, weil vorkonfektionierte Form der Klangmodulation vor. Während Musikinstrumente im Bezug auf die Handhabung der Klänge, die von ihnen ausgehen, in allen denkbaren Varianten offen oder geschlossen sein können, zeichnet die Maschine in jedem Falle eine substanzielle Geschlossenheit aus. Die Maschine übernimmt menschliche Handreichungen qua Automatisierung, integriert diese in ihre internen Abläufe und entzieht sich damit der Binnenkontrolle durch den Nutzer. Wieder überlagert eine Medialität eine andere. Ein instrumentaler Gestus entwickelt sich auf der Basis einer minimalen Offenheit des Interfaces; anderenfalls geriete er zu einer reinen Schau. Gerade analoge Geräte elektrischer Klangerzeugung und Klangmanipulation bieten offene Interfaces an. Von besonderer Attraktion sind dabei Bedienungsoberflächen, die eine kontinuierliche Klangveränderung zulassen, modellhaft realisiert im Schieberegler. Eine Vermittlung des Kontinuierlichen und des Diskreten bilden skalierte Interfaces. Hier kann sich der instrumentale Gestus frei entfalten, was die Beliebtheit analogen Instrumentariums in Liebhaberkreisen elektronischer Musik auch unserer Tage erklärt. Es ließe sich mithin eine Nähe des technischen Gestus zum kompositorischen Gestus konstatieren, der sich im programmierenden Umgang mit den diskreten Einheiten von Maschinen manifestiert. Um sich der Organisation diskreter Elemente zu widmen, ist der technische Gestus auf Speichervorrichtungen angewiesen. Auch Montageverfahren arbeiten mit Vorgefertigtem, von Collagen spricht man, wenn außerdem eine Heterogenität des zusammenzufügenden Materials vorliegt. Der technische Gestus bietet dem Kunstbetrachter die Anschaulichkeit der Ergebnisse, der instrumentale Gestus hingegen die Kausalbedingungen ihrer Erzeugung. Grundsätzlich zeigt das abendländische Komponieren eine große Affinität zum Diskreten. Gestützt durch die Traditionen, Musik zu notieren, stellt sich das musikalische Material dem Komponisten in diskrete Einheiten dar (Ton, Motiv, Melodie, Rhythmus, Formteil etc.). Diese Einheiten entstammen größeren Zusammenhängen wie Tonsatz, kompositorischer Stil, klassifikatorischen Ordnungen. Auch ihre Schichtung in Instrumentalstimmen kombiniert Diskretes. Komponisten üben auf diese Weise eine maximale

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Kontrolle auf die Teile und das Ganze der Werkgenese aus und erlangen eine gute Transparenz auch komplexer Klangarchitekturen. Kontinuierliche Verläufe innerhalb einer Klangdimension, etwa der Dynamik (z. B. crescendo) oder der Abfolgegeschwindigkeit (z. B. accelerando), lassen sich auf Basis eines Zeichens oder Wortes in der Partitur wiederum zu größeren Einheiten zusammenschmelzen, ebenso Bewegungsformen, die aus vielen Einzelklängen bestehen. Es obliegt dem instrumentalen Gestus des Interpreten, per Artikulationskunst und per Konsistenz des Bewegungsträgers zu einem Kontinuierlichen zu verbinden, was der kompositorische Gestus getrennt organisiert hatte. Die quasi alles überdauernde Medialität des sich bewegenden Körpers überlagert im Instrumentalspiel wie im Tanz die ureigene Medialität von Klang, nämlich endlich zu sein und alsbald zu verlöschen.

3. Instrumentales versus Elektronisches am Kölner Studio für elektronische Musik Ein unmittelbarer körperlicher Bezug zu Maschinen und Geräten des elektronischen Studios, zeichnete vor allem die Güte der Studiotechniker aus. Der erste Tontechniker, dem die Betreuung des Kölner Studios für Elektronische Musik anvertraut wurde, Heinz Schütz, hatte sich 1950/51 ausgesprochen kreativ engagiert, um die tischgroßen Tonbandmaschinen zu Musikinstrumenten umzufunktionieren, etwa indem er den rechten Teller, auf dem das Tonband üblicherweise aufgewickelt wird, auskoppelte, und den Senkel, wie das Tonband genannt wurde, mit kräftigem Gestus manuell über den Tonkopf zog (Schütz sprach davon, auf diese Weise das Tonband ›zu melken‹), was besondere Klangwirkungen ergab. Während er auf diese Weise das Tonband hinter seinen Rücken zog, erhielt der so dynamisierte Klang einen von der Geschwindigkeit der Armbewegung abhängigen Frequenzanstieg, der von einem der Trägheit des rotierenden rechten Tellers des Tonbands geschuldeten allmählichen Abfall abgelöst wurde. Das Tonband fiel stets aus seiner rechten Hand auf den Boden, während Schütz in eine rhythmisierte Armbewegung verfiel, als wollte er einen elektrischen Rasenmäher mithilfe eines Bandes starten. So entstanden glöckchenartige Töne, die sein Opus Morgenröte charakterisieren. Körperliche Dynamik machte sich auch geltend, wenn Schütz mit ausdrucksvollen Akzenten und einfühlsamen Verzögerungen die Schieberegler bediente,

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um den Klängen individuelle Hüllkurven zu verleihen. Namhafte Komponisten des elektronischen Studios am NWDR/WDR Köln blieben dieser Tradition des instrumentalen Gestus’ treu.5 Instrumentale Interpretation als interaktiver Akt mehrerer Spieler lässt sich auch schon für die Werkgenese früher Tonbandstücke wie Stockhausens Gesang der Jünglinge nachweisen6 . Das Kölner elektronische Studio stellte für lange Zeit im besten Sinne ein Instrument mit einem multiplen offenen Interface dar. Die außerhalb musikalischer Belange für Zwecke der Telephonie, der Rundfunkübertragung und des Tonfilms erfundenen Geräte der Nachrichtenübertragungstechnik wie Schwebungssummer, Terzfilter, Magnetophon etc. wurden zu den neuen Musikinstrumenten und regten Komponisten und Techniker zur gedanklichen wie zur manuellen Kreation an. Gottfried Michael Koenig erkannte in den 1960er Jahren als erster die Notwendigkeit, die Handhabung einer ständig anwachsende Menge kleiner und großer Instrumente im Studio zu ökonomisieren, was zunächst zu sogenannten halbautomatischen Abläufen führte7 . Das praktische Interesse ging Hand in Hand mit ästhetischen Orientierungen, wie die Werke Koenigs demonstrieren. Ab der Mitte der 1950er Jahre interessierte die Komponisten nicht mehr nur die Herstellung und Verknüpfung einer Vielzahl einzelner Klänge, sondern für die Transformation eines Ausgangsmaterials entlang verschiedener apparativer Modulationsvorgänge wie Filtern, Transponieren, Verhallen, Zerhacken, Ringmodulieren etc. (z. B. Gottfried Michael Koenig, Terminus, 1962) und die Programmierung dieser Vorgänge.

