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German Pages 532 Year 1993
QUAESTIONES OECONOMICAE Band 10
Steuerpolitik in der Demokratie Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
Von Siegfried F. Franke
Duncker & Humblot · Berlin
SIEGFRIED F. FRANKE Steuerpolitik in der Demokratie
QUAESTIONES
OECONOMICAE
Herausgegeben von Prof. Dr. Hans Besters
Band 10
Steuerpolitik in der Demokratie Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
Von
Siegfried F. Franke
Duncker & Humblot * Berlin
Zur Veröffentlichung empfohlen von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund Gedruckt mit Unterstützung der List Gesellschaft e.V. und des Bundes der Steuerzahler Hamburg e.V.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Franke, Siegfried Franz: Steuerpolitik in der Demokratie : das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland / von Siegfried F. Franke. Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Queaestiones oeconomicae ; Bd. 10) Zugl.: Dortmund, Univ., Habil.-Schr., 1990 ISBN 3-428-07632-X NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0481-1124 ISBN 3-428-07632-X
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 1990 - noch vor der überraschend schnell vollzogenen deutschen Einheit - von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund als Habilitationsschrift angenommen. Der Fakultät habe ich zu danken, daß sie mir nach Jahren der Abwesenheit noch extern die Habilitation ermöglicht hat. Hervorzuheben ist die Unterstützung durch Herrn Professor Dr. Ulrich Teichmann und Herrn Professor Dr. Hans Günther Meissner. Dank schulde ich darüber hinaus den Parteien und Fraktionen, vielen Ministerien und Verbänden, den Gewerkschaften und Kirchen sowie einer Reihe sonstiger Institutionen, weil sie meine zahlreichen Wünsche um Material und Auskünfte auch dann rasch erfüllten, wenn sie wußten, daß meine Bewertung zu einigen ihrer Positionen kritisch ausfallen würde. Zugleich räume ich gerne ein, daß die Arbeit ohne den Einblick in die Verwaltung und die Unterstützung, die ich während meiner Zeit am Fachbereich Finanzen der Fachhochschule fur Öffentliche Verwaltung in Hamburg erfahren habe, im empirischen Teil weniger fundiert und im Erklärungsteil oberflächlicher ausgefallen wäre. Für vielfältige Hilfe bei der Drucklegung möchte ich zudem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meiner Abteilung danken. Das wissenschaftliche Anliegen der Arbeit ist es, eine empirisch fundierte Analyse der deutschen Steuerpolitik vorzulegen. Sie bedient sich dazu - obwohl an den nach wie vor lesenswerten finanzwissenschaftlichen Besteuerungskategorien von Neumark ausgerichtet - eines interdisziplinären Ansatzes, in dem freilich neben volkswirtschaftlichen, betriebswirtschaftlichen, betriebssoziologischen, systemtheoretischen, politologischen und juristischen Aspekten der methodische Ansatz der Neuen Politischen Ökonomie überwiegt. Daraus ergibt sich der Aufbau der Arbeit: Die eigentliche Erklärung der Steuerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland im dritten Teil erfolgt auf der Basis einer differenzierten Analyse von Anspruch und Wirklichkeit des Besteuerungssystems im ersten und zweiten Teil, weil nur so der gewählte Ansatz fruchtbar entfaltet werden konnte, der sich darauf richtet, empirisch belegte und abgeleitete Gestaltungsmuster der Steuerpolitik zu erklären. Der gewählte Ansatz bringt es
Vorwort
6
mit sich, daß Aussagen der Optimalsteuertheorie nur in begrenzter Form Eingang gefunden haben. In diesem Zusammenhang ist Herrn Prof. Dr. Wolfram F. Richter fur wissenschaftliche Toleranz zu danken. Die Arbeit w i l l auf ihre Weise auch einen Beitrag zur Steuergerechtigkeit leisten, die sich in sachgerechten Prinzipien für das Steuerrecht niederschlagen muß. Insofern trifft sie sich mit den beharrlich verfolgten Zielsetzungen von Professor Dr. Klaus Tipke, Universität Köln. Sein umfangreiches, dreibändiges Werk »Die Steuerrechtsordnung« konnte ich leider nicht mehr auswerten, weil es erst bei Abgabe meines druckfertigen Manuskriptes erschien. Die Schrift ist zur Drucklegung überarbeitet worden. Im empirischen Teil ist die große Steuerreform von 1990 voll berücksichtigt worden; eine Fortführung und Aufnahme der zahlreichen und unsystematischen steuerrechtlichen Neuregelungen ab 1991 war schon aus Gründen des Umfangs nicht möglich. Indessen wird der interessierte Leser feststellen, daß die steuerpolitische Entwicklung ab 1991 die in dieser Arbeit abgeleiteten Entwicklungsmuster bestätigt. Eine Berücksichtigung dieser Entwicklung würde jedoch gute Belege dafür liefern, um die zentralen Erklärungshypothesen noch schärfer zu akzentuieren. Um den Zugang zu den zahlreichen Facetten der Untersuchung zu erleichtern, ist die Arbeit nicht nur differenziert gegliedert, sondern auch mit einem Namens- und Sachwortverzeichnis versehen worden. Das Erscheinen der Arbeit hat sich durch meinen Wechsel an die Universität Stuttgart und - wichtiger noch - durch die Geburt unserer Tochter Anna-Maria, die es recht eilig hatte und schon nach sechs Monaten zur Welt kam, etwas verzögert. Dem Verlag und vor allem Herrn Professor Dr. Hans Besters, Universität Bochum, ist für große Geduld und für die Aufnahme der Arbeit in seine Schriftenreihe »Quaestiones Oeconomicae« zu danken. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Werner Zohlnhöfer, Universität Mainz, auf den die Anregung zu dieser Arbeit zurückgeht, bin ich fur wissenschaftliche Gespräche sowie persönliche Unterstützung und Ermutigung tief verpflichtet. Ganz besonders herzlich aber habe ich meiner Frau Elsie zu danken. Sie hat sich immer wieder besänftigen lassen und darauf verzichtet, ihre gelegentlichen Drohungen, Viren in meine Datenbänke zu schleusen und die Sicherungskopien zu entwenden, in die Tat umzusetzen.
Stuttgart, im Juli 1993
Siegfried
F. Franke
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kennzeichnung und Abgrenzung der Problemstellung I.
Zur Funktion der Steuerpolitik in modernen Gesellschaften demokratischer Regierungsformen
23
II.
Anspruch und Wirklichkeit der Steuerpolitik
27
III.
Krise des Steuerstaates
29
IV. Aufbau der Analyse und Grundzüge des theoretischen Referenzrahmens .
32
Erster Teil
Zum gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Anspruch der Besteuerung I.
II.
Entwickelte Besteuerungsnormen
39
1. Zur Interpretation des Leistungsfahigkeitsprinzips
39
a) Steuerprogression und Einkommensdifferentiation
39
b) Der Konsum als alternative Bemessungsgrundlage
44
2. Anwendungsbereiche des Äquivalenzprinzips
46
3. Zur politischen Bedeutung der Fundamentalprinzipien
49
4. Die Hauptfunktionen des Budgets
51
5. Zum Zusammenhang zwischen Fiskalzwecknormen und Sozialzwecknormen: Belastungs- und gestaltungsbezogene Weltmaßstäbe der Besteuerung
55
Ausdifferenzierte Besteuerungsgrundsätze als Beurteilungsmaßstab der Besteuerung
61
1. Zur Funktion und Bedeutung ausdifferenzierter Besteuerungsgrundsätze
61
2. Grob Übersicht der Besteuerungsgrundsätze nach Neumark
62
3. Zur Erläuterung der Besteuerungsgrundsätze im einzelnen
64
Inhaltsverzeichnis
8
III.
a) Fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze
64
b) Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze
65
c) Wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze
71
d) Steuerrechtliche und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze. . .
81
Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
83
1. Zur allgemeinen Problematik der Zielkonflikte
83
2. Zum Aufbau eines »rationalen« Steuersystems
85
a) Annahmen und Grundzüge eines »rationalen« Steuersystems . . . .
85
b) Modifikationen bei föderalistischem Staatsaufbau und bei Berücksichtigung von Wirtschaftsstruktur und Steuermentalität
94
IV. Zur Akzeptanz der Besteuerungsgrundsätze durch Parteien, Interessenverbände und Regierung
98
1. Zur Funktion der Akzeptanz im Untersuchungszusammenhang 2. Besteuerungsgrundsätze und steuerpolitische Vorstellungen in der Parteiprogrammatik
100
a) Grundwerte und Steuerpolitik
100
b) Grundlinien der steuerpolitischen Konkretisierung
106
3. Steuerpolitische Vorstellungen der Verbände
V.
98
114
a) Forderungen von Arbeitgeberverbänden (BDI, BDA, DIHT), Handwerk (ZDH), Einzelhandel (HDE), Bauernverband, Kommunen (Deutscher Städtetag), Gewerkschaften (DGB, ÖTV, CGB, DAG, DBB, DStG) und Bund Deutscher Finanzrichter
114
b) Forderungen des Bundes der Steuerzahler und des Deutschen Steuerberaterverbandes
131
4. Besteuerungsgrundsätze der Regierungen
137
Zusammenfassende Bewertung der besteuerungspolitischen Grundsätze von Parteien, Verbänden und Regierungen
139
Zweiter
Teil
Grundzüge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit I.
Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
145
1. Steuern vom Einkommen und Ertrag
145
a) Die Einkommensteuer
145
Inhaltsverzeichnis
aa) Hohe fiskalische Ergiebigkeit der Lohnsteuer
145
bb) Übersteigerte und unsystematische Einzelregelungen
148
cc) Tarifgestaltung und Steuerbelastung
149
α) Zur Höhe der Grenz- und Spitzensteuerbelastung
149
ß) Ungenügende Sicherung des Existenzminimums
152
y) Probleme des Splittingverfahrens
155
δ) Ungenügende Berücksichtigung von Kindern
159
6) Probleme des Periodizitätsprinzips
162
dd) Wirtschaftslenkende Normen а) Mangelnde Begründung der Eingriffsabsicht
166
ß) Obsolete Steuerbefreiungen
166
y) Unsystematische und unbegründete Freibeträge
167
б) Zur Entstehung und Bekämpfung der Abschreibungsgesellschaften
172
ee) Verfehlung prozeßpolitischer Prinzipien
ff)
166
175
à) Keine aktive Flexibilität
175
ß) Mängel im Bilanzsteuerrecht
179
Allgemeine steuerrechtliche und steuersystematische Mängel .
183
b) Die Körperschaftsteuer
186
aa) Zu den Grundbegriffen
186
bb) Die fiskalische Ergiebigkeit
188
cc) Vermeidung der Mehrfachbelastung
190
dd) Mängel des AnrechnungsVerfahrens
192
ee) Keine vermögenspolitische Wirkung des Anrechnungsverfahrens
193
ff)
194
Das ungelöste Problem des verdeckten Nennkapitals
gg) Ungenügende Rechtsformneutralität
194
hh) Zur Finanzierungsneutralität
197
ii)
198
Die Diskussion um die Höhe des Körperschaftsteuersatzes . . .
c) Die Gewerbeertragsteuer
204
aa) Verfehlte theoretische Begründung
204
bb) Problematische Ergiebigkeit der Gewerbesteuer
205
Inhaltsverzeichnis
10
cc) Verletzung von Gleichheitsgrundsätzen
208
dd) Wirtschaftspolitische Nachteile
211
ee) Nachteile für die Gemeinden
213
2. Die Verkehrsteuern
214
a) Die Umsatzsteuer
214
aa) Aufbau und Bedeutung der Umsatzsteuer
214
bb) Steuersatz und fiskalische Ergiebigkeit
216
cc) Beeinträchtigung wirtschaftspolitischer Prinzipien
219
dd) Zur Regressionswirkung der Umsatzsteuer
221
ee) Weitere ethisch-sozialpolitische Mängel
223
ff)
225
Mißverständlicher Unternehmerbegriff
b) Zur Kritik sonstiger Verkehrsteuern 3. Die Substanzsteuern
230
a) Die Vermögensteuer
II.
226
230
aa) Grundzüge und Rechtfertigung der Vermögensteuer
230
bb) Zur fiskalischen Ergiebigkeit
232
cc) Probleme einer rationalen Begründung der Vermögensteuer und ethisch-sozialpolitische Mängel ihrer konkreten Ausgestaltung
233
dd) Verstoß gegen vermögenspolitische Zielsetzungen
236
ee) Wirtschaftspolitische Nachteile der Vermögensteuer
236
b) Zur Kritik der Grundsteuer
239
c) Zur Kritik der Gewerbekapitalsteuer
241
d) Zur Kritik der Erbschaft- und Schenkungsteuer
242
Zur Verletzung steuersystematischer, steuertechnischer und steuerrechtlicher Besteuerungsgrundsätze
247
1. Mangelnder System- und Normenbezug der Besteuerung
247
2. Verstöße gegen das Postulat der Systemhaftigkeit
247
3. Mangelnde Transparenz und ungenügende Stetigkeit des Steuersystems
251
4. Beeinträchtigung der Praktikabilität Besteuerung
253
und der Bequemlichkeit der
5. Zur Rechtsstaatlichkeit des Besteuerungssystems
256
Inhaltsverzeichnis
III.
Zur Höhe und Struktur der Steuereinnahmen
\ \
264
1. Ansatzpunkte einer Analyse
264
2. Zur Höhe der Steuereinnahmen
265
3. Zur Struktur der Steuereinnahmen
266
a) Die Relation der formal definierten direkten und indirekten Steuern
266
b) Modifikationen zur Relation der direkten und indirekten Steuern . .
267
Dritter
Teil
Erklärungsansätze zur Steuerpolitik in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie I.
Ausgangspunkt: Nachgewiesene Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Besteuerung
272
II.
Zum Ansatz einer Erklärung
274
III.
Empirisch ableitbare Gestaltungsmuster der Steuerpolitik
279
1. Zur Skizzierung identifizierbarer Gestaltungsmuster der Steuerpolitik .
279
a) Extrem differenziertes Steuersystem
279
b) Widerspiegelung des Verteilungskonfliktes in der Steuerpolitik . . .
280
aa) Allgemeiner Ausgangspunkt des Verteilungskonfliktes
280
bb) Kapitalbegünstigende Gestaltungsmuster
280
cc) Diffuses Erscheinungsbild bei Arbeitnehmern
282
c) Privilegierung und Diskriminierung bestimmter Gruppen
283
d) Besonderheiten des Verbandseinflusses und der Rechtsprechung . .
285
e) Die Finanzverwaltung als Vertreter desfiskalischen Interesses . . .
285
f)
Grundtendenzen zum Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern
286
g) Schleichende Ausdünnung steuersystematischer und steuerrechtlicher Prinzipien
288
aa) Zur allgemeinen Kennzeichnung
288
bb) Zur Bedeutung der Gestaltungsprivilegien
289
cc) Keine Linderung durch die höchstrichterliche und die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
290
h) Steuerreformen in kleinen Schritten 2. Zusammenfassende Kennzeichnung der Gestaltungsmuster der Steuerpolitik
291 291
Inhaltsverzeichnis
IV. Steuerpolitik im einfachen Modell der Demokratie bei vollständiger Information
V.
295
1. Zur Bildung einer Regierung in der Demokratie
295
2. Zur allgemeinen Bedeutung der Wählerpräferenzen fur das Parteienverhalten
297
3. Zur allgemeinen Kennzeichnung steuerpolitischer Vorstellungen der Wähler
300
4. Steuerpolitische Tendenzen der Parteien
301
a) Zur Grundsatzprogrammatik
301
b) Steuerpolitik im Zwei-Parteien-System
302
5. Ergebnis: Keine konzeptionelle Steuerpolitik bei vollständiger Information
306
Ein erweitertes Modell der Demokratie bei unvollständiger Information: Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
308
1. Darstellung der wesentlichen Elemente des Modells
308
a) Zur Bedeutung unvollständiger Information Gesellschaften
in pluralistischen 308
b) Das deutsche Mehr-Parteien-System
309
c) Ausgewählte staatsrechtliche Bedingungen
313
aa) Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie
313
bb) Zur Ausprägung der Gewaltenteilung in der parlamentarischen Demokratie
316
cc) Konsequenzen der »politischen« Gewaltenteilung
319
dd) Konsequenzen des Bundesstaatsprinzips
320
ee) Die Mitwirkung von Parteien und Verbänden im politischen
ff)
Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß
323
α) Zur Funktion der Parteien
323
ß) Zur Funktion der Verbände
327
Zur Funktion und Bedeutung der Ministerialbürokratie
334
d) Fazit: Komplizierung der »politischen« Gewaltenteilung 2. Grundzüge des Erklärungspotential für die Steuerpolitik a) Grob- und Feinsteuerung der Politik als Systemdifferenzierung bei Ungewißheit b) Bestimmungsgründe und Ausprägungen der Grobsteuerung
338 339 339 349
Inhaltsverzeichnis
aa) Zu den Bestimmungsgründen
349
α) Das Konzept der Wählerbeweglichkeit
349
ß) Bestimmungsgründe der Wählerbeweglichkeit
352
aa)
Allgemeine Kennzeichnung der Bestimmungsgründe
352
ßß)
Die Bedeutung des Einkommensinteresses
354
77)
Einkommensinteresse und Verbandseinfluß
357
bb) Ausprägungen der Grobsteuerung im Parteienverhalten
358
α) Steuerprogrammatik und steuerpolitische Leitbilder . . . .
358
ß) Abgeleitete Grundmuster des Parteienverhaltens
361
c) Zwischenresümee: Tendenzen der Steuerpolitik aufgrund der Grobsteuerung des Parteienwettbewerbs
369
d) Bestimmungsgründe und Grundzüge der Feinsteuerung
370
aa) Zur analytischen Konzeptualisierung
370
bb) Einige Einflußfaktoren im einzelnen
373
a) Position und Einfluß der Ministerialbürokratie aa) ßß)
373
Zum grundsätzlichen Verhalten der Ministerialbürokratie
373
Grundzüge der Zusammenarbeit zwischen Ministerialbürokratie und Verbänden
376
ß) Einflußmöglichkeiten der Opposition
379
7) Einflußmöglichkeiten des Bundesrates
381
ò) Zum Einfluß der Wissenschaft
386
e) »Theory of the Firm« und Neokorporatismus als Erklärungskonzepte für den Prozeß der Politik
389
aa) Die Notwendigkeit zum Konsens aufgrund der MitgliederStruktur
389
bb) Die Schaffung eines »negotiated environment«
395
cc) Illustration am Beispiel der Steuerpolitik
401
a) Der Weg zum Erlaß von Steuerrichtlinien und Steuergesetzen
401
ß) Folgerungen zur Durchsetzungsfahigkeit im korporativen Beziehungsgeflecht
404
3. Grundzüge theoretisch ableitbarer Entwicklungstendenzen der Politik .
405
Inhaltsverzeichnis
14
VI. Zusammenfassung: Entwicklungstendenzen und Gestaltungsmuster der Steuerpolitik
409
1. Steuerpolitik als Hauptgegenstand politischer Arbeit mit immanenter Tendenz zu steigender Differenzierung
409
2. Der Umschlag von der Differenzierung zur Privilegierung und Diskriminierung
410
3. Das Fiskalinteresse: Strukturelle Ursachen und Verwaltungshandeln . .
412
4. Zwangsläufige Beeinträchtigung steuersystematischer und steuerrechtlicher Grundprinzipien
414
5. Steuerreformpolitik in der Demokratie?
415
Schlußbemerkungen und Ausblick
Bewertung der Ergebnisse und Umrisse sozialtechnologischer Konsequenzen I. II. III.
Diskrepanz zwischen besteuerungspolitischer Programmatik und konkretem Steuersystem
420
Funktionsschwächen des parlamentarisch-repräsentativen Ursache staatlicher Fehlsteuerungen
421
Systems als
Zum verwendeten Erklärungsmodell
IV. Umrisse sozialtechnologischer Konsequenzen
425 426
1. Zu konstitutionellen Reformen
426
2. Ansätze pragmatisch orientierter Vorschläge
428
Literaturverzeichnis I.
Monographien, Bücher und selbständige Aufsätze
431
II.
Aufsätze und Beiträge in Zeitschriften, Büchern, Sammelbänden und Zeitungen
448
1. Mit Namensangabe
448
2. Ohne Namensangabe (ohne Verf.)
475
Presseberichte und Interviews
476
1. Frankfurter Allgemeine Zeitung
476
2. Handelsblatt
476
3. Interviews
480
III.
Inhaltsverzeichnis
IV. Programmatisches und aktuelle Stellungnahmen von Parteien, Verbänden und Regierung 1. Parteien
480 480
a) CDU/CSU
480
b) Die Grünen
481
c) FDP
481
d) SPD
482
2. Arbeitgeberverbände
483
a) BDA
483
b) BDI
483
c) D I H T
483
d) H D E
484
e) Spitzenverbände der Deutschen Industrie (BDA, BdB, BDI, BGA, DIHT, GDV, HDE, ZDH)
484
f) Z D H
484
3. Gewerkschaften
484
a) CGB
484
b) DAG
485
c) DBB
485
d) DGB
485
e) DStG
485
f) ÖTV
486
4. Sonstige Verbände
486
a) Bund der Steuerzahler
486
b) Deutscher Bauernverband
487
c) Deutscher Städtetag
487
d) Deutscher Steuerberaterverband e.V
487
e) Institut "Finanzen und Steuern" e.V
487
5. Regierung
488
a) Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.)
488
b) Jahreswirtschaftsberichte, Regierungserklärungen
488
c) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
488
Inhaltsverzeichnis
16
d) Sonstiges V.
489
Sonstige Beiträge
489
1. DIW-Wochenberichte
489
2. Institut "FSt", Bonn
489
3. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
490
4. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen . . . .
490
5. Sonstiges
490
VI. Statistiken
492
VII. Gesetze, Gesetzentwürfe, Begründungen, Stellungnahmen, Ausschußberichte, Anfragen, Anträge, Erlasse, Richtlinien, Urteile (BFH, BVerfG), Geschäftsordnungen, BT-Protokolle)
492
1. Gesetze
492
2. Gesetzentwürfe
496
3. Begründungen
497
4. Stellungnahmen, Anfragen, Ausschußberichte
497
5. Anträge
497
6. Erlasse, Richtlinien
498
7. Urteile
498
a) BFH
498
b) BVerfG
499
8. Geschäftsordnungen
499
9. BT-Plenarprotokolle
500
Namensverzeichnis
501
Sachwortverzeichnis
504
Verzeichnis der Übersichten Übersicht 1 :
Besteuerungspolitische Grundsätze
Übersicht 2:
Anteile der direkten und indirekten Steuern am Gesamtsteueraufkommen i n v . H
267
Modifizierte Anteile der direkten und indirekten Steuern am Gesamtsteueraufkommen i n v . H
269
Anteile ausgewählter Steuern am Gesamtsteueraufkommen der Jahre 1975 und 1987 in v.H
270
Übersicht 3: Übersicht 4:
2 Franke
63
Abkürzungsverzeichnis
Abs. Ab sehn. Abt. AEG AER a.F. AO Art.
Absatz Abschnitt Abteilung Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft American Economic Review alte Fassung Abgabenordnung Artikel
BAFöG BB BBG BDA BdB BDI BdSt BerlinFG BewG BFH BGA BGA G BGBl. BGH BKKG BMF BRRG BStBl. BT-Drucksache BT-Protokoll Bull. Int. Fisc. Doc. BVerfG BVerfGE BWahlG
Bundesausbildungsförderungsgesetz Der Betriebs-Berater. Zeitschrift für Recht und Wirtschaft Bundesbeamtengesetz Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der deutschen Banken Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. Bund der Steuerzahler e.V. Berlinförderungsgesetz Bewertungsgesetz Bundesfinanzhof Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels Beteiligungsgesellschaft fur Gemeinwirtschaft AG Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundeskindergeldgesetz Bundesministerium der Finanzen Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessteuerblatt Bundestagsdrucksache Plenarprotokoll der Sitzungen des Bundestages Bulletin for International Fiscal Documentation Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundeswahlgesetz
CDU CGB chap. CSU
Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschlands chapter Christlich Soziale Union in Bayern
Abkürzungsverzeichnis
DAG DB DBB DDR DGB DGZ DIHT DIW DÖV DP DStG DStR DStV DStZ DVB1. DVP DVPW Ed. ed. Eds. EDV EG EGHGB EJ EK ErbStG EStG EStG-E
19
Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Der Betrieb. Wochenschrift für Betriebswirtschaft, Steuerrecht, Wirtschafts recht, Arbeitsrecht Deutscher Beamtenbund Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Gewerkschafts-Zeitung Deutscher Industrie- und Handelstag Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Die öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Deutsche Steuer-Gewerkschaft Deutsches Steuerrecht Deutscher Steuerberaterverband e.V. Deutsche Steuer-Zeitung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Verwaltungspraxis Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft
EStR et al.
Editor edition Editors Elektronische Datenverarbeitung Europäische Gemeinschaft Einfuhrungsgesetz zum Handelsgesetzbuch Economic Journal Eigenkapital Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz Einkommensteuergesetz Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes (Joachim Lang) Einkommensteuer-Richtlinien et alii (und andere [Verfasser])
FA FAZ FDP, F.D.P. FGO FN FR
Finanzarchiv Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Finanzgerichtsordnung Fußnote Finanz-Rundschau
GDV GewStG GewStR GG GGO GMB1.
Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Grundgesetz Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Gemeinsames Ministerialblatt der Bundesministerien
20
GNOFÄ
Abkürzungsverzeichnis
GrEStG GrStG
Grundsätze zur Neuorganisation der Finanzämter und zur Neuordnung des Besteuerungsverfahrens Geschäftsordnung des Bundesrates Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates fur den Ausschuß nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Grunderwerbsteuergesetz Grundsteuergesetz
HDE HdWW H GB
Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Handelsgesetzbuch
i.d.F. i.e.S. Ifo Institut "FSt" InvZulG i.S.d. ISWA i.V.m. IW IWD i.w.S.
in der Fassung im engeren Sinne Ifo-Institut fur Wirtschaftsforschung Institut "Finanzen und Steuern" e.V. Investitionszulagengesetz im Sinne der Institut fur sozial- und wirtschaftspolitische Ausbildung e.V., Köln in Verbindung mit Institut der deutschen Wirtschaft Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft im weiteren Sinne
JEP JLE JPbE JPE
Journal of Journal of Journal of Journal of
Kap. KG KStG KStR
Kapitel Kommanditgesellschaft Körperschaftsteuergesetz Körperschaftsteuerrichtlinien
Lifo LStDV LStR
last in, first out (Bewertungsverfahren) Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Lohnsteuer-Richtlinien
MdB MittHV Mitt RWI Mrd.
Mitglied des Bundestages Mitteilungen des Hochschulverbandes Mitteilungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung Milliarden
n.F. N.F.
neue Fassung Neue Folge
GO BRat GO BTag GO V A
Economic Perspectives Law and Economics Public Economics Political Economics
Abkürzungsverzeichnis
21
NJW No. NTJ
Neue Juristische Wochenschrift number National Tax Journal
OECD OFD ÖTV o.J. o.O. ORDO
Organization for Economic Cooperation and Development Oberfinanzdirektion Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe ORDO. Jahrbuch fur die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft
PartG PSV
Parteiengesetz Pensions-Sicherungs-Verein
RA RES RStBl. RWI
Rechtsanwalt Review of Economic Studies Reichssteuerblatt Rheinisch-Westfälisches Institut fur Wirtschaftsforschung
SPD StEntlG StRefG StSenkErwG StuW
Sozialdemokratische Partei Deutschlands Steuerentlastungsgesetz Steuerreformgesetz Steuersenkungs-Erweiterungsgesetz Steuer und Wirtschaft. Zeitschrift für die gesamte Steuerwissenschaft Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft
StWG Tab. TV Tz.
Tabelle Television Textziffer
USA UStDV UStG UStR
United States of Amerika Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung Umsatzsteuergesetz Umsatzsteuer-Richtlinien
v. Verf. v.H. VR vs. VStG VStR v.T. Vz.
von Verfasser; Verfasserangabe vom Hundert Verwaltungsrundschau versus Vermögensteuergesetz Vermögensteuer-Richtlinien von Tausend Veranlagungszeitraum; -räume
WiSt
Wirtschaftswissenschaftliches Studium. Zeitschrift Ausbüdung und Hochschulkontakt
für
22
WiSta WISU
Abkürzungsverzeichnis
WSI-Mitteilungen
Wirtschaft und Statistik. Hrsg: Statistisches Bundesamt Das Wirtschaftsstudium. Zeitschrift fur Ausbildung, Examen und Weiterbildung Weimarer Reichsverfassung Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes Monatszeitschrift des WSI
ZBR ZDH ZfP ZgS ZRP ZWS
Zeitschrift fur Beamtenrecht Zentralverband des Deutschen Handwerks Zeitschrift fur Politik Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift fur Rechtspolitik Zeitschrift fur Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
1st 2nd 3rd 4th 5th
first second third fourth fifth
WKV WSI
Einleitung
Kennzeichnung und Abgrenzung der Problemstellung I . Zur Funktion der Steuerpolitik in modernen Gesellschaften demokratischer Regierungsformen Moderne, hochindustrialisierte und arbeitsteilig organisierte Gesellschaften müssen eine Fülle von Aufgaben bewältigen. Dies bedeutet, daß der Staat selbst dann zunehmend gefordert ist, wenn er sich - (ordo-)liberalen Vorstellungen folgend - mehr ordnungspolitisch orientiert und sich mit Eingriffen in den wirtschaftlichen Ablauf zurückhält. Bereits den Klassikern als den geistigen Vätern des ökonomischen und politischen Liberalismus war die Notwendigkeit einer sorgsamen Beobachtung des wirtschaftlichen Geschehens bewußt, um gegebenenfalls durch veränderte (Spiel-)Regeln Schaden von der Gesellschaft zu wenden. Sie redeten keineswegs einem »Nachtwächter-Staat« das Wort; zumindest die englischen Klassiker betonten zusammen mit dem Freiheitspostulat "die Rechtsetzungsfunktion des Staates und die Rechtsbeschränkung des common lawV Dieses, teilweise verschüttete Wissen wurde von den Ordoliberalen wieder aufgegriffen und mit besonderem Nachdruck vorgetragen. Sowohl die Installierung als auch die Beobachtung und Fortentwicklung z.B. des Katalogs der konstituierenden und regulierenden Prinzipien von Walter Euchen 2 verursachen bei sich dynamisch fortentwickelnder Wirtschaft steigende Kosten. Die damit verbundenen staatlichen Ausgaben sind als Transaktionskosten aufzufassen. Sie sind "Investitionen des gesellschaftlichen Systems zum Zwecke der Komplexitätssteigerung des wirtschaftlichen Subsystems. " 3 Dies erfordert ausreichende staatliche Einnahmen, die überwiegend
1 Erich Streissler, Privates Produktiveigentum, in: ohne Verf., Eigentum, Wirtschaft, Fortschritt, Köln 1980, S. 90; vgl. auch Friedrich A. von Hayek , The Constitution of Libeity, London 1960, S. 220. 2 Vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975, S. 254 ff. und S. 291 ff. 3
S. 21.
Lothar Wegehenkel,
Gleichgewicht, Transaktionskosten und Evolution, Tübingen 1981,
Einleitung
24
auf der Grundlage eines geeigneten Steuersystems zu erzielen sind. Die Einnahmenseite muß um so ergiebiger sein, je mehr an zusätzlichen - aus den Konzeptionen der Sozialen Marktwirtschaft oder des Demokratischen Sozialismus4 abgeleitete - Aufgaben an den Staat übertragen werden. Solche Aufgaben lassen sich generell aus gesellschaftlich akzeptierten Interpretationen sogenannter Grundwerte wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlstand ableiten.5 Hinzu treten eng damit verbundene Verfahrensnormen wie Rationalität und Demokratie. 6 Diese Grundwerte haben allerdings zunächst nur Leerformelcharakter, der sich darin offenbart, daß ihnen im Grunde fast jeder zustimmen kann. Erst die konkrete Zielbestimmung im einzelnen macht die von den verschiedenen Gruppen getragenen Interpretationsunterschiede deutlich. Auch wird dann klar, daß sich die Ziele selten komplementär, sondern überwiegend konfliktär zueinander verhalten. Damit wird dreierlei erkennbar: Zum einen müssen Umrisse einer gesamtgesellschaftlichen Zielinterpretation festgelegt werden, und zum anderen muß wegen der Zielkonkurrenz auf eine maximale Zielerfullung einzelner Bereiche verzichtet werden; damit ist drittens verbunden, daß bei der Erfüllung einzelner Bereiche nach einer irgendwie gearteten Prioritätenliste vorgegangen werden muß. Praktisches wirtschaftspolitisches Handeln ist immer auf die Erreichung eines als befriedigend erachteten Zielbündels ausgerichtet. Die angesprochenen Probleme zeigen, daß es kaum eine erschöpfende und präzise Auflistung der möglichen Interpretationen gesellschaftspolitischer Grundwerte geben kann. Das heißt jedoch nichts anderes, als daß nur per Konvention gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich relevanter Gruppen ein begrenzter Katalog solcher Grundwerte festgelegt und Umrisse ihrer Gestaltung bestimmt werden können.7 Freilich besagt das Wort von den relevanten Gruppen noch nichts über ihre zahlenmäßige Stärke und über die Dringlichkeit der jeweiligen Interessen. Es gibt Interessen, die für die Gesellschaft außerordentlich wichtig sind, die sich jedoch nicht, oder noch nicht hinreichend, haben durchsetzen können. Damit wird deutlich, daß die Grundwerte-Interpretation
4 Vgl. dazu Hans G. Schachtschabel, Wirtschaftspolitische Konzeptionen, 3. Aufl., Stuttgart u.a.O. 1976, S. 73 ff. und S. 85 ff. 3
Vgl. dazu Herbert Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Wiesbaden 1961, S. 68 - 94; Robert Dahl/Charles E. Lindblom, Politics, Economics, and Welfare, New York 1953. 6 Vgl. Manfred E. Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, 4. Aufl., Düsseldorf 1991, S. 227 ff.; vgl. auch Ulrich Teichmann, Wirtschaftspolitik, 3. Aufl., München 1989, S. 1 f. und S. 4 ff. 7
Vgl. Streit (FN 6), Wirtschaftspolitik, S. 207.