4. Intermedialität der musikalischen Wahrnehmung Der Geste fallen alle Vorteile zu, die einer Gestalt anhaften: Geschlossenheit, Erkennbarkeit, Ablösung als Vordergrund von einem 5 Anzuhören inkl. des Opus’ Morgenröte von Heinz Schütz: auf der

CD des Deutschen Musikrats, Musik in Deutschland 1950–2000. Elektroakustische Musik: Das elektronische Studio des WDR . 6 Vgl. Elena Ungeheuer: Elektroakustische Musik: Ansätze zu einer

Klassifikation, in: dies. (Hg.): Elektroakustische Musik, Laaber 2002, S. 21–35. 7 Vgl. Karlheinz Stockhausen: Elektronische Musik und Automatik, in: ders.: Texte zur Musik 1963–1970, Köln 1971.

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Hintergrund, Transponierbarkeit. Das liefert eine nicht unwesentliche Begründung für die Neigung, in der Analyse und generell in der Wahrnehmung von Musikwerken melodische, rhythmische und andere Gestalten gestisch zu interpretieren. Darin ist quasi automatisch der die Geste Ausübende als Intentionsstifter mit eingeschlossen. Die instrumentale Geste liefert in ihrer hybriden Anlage ›Körper-Instrument‹ den Hinweis auf ein technologisches Medium gleich mit. Mir scheint über diese gängige Praxis hinaus der Begriff des instrumentalen Gestus nicht überstrapaziert, wenn er gänzlich in die Wahrnehmung verlagert wird. Die zwei Medien, die das Hybrid instrumentaler Gestus ergeben, wären dann zum einen in der Eigenbewegung der Wahrnehmung, zum anderen in der Technologie/ dem Artefakt, dessen sich die Wahrnehmung bedient, zu verorten. Ersteres – die Eigenbewegung der Wahrnehmung – ist sinnesphysiologisch gegeben. Das sensomotorische System des Menschen bezieht seine Kapazität zu fixieren, zu selektieren, zu integrieren aus einem Grundrhythmus eigener Bewegtheit, welche die Exploration gegebener Sinnesreize ermöglicht und vor Ermüdung der Sinneszellen bewahrt. Die Technologien, Kulturtechniken oder Artefakte, derer sich die Wahrnehmung bedient können apparativ gestaltet sein (Fotoapparat), Trainingsmethoden zur Lenkung der Aufmerksamkeit darstellen oder in der Eigengenerierung von Wahrnehmungen liegen. Eine besondere Rolle kommt sogenannten Ruhebildern zu, die es erlauben, eine Vielzahl schnell wechselnder Daten der Außenwelt (z. B. beim Landen eines Flugzeugs ohne eingeschalteten Autopiloten) als Fremdbewegung trotz der Tendenz zur Eigenbewegung des Auges zu organisieren. Im Ruhebild schafft sich das Sehorgan selbst eine stabile Voraussetzung, um die instrumentale Wahrnehmungsgeste des anvisierten Landeanflugs zu aktivieren. Das Zusammenspiel von Wahrnehmungsorgan (Körper) und Instrument (Technologie/Artefakt) bewährt sich vor allem in Situationen ausgeprägter Konkurrenz von Bewegungen, die sich in Kräftefeldern wie der Medienkunst systematisch ereignen. Der Multimedialität des Wahrnehmungsangebots von Videos, Bilder, Klang, Schrift, Stimme und anderem mehr wird eine intentional gesteuerte Intermodalität des Rezipierenden entgegengesetzt, die über dasjenige, was sein Verstehen der Kunst ausmacht, maßgeblich entscheidet.

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Abbildung 1: Optisches Fließen: Für den Wahrnehmungsakt ist es wich-

tig, über invariante Informationen zu verfügen, die trotz der Bewegung des Beobachters konstant bleiben. Das optische Fließen, hier dargestellt aus der Perspektive eines Piloten beim Landen, ist eine selbstproduzierte Information. (Vgl. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg, Berlin 2002, S. 332, dort auch die Abbildung.)

Seriell-elektronische Musik zeigt sich besonders sensibel für das Zusammenspiel von ästhetischem Konzept, technologischen Bedingungen und musikalischer Wahrnehmung. Serielles Komponieren versteht sich als Weiterentwicklung dodekaphonen Komponierens, das die Tonhöhen nicht nach Motiven und Themen, sondern nach Reihen ordnet. Der seriellen Kompositionsweise wohnt der instrumentale Gestus bereits konzeptuell durch einen hybriden Reihenbegriff inne; denn sie verwertet ihr Material als in Reihen angeordnete Tonhöhenfolgen, mithilfe kompositorischer Instrumente im Sinne kompositorischer Technik, etwa in Gestalt einer Klang substituierenden Zahlenfolge, die es jenseits von Klang-Permutation, -Selektion und -Kombination erlaubt, Skalenwerte den Reihenwerten zuzuordnen.8 Unterschiedliche Tondauer, klangfarbliche Aspekte und schließlich die Werte aller technologisch bedingten Parameter, die Klang manipulieren lassen, werden entlang der Reihen sortiert und im Werk verteilt. Dabei entfaltet sich die Option einer schier grenzenlosen Verfeinerung. Sie mündet darin, dass die diskreten Elemente, die nicht zuletzt dank schriftlicher Determination bis ins Kleinste kontrolliert wurden, wovon die große Anhäufung von 8 Gottfried Michael Koenig: Musik und Zahl I, in: ders.: Ästhetische

Praxis. Texte zur Musik Bd. 1 (Stefan Fricke/Wolf Frobenius (Hg.): Quellentexte zur Musik des 20. Jahrhunderts), Saarbrücken 1991, S. 30-62, hier S. 13.