I. Zur Funktion der Steuerpolitik
25
bis hin zur konkreten Ausformung darauf aufbauender gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Einzelmaßnahmen ein steter dynamischer Prozeß wechselseitiger Einflußnahmen ist, der dem Ziel dient, eigene Positionen möglichst unverfälscht durchzubringen. Dies weist schließlich darauf hin, daß eine sich entwickelnde dynamische Gesellschaft stets durch Wandlungen von Auffassungen und Interessen geprägt ist. Es liegt auf der Hand, daß die Steuerpolitik des Staates ein ganz zentraler Bereich zur Verwirklichung der Grundwerte in der akzeptierten und angestrebten Interpretation ist. Die Besteuerung greift unmittelbar in den Freiheitsspielraum des einzelnen ein. Zwar beschneidet sie sein - in der Regel am Markt erzieltes - Einkommen, eröffnet aber zugleich über eine entsprechende Verwendung der Steuern überhaupt erst gesicherte Möglichkeiten der Einkommenserzielung. Damit sind sowohl Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen als auch Aspekte der Wohlstandserreichung angesprochen. Höhe sowie individuelle oder gruppenbezogene Zuordnung und Wiederverwendung eines Teils der Steuermittel zu Verteidigungszwecken zeigt die Verflechtung der Steuerpolitik mit dem äußeren Frieden auf. Aspekte der inneren Sicherheit wie der sozialen Sicherheit sind mit der Erhebung und Verwendung von Steuergeldern für das Justizwesen und die Sozialpolitik aufgezeigt. Die knapp skizzierten Zusammenhänge deuten an, daß die Steuerpolitik den Wohlstand einer Gesellschaft zu beeinflussen vermag, umgekehrt in ihrer Wirksamkeit jedoch von seiner absoluten und relativen Höhe abhängig ist. Die wohlstandsbeeinflussende Wirkung der Erhebung und Verwendung von Steuermitteln ergibt sich daraus, daß der Staat die erlangten Mittel (Steuern) zu direkten Transfer- und Subventionszahlungen verwendet. Dies versetzt viele Haushalte erst in die Lage, eine bedarfsgerechte Nachfrage zu entfalten, und es kann angebotsseitige Strukturanpassungsprozesse erleichtern. 8 Davon können Wachstumsimpulse ausgehen. Außerdem ist eine wichtige Wirkung insbesondere in der Bereitstellung solcher Güter und Dienstleistungen zu sehen, die vom privaten Sektor nicht oder nicht in genügendem Maße angeboten werden. Dies betrifft einerseits Güter, fur die das Ausschlußprinzip aus technischen oder pragmatischen Gründen nicht angewandt werden kann. 9 Potentielle Nachfrager werden daher dazu verleitet, ihre wahren Präferenzen zu verschlei-
β 9
Vgl. Ulrich Teichmann, Gnindriß der Konjunkturpolitik, 4. Aufl., München 1988, S. 115 f.
Vgl. z.B. Heinz Grossekettler, Ordnungspolitisch legitimierte Genossenschaftsaufgaben, in: Wilhelm Jäger/Hans Pauli (Hrsg.), Genossenschaftswissenschaft, Wiesbaden 1984, S. 64 f.
Einleitung
26
ern, 10 teilweise sind sie auch bei gutem Willen kaum anzugeben.11 Tauschvorgänge zu Marktpreisen und -bedingungen können sich mithin nicht einstellen. Andererseits stellt der Staat auch eine Reihe von grundsätzlich marktfähigen Gütern bereit, die jedoch wegen der außerordentlich hohen Produktionskosten und des langen Mittelrückflusses nur unzureichend privatwirtschaftlich angeboten werden (Bereiche aus Kultur und Bildung sowie dem Gesundheitswesen und der Infrastruktur sind dazu exemplarisch zu nennen). Eine entsprechende Steuer- und Ausgabenpolitik ermöglicht so eine effiziente und auf hohem Niveau produzierende Wirtschaft. Sie erfüllt damit gesamtwirtschaftliche Allokations- und Wachstumsziele. Allokations- und distributionspolitische Gesichtspunkte fuhren zu einem weiteren Argument für die staatliche Güterbereitstellung: Fallende Durchschnittskosten bei der Produktion bestimmter Güter bergen - in privater Hand belassen - Monopolisierungstendenzen in sich. 12 Ferner sind die sog. meritorischen Güter zu nennen. Sie stellen auf die Möglichkeit ab, daß bei einer Reihe eigentlich marktfähiger Produkte eine Präferenzverzerrung bei einem Teil der Verbraucher vorliegt, so daß von einigen Gütern zu viel (z.B. Alkohol, Tabak), von anderen zu wenig (z.B. Milch) konsumiert wird. Durch eine entsprechende Besteuerung (auf gesundheitsschädliche Genußmittel) oder Verteilung (etwa in Form des häufig erwähnten Schulfrühstücks 13) versucht der Staat, dieser Präferenzverzerrung zu begegnen.14 Schließlich kann die (Steuer-)Einnahmen- und Ausgabenpolitik zu stabilisierungspolitischen Zielen genutzt werden. Wie im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorgezeichnet, können einnahmen- und ausgabenpolitische Instrumente
10
Vgl. Richard A. Musgrave, Finanztheorie, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 90.
11
Vgl. Klaus Mackscheidt/Jörg
Steinhausen, Finanzpolitik Π, Düsseldorf 1977, S. 8.
12
Vgl. dazu Kurt Schmidt, Kollektivbedürfnisse und Staatstätigkeit, in: Heinz Haller/Lore Kullmer/Carl S. Shoup/Herbert Timm (Hrsg.), Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Tübingen 1970, S. 4 f. 13
Auch die in jüngerer Zeit von den Sozialämtern ausgegebenen Lebensmittelgutscheine, die nicht zum Kauf von Alkohol und Tabak verwendet werden dürfen, wären hier zu nennen. 14 Die Vorstellung der meritorischen Güter ist vor dem Hintergrund einer Entfaltung des Freiheitspostulates nicht unproblematisch; vgl. Klaus Mackscheidt, Meritorische Güter: Musgraves Idee und deren Konsequenzen, in: WISU, 3. Jg. (1974), S. 237 ff.; Kurt Schmidt, Mehr zur Meritorik, in: ZWS, 108. Jg. (1988), S. 385 ff.; vgl. auch Dieter Brämmerhoff,\ Finanzwissenschaft, 5. Aufl., München, Wien 1990, S. 90fT., und Siegfried F. Franke, Ökonomische Theorie der Demokratie, in: Hans-Lothar Fischer (Hrsg.), Praktisches Lehrbuch Wirtschaft und Staat, Landsberg 1987, S. 132 f.
Π. Anspruch und Wirklichkeit der Steuerpolitik
27
j e nach konjunktureller Gesamtlage zur Nachfragestimulierung oder -dampfung eingesetzt werden. Die vorstehenden Ausführungen sollen die gesellschaftspolitische Rechtfertigung und Bedeutung der Steuerpolitik hervorheben. Die Interpretationsnotwendigkeit gesellschaftspolitischer Grundwerte einerseits, und die unterschiedlichen Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen andererseits, implizieren beträchtliche Schwierigkeiten der Formulierung einer möglichst rationalen Steuerpolitik im demokratischen Gruppenstaat. Die Forderung nach Rationalität und Demokratie, 15 hier übertragen auf die Gestaltung der Steuerpolitik, bedarf selbst wieder der interpretierenden Erläuterung. Rational bedeutet zunächst nicht viel mehr als zweck- und zielbezogen, während sich das Attribut demokratisch hauptsächlich auf das Zustandekommen eben der Ziele richtet. Eine politische Theorie der Einnahmen- und Ausgabenpolitik muß beide Aspekte integral berücksichtigen. Im folgenden soll der Einnahmenaspekt, also die Steuerpolitik, im Mittelpunkt der Analyse stehen, wobei klar ist, daß einnahmenpolitische Entscheidungen immer unter dem Druck ausgabenpolitischer Zwänge stehen. Diese Beschränkung erfolgt aus pragmatischen und inhaltlichen Gründen. Eine Analyse sowohl der Einnahmen- als auch der Ausgabenpolitik würde den gesetzten Rahmen weit sprengen, oder sie müßte sich mit einer geringeren Tiefenschärfe zufriedengeben. Die Begrenzung auf den einnahmenpolitischen Aspekt erlaubt es, die Steuerpolitik vertieft zu behandeln. Die Aufgabe des folgenden Abschnittes ist es daher, vorab grundsätzliche Normen der Besteuerung kurz zu skizzieren.
I I . Anspruch und Wirklichkeit der Steuerpolitik Gegenstand der Finanzwissenschaft war es seit jeher, durch die Entwicklung von Besteuerungsgrundsätzen, durch die Skizzierung von Grundzügen eines ökonomisch-rationalen Steuersystems und durch die Analyse von Steuenvirkungen dazu beizutragen, sowohl die rein ökonomischen als auch die mit der Fortentwicklung der Gesellschaft verbundenen Probleme lösen zu helfen. 16
13 16
Vgl. Dahl/Lindblom
(FN 5), Politics, Economics, and Welfare, S. 38 fif. und S. 41 fif.
Siehe beispielhaft Fritz Neumark, Grundsatze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970; Heinz Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981; Horst Claus Recktenwald, Steuerüberwälzungslehre, 2. Aufl., Berlin 1966.
Einleitung
28
Aber auch die Rechtswissenschaft, speziell die Steuerrechtswissenschaft und die Verfassungslehre, liefern seit geraumer Zeit Normen fur eine systematische und zielgerichtete Besteuerung. 17 Daraus abgeleitete Besteuerungspostulate werden von den politischen Parteien und den gesellschaftlich relevanten Gruppen als staatliche Gestaltungsaufgabe anerkannt. Demgegenüber ist die Realität von einer andauernden und steigenden Diskrepanz zwischen den (weitgehend übereinstimmend) skizzierten Steuernormen und der Steuerwirklichkeit gekennzeichnet. Diese Diskrepanz kann in Anlehnung an Neumarks Gliederung der Steuerpostulate in fiskalisch-budgetare, ethisch-sozialpolitische, wirtschaftspolitische sowie steuerrechtliche und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze belegt werden. 18 So besteht grundsätzliche Einigkeit darüber, daß die Steuererträge ausreichend und anpassungsfähig sein sollen. Das wachsende Defizit im Staatshaushalt und die politischen Auseinandersetzungen um die Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen zeigen, daß die fiskalisch-budgetären Ziele nicht erreicht worden sind, obwohl gleichzeitig über eine bereits zu hohe und überdies ungleich verteilte Steuerlast geklagt wird. Damit ist zugleich die unzulängliche Realisierung ethisch-sozialpolitischer und wirtschaftspolitischer Grundsätze angesprochen. In diesem Zusammenhang werden häufig genannt: der überproportionale Anstieg der Lohnsteuer, Manipulierungsmöglichkeiten der Bemessungsgrundlage, das Wirken von Abschreibungsgesellschaften, ertragsunabhängige Belastungen der Unternehmen sowie eine Flut von Einzelregelungen, deren Sinn nicht erkennbar ist. Der Grundsatz der Steuertransparenz wird nachhaltig beeinträchtigt; allen Reformbestrebungen zum Trotz ist das Steuerrecht immer komplizierter und damit undurchschaubarer geworden. Zahl und Geschwindigkeit von Steuerrechtsänderungen allein seit 1978 verstoßen gegen den Grundsatz der Stetigkeit, während die stark gestiegene Zahl der berechtigten Widersprüche gegen den Steuerbescheid sowie die Menge und Dauer der bei den Finanzgerichten anhängigen Verfahren eine zunehmende Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Prinzipien dokumentieren. 19
17 Vgl. das von Tipke begründete und 1989 in 12. Auflage erstmalig mit Lang als Mitautor erschienene "Steuerrecht" : Klaus Tipke/Joachim Lang, Steuerrecht. Ein systematischer Grundriß, 13. Aufl., Köln 1991; vgl. außerdem Dieter Birk, Das Leistungsfahigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Köln 1983; Paul Kirchhof \ Besteuerungsgewalt und Grundgesetz, Frankfurt (Main) 1973; Klaus Hermann Ossenbähl, Die gerechte Steuerlast, Heidelberg, Löwen 1972. 18 19
Vgl. Neumark (FN 16), Gmndsätze, S. 45 f.
Darstellung und Beleg dieser Mangel ist Gegenstand der ausfuhrlichen Analyse im zweiten Teil der Arbeit.
ΠΙ. Krise des Steuerstaates
29
I I I . Krise des Steuerstaates Die exemplarisch aufgeführten Mängel und Widersprüche des Steuersystems hinsichtlich der überwiegend akzeptierten Zielvorstellungen fuhren immer wieder zu heftiger Kritik und zu grundlegenden Verbesserungsvorschlägen. Tipke vergleicht das Steuerrecht mit einem Chaos und einem zusammengewürfelten Konglomerat 20 und folgert: "Das Steuerrecht der Gegenwart ist nicht nur kein Werk aus einem theoretischen Guß, es läßt auch seine ethischen Grundlagen nicht (mehr) erkennen. " 2 1 Sinn plädiert für ein Mischsystem, das eine cash flow-Besteuerung, die nach seiner Auffassung die allokativen Nachteile der bisherigen Kapitaleinkommensbesteuerung aufhebt, mit der Lohnsteuer kombiniert. 22 Engels et al. sehen keine Verbesserungsmöglichkeiten mehr am derzeitigen Steuersystem, weil es einem veralteten Konstruktionsprinzip entspreche. Der gesamte Bereich der direkten Steuern und der persönlichen Subventionen müsse daher durch eine einheitliche »Staatsbürgersteuer« ersetzt werden. 23 Auch Rose empiehlt aus Transparenz- und Effizienzgründen eine konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, die mit einer Betriebsteuer auf der Basis des cash flow gekoppelt sein sollte. 24 Auch wenn man Engels et al. nicht folgt, ist doch ein deutlicher Reformbedarf im Bereich staatlicher Wirtschaftspolitik insgesamt und für die Steuerpolitik insbesondere unverkennbar. Verstärkend tritt hinzu, daß sich rasch wandelnde ökonomische und gesellschaftliche Umstände eine flexibel reagierende Politik erfordern. Die Frage ist, ob und unter welchen Bedingungen eine erfolgreiche Revision des Steuersystems (noch) möglich ist. Die eingangs
20 Vgl. Klaus Tipke, Steuerrecht - Chaos, Konglomerat oder System? In: StuW, 48. (1.) Jg. (1971), S. 2. 21 Ders., Die Steuergesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht des Steuerrechtswissenschaftlers - Kritik und Verbesserungsvorschläge, in: StuW, 53. (6.) Jg. (1976), S. 294. Auch die Entwicklung seit 1976 gibt keinen Anlaß, dieses Urteil abzuschwächen; vgl. ders., Uber Steuergesetzgebung und parlamentarische Demokratie, in: StuW, 60. (13.) Jg. (1983), S. 1 f., und ders. im Vorwort zur 11. Aufl. zum »Steuerrecht«, Köln 1987, S. VH. 22 Vgl. Hans-Werner Sinti, Kapitaleinkommensbesteuerung, Tübingen 1985, insbes. Kap. X I , S. 278 ff.; ders., Neue Wege der Unternehmensbesteuerung, in: Wirtschaftsdienst, 64. Jg. (1984), S. 328 ff. 23 Vgl. Wolfram Engels, Joachim Mitschke, Bernd Starkloff, Staatsbürgersteuer, Wiesbaden 1974; vgl. auch Joachim Mitschke, Steuer- und Transferordnung aus einem Guß, Baden-Baden 1985; ders., Steuerkraft im Konsum, in: Wirtschaftswoche, 42. Jg., Nr. 7, 12. Febr. 1988, S. 68 ff. 24 Vgl. Manfred Rose, Argumente zu einer »konsumorientierten Neuordnung des Steuersystems«, in: StuW, 66. (19.) Jg. (1989), S. 193.
Einleitung
30
erwähnte Sicht der Klassiker, daß die Regierung zwar rechtsetzende Funktionen zu erfüllen habe, dabei aber selbst allgemeinen Regeln unterliege, ist - wie v. Hayek beklagt - in modernen Staaten verlorengegangen und spiegelt sich im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren nicht mehr wider. 25 Sicher ist darin einer der Gründe des zunehmend um sich greifenden Unbehagens am Steuerstaat der Moderne zu sehen. Die Rede von der »Krise des Steuerstaates« ist kein modisches Gehabe, sondern von ernsten Ursachen geprägt. Die vor allem in der ersten Amtsperiode des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Reagan vieldiskutierte Laffer-Kurve ist die publizistisch auffälligste Form einer Bewegung, die in den USA bereits als »tax revolt« bezeichnet wurde. 26 Der berühmten Proposition 13, die per Referendum in Kalifornien angenommen wurde und die die Grundsteuer begrenzte, folgten teilweise angenommene, teilweise nur knapp gescheiterte Referenden in anderen Bundesstaaten.27 Dies kann nicht mit Bezug auf die Historie (»no taxation without representation«) als eine isolierte amerikanische Bewegung gesehen werden. Neumark fuhrt aus, daß es globale Steuergrenzen gibt, "deren Überschreitung sich ökonomisch, fiskalisch, moralisch und politisch rächt". 28 Sie sind offenbar - wie an Indizien (zunehmende Kapitalflucht, mangelnde Investitionsneigung, sich ausbreitende Schattenwirtschaft) erkennbar wird - in einigen westlichen Ländern nun erreicht, und sie haben in jüngster Zeit in etlichen Industrieländern zu spürbaren Steuerreformen bzw. konkreteren Steuerreformabsichten gefuhrt. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, mit welch erstaunlichem Weitblick Schumpeter bereits 1918 eine solche Krise vorausgesehen hat. 29
25 Vgl. Friedrich A. von Hayek , Recht, Gesetz und Wirtschaftsfreiheit, in: Ders., Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 47 ff. 26 Vgl. dazu Arthur B. Laffer, Reader, New York 1979.
J. B. Seymour (Eds.), The Economics of the Tax Revolt: A
27 Siehe dazu u.a. die "Proceedings of a Conference on Expenditure Limitations", in: NTJ, Vol. 32 (1979). Vgl. als Übeiblick S. J. Mushkin (Ed.), Proposition 13 and its Consequences for Public Management, Cambridge, Mass. 1979. Neuerdings Cay Fotkers, Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA, Baden-Baden 1983. 28
Fritz Neumark, Steuersenkungen oder Steuererhöhungen? In: Wirtschaftsdienst, 61. Jg. (1981), S. 383. 29 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates (Zeitfragen aus dem Gebiet der Soziologie, 4. Heft) 1918.
ΠΙ. Krise des Steuerstaates
31
Bös differenziert in jüngsten Beiträgen den Steuerwiderstand nach einer Präferenzkrise, einer Ineffizienzkrise und einer discentive-Krise. 30 Im ersten Falle sind die Bürger mit der Höhe des öffentlichen Angebots nicht mehr einverstanden und im zweiten sind sie mit dem (Steuer-)Leistungs-Verhältnis öffentlicher Güter unzufrieden. Der letzte Fall behandelt die leistungshemmenden Wirkungen der Besteuerung. Damit wird deutlich, daß eine Steuerkrise nicht nur die Einnahmen, sondern auch die Ausgabenseite des Staatshaushaltes umfaßt. Sie ist sowohl unter allokations- und verteilungspolitischen als auch unter stabilitäts- und wachstumspolitischen Aspekten zu sehen.31 Seidl weist ebenfalls auf die verschiedenen Aspekte der Steuerkrise hin: Während auf der einen Seite eine Überfrachtung des Staates mit Aufgaben vorliege, sei die Einnahmenseite durch die ökonomische oder politische Stagnation des Steueraufkommens geprägt. 32 Die Frage ist, wie es zu solchen Krisen kommen konnte. Kann der greifbare Widerspruch zwischen den deklarierten Zielen und der politischen Wirklichkeit der Besteuerung in parlamentarisch-repräsentativen Demokratien begründet werden? Sind ökonomisch mangelhaft geschulte, unfähige oder gar unwillige Politiker dafür verantwortlich zu machen? Liegt es an der Schwerfälligkeit des parlamentarischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozesses, der die Parteien zu fragwürdigen Kompromissen, nicht aber zu klaren Alternativen fuhrt? Ist ein unheilvoller Einfluß der Verbände als Ursache zu sehen? Ist die Korrektur historisch überkommener Steuersysteme außergewöhnlich schwierig? Bemerkenswert in diesem Kontext ist, daß sogar in der juristischen Literatur die Überzeugung an Raum gewinnt, daß eine wirksame Kontrolle des steuerlichen Zugriffs in demokratischen Ländern nicht mehr gewährleistet sei. 33 A l l diese Gründe beleuchten zwar wichtige Teilaspekte, rühren jedoch nicht an den Kern des Problems der Steuerkrise. Da die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Steuerpolitik typisch fur viele parlamentarische
30 Vgl. Dieter Bös, Krise des Steuerstaates, in: Bernhard Gahlen/Gottfried Bombach/Alfred Ott (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Staatstätigkeit, Tübingen 1982, S. 354 ff. 31
Dazu dezidiert Folkers (FN 27), Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA.
32
Vgl. Christian Seidl, Krise oder Reform des Steuerstaates? In: StuW, 64. (17.) Jg. (1987), S. 189. 33 Vgl. Birk (FN 17), Leistungsfahigkeitsprinzip; Heribert Droschka, Steuergesetzgebende Staatsgewalt und Grundrechtsschutz des Eigentums, Heidelberg 1982; Walter Leisner, Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - die soziale Nivellierung. Ein Beitrag wider das Leistungsfahigkeitsprinzip. In: StuW, 60. (13.) Jg. (1983), S. 97 - 102.
E.
Einleitung
32
Demokratien ist, 34 müssen gemeinsame Ursachen dafür abzuleiten sein. A m Beispiel der Bundesrepublik Deutschland sollen daher die Bedingungskonstellationen herausgearbeitet werden, die die Steuerpolitik determinieren.
I V . Aufbau der Analyse und Grundzüge des theoretischen Referenzrahmens Zentrales Untersuchungsziel ist es herauszufinden, ob es bestimmte Bedingungskonstellationen der Willens- und Entscheidungsbildung in parlamentarisch-repräsentativen Demokratien gibt, die die Steuerpolitik nachteilig beeinflussen. Das Augenmerk richtet sich auf die indirekte Demokratie, weil sie die Regierungsform der westlichen Industrieländer ist und weil aus der Einbeziehung der Politik in die Arbeitsteilung besondere Probleme zu erwarten sind; werden doch hier politische Entscheidungen von Individuen (Politikern, Funktionären, Managern) vorbereitet, getroffen und durchgeführt, deren Interessenlage von der Mehrzahl der (Stimm-)Bûrger abweicht. 35 Parlamentarischrepräsentative Demokratien westlicher Prägung müssen pluralistisch strukturierten Interessen gerecht werden. Dies läßt erahnen, daß Erwartungshaltungen aufgebaut und strategische Verhaltensweisen entwickelt werden, um Vorteile für die eigene Person oder die eigene Gruppe zu erzielen. Die Besteuerung rückt in den Mittelpunkt solcher Kalküle, weil mit ihr distributive Vorstellungen verwirklicht werden sollen und gleichzeitig allokations- und stabilitätsorientierte Bedingungen dazu geschaffen werden müssen.36 Bei der Ableitung
34
Vgl. z.B. Henry J. Aaron , Harvey Galper, Assessing Tax Reform, Washington, D.C. 1985, S. 1 ff.; Folkers (FN 27), Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA, S. 15 ff.; Nigel Lawson, Tax Reform in the United Kingdom, in: Bull. Int. Fiscal Doc., Vol. 39, No. 8/9 (1985), S. 349 ff.; Neumark (FN 28), Steuersenkungen oder Steuererhöhungen? S. 383 ff.; OECD (Ed.), Personal Income Tax Systems Under Changing Economic Conditions, Paris 1986, S. 7 ff.; Joseph A. Pechman (Ed.), A Citizen's Guide to the New Tax Reforms, Totowa, New Jersey 1985; Ann Robinson, Cedric Sandford, Tax Policy-Making in the United Kingdom, London u.a.0. 1983, S. 11 ff. 35 36
Vgl. z.B. Guy Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 2. Aufl., Düsseldorf 1983, S. 106 ff.
Welche Bedeutung der Besteuerungspolitik zukommt, zeigt ein Blick auf die Historie. Die Entwicklung von Besteuerungsgrundsatzen ging nicht nur mit der Entfaltung von Staats- und Demokratietheorien, sondern auch mit der Entstehung moderner Nationalstaaten Hand in Hand; vgl. Siegfried F. Franke, Entwicklung und Begründung der Einkommensbesteuerung, Darmstadt 1981, S. 135. Der Kampf um eine angemessene Besteuerung führte zur Bildung von Parlamenten und - berühmtes Beispiel - zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Christoph Bellstedty Die Steuer als Instrument der Politik, Berlin 1966, insbes. 1. Kap., S. 13 - 110 zeichnet die Entwicklungen und Auseinandersetzungen um die Besteuerung mit ihren Konsequenzen in Deutschland, England und Amerika in eindrucksvoller Weise nach.
IV. Theoretischer Referenzrahmen
33
konkreter Zielbestimmungen ergibt sich ein großes Spannungspotential, denn es gibt politische Parteien und gesellschaftliche Gruppierungen (Verbände), die sich stärker auf distributive Ziele konzentrieren, und solche, die allokative und stabilitätsorientierte Aspekte stärker hervorheben. Natürlich verfolgen die Befürworter der zuletzt genannten Aspekte damit letztlich auch Interessen, die auf - von ihnen als richtig empfundene - Verteilungs- und Machtpositionen abstellen. 37 Vor diesem Hintergrund gilt es, Erwartungsmuster der Wahlbevölkerung, gegebenenfalls differenziert nach ihrer schwerpunktmäßigen Gruppenzugehörigkeit, zu skizzieren, die durch Verbände vorgeprägt sein können, auf jeden Fall von ihnen übernommen, artikuliert und teilweise umgeformt und an die politischen Parteien, insbesondere an die Regierung und an die sie stützende(n) Partei(en) herangetragen werden. Die so verstärkten und transformierten Erwartungsmuster finden ihren Niederschlag in bestimmten Verhaltensmustern von Parteien und Politikern. Parteien und Politiker sind freilich nicht als rein reagierende Akteure zu sehen. Sie versuchen, auch aktiv auf wichtige Stimmenfuhrer einzuwirken, um damit letztlich eine verstärkte Wirkung bei den Bürgern zu erreichen. Diese wechselseitigen Einflußnahmen sind wesentlich abhängig von der Ausgestaltung der Rahmen- und Funktionsbedingungen des politischen Systems, d.h., daß die Gestaltung der praktischen Steuerpolitik durch die Struktur und Funktionsweise demokratischer Willensbildung stark bestimmt ist. Die Problemstellung spitzt sich damit auf die Funktionsbedingungen politischer Willens- und Entscheidungsbildungsprozesse in der Demokratie zu. Schon 1974 hatten Scharpf und Mitarbeiter in einer - allerdings sehr abstrakt angelegten - Studie fur die Kommission fur wirtschaftlichen und sozialen Wandel festgestellt, "daß die Ursache[n] von Steuerungsproblemen zumindest auch in den strukturellen Bedingungen des politischen Systems selbst lokalisiert werden müssen".38 Außerordentlich bemerkenswert ist, daß sie die Gründe für staatliche Steuerungsdefizite eher im Bereich des politischen als in dem des ökonomischen Systems orten. 39 An überprüfbaren Belegen wie an konstruktiven Änderungsvorschlägen mangelt es jedoch bei den global und abstrakt an-
37
Vgl. Teichmann (FN 6), Wirtschaftspolitik, S. 284.
38
Fritz
39
Vgl. ebenda, S. 13 - 17.
3 Franke
W. Scharpf\ Politische Durchsetzbarkeit innerer Reformen, Göttingen 1974, S. 1.
34
Einleitung
gelegten Studien. Die vorliegende Arbeit w i l l dieses Defizit am Beispiel des wichtigen Teilbereichs der Steuerpolitik abbauen helfen. Dementsprechend bedient sich die zu entwickelnde politische Theorie der Steuerpolitik des begrifflichen Instrumentariums der Neuen Politischen Ökonomie. Ausgehend vom methodologischen Individualismus 0 wird von ihr das Eigennutzaxiom, das in der reinen ökonomischen Theorie zu sehr brauchbaren Ergebnissen fuhrt, 41 auch auf das Verhalten von Wählern, Politikern, Parteiund Verbandsfuhrern sowie -mitgliedern übertragen. Dies erweitert die als alleinigen Erklärungsansatz oft nicht ausreichende ökonomische Rationalität um die Dimension der politischen Rationalität und hebt damit den gedanklichen Bruch zwischen verschiedenen Annahmen fur private Wirtschaftssubjekte (Eigennutz) und Politikern (Altruismus) auf. 42 Dieses Vorgehen wird gewählt, weil es sich gezeigt hat, daß die Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie bereits erfolgreich auf eine Reihe von Politik- und Gesellschaftsbereichen angewandt werden konnten. Zu nennen sind etwa die Bereiche des Bürokratieverhaltens, der Entwicklungspolitik, der Inflationsbekämpfung, der Arbeitsmarktpolitik, der Umweltpolitik und der Wettbewerbspolitik. 4 3 Ihr Erklärungspotential soll deshalb auch fur die Steuerpolitik in Demokratie nutzbar gemacht werden. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit einer solchen Analyse ergeben sich aus den angedeuteten und im folgenden noch
40 Vgl. dazu Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 2. Aufl., Tübingen 1969, S. 107 undS. 116 f. 41 Vgl. Philipp Herder-Dorneich, Wettbewerbs, Göttingen 1977, S. 25 ff.
Manfred
Groser, Ökonomische Theorie des politischen
42 Vgl. Hartmut Berg, Dieter Cassel, Art. "Theorie der Wirtschaftspolitik", in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 5. Aufl., München 1992, S. 178. 43 Exemplarisch seien genannt: Peter Bernholz, Die Machtkonkurrenz der Verbände im Rahmen des politischen Entscheidungssystems, in: Hans Κ Schneider, Christian Watrin (Hrsg.), Macht und ökonomisches Gesetz, Berlin 1973, S. 859 ff.; Siegfried F. Franke, Arbeitsmarktpolitik in der Demokratie, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 35. Jg. (1986), S. 251 ff.; Philipp Herder-Dorneich (Hrsg.), Zur Verbandsökonomik, Berlin 1973; Eckhard Knappe, Einkommensumverteilung in der Demokratie, Freiburg i.Br. 1980; Ulrich Roppel, Ökonomische Theorie der Bürokratie, Freiburg i.Br. 1979; Erich Streissler, Die schleichende Inflation als Phänomen der politischen Ökonomie, Zürich 1973; Lothar Wegehenkel (Hrsg.), Marktwirtschaft und Umwelt, Tübingen 1981; Werner Zohlnhöfer, Kann unser politisches und wirtschaftliches System die Interessen der Entwicklungsländer angemessen berücksichtigen? In: Theodor Dams (Hrsg.), Entwicklungshilfe - Hilfe zur Unterentwicklung? München 1974, S. 141 ff.; Zohlnhöfer, Eine politische Theorie der schleichenden Inflation, in: Hans Würgler (Hrsg.), Stabilisierungspolitik in der Marktwirtschaft, Bd. I, Berlin 1975, S. 533 ff.; Zohlnhöfer, Wettbewerbspolitik in der Demokratie, in: Helmut Gutzier, Wolfgang Herion, Joseph H. Kaiser (Hrsg.), Wettbewerb im Wandel, Baden-Baden 1977, S. 27 ff.
I V . Theoretischer Referenzrahmen
35
genauer zu belegenden nachhaltigen Zielverfehlungen postulierter Ansprüche, die zuweilen schon an den Rand ernster Identitätsprobleme zumindest eines Teils der Bürger mit ihrem demokratischen Staat fuhren. In diesem Sinne ergeben sich dann auch Legitimations- und Loyalitätsprobleme fur das System der indirekten Demokratie. 44 Die Steuerpolitik eignet sich zu einer solchen Analyse überdies deshalb besonders, weil einige wichtige Aspekte des Wählerverhaltens herausgestellt werden können. Für den einzelnen Bürger ist die Einkommenserzielung ein ganz zentraler Punkt seines Denkens und Handelns. Dementsprechend reagiert er viel stärker auf Maßnahmen, die auf die Einkommenserzielung abstellen als auf solche, die die vielfältigen Möglichkeiten der Einkommensverwendung ins Auge fassen. Mittelpunkt einer politischen Ökonomie der Besteuerung ist also die Einnahmenseite des Staatshaushaltes. Ihre Analyse ergänzt die politische Ökonomie der Verteilungspolitik. Die häufig als unzulänglich erachtete staatliche Umverteilungspolitik 45 läßt sich damit vertieft erklären: Steuerpolitische Maßnahmen werden nämlich meist so gewählt, daß gleichzeitig möglichst viele Wähler werbewirksam entlastet und möglichst viele unmerklich belastet werden. 46 Der Entwurf einer politischen Theorie der Steuerpolitik wird zunächst von einem einfachen Zwei-Parteien-Modell der Demokratie bei vollständiger Information ausgehen, das schrittweise durch die Berücksichtigung von unvollständiger Information, Ungewißheit und Präferenzverzerrungen an die Realität angenähert wird. Dazu gehört des weiteren die Analyse von politisch relevanten Mehr-Parteien-Systemen und die Einbeziehung des fur föderalistisch strukturierte Staaten charakteristischen Zwei-Kammer-Systems. Das eröffnet vielfältige Erklärungsansätze für das Einwirken der Träger der Wirtschaftspolitik (z.B. Bürokratie, Verbände, Länder, Kommunen, Wissenschaft, Groß-
44 Solche Legitimations- und Loyalitätsprobleme sind nicht notwendig mit dem kapitalistischen System verbunden, vgl. Scharpf (FN 38), Innere Reformen, S. 8 f. und S. 14 - 17. Unbestreitbar sieht sich jedoch die marktwirtschaftliche Produktions- und Verteilungsweise zunehmenden Legitimationskrisen gegenüber. Dies erschwert politische Gestaltungsaufgaben ganz erheblich; vgl. dazu Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 5. Aufl., Frankfurt (Main) 1979 (Erstauflage 1973), insbes. S. 41 - 49, S. 54 - 56 und S. 96 - 105; vgl. auch Claus Offe , Tauschverhältnis und politische Steuerung, in: Ders., Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt (Main) 1972, S. 27 ff. 45 46
Vgl. Knappe (FN 43), Einkommensumverteilung, insbes. S. 239 ff.
Vgl. Siegfried F . Franke, Ein Beitrag zur Steuerreformpolitik in der Demokratie, in: KarlHeinrich Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, Berlin 1983, S. 177.
Einleitung
36
unternehmen) auf den steuerpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß. Der Vielfalt der genannten Faktoren entsprechend, bedient sich die Analyse weiterer, in jüngster Zeit entwickelter Instrumente und Denkkategorien der theoretischen Wirtschafts- und Sozialforschung. Im einzelnen sind zu nennen: das Konzept der Wählerbeweglichkeit, 47 neuere Entwicklungen der »theory of the firm«, die fur das partei- und verbandspolitische Verhalten nutzbar gemacht werden können, 48 Ansätze der »property rights«-Diskussion, weil die Besteuerung das Geflecht der Verfugungsrechte verändert 49 und weil die systematische Berücksichtigung sozialer Institutionen sowohl fur ökonomische Theorien als auch fur politische Handlungsempfehlungen unerläßlich ist, 5 0 systemtheoretische Zusammenhänge im Sinne von Luhmann,51 die sowohl auf der Instrumentenebene (Differenzierung des Einnahmensystems und des Finanzausgleichs) als auch auf der Ebene politischer Akteure (Steuerung und Beeinflussung politischer und wirtschaftlicher Subsysteme) identifiziert werden können, und schließlich neuere Ergebnisse der Korporationsforschung; denn die Vorstellung, daß die Verbände nur als »pressure groups« auftreten, ist verfehlt. Sie sind zum Teil ganz erheblich in den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß verantwortlich mit einbezogen worden. 52
47 Vgl. Werner Zohlnhöfer, Das Steuerungspotential des Parteienwettbewerbs im Bereich staatlicher Wirtschaftspolitik, in: Erik Boettcher, Philipp Herder-Dorneich, Karl-Ernst Schenk (Hrsg.), Neue Politische Ökonomie als Ordnungstheorie, Tübingen 1980, S. 82 ff.; ders., Die wirtschaftspolitische Willens- und Entscheidungsbildung in der Demokratie [Habilitationsschrift Freiburg i.Br. 1972, unveröffentlicht], Teil Π, Kap. 1, S. 98 ff. 48
Vgl. Holger Bonus, The Political Party as a Firm, in: ZgS, Bd. 137 (1981), S. 710 ff.; Werner Zohlnhöfer, Horst Greiffenberg, Neuere Entwicklungen in der Wettbewerbstheorie: Die Berücksichtigung organisationsstruktureller Aspekte, in: Helmut Cox, Uwe Jens, Kurt Markert (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbs, München 1981, S. 81 ff. 49 Vgl. u.a. Günter Hesse, Zur Erklärung der Änderung von Handlungsrechten mit Hilfe ökonomischer Theorie, in: Alfred Schüller (Hrsg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983, S. 79 ff. 50 Vgl. Hans Albert, Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied, Berlin 1967, S. 470; Willy Meyer, Entwicklung und Bedeutung des Property Rights-Ansatzes in der Nationalökonomie, in: Schüller (FN 49), Property Rights und ökonomische Theorie, S. 2. 31 Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt (Main) 1983, insbes. S. 38 ff. und S. 249 ff.; ders., Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981, insbes. S. 33 ff.; ders., Soziale Systeme, 2. Aufl., Frankfurt (Main) 1985; ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, 2. Aufl., Frankfurt (Main) 1977. 52 Vgl. Ulrich von Alemann (Hrsg.), Neokorporatismus, Frankfurt (Main), New York 1981; ders., Rolf G. Heinze (Hrsg.), Verbände und Staat, 2. Aufl., Opladen 1981; Philipp HerderDorneich, Konkurrenzdemokratie - Verhandlungsdemokratie, 2. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980. Für den Bereich der Besoldung im öffentlichen Dienst hat Keller neokorporative
I V . Theoretischer Referenzrahmen
37
Die hier angedeuteten theoretischen Analyseinstrumente und Erklärungsansätze sollen jedoch nicht kompilatorisch vorangestellt, 53 sondern an den entsprechenden Stellen problembezogen aufbereitet und eingeführt werden. Auch ist darauf hinzuweisen, daß der Wert mancher der verwendeten Theorien eher im Heuristischen zu sehen ist (vor allem die Systemtheorie von Luhmann). Zusammenfassend ausgedrückt geht es darum, die Unzulänglichkeiten und Widersprüche im Besteuerungssystem mit Hilfe des Instrumentariums der Neuen Politischen Ökonomie und ergänzender Ansätze zu erklären und Umrisse der künftigen Entwicklung einzufügen. Wegen der Vielschichtigkeit der sich wandelnden Probleme und Einflüsse sind die abzuleitenden Aussagen nicht als einzelereignisorientiert, sondern im Sinne der »Theorie komplexer Phänomene« als »pattern explanations« und »pattern predictions« 54 aufzufassen. So kann man nicht auf die Stelle nach dem Komma oder bis zur letzten Mark genau prognostizieren, um wieviel z.B. irgendeine Steuer oder ein Freibetrag im Steuerrecht verändert wird. Auch eine dies versuchende (vergangenheitsbezogene) Erklärung wird unzureichend sein. Es wäre allerdings vermessen zu erwarten, daß irgendeine Sozialtheorie dies bei der Vielfalt der Eigenart der agierenden Personen, des Normengeflechtes und der sozialen Institutionen zu leisten vermöchte. 55 Hingegen können Bedingungen herausgearbeitet werden, die bestimmte Gestaltungsmuster und Entwicklungstendenzen politischen Handelns wahrscheinlicher machen als andere. In diesem Sinne ist etwa die relative Ausweitung indirekter Steuern bei wachsenden Staatsaufgaben wahrscheinlicher als die der direkten Steuern. Tempo und Ausmaß dieser Tendenz sind von einer Fülle von Faktoren abhängig. Dem skizzierten Untersuchungsziel und dem Gang der Analyse entspricht folgender Aufbau: Anspruch und Wirklichkeit der Besteuerung in der Bundesrepublik Deutschland sind Gegenstand der ersten beiden Teile der Arbeit. Der steuerpolitische Befund dient als Grundlage für die Identifizierung typischer Gestaltungsmuster der Besteuerung im dritten Teil. Davon ausgehend
Einflüsse deutlich nachweisen können; vgl. Berndt Keller, Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst, Frankfurt (Main), New York 1983. 53 Dazu sei auf die jeweils angeführte Literatur und die dort genannten weiterfuhrenden Titel verwiesen. 54 55
Vgl. Friedrich
A. von Hayek , Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1972.
Vgl. Meyer (FN 50), Entwicklung und Bedeutung des Property Rights-Ansatzes in der Nationalökonomie^. 1.
38
Einleitung
werden von einem einfachen Modell der Demokratie über eine schrittweise Annäherung an realitätsgerechte Annahmen Entwicklungstendenzen der Steuerpolitik in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie herausgearbeitet, die zu einem Erklärungsgefüge fur die skizzierte Besteuerungswirklichkeit verdichtet werden. Das Erklärungsgefüge umgreift ökonomische, systemtheoretische, politologische und juristische Aspekte, weil ausschließlich innerdisziplinäre Ansätze der Vielfalt der Steuerpolitik nicht gerecht werden. Die Analyse bestätigt die eingangs geäußerte Vermutung, wonach die Krise des Steuerstaates wesentlich auf systemimmanente Mängel des demokratischen Willensund Entscheidungsbildungsprozesses zurückzuführen ist. Die Schlußbemerkungen versuchen eine zusammenfassende Bewertung dieses Befundes und geben einen Ausblick auf mögliche sozialtechnologische Konsequenzen.
Erster Teil
Zum gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Anspruch der Besteuerung I . Entwickelte Besteuerungsnormen 1. Zur Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips a) Steuerprogression
und Einkommensdifferentiation
Die Besteuerung regelt in zentraler Weise die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Tipke/Lang stellen daher in ihrem Grundriß zum Steuerrecht schon einleitend fest, daß Steuerrecht öffentliches Recht ist, dessen "Rechtsnormen überwiegend dem Interesse der Allgemeinheit, nicht dem Individualinteresse [dienen]". 1 Das Steuerrecht als eigenständiges Subsystem des öffentlichen Rechtes basiert fundamental auf dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es fungiert einerseits als systematisch-teleologische Fundierung des Steuerrechts, 2 andererseits ist es im Laufe der Zeit von juristischer und wirtschaftswissenschaftlicher Seite werteorientiert auf die Erfordernisse moderner Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen bezogen worden. Zwischendurch aufgekommene Zweifel an der Brauchbarkeit dieses Prinzips aus rein theoretischen Gründen 3 oder wegen der Möglichkeit offenkundigen politischen Mißbrauchs 4 dürften durch jüngste Beiträge zur sachgerechten Interpretation dieses Prinzips ausgeräumt, zumindest jedoch erheblich eingedämmt sein.5 Richter hat überdies gezeigt, daß eine axioma-
1
Klaus Tipke, Joachim Lang, Steuerrecht, 13. Aufl., Köln 1991, S. 4.
2
Vgl. ebenda, S. 5.
3 Vgl. Konrad Littmann, Ein Valet dem Leistungsfahigkeitspinzip, in: Heinz Haller, Lore Kullmer, Carl Shoup, Herbert 7imm (Hrsg.), Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus, Tübingen 1970, S. 113 - 134. 4 Vgl. exemplarisch die pointierten Ausführungen von Walter Leisner, Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - die soziale Nivelliemng, in: StuW, 60. (13.) Jg. (1983), S. 97 - 102. 5
Vgl. Dieter Birk, Das Leistungsfahigkeitsprinzipals Maßstab der Steuernormen, Köln 1983; ders., Zum Stand der Theoriediskussion in der Steuerrechtswissenschaft, in: StuW, 60. (13.) Jg. (1983), S. 293 ff.; Siegfried F. Franke, Zur politischen Funktion konsensmobilisierender Formeln in der parlamentarischen Demokratie: Das Beispiel des Leistungsfähigkeitsprinzips, in: StuW, 61.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
40
tische Fundierung möglich ist, die allerdings nicht losgelöst von der konkreten Gestalt der individuellen Nutzenfunktionen zu sehen ist. 6 Das Leistungsfähigkeitsprinzip beruht auf einer langen Tradition; es ist ethisch begründet und von Rechtsphilosophen, Finanzwissenschaftlern, Steuerrechtlern und Staatsrechtlern anerkannt. 7 Zwar bietet es dem Gesetzgeber beträchtliche Spielräume, was wichtige Anpassungen an sich ändernde Umstände ermöglicht, hat aber als Schutzprinzip dennoch klare Konturen. 8 Tipke/ Lang folgern daher, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip sachgerecht und verfassungskonform ist und überdies eine Klugheitsregel enthalte,9 das in engem Zusammenhang zu steuerrechtlichen Normen steht. Sie unterscheiden drei Normengruppen, nämlich Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und hauptsächlich pragmatisch begründete Vereinfachungsnormen. I0 Fiskalzwecknormen
stellen darauf ab, die notwendigen Einnahmen unter
Berücksichtigung von Kriterien austeilender bzw. zuteilender Gerechtigkeit
zu
erzielen. Sie stützen sich insofern auf das Leistungsfähigkeitsprinzip. Natürlich haben die Fiskalzwecknormen auch wirtschaftliche und soziale Auswirkungen; diese sind jedoch Folge und nicht Zweck der fiskalisch begründeten Normen. Sozialzwecknormen sind wirtschafts- und gesellschaftspolitisch motiviert und darauf gerichtet, mit Hilfe des Steuerrechts erwünschtes Verhalten zu prämieren und unerwünschtes zu belasten. Sie sind also lenkende (regulative, interventionistische) Normen. Ein erheblicher Teil davon richtet sich auf den Wirtschaftsablauf; sie werden als wirtschaftslenkende Normen bezeichnet. In einer komplexen Gesellschaft ist es zudem aus pragmatischen Gründen erforderlich, Vereinfachungsnormen im Steuerrecht anzuwenden. Jeden Einzelfall regeln zu wollen, würde Gesetze und Durchfuhrungsverordnungen unan-
(14.) Jg. (1984), S. 32 ff.; ders., Zur Systematik einer rationalen Besteuerung, in: List Forum, Bd. 13 (1985/86), S. 1 ff.; Paul Kirchhof, Steuergleichheit, in: StuW, 61. (14.) Jg. (1984), S. 297 ff.; ders., Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit, in: StuW, 62. (15.) Jg. (1985), S. 319 ff.; Dieter Schneider, Leistungsiahigkeitsprinzip und Abzug von der Bemessungsgrundlage, in: StuW, 61. (14.) Jg. (1984), S. 356 ff.; Rainer Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, Heidelberg, Hamburg 1980. 6 Vgl. Wolfram F. Richter, Vol. 20 (1983), S. 211 ff.
From Ability to Pay to Concepts of Equal Sacrifice, in: JPbE,
7
Vgl. auch Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 58.
8
Vgl. ebenda, S. 58.
9
Vgl. ebenda, S. 58.
10
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 19 ff.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
41
wendbar machen und neue Ungerechtigkeiten herbeifuhren. Vereinfachungsnormen - wie Pauschalierungen, Freibeträge, Verwaltungsanweisungen - tragen folglich dem alten Rechtsgrundsatz summum ius summa iniuria Rechnung. Das mit den Fiskalzwecknormen verbundene Leistungsfähigkeitsprinzip kann vor dem Hintergrund moderner gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Zielsetzungen im Sinne der Steuerprogression interpretiert werden. 11 Daraus wird ersichtlich, daß es in erster Linie auf die persönliche Einkommensbesteuerung bezogen wird. Man spricht dann von der vertikalen Steuergerechtigkeit, womit gemeint ist, daß die Steuerbelastung mit steigendem zu versteuerndem Einkommen überproportional wachsen soll. 12 Das sachlogische Pendant zur Steuerprogression ist die Einkommensdifferentiation. 1 3 Sie ist Ausdruck der horizontalen Gerechtigkeit, richtet sich auf die adäquate Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen fur das zu versteuernde Einkommen, und ist nach zwei Kategorien zu unterteilen. Zum einen wird nämlich auf Minderungen der persönlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abgestellt. Ansatzpunkte dafür sind Familienstand, Kinderzahl, Krankheits- und Altersvorsorge u.ä. Konkreten Ausdruck findet dies in sog. steuerlichen Ausgestaltungselementen wie dem Splittingtarif, den Freibeträgen, den Sonderausgaben usw. Damit wird erkennbar, daß die (persönliche) Einkommensteuer in drei theoretisch zu unterteilende Stufen zerfällt: Sie ist erstens der Struktur nach progressiv und differenziert angelegt. Diese Struktur findet zweitens ihre weitere Ausprägung in den steuerlichen Ausgestaltungselementen. Die dritte Stufe ist schließlich die der Quantifizierung der einzelnen Elemente und des (Grund-)Tarifs (Maßfrage). 14 Die Dreiteilung in Struktur, Ausgestaltungselemente und Quantifizierung gilt im übrigen auch fur die anderen Steuerarten. Weil die zuvor skizzierte Richtung der Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen im Sinne der horizontalen Gerechtigkeit auf die angemessene steuerliche Belastung der einzelnen Bürger abstellt, wird dafür der Begriff der
11 Vgl. Siegfried F. Franke, Entwicklung und Begründung der Einkommensbesteuerung, Darmstadt 1981, S. 4 0 - 50; ders., Theorie und Praxis der indirekten Progression, Baden-Baden 1983, S. 31 - 3 6 . 12 Vgl. Richard A. M usgrave, Peggy B. Mus grave, Lore Kullmer, in Theorie und Praxis, Bd. 2, 4. Aufl., Tübingen 1988, S. 18.
Die öffentlichen Finanzen
13 Vgl. Fritz Neumark, Probleme und Methoden einer qualitativen Differenzierung (Differentiation) der steuerlichen Einkommensbelastung, in: Ders., Wirtschafts- und Finanzprobleme des Interventionsstaates, Tübingen 1961, S. 394. 14
Näher dazu Franke (FN 11), Indirekte Progression, S. 50 - 53.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
42
belastungsbezogenen Einkommensdifferentiation
geprägt. Steuerprogression und
belastungsbezogene Einkommensdifferentiation sind aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleitet und insofern eindeutig den Fiskalzwecknormen Tipke/Lang
nach
zuzuordnen.
Die belastungsbezogene Einkommensdifferentiation ist primär gegenwartsorientiert und deshalb eher als statisch zu begreifen. Demgegenüber stellt die zweite Kategorie der Einkommensdifferentiation aus dynamischer Sicht auf die zukunftsorientierte Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur ab. Ihr zentraler Ansatz ist nicht die Belastung, sondern die Art und Weise der Einkommenserzielung und -Verwendung. In diesem Sinne enthält das Steuerrecht zu einem erheblichen Teil auch wirtschaftslenkende Normen, die insgesamt den Sozialzwecknormen zuzurechnen sind. 15 Mit ihnen sollen gesellschafts- und wirtschaftspolitisch erwünschte Aktivitäten initiiert werden. Die ins Einkommensteuergesetz eingebetteten oder daran anknüpfenden wirtschaftslenkenden Normen werden der gestaltungsbezogenen Einkommensdifferentiation zugeordnet. Exemplarisch dafür sind zu nennen: Steuerfreie Einnahmen (§ 3 EStG), die steuerliche Anerkennung von Spenden (§ 10 b EStG), erhöhte Abschreibungen (§§ 7 d, 7 g EStG), Abzüge von der Steuerschuld (§§ 16, 17 BerlinFG), Vergünstigungen nach dem Investitionszulagengesetz, die Möglichkeit des Verlustvor- und -rücktrags (§ 10 d EStG), Dauer und Höhe der Abzugsfähigkeit von Verlusten (§§ 2 a, 15, 15 a EStG) wie auch die Steuerbefreiungsmöglichkeiten von wiederangelegten Veräußerungsgewinnen (§ 6 b EStG). M i t dem System der belastungs- und der gestaltungsbezogenen Einkommensdifferentiation werden sehr verschiedene und miteinander konfligierende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen verfolgt. Sollen z.B. hohe Grenzsteuersätze belastungsbezogene Aspekte der vertikalen Gerechtigkeit verwirklichen, so gewinnen sie aus der Sicht der wirtschaftslenkenden Normen eine andere Bedeutung: Sie bieten, verkoppelt mit der Möglichkeit, bei entsprechender Einkommensverwendung Steuerminderungen zu erreichen, gezielte und nachhaltige Anreize zur volkswirtschaftlich notwendigen Kapitalbildung und -diffusion. Das mit Bezug auf verfassungsrechtliche Begriffe skizzierte Spannungsverhältnis zwischen der belastungs- und der gestaltungsbezogenen Wirkung der Besteuerung spiegelt den grundlegenden trade off zwischen den Zielen der
13
Vgl. Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 643 ff.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
43
Verteilungsgerechtigkeit und der ökonomischen Effizienz wider. 16 Dieser Konflikt wäre nur dann dauerhaft zu lösen, wenn es gelänge, Steuern zu erheben, die das Entscheidungsverhalten der Wirtschaftssubjekte und damit die Allokation nicht beeinträchtigen und die zugleich verteilungspolitisch akzeptiert werden. Definitionsgemäß verzerren lump sum-Steuern die Effizienz nicht. 17 Kopfsteuern in absolut gleicher Höhe spielen jedoch in den entwickelten Ländern keine Rolle mehr; 18 in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland wären sie zudem verfassungswidrig. Natürlich lassen sich auch Kopfsteuern differenzieren, wobei jedoch ökonomische Ansatzpunkte aus allokationstheoretischen Gründen ausscheiden.19 Eine außerökonomische Differenzierung ist allerdings ohne Verstoß gegen Art. 3 und Art. 20 Abs. 1 GG kaum möglich. Das Beispiel des erbitterten Widerstandes gegen die als lump sum-Steuer konzipierte neue poll tax in England, die auf der Gemeindeebene die rates (eine Art Grundsteuer) in der letzten Phase der Ära Thatcher ablöste und die von ihrem Nachfolger, John Major schnell wieder abgeschafft wurde, zeigt, daß Kopfsteuern auch politisch schwer umzusetzen sind. 20 Buchanan/Brennan konstatieren daher einen andauernden Konflikt zwischen der ökonomischen Effizienz und der gesellschaftspolitisch begründeten Umverteilung, denn "perfectly nondistorting taxes do not exist". 21 Dieser Befund weist zugleich darauf hin, daß jede Gesellschaft über die reine Steuerhöhe hinaus Zusatzlasten zu tragen hat, weil die steuerbedingte Allokationsverzerrung das an sich mögliche Produktionsvolumen nach Umfang und Qualität beeinträchtigt (sog. excess burden oder Wohlfahrtsverluste). 22 Eine (notwendigerweise) nichtneutrale Besteuerung hat jedoch in der Regel nicht nur
16 Vgl. Joseph E. Stiglitz, 1989, S. 59 ff. 17
Bruno Schönfelder,
Finanzwissenschaft, 2. Aufl., München, Wien
Vgl. ebenda, S. 410.
18
Vgl. Friedrich Hinterberger, Klaus Müller, Hans-Georg Petersen, "Gerechte" Tariftypen bei alternativen Opfertheorien und Nutzenfunktionen, in: FA, N.F., Bd. 45 (1987), S. 47. 19
Willi
Vgl. Gerold Krause-Junk, Johann Hermann von Oehsen, Art. "Optimale Besteuerung", in: Albers et al. (Hrsg.), HdWW (Studienausgabe), Bd. 9, Stuttgart u.a.O. 1988, S. 708.
20 Vgl. Werner Benkhoff, Der Tumult um neue Gemeindesteuer schwächt das ThatcherKabinett. Die Tories in ihrer schwersten Krise, in: Handelsblatt, Nr. 50, 12. März 1990, S. 2; Wilfried Kratz, Harter Kurs ins Abseits. Mit der neuen Kopfsteuer hat Margaret Thatcher die Geduld ihrer Landsleute überfordert, in: DIE ZEIT, Nr. 12, 16. März 1990, S. 44. 21 James Buchanan, Geoffrey Brennan, Tax Reform without Tears, in: Henry J. Aaron, Michael J. Boskin (Eds.), The Economics of Taxation, Washington, D.C. 1980, S. 33. 22 Vgl. Stiglitz, Schönfelder (FN 16), Finanzwissenschaft, S. 460, S. 461 und S. 471 ff.; vgl. auch David F. Bradford, Untangling the Income Tax, Cambridge, Mass., London 1986, S. 176 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
44
allokative, sondern auch distributive Wirkungen, 23 wobei die Effizienzverluste über die ausgelösten Substitutionseffekte von der Höhe der Grenzsteuersätze abhängig sind, während die Verteilungswirkungen hauptsächlich vom Verlauf der Durchschnittssteuersätze und den hervorgerufenen Einkommenseffekten beeinflußt werden. 24 Die dargelegten Zusammenhänge zeigen, daß die gestaltungsbezogene Einkommensdifferentiation nicht auf dem belastungsbezogenen Leistungsfähigkeitsprinzip fußt. Sie muß vielmehr als der Versuch interpretiert werden, die effizienzverzerrende Wirkung der Besteuerung und damit die excess burden durch konkrete Steuergestaltungsmöglichkeiten zu minimieren. Theoretisch widmet sich vor allem die Optimalsteuertheorie (optimal taxation) diesem Minimierungsproblem. 25 Der Gesetzgeber kann sich dennoch bei der Umsetzung wirtschaftslenkender Normen ins Steuerrecht nicht völlig vom Leistungsfähigkeitsprinzip lösen. Es bleibt Orientierungsmaßstab dafür, wie weit man sich vom Grundsatz der steuerlichen Belastung im Interesse zukunftsgerichteter Gestaltungsaufgaben entfernen darf, ohne verfassungsmäßige Grundsätze (Art. 3 [Gleichheitssatz], Art. 14 Abs. 2 [Sozialbindung des Eigentums] und Art. 20 Abs. 1 GG [Sozialstaatspostulat]) ihres Sinngehaltes zu berauben. In diesem Zusammenhang gewinnen neuere Analysen an Bedeutung, in denen konstitutionelle Wertmaßstäbe der belastungs- und der gestaltungsbezogenen Einkommensdifferentiation ausgelotet und neu verortet werden. Besonders zu erwähnen ist der Beitrag von Birk, der unter Berücksichtigung des Äquivalenzprinzips und eines Bezugsrahmens volkswirtschaftlicher Aspekte der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen noch aufbereitet wird.
b) Der Konsum als alternative Bemessungsgrundlage Das Leistungsfähigkeitsprinzip wurde in den bisherigen Ausführungen nur auf die Einkommensbesteuerung bezogen. Es ist allerdings ein Prinzip, das die Steuerbelastung insgesamt prägen w i l l . 2 6 Daher ist später zu zeigen, in welcher Weise es bei den anderen Steuerarten berücksichtigt wird. Der bisherige
23 Vgl. Wolfram F. Richter, Neutrale Ertragsanteilsbesteuerung von Renten, in: Deutsche Rentenversicherung, Heft 10, Oktober 1987, S. 666. 24
Vgl. Wolf gang Wiegard, Neuere Entwicklungen in der Finanzwissenschaft: Versuch einer Bestandsaufnahme, in: FA, N.F., Bd. 47 (1989), S. 112. 25
Vgl. Stiglitz , Schönfelder
26
Vgl. BVerfGE, Bd. 74, S. 182 (S. 199 f.).
(FN 16), Finanzwissenschaft, S. 475.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
45
Bezug des Leistungsfähigkeitsprinzips auf die Besteuerung des Einkommens resultiert aus der Absicht, in erster Linie das konkrete Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen. Gleichwohl ist kurz darauf einzugehen, daß das Einkommen als Grundlage fur die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit nicht unumstritten ist. Nur wenn alle Einkommensteile erfaßt werden könnten (comprehensive income taxation )9 ließe sich ein hohes Maß an horizontaler und vertikaler Gerechtigkeit verwirklichen und zudem Aspekten der Effizienz und Steuervereinfachung Genüge tun. 27 Es gibt allerdings ernste Zweifel, ob eine solche umfassende Besteuerung des Einkommens möglich ist: The "sad truth is that no single definition of income commands universal assent".28 Mitschke weist darauf hin, daß hauptsächlich aus Gründen der Legaldefinition des Einkommens nur etwa 60 Prozent des in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesenen Volkseinkommens von der Einkommensteuer einschließlich ihrer Erhebungsformen der Lohn- und der Kapitalertragsteuer erfaßt werden. 29 Hinzu treten die Probleme der Bewertung und periodengerechten Abgrenzung. 30 Insbesondere in der angelsächsischen Literatur gibt es daher seit einiger Zeit eine Wiederbelebung des auf John St. Mill, Irving Fisher und Nicholas Kaldor zurückgehenden Gedankens einer allgemeinen Konsum- oder Ausgabensteuer, 31 wonach der Konsum ein geeigneterer Indikator der Leistungsfähigkeit sei. 32 Außerdem sei es angemessener, die Individuen gemäß dem zu besteuern, was sie der Ökonomie entnehmen, als nach dem, was sie ihr hinzufugen. 33 Kerngedanke dieser Uberlegungen ist, daß bei nüchterner Betrachtung jegliche Besteuerung zu Lasten
27 Vgl. Joseph A. Pechman, Introduction, in: Ders. (Ed.), A Citizen's Guide to the New Tax Reforms. Fair Tax, Flat Tax, Simple Tax, Totowa 1985, S. 2 ff. 28
J[ohnJ Aflexander] 1991, S. 96.
Kay, M[ervin]A. King, The British Tax System, 5th ed., Oxford u.a.O.
29 Vgl. Joachim Mitschke, 12. Febr. 1988, S. 68.
Steuerkraft im Konsum, in: Wirtschaftswoche, 42. Jg., Nr. 7,
30 Vgl. Henry J. Aaron, Harvey S. 21 f.
Galper, Assessing Tax Reform, Washington, D.C. 1985,
31 Vgl. Rolf Peffekoven, Art. "Persönliche allgemeine Ausgabensteuer", in: Fritz (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 3. Aufl., Tübingen 1980, S. 417 ff. 32 33
Neumark
Vgl. Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 119.
Vgl. Pechman (FN 27), Introduction, S. 9; Stiglitz, schaft, S. 572.
Schönfelder
(FN 16), Finanzwissen-
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
46
des Konsums geht. 34 Es kommt jedoch darauf an, diese Einschränkung nicht durch eine Entmutigung des Sparens und Investierens zu vergrößern. 35 Eine allgemeine Konsumsteuer ist als praktikabel, progressiv und persönliche Umstände berücksichtend denkbar, 36 wenn sie Haushaltseinheiten besteuert und als Bemessungsgrundlage nicht auf die einzelnen Ausgaben, sondern auf den cash flow, also auf die Differenz zwischen den Haushaltszuflüssen und den -abflössen, abstellt. Werden sowohl die Zuflüsse als auch die Abflüsse auf der Haushaltsebene umfassend bestimmt (Löhne, Gehälter, Miet- und Pachteinnahmen, Zinsen, Gewinne, Dividenden, Transfers, Geschenke und Erbschaften sowie Kreditaufnahmen; alle Formen des Sparens einschließlich abgeschlossener Lebensversicherungen sowie Zins- und Tilgungszahlungen), so wären die verzerrenden Wirkungen einer Einkommensteuer weitgehend ausgeschaltet, und es könnte auf eine Erbschaft- und Schenkungsteuer verzichtet werden. 37 I m Prinzip könnte sogar auf eine eigenständige Körperschaftsteuer verzichtet werden. Aus praktischen Gründen, um z.B. auch Auslandseigner an inländischen Unternehmen steuerlich zu erfassen, bietet es sich an, das cash flowKonzept auch auf die Besteuerung von Unternehmen auszudehnen.38 Dem Gedanken der persönlichen Leistungsfähigkeit entsprechend, ist dann jedoch eine Integration mit der allgemeinen Konsumsteuer (oder der Einkommensteuer) erforderlich.