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Skizzenmaterial serieller Musik zeugt, die Wahrnehmungsschwelle unterlaufen. Wahrzunehmen sind nicht mehr Punkt oder Detailereignisse sondern charakteristisch gefärbte Felder. Koenig war dieser Umschlag in besonderer Weise bewusst. Ausgehend von der historischen Auffassung, dass die elektronische Musik aus der seriellen Kompositionstechnik erwachsen sei, führt er aus: »Das Reihenprinzip setzt die musikalische Tradition fort, indem ein sogenannter Parameter in eine bestimmte Anzahl genau definierter und unterscheidbarer Teile geteilt wird. So zerfällt die Tonhöhenoktave in zwölf gleiche Halbtöne. Auch alle rhythmischen Werte werden als Vielfache einer kleinsten oder Teilungen einer größten Dauer exakt beschrieben und notiert. Lediglich die Lautstärken sind in der Instrumentalmusik etwas ungenau, aber auch hierfür gibt es im elektronischen Studio eine präzise Skala. Das Zusammentreffen technischer Arbeitsbedingungen und serieller Klangbeschreibung hatte zwei Folgen. Einerseits konnten im Studio viel feinere Abstufungen in Tonhöhe, Dauer oder Lautstärke realisiert werden als in der Instrumentalmusik. Folglich triumphierte das serielle System nicht nur in der Komposition der Klangfarbe, sondern auch im Bereich bereits zugänglicher Daten. Andererseits aber führte die Aufspaltung in immer kleinere Teile zu neuartigen Klangformen, die die serielle Substanz ganz in sich aufsaugten. Sie waren nur noch in Umrissen beschreibbar.«9

Koenig leitet aus diesem Wahrnehmungsphänomen das Verhältnis instrumentalen zur elektronischen Musik schlechthin ab. Zentral ist dabei die Instanz der Vertrautheit. Der instrumentale Gestus in Musik, so ließe sich im Duktus der vorliegenden Ausführung weiterdenken, ist einer, der auf Vertrautheit des Zusammenspiels multimodaler Sinneswahrnehmung gegenüber dem Hörer baut: »Selbst Viertel- und Sechsteltöne können mit dem Ohr noch auseinandergehalten werden, wenn sie auch schon ins Ungewisse einer weichen, dissonanzlosen Harmonik verschwimmen. Die Orientierung innerhalb der chromatischen Tonleiter verdankt sich indessen nicht nur dem relativ großen Halbtonschritt, vielmehr dem tonalen System, in welchem die elf Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur großen Septime ihren festen Stellenwert haben. Diese Vertrautheit hilft dem Ohr auch dort noch, wo die Herrschaft tonaler Beziehungen gebrochen ist: in der Dodekaphonie und im seriellen Komponieren. Sobald die geläufigen In9 Gottfried Michael Koenig: Sind elektronische und Instrumentalmusik

Gegensätze? (1963), in: ders.: Ästhetische Praxis, Texte zur Musik, Bd. 2 (Stefan Fricke/Wolf Frobenius (Hg.): Quellentexte zur Musik des 20. Jahrhunderts), Saarbrücken 1992, S. 126-131, hier S. 127.

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tervalle in Viertel- oder Sechsteltöne oder in noch kleinere Intervalle aufgelöst werden, büßen sie gewissermaßen ihre Trennschärfe ein. Selbst dort noch, wo, wie zuweilen in der elektronischen Musik, Intervalle verwendet werde, die größer als der Halbton sind, aber nicht mit den gewohnten Tonstufen zusammenfallen. Die nicht zwölftönige Harmonik schlägt in Farbwerte um, in ein ungefähres Auf und Ab der Tonhöhen.«10

Damit aber, und das macht Koenig zur Kernaussage, verliert das serielle System seine Grundlage: »Auf diese Weise entsteht nun doch ein Gegensatz zwischen instrumentaler und elektronischer Musik. Je weiter diese den Klang seriell auflöst, desto mehr verschwinden die Klangpunkte in größeren Feldern. Diese Felder stellen sich als neue Klänge dar, in sich flexibel, in allen Richtungen variabel. Der kompositorische Prozess, die Akkumulation von Daten, erscheint als Klang. Damit wird die serielle Formkonstruktion, die in der punktuellen Phase mit dem einzelnen Ton begann und ihn auch heute noch als kleinste aber immer noch hörbare Größe ins Auge fasst, in die Instrumentalmusik zurückgedrängt. Die elektronische hat das serielle Prinzip ganz zu sich selbst gebracht, und dadurch aufgehoben.«11

Intermedialität offenbart sich hier im dialektischen Umschlag: Die technologische Einschreibung in ein ästhetisch-kompositorisches Dispositiv hat zur Folge, dass die Wahrnehmung, ihrerseits Medium der mentalen Ko-Konstruktion der kompositorischen Faktur, außer Kraft gesetzt wird, indem ihre Distinktionsschwellen unterlaufen werden.

5. Dreifach geschichtete Intermedialität der Musique concrète Pierre Schaeffers Musique concrète in der Version der 1940er und 50er Jahre arbeitete bekanntermaßen mit Montage von Klängen, die häufig im Loop präsentiert werden. Diese Loops, entweder mithilfe der geschlossenen Rille oder einer Tonbandschleife realisiert, entkleiden die mit Mikrophon aufgenommenen Klänge in der Wiederholung ihrer Einbindung in situative Gegebenheiten, so dass sie schließlich nicht mehr semantisch auf den Kontext verweisen, sondern per explizitem Mehrfachhören in ihrer reinen Klanglichkeit wahrgenommen werden. Es sind die Formungsbedingung der Schallplatte oder des Tonbands als Abspielgerät einer auf Tonträger gespeicherten Musik, die 10 Ebd. 11 Ebd.