2· Anwendungsbereiche des Äquivalenzprinzips I m Kern stellt das Äquivalenzprinzip darauf ab, daß die Bürger nach Maßgabe des Nutzens empfangener oder in Anspruch genommener Staatsleistungen steuerlich belastet werden sollen. Dieses - offensichtlich privatwirtschaftlichem
34 Vgl. Manfred Rose, Plädoyer fur ein konsumorientiertes Steuersystem als Alternative zur klassischen Einkommensbesteuerung, in: Handelsblatt, Nr. 126, 4. Juli 1989, S. 6. 35 Vgl. ebenda; ders., Argumente zu einer "konsumorientierten Neuordnung des Steuersystems", in: StuW, 66. (19.) Jg. (1989), S. 191 und S. 192; Aaron, Galper (FN 30), Assessing Tax Reform, S. 25 ff. und S. 37 ff. 36
Im einzelnen gibt es verschiedene Vorschläge; vgl. Bradford (FN 22), Untangling the Income Tax, S. 75 ff.; Peffekoven (FN 31), Ausgabensteuer, S. 446 if.; zur Umsetzbarkeit vgl. besonders Peter Mieszkowski, The Advisability and Feasibility of an Expenditure Tax System, in: Aaron, Boskin (FN 21), The Economics of Taxation, S. 179 ff. 37
Vgl. Henry J. Aaron, Harvey Galper, A Cash Flow Tax System, in: Pechman (Ed.) (FN 27), New Tax Reforms, S. 113 f. 38
Vgl. Pechman (FN 27), Introduction, S. 12 f.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
47
Denken entnommene39 - Prinzip ist jedoch dem modernen Staatsverständnis wesensfremd, denn die Beziehungen an Märkten lassen sich nicht mit denen des Staates zu seinen Bürgern vergleichen. 40 Zum einen ist es faktisch weder möglich, das Maß der in Anspruch genommenen Leistungen, noch den daraus resultierenden Nutzen in konkreter Weise individuell zuzurechnen. 41 Zum anderen verbietet sich eine individuell bestimmte (Kosten-)Belastung immer dann, wenn bestimmte Güter oder Leistungen im Interesse der Allgemeinheit zwingend vorgeschrieben sind (z.B. Meldevorschriften und Identitätspapiere). 42 Haller kommt daher nach einer sehr differenzierten Untersuchung der Anwendungsmöglichkeiten des Äquivalenzprinzips zum Ergebnis, "daß fur die allgemeinen Abgaben ... nur das Leistungsfähigkeitsprinzip in Frage kommt". 4 3 Der Befund, daß eine "allgemeine Äquivalenzsteuer somit hauptsächlich als theoretisches Konzept interessant ist" 44 und als Grundlage zur Finanzierung der allgemeinen Staatsleistungen ausscheidet, schließt nicht aus, daß das Prinzip spezielle Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Als ein solches Anwendungsgebiet bieten sich Gebühren und Beiträge an, die die allgemeine Steuererhebung ergänzen. Dies sind Geldleistungen, die hoheitlich zur Finanzbedarfsdeckung auferlegt werden. Werden Gebühren erhoben, wenn eine bestimmte und individuell oder gruppenmäßig zurechenbare Leistung in Anspruch genommen wird, so kommen Beiträge in Betracht, wenn die Möglichkeit zur Inanspruchnahme bestimmter Leistungen geboten wird. 45 Haller empfiehlt in diesen Fällen das Äquivalenzprinzip bis an die "Grenze des Möglichen" heranzuziehen.46 In der Regel wird dabei nur eine gruppenbezogene kostenmäßige Äquivalenz in Frage kommen. 47 Ist eine Anwendung des Äquivalenzprinzips
39
Vgl. Heinz Haller, Die Steuern, 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 13.
40
Vgl. Fritz Neumark, Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970, S. 43. 41 Vgl. Paul A. Samuelson, Ergänzung: Reine Theorie der Staatsausgaben und Besteuerung, in: Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), Finanztheorie, Köln, Berlin 1969, S. 159 if. 42
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 26.
43
Ebenda, S. 41 [Hervorhebung vom Verf.]; vgl. auch Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 42.
44
Musgrave et al. (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 14.
45
Vgl. Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 65 f.
46
Heinz Haller, Die Bedeutung des Äquivalenzprinzips für die öffentliche Finanzwirtschaft, in: FA, N.F., Bd. 21 (1961), S. 260. 47
Vgl. näher dazu Haller (FN 39), Die Steuern, S. 39 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
48
bei der Zumessung von Gebühren und Beiträgen zwar möglich, so verbietet sich eine vollständige Weitergabe aller Kosten an die unmittelbaren Nutznießer bestimmter Staatsleistungen deshalb, weil es sich oftmals um ausgesprochen allgemein gewollte und über positive externe Effekte auch fur die Allgemeinheit wünschenswerte Einrichtungen und Leistungen handelt. 48 Insofern wird verständlich, daß das Äquivalenzprinzip nicht losgelöst vom Leistungsfähigkeitsprinzip zu sehen ist. Unberührt von dieser Feststellung bleibt die Schwierigkeit, im Einzelfall beide Prinzipien zur Finanzierung allgemeiner Staatsleistungen sachgerecht zu verknüpfen. Beim Versuch dieser Verknüpfung kann sich herausstellen, daß Durchführung und notwendige Überwachung der Erhebung von konkreten Gebühren und Beiträgen ungewöhnlich kostspielig sind. Da die Abgabenerhebung kostenminimierend und praktikabel durchgeführt werden soll, 49 bietet es sich dann an, anstelle von Gebühren und Beiträgen spezielle Steuern zu erheben. Sie werden für gewöhnlich auf komplementäre Produkte erhoben. 50 Standardbeispiele sind die Mineralölsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer; in Betracht kommen aber auch die Gewerbesteuer und die (allgemeine) Umsatzsteuer. Haller folgend, kann damit auch das Äquivalenzprinzip als ein Fundamentalprinzip bezeichnet werden. 51 Die Grundzüge seiner Anwendungsmöglichkeiten sind abschließend wie folgt festzuhalten: (1) Es ist neben den Sonderabgaben im wesentlichen nur bei der Erhebung von Gebühren und Beiträgen anzuwenden, wobei aus theoretischen und praktischen Gründen nur eine gruppenbezogene kostenmäßige Äquivalenz in Frage kommt. (2) Weil und insofern auch die (hauptsächlich) nur von abgrenzbaren Gruppen in Anspruch genommenen Staatsleistungen oft das Allgemeinwohl positiv beeinflussen, kann man sich auch bei der Umsetzung des Äquivalenzprinzips nicht vollständig vom Leistungsfähigkeitsprinzip lösen.
48 Der Anschluß an die öffentliche Kanalisation z.B. bringt den betroffenen Anliegern unmittelbare Vorteile. Wegen der Absenkung der Seuchengefahr ist jedoch auch die Allgemeinheit positiv berührt. Eine eindeutige Beschränkung staatlicher Leistungen auf bestimmte Gruppen ist also nur selten möglich. In den wenigen in Betracht kommenden Fällen bietet sich das weder zu den Gebühren und Beiträgen noch zu den (allgemeinen) Steuern zu rechnende Instrument der Sonderabgaben an; vgl. dazu 71pke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 66 f. Zu weiteren Klassifikationen vgl. Birk (FN 5), Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 88 ff. 49
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 45 f. und S. 368 ff.
30
Vgl. Musgrave et al. (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 15.
51
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 9 ff.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
49
(3) Aus den später noch zu entfaltenden Grundsätzen der Praktikabilität und der Kostenminimalität der Abgabenerhebung kann es geboten sein, Gebühren und Abgaben fallweise durch spezielle Äquivalenzsteuern zu ersetzen. 52
3. Zur politischen Bedeutung der Fundamentalprinzipien Auch wenn das Leistungsfahigkeits- und das Äquivalenzprinzip mit ihren grundsätzlichen Bedeutungselementen und Ausprägungsrichtungen in den vorangegangenen Abschnitten skizziert worden sind, so bleibt doch festzuhalten, daß die Formulierungen weitgehend offen sind. Das erklärt, warum ihnen Parteien und Interessengruppen in der Demokratie zuzustimmen vermögen. Aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie kann man in bezug auf diese beiden Prinzipien von allgemeinen Grundsätzen oder abstrakten Normen sprechen, deren wesentliche Bedeutung darin zu sehen ist, als konsensmobilisierende Formeln zu fungieren. Politisch besteht "eine ausgesprochene Abneigung gegen jede starre Fixierung von Zielen und deren Verhältnis zueinander" und man "sucht generell die Festlegung von Prioritäten zu vermeiden". 53 Der Grund dafür liegt darin, daß die Regierung bei der Zielformulierung und der Lösungssuche neben den Bedingungen der regierungsinternen Willensbildung auch die primär regierungsexterne Funktion der Konsensmobilisierung beachten muß, 54 wird doch der angesprochene Konflikt zwischen ökonomischer Effizienz und Umverteilung politisch zwischen verschiedenen Gruppen ausgetragen. 55 Daraus ist abzuleiten, warum sich im Bereich der Steuerpolitik neben Äquivalenzargumenten hauptsächlich die Rede von der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besonderer Beliebtheit erfreut. Im Rahmen der wirtschaftspolitischen Strategie des "disjointed incrementalism" bieten die Fundamentalprinzipien in nahezu idealer Weise die Möglich-
32 Technische und politische Probleme einer etwaigen Zweckbindung von Äquzivalenzsteuern können im Hinblick auf die grundsätzliche Begründung außer acht gelassen werden; vgl. dazu näher Musgrave et al. (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 16 f. und die dort angegebene Literatur. 53 Werner Zohlnhöfer, Die wirtschaftspolitische Willens- und Entscheidungsbildung in der Demokratie [Habilitationsschrift, Freiburg i.Br. 1972, unveröffentlicht], S. 50 f. 54
Vgl. ebenda, S. 50.
33
Vgl. Joseph A. Pechman, Federal Tax Policy, 5th ed., Washington, D.C. 1987, S. 38 ff.
4 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
50
keit, in Angriff zu nehmende Probleme zunächst allgemein zu thematisieren, 56 und sich dann den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen, Entscheidungen und Maßnahmen, die aufgrund sich stetig verändernder Bedingungen der Umwelt erforderlich werden, zu nähern. Dies geschieht in inkrementalen, d.h. eng begrenzten, aber doch spürbaren Veränderungen gegenüber der Ausgangssituation beinhaltenden Schritten. 57 Im Gegensatz zu »großen Lösungen« oder »grundlegenden Reformen« bietet dieses Vorgehen den Vorteil einer leichteren Korrektur sowie der "nachträglichen Berücksichtigung vernachlässigter Werte und Folgen in späteren Entscheidungen".58 Schließlich ist dadurch grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, daß "Wertaspekte, die an einer Stelle vernachlässigt werden, an anderer Stelle zum Zuge kommen". 59 Dies bietet Gelegenheit zu Kompromissen und Vorgängen des log-rolling. Gerade die zunächst unverbindlichen Leerformeln von der Besteuerung nach Aspekten der Inanspruchnahme von (gruppenmäßigen) Vorteilen und nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bieten den erforderlichen Spielraum, um in einem sukzessiven und iterativen Prozeß die verschiedenen Anforderungen und die divergierenden Interessen aufeinander zuzuführen und so uno actu mit der Mittelbestimmung zugleich auch Zielpräzisierungen vorzunehmen. In diesem Sinne ist weder das Leistungsfähigkeits- noch das Aquivalenzprinzip aus dem steuerpolitischen Prozeß wegzudenken.60 Als gedanklichen Bezugsrahmen fur den sukzessiven Annäherungs-, Ableitungs- und Präzisierungsprozeß der steuerpolitischen Ziel- und Mittelbestimmung kann man die auf Musgrave zurückgehende, alle volkswirtschaftlichen Aspekte umfassende Systematik der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen einschließlich dazu geeigneter Mittelbereiche verwenden. 61
56 Vgl. John F. Witte, Democratic Procedures and Tax Policy, in: Pechman (Ed.) (FN 27), New Tax Reforms, S. 135; Zohlnhöfer (FN 53), Wirtschaftspolitische Willens- und Entscheidungsbildung, S. 55. 57
Vgl. ebenda, S. 54.
38
Ebenda, S. 57.
59
Ebenda, S. 57.
60
Vgl. Franke (FN 5), Konsensmobilisierende Formeln, S. 33 f. und S. 39.
61
Die nachstehend behandelte Dreiteilung wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Zielsetzungen lehnt sich an die aus didaktischer Sicht wertvolle Klassifikation von Musgrave an, ohne die damit verbundenen Probleme ethischer, politischer und technischer Ait zu verkennen; vgl. Richard A. Musgrave, Finanztheorie, 2. Aufl., Tübingen 1969, insbes. Kap. 1, S. 3 - 32; vgl. auch Richard A. Musgrave, Peggy Β. Mus grave, Lore Kullmer, Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Bd. 1, 5. Aufl., Tübingen 1990, S. 6 - 17.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
51
4. Die Hauptfunktionen des Budgets Ausgehend von einem imaginären Staatswesen stellt Musgrave die funktional mit und durch die Budgetpolitik zu realisierenden grundlegenden Zielrichtungen der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik dar. Auch wenn diese Zielrichtungen interdependent miteinander verknüpft sind, gilt es zunächst, sie im einzelnen herauszuarbeiten. Musgrave beginnt seine Ausführungen mit dem Problembereich der Allokation. Dieser Ausgangspunkt ist plausibel, weil menschliche Gesellschaften von einem bestimmten Zivilisationsgrad an bisher ohne die Einrichtung Staat nicht ausgekommen sind. 62 Der wesentliche Grund liegt darin, daß ab einer bestimmten Mitgliederzahl der Gesellschaft einerseits völlig neue (Gesamt-)Bedürfhisse generiert werden und daß andererseits dringend benötigte Güter entweder überhaupt nicht oder nur mit "unerträglichen Komplikationen" oder der Gefahr einer "unzureichenden Versorgung" über privatwirtschaftliche Mechanismen bereitgestellt werden. 63 Diese privatwirtschaftlich nicht oder ungenügend bereitgestellten Güter und Dienstleistungen werden üblicherweise unter dem Begriff der öffentlichen Güter zusammengefaßt, der nach verschiedenen Aspekten weiter ausdifferenziert werden kann. In der Allokationsabteilung geht es darum, die in einer Volkswirtschaft vorhandenen Ressourcen so aufzuteilen, daß die Produktion öffentlicher und privater Güter nach erwünschter Menge und Qualität optimiert und dauerhaft ermöglicht werden kann. Dazu gehört die Anpassung an sich ändernde Bedingungen im Zeitablauf. Damit sind neben der laufenden Bereitstellung von Gütern auch zukunftsgerichtete Notwendigkeiten angesprochen; d.h., die gegenwärtige Aufteilung der Ressourcen muß so angelegt sein, daß sie auch die künftige Erschließbarkeit von Ressourcen ermöglicht und sich den Konsumentenpräferenzen dynamisch anpaßt. Daraus wird erkennbar, daß mit der Allokation die Bedingungen für ein langfristiges Wachstum fundiert werden. M i t einer oder mehreren allgemein angelegten Steuerarten (Einkommensteuer, Konsumsteuer oder Umsatzsteuer) verschafft sich der Staat die monetären Mittel, mit denen er dann in erwünschtem Umfang den realen Zugriff auf die Ressourcen vornehmen kann. Im übrigen ist zu erwähnen, daß die Grobdifferenzierung in öffentliche und private Güter noch nichts über die technische
62
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 9.
63
Ebenda, S. 9.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
52
Organisation der Produktion beider Arten von Gütern aussagt. Beide können sowohl in staatlicher als auch in privatwirtschaftlicher Regie hergestellt werden. 64 Die bisher skizzierte Richtung staatlicher Allokationspolitik w i l l Ressourcen in öffentliche Verwendungen lenken, um den objektiv vorhandenen, wenngleich gelegentlich verschleierten, Präferenzen der Bürger zu entsprechen. In der Feinabstimmung der Allokation zielt der Staat jedoch auch darauf ab, durch paternalistisch begründetes Handeln Präferenzverzerrungen zu korrigieren. 65 Dies berührt den Bereich der von Musgrave so genannten meritorischen Güter. Durch gezielte Steuerbelastungen soll der Verbrauch z.B. von gesundheitsschädlichen Gütern beschnitten werden (Tabak-, Branntweinsteuer usw.), während andere Güter steuerlich subventioniert werden, um ihren Konsum anzuregen. Die Allokationsfunktion soll also - durch allgemein zu erhebende Steuern genügend Mittel fur einen realen Zugriff auf Ressourcen ermöglichen, um eine bedarfsgerechte Produktion öffentlicher Güter zu gewährleisten. - Darüber hinaus soll durch speziell auferlegte Steuern Produktion und Verbrauch bedenklicher Produkte eingeschränkt und durch die unterstützende Finanzierung aus dem allgemeinen Steueraufkommen eine kostengünstige Bereitstellung anderer Güter ermöglicht werden. - Da die Allokation auch zukunftsgerichtete Wachstumsaspekte umfaßt, ist in begrenztem Umfange die Kreditfinanzierung geboten.66 - Ergänzend ist hinzuzufügen, daß sich die staatliche Allokationspolitik in ihrer Feinabstimmung in vielfältiger Weise der juristischen Steuerung durch Auflagen, Vorschriften und Verbote bedient. Dies ist primär nicht der Steuerpolitik zuzurechnen, auch wenn die Durchführung und Überwachung dieser Maßnahmen ebenfalls aus dem allgemeinen Steueraufkommen zu finanzieren ist. Dem modernen Wohlfahrtsstaat ist inhärent, daß er in vielfältiger Weise auf eine als »gerecht« erachtete Einkommens- und Vermögensverteilung hinwirkt, um dem Verteilungsziel zu entsprechen. In der Regel wird die marktmäßig entstandene Einkommensverteilung als korrekturbedürftig erachtet. Als exem-
64
Vgl. Musgrave (FN 61), Finanztheorie, S. 17.
65
Vgl. Stiglitz , Schönfelder (FN 16), Finanzwissenschaft, S. 63 f. und S. 107 f.
66
Vgl. Musgrave (FN 61), Finanztheorie, S. 19.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
53
plansche Möglichkeiten der Verteilungskorrektur nennt Musgrave gesetzlich garantierte Mindestlöhne, Preisstützungen im landwirtschaftlichen Bereich, Schutzzölle und die Wettbewerbspolitik; 67 Maßnahmen also, die sich auch wirtschaftspolitisch begründen lassen.68 Die Aufgabe der steuerpolitisch ausgerichteten Distributionsfunktion liegt jedoch hauptsachlich im zielgerichteten Einsatz des Steuer- und Transfermechanismus. Dafür kommen im einzelnen eine progressiv ausgestaltete und auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip beruhende Einkommensteuer oder eine allgemeine persönliche Konsumsteuer sowie direkte Transferzahlungen in Betracht. Als weitere distributionspolitisch begründete Steuern wären eine Vermögensteuer sowie eine Erbschaft- und Schenkungsteuer zu nennen.69 Die Frage, was denn eine »gerechte« Einkommens- und Vermögensverteilung sei, entzieht sich a priori der Festlegung, weil es sich dabei um normative Fragen handelt, die Kategorien wie »wahr« und »falsch« nicht zugänglich sind. 70 Auch wohlfahrtstheoretische Konzepte wie das Pareto-Optimum oder Kompensationskriterien nach Kaldor-Hicks oder Scitovsky fußen letztlich auf Werturteilen. Dies läßt erkennen, daß die Steuerpolitik in der Demokratie in erheblicher Weise Auseinandersetzungen um Verteilungsprobleme impliziert; sie sind sogar häufig die wichtigsten Kontroversen bei der Bestimmung der Finanzpolitik überhaupt. 71 Die letzte Hauptfunktion des Budgets ist die der Stabilisierung. Dieser Bereich soll konjunkturelle Ausschläge der wirtschaftlichen Entwicklung im Zeitablauf dämpfen und zu einem kontinuierlichen, angemessenen und ausgewogenen Wachstum beitragen. Seine Verknüpfung zu den beiden anderen Bereichen ist leicht belegbar: Starke Schwankungen im Konjunkturverlauf mit Arbeitslosigkeit und Preisniveausteigerungen beeinflussen sowohl die Einkommensverteilung als auch die Allokation negativ. M i t der vorgegebenen Vor-
67
Vgl. ebenda, S. 21.
68
Vgl. dazu z.B. die Ausführungen über die »regulierenden Prinzipien« bei Walter Eucken, Grundsatze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975, S. 291 - 304. 69 Vgl. Neumark (FN 13), Qualitative Differenzierung, S. 393 f.; Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 475 f. 70 Näher dazu Klaus Chmielewicz, Forschungskonzeptionen der Wirtschaftswissenschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1979, S. 94 und S. 216 f. 71 Vgl. Ulrich Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 4. Aufl., München 1988, S. 330 ff. und S. 350 ff.; ders., Grundlagen der Wachstumspolitik, München 1987, S. 158 ff. und S. 166 ff.
54
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Stellungen entsprechenden Aufteilung der Ressourcen ist es j a nicht getan; es kommt darauf an, sie möglichst effizient zu nutzen. Mögliche steuerpolitische Mittel der Stabilisierungspolitik sind im Stabilitätsund Wachstumsgesetz niedergelegt, das Steuersatzvariationen, befristete Ermäßigungen oder Zuschläge zur Einkommensteuer, zeitnahe Anpassungen der Einkommensteuervorauszahlungen sowie Variationen der Abschreibungsmodalitäten vorsieht. Die steuerlichen Ansatzpunkte der Stabilisierungspolitik sind durch eine stabilisierungs- und wachstumsbezogene Budgetüberschußbildung bzw. durch eine staatliche Kreditaufnahme zu ergänzen. Das einnahmenorientierte Instrumentarium muß mit einer entsprechenden Ausgabenpolitik Hand in Hand gehen. Theoretisch kommen auch die Umsatzsteuer, die Vermögensteuer, die Gewerbesteuer sowie spezielle Aquivalenzsteuern als stabilisierungspolitische Mittel in Betracht. Die in diesem Zusammenhang häufig angehobenen Steuern auf gesundheitsabträgliche Genußmittel sollten freilich der allokativen Korrektur von Präferenzverzerrungen vorbehalten bleiben. Ohne auf die theoretischen Probleme und Mängel sowohl einzelner dieser fiskalpolitischen Mittel der Stabilisierungspolitik als auch des Ansatzes einer global ansetzenden Beeinflussung des Wirtschaftsablaufs insgesamt einzugehen, wird doch erkennbar, daß einer der wesentlichen Ansatzpunkte der steuerpolitischen Seite die Einkommensteuer ist. Einsatz und Variation dieser Steuer zur Konjunktur- und Wachstumspolitik sind jedoch nicht durch das Leistungsfähigkeitsprinzip motiviert; dominierend sind vielmehr wirtschaftslenkende Normen als Teil der Sozialzwecknormen. Diese beiden Aspekte der Einkommensteuer sind analytisch sorgfältig auseinanderzuhalten. Erneut tauchen hier die belastungs- und gestaltungsbezogenen Charakteristika der Einkommensteuer auf. Ihre theoretische Trennbarkeit läßt sich natürlich weder in der praktischen politischen Meinungsbildung noch juristisch umsetzen. Es verwundert daher nicht, daß gerade wirtschaftslenkende Normen in der wirtschaftspolitischen Willens- und Entscheidungsbildung häufig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen sind. Die belastungs- und gestaltungsbezogenen Aspekte der Einkommensdifferentiation, in denen sich Ausformungen des Leistungsfähigkeitsprinzips und wirtschaftslenkender Normen ausdrücken, sollen deshalb unter Berücksichtigung der neueren steuerrechtswissenschaftlichen Forschung im nächsten Abschnitt eigens vorgestellt werden, weil dem Gebiet der persönlichen Einkommensbesteuerung eine zentrale Bedeutung in der vorliegenden Analyse zukommt.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
55
5. Zum Zusammenhang zwischen Fiskalzwecknormen und Sozialzwecknormen: Belastungs- und gestaltungsbezogene Wertmaßstäbe der Besteuerung Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht in eine zeitlos gültige und quantifizierbare Formel gepreßt werden kann, weil die Bedingungen und Anpassungserfordernisse moderner Gesellschaften zu vielfältig und zum Teil unvorhersehbar sind. Vielmehr ist es als ethische Grundlage mit konsensfordernden Qualitäten zu begreifen, die im konkreten politischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß interpretiert werden muß. Es gleicht gewissermaßen einer Brennlinse, die die aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Motivationen einfallenden gesellschaftlichen und gruppenmäßigen Wünsche bündelt, die durch das Steuerrecht realisiert werden sollen. Damit fordert es im prozeßmäßigen Verlauf der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu Ziel- und Mittelentscheidungen heraus, die dann uno actu auch wieder seinen Inhalt umreißen. 72 Diese Position ist vereinzelt schon von der frühen Steuerrechtswissenschaft eingenommen worden, 73 allerdings wird sie erst in jüngster Zeit vor allem unter dem beharrlichen Einfluß von Tipke 74 thematisiert und präzisiert. 75 So wird das Leistungsfähigkeitsprinzip inzwischen als prozeßhaftes Wertungsmoment und seinen Gehalt verändernder allgemeiner Rechtsgrundsatz gesehen, "der im gesetzgeberischen Verfahren als Leitlinie eine Rolle spielt und gegen andere Intentionen des Gesetzgebers abzuwägen ist". 7 6 Die Entwicklung ist in groben Zügen wie folgt zu skizzieren: Die Weimarer Verfassung nahm das Leistungsfahigkeitsprinzip explizit in den Verfassungstext auf. 7 7 Dies wurde alsbald von der Verfassungsauslegung dahingehend interpretiert, daß die direkten Steuern überwiegen, daß der Steuertarif der
72
Vgl. Franke (FN 5), Konsensmobilisierende Formeln, S. 33 und S. 36 f.
73
Vgl. dazu Ottmar Bühler, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. 1, Berlin 1927, S. 78.
74
Vgl. Klaus Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, Köln 1981.
75
Dazu näher Heribert Droschka, Steuergesetzgebende Staatsgewalt und Grundrechtsschutz des Eigentums, Heidelberg 1982, und insbes. Birk (FN 5), Leistungsfähigkeitsprinzip. 76 77
Ebenda, S. 47.
Art. 134 WRV: "Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei."
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
56
Einkommensteuer progressiv verlaufen und daß das Existenzminimum von den direkten Steuern unberührt bleiben müssen.78 I m Ergebnis läuft diese Sicht auf die belastungsbezogene Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips hinaus. Das wird im deutschen Sprachraum insbesondere unter dem Einfluß von Tipke und unter dem Eindruck einer sprunghaften und mangelhaft begründeten Steuerpolitik aufgegriffen und zu systematisieren versucht: Das Leistungsfähigkeitsprinzip als ethische Leitlinie einer gerechten Lastenverteilung der Besteuerung ist die Basis der Fiskalzwecknormen, "die als »Verwaltungsrecht« interventionistische Zwecke verfolgen". 79 Dem ist ergänzend hinzuzufügen, daß die Sozialzwecknormen nicht nur interventionistisch (prozeßpolitisch), sondern auch ordnungspolitisch motiviert sein können. Birk spricht daher zu Recht von der Zweckdichotomie der Belastungs- und der Gestaltungswirkungen der Steuer. 80 Auch in verfassungsrechtlicher Sicht spiegelt sich also der trade off zwischen der Effizienz und der Verteilungsgerechtigkeit wider. Sind die Belastungswirkungen originär aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu entfalten und an den einschlägigen Grundgesetznormen zu prüfen, so ist für die Gestaltungswirkungen der Steuer eine doppelte Prüfung erforderlich. Zum einen sind diese Besteuerungswirkungen an gestaltungsbegrenzenden Verfassungsnormen - das sind hauptsächlich die Grundrechte - zu messen. Ist hier ein Verstoß festzustellen, so ist die entsprechende Steuervorschrift von vornherein verfassungswidrig. Wenngleich viele der wirtschaftslenkenden Steuermaßnahmen als Instrumente der Globalsteuerung angelegt sind, so wirken sie doch letztlich nur, wenn und insoweit sie auf der individuellen Ebene bestimmte Verhaltensweisen initiieren oder faktisch erzwingen. Insofern ist es konsequent, wenn Birk bei der entsprechenden verfassungsrechtlichen Prüfung auf mikroökonomische Steuerwirkungen abstellt und somit "überhaupt nur solche Gestaltungswirkungen [thematisiert], die bestimmte Grundrechtspositionen der Bürger tangieren können". 81 Steuergestaltungswirkungen sind in erster Linie an den
78
Vgl. dazu Birk (FN 5), Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 47 ff.
79
Ebenda, S. 53.
80
Vgl. ebenda, S. 68 ff.
81
Ebenda, S. 195.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
57
Verfassungsnormen der Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG [Freiheit der Berufswahl und Schutz des Eigentums] zu prüfen. 82 In einer sich anschließenden Prüfung sind sodann die aus gestaltungsbezogener Sicht verfassungskonformen Steuervorschriften auf ihre Belastungswirkungen hin zu untersuchen. Diese Prüfung kann zu dem Dilemma fuhren, daß die (intendierten) Gestaltungswirkungen mit der Verfassung in Einklang stehen, daß sie aber Aspekte der zuteilenden Gerechtigkeit nach Maßgabe des Leistungsfähigkeitsprinzips verletzen. 83 Dies wird in der Mehrzahl der durch das Steuerrecht wirkenden wirtschaftslenkenden Maßnahmen der Fall sein, weil sie j a ihre gestaltungsbezogene Wirksamkeit fundamental aus einer Variation der Belastungswirkungen der Steuer beziehen. Dann ist zu klären, ob diese Durchbrechung der zuteilenden Gerechtigkeit der Belastungswirkungen gerechtfertigt werden kann. Abgesehen von offenkundig schwerwiegenden Verletzungen der Belastungswirkungen, die letztlich zur Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Steuervorschriften fuhren, kann die Abweichung von den Belastungswirkungen eventuell verfassungsrechtlich toleriert, j a sie kann sogar verfassungsrechtlich geboten oder gegenüber der eher statischen Sicht der Belastungswirkungen bevorzugt sein. 84 Daraus ist zu schließen, daß es eine verfassungsrechtliche Rangfolge der Steuernormen gibt, die sorgfältig herauszuarbeiten ist. Anders gewendet: Es ergibt sich die Frage, in welchem Verhältnis die auf dem Leistungsfähigkeitsprinzip gegründeten Steuernormen zu anderen Steuernormen stehen. Birk geht dazu in zwei Schritten vor: 8 5 Von der Ausgangsstufe her ist das Leistungsfähigkeitsprinzip als ethisches Grundprinzip zunächst nur negativ und im Vergleich zu anderen Besteuerungsprinzipien wie etwa dem Äquivalenzprinzip abzugrenzen. Für die alternative und rangfolgemäßige Ableitung von Grundwerten aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip prägt Birk den Begriff der Primärableitungen. Ist das Leistungsfähigkeitsprinzip in der Ausgangsform auch vage und ist den Primärableitungen auch noch kein rechtssatzfähiger Charakter eigen, so ist die Spannweite des Gesetzgebers für alternative Wertentschei-
82 Vgl. ebenda, S. 202 if.; zur Norm des Alt. 14 GG auch Droschka (FN 75), Steuergesetzgebende Staatsgewalt, und Wolfgang Rüfher, Die Eigentumsgarantie als Schranke der Besteuerung, in: DVB1., 85. Jg. (1970), S. 881 ff. 83
Vgl. Birk (FN 5), Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 233.
84
Vgl. ebenda, S. 243.
85
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 54 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
58
düngen innerhalb der Primärableitungen doch angesichts der vorgegebenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen faktisch sehr begrenzt. Auf der zweiten Ebene sind die Primärableitungen zu rechtssatzfähigen Steuernormen zu verdichten (sog. Sekundärableitungen). Der Spielraum fur die Verwirklichung der Grundwerte ist hier erheblich höher, denn "es [gibt] meist eine Reihe erwägenswerter Alternativen, von denen der Gesetzgeber sich auf eine festlegen muß, sich aber im Grunde auch auf eine andere hätte festlegen können". 86 Die Sekundärableitungen entfalten mithin das Leistungsfähigkeitsprinzip im einzelnen und lassen es durch konkrete Ausprägungen als Normen sichtbar werden. Dies entspricht der Forderung von Tipke, wonach es "zur Ausführung des Leistungsfahigkeitsprinzips gehört, daß dieses Prinzip konsequent, geordnet, übersichtlich, terminologisch präzise und anschaulich zur Basis hin konkretisiert, d.h. zunächst in Subprinzipien und dann in gesetzliche Einzelnormen umgesetzt wird". 8 7 Erst die abgeleiteten konkreten Steuernormen ermöglichen es, die Folgerichtigkeit der Ableitungen zu überprüfen, sie anderen verfassungsrechtlichen Normen gegenüberzustellen und von daher zu übergreifenden Wertungen hinsichtlich etwaiger Rangfolgen und (Gesamt-)Zulässigkeiten zu kommen. Birks Resümee, daß sich also "das Leistungsfahigkeitsprinzip nach heutigem Rechtsverständnis in erster Linie als dem Gesetzgeber zur Entfaltung aufgegebenes Ordnungsprinzip [erweist]", 88 ist für Ökonomen indessen nichts Neues. Sämtliche Grundwerte sind zunächst negativ abzugrenzen und dann i m Verlaufe eines sukzessiven Ableitungsprozesses operational und quantitativ umzusetzen.89 Das Problem liegt aus der Sicht der theoretischen Wirtschaftspolitik darin, daß Politiker - aus später noch im einzelnen darzulegenden Gründen - so lange wie möglich eine konkrete Festlegung vermeiden und sich möglichst viele Optionen offenhalten wollen. Objektiv gesehen geht diese Neigung bis an den Rand der Problemverschleppung und oftmals darüber hinaus. Hinzu kommt, daß meistens nur sehr bescheidene Lösungsschritte bzw. Nonnkonkretisierungen vorgenommen werden, was einerseits freilich unter
86
Ebenda, S. 54.
87
Klaus Tipke, Die Steuergesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht des Steuerrechtswissenschaftlers, in: StuW, 53. (6.) Jg. (1976), S. 305. 88
Birk (FN 5), Leistungsfähigkeitsprinzip, S. 58.
89
Vgl. Herbert Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Wiesbaden 1961, S. 270 ff.