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das ›écoute réduite‹, das reduktive Hören, unmittelbar zum Wesen des Musikalischen vordringen lässt. Die Konzeption des reduktiven Hörens leitete Pierre Schaeffer von der phänomenologischen Reduktion Edmund Husserls ab und formulierte damit das Ziel einer kognitive Repräsentation des Klangs in seinen charakteristischen Eigenschaften mit Anspruch auf intersubjektive Vergleichbarkeit.12 Die physische Gebundenheit der Klänge an ihr Speichermedium wirkt sich für das reduktive Hören von Musik auf Tonträger als zwingend notwendig aus, denn die phänomenologische, auf die Wesenheit des Wahrnehmungsobjekts ausgerichtete Reduktion ist kein einmaliges Ereignis, sondern wird zu einem Prozess. Sie braucht zu ihrer vollständigen Entfaltung die Wiederholung des Wahrnehmungsvorgangs, das mehrfache Sich-auf-ein-Objekt-Zubewegen, um dabei mehr und mehr von den eigenen, die Konzentration womöglich störenden Bedingtheiten und Gewohnheiten ablassen zu können. Im Loop ermöglicht die Musique concrète die mehrfache Präsentation desselben Klangs oder derselben Klangfolge innerhalb eines Werks (sequenziert oder zeitlich versetzt), was das Klangphänomen in verschiedenem Licht ausleuchten lässt. Die musikalische Komposition bildet damit eine Anordnung zur Erfahrbarmachung von musikalischen Objekten mittels reduktiven Hörens. Hier scheint der instrumentale, auf Kontinuierlichkeit angelegte Gestus vollständig absent zu sein, wird doch das Separate, das Diskrete, das Disjunkte geradezu zur Schau gestellt. Eine Besonderheit des Schaefferschen Ansatzes liegt tatsächlich in seinem bewussten Umgang mit Abwesenheit auf mehreren Ebenen; der Abwesenheit von Musikern auf der Bühne, der Abwesenheit von sichtbaren Klangquellen, der Abwesenheit von erkennbaren Kontexten der Klänge und Geräusche. Für Schaeffer resultiert aus der Abwesenheit ein Mehr, das der Anwesenheit von Musik zugute kommt. Das Fehlen von visueller Ablenkung bedeutet ein Zuwachs an Konzentration, die Abwesenheit von gewohnten Kontexten ermöglicht die Erschließung eines anderen, eines musikalischen Kontextes. Dieses Andere braucht ein anderes Hören. Wenn das gewöhnliche Hören (›l’écoute ordinaire‹) den Klang als Vehikel für etwas nimmt, auf 12 Siehe v. a. die frühe Schrift von Pierre Schaeffer: A la recherche d’une

musique concrète, Paris 1952, vgl. auch John Dack: Instrument und Pseudoinstrument. Akusmatische Konzeptionen, in: Elena Ungeheuer (Hg.): Elektroakustische Musik, Laaber 2002, S. 243–259; Elena Ungeheuer: Elektroakustische Musik: Ansätze zu einer Klassifikation.

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das er verweist, so entkleidet das reduktive Hören (›l’écoute réduite‹) die Wahrnehmung von allem, was nicht der Klang in seiner Materialität selbst ist. Das ›A-Kontinuierliche‹, das der Anlage der Musique concrète innewohnt findet seinen kontinuierlichen Gegenspieler in Schaeffers Urformulierung von Klang als sich in der Zeit bewegender Klang. Schaeffer pflegte von Anfang an einen bewussten Umgang mit dem musikalischen Objekt. In der Art, wie er es als Gegebenheit anerkannte, es studierte, beschrieb, strukturierte und klassifizierte, lag die Besonderheit seiner aus der Praxis kommenden Theorie. Das musikalische Objekt – so Schaeffer – ist nicht der Klangkörper, ist nicht das physikalische Signal, ist nicht ein Tonbandschnipsel, ist kein Notationssymbol und ist keine rein individuelle Empfindung. Und als er im Traité des objets musicaux zur Beschreibung musikalischer Objekte übergeht, legt er zunächst eine horizontale Zeitachse an und folgt darin konsequent dem phänomenologischen Ansatz: Das Ohr folgt dem Klangverlauf in der Zeit; musikalische Objekte schälen sich aus dem Klangfluss heraus. Schaeffer gelangte damit zu Beschreibungsebenen von Klang, die Wahrnehmungsordnungen deklarieren. Die Wahrnehmung erster Ordnung kommt der allgemeinsten Beschreibungsebene der Entwicklung eines Klangs gleich; hier formiert sich die gesamte Hüllkurve (›le profil général‹) mit ihren vier wesentlichen Etappen: Einschwingvorgang, eine für das Verhalten schwingender Materie charakteristischen Absenkung der Dynamik unmittelbar nach dem Einschwingen, der quasi-stationäre Korpus und der Ausschwingvorgang.13 In der Abbildung sind die aus der Synthesizertechnologie bekannten englischen Begriffe verwendet:

Die Wahrnehmung zweiter Ordnung erlaubt es, innermodulatorische Ausgleichsvorgänge zu beschreiben. Schaeffer prägte den 13 Vgl. Pierre Schaeffer: Traité des objets musicaux, Paris 1966.

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Begriff der ›Allure‹, der im allgemeinen Sinne alle Arten des Vibratos beinhaltet.

Die Wahrnehmung dritter Ordnung richtet sich auf die stoffliche Qualität des Klangs und lotet quasi seine taktile Sensitivität aus. Schaeffer spricht von Körnigkeit (›grain‹).

Musik wurde schon immer als eine Zeitkunst gewürdigt. Das Besondere der Schaefferschen Übertragung akustischer Erkenntnisse in einen musiktheoretischen Zusammenhang liegt darin, daß er die Prozessualität von musikalischen Phänomenen in den Klang selbst verlagert und damit das Klangobjekt verzeitlicht. Dieses Konzept von Klangbewegung erscheint a-medial und wird durch die Aufforderung, reduktiv zu hören, an apparative Medien gekoppelt. Das Ziel ist eine Unmittelbarkeit des musikalischen Hörens, das trotz oder gerade in seiner medialen Abhängigkeit einen utopischen Gegenentwurf zu den vielen Erscheinungen vermittelter Kunst aufscheinen lässt. In ihrer dreifachen Schichtung von Objektverhalten (Zeitlichkeit von Klangbewegung), Körper (Zeitlichkeit des Wahrnehmung) und Technik (Zeitlichkeit mechanischer Wiederholung) rekurriert die Intermedialität von Musique concrète in diesem frühen Entwurf Schaeffers auf das Basismedium von Musik schlechthin: die Zeit.

6. Zusammenfassende Überlegungen zu musikalischer Intermedialität Intermedialität zeigte sich in den Fallbeobachtungen zu musikalischer Bewegung in großer Vielseitigkeit, welche die Dramaturgie, die Hermeneutik, die Kompositionsästhetik, die Produktion und

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die Wahrnehmung betreffen. Eine Systematik hätte Phänomene der Gleichzeitigkeit, der Dominanz, der Verschränkung, der Inszenierung u. a. m. als Qualitäten von Intermedialität zu sortieren. Es liegt also ein erheblicher Vorteil für musikwissenschaftliches Arbeiten darin, Intermedialität zu einem Oberbegriff medialer Relationen zu erklären. In dieser Hinsicht gehen die vorgelegten Betrachtungen über gängige, zum Teil literaturwissenschaftlich begründete Intermedialitätskonzepte, die Kunstformate quasi als Kombinationen von Textgattungen rubrizieren, hinaus, ebenso wie Auffassungen von kunstspezifischer Intermedialität, die den Einsatz von Technologien hierarchisch abstufen. Musik erschöpft sich nicht im systematischen Ausbuchstabieren von Beziehungen zwischen Klängen und diversen Technologien, sondern ereignet sich erst in dem resultierenden Ganzen, das sich aus den Einzelrelationen in je anderer Formation zusammensetzt. Aus der Perspektive der Musik prägen die sie konstituierenden Medien stets Inter-Relationen aus. Selbst wenn, wie in traditionellen Opernkonzepten, Gesang, Musik, Geste, Bühnenbild etc. eine Multimedialität praktizieren, die getrennt voneinander bestimmbare und zueinander komplementär sich verhaltende Darstellungsformen erkennen lassen, so wirkt doch immer die eine Form in die andere ein, in der anderen nach, setzt sich in ihr fort. Diese ›Inter-Relationen‹ finden sich im Konzept des Kunstwerks angelegt. Sie erschließen sich einem Blick, der das Werk pragmatisch, das heißt im Vollzug medialer Prozesse und Übersetzungen wahrnimmt. Skizzenforschung erweitert dann ihren Fokus von einem die Werkgenese dokumentierenden Papier um Zeugnisse des kreativen Geschehens und Handelns unterschiedlichster Provenienz. Dass auch andere Disziplinen einen Gewinn in der pragmatischen Engführung von Medienforschung und der Ausdifferenzierung ästhetischer Praxis sehen, demonstriert ein unlängst erschienener, dem Freiburger Literaturhistoriker Rolf Renner gewidmeter Band. Unter der Überschrift Praktizierte Intermedialität. Deutschfranzösische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo findet sich die Arbeitsweise von Künstlern und Wissenschaftlern portraitiert, wobei Intermedialität per se als eine Praxis aufgefasst wird. Es geht um die grundlegende Beobachtung, dass Medien trotz ihrer Differenz immer schon als Verbund existieren und als solcher analysiert werden müssen. Intermedialität wird arbeitspraktisch verstanden als ›ästhetische, epistemische und mediale Strategien‹. Inbegriffen sind

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›Medienwechsel‹, ›Interaktionen‹ und ›Transformationen der Medien‹. Erst eine Theorie des medialen Gestaltens im ästhetischen Feld wird also Musik als Präzedenzkandidaten für Forschungen zu Intermedialität ausweisen. Mediales Gestalten kann als zentrales Konzept einer pragmatischen Musiktheorie gelten, welche die Fragen, wie Musik gemacht, aufgeführt, gehört wird, aufeinander beziehbar macht. Intermedialität gilt dann als qualitative unterscheidbare ›Quer-Verschränkung‹ medialer Gestaltungsvorgänge, als Prinzip der Transformation, der Übersetzung, als Ausdruck der Konkurrenz von medial unterschiedlich repräsentierten Kräften und als Verweissystem zwischen Medien. Mediales, gleichsam intermediales Gestalten entsteht aus der musikspezifischen Notwendigkeit, nichtklangliche Techniken einzusetzen, um mit Klang zu arbeiten, denn Klang ist von sich aus flüchtig. Musik als Inbeziehungsetzung von Klang erfordert diese Medien. Medien werden für diese Argumentation als übersetzende Formungsbedingungen aufgefasst, die aus Apparaten, Kulturtechniken, Artefakten und anderen ausgewählten Gegebenheiten resultieren, welche im Dienste von Musik aktiviert werden.14

Literatur Dack, John: Instrument und Pseudoinstrument. Akusmatische Konzeptionen, in: Elena Ungeheuer (Hg.): Elektroakustische Musik, Laaber 2002, S. 243–259. Gebauer, Günter/Wulf, Christoph: Spiel, Ritual, Geste: Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998. Goldstein, Bruce: Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg, Berlin 2002. Stockhausen, Karlheinz: Elektronische Musik und Automatik, in: ders.: Texte zur Musik 1963–1970, Köln 1971. Koenig, Gottfried Michael: Ästhetische Praxis. Gesammelte Schriften Bd. 1, Saarbrücken 1960. Ungeheuer, Elena: Elektroakustische Musik: Ansätze zu einer Klassifikation, in: dies. (Hg.): Elektroakustische Musik, Laaber 2002. 14 Vgl. Elena Ungeheuer: Ist Klang das Medium von Musik?, in: Holger

Schulze (Hg.): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung [Sound Studies Serie Volume 1], Bielefeld 2008, S. 57–76.

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Ungeheuer, Elena: Ist Klang das Medium von Musik?, in: Holger Schulze (Hg.): Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung [Sound Studies Serie Volume 1], Bielefeld 2008, S. 57–76. http://vimeo.com/8120934, 18. 10. 2010. http://www.youtube.com/watch?v=dunKAwRN3P8, 18. 10. 2010. http://www.youtube.com/watch?v=bsEaauy4s5E. http://www.youtube.com/watch?v=2xB4dbdNSXY, 19. 10. 2010.

Autorinnen und Autoren

Thomas Becker, PD Dr. phil, Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Tübingen und Berlin, Promotion an der FU, Lektor an

der Ecole Normale Fontenay-aux-Roses bei Paris, Research Fellowship an der Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, z. Zt. wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste im Projekt Intermediale Grenzüberschreitung zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst. Zur Soziologie ästhetischer Erfahrung an der FU Berlin, zugleich Privatdozent am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuelle Veröffentlichungen: Graphic Novel – eine ›illegitime‹ Medienkombination?, in: Uta Degner/Norbert Christian Wolf (Hg.): Intermedialität und mediale Dominanz, Bielefeld 2010, S. 167–186; Woman Trap of Enki Bilal: Reflections on Authorship under the Shifting Boundaries between Order and Terror in the Cities, in: Jörn Ahrens, Arno Meteling (Hg.): Comics and the City. Urban Space in Print, Picture and Sequence, New York 2010, S. 265–278; Fieldwork in Aesthetics. On Comics’ Social Legetimacy, in: Jaqueline Berndt (Hg.): Comics World & the World of Comics, Kyoto 2010. Karin Bruns, Dr. phil., Professorin für Medientheorie und Leiterin