I. Entwickelte Besteuerungsnormen
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unsicheren Umweltbedingungen eine rasche, schadensbegrenzende Rücknahme falsch gewählter Mittel, andererseits Ergänzungen bei Schritten in die richtige Richtung erlaubt. 90 Allzu viele und allzu rasch aufeinander folgende Änderungen bergen freilich die Gefahr in sich, daß es immer mehr zu Inkonsistenzen in den Sekundärableitungen kommt und daß darüber hinaus das fur eine Gesellschaft notwendige Vertrauen in das Recht schwindet, denn: "Nur regelhafte, »eingebürgerte« Gesetze können als Recht eingesehen und gelebt werden. Permanente Gesetzesänderungen ohne Konzept und Regeln haben hingegen wenig Aussicht, sich als Verhaltensnormen zu etablieren und fuhren zu erheblichen Vollzugsdefiziten. " 9 1 Das Ergebnis der obigen Ausführungen ist wie folgt zusammenzufassen: Die Belastungs- und die Gestaltungswirkungen der Besteuerung stehen in zum Teil erheblichen Konfliktbeziehungen zueinander. Daher ist eine vertiefte Analyse und Bewertung erforderlich, die soweit wie möglich auf verfassungsrechtliche Auslegungen zurückgreifen müssen. Dies schließt indessen Dispute hinsichtlich konkreter steuerpolitischer Mittel nicht aus. In der späteren Analyse ist das Hauptaugenmerk daher auf die Bedingungen zu richten, unter denen sich konkrete Wirtschaftspolitik »ereignet«. Die aus der Sicht der jüngsten steuerrechtswissenschaftlichen Forschung abgeleitete Konkurrenz zwischen den Belastungs- und den Gestaltungswirkungen der Besteuerung spiegelt nicht nur den grundsätzlichen Konflikt zwischen Effizienz- und Verteilungszielen wider, sondern weist insgesamt auf die Interdependenz zwischen allokations-, distributions- und stabilitätspolitischen Zielsetzungen hin. Die allgemeinen Ziele der Besteuerung, nämlich wirtschaftliche Effizienz, verwaltungstechnische Einfachheit (Wohlfeilheit), Flexibilität, Transparenz und Gerechtigkeit 91 bedürfen vor dem Hintergrund der komplexen Beziehungen zwischen den drei Budgetbereichen einer Differenzierung, um die Wirkungen der Besteuerung genauer prüfen zu können. Eine solche Differenzierung liegt mit den von Neumark entwickelten Grundsätzen gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik vor. 9 3 Diese Besteuerungsgrundsätze sollen der weiteren Arbeit zugrunde gelegt werden, weil sie sich "bei großzügi-
90
Vgl. Zohlnhöfer (FN 53), Wirtschaftspolitische Willens- und Entscheidungsbildung,S. 57.
91
Klaus Tipke, Steuerrecht, 11. Aufl., Köln 1987, S. IX.
92
Vgl. Pechman (FN 27), Introduction, S. 2 ff.; Stiglitz, schaft, S. 408. 93
Neumark (FN 40), Grundsätze.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
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ger Interpretation unter die Kategorien »Effizienz« und »Verteilungsgerechtigkeit« subsumieren lassen, die das allgemeine Zielsystem der Optimalsteuertheorie ausmachen",94 weil sie auch die anderen Ansprüche an die Besteuerung ausfuhrlich behandeln und weil sie zur Beurteilung des konkreten deutschen Steuersystems als geeignet erscheinen. Die im einzelnen entwickelten Grundsätze der Steuerpolitik werden von Neumark in einem vierteiligen Schema aufgegliedert, wonach fiskalisch-budgetäre, ethisch-sozialpolitische, wirtschaftspolitische sowie steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze unterschieden werden. Ihre Verknüpfung mit den allokations-, distributions- und stabilisierungspolitischen Zielen sei vor der knappen Einzeldarstellung grob skizziert: - Die reine Finanzierung öffentlicher Aufgaben muß dem fiskalisch-budgetären Aspekt zugeordnet werden. Er stellt im einzelnen auf die Ausreichendheit, die Ergiebigkeit und die Anpassungsfähigkeit der Einnahmen ab. Auch muß die Steuererhebung verfassungskonform, zielkonform und kostenminimal sein. Der Finanzierungsaspekt umgreift, als notwendige Voraussetzung zur Erfüllung staatlicher Aufgaben, alle drei Bereiche der Musgrave 'sehen Dreiteilung. - Die Distributionsfunktion ist mit ethisch-sozialpolitischen Grundsätzen zu verknüpfen. Diese haben familiäre Aspekte der Bedarfsgerechtigkeit, der Existenz- und Einkommenssicherung, aber auch Friedens- und Freiheitsziele zum Inhalt. Vor allem aber stellen sie ausdrücklich auf eine gewollte, sozial erwünschte Umverteilung von Einkommen und Vermögen ab. - Die Allokationsfunktion ist hauptsächlich mit ordnungspolitischen Vorstellungen verbunden, d.h., es geht um die Frage, in welchem Rahmen, in welchem Umfang und mit welchem Inhalt die private und die staatliche wirtschaftliche Betätigung ablaufen soll. Damit sind Probleme der Leistungsgerechtigkeit, des Wirtschaftswachstums und der Strukturanpassungsfähigkeit angesprochen. - Die Stabilitäts- und Wachstumsfunktion führt schließlich zu prozeßpolitischen Überlegungen, dem Problembereich also, wann und in welcher Weise in den Prozeß des Wirtschaftsablaufs eingegriffen werden soll, um die wirtschaftspolitischen Oberziele der Preisniveaustabilität, der Vollbeschäftigung, des angemessenen wirtschaftlichen Wachstums und des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts erreichen zu helfen.
94
Wiegard
(FN 24), Neuere Entwicklungen, S. 111.
Π. Ausdifferenzierte Besteuerungsgrundsatze
61
Daß man der Vielzahl der damit angedeuteten Ziele, die im einzelnen unter mannigfachen Aspekten, etwa regionaler, sektoraler oder arbeitsmarktpolitischer Art, noch zu präzisieren sind, nicht mit einfach strukturierten Instrumenten gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Neben eine differenzierte, zielbezogene Einkommensbesteuerung müssen weitere Steuerarten treten, 95 die insgesamt zu einem möglichst rationalen Steuersystem verbunden werden müssen.
I I . Ausdifferenzierte Besteuerungsgrundsätze als Beurteilungsmaßstab der Besteuerung 1. Zur Funktion und Bedeutung ausdifferenzierter Besteuerungsgrundsätze Besteuerungsgrundsätze stellen immer etwas Normatives dar. Sie sind als Sollsätze aufzufassen, "die um der Verwirklichung bestimmter Ziele willen aufgestellt werden". 96 Der Vielgestalt der Ziele in modernen Gesellschaften entsprechend, muß auch ein ausdifferenziertes Maßstabsgefuge aufgebaut werden, an dem die Wirkung sowohl einzelner wie auch die zusammenfassende Wirkung der Steuern insgesamt beurteilt werden kann. Die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ziele nämlich können nur durch eine sinnvolle Kombination mehrerer Steuerarten, also durch ein angemessenes Steuersystem, realisiert werden, denn keine "denkbare Einzelsteuer, und sei sie theoretisch noch so rein und vollkommen konstruiert, ist in der Lage, sämtlichen oder auch nur den meisten Prinzipien zu genügen, von denen im folgenden die Rede sein w i r d . n 9 7 Bei näherem Zusehen entfalten Besteuerungsgrundsätze eine mehrfache Funktion. Einerseits erfordern sie immer wieder die Präzisierung von Zielen und steuerpolitischen Mitteln, andereseits mahnen sie den Gesetzgeber stets daran, daß den Steuergesetzen "Regeln (Prinzipien, Wertungen) zugrunde
95 Wie bereits erwähnt, ließe sich auch eine allgemeine Konsumsteuer anstelle der Einkommensteuer auf der Basis des Leistungsfahigkeitsprinzip denken. Der Realität des deutschen Steuersystems folgend, wird im weiteren jedoch nur auf die Einkommensteuer abgestellt, ohne daß damit ein Verdikt über eine allgemeine Konsumsteuer gefallt werden soll. 96
Neumark (FN 40), Gnindsatze, S. 15 f.
97
Ebenda, S. 4; vgl. auch Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 133.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
62
gelegt werden [müssen], an denen Gerechtigkeit gemessen werden kann". 98 Diese Regeln müssen sachgerecht und konsequent sein, damit sie als Verhaltensnormen erlebt und als Recht eingesehen und dauerhaft gelebt werden können. 99 Im heterogenen Interessengefuge moderner parlamentarisch-repräsentativer Demokratien müssen diese Regeln auch faire Kompromisse widerspiegeln bzw. ermöglichen, denn naturgemäß kommt es immer wieder zu sachlichen oder gruppenbezogenen Zielkonflikten. Erst indem genügend differenzierte Besteuerungsgrundsätze herausgearbeitet werden, wird auch das gesellschafts- und wirtschaftspolitische Konfliktpotential deutlich, das mit Hilfe von (Steuerrechts-)Regeln kanalisiert werden kann. 100
2. Grobübersicht der Besteuerungsgrundsätze nach Neumark Die folgende Übersicht 1 (S. 63) gibt den aufgegliederten Ausgangspunkt der Erarbeitung eines differenzierten Besteuerungsmaßstabs von Neumark an. 101 Die in der Übersicht gegebene Vierteilung der Besteuerungsprinzipien läßt auf die Interessenvielfalt in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie schließen. 102 M i t der ersten Gruppe von Prinzipien (fiskalisch-budgetäre Grundsätze) werden eingangs jene Postulate umrissen, deren Verwirklichung primär im Interesse des Steuergläubigers, des Staates also, liegt. M i t der zweiten Kategorie von Grundsätzen (ethisch-sozialpolitische Grundsätze) soll das Augenmerk auf die Bedürfhisse der Steuerpflichtigen gelenkt werden; stehen hier also eher einzelwirtschaftliche Grundsätze im Vordergrund, so stellen die wirtschaftspolitischen Grundsätze auf gesamtwirtschaftliche Aspekte ab. Gegenstand der steuerrechtlichen und steuertechnischen Grundsätze sind die nach vielen Richtungen ausgeprägten steuersystematischen Erwägungen über die zweckmäßige Art der Steuererhebung, die zugleich die Gesetzes- und Verfassungskonformität der Besteuerung hervorheben.
98 Klaus Τι pke, Von der Unordnung zur Neuordnung des Einkommensteuerrechts, in: Arndt Raupach, Klaus Tipke, Adalbert Deiner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts? Köln 1985, S. 134. 99
Vgl. ebenda, S. 134 f.
100
Vgl. Bradford
101
Vgl. zum Folgenden Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 45 f.
102
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 44 ff.
(FN 22), Untangling the Income Tax, S, 148 ff.
Π. Ausdifferenzierte Besteueningsgrundsatze
Übersicht 1
Besteuerungspolitische Grundsätze
I . Fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze 1. Grundsatz der Ausreichendheit der Steuererträge 2. Grundsatz der deckungspolitischen Anpassungs- und Steigerungsfahigkeit der Besteuerung I I . Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze 1. Generelle Gerechtigkeitspostulate a) Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung b) Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Besteuerung ( = Prinzip der Besteuerung nach der persönlichindividuellen Leistungsfähigkeit) 2. Das Redistributionspostulat (Grundsatz der steuerlichen Umverteilung von Einkommen und Vermögen) I I I . Wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze 1. Ordnungspolitische Prinzipien a) Grundsatz der Vermeidung steuerdirigistischer Maßnahmen b) Grundsatz der Minimierung steuerlicher Eingriffe in die Privatsphäre und in die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit von Individuen c) Grundsatz der Vermeidung ungewollter Folgen steuerlicher Beeinträchtigung des Wettbewerbs Prozeßpolitische Prinzipien 2. a) Grundsatz der aktiven Flexibilität der Besteuerung b) Grundsatz der passiven (»eingebauten«) Flexibilität der Besteuerung c) Grundsatz der wachstumspolitischen Ausrichtung der Besteuerung I V . Steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze 1. Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit der Steuermaßnahmen 2. Grundsatz der Steuertransparenz 3. Grundsatz der Praktikabilität der Steuermaßnahmen 4. Grundsatz der Stetigkeit des Steuerrechts 5. Grundsatz der Wohlfeilheit der Besteuerung 6. Grundsatz der Bequemlichkeit der Besteuerung
63
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
64
3. Zur Erläuterung der Besteuerungsgrundsätze im einzelnen a) Fiskalisch-budgetäre
Besteuerungsgrundsätze
Die Vielfalt allokativer, distributiver und stabilitätspolitischer Aufgaben zieht hohe Ausgaben nach sich. Dementsprechend richtet sich das Interesse des Staates auf genügend hohe Einnahmen, um der Aufgabenvielfalt gerecht zu werden. Dies Interesse wird im Grundsatz der Ausreichendheit der Steuererträge ausgedrückt, der sich sowohl auf eine einzelne Steuer wie auch auf das gesamte Steuersystem beziehen kann. Die Beurteilung der Frage, ob eine einzelne Steuer ausreichend hohe Einnahmen erbringt, kann notwendig sein, wenn es sich etwa um eine ganz oder überwiegend zweckgebundene Steuer handelt. Außerdem ist dieser Maßstab anzulegen, wenn der Anteil einer einzelnen Steuer oder einer Steuergruppe im Rahmen des gesamten Steueraufkommens bewertet werden soll, um die Struktur des Steuersystems zu beurteilen (z.B. das Verhältnis der indirekten zu den direkten Steuern). 103 Da sich Ausgabenwünsche - zumal in Gesellschaften der indirekten Demokratie - immer weiter steigern lassen,104 muß die Ausreichendheit der Steuererträge "auf ein als erwünscht oder notwendig angesehenes Ausgabenquantum bezogen " werden, das wiederum im parlamentarischen Willensbildungsprozeß von den "vorherrschenden politischen Vorstellungen bestimmt" wird. 1 0 5 Moderne Staaten sind in der Regel gegliederte Gemeinwesen mit mehreren politischen Ebenen. Eine sinnvolle Auslegung des Grundsatzes der Ausreichendheit kann sich also nicht nur auf den Gesamtstaat beziehen, sondern muß die Teilebenen mit berücksichtigen. Damit wird erkennbar, daß eine rationale Steuerpolitik auch einen rationalen Finanzausgleich erfordert. 106
103 104
Vgl. ebenda, S. 48.
Vgl. Thomas Wilson, Dorothy J. Wilson, London, Boston, Sydney 1982, S. 43 ff.
The Political Economy of the Welfare State,
105
Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 48 und S. 49; vgl. auch Richard Α. Musgrave, Leviathan Cometh - Or does he? In: Helen F. Ladd, T. Nicolaus Ήdeman (Eds.), Tax and Expenditure Limitations, Washington, D.C. 1981, S. 77 f. 106 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 52 f.; George F. Break, Tax Principles in a Federal System, in: Aaron, Boskin (Eds.) (FN 21), The Economics of Taxation, S. 317 ff. Im Rahmen dieser Arbeit wird zwar das föderative Element in der steuerpolitischen Willensbildung mit berücksichtigt, aus Umfangsgründen kann jedoch nicht auf den Finanzausgleich im einzelnen eingegangen werden. Die grundlegenden Aspekte eines rationalen Finanzausgleichs hat der Verf. kürzlich in einem Aufsatz behandelt; vgl. Siegfried F. Franke, Der Finanzausgleich: Problembereich im Spannungsfeld ökonomischer Rationalität und politischer Kompromißbildung, in: Hamburger Jahrbuch für Wiitschafts- und Gesellschaftspolitik, 34. Jg. (1989), S. 65 ff.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundsatze
65
Der Grundsatz der deckungspolitischen Anpassungsfähigkeit der Besteuerung bezieht dynamische Effekte mit in die Überlegung ein. Treten einmalige oder dauerhafte Mehrausgaben auf, so muß das Steuersystem in der Lage sein, Steuermehreinnahmen zu ermöglichen, ohne den Wirtschaftsablauf zu belasten und die Steuermoral zu untergraben. Das letztere setzt voraus, daß die Ausgabenerhöhung von der Bevölkerung gewünscht wird und daß der Zusammenhang zur Einnahmenerhöhung erkannt wird. Als grundsätzliche Möglichkeiten der Anpassung bieten sich die Variation von Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen sowie die Aufnahme neuer Abgaben ins Steuersystem an. 107 Dabei ist auf die Minimierung der durch diese steuerlichen Mittel verursachten »excess bürden« zu achten. 108
b) Ethisch-sozialpolitische
Besteuerungsgrundsätze
Die Behandlung der ethisch-sozialpolitischen Besteuerungsgrundsätze nimmt bei Neumark einen breiten Raum ein. 109 Sie können hier nur in groben Zügen nachgezeichnet werden. Dies ist möglich, weil die dahinter stehenden Gerechtigkeitsvorstellungen bei der Besprechung der vertikalen und der horizontalen Gerechtigkeit bereits ausführlich behandelt worden sind. Neumark unterteilt in ein generelles und in ein spezielles Gerechtigkeitspostulat. Das generelle Gerechtigkeitspostulat stellt auf die Allgmeinheit, die Gleichmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit der Besteuerung ab, während das spezielle die Forderung nach einer Umverteilung in den Mittelpunkt rückt. Der Allgemeinheitsgrundsatz der Besteuerung stellt darauf ab, daß die Steuerpflicht nicht nach außerökonomischen Kriterien differenziert wird. Ausnahmen dürfen nur im Rahmen einer Einzelabgabe bei Vorliegen eng umrissener wirtschafts- und gesellschaftspolitischer oder steuertechnischer Gründe zugelassen werden. 110 Dieser Grundsatz entspricht dem Willkürverbot nach Art. 3 GG. Neumark leitet daraus ferner ab, daß das Steuersystem im wesentlichen aus allgemeinen Abgaben wie modernen Einkommen- und Körperschaftsteuern,
107
Vgl. Neumark (FN 40), Gnindsatze, S. 63.
108
Trotz einiger Vorbehalte scheinen z.B. in Amerika die Wohlfahrtsverluste zwischen 20 v.H. und 50 v.H. des zusätzlich erzielten Steueraufkommens auszumachen; vgl. Wiegard (FN 24), Neuere Entwicklungen, S. 107 f. 109
Vgl. Neumark (FN 40), Gmndsätze, S. 67 - 221.
1,0
Vgl. ebenda, S. 75.
5 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
66
Vermögensteuern, Erbschaftsteuern und allgemeinen Umsatzsteuern bestehen muß. 111 »Spezielle« Steuern wie etwa Einzelverbrauchsteuern seien hingegen grundsätzlich zu vermeiden, sofern nicht - wie etwa bei gesundheitsabträglichen Produkten - paternalistische Überlegungen maßgebend sind. In diesem Zusammenhang lehnt Neumark Luxussteuern ab, weil es faktisch unmöglich sein dürfte, eine Legaldefinition des Luxusgutes zu geben. 112 Darüber hinaus ist einzuwenden, daß Luxussteuern zwar Bezieher höherer Einkommen treffen sollen, daß damit jedoch gleichzeitig allen anderen der Verbrauch solcher Güter erschwert wird, was einem massiven Eingriff in ihre Präferenzvorstellungen gleichkommt. 113 Auch die Ertragsteuern beurteilt Neumark skeptisch, weil sie zahlreiche Ausnahmen vom Allgemeinheitspostulat zulassen, so "daß die verschiedenen Produktionsfaktoren aus steuertechnischen Gründen eine andere Verwendung finden, als das ohne die spezielle Belastung einzelner dieser Faktoren der Fall wäre". 1 1 4 Das Gleichmäßigkeitspostulat bezieht sich ausschließlich auf Aspekte der horizontalen Gerechtigkeit. 115 Dieses Postulat stellt darauf ab, die maßgebenden Umstände des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, denn das Gleichmäßigkeitsprinzip verlangt eine gleiche steuerliche Behandlung nur bei Vorliegen auch gleicher oder vergleichbarer (Lebens-)Umstände.116 Ungleiche Umstände führen daher logisch zur (gewollten) ungleichen Besteuerung. 117 Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung findet seine konkrete Ausprägung also in den verschiedenen Maßnahmen der belastungsbezogenen Einkommensdifferentiation. Dieser Grundsatz ist leichter formuliert als konkret umgesetzt. In der Bestimmung dessen, was unter gleichen oder gleichartigen Umständen zu verstehen ist, bietet sich naturgemäß ein weites Feld für Diskussionen. Zudem ergeben
111
Vgl. ebenda, S. 88.
112
Vgl. ebenda, S. 77.
1,3
Vgl. Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 99.
114
Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 77.
1,5
Vgl. ebenda, S. 92.
116 Vgl. Α. B. Atkinson , Horizontal Equity and the Distribution of the Tax Burden, in: Aaron , Boskin (FN 21), The Economics of Taxation, S. 3 ff.; Bradford (FN 22), Untangling the Income Tax, S. 151. 1
Vgl. Neumark (FN 40), Gndsätze, S.
1 .
Π. Ausdifferenzierte Besteuerungsgrundsatze
67
sich aus steuertechnischen Gründen zum Teil unvermeidbare Abweichungen vom Grundsatz der Gleichmäßigkeit. Hier sind vor allem die Gestaltungsmöglichkeiten zu nennen, die unweigerlich mit der Gewinnermittlung nach den § § 2 Abs. 2 Nr. 1, 4 bis 7 EStG verbunden sind. Solche Möglichkeiten sind demgegenüber bei der Besteuerung von Einkünften, die dem Quellenabzugsverfahren unterliegen, nicht gegeben. Hinzu kommt die häufig angewandte Methode des Pauschalierens. Während einerseits die wirklichen (Rein-)Einkommen der Besteuerung unterliegen, werden andererseits oft Pauschalen oder äußere Merkmale als Basis der Besteuerung gewählt, die in der Regel unterhalb der tatsächlichen Beträge liegen. 118 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, daß das in Deutschland übliche Splittingverfahren bei der Besteuerung von Ehegatten zu eklatanten Verletzungen des Gleichmäßigkeitsgrundsatzes fuhren kann. 119 Gleichmäßigkeitserwägungen sind schließlich durch einige Regelungen der Umsatzsteuerbefreiungen verletzt, weil es nämlich von den variierenden Marktund Wettbewerbsgegebenheiten abhängt, ob und inwieweit die Begünstigungen an die Verbraucher, auf die die Umsatzbelastung letztlich zielt, weitergegeben werden. Intention und Effekt der Umsatzsteuerbefreiungen sind nach Tipke daher als diffus zu kennzeichnen.120 Der letzte Zweig des generellen Gerechtigkeitspostulates bezieht sich auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder - wie es Neumark auch bezeichnet - auf das Prinzip der Besteuerung nach der persönlich-individuellen Leistungsfähigkeit. 1 2 1 Dahinter verbirgt sich die heute weithin akzeptierte Vorstellung, daß die steuerliche Leistungsfähigkeit mit steigendem zu versteuerndem Einkommen überproportional steigt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit impliziert die Steuerprogression, wobei zu fragen ist, ob das gesamte Steuersystem progressiv wirken sollte oder ob nur die direkten Personalsteuern, in erster
118 Ganz eklatant ist dies z.B. immer noch bei der Besteuerung der Landwirtschaft der Fall. Vgl. §§ 13 Abs. 3, 13 a Abs. 3 bis 5, 15 Abs. 2, 34 e EStG; zur Bewertung des land- und forstwirtschaftlichen Vermögens vgl. 7ipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 464 ff. 119 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 113. Zu weiteren, vertieften Überlegungen und quantifizierten Effekten des Splittingverfahrens siehe Franke (FN 11), Indirekte Progression, S. 66 f., S. 123 ff. und S. 205 ff. Bei diesem Punkt ist freilich daraufhinzuweisen, daß sich Verletzungen der horizontalen und der vertikalen Gerechtigkeit verschränken können. Entsprechend moniert Neumark das Splittingverfahren auch unter Aspekten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (FN 40), Grundsätze, S. 150 ff. 120
Vgl. Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 557.
121
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 121.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
68
Linie die persönliche Einkommensbesteuerung, progressiv ausgelegt sein sollte. 122 Kurt Schmidt unterscheidet in diesem Zusammenhang die »kompensatorische« und die »absolute« Progression. Den ersten Fall bezieht er auf ein Progressionsausmaß in den wichtigsten Personalsteuern, also namentlich in der Einkommensteuer, das darauf ausgerichtet ist, die regressive Wirkung anderer Steuern abzugleichen und eine proportionale Gesamtsteuerbelastung der Einkommen herbeizuführen, während die absolute Progression auf eine progressive Gesamtsteuerbelastung der Einkommen abzielt. 123 In diesem Sinne plädiert Neumark fur eine absolute Progression, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit es gebiete, die einzelnen Bürger nach Maßgabe ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit an der Finanzierung aller Steuertraglasten zu beteiligen. Weil jedoch Maßstäbe der persönlich-individuellen Leistungsfähigkeit bei den Verbrauch- und den Ertragsteuern faktisch nicht anwendbar sind, ist zum Ausgleich eine spürbare Progression bei den Personalsteuern, besonders also bei der Einkommensteuer, erforderlich. 124 Nach diesen Ausführungen wird erkennbar, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Besteuerung gleichbedeutend ist mit dem oben bereits eingeführten Begriff der vertikalen Gerechtigkeit. Horizontale und vertikale Gerechtigkeit sollen gemeinsam eine sachgerechte und ethisch begründete Gleichbehandlung bei der persönlichen Zumessung der Steuerlasten ermöglichen. 125 Primärer Ansatzpunkt dazu ist die Einkommensbesteuerung; Maßstab der persönlich-individuellen steuerlichen Leistungsfähigkeit ist mithin das Einkommen. 126 Dieser Begriff kennzeichnet heute die Zusammenfassung aller einer Person innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zufließenden Einkünfte, womit erkennbar wird, daß der Einkommensbegriff auf der Reinvermögenszugangstheorie beruht. Gesellschafts- wie wirtschaftspolitische Gründe sprechen allerdings dafür, im Sinne einer gestaltungsbezogenen Einkommensdifferentiation bestimmte Einkunftsteile bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage
122
Vgl. ebenda, S. 127 ff.; vgl. auch Franke (FN 11), Einkommensbesteuerung, S. 28.
123
Vgl. Kurt Schmidt, Die Steuerprogression, Basel, Tübingen 1960, S. 2 f; vgl. dazu auch Franke (FN 11), Einkommensbesteuerung, S. 44 f. 124
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 129 f. und S. 135.
123
Vgl. Musgrave et al. (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 18.
126
Vgl. zum Folgenden Franke (FN 11), Einkommensbesteuerung, S. 79 ff., und die dort angegebene Literatur.
Π. Ausdifferenzierte Besteuerungsgrundsatze
69
auszunehmen. Wird das zu weit getrieben, so ergibt sich als problematische Konsequenz ein kasuistischer Einkommensbegriff. 127 Die aus dem vertikalen Gerechtigkeitsbegriff abgeleitete Progression stellt noch nicht auf das ausdrückliche Ziel einer Einkommensumverteilung ab. Hintergrund sind vielmehr gesellschaftspolitische Zielsetzungen, worunter vor allem Bedarfsgerechtigkeit, soziale Sicherheit und sozialer Frieden begriffen werden. 128 Freilich ist einzuräumen, daß sowohl diese Überlegungen wie auch der Umverteilungsgrundsatz, der im nächsten Abschnitt behandelt wird, die Steuerprogression immer nur dem Grundsatz nach fundieren können. Die Umsetzung in einen konkreten Steuertarif und in konkrete Steuervorschriften hinsichtlich der Bemessungsgrundlagen müssen schließlich neben steuerrechtlichen und steuertechnischen Aspekten vor allem wirtschaftspolitische Zielsetzungen mit berücksichtigen, die weiter unten noch behandelt werden. Da sozial- und gesellschaftspolitische Ziele in der Regel miteinander konfligieren, ist ein konkreter progressiver Steuertarif immer das Ergebnis von Kompromissen der hinter den verschiedenen Zielsetzungen stehenden gesellschaftlichen Kräfte. 129 Zur Lösung von Zieldivergenzen durch tragfähige Kompromisse bedarf es allerdings funktionsfähiger Mechanismen der politischen Willens- und Entscheidungsbildung. Das spezielle Gerechtigkeitsziel stellt explizit auf die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ab (Redistributionspostulat). Damit soll eine effektive Umverteilung der personellen Einkommens- und Vermögensverteilung bewirkt werden. Dieses Ziel wird als eines der fünf Grundziele der Wirtschaftspolitik moderner Interventionsstaaten begriffen. 130 Zwar wird es in § 1 des deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes nicht eigens aufgelistet, aber es ist in den programmatischen Äußerungen aller Parteien und vieler Verbände deutlich enthalten. Zudem prägt es die Vermögensteuer sowie die Erbschaft-
127
Vgl. z.B. die rund 60 Einzelaufzählungen der steuerfreien Einnahmendes § 3 EStG. Hinzu tritt noch die Steuerbefreiung bestimmter Zinsen und bestimmter Zuschläge zum Arbeitslohn (§§ 3 a, 3 b EStG). Dies bleibt im übrigen auch so in der ab 1990 geltenden Fassung des EStG. 128
Vgl. weiter dazu Franke (FN 11), Indirekte Progression, S. 31 ff.
129
Vgl. FfriedrichJ Hinterberger, M. Müller, H[ans]-G[eorg] Petersen, Simulation eines Ausgabensystems fur die Bundesrepublik Deutschland, Justus-Liebig-Universität Gießen, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Finanzwissenschaftliches Arbeitspapier Nr. 22, Aug. 1989, S. 1. 1
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S.
1 .
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
70
und Schenkungsteuer. 131 Außerdem steht es als leitendes Motiv hinter zahlreichen Transferleistungen und dem Angebot an meritorischen Gütern. 132 Die Umverteilung kann also nicht nur durch progressiv gestaltete Steuertarife bei den direkten Personalsteuern, sondern auch durch ausgabenpolitische Mittel und durch eine spezielle Vermögensbildungspolitik realisiert werden, 133 wenngleich Neumark deutlich hinzufügt, daß die Einkommensteuer i.w.S. das wichtigste Redistributionsinstrument bildet. 134 Die Umverteilung von Einkommen und Vermögen kann freilich nur dann aus ethischen Gründen zu einem wichtigen und akzeptierten Ziel der Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik werden, wenn die sich aus den Marktprozessen ergebende Primärverteilung als ungerecht empfunden wird. 1 3 5 Zunächst einmal richtet sich das Umverteilungsbegehren auf die Korrektur marktmäßig zustande gekommener Einkommen, wenn diese Ausfluß bestimmter Auswüchse sind. Jede real existierende Marktwirtschaft ist durch zum Teil unvermeidbare Marktunvollkommenheiten gekennzeichnet, die einerseits hohe Einkommen (Gewinne) ermöglichen, die auch bei großzügiger Auslegung der Leistungsgerechtigkeit nicht zu rechtfertigen sind, während andererseits die Produktion und Zurverfügungstellung auch der wichtigsten Güter oft nur kärgliche Einkommen bringt. Eine daraus sich ableitende Umverteilung wird um so stärker ausfallen, je stärker Solidaritätsüberlegungen ausgeprägt sind, die das ethische Ziel der Bedarfsgerechtigkeit nicht als rein physische Existenzsicherung, sondern als Möglichkeit einer umfassenden Persönlichkeitsentfaltung begreifen. Die Umverteilung von Einkommen und Vermögen ist darüber hinaus ein gesellschaftspolitisches Ziel, weil ein sozialer Ausgleich aus Gründen der inneren sozialen Sicherheit und Zufriedenheit wünschenswert ist. Eine so verstandene Umverteilung hat nichts mit Systemveränderung zu tun, sondern ist geradezu als systemstabilisierend anzusehen.136 Dem ist allerdings hinzuzu-
131
Vgl. Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 55.
132
Vgl. ebenda, S. 20; Manfred E. Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, 4. Aufl., Düsseldorf 1991, S. 162; Musgrave (FN 61), Finanztheorie, S. 14 ff. und S. 20 ff. 133
Vgl. Neumark (FN 40), Gmndsätze, S. 187 und S. 188.
134
Vgl. ebenda, S. 209.
133
Vgl. zum Folgenden Franke (FN 11), Einkommensbesteuerung, S. 40 ff.
136
So hielt schon Seligman die ethisch-sozialpolitische Begründung einer Umverteilung von Einkommen und Vermögen für geboten, soweit sie »social reforms« und nicht »socialism« meint; vgl. Edwin R. A. Seligman, Progressive Taxation in Theory and Practice, 2nd ed., [American Economic Association Quarterly, 3rd series, Vol. Κ , No. 4 (1908)], S. 130 ff. [S. 692 ff.].