des Instituts für Medien an der Kunstuniversität Linz; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Theorien der Online-Medien, intermedialeFormate, Design und Medien; Publikationen u. a.: Höchste Zeit für Mr. Hitchcock. Spiel als Wissenstechnik zwischen Zeitmanagement und Game-Engine, in: Caja Thimm (Hg.): Das Spiel: Muster und Metapher der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2010; Das widerspenstige Publikum: Vier Thesen zu einer Theorie multikursaler Formate, in: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität Analog/Digital, München 2008; IKEA revisited. Medienästhetik als künstlerische Praxis zwischen Life Design und Subversion, in: K 60:Kunstuniversität, Linz 2008; Reader neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation (zus. mit Ramón Reichert), Bielefeld 2007. Michael Custodis, Prof. Dr., studierte Musikwissenschaft, Soziolo-

gie, Vergleichende Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft und

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Autorinnen und Autoren

Filmwissenschaft in Mainz, Bergen (Norwegen) und Berlin. Nach einem Diplom in Soziologie promovierte er im Fach Musikwissenschaft. Er habilitierte sich an der Freien Universität Berlin, war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Musikwissenschaft im DFG-Sonderforschungsbereich 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste und ist heute Professor für Historische Musikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Seine Arbeits- und Publikationsschwerpunkte umfassen u. a. die Bereiche Musik und Politik, Musiksoziologie und Musik in der Literatur sowie Wechselwirkungen zwischen »populärer« und »klassischer« Musik. Frédéric Döhl studierte Musikwissenschaft, Vergleichende Musik-

wissenschaft und Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. 2007 Zweites Juristisches Staatsexamen, 2008 Promotion in Musikwissenschaft mit der Studie . . . that old barbershop sound. Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik, Stuttgart 2009. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 626 an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u. a. Substantially Similar? Das Plagiat aus Sicht des Verhältnisses von Musik und Recht, in: Malte-Christian Gruber u. a. (Hg.), Plagiate. Fälschungen, Imitate und andere Strategien aus zweiter Hand, Berlin 2010, S. 203–217; Still Got The Blues. Ein Plädoyer für Alternativen zur geltenden Form der Eigentumsverletzung durch unbewusste Entlehnung in der Musik, in: Paul Ferstl u. a. (Hg.), Owning the Mind. Beiträge zur Frage geistigen Eigentums, Wien 2010, S. 95–130. Michael Lommel, PD Dr. phil. (www.michael-lommel.de). Stu-

dium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Siegen. Venia Legendi: Allgemeine Literaturwissenschaft, Schwerpunkt Medienwissenschaft. Bis 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Gastprofessor für Theorie des Films in Wien (2007) und Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck (2008), Dozent für Medientheorie und -geschichte an der HTW Chur (2010/11). Publikationen (Auswahl): Der Pariser Mai im französischen Kino, Tübingen 2001. Samuel Beckett – Synästhesie als Medienspiel, München 2006. Im Wartesaal der Möglichkeiten – Lebensvarianten in der Postmoderne, Köln 2011. Mitherausgeberschaft: Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. Media Synaesthetics: Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln 2004. Sartre und die Medien, Bielefeld 2008. Surrealismus

Autorinnen und Autoren

237

und Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008. Der Surrealismus in der Mediengesellschaft: zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010. Thomas Macho, Prof. Dr., Professor für Kulturgeschichte an der

Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders, Geschichte des Todes (Rituale), Animal Studies. Letzte Publikationen (Auswahl): Das Leben ist ungerecht, St. Pölten/Salzburg 2010; Vorbilder, München 2011; Menschen – Tiere – Maschinen. Zur Kritik der Anthropologie, Frankfurt a. M. 2011; Vorbilder, München 2011; (Hg. zus. mit Petra Lutz): Zwei Grad. Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008; (Hg. zus. mit Gisela Staupe und Sigrid Walther): Was ist schön?, Göttingen 2010; (Hg. zus. mit Christian Kassung): Kulturtechniken der Synchronisation, München 2011. Beate Ochsner, Professur für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Basel und St. Gallen. Forschungsschwerpunkte: Repräsentation von Dis/ Ability, Monster und Monstrositäten, Intermedialität, Hybridisierung, junges deutsches Kino, Bildwissenschaft des bewegten Bildes. Letzte Veröffentlichungen: Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie (München 2009), »Zwischen Intermedialität und Hybridisierung oder: Zum Phänomen kalkulierter Freiheit«, in: Medienwissenschaft, Medienwissenschaft 4 (2008), S. 378–387; »Visuelle Subversionen. Zur Inszenierung monströser Körper im Bild«, online in Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildforschung (http://image-online.info/), Nr. 9 (Ausgabe Januar 2009), u. a. Joachim Paech, Professor für Medienwissenschaft an der Universi-

tät Konstanz (emeritiert 2007). Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Films, Intermedialität des Films, der Literatur und der traditionellen Künste. Veröffentlichungen u. a. Intermedialität in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart (Reclam-Verlag) 3 1998 (zus. mit Anne Paech: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen, Stuttgart, Weimar (Metzler-Verlag) 2000 (Gente en il cine Madrid [Cátedra] 2002); Der Bewegung einer Linie folgen . . . Schriften zum Film, Berlin (Vorwerk 8-Verlag) 2002; Warum Medien?, Konstanz 2008 (= Konstanzer Universitätsreden 232); (Hg. zus. mit Jens Schröter) Intermedialität. Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München (Fink) 2008.

238

Autorinnen und Autoren

Bernd Scheffer, Professor für Literatur- und Medienwissenschaft an

der der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Germanistik, Geschichte, Soziologie und Philosophie. Zweitstudium der Diplom-Psychologie und Ausbildungen in Psychotherapie. Buch- und Aufsatz-Veröffentlichungen zur Kunst und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Zuletzt: (Hg. zus. mit Christine Stenzer), Schriftfilme. Schrift als Bild in Bewegung, Bielefeld 2009; Das Gute am Bösen: Teuflisch gute Kunst, in: Faulstich, Werner (Hg.): Das Böse heute. Formen und Funktionen, München 2008, S. 257–270. Elena Ungeheuer, Prof. Dr., Musikwissenschaftlerin (Technische