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundsatze
71
fugen, daß etwa im letzten Jahrzehnt insbesondere im angelsächsischen Raum erhebliche Bedenken gegen die direkte Progression in der Einkommensteuer vorgetragen worden sind. 137 Dies etwa nicht nur, weil sie als »unfair« empfunden wird, sondern vor allem wegen ihrer effizienzverzerrenden Wirkung; fuhrt doch "ein Steuersystem im allgemeinen zu umso größeren Ineffizienzen, j e wirkungsvoller es bei der Umverteilung ist". 1 3 8
c) Wirtschaftspolitische
Besteuerungsgrundsätze
Neumark teilt die wirtschaftspolitischen Besteuerungsgrundsätze in ordnungspolitische Prinzipien einerseits und prozeßpolitische andererseits ein. Zu den ordnungspolitischen Prinzipien gehört vor allem der Grundsatz der Vermeidung steuerdirigistischer Maßnahmen, wonach sich die Steuerpolitik fiskaldirigistischer Eingriffe in die Marktwirtschaft enthalten soll. Selbst grundsätzliche Befürworter eines »Interventionsstaates« halten den Steuerdirigismus für kein Mittel sachgerechter Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, weil er die interdependenten Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft in vielfältiger und oft nicht vorhersehbarer Weise stört und Fehlallokationen hervorruft. 139 Zu den ordnungspolitischen Grundsätzen zählt Neumark weiter den Grundsatz der Minimierung steuerlicher Eingriffe in die Privatsphäre und in die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit von Individuen. Freiheitliche Zielsetzungen einerseits und die Beachtung der Konsumentensouveränität andererseits sind wesentliche Begründungselemente dieses Grundsatzes. 140 Er stellt in erster Linie darauf ab, ndas Eindringen der Finanzverwaltung in dieprivat-individuel-
Neuerdings gingen Bös und Wimann der Frage nach, ob und inwieweit es möglich ist, den Neid in einer Gesellschaft zu minimieren und zu einer möglichst neidfreien Allokation zu kommen; vgl. Dieter Bös, Georg Wimann, Neid und progressive Besteuerung, in: Karl-Heinrich Hansmeyer (Hrsg.), Staatsfinanzierung im Wandel, Berlin 1983, S. 637 ff. 137 Vgl. Aaron, Galper (FN 30), Assessing Tax Reform, S. 1 ff.; Bill Bradley, The Fair Tax; Jack Kemp , The Fair and Simple Tax, beide in Pechman (Ed.) (FN 27), New Tax Reforms, S. 80 ff. und S. 103 ff.; Edgar K. Browning, Taxation, Capital Accumulation, and Equity; Morgan O. Reynolds, Taxation, Saving, and Investment: A Look at the Evidence; Richard Κ Vedder, Tithing for Leviathan: The Case for a True Flat-Rate Tax, alle drei in: Dwight R. Lee (Ed.), Taxation and the Deficit Economy, San Francisco 1986, S. 19 ff., S. 49 ff. und S. 141 ff.; Joseph A. Pechman, The Future of the Income Tax, in AER, Vol. 80 (1990), S. 1. 138
Stiglitz,
139
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 222, S. 227, S. 230 und S. 232.
140
Schönfelder (FN 16), Finanzwissenschaft, S. 76; vgl. auch ebenda, S. 134 ff.
Vgl. Heinz Haller, Finanzpolitik, 5. Aufl., Tübingen, Zürich 1972, S. 136 ff.; vgl. Musgrave (FN 61), Finanztheorie, S. 15 f.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
72
len Verhältnisse der Pflichtigen sowie die steuerlich bedingte Einschränkung der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit der Individuen so gering zu halten, wie das die Beachtung der als übergeordnet anzusehenden fiskalisch-budgetären und gerechtigkeitsbezogenen Grundsätze sowie die der stabilisierungs- und wachstumspolitischen Prinzipien erlaubt". 141 In dieser Formulierung kommt das Spannungsverhältnis, in dem dieser Grundsatz steht, deutlich zum Ausdruck. Die Verwirklichung der horizontalen und der vertikalen Gerechtigkeit erfordert notwendigerweise Kenntnis über die individuell-privaten Umstände des einzelnen. Ein gewisses Eindringen in die Privatsphäre der Individuen ist unumgänglich, um die Besteuerung nach den bereits besprochenen Umständen zu ermöglichen und um Mißbrauchsmöglichkeiten und Manipulationen zu unterbinden. Kleinlich-bürokratische, dabei oft unergiebige Belästigungen der Pflichtigen durch die Steuerverwaltung sind jedoch zu vermeiden. 142 Und auf jeden Fall verstößt die Offenlegung der Steuerlisten - wie sie immer noch in Schweden üblich ist - gegen das Postulat des Schutzes der Privatsphäre, das verfassungsrechtlich durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verankert ist. Der letzte ordnungspolitische Grundsatz stellt auf die Vermeidung ungewollter Folgen steuerlicher Beeinträchtigungen des Wettbewerbs ab. Dieser Grundsatz verlangt, "daß die Steuerpolitik sich bei dem durch sie bewirkten Zwangstransfer ökonomischer Ressourcen ... von Privaten auf den Staat aller Eingriffe enthält, dieden Konkurrenzmechanismus des Marktes beeinträchtigen, es sei denn, solche Eingriffe wären erforderlich, um aus übergeordneten Gründen für erforderlich gehaltene Korrekturen der Ergebnisse vollkommenen Wettbewerbs zu bewirken oder um Unvollkommenheiten der Konkurrenz zu beseitigen bzw. zu mildern". 143 Hinter dieser Fassung steht die Überlegung, 144 daß der Wettbewerb in der Regel die individuellen Präferenzordnungen zur Geltung kommen läßt und wenigstens eine grobe Annäherung an eine optimale Allokation der Ressourcen ermöglicht. Insofern ist er als schützenswertes Grundelement der Wirtschaftsordnung zu begreifen. Bei näherem Zusehen entfaltet sich dieser Grundsatz in zwei Richtungen: Dort nämlich, wo Wettbewerbsprozesse kaum durch Unvollkommenheiten gestört sind, soll die
141
Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 256.
142
Vgl. ebenda, S. 254 und S. 252.
143
Ebenda, S. 266.
144
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 262 f.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundsatze
73
Steuerpolitik auch nicht in den Wettbewerbsmechanismus eingreifen. Eine konkurrenzfordernde Steuerpolitik wäre hingegen angezeigt, wenn "der Wettbewerb aus nichtfiskalischen Gründen unvollkommen ist und sich infolgedessen gesamtwirtschaftlich und/oder ethisch-sozial als nachteilig angesehene Konsequenzen ergeben". 145 Als ein Beispiel fur Eingriffe aufgrund gegebener Marktunvollkommenheiten nennt Neumark exemplarisch steuerliche Instrumente im Bereich der Verkehrspolitik. 146 Aus der ersten Zielrichtung des Grundsatzes der Wettbewerbsneutralität ergibt sich ein Argument fur eine Beseitigung aller Einzelverbrauch- und Verkehrsteuern einschließlich sog. Luxussteuern. Dies schließt wiederum nicht aus, daß fiskalische Beeinträchtigungen des Wettbewerbs aus übergeordneten gesellschaftspolitischen Gründen bewußt angestrebt werden (wie etwa eine prohibitiv wirkende Besteuerung gesundheitsabträglicher Genußmittel). Demgegenüber ist eine allgemeine Verbrauchsteuer (Umsatzsteuer) mit dem Neutralitätspostulat vereinbar, sofern sie als Allphasen-Nettoumsatzsteuer (Mehrwertsteuer) ausgestaltet ist. Bekanntlich wirkte die frühere Allphasen-Bruttoumsatzsteuer ausgesprochen konzentrationsfördernd in vertikaler Richtung. Offenkundig verstoßen auch die Ertragsteuern gegen das Postulat der Vermeidung von steuerlich bedingten Wettbewerbsbeeinträchtigungen. Besonders deutlich wird das bei der wichtigsten der Ertragsteuern, der Gewerbesteuer, die als Kostensteuer 147 wirkt und die durch die örtliche Differenzierung von Gemeinde zu Gemeinde klar wettbewerbsbeeinträchtigend ist; werden doch niedrige Hebesätze bei der Gewerbesteuer oft als gezieltes Instrument der Industrieansiedlung eingesetzt.148 Die Vermögensteuer widerspricht nach Neumark der Zielsetzung der Wettbewerbsneutralität nicht, sofern sie als rein nominelle Steuer ausgestaltet ist, nur natürliche Personen betrifft und einen proportionalen Steuersatz anwendet.
145
Ebenda, S. 262.
146
Vgl. ebenda, S. 263.
147 Nach der rechtlichen Definition (§ 3 AO) und der erläuterten Erklärungskraft des Äquivalenzprinzips sind Steuern keine Zahlungen fur besondere Gegenleistungendes Staates. Dennoch zählen sie betriebswirtschaftlich gesehen dann zu den Kosten, wenn sie der Aufrechterhaltung der Leistungsbereitschaft oder direkt der Leistungserstellung dienen; vgl. Siegfried Hummel, Wolf gang Männel, Kostenrechnung 1 , 2 . Aufl., Wiesbaden 1980, S. 95; Carl-Christian Freidank, Kostenrechnung, 4. Aufl., München, Wien 1992, S. 107 f. 148
S. 268.
Vgl. Franke (FN 5), Rationale Besteuerung, S. 17 f.; Neumark (FN 40), Grundsätze,
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
74
Außerdem sind die verschiedenen Vermögensarten zeitnah und genau zu bewerten. 149 Sofern die Einkommensteuer nicht mit einer Fülle systemwidriger Elemente durchsetzt ist, sondern ausschließlich oder doch zumindest überwiegend danach trachtet, die persönlich-individuelle Leistungsfähigkeit zu erfassen und darauf aufbauend die Steuerlast entsprechend individuell zuzumessen, sind keine konkurrenzmindernden Einflüsse anzunehmen. Natürlich drosselt die Einkommensteuer - ceteris paribus - die private Nachfrage, aber dies betrifft "insofern keine speziellen Branchen, als die Entscheidung darüber, bei welchen Gütern die private Nachfrage gedrosselt wird, von den Haushalten in optimaler Weise in Anpassung an die neue Einkommenssituation gemäß den vorhandenen Präferenzen getroffen wird". 1 5 0 Hinsichtlich der Körperschaftsteuer urteilt Neumark, daß eine Wettbewerbsbeeinträchtigimg dann nicht eintritt, wenn sie so konstruiert ist, daß nicht nur der Konkurrenzmechanismus zwischen Körperschaften selbst, sondern auch der zwischen ihnen insgesamt und einkommensteuerpflichtigen Einzelunternehmen nicht beeinträchtigt wird. 1 5 1 Dies ist jedoch bei der heutigen Ausgestaltung der Körperschaftsteuer nicht gewährleistet. 152 Die prozeßpolitischen Prinzipien der Besteuerung umfassen den konjunkturellen Verlauf einerseits und die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums andererseits. Zwar besteht ein breiter Konsens darüber, daß es zur Verwirklichung eines ausgeglichenen Konjunkturverlaufs und eines ausgewogenen, stetigen Wachstums einer sorgfältig abgestimmten Politik bedarf, doch klaffen die Auffassungen über die instrumentale Umsetzung dieser Ziele erheblich auseinander, was sich nicht zuletzt in der faktischen Nichtanwendung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zeigt. Abgesehen von der Tatsache, daß selbstverständlich auch die zuvor besprochenen ordnungspolitischen Grundsätze der Besteuerung Wirkungen auf den Wirtschaftsprozeß haben, so besteht grundsätzlich die Möglichkeit, entweder von Fall zu Fall aktiv in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen, d.h. diskretio-
149
Vgl. ebenda, S. 268 f.; Franke (FN 5), Rationale Besteuerung, S. 16.
130
Haller (FN 39), Die Steuern, S. 225.
131
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 271.
152
Vgl. Franke (FN 5), Rationale Besteuerung, S. 14 f.; Dieter Schneider, Grundzüge der Unternehmensbesteuerung,5. Aufl., Wiesbaden 1990, S. 157 ff.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundsatze
75
näre Politik zu treiben, oder auf die Wirkung automatischer Stabilisatoren zu vertrauen. 153 Neumark unterscheidet deshalb eine aktive und eine passive Flexiblität der Besteuerung. Diese Zweiteilung bezieht sich in erster Linie auf den Konjunkturverlauf der Wirtschaft. Als ein Beispiel der aktiven Flexibilität sei die Möglichkeit erwähnt, durch einfache Rechtsverordnung die Einkommensteuer um bis zu 10 v.H. zu erhöhen oder zu senken. 154 Der Grundsatz der aktiven Flexibilität greift jedoch weit über die Variation der Einkommensteuer hinaus; er stellt vielmehr darauf ab, "die Steuerpolitik durch eine entsprechende Gestaltung der Steuersystemstruktur und der Besteuerungsverfahren einerseits, der politisch-rechtlichen Befugnisse zu einer konjunkturgerechten, die annähernde Stabilität von Geldwert und Beschäftigung sichernden Variation der Steuerlasten andererseits in die Lage zu versetzen, sowohl inflatorischen als auch deflatorischen Entwicklungstendenzen zu begegnen". 155 Dies ist eine sehr weitreichende Begriffsfassung der aktiven Flexibilität und es ist daher leicht einsehbar, daß "eine aktiv flexible Steuerpolitik mit stabilitätspolitischen Zielen nur vom (Zentral-) Staat betrieben werden kann". 156 Die aktive Flexibilität setzt an der Veränderung des Steuersatzes oder der Bemessungsgrundlage geeigneter Steuern an. 157 Wegen der Größenordnungen, um die es bei konjunkturell bedingten ad hoc-Variationen in entwickelten Volkswirtschaften geht, können dafür nur »große« Steuern in Betracht kommen. Aus diesem Grunde sind die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer sowie die allgemeine Umsatzsteuer zu nennen. Hinzu treten könnte ein Bündel relativ ertragreicher Einzelverbrauchsabgaben. Allerdings ist hinzuzufügen, daß - sofern nicht besondere gesellschaftspolitische Gründe vorliegen die meisten Verbrauchsteuern als obsolet anzusehen sind. Hinzu kommt, daß gegen ihre Veränderung einerseits Gründe der Verteilungsgerechtigkeit sprechen, andererseits würden Verbrauchsteuererhöhungen im Boom Preissteigerungstendenzen verstärken, während in der Rezession sehr zweifelhaft ist, ob Verbrauchsteuersenkungen an die Konsumenten weitergegeben werden. Auch die Variation der Besteuerung auf besonders gesundheitsabträgliche Genuß-
153
Vgl. Schmidt (FN 123), Steuerprogression, S. 77.
134
Vgl. § 26 Nr. 3 b StWG.
155
Neumark (FN 40), Grundsatze, S. 285.
136
Ebenda, S. 285; vgl. auch Teichmann (FN 71), Konjunkturpolitik, S. 159 ff.
157
Vgl. zum Folgenden Neumark (FN 40), S. 286 f.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
76
mittel kann kein sinnvolles Mittel der Konjunkturpolitik sein. Andere Steuern schließlich wie die Gewerbesteuer, die Mineralölsteuer oder die Vermögensteuer sind auszusondern, weil sie sich grundsätzlich nicht zu kurzfristigen konjunkturellen Maßnahmen eignen oder weil die erforderliche Veränderung innerhalb politisch-psychologischer Grenzen nicht möglich ist. Die Hauptansatzpunkte der aktiven Flexibilität sind also die Einkommen- und die Körperschaftsteuer. Die nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gegebene Möglichkeit einer Erhöhung oder Senkung der Einkommensteuer um bis zu 10 v.H., um die private Nachfrage zu drosseln oder anzuregen, ist bereits erwähnt worden. Eine weitere Möglichkeit ist die Variation der Bemessungsgrundlage im weitesten Sinne. Z.B. käme eine Variation der persönlichen Freibeträge in Betracht. Allerdings sprechen "gewichtige administrative und psychologisch-politische Überlegungen gegen eine alternierende, lediglich zur Milderung von Wirtschaftsschwankungen vorgenommene Einbeziehung von Millionen kleiner Einkommensbezieher in die Steuerpflicht und ihre Herausnahme aus dieser". 158 Hinzu kommt, daß solche Eingriffe kaum mit den oben entwickelten Gerechtigkeitspostulaten in Einklang zu bringen sind. Was mögliche Manipulationen der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer anlangt, um die Investitionstätigkeit zu beeinflussen, so ist ebenfalls anzumerken, daß damit gegen Gerechtigkeitspostulate verstoßen wird. 1 5 9 In diesem Bereich erstreckt sich die aktive Flexibilität auf die Beeinflussung der Abschreibungsmöglichkeiten und auf die Gewährung von Investitionsprämien. Viele der vor diesem Hintergrund im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vorgesehenen und inzwischen darüber hinaus erfolgten Regelungen lassen sich jedoch nicht nur auf den stabilitätspolitischen Aspekt beschränken; sie verfolgen darüber hinaus struktur- und wachstumspolitische Zielsetzungen und sind im Sinne der oben in Anlehnung an Birk geprägten Terminologie als gestaltungsbezogene Einkommensdifferentiation zu begreifen. So kann die Investitionsgüternachfrage durch die Gewährung einer nach § 26 Nr. 3 a StWG möglichen Investitionsprämie in Höhe von bis zu 7,5 v.H. der Anschaffungsund Herstellungskosten angeregt werden. Diese Prämie wird auf Antrag von der Einkommensteuer bzw. der Körperschaftsteuer abgezogen (§ 27 Nr. 2 StWG). Im Gegensatz zu den Sonderabschreibungen, die lediglich zu Liquiditätsvorteilen durch eine Verlagerung der Steuer fuhren, ist die Investitions-
158
Ebenda, S. 293.
159
Vgl. ebenda, S. 293.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundsatze
77
prämie eine endgültige Steuerersparnis. Dies bedeutet jedoch, daß diese Maßnahme bei Verlusten nicht genutzt werden kann. Die Wirkung der Investitionsprämie war daher gering. Eine Verbesserung versprach sich der Gesetzgeber durch gewinnunabhängige Investitionszulagen. Eine solche Investitionszulage konnte erstmalig im Zeitraum vom 1. Dezember 1974 bis zum 30. Juli 1975 in Anspruch genommen werden. Das Investitionszulagengesetz verfolgte jedoch nicht nur konjunkturpolitische Ziele (§ 4 b InvZulG 1982), sondern auch strukturpolitische (z.B. Förderung des Zonenrandgebietes : § 1 InvZulG 1982) sowie wachstumspolitische Ziele (Förderung von Forschung und Entwicklung, § 4 InvZulG 1982). 160 Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sieht allerdings keine direkten weiteren Maßnahmen wie z.B. die Verbesserung der Abschreibungsmöglichkeiten zur Belebung der Investitionsnachfrage vor. Umgekehrt ist allerdings beim konjunkturellen Boom eine Erschwerung der Abschreibungsmöglichkeiten vorgesehen. Der Gesetzgeber kann jedoch den Weg über gesonderte Gesetze oder Verordnungen zur Belebung der Wirtschaftstätigkeit gehen.161 Eine Dämpfung der Investitionsgüteraachfrage ist nach § 26 Nr. 3 b StWG möglich, indem die Bundesregierung durch eine Rechtsverordnung die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen oder die Möglichkeit der degressiven Abschreibung aussetzt. Beide Maßnahmen erhöhen - ceteris paribus - kurzfristig die Steuerschuld und verringern so die Nettogewinne der Unternehmen. Der finanzielle Rahmen für weitere Investitionen und für Lohnzugeständnisse (Lohndrift) wird damit beschnitten. Dies kann sich weiter auf die Konsumgüternachfrage auswirken. Wie oben erwähnt, hält Neumark auch eine Variation der allgemeinen Umsatzsteuer als Instrument der wirtschaftspolitischen Stabilisierung für möglich. Bislang erfolgten jedoch stets nur Anhebungen des Steuersatzes in diesem Bereich, wobei sehr häufig weniger stabilitätspolitische als vielmehr haushaltspolitische Gründe maßgebend waren. 162 Zu hoch getriebene Umsatzsteuersätze rücken allerdings die Gefahr hemmender Einflüsse auf die Wirtschafts-
160 Art. 6 des Steuerreformgesetzes 1990 sieht die Abschaffung des Investitionszulagengesetzes vor, weil es ohnehin nur noch von wenigen großen Unternehmen in Anspruch genommen wurde und kleineren und mittleren Unternehmen nicht zugute kam. Strukturpolitische Ziele sollen jedoch - z.B. durch die Verbesserung des Zonenrandförderungsgesetzes - weiter angestrebt werden. 161 162
Vgl. im einzelnen dazu Franke (FN 5), Rationale Besteuerung, S. 11 f.
Vgl. Rudolf K.-H. Dennerlein, Die Belastungs- und Verteilungswirkungen der indirekten Steuern in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1982, S. 21.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
78
tätigkeit näher. Sie senken die Steuermoral, indem sie zur Steuerhinterziehung und zur Schwarzarbeit anreizen. Außerdem ist festzustellen, daß die Argumente, die gegen eine konjunkturell veranlagte Variation der Verbrauchsteuern sprechen, im Grunde auch fur die allgemeine Umsatzsteuer gelten. Inzwischen werden die Möglichkeiten der aktiven Flexibilität skeptischer beurteilt. 163 Vor allem ist darauf hinzuweisen, daß hinter diesen Vorschlägen und Instrumenten explizit oder implizit theoretische Vorstellungen über die Wirksamkeit staatlich angeregter Multiplikatoreffekte stehen. Eine solche Wirksamkeit ist jedoch unter den Bedingungen arbeitsteiliger, föderalistisch gegliederter Staaten mit starken außenwirtschaftlichen Verflechtungen und einem differenzierten Steuersystem nicht gegeben.164 Hinzu kommt schließlich, daß unter den Bedingungen einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie mit zu langen Entscheidungszeiten gerechnet werden muß. 165 Tatsächlich ist in der Vergangenheit kaum eine konjunkturpolitische Maßnahme rechtzeitig und im erforderlichen Umfange getroffen worden. Die Möglichkeiten des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes sind daher zunehmend nüchterner betrachtet worden. Unter diesen Umständen kommt der passiven Flexibilität der Besteuerung eine besondere Bedeutung zu. Die passive Flexibilität stellt im wesentlichen auf die theoretisch möglichen automatischen Stabilisierungswirkungen der built-in flexibility einer Steuer ab, die hauptsächlich von der wertmäßigen Menge der Besteuerung in Relation zum Bruttosozialprodukt und von der Aufkommenselastizität der Steuer in bezug zum Bruttosozialprodukt abhängt. 166 Daraus ist abzuleiten, daß hauptsächlich die Einkommensteuer als built-in stabilizer in Frage kommt. Die Wirkungskette der automatischen Konjunkturstabilisierung greift jedoch dann nicht oder wirkt sogar prozyklisch, wenn es dem Staat nicht gelingt, in Boomzeiten zusätzlich eingenommene (Einkommen-)Steuern stillzulegen, und wenn Rezessionsphasen mit inflatorischen Tendenzen (sog. Stagflation) gekop-
163
Vgl. z.B. Teichmann (FN 71), Konjunkturpolitik, S. 247 ff.
164
Vgl. im einzelnen dazu Siegfried F. Franke, Konjunkturelle Wirksamkeit, Umfang und politische Durchsetzbarkeit staatlicher Beschäftigungsprogramme, in: Karl-Heinrich Büchner, Wilhelm Nöth (Hrsg.), Beamtenausbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt (Main) u.a.O., 385 ff. 165 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 288; Schmidt (FN 123), Die Steuerprogression, S. 70; Ulrich Teichmann, Wirtschaftspolitik, 3. Aufl., München 1989, S. 214 ff.; ders. (FN 71), Konjunkturpolitik, S. 245 ff. 166
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 301.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgndstze
79
pelt sind. 167 Des weiteren ist zu erwähnen, daß sich die theoretisch mögliche Wirksamkeit der built-in flexibility in der Einkommensteuer nur bei zeitnaher Veranlagung entfalten kann. Dies ist aus vielerlei, vor allem auch steuerverwaltungsinternen Gründen nicht gewährleistet, was prozyklische Folgen nach sich ziehen kann. 168 Die Möglichkeiten der passiven Flexibilität als steuerpolitisches Mittel zur automatischen Beeinflussung des Wirtschaftsprozesses werden daher inzwischen recht skeptisch beurteilt. 169 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Wirkungsmöglichkeiten der aktiven und der passiven Flexibilität stark zu relativieren sind. Damit liegt der Schluß nahe, daß den ordnungspolitischen Prinzipien und dem noch zu besprechenden wachstumspolitischen Grundsatz der Besteuerung große Bedeutung zuzumessen sind. Nach dem Grundsatz der wachstumspolitischen Ausrichtung der Besteuerung soll die Steuerpolitik im ganzen wie im einzelnen so gestaltet werden, daß sie einerseits keine wachstumshemmenden Wirkungen ausübt und andererseits eine langfristig angemessene Wachstumsrate gewährleistet. 170 Grundsätzlich erfordert die wachstumspolitische Zielsetzung der Besteuerung, daß sich die einzelnen Steuern in ihrer Wirkungsrichtung nicht wechselseitig behindern. Eine allgemeine Senkung der Einkommen- und der Körperschaftsteuer aus wachstumspolitischen Gründen könnte zum Beispiel durch eine drastische Anhebung der Hebesätze bei der Gewerbesteuer oder durch eine Anhebung der Vermögensteuer konterkariert werden. Des weiteren sind übersteigerte Spitzensteuersätze wie auch die in der Regel damit einhergehenden Ausweichmöglichkeiten zu vermeiden, weil diese Kombination meistens zu einer beträchtlichen Fehlallokation der Ressourcen fuhrt. 171 Daran anknüpfend ist die Forderung nach Stetigkeit zu erwähnen; ein allzu häufiger Wechsel von Steuersätzen oder Bemessungsgrundlagen wirkt sich störend auf die Wirtschaftstätigkeit aus.
167
Vgl. dazu Franke (FN 11), Einkommensbesteuerung, S. 49 f.
168
Vgl. Teichmann (FN 165), Wirtschaftspolitik, S. 212; ders. (FN 71), Konjunkturpolitik,
S. 245. 169 Vgl. Fritz Neumark, Wandlungen in der Beurteilung eingebauter Steuerflexibilität, in: Kyklos, Vol. 32 (1979), S. 177 ff. 170 171
Vgl. ders. (FN 40), Grandsätze, S. 317.
Vgl. Buchanan, Brennan (FN 21), Tax Reform without Tears, S. 35; Francesco Forte, Alan Peacock, Tax planning, tax analysis and tax policy, in: Alan Peacock, Francesco Forte (Eds.), The Political Economy of Taxation, New York 1981, S. 5 f.; Christian Seidl, Krise oder Reform des Steuerstaates? In: StuW, 64. (17.) Jg. (1987), S. 191 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
80
Ferner verstößt die gezielte steuerliche Förderung einzelner Wirtschaftszweige gegen Gerechtigkeitsziele. 172 Da sich ex post Investitionen und Sparen entsprechen, kann die steuerliche Begünstigung des Sparens als gezielte Maßnahme zur Förderung des Wachstums begriffen werden. Bekanntermaßen wird ein großer Teil der Sparforderung über einkommensgebundene Sparprämien abgewickelt. An diesem Beispiel wird im übrigen deutlich, daß steuerliche Eingriffe nur eine sekundäre Rolle als wachstumspolitische Instrumente spielen. Viel größere Bedeutung kommt ausgaben- und kreditpolitischen Maßnahmen zu. 1 7 3 Außerdem ist die steuerpolitische Förderung von Forschungs- und Entwicklungsaufgaben von besonderer wachstumspolitischer Bedeutung.174 Die Entwicklung der Wirtschaft hängt zu einem wesentlichen Teil von der Ausbildung und der Mobilität des Faktors Arbeit ab. 175 Die Förderung des Faktors Arbeit stellt daher ein wichtiges steuerpolitisches Ziel dar. 1 7 6 Aus verteilungspolitischer Sicht läßt sich in diesem Zusammenhang ein weiteres Argument für eine progressive Einkommensteuer herleiten. Bezieher geringer Einkommen werden nämlich durch ihre unzureichende Ausbildung und die einkommensbedingte Immobilität daran gehindert, einen hohen Produktivitätsgrad zu erreichen, woraus sich gesamtwirtschaftliche Wachstumsverluste ergeben. Daraus schließt Schmölders, "daß eine effiziente Politik der Einkommensverteilung für die Volkswirtschaft als ganzes längerfristig nicht nur keine Belastung, sondern einen Produktivitäts- und damit Wohlfahrtsgewinn darstellen würde". 1 7 7 Es ist allerdings nicht einfach, empirische Belege für die Wirksamkeit einer solchen Politik zu liefern, 178 weil die positiven Effekte der Begünstigten gegen mögliche nachteilig wirkende Reaktionen der Belasteten aufgerechnet werden müßten. 179 Selbst wenn institutionelle und familiäre Hemmnisse ein geringeres Arbeitsangebot nicht erlauben, ist doch mit einem
172
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 313.
173
Vgl. ebenda, S. 312 f.
174 Auf Möglichkeiten einer solchen Förderung wurde bereits hingewiesen; vgl. Franke (FN 5), Rationale Besteuerung, S. 11 f. 173
Vgl. Barry P. Bosworth, Tax Incentives and Economic Growth, Washington, D.C. 1984,
S. 130. 176
Zu konkreten Födeningsmöglichkeitenvgl. Neumark (FN 40), S. 320 f.
177
Günter Schmölders, Finanzpolitik, 3. Aufl., Berlin u.a.O. 1970, S. 251.
178
Vgl. Bosworth (FN 175), Tax Incentives, S. 141 ff.
179
Vgl. dazu auch Stiglitz,
Schönfelder
(FN 16), Finanzwissenschaft, S. 452 ff.
Π. Ausdifferenzierte Besteuengsgrundstze
81
Sinken der intrinsischen Motivation zu rechnen, wie Kay/King mit Blick auf die schlechte Qualität des englischen Managements bemerken. 180 Auch ist darauf zu achten, daß im Zusammenwirken des redistributiv motivierten Transfer- und Steuermechanismus keine Umkippeffekte entstehen, die untere Schichten in einer Art »poverty trap« halten können. 181
d) Steuerrechtliche
und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze
Die letzte Kategorie von Besteuerungsgrundsätzen beruht auf der Tatsache, daß jedes Steuersystem historisch gewachsen und das Ergebnis von politischsozialen Kompromissen ist. 1 8 2 Daraus erklären sich etliche Mängel sowohl bei der Ausgestaltung von Einzelsteuern wie auch in der Gesamtwirkung des Steuersystems. Die fortschreitende Erkenntnis über finanzwirtschaftliche Zusammenhänge und die generelle Forderung nach der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung führen zum Grundsatz der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit, nach dem offenkundige Lücken und eklatante Widersprüche zu den bisher bereits besprochenen Prinzipien abgebaut werden müssen. Auch darf es nicht zu Überschneidungen, also steuerlichen Mehrfachzugriffen auf denselben Tatbestand, kommen. Als exemplarische Beispiele für solche Systemwidrigkeiten nennt Neumark 193 Umgehungsmöglichkeiten der Erbschaftsteuer und das Fehlen einer Schenkungsteuer in England, das Fehlen einer Quellensteuer auf Kapitaleinkünfte, immer noch bestehende Spezialakzisen (wie etwa die Biersteuer, die zudem - obwohl als Verbrauchsteuer gedacht - progressiv nach dem Bierausstoß ausgelegt ist) und vor allen Dingen die Erhebung von Ertragsteuern wie Grund- und Gewerbesteuer. Die Beseitigung der angedeuteten Schwächen im Steuersystem würde gleichzeitig dem Grundsatz der Steuertransparenz entsprechen, der darauf abstellt, "die Steuergesetze i. w. S. ... so zu gestalten, daß sie das technisch und rechtlich mögliche Höchstmaß an Gemeinverständlichkeit aufweisen und ihre Vorschriften derart eindeutig und bestimmt sind, daß sie Zweifel über Rechte und
180
Vgl. Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 34.
181
Vgl. ebenda, S. 66 ff.
182
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 335.
183
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 337 ff., S. 340. Mit der »Capital Transfer Tax« von 1975 wurde die durch das Fehlen einer Schenkungsteuer bestehende Lücke allerdings geschlossen. 6 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
82
Pflichten der Steuerzahler bei diesen selbst ebenso wie bei den Steuerverwaltungsbehörden und damit Willkür Abgaben ausschließen".
bei der Veranlagung
und Erhebung von
184
Die letzten Ausführungen leiten über zum Grundsatz der Praktikabilität, wonach die Steuern unter den jeweils gegebenen institutionellen und fachlichen Kapazitäten effizient anwendbar sein sollen. 185 Unnötige Komplizierungen im Steuersystem sind ebenso zu vermeiden wie Kann-Vorschriften und unbestimmte Rechtsbegriffe. Zudem bedarf es eines Mindestmaßes an freiwilliger, auf Einsicht gegründeter Mitwirkung der Mehrzahl der Steuerpflichtigen. Die Neigung zur Mitarbeit kann durch überschaubar und praktikabel formulierte Gesetze und Hilfsmittel gefordert werden. 186 Die letzten Grundsätze nach Neumark sind die der Stetigkeit, der Wohlfeilheit und der Bequemlichkeit. ,87 Nach der Stetigkeitsforderung sollen die steuerrechtlichen Normen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, um die jeweils mühsame Erarbeitung von relevanten Vorschriften des Steuerrechts für die Steuerpflichtigen nicht alsbald wieder zu entwerten, was insbesondere die wirtschaftliche Disposition von Unternehmen beeinträchtigen würde. 188 Dieser Grundsatz entspricht der Feststellung von Tipke, daß nur als regelhaft erkannte Gesetze als Recht eingesehen und gelebt werden können. 189 Etwaige Änderungen sollten nur in größeren Zeitabständen und im Rahmen einsehbarer, konzeptionell-systematischer Reformen vorgenommen werden. 190 Kurzfristige Änderungen der Steuernormen sind nur aus Gründen der Anpassungsfähigkeit und der aktiven Flexibilität bei dafür geeigneten Steuern akzeptabel.191
184
Ebenda, S. 344.
183
Vgl. Bradford
(FN 22), Untangling the Income Tax, S. 266 ff.
186
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 358 und S. 363. So ist z.B. die Ausarbeitung von Steuertabellen von technisch großer Bedeutung für die Bereitschaft und Fähigkeit kleiner und mittlerer Betriebe gewesen, beim Quellenabzugsverfahren der Lohnsteuer mitzuwirken; vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 359 f. 187
Vgl. auch Bradford
188
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 365.
(FN 22), Untangling the Income Tax, S. 266.