Universität Berlin/Kunstuniversität Graz), Schwerpunktthemen Musik und Medien, Musik und Sprache, Musikvermittlung, Technik und Ästhetik, Musikpsychologie, Musikanthropologie, Musiksoziologie, Musik der Gegenwart. Veröffentlichungen (Auswahl): Konzertformate heute: abgeschaffte Liturgie oder versteckte Rituale, in: M. Tröndle, Das Konzert, Bielefeld 2009, S. 125–142; Imitative Instrumente und innovative Maschinen? MusikästhetischeOrientierungen der elektrischen Klangerzeugung, in: Institut für Medienarchäologie (Hg.), Zauberhafte Klangmaschinen. Von der Sprechmaschine bis zur Soundkarte, Hainburg 2008, S. 45–59; KlangÜbersetzung. Von der Notwendigkeit einer medienkritischen Musikgeschichte, in: H. Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung [Sound Studies Serie Volume 1] Bielefeld 2008, S. 57–76. Michael Wetzel, Professor für Literatur- und Filmwissenschaft am

Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Gegenwärtige Arbeitsschwerpunkte sind Autor- und Künstlerthematik, Inframedialität (ausgehend von Marcel Duchamp und Henri Bergson) und Welt aus Glas: ein Material als Medium und Motiv; letzte Publikationen: Jacques Derrida: Grundwissen Philosophie, Stuttgart 2010; Killer/Culture: Serienmord in der populären Kultur, hg. zus. mit Stefan Höltgen, Berlin 2010; Der Autor-Künstler, Berlin 2011.

Register

A-Ha 144 Aarseth, Espen J. 93 Adorno, Theodor W. 10, 103, 161, 207 Adrian, Marc 108 Åkerlund, Jonas 146 Albarn, Damon 144 Altman, Robert 102 Anders, Christian 98 Anders, Günther 150 Anderson, Paul Thomas 102 D’Arc, Jeanne 125 Arvers, Isabelle 149 Auster, Paul 101 Babitz, Eve 43 Bach, Johann Sebastian 131, 203 Backrin, Jim 75 Baker, Janet 98, 100 Banks, Tony 201 Barbier, Jean-Joël 133 Barbirolli, John 98 Bardou-Jacquet, Antoine 109, 144 Barry, Joan 126 Baudelaire, Charles 7, 11 Beck 155 Becker, Hal C. 86 Becker, Thomas 161 Beckett, Samuel 97, 103, 126 Beethoven, Ludwig van 136 Behrman, David 204 Benjamin, Walter 7, 9f. Bergson, Henri 33, 44f., 49f.

Besson, Luc 93 Bittner, Katja 154 Björk 153, 211 Bloch, Ernst 129 Bogdanovich, Peter 123f. Bolter, Jay D. 19f., 22, 90f., 159 Booren, Jo van den 125 Bootz, Philippe 108 Bourdieu, Pierre 10, 14–19, 25, 33, 35–40, 42f., 45, 55, 161 Bowie, David 172 Brahms, Johannes 207 Braille, Louis 210 Brakhage, Stan 108 Brecht, Bertolt 28, 64 Bresson, Robert 27, 123, 127–137 Bruns, Axel 27, 142, 160f. Bruns, Karin 26 Buggles, The 22 Bunuel, Luis 70f. Busoni, Ferruccio 210 Butting, Max 60 Cage, John 139, 204, 221 Cahan, David 76 Cale, John 28 Cantor, Georg 52 Carroll, Lewis 33, 115 Certeau, Michel de 141f. Chopin, Frédéric 203 Cleese, John 86 Corrigan, Robert E. 86 Crary, Jonathan 76

240

Register

Crécy, Hervé de 109 Croskerry, Brendan 157 Cunningham, Chris 146, 212 Custodis, Michael 28 Danger Mouse 172 Daniels, Dieter 139f. Danto, Arthur 43 Dardenne, Jean-Pierre 27, 135f. Dardenne, Luc 27, 135f. Darwin, Charles 38 Dath, Dietmar 13f. Dawkins, Richard 162 Debray, Régis 140 Deleuze, Gilles 26, 50f., 97–99, 102 Delluc, Louis 105 Delpy, Julie 69 Derrida, Jacques 50, 91 Diederichsen, Diedrich 160, 164 Dire Straits 22 Dobroshi, Arta 135 Döhl, Frédéric 28 Dolar, Mladen 100 Dream Theater 200–202, 208f., 212f. Dreyer, Carl Theodor 124–126 Duchamp, Marcel 12, 24, 33–36, 39–55, 108 Dürer, Albrecht 48, 80 Dunlap, Knight 77f. Duras, Marguerite 99 Dwan, Allan 123 Dylan, Bob 109 Eco, Umberto 9f., 12f., 15 Einhorn, Richard 125 Einstein, Albert 38 Emerson, Keith 201, 203, 206 Engell, Lorenz 90, 92 Falconetti, Renée 125 Faraday, Michael 37, 54

Farocki, Harun 104 Fatboy Slim 147 Fineman, Neil 140 Fiske, John 17f., 23, 141 Flade, Uwe 162 Flaubert, Gustave 7f., 27 Fluckiger, François 149, 156 Folman, Ari 74 Forster, Edward M. 21 Foster, Mark 101 Foucault, Michel 16, 18, 82, 85 François Truffaut 27 Freud, Sigmund 33, 38 Frost, James 151 Gärtner, Adolf 109 Galison, Peter 76 Garcia, Sandra 152 Genesis 201, 203 Gentle Giant 203 Godard, Jean-Luc 103 Goebbels, Heiner 176 Goethe, Johann Wolfgang 27, 39f. Gondry, Michel 144, 152 Gopher, Alex 109, 144 Gorillaz 144 Gosejohann, Thilo 147 Green, Walter 130 Griffith, David W. 26, 97, 101f., 104f. Grisey, Gerard 204 Grossberg, Lawrence 145 Grup Tekkan 148 Grusin, Richard 20, 22, 90f., 159 Guattari, Felix 145 Gutenberg, Johannes 110 Habas, Alois 210 Haggis, Paul 102 Hall, Stuart 17 Haneke, Michael 131, 135 Hardenberg, Tita von 154

Register

Hawke, Ethan 69 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 177 Hegemann, Helene 28 Heinich, Nathalie 42, 55 Henry, Pierre 206 Hessel, Franz 117 Hewlett, Jamie 144 Hitchcock, Alfred 125–127 Hlali, Barbara 25, 57, 59, 65, 71 Hoffmann, E. T. A. 35 Hogarth, William 48 Holden, William 75 Holzer, Jenny 110 Houplain, Ludovic 109 Howe, Jeff 150 Husserl, Edmund 229 IAM 144 ICKE & ER 147 In the Nursery 125 Isou, Isidore 108 Itard, Jean Marc Gaspard 127 Ja Rule 154 Jackson, Michael 82, 146 Jarmusch, Jim 26, 97f., 100f., 103 Jaron, Jürgen 154 Jay-Z 172 Jeanson, Francis 103 Jenkins, Henry 22, 143 Jonze, Spike 147 Kac, Eduardo 108, 110 Kant, Immanuel 26, 37, 80, 97–99, 102 Keenan, Maynard James 219 Key, Wilson Bryan 79f. King Crimson 203 KIZ 155f. Klossowski, Pierre 134 Koblin, Aaron 151 Köhler, Wolfgang 38