189
Vgl. Tipke (FN 91), Steuerrecht, S. I X . In diesem Zusammenhang ist auch an das zusammenfassende konstituierende Prinzip der Konstanz der Wirtschaftspolitik von Euchen zu erinnern; vgl. Eucken (FN 68), Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 285 ff. 190
Vgl. Tipke (FN 91), Steuerrecht, S. IX; vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 365.
191
Vgl. ebenda, S. 365.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
83
Das Postulat der Wohlfeilheit hebt hervor, "daß die mit der Veranlagung, Erhebung und Kontrolle verbundenen Aufwendungen sei es der Finanzbehörden, sei es der Pflichtigen insgesamt nicht das Mindestmaß überschreiten, das sich bei gebührender Beachtung der übergeordneten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Ziele der Besteuerung als erforderlich erweist \ 1 9 2 Die Forderung nach Kostenminimalitat bei der Steuererhebung sollte jedoch nicht dazu verleiten, veraltete, systemwidrige Steuern beizubehalten, nur weil die Erhebungskosten sehr niedrig sind. 193 Der abschließend behandelte Grundsatz der Bequemlichkeit der Besteuerung soll den Pflichtigen - soweit nicht übergeordnete Prinzipien entgegenstehen die notwendige Mitarbeit bei Steuerberechnung soweit wie möglich erleichtern. 194 Auch ist darauf zu achten, daß Erleichterungen für eine Gruppe von Steuerpflichtigen nicht zu Erschwernissen für andere Gruppen führen. 195
I I I . Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems 1. Zur allgemeinen Problematik der Zielkonflikte Zwar ergänzen sich die Aufgabenbereiche der Allokation, der Distribution und der Stabilität wechselseitig, gleichzeitig stehen sie jedoch in erheblichen Konfliktbeziehungen zueinander. Dies wird um so deutlicher, je differenzierter die auf der Basis der Musgrave 'sehen Dreiteilung und der Berücksichtigung fiskalisch-budgetärer Überlegungen vorgenommene Ableitung von Besteuerungsnormen ausfallt. Besonders virulent wird immer wieder der Gegensatz zwischen der mit steuerlichen Mitteln angestrebten Wachstumspolitik und der Redistributionspolitik, zwischen gestaltungs- und belastungsbezogenen Zielsetzungen der Steuerpolitik also, sowie zwischen dem Freiheitspostulat einerseits und der Forderung nach Gleichmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Besteuerung andererseits. 196 So beklagt Pechman hinsichtlich der zum großen Teil aus Effizenzgründen durchgeführten Progressionssenkung in Amerika "that the reduction in the redistribution effect of the income tax has gone too far". 1 9 7
192
Ebenda, S. 372; vgl. auch Stiglitz , Schönfelder (FN 16), Finanzwissenschaft, S. 412 f.
193
Vgl. Neumark (FN 40), Gnindsatze, S. 371.
194
Vgl. ebenda, S. 379.
193
Vgl. Bradford
196
Vgl. Neumark (FN 40), Gnindsatze, S. 388.
197
Pechman (FN 137), The Future of the Income Tax, S. 1.
(FN 22), Untangling the Income Tax, S. 267.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
84
Der hier abermals angesprochene Konflikt zwischen der Effizienz und der Verteilungsgerechtigkeit belegt, daß ein konkretes Steuersystem immer davon abhängt, wie das anzustrebende Zielbündel aussieht und welche Gewichtung seine Komponenten durch die gesellschaftlichen Kräfte erfahren. So sieht Pechman das Einkommen als einen geeigneten Indikator zur Erfassung der Leistungsfähigkeit an; zum einen deshalb, weil die mit einer konkreten allgemeinen Konsumsteuer zu verbindende Erbschaft- und Schenkungsteuer wahrscheinlich in der erforderlichen Höhe sich politisch nicht wird durchsetzen lassen, zum anderen, weil auch eine allgemeine Ausgabensteuer zahlreiche Freibeträge und Ausnahmen wird hinnehmen müssen.198 Wenn auch nicht als völligen Ersatz fur die Einkommensteuer, so kann man sich dennoch eine allgemeine Konsumsteuer als Ergänzung zur Einkommen- und der Körperschaftsteuer und neben einer allgemeinen Umsatzsteuer vorstellen. 199 Solche Kontroversen belegen exemplarisch, daß es "no scientific answer to what is the best tax system" gibt. 200 Littmann weist darauf hin, daß der Staatszweck heute in einem pluralistischen Aufgabenbündel wurzelt, was die Bildung konsistenter finanzwissenschaftlicher Systeme erschwert oder gar verhindert. 201 Haller betont überdies, daß es keine allgemein anerkannten und zeitlos gültigen Werte gibt, weshalb die Rede von einem »rationalen« Steuersystem höchst problematisch sei; an dem historisch überkommenen Begriff könne nur aus Gründen der Gewohnheit festgehalten werden. 202 Im wesentlichen geht es darum, daß sich ein gutes Steuersystem durch eine möglichst enge Verknüpfung von Steuerform und Steuerwirkung auszeichnet, daß also die Zielwirksamkeit der Besteuerung möglichst unmittelbar sein sollte. 203 Ein so verstandenes »rationales« Steuersystem, das den dargestellten Besteuerungsgrundsätzen genügt, kann daher nicht auf die isolierte Maximierung der
198
Vgl. ebenda, S. 9.
199
Vgl. Peffekoven (FN 31), Ausgabensteuer, S. 419; Rose (FN 35), Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, S. 193. 200
Bradford
(FN 22), Untangling the Income Tax, S. 312.
201
Vgl. Konrad Littmann, Art. "Problemstellung und Methoden der heutigen Finanzwissenschaft in: Neumark (Hrsg.) (FN 31), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 1977, S. 102. 202 Vgl. Heinz Haller, Art. "Rationale Steuersysteme und Bestimmungsgründe empirischer Steuerverfassungen", in: Neumark (Hrsg.) (FN 31), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, S. 176 f. 203
Vgl. Rose (FN 34), Plädoyer für ein konsumorientiertes Steuersystem.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzûge eines rationalen Steuersystems
85
einzelnen Bereiche, sondern nur auf die Optimierung eines ganzen Zielbündels ausgelegt sein. Es sollte vor allem systemwidrige Schlupflöcher vermeiden, weil ihr Vorhandensein zum Verhalten des »rent-seeking« anhält und durch die so gebundenen Ressourcen zu Wohlfahrtsverlusten fuhrt. 204 Im folgenden wird die Grundstruktur eines solchen Steuersystems umrissen, das zugleich als Maßstab fur die Besteuerungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland dient, wobei man sich der genannten Gültigkeitsbeschränkungen eines solchen Systems bewußt sein muß. Das vorgestellte System geht vor allem auf die Arbeiten von Neumark, Haller und Tipke/Lang zurück. 205 Es ist gewählt worden, weil es bei aller Kritik im Detail eine große Geschlossenheit aufweist und weil es sich als Maßstab für die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland besonders eignet. Dies auch deshalb, weil Parteien und Verbände ein hohes Maß an verbaler Akzeptanz für die darin zum Ausdruck kommenden Steuernormen bekunden.
2. Zum Aufbau eines »rationalen« Steuersystems a) Annahmen und Grundzüge eines »rationalen« Steuersystems Die Darstellung der Grundelemente eines »rationalen« Steuersystems gliedert sich in Anlehnung an Haller danach, ob das Staatswesen zentralistisch oder föderalistisch gegliedert ist sowie nach dem Industrialisierungsgrad, der Entwicklung des Rechnungswesens und dem Stand der Steuermentalität. 206 Ein »rationales« Steuersystem, 207 das sich aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip herleitet und den entwickelten Besteuerungsprinzipien genügt, kann im günstigsten Falle ein hochindustrialisiertes Land mit entwickeltem Rechnungswesen und guter Steuermoral voraussetzen, das zudem zentralistisch aufgebaut ist und dementsprechend die Besteuerung fur den gesamten Staatsraum einheitlich festlegen kann. Unter diesen Bedingungen setzt sich ein mögliches »rationales« Steuersystem aus zwei Hauptsteuern, nämlich einer Einkommensteuer und einer allgemeinen Umsatzsteuer, einigen ergänzenden Steuern und
204 Vgl. Buchanan, Brennan (FN 21), Tax Reform without Tears, S. 34; Forte, (FN 171), Tax planning, S. 5 f. 205
Peacock
Haller (FN 39), Die Steuern [1. Aufl. 1964]; Neumark (FN 40), Gnindsatze, 1970; Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht [1. Aufl.: (Tipke) 1973]. 206
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 347 ff., S. 370 ff. und S. 380 ff.
207
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 347 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
86
einem System von Gebühren und Beiträgen als Entgelt fur zurechenbare Staatsleistungen zusammen. Den oben entfalteten Besteuerungsprinzipien entsprechend, muß die Einkommensteuer eine möglichst breite Bemessungsgrundlage haben, also auf das Einkommen im weitesten Sinne abstellen.208 Der Tarif ist progressiv auszugestalten, um belastungspolitischen Aspekten, Ergiebigkeitsüberlegungen und Grundsätzen der passiven Flexibilität zu entsprechen. Übersteigerte Spitzensteuersätze und Sprünge im Steuertarifverlauf sind jedoch zu vermeiden, 209 weil sich in der Regel mit steigender nominaler Progression die Neigung verstärkt, bestehende loopholes aufzufinden sowie um neue zu kämpfen, was beträchtliche Wohlfahrtsverluste zur Folge hat. 210 Ein mit belastungsbezogenen Argumenten gestützter progressiver Tarifverlauf in der Einkommensteuer erfordert zugleich eine angemessene Berücksichtigung von belastungsbezogenen Differentiationsmerkmalen. Ansatzpunkte dafür sind der Familienstand, die Kinderzahl, Krankheits- und Altersvorsorge und in begrenztem Umfange auch außergewöhnliche Belastungen. Außerdem wäre das Differentiationsmerkmal »Zeit« systemgerecht zu berücksichtigen. 211 Die Berücksichtigimg von gestaltungsbezogenen Überlegungen muß verständlich begründet und klar überschaubar sein; sie dürfen nicht unsystematisch über das Einkommensteuerrecht verstreut werden. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind zu vermeiden, was ohnehin generell für das (Steuer-)Recht gilt. Wie insbesondere aus den oben erläuterten wirtschaftsprozeßpolitischen Prinzipien hervorgeht, ist eine gestaltungsbezogene Einkommensdifferentiation erlaubt und geboten, gleichwohl ist sie jedenfalls im Rahmen der Einkommensteuer engen Begrenzungen zu unterwerfen, weil sonst die neben dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG die verfassungsmäßigen Grundsätze der Art. 14 Abs. 2 und 20 Abs. 1 GG verletzt werden können.
209
Vgl. Joseph A. Pechman, Tax Reform: Theory and Practice, in: JEP, Vol. 1 (1987),
S. 11 f. 209 Vgl. Fritz Neumark, Probleme der Steuerprogression, in: Ders. (FN 13), Wirtschafts- und Finanzprobleme, S. 389. 210 Vgl. Buchanan, Brennan (FN 21), Tax Reform without Tears, S. 34; Seidl (FN 171), Krise oder Reform des Steuerstaates? S. 194. 211 Vgl. dazu im einzelnen Franke (FN 11), Einkommensbesteuemng,S. 72 ff.; ders. (FN 11), Indirekte Progression, S. 218 ff.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzge eines rationalen Steuersystems
87
Die geforderte weite Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer scheint eine eigenständige Körperschaftsteuer zu erübrigen. Bei näherem Zusehen zeigt sich allerdings, daß die Bedingungen fur eine vollständige Auflösimg der Körperschaftsteuer in die Einkommensteuer nicht gegeben sind. Zweckmäßigkeitsgründe sprechen dafür, die Besteuerung des Gewinns von Kapitalgesellschaften und sonstigen auf Erwerb gerichteten juristischen Personen des privaten und öffentlichen Rechts nicht bei den hinter diesen Gesellschaften stehenden natürliehen Personen, sondern an der Quelle selbst vorzunehmen. Nur so sind Steuerhinterziehungen oder doch zeitliche Gewinnverschiebungen leichter zu verhindern, und auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung zwischen Inländern und nicht der inländischen Einkommensteuer unterliegenden Ausländern ist so problemloser zu gewährleisten. Schließlich wahrt die Erhebung an der Quelle die Wettbewerbsgleichheit zwischen Kapitalgesellschaften, Personengesellschaften und Gewerbebetrieben der öffentlichen Hand, was dem Grundsatz der Vermeidung ungewollter Folgen steuerlicher Beeinträchtigungen des Wettbewerbs entspricht. 212 Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer, so wie dies im Anrechnungsverfahren der deutschen Körperschaftsteuer vorgesehen ist. Zu klären bleibt der Tarifverlauf. Nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit ist eine eigene, über die persönlich-individuelle Leistungsfähigkeit der Anteilseigner hinausgehende zusätzliche Leistungsfähigkeit von Körperschaften zu verneinen, wenn das verselbständigte Körperschaftsteuervermögen bei der Vermögensbesteuerung angemessen berücksichtigt wird. 2 1 3 Unter diesen Bedingungen genügt für den thesaurierten Gewinn von Körperschaften ein einheitlicher Steuersatz, der allerdings nahe beim Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer liegen sollte, um für größere Anteilseigner eine annähernd gleiche Belastung wie bei einkommensteuerlicher Erfassung zu erreichen. Damit kann auch erreicht werden, daß mögliche Konflikte zwischen Groß- und Kleinaktionären vermindert werden, weil die ersteren nicht aus Steuersatzgründen, sondern nur aus wirtschaftlich vernünftigen Gründen für eine Nichtausschüttung von Gewinnteilen plädieren werden. Der in der Regel tiefer liegende Steuersatz auf ausgeschüttete Gewinne ist - wie beim deutschen
212 Vgl. Neumark (FN 40), Gnindsätze, S. 132; Schneider (FN 152), Unternehmensbesteuerung, S. 161. 213
Vgl. ebenda, S. 155 if.; Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 153; Haller (FN 39), Die Steuern, S. 361 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
88
Anrechnungsverfahren - nur eine »Vorsteuer«, die später mit der Einkommensteuer verrechnet wird. 2 1 4 Die zweite Säule eines »rationalen« Steuersystems kann eine allgemeine indirekte Steuer sein. Die damit angesprochene Umsatzsteuer setzt zwar am Erlös der Tauschprozesse am Markt an, sie zielt indessen auf den Verbrauch in einer Volkswirtschaft und ist deshalb steuersystematisch eine allgemeine indirekte Konsumsteuer. 215 Sie wird zur allgemeinen indirekten Einkommensteuer, wenn auch die (Netto-)Investitionen belastet s&id. 216 Die Umsatzsteuer ist im wesentlichen allokationspolitisch begründet, weil differenzierte Tauschprozesse in einer hochindustrialisierten arbeitsteiligen Gesellschaft ohne eine Fülle staatlicher Vorleistungen und Investitionen gar nicht denkbar wären. 217 Unter diesem Aspekt vermag eine allgemeine Umsatzsteuer vor allem dem Grundsatz der Wettbewerbsneutralität zu entsprechen. Daneben kann sie so ausgestaltet werden, daß sie den Grundsätzen der Allgemeinheit und der Freiheitlichkeit genügt. Sie ist - wie die Einkommensteuer fiskalisch ergiebig und anpassungsfähig und in mancher steuerrechtlicher und -technischer Hinsicht der Einkommensteuer überlegen. Dies wird deutlich bei der aus fiskalisch-pragmatischen Gründen vorgenommenen technischen Erhebung mit einem (weitgehend) einheitlichen Steuersatz bei den Unternehmen. Nachteile einer allgemeinen, einheitlichen Umsatzsteuer sind im Hinblick auf ethisch-sozialpolitische Grundsätze (vor allem hinsichtlich des Redistributionspostulates) zu verzeichnen. Auch sind Abstriche bezüglich stabilitätspolitischer Überlegungen in Kauf zu nehmen, wobei allerdings eine befristete Belastung der Investitionen als Stabilisierungsmaßnahmen in Phasen konjunktureller Überhitzung erfolgen kann. 218 U m den genannten Vorzügen zu entsprechen und mögliche Nachteile geringzuhalten, fordert Neumark aus idealtypischer Sicht, daß die Umsatzsteuer als
214 213
Vgl. ebenda, S. 357 f.
Vgl. Klaus Tipke, 21. Jg. (1983), S. 595 ff.
Umsatzsteuer - Verkehrsteuer und/oder Verbrauchsteuer, in: DStR,
216 Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 161 ff.; Horst Claus Recktenwald, und Geldwirtschaft, München 1983, S. 378 f. und S. 350 f.
Lexikon der Staats-
217 Vgl. William Oakland, Theorie der Mehrwertsteuer, in: Recktenwald (FN 41), Finanztheorie, S. 434 ff.; vgl. zum Folgenden auch Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 393 f. 218 Vgl. Klaus Mackscheidt, Jörg Steinhausen, Finanzpolitik I, 3. Aufl., Tübingen, Düsseldorf 1978, S. 75; Teichmann (FN 71), Konjunkturpolitik, S. 248 f.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
89
Mehrwertsteuer (nicht-kumulative Allphasen-Nettoumsatzsteuer) mit vollem Abzug der Aufwendungen fur Investitionsgüter (»consumption type«-Umsatzsteuer) ausgestaltet sein muß. Außerdem plädiert er fur den Verzicht auf jegliche Steuersatzdifferenzierung. Lediglich eine Zweiteilung des Steuersatzes mit einem geringeren Prozentsatz - eventuell sogar von Null - auf wichtige Grundbedürfhisse wäre aus distributionspolitischen Erwägungen einzuräumen. 219 Die allokativen Vorzüge einer so konzipierten Umsatzsteuer gebieten Neumark zufolge einen hohen Anteil am Gesamtsteueraufkommen, während die hinzunehmenden Zieleinbußen bei den ethisch-sozialpolitischen Zielsetzungen und die stabilisierungspolitischen Nachteile nahelegen, daß das Aufkommen der Umsatzsteuer hinter dem der Einkommensteuer zurückbleibt. Aufgrund dieser Überlegungen gelangt er zu einem Anteil des Umsatzsteueraufkommens am Gesamtsteueraufkommen von etwa einem Drittel bis höchstens 40 v . H . 2 2 0 Das Bündel von ergänzenden Steuern umfaßt im Idealfall lediglich eine Erbschaftsteuer und einige wenige, eng umrissene und vor allem gesellschaftspolitisch besonders zu begründende, spezielle Verbrauchsteuern. Theoretisch wird die Vermögensteuer heute mit der qualitativen Einkommensdifferentiation begründet, die ihrerseits Ausfluß des Leistungsfähigkeitsprinzips ist. 2 2 1 Die darauf fußenden Argumente laufen auf eine Ergänzung zur Einkommensteuer, eine nominelle Vermögensteuer also, hinaus, die aus dem laufenden Einkommen zu entrichten ist. Gegen eine Substanzschmälerung im Sinne einer realen Vermögensteuer sprechen die oben entwickelten allokationsund wachstumspolitischen Grundsätze, die darauf abstellen, den volkswirtschaftlichen Kapitalstock als Basis der künftigen Güter- und Dienstleistungsproduktion zu schonen.222 Die obige Begründung der Vermögensteuer ist nicht unwidersprochen geblieben. Recktenwald sowie Tipke/Lang argumentieren gegen alle gängigen Recht-
2,9 Vgl. Neumark (FN 40), Gnindsatze, S. 400 und S. 391 f.; vgl. auch Haller (FN 39), Die Steuern, S. 354. 220 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 393 f.; zu einer größenmäßig ähnlichen Beurteilung gelangt auch Haller (FN 39), Die Steuern, S. 354 f., ohne eine konkrete Zahl zu nennen. 221 Vgl. dazu Franke (FN 11), Einkommensbesteuening, S. 59; vgl. Neumark (FN 13), Qualitative Differenzierung, S. 391 ff. 222 Im übrigen erkannte schon David Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation [John Murray, Alblemarle-Street], London 1817, S. 186 ff., daß sämtliche Steuern - also auch eine Vermögensteuer - aus dem laufenden Einkommen zu entrichten sind, sofern die Kapitalsubstanz nicht angegriffen werden soll.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
90
fertigungen der Vermögensteuer. 223 Gleichwohl läßt sich die Vermögensteuer nach Haller begründen, weil die makro-ökonomische ex post-Identität von Sparen und Investitionen in der Regel nicht uneingeschränkt auch auf individueller Ebene gilt: 2 2 4 Hier ist ein Vermögensbesitz durch Erbgang, Schenkung oder Wertsteigerungen ohne vorangegangenen persönlichen Konsumverzicht möglich. Hinzu kommt, daß sich sehr große Vermögen gewissermaßen »automatisch«, d.h. ohne »echten« Konsumverzicht, vermehren. Für solche Fälle unterstellt Haller eine besondere Leistungsfähigkeit aus Vermögensbesitz, die noch nicht durch eine konsummindernde Steuer (Einkommensteuer, Umsatzsteuer) erfaßt wurde und zu deren Erfassung deshalb eine eigenständige Vermögensteuer geboten ist. Da es technisch kaum möglich ist, die Vermögensteuer nach Art des Zustandekommens und des Wachstums des Vermögens zu differenzieren, bleibt bei einer so begründeten Steuer auf den Vermögensbesitz nur die Möglichkeit, kleinere und mittlere Vermögen von der Besteuerung auszuklammern, was am besten durch die Gewährung hoher Freibeträge unter Berücksichtigung mitzuversorgender Familienangehöriger erreicht wird. 2 2 5 Trotz der vorgetragenen Begründung ist einzuräumen, daß mit der Aufnahme einer allgemeinen Vermögensteuer in das »rationale« Steuersystem schon eher weniger idealen Bedingungen Rechnung getragen wird. Dazu gehören, in ungewichteter Reihenfolge, das Vorhandensein eines gewissen Sozialneides, 226 die schwere Veränderbarkeit historisch überkommener Abgaben wie auch ganz nüchterne fiskalische Überlegungen. 227 Die Ausführungen zur Vermögensteuer legen vor dem Hintergrund der oben aufgezeigten Besteuerungsnormen einen maßvollen proportionalen Steuersatz mit hinreichend hohen Freibeträgen nahe, auch wenn festzuhalten ist, daß der Vermögensteuersatz letztlich nur politisch bestimmbar ist. 228 Neumark rät zu
223 Vgl. Recktenwald Steuerrecht, S. 468 f.
(FN 216), Staats- und Geldwirtschaft, S. 678 ff.; Tipke, Lang (FN 1),
224
Vgl. zum Folgenden Haller (FN 39), Die Steuern, S. 359 f.
223
Vgl. ebenda, S. 360.
226
Die Reduzierung von Neid durch Maßnahmen der Besteuerung kann durchaus als rationales politisches Ziel begriffen werden, um Sozialspannungen in einer Gesellschaft abzubauen; vgl. Dieter Bös, Georg Tillmann, Neid und progressive Besteuerung, in: Dßeter] Bös, M[anfred] Rose, ChfristianJ Seidl (Hrsg.), Beiträge zur neueren Steuertheorie, Berlin u.a.O. 1984, S. 66. 227
Vgl. Tipke, Lang (FN 1), Steuerrecht, S. 469.
228
Vgl. Haller (FN 202), Rationale Steuersysteme, S. 186.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzge eines rationalen Steuersystems
91
einem Steuersatz zwischen 0,5 v.H. und 1 v . H . 2 2 9 Die Vermögensbestandteile sollten zeitnah, vollständig und realistisch bewertet werden. Doppelbelastungen sind zu vermeiden, weshalb Neumark die Vermögensteuer auf natürliche Personen beschränkt wissen w i l l . 2 3 0 Die Erbschaftsteuer kann nicht viel zum Gesamtsteueraufkommen beitragen. Dies ist indessen auch nicht der Sinn einer ergänzenden Erbschaftsteuer, die sich vielmehr primär aus ethisch-sozialpolitischen Zielsetzungen, namentlich dem Redistributionspostulat, herleitet. 231 Daneben ist sie ordnungspolitisch begründet; sie soll konzentrationsfordernde Vermögensansammlungen verhindern, Startchancen verbessern und für mehr Wettbewerb sorgen. 232 Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wettbewerbsverzerrende Effekte ausgeschaltet werden, die durch die Erbschaftsteuer zwischen »Publikums-Kapitalgesellschaften« einerseits und Einzelunternehmen, Personengesellschaften und familienbezogenen Kapitalgesellschaften andererseits auftreten können. Die ersteren sind nämlich durch die Erbschaftsteuer, die die natürlichen Anteilseigner betrifft, in ihrer betrieblichen Vermögenssubstanz und durch einen daraus resultierenden Liquiditätsentzug weder unmittelbar noch mittelbar betroffen. Ein Erbschaftsteuerausgleich für juristische, körperschaftsteuerpflichtige Personen ist daher geboten. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen empfahl deshalb bereits 1967 in seinem Gutachten zur Reform der direkten Steuern, eine Ausgleichsteuer als jährlich zu erhebende Vermögensteuer mit einem Satz von 0,4 v.H., die nicht auf die Vermögensteuer der Anteilseigner angerechnet werden darf. 233 Unter dem belastungsbezogenen Aspekt der reinen steuerlichen Leistungsfähigkeit, die in der Reinvermögenszugangstheorie ihren besonderen Ausdruck findet, muß der Verwandtschaftsgrad zwischen Erben und Erblasser außer Betracht bleiben. Eine Berücksichtigung empfiehlt sich indessen aus wirtschaftsprozeßpolitischen Gründen. Aus wachstumspolitischen Gründen lehnt Neumark eine übersteigerte Erbschaftsteuer ab und hält hinreichend hohe
229 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 398. Hierbei ist darauf hinzuweisen, daß ein Steuersatz von 0,5 v.H. bei einer Rendite von 5 v.H. die Erträge bereits mit 10 v.H. belastet; bei einer gleichzeitigen Inflation von 5 v.H. ergibt sich dann schon ein Substanzverlust. 230
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 398.
231
Vgl. ebenda, S. 54, S. 64, S. 205 und S. 399.
232
Vgl. ebenda, S. 22 und S. 213 f.
233
Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Gutachten zur Reform der direkten Steuern, Bad Godesberg, 11. Februar 1967, S. 79.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
92
Freibeträge für wünschenswert. 234 Außerdem überdehne die erklärte Absicht - wie in Schweden und England - große Vermögen zu zerschlagen, das sozialpolitische Umverteilungsgebot, und sie würde zudem den gestaltungsbezogenen Aufgaben der Wirtschaftspolitik widersprechen. 235 Eine sinnhafte Kombination beider Zielsetzungen kann jedoch darin bestehen, die Zahlung der Erbschaftsteuer über mehrere Perioden hinweg zuzulassen, um produktiv gebundenes Vermögen zu schonen und die Fortfuhrung optimaler Betriebsgrößen zu ermöglichen. 236 Berücksichtigt man all diese Gesichtspunkte, so ist eine Zweiteilung der Belastung nach Verwandtschaftsgrad und Erbschaftshöhe sowie die Berücksichtigung gestaffelter Freibeträge als zweckmäßig anzusehen (sog. »double progression«). 237 Die »doppelte Progression« in der Erbschaftsteuer läßt sich im übrigen auch versicherungstheoretisch begründen. 238 Der Wachstums- und ordnungspolitisch ungewollten raschen Aufzehrung des Vermögens bei mehreren innerhalb kurzer Zeit anfallenden Erbfolgen kann durch die Berücksichtigung früherer Erwerbe entgegengewirkt werden. Beim Erwerb von Betriebsvermögen kann zudem eine betriebswirtschaftlich angezeigte Stundung gewährt werden. Bei der Erbschaftsteuer ist ebenfalls eine zeitnahe, vollständige und realistische Bewertung der vererbten Vermögensbestandteile zu fordern, auch wenn unter pragmatischen Gesichtpunkten ein gewisses Ausmaß an schematischer Bewertung hinzunehmen ist. 239 Schließlich darf im Sinne des Grundsatzes der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit eine Umgehung der Erbschaftsteuer durch Schenkungen nicht möglich sein. Neben der Erbschaftsteuer muß also eine Schenkungsteuer stehen, die Schenkungen unter Lebenden den gleichen Belastungen unterwirft wie Erbschaften. 240
234
Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 170, S. 182 und S. 206.
233
Vgl. Fritz Neumark, Grundsätzliche Betrachtungen über die Grenzen der Besteuerung, in: Ifo-Schnelldienst, 34. Jg., Heft 16/17, 16. Juni 1981, S. 11 f. 236
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 255.
237
Vgl. Wolfram F. Richter, Taxation as Insurance and the Case of Rate Differentiation according to Consanguinity under Inheritance Taxation, in: JPbE, Vol. 33 (1987), S. 363. 238
Vgl. ebenda, S. 372 ff.
239
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 384.
240
Vgl. ebenda, S. 357.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
93
Im System einer »rationalen« Besteuerung sind Einzelverbrauchsabgaben neben einer allgemeinen Umsatzsteuer aus ethisch-sozialpolitischen, aus wirtschaftspolitischen, aber auch aus steuerrechtlichen Gründen abzulehnen. Sie verstoßen gegen das Gleichmäßigkeits- und das Verhältnismäßigkeitspostulat, beeinträchtigen die Neutralität des Wettbewerbs, können zu steuerdirigistischen Maßnahmen fuhren, verletzen das Gebot der Transparenz, und sie sind auch nicht sehr ergiebig. 241 Ausnahmen vom generellen Verdikt über Einzelverbrauchsabgaben bedürfen daher einer besonderen Begründung. Diese kann in gesundheitspolitischen Erwägungen liegen. Danach können Abgaben auf gesundheitsgefährdende Genußmittel geboten sein, um ihren Konsum einzuschränken. Das übliche Standardbeispiel verweist auf Spirituosen und Tabakwaren. Einzelverbrauchsabgaben sind zudem gerechtfertigt, wenn "die (konsumtive oder produktive) Verwendung eines Gutes deswegen eingeschränkt werden soll, weil sie Umweltschäden bzw. -belästigungen im Gefolge hat oder zur vorzeitigen ... Erschöpfung knapper Ressourcen führt 11 . 242 Hohe Steuern auf Mineralölprodukte können auf diese Weise neben der äquivalenztheoretischen Argumentation begründet sein. Fiskalisch motivierte Ergiebigkeitsüberlegungen hingegen würden die zuvor genannten Zielsetzungen desavouieren. Als steuerliche Ergänzung für das bisher umrissene System kommen Sondersteuern nach dem Äquivalenzprinzip in Betracht. Wie bereits ausgeführt, setzen sie meistens an Komplementärprodukten an. In erster Linie sind hier die Mineralölsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer zu nennen. Aber auch die Grundsteuer könnte als Sondersteuer nach dem Aquivalenzprinzip ausgestaltet und "dazu verwendet werden, die Wohnungen in einem bestimmten Häuserblock mit den Erschließungskosten für den speziellen Standort zu belasten". 243 Die konkrete Durchführung könnte auch in einem zentralistisch aufgebauten Staat durch die einzelnen Gemeinden als Lokalsteuer erfolgen. 244 Sozialversicherungsbeiträge können ebenfalls als Äquivalenzsteuern begriffen werden, sofern die Rentenformel nicht redistributiv ist und die späteren Rentenzahlungen ausschließlich in direkter Beziehung zu den Beiträgen stehen. Dies trifft jedoch auf das gegenwärtige Sozialversicherungssystem in der Bundesrepublik
241 Vgl. Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 391; Stiglitz, schaft, S. 491.
Schönfelder (FN 16), Finanzwissen-
242
Haller (FN 39), Die Steuern, S. 363.
243
Musgrave et al. (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 16.
244
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 364 ff.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
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Deutschland nicht zu, weil die Sozialversicherungsabgaben nur zum Teil äquivalenztheoretisch begründet sind. 245 Zum bisher umrissenen »rationalen« Steuersystem treten schließlich noch nach dem Äquivalenzprinzip zu ermittelnde Gebühren und Beiträge. 246 Wie ebenfalls eingangs ausgeführt, sind diese Abgaben nur für die Inanspruchnahme staatlicher Dienste und Einrichtungen von ausschließlich daran Interessierten zu erheben. Die Gebührengestaltung kann auf der Basis individueller oder gruppenmäßiger Zurechenbarkeit erfolgen, wobei ethisch-sozialpolitische Gründe ermäßigte, d.h. unter den Gesamtkosten liegende Gebühren für Leistungsbezieher mit niedrigeren Einkommen erlauben. Kumulierende Effekte sind dabei freilich zu vermeiden.
b) Modifikationen Berücksichtigung
bei föderalistischem von Wirtschaftsstruktur
Staatsaufbau und bei und Steuermentalität
Das zuvor entwickelte »rationale« Steuersystem unterstellte einen zentralistisch organisierten Staat mit differenzierter Wirtschaftsstruktur, hoch entwickeltem Rechnungswesen und einer hohen Steuermoral. Diese Annahmen sind in der Realität nicht immer gegeben. Auch muß berücksichtigt werden, daß ein unsachgemäß konstruiertes Steuersystem oder übersteigerte Steuerbelastungen eine zuvor intakte Steuermoral untergraben können. Konstituierend für den föderalistischen Staat ist die Existenz zweier Ebenen mit echter staatlicher Souveränität, nämlich die Ebene der Gliedstaaten (Länder) und die Ebene des Gesamtstaates (Bund), wobei die Gliedstaaten im Rahmen der ihnen vorbehaltenen Aufgabenbereiche als eigene Zentren der politischen Willens- und Entscheidungsbildung agieren und autonome Entscheidungen treffen können. 247 Damit wird erkennbar, daß das Steuersystem in einem föderalistisch aufgebauten Staatswesen in besonderer Weise vom Finanzausgleich zwischen den verschiedenen Staatsebenen abhängt. Regelt der passive Finanzausgleich die Aufgabenverteilung und die daraus resultierenden Ausgabenkonsequenzen, so geht es beim aktiven Finanzausgleich um die Frage
243
Vgl. Musgrave et al (FN 12), Die öffentlichen Finanzen, Bd. 2, S. 16.