241

Koenig, Gottfried Michael 29, 204, 224, 227f. Koether, Jutta 160, 164 Konrad, Thorsten 157 Kopernikus, Nikolaus 38 Kopf, Biba 146 Kramer, Wayne 102 Krenek, Ernst 207 Kühnemund, Jan 146 Kyd, Jesper 125 LaBrie, James 209 Labuat 156 Lady Gaga 146 Lake, Greg 203 Lang, Fritz 109 Lautréamont 47 Led Zeppelin 80 Lemaître, Maurice 108 Lennon, John 29, 218f. Lessing, Gotthold Ephraim 40 Levine, Robert 81, 90 Lichtenstein, Roy 12 Ligeti, György 204 Linkin Park 144 Linklater, Richard 69 Liszt, Franz 200, 203, 207 Lommel, Michael 26 Longo, Robert 92 Lord, Jon 206 Luening, Otto 204 Luhmann, Niklas 63 Lully, Jean-Baptiste 131 Lye, Len 66f., 108 Lynch, David 80, 92 Macho, Thomas 27 Magritte, René 55 Mahler, Gustav 97–99, 101 Majesty 208 Mallarmé, Stéphane 8, 47, 115 Malraux, André 41 Manovich, Lev 139, 159, 162 Marey, Etienne-Jules 54

242

Register

Martenot, Maurice 204 Marx, Karl 9, 18, 34, 42 Matt, Peter von 35 Maxwell, James Clerk 37 Mayerl, Billy 125 McLuhan, Herbert Marshall 20f., 26f. Mead, Taylor 103 Medici, Katharina von 105f. Metallica 209 Metz, Christian 61 Miller, Frank 69 Milton, John 137 Moby 153 Moholy-Nagy, Laszlo 65 Molina, Alfred 103 Monteverdi, Claudio 131f. Moog, Robert 206 Moore, Timothy 78 Morang, Kim I. 153 Morgan, Kim I. 153 Mozart, Wolfgang Amadeus 131f. Mühling, Jens 173 Müller, Bianca 171 Murray, Bill 103 MUSHFILO 147 Myung, John 208 Negri, Pola 123f. Nine Inch Nails 82, 93 Nolan, Christopher 84, 92 Novak, Kim 75 Obama, Barack 81 Oberbeck, Kay 151 Ochsner, Beate 27 Ondra, Anny 125f. Ono, Yoko 219 Orbison, Roy 172 Packard, James 80f. Packard, Vance 78, 87 Paech, Joachim 25

Paganini, Niccolò 200 Pallotta, Tommy 144 Palmer, Carl 203 Pelham, Moses 178 Peters, Kathrin 158 Petrucci, John 208, 213 Pink Floyd 201, 203 Plotin 51 Poe, Edgar Allan 7 Poganatz, Hilmar 152 Poincaré, Henri 49f. Porter, Edwin S. 108f. Portnoy, Mike 200, 208, 212 Pratkanis, Anthony R. 82 Prince 109 Prodigy 82 Proust, Marcel 97 Purcell, Henry 131 Radiohead 151 Rancière, Jacques 8f., 11, 14 Ray, Man 108 Reiss, Steve 140 Renier, Jérémie 135 Renner, Rolf 232 Resnais, Alain 99 Rhymes, Busta 153 Rice, Bill 103 Richie, Donald 131–133 Rihanna 82 Ritchard, Cyril 125 Robbe-Grillet, Alain 99 Robinson, Mark 151 Rodriguez, Robert 69 Rolling Stones, The 172 Rongione, Fabrizio 135 Rot, Diter 108 Rudess, Jordan 28, 199–203, 205, 207, 209–214 Rückert, Friedrich 97f., 101 Rühm, Gerhard 108 Ruttmann, Walter 57f., 60, 65, 73 Rybczinski, Zbig 218

Register

Sala, Oscar 204 Sartre, Jean-Paul 16 Satie, Eric 140 Schaeffer, Pierre 228–231 Scheffer, Bernd 26f., 29 Schmid, Ole 125 Schneider, Alan 126 Schneider, Reto U. 86 Schröter, Jens 70 Schubert, Franz 27, 132–137 Schütz, Heinz 223f. Schwarz, Arturo 41 Scripture, Edward W. 76, 78 Seier, Andrea 158 Setlur, Sabrina 178 Sharits, Paul 108 Shaw, Jeffrey 108, 111 Sigismondi, Floria 152f. Šklovskij, Viktor 25, 64 Sloterdijk, Peter 100f. Smudo 154 Sperling, Heike 118 Spiegelman, Art 9, 12 Spielberg, Steven 69 Stockhausen, Karlheinz 29, 204, 206, 224 Strawinsky, Igor 204, 207 Swanson, Gloria 123 Tarantino, Quentin 26, 103 Tesla, Nicola 103, 106 Theremin, Leo 204 Toffler, Alvin 80, 142 Trier, Lars von 27, 127 Truffaut, François 126–128 Tudor, David 204

243

Twin, Aphex 146, 212 Tykwer, Tom 93 Tyra, Frank 171f. Ungeheuer, Elena 29, 156 Ussachevsky, Vladimir 204 Vicary, James 78f., 81f., 85–87, 89 Vinci, Leonardo da 47 Vinterberg, Thomas 127 Vogel, Martin 133 Wachowski, Andy 92 Wachowski, Larry 92 Wagner, Wilhelm Richard 29, 207 Waits, Tom 101, 103 Warhol, Andy 49 Webern, Anton 204, 208 Wellmer, Albrecht 177 Wetzel, Michael 24f. Wiazemsky, Anne 129f. Williams, Hype 152 Williams, Robbie 156 Wir sind Helden 148 Woznicki, Krystian 153f. Wright, Richard 201 Wundt, Wilhelm 76 Xenakis, Iannis 204 Yes 203 Zemeckis, Robert 68 Zero 7 144, 157, 162

Kultur- und Medientheorie Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Juli 2011, ca. 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

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