246
Vgl. zum Folgenden Haller (FN 39), Die Steuern, S. 364 ff.
247
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 371.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
95
der Einnahmenbeschaffung und ihrer angemessenen Verteilung. 248 Aufgabenverteilung und aktiver Finanzausgleich zwischen Bund und Landern sind in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz und das darin zum Ausdruck kommende Subsidiaritätsprinzip
vorgezeichnet. 249
Die zur Aufgabenerffillung erforderlichen Einnahmen der einzelnen Ebenen können bei föderalistischem Staatsaufbau auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen beschafft werden. 250 Zum einen können die einzelnen Körperschaften selbst Art und Höhe der Steuerquellen bestimmen (Gesetzgebungshoheit) und den vollen Ertrag daraus ziehen (Ertragshoheit). Die zweite Möglichkeit besteht darin, das Steuersystem - wie bei zentralem Staatsaufbau - einheitlich und länderübergreifend festzulegen, dann aber die einzelnen Ebenen ihren Aufgaben entsprechend am Gesamtsteueraufkommen zu beteiligen. M i t der ersten Möglichkeit ist das Trennsystem angesprochen, mit der zweiten das Verbundoder Quotensystem. Bei völliger Autonomie der einzelnen Ebenen (ungebundenes Trennsystem, Parallel- oder Konkurrenzsystem) kann es zur unkoordinierten Mehrfachbelastung derselben Steuerquellen 251 und zu Verstößen gegen belastungs- und gestaltungsbezogenen Besteuerungsnormen kommen. Zudem werden die Grundsätze der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit sowie der Steuertransparenz verletzt. Haller stellt daher unmißverständlich fest, daß das ungebundene Trennsystem kein »rationales« Steuersystem ermöglicht. 252 Die negativen Effekte, die sich auch nachteilig auf die Akzeptanz eines föderalistisch aufgebauten Staatswesen auswirken, können erheblich gemildert werden, wenn anstelle des zuvor beschriebenen ungebundenen Trennsystems ein gebundenes Trennsystem tritt, das den untergeordneten Ebenen bestimmte ausgewählte Steuerquellen zuweist. Auch das Verbund- oder Quotensystem ist
248 Vgl. Rolf Peffekoven, Art. "Finanzausgleich I", in: Willi Albers et al. (Hrsg.) (FN 19), HdWW, Bd. 2, S. 608; ähnlich Horst Zimmermann, Art. "Allgemeine Probleme und Methoden des Finanzausgleichs", in: Neumark (Hrsg.) (FN 31) Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 4, 3. Aufl., Tübingen 1983, S. 4 f. 249
Vgl. z.B. Art. 24, 30, 31, 32; 70 - 91 b; 1 0 4 - 1 1 5 GG.
250
Die Ausführungen beschränken sich auf die Grundzüge eines rationalen Steuersystems bei föderalistischem Staatsaufbau, weil dieser Aufbau den steuerpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß entscheidend beeinflußt. Einzelheiten und Kritik am Finanzausgleichssystem in der Bundesrepublik Deutschland hat der Verf. in einem eigenen Aufsatz getrennt behandelt; vgl. Franke (FN 106), Finanzausgleich. 251 Publik geworden sind in diesem Zusammenhang einzelne Fälle in der Vergangenheit, bei denen sich die steuerliche Einkommensbelastung in Schweden auf über 100 v.H. belief. 232
Vgl. Haller (FN 39), Die Steuern, S. 371 f.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
dem ungebundenen Trennsystem überlegen; es setzt allerdings voraus, daß die einzelnen Gliedstaaten in ausreichender Höhe am Gesamtsteueraufkommen beteiligt werden. Das gebundene Trennsystem und das Verbundsystem können im übrigen in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden. 253 Tatsächlich ist zu begründen, daß unter den faktischen Gegebenheiten eines föderalistischen Staatsaufbaus und den damit ausdrücklich gewünschten dezentralen politischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozessen ein Mischsystem als aktiver Finanzausgleich am günstigsten ist, das einen Teilverbund mit einem gebundenen Trennsystem kombiniert. Das in der Bundesrepublik Deutschland kombinierte System ist - wenn man die Gewerbesteuer, die Kapitalverkehrsteuern, die ohnehin bald fortfallen, und einige unbegründete Verbrauchsteuern außer acht läßt - im großen und ganzen als befriedigend zu beurteilen. Es entspricht den Postulaten der Revidierbarkeit und der Elastizität. 2 5 4 Dennoch können die Verhandlungen über eine Neuordnung des Finanzausgleichs außerordentlich schwierig sein, wie die mehrfache Anrufung des Bundesverfassungsgerichtes zeigt. Die Steuerpolitik wird also durch das föderalistische System erheblich geprägt. Eine besondere Gefahr des Verbundsystems, das derzeit nicht nur die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer, sondern auch die allgemeine Umsatzsteuer und die Gewerbesteuer umfaßt, besteht darin, daß bei ungezügelten Ausgabewünschen, die - insonderheit vor Wahlterminen - sowohl von Politikern wie auch von Interessengruppen ausgehen, mal die eine, mal die andere Steuer angehoben wird. Häufig wird dies mit vorgeblichen Harmonisierungsnotwendigkeiten im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft begründet. Auch besteht bei aufgabeninduzierten Änderungen kein wirklicher Zwang zur Neufestsetzung der Quoten, weil über Steuererhöhungen, die im Wechsel bei der einen oder bei der anderen Verbundsteuer vorgenommen werden (auch über die autonome Hebesatzpolitik der Gemeinden bei der Gewerbesteuer), ausgewichen werden kann. Von der Einnahmenseite her werden dann keine wirksamen ausgabebegrenzenden institutionellen Regelungen eingerichtet. Die sich so allmählich aufschaukelnden Steuerbelastungen durch die beiden Hauptsteuern, die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer, und durch andere Steuer-
253 Vgl. Peffekoven, (FN 248), "FinanzausgleichΓ, S. 619 if., und Horst Zimmermann, KlausDirk Henke, Finanzwissenschait, 5. Aufl., München 1987, S. 111. 254 Zum Aufbau, zur Begründung und zur Beurteilung des Finanzausgleichs vgl. im einzelnen Franke (FN 106), Finanzausgleich, S. 71 ff.
ΠΙ. Zielkonflikte und Grundzüge eines rationalen Steuersystems
97
arten, z.B. die Gewerbesteuer, greifen, wenn auch zunächst unterschwellig und daher empirisch schwer nachweisbar, 255 die Steuermoral an. Wie erwähnt, kann es nachteilig sein, den Umsatzsteuersatz zu überziehen, weil diese Steuer in bezug auf viele Leistungen nicht mehr unmerklich ist. Außerdem fuhren Steuerumgehungen oder -hinterziehungen in diesem Bereich zwangsläufig zur Verkürzung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer sowie der Gewerbesteuer. Eine zweite Gefahr besteht darin, daß die Gemeinden, die das schwächste Glied im Rahmen des Verbund- und Trennsystems darstellen, benachteiligt werden, weil Bund und Länder ihnen Aufgaben (z.B. Sozialhilfe, Aussiedleraufhahme o.ä.) ohne hinreichende Mittelausstattung zuweisen können. 256 Auf Abstriche wegen einer nicht ausgebauten Wirtschaftsrechnung - wie etwa bei Entwicklungsländern - braucht hier nicht eingegangen zu werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß gerade ein gut ausgebautes, eventuell computergestütztes Rechnungswesen Steuerumgehungsmöglichkeiten eröffnen kann. Ein im Durchschnitt sich auf hohem Niveau befindliches Rechnungswesen bedeutet natürlich nicht, daß von jedem Betrieb exakte Aufzeichnungen verlangt werden können. Der Verzicht auf penible Rechnungslegungsvorschriften fur kleinere Betriebe und die damit einhergehende Pauschalierung mancher Bewertungen ist nicht nur zweckmäßig, sondern auch ordnungspolitisch geboten, um solche Betriebe nicht mit kaum erfüllbaren Vorschriften zu überfluten. Dies bedeutet andererseits nicht, daß man - wie etwa im Falle der Landwirtschaft - dauerhaft an groben Unterbewertungen festhalten darf. Hinsichtlich der direkten und indirekten Steuern plädiert Neumark 257 - j e nach Berechnungsart - fur ein Verhältnis zwischen 60 : 40 und 55 : 45. Weil die Ertragsteuern und die Beitragsteuern als Kostenfaktoren weitergewälzt werden, erscheint ihm eine Relation von 55 : 45 zwischen den direkt und den indirekt wirkenden Steuern als angemessen. Befriedigend wäre fur ihn ein Anteil der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer in Höhe von 50 v.H. am Gesamtsteueraufkommen, und die allgemeine Umsatzsteuer sollte einen Anteil von einem Drittel bis zu etwa 40 v.H. umgreifen. Da die Probleme der Umsetzung und Akzeptanz bei jeder Steuer mit der Höhe des Steuersatzes steigen, empfeh-
233
Vgl. dazu Walter A. S. Koch, Einkommensteuern und Leistungswirkungen, Berlin 1984,
S. 66 ff. 256
Vgl. im einzelnen Franke (FN 106), Finanzausgleich, S. 72 f.
237
Vgl. zum Folgenden Neumark (FN 40), Grundsätze, S. 392 ff.
7 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
98
len Kay/King: "it is better to have two »medium« taxes rather than one high and one low tax". 2 5 8 Nicht zuletzt ist in bezug auf das Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern auf die Wirkung der steuerbedingten Zusatzlasten hinzuweisen. Theoretisch läßt sich ableiten, daß die excess burden einer Steuer mit dem Quadrat ihres Steuersatzes wachsen. Daher sei es ratsamer, eine Vielzahl »kleiner« Steuern zu erheben, als nur eine oder zwei »große« Steuern. 259 So gesehen relativiert sich eine allzu negative Beurteilung der Einzelverbrauchsabgaben.
IV. Zur Akzeptanz der Besteuerungsgrundsätze durch Parteien, Interessenverbände und Regierung 1. Zur Funktion der Akzeptanz im Untersuchungszusammenhang Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland entspricht der pluralistischen Interessenvielfalt moderner Staaten. Sie räumt in Art. 21 Abs. 1 GG, der als lex specialis zu Art. 9 GG zu begreifen ist, den Parteien eine besondere Stellung für die politische Willens- und Entscheidungsbildung ein, 2 6 0 und sie legitimiert mit Art. 9 Abs. 3 GG den politischen Einfluß der Verbände. Deshalb ist i m Rahmen der vorliegenden Untersuchung aufzuzeigen, in welchem Maße sich Parteien und Interessenverbände zu den dargelegten Besteuerungsgrundsätzen bekennen. Erst wenn dies in Programmatik und Einzelabsichten der Parteien, Verbände und schließlich der Regierung(en) hinreichend belegt werden kann, ist es legitim, die Steuerrealität an dem entwickelten Maßstabsgefuge zu messen. Die Darstellung der grundsätzlichen Einstellung von Parteien und Verbänden sowie der Regierung(en) zu den Besteuerungsgrundsätzen umgreift die jeweiligen programmatischen Vorstellungen hinsichtlich ihres grundsätzlichen Bezugs zur Steuerpolitik als auch die neueren Steuerreformvorschläge, um exemplarisch zu zeigen, daß die konkreten Vorschläge in den programmatischen Leitlinien wurzeln, denn jede Wirtschafts- und Finanzpolitik geht von einer bestimmten Grundkonzeption aus, die durch den gesellschaftspolitischen Stand-
238
Kay, King (FN 28), The British Tax System, S. 133.
259
Vgl. Stiglitz , Schönfelder
260
(FN 16), Finanzwissenschaft, S. 475.
Vgl. auch § 1 PartG. In § 6 PartG ist außerdem ausdrucklich vorgesehen, daß die Parteien eine schriftliche Satzung und ein schriftliches Programm haben müssen.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
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ort bestimmt ist. 2 6 1 Die grundsätzliche Akzeptanz steuerpolitischer Grundsätze steht also i m Mittelpunkt dieses Kapitels; es geht hier weniger um die Bewertung von Reformabsichten nach ihrer inneren Schlüssigkeit und ihrer wirtschaftspolitischen Zweckmäßigkeit. Die Arbeit beschränkt sich auf die im 11. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, also die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU), die Christlich Soziale Union in Bayern (CSU), die Freie Demokratische Partei Deutschlands (FDP), die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Grünen. Vor dem Hintergrund des Systems der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie erfolgte diese Beschränkung, weil damit jene Parteien erfaßt sind, die nicht nur im Sinne des Grundgesetzes bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Art. 21 Abs. 1 GG), sondern die dies auch von einer parlamentarischen Plattform aus mit Erfolg tun können. Ihrem steuerpolitischen Agieren muß daher im Rahmen dieser Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Darstellung der Regierungsprogrammatik zur Steuerpolitik soll sich auf den Zeitraum ab 1969 beschränken. Hinsichtlich der Verbände sollen in erster Linie die steuerpolitischen Vorstellungen der beiden großen, das Arbeitsleben, aber auch weite Teile des Gesellschaftslebens beeinflussenden Gruppierungen, nämlich der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, betrachtet werden. Hinzu kommt der Interessenverband des Handwerks. Wesentlich für diese Arbeit ist weiterhin die Behandlung deijenigen Interessenorganisationen, die sich ganz speziell mit Problemen der Besteuerung auseinandersetzen. Dies sind vor allem die Deutsche Steuer-Gewerkschaft, der Bund der Steuerzahler, der Deutsche Steuerberaterverband und das Institut "Finanzen und Steuern". Dem föderalistischen Staatsaufbau entsprechend ist außerdem der Deutsche Städtetag als Vertreter der Städte und Gemeinden zu behandeln. Ergänzend soll zudem exemplarisch auf steuerpolitische Vorstellungen und Forderungen des Deutschen Bauernverbandes und der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels hingewiesen werden, die ihre typischen Einzelinteressen stark in den Vordergrund rücken. Kirchliche Überlegungen zum Steuerrecht sollen im Rahmen dieser Arbeit ausgeklammert bleiben, weil sich die Kirchen in der Regel politisch zurückhaltend geben und weil sich die Schwerpunkte ihrer steuerlichen Absichten auf den Bereich »Ehe und Familie« erstrecken.
261 Vgl. Theo Waigel, Steuerpolitik für mehr Wachstum und Beschäftigung, in: Kurt Faltlhauser (Hrsg.), Steuerstrategie, Köln 1988, S. 22.
100
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
2. Besteuerungsgrundsätze und steuerpolitische Vorstellungen in der Parteiprogrammatik a) Grundwerte
und Steuerpolitik
Alle Parteien befurtworten im Ergebnis ein unter vielfaltigen Aspekten zu differenzierendes und progressiv ausgelegtes Steuersystem. Bei der CDU/CSU und der SPD ergibt sich dies bereits aus ihrem ausdrücklichen Bekenntnis zur Volkspartei ,262 Die FDP leitet ein differenziertes Steuersystem aus den Grundwerten der geistigen Freiheit, der Toleranz und der Konkurrenz, aber auch der sozialen Gerechtigkeit ab, weil nur so "Freiräume der Individualität" und "Spielräume fur Pluralität" gesichert werden können. 263 Auch die Fülle der Ziele, die die Grünen auf der Basis ihrer Grundprinzipien ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei erreichen wollen, erfordern eine differenzierte Besteuerung. 264 Die Notwendigkeit eines differenzierten Steuersystems ergibt sich des weiteren daraus, daß ethisch-sozialpolitische und wirtschaftspolitische Überlegungen eine zentrale Rolle in der Parteiprogrammatik spielen. Für die CDU/CSU erfordert soziale Gerechtigkeit den Abbau von unzumutbaren Abhängigkeiten und die Sicherung materieller Bedingungen der Freiheit. Außerdem sei der Begriff der sozialen Gerechtigkeit mit dem Begriff der Solidarität zu verknüpfen. 265 Das Gerechtigkeitsziel impliziere ausdrücklich, "Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln". 266 I m Kapitel "Soziale Marktwirtschaft" des Parteiprogramms der CDU wird auf die "Idee der verantworteten Freiheit" besonders hingewiesen. Zu ihren Grundlagen gehören "Leistung und soziale Gerechtigkeit, Wettbewerb und
262 Vgl. Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit. Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (1978), S. 5, Tz. 1; vgl. Grundsatzprogramm der Christlich Sozialen Union (März 1976), S. 11; vgl. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [Godesberger Programm 1959], S. 8; [Das neue] Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [1989], S. 2. 263 Vgl. Freiburger Thesen der F.D.P. zur Gesellschaftspolitik (1971), S. 16 (These 1) und S. 17 (These 2); vgl. Kieler Thesen der F.D.P. (1977), S. 395 [zitiert nach dem Abdruck in Fried Froemer (Hrsg.), Parteiprogramme, Grundsatzprogrammatik und aktuelle Ziele, 13. Aufl., Leverkusen 1982]. 264 Vgl. Die Grünen (Hrsg.), Das Bundesprogramm, Bonn, o.J., S. 4 f. [im folgenden zitiert als Bundesprogramm der Grünen]; vgl. Die Grünen (Hrsg.), Bundestagswahl 1987. Programm Farbe bekennen, Bonn o.J., S. 5 [im folgenden als Wahlprogramm 1987 der Grünen zitiert]. 263 Vgl. Grundsatzprogramm der C D U (FN 262), S. 7, Tz. 16; S. 9 f., Tz. 23 und 25; Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 19, S. 21, S. 39 f., S. 47 und S. 49. 266
Grundsatzprogramm der C D U (FN 262), S. 11, Tz. 29.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
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Solidarität, Eigenverantwortung und soziale Sicherung" sowie ein "persönliches, sozialverpflichtetes Eigentum". 267 Die Soziale Marktwirtschaft wird als eine anpassungsfähige Ordnung beschrieben, die diesen Grundlagen entspricht und die zugleich soziale Gerechtigkeit und sozialen Frieden garantiert. 2 6 8 M i t der Kennzeichnung als "eine ökonomische Garantie der Freiheitsrechte aller Bürger" teilt die CSU das Verständnis der CDU zur Sozialen Marktwirtschaft. 269 Diese Ausführungen zeigen, daß sich die Unionsparteien in ihrer Programmatik klar zu ethisch-sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Grundsätzen bekennen, die konsequenterweise den Bereich der Steuerpolitik mit umfassen müssen. Insgesamt wird der ordnungspolitischen Ausrichtung eine große Bedeutung zugemessen. "Sozialer Ausgleich und Bedarfsgerechtigkeit" sowie "Leistung" und "Leistungsgerechtigkeit " werden besonders hervorgehoben, was auf ein belastungs- und gestaltungsbezogenen Aspekten entsprechendes Steuersystem mit maßvoller Progression schließen läßt. 270 Allerdings hebt die CSU ausdrücklich hervor, daß die "zahlreichen an die Finanzpolitik gestellten Nebenforderungen ... nicht zu einer Verfälschung von Sinn und Zweck echter Finanzpolitik fuhren [dürfen]". 271 Als klarer Beleg für ordnungs- und prozeßpolitische Prinzipien der Besteuerung ist schließlich zu werten, daß die CSU den Schutz der Unternehmenssubstanz, die Förderung des Wettbewerbs und die Entwicklung des Wachstumspotentials durch eine entsprechende Gestaltung des Steuersystems und einzelner Steuerarten ausdrücklich anspricht. 272 Die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit wird bei der FDP bei ihrer Vorstellung einer breit angelegten Vermögensbildung und einer umfassenden Neuordnung des Erbrechtes deutlich, während nach den programmatischen Vorstellungen der SPD soziale Gerechtigkeit und Solidarität auf die staatlich abzusichernde Freiheit abstellen, um der Konzeption des Demokratischen
267
Ebenda, S. 24 f., Tz. 65 - 67.
268
Vgl. ebenda, S. 26 f., Tz. 70 - 72.
269
Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 39.
270 Vgl. Grundsatzprogramm der C D U (FN 262), S. 24 und S. 25, Tz. 66 und 68; Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 39 f. 271 Ebenda, S. 46; vgl. auch Karl-Heinz (FN 261), Steuerstrategie, S. 83. 272
Spilker, Steuerpolitik für die Familie, in: Faltlhauser
Vgl. Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 46.
102
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Sozialismus zu entsprechen. 273 Aus ethisch-sozialpolitischen Gründen fordert die FDP eine Harmonisierung zwischen Steuer- und Transfersystem, um das von ihr ebenfalls akzeptierte Prinzip der Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit nicht zu konterkarieren. 274 Beides entspricht gleichzeitig dem wirtschaftspolitischen Konzept der FDP, dessen Schwerpunkt auf ordnungspolitischer Ebene liegt. So beurteilt sie die Möglichkeiten der staatlichen Konjunkturpolitik skeptisch und hebt statt dessen hervor, daß prozeßpolitische Ziele eher durch eine Verstetigung der Haushaltspolitik und durch eine Abstimmung von Konjunkturpolitik sowie Ordnungs- und Strukturpolitik zu erreichen seien. 275 Der Schwerpunkt der Wirtschaftsprogrammatik der SPD liegt hingegen, dem Konzept des Demokratischen Sozialismus entsprechend, auf der prozeßpolitischen Seite. 276 Daß in diesem Rahmen der Besteuerung eine große Rolle zukommt, läßt sich u.a. aus der Forderung entnehmen, daß der Staat "verantwortlich fur eine vorausschauende Konjunkturpolitik [ist] und ... sich i m wesentlichen auf Methoden der mittelbaren Beeinflussung der Wirtschaft beschränken [soll]". 2 7 7 Dies wird nachdrücklich im Orientierungsrahmen '85 aufgegriffen, in dem neben der Bereitstellung oder Verweigerung öffentlicher Leistungen Steuern explizit als Element der Investitionslenkung genannt sind, mit denen die einzelwirtschaftlichen Entscheidungsspielräume beeinflußt werden sollen. 278 Ethisch-sozialpolitische Besteuerungsgrundsätze bilden den Hintergrund fur die von der SPD hervorgehobene Forderung nach einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Konkret ist damit die Milderung von Ein-
273 Vgl. Freiburger Thesen (FN 263), S. 21 (These 4), S. 41 ff. und S. 51 ff.; Godesberger Programm (FN 262), S. 8; vgl. auch Ökonomisch-politischer Orientierungsrahmen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fur die Jahre 1975 - 1985, S. 86 ff. [zitiert nachdem Abdruck in Froemer (FN 263), Parteiprogramme]; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262), S. 2 und S. 4. 274 Vgl. Kieler Thesen (FN 263), S. 366 f. und S. 382 (These 1); "Liberale Politik zur Steuervereinfachung" (1979), Bonn, o.J., S. 6 f.; vgl. auch "Unser Land soll auch morgen liberal sein." Wahlprogramm der Freien Demokratischen Partei fur die Bundestagswahlen am 5.Oktober 1980, S. 69. 275
Vgl. Kieler Thesen (FN 263), S. 367 - 369 (Thesen 9 - 12).
276
Vgl. Godesberger Programm (FN 262), S. 12; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262),
S. 18 f. 277 278
Godesberger Programm (FN 262), S. 13; vgl. ebenda, S. 14.
Vgl. Orientierungsrahmen '85 (FN 273), S. 105 ff., insbes. S. 106 f. und S. 78 f.; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262), S. 21.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
103
kommmensdifferenzen und die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Produkt!wermögen angesprochen. 279 Ethisch-sozialpolitische Begründungen stehen auch hinter den programmatischen Ausführungen zum Bereich »Frau Familie - Jugend«.280 M i t Bezug auf die Steuerpolitik wird postuliert, daß ein Familienlastenausgleich im Steuersystem sowie Mutterschaftshilfe und Kindergeld die Familie wirksam schützen sollen. 281 Die Ausführungen zeigen, daß den Grundsatzprogrammen sowohl der FDP als auch der SPD ethisch-sozialpolitische und wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze zu entnehmen sind. Das gleiche läßt sich schließlich auch in bezug auf das Programm der Grünen feststellen. Aus Gerechtigkeitsüberlegungen bejahen die Grünen das Prinzip der Besteuerung nach der persönlichindividuellen Leistungsfähigkeit, das besonders aus der Sicht des Umverteilungspostulates interpretiert wird. 2 8 2 Sie befürworten außerdem aus sozialen Gründen eine tiefgehende Reform des Familien- und des Kinderlastenausgleichs. 283 Die wirtschaftspolitischen Überlegungen der Grünen sind in erster Linie ordnungspolitisch motiviert, um den anvisierten "Umbau der Industriegesellschaft" zu erreichen. 284 Dazu zählt der Vorschlag, Sonderabschreibungen und Verlustzuweisungen rigoros zu beschneiden. Soweit Förderungen aus ökologischen und sozialen Gründen wünschenswert sind, seien sie als direkte Subventionen zu gewähren, weil diese gezielter eingesetzt werden können und weil die Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle größer sind. 285
279 Vgl. Godesberger Programm (FN 262), S. 13 if., insbes. S. 16; Orientierungsrahmen '85 (FN 273), S. 100. 280
Vgl. Godesbeiger Programm (FN 262), S. 21 f.; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262),
S. 8 f. 281
Vgl. Godesberger Programm (FN 262), S. 21; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262),
S. 8 f. 282 Vgl. Michaele Schreyer, Grüne Konzepte für ein soziales und umweltfreundliches Steuersystem, in Frank Beckenbach, Jo Müller, Reinhard Pfriem, Eckhard Stratmann (Hrsg.), Grüne Wirtschaftspolitik, Köln 1985, S. 181. 283 Vgl. Wahlprogramm 1987 der Grünen (FN 264), S. 45; Die Grünen im Bundestag, Unsere Steuerreform. Sozial gerecht, umweltfreundlich, basisdemokratisch, Bonn, o.J. (1986), [S. 2]. 284 Vgl. Die Grünen (Hrsg.), Umbau der Industriegesellschaft (1986), Bonn, o.J. [Umbauprogramm] . 283 Vgl. Schreyer (FN 282), Grüne Konzepte, S. 185; auch Joachim Möller, Barbara Wais, Öko-soziale Steuerreformen, in: Projektgruppe Grüner Morgentau (Hrsg.), Perspektiven ökologischer Wirtschaftspolitik, Frankfurt (Main) 1986, S. 533; Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 3].
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
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Als Zwischenresümee kann festgehalten werden, daß alle hier besprochenen Parteien im Kern die ethisch-sozialpolitischen und die wirtschaftspolitischen Besteuerungsgrundsätze nach Neumark akzeptieren. Allerdings ist bereits deutlich geworden, daß diese Grundsätze unterschiedlich akzentuiert werden, was auf nicht unbeträchtliche Differenzen hinsichtlich der genaueren Interpretation und vor allem hinsichtlich konkreterer steuerpolitischer Vorstellungen schließen läßt. Schließlich ist zu zeigen, daß die Parteiprogramme auch fiskalisch-budgetäre sowie steuerrechtliche und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze umgreifen. Für die Unionsparteien ist die Akzeptanz fiskalisch-budgetärer Normen aus der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entfaltung ihrer Grundwerte zu folgern, die insbesondere in einem umfangreichen Zielkatalog mit bei der CSU zum Ausdruck kommt und die zu vielfältigen Aufgabenstellungen an den Staat fuhrt, die ohne ausreichend hohe und anpassungsfähige Steuererträge gar nicht erfüllbar wären. 286 Auch die FDP sieht fiskalisch-budgetäre Notwendigkeiten; nach ihren ordnungspolitischen Vorstellungen sei jedoch die Förderung der Marktwirtschaft der günstigste Weg zur Mehrung der Steuereinnahmen. 287 Daneben bekennt sie sich zu strenger Ausgabendisziplin. 288 Die programmatischen Vorstellungen der SPD laufen insgesamt auf einen größeren Aufgabenkatalog fur den Staat hinaus als bei CDU/CSU und FDP. 2 8 9 Damit ist zwangsläufig verbunden, daß die Grundsätze der Ausreichendheit und der Anpassungs- und Steigerungsfähigkeit der Steuereinnahmen eine fundamentale Rolle bei der SPD spielen, auch wenn gleichzeitig auf strengste Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit in der Ausgabenpolitik geachtet werden soll. 290 Die Grünen gehen explizit nicht auf fiskalisch-budgetäre Besteuerungsgrundsätze ein, doch ist ihnen klar, daß das Umbauprogramm nicht ohne ausreichende finanzielle Mittel realisiert werden kann; umfaßt doch allein das Um-
286
Vgl. Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 2 9 - 6 5 .
297
Vgl. Hans G. Gattermann, Marktwirtschaftliche Steuerpolitik, Bonn 1985, passim, insbes. S. 3, S. 10 und S. 12 f. 288 Vgl. Freie Demokratische Partei (Hrsg.), Vorschläge der F.D.P. für eine einfache, faire, leistungs- und wachstumsfreundliche Besteuerung von Bürgern und Unternehmen. Der marktwirtschaftliche Steuerkurs 1987, S. 15 ff. 289
Exemplarisch sei auf das sehr umfangreiche neue Grundsatzprogramm der SPD hingewiesen (FN 262). 290
Vgl. ebenda, S. 21.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
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bau-Budget jährlich etwa D M 180 Milliarden. 291 Deshalb versprechen sie auch ausdrücklich keine allgemeine Steuersenkung; die notwendige Einkommensteuerreform müsse aufkommensneutral sein. 292 Die Betonung des Grundwertes der Gerechtigkeit in allen Parteiprogrammen impliziert die Anerkennung steuerrechtlicher Aspekte der Besteuerung. Das nachdrückliche Bekenntnis der Unionsparteien zum Rechtsstaat und die erklärte Absicht, die Gesetzes- und Verordnungsflut einzudämmen sowie Rechtsvorschriften verständlich zu gestalten (CDU) und fur eine "Vereinfachung des Steuerrechts" einzutreten (CSU), belegt die Bedeutung steuerrechtlicher und steuertechnischer Besteuerungsgrundsätze. 293 Die FDP betont rechtsstaatliche Prinzipien in besonderer Weise, 294 weshalb sie auf eine rechtsstaatliche Besteuerung großen Wert legt. Ausdruck dafür ist ihre Forderung nach einem Steuergesetzbuch, das alle Steuergesetze in verständlicher Sprache zusammenfassen soll. 295 Daß die SPD steuerrechtliche Grundsätze bejaht, ist aus ihrem Verständnis des demokratischen Rechtsstaates zu schließen, dessen Verteidigimg eine fortdauernde "prinzipielle Aufgabe" sei. 296 Außerdem wird es in ihrem Bestreben deutlich, der Hinterziehung von Zinseinkünften klare Grenzen zu setzen.297 Auch drängt sie auf effektive Steuervereinfachungen. 298
291 Vgl. Die Grünen (FN 284), Umbauprogramm, S. 111; Wolfgang Hof/mann, Subventionen iür Radier. Die Grünen wollen die Wirtschaft radikal umbauen, in: DIE ZEIT, Nr. 5, 23. Jan. 1987, S. 28; Joseph Huber, Umbau bei den Grünen. Das Wiftschaftsprogramm trägt die Handschrift der Realpolitiker, in: D I E ZEIT, Nr. 19, 2. Mai 1986, S. 31; Thomas Schmid , ReformAbsolutismus oder Basis-Bürokratie? Eine Kritik am Umbauprogramm der Grünen, in: D I E ΖΕΓΓ, Nr. 7, 6. Febr. 1987, S. 40. 292
Vgl. Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 2].
293
Vgl. Grundsatzprogramm der C D U (FN 262), S. 48 f. und S. 50, Tz. 124 f. und 127; vgl. Grundsatzprogramm der CSU (FN 262), S. 17, S. 19, S. 25 und S. 45. 294 Vgl. Freiburger Thesen (FN 263), S. 19 (These 3) und S. 16 (These 1); Kieler Thesen (FN 263), S. 397 ff. 293 Vgl. Wahlprogramm der FDP (FN 274), S. 69; "Liberale Politik zur Steuervereinfachung" (FN 274), S. 7. 296
Vgl. Godesbeiger Programm (FN 262), S. 6, S. 8 und S. 9 f.; Das neue Grundsatzprogramm (FN 262), S. 21 f.; Orientierungsrahmen '85 (FN 273), S. 71. 297 Vgl. Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 1320, 31. Mai 1989 (Bundesregierung programmiert neue Ungerechtigkeitennach Abschaffung der Quellensteuer), und Nr. 1063, 27. April 1989 (Finanzpolitik der Bundesregierung: Zick-Zack-Kurs statt Neuanfang), S. 1 f. 298 Vgl. Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 969, 20. April 1989 (Finanzpolitik der Regierungskoalition gescheitert - 10 Forderungen an den neuen Bundesfinanzminister Waigel), S. 3 und S. 5.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Bei den Grünen klingen rechtsstaatliche Aspekte weniger im verfahrensrechtlichen Sinne als vielmehr in ihren Forderungen zur vollen Wahrnehmung der Grundrechte und zur Schaffung einer gewaltfreien Gesellschaft an. 299
b) Grundlinien der steuerpolitischen
Konkretisierung
Die Skizzierung der konkreteren steuerpolitischen Vorstellungen der Unionsparteien und der FDP kann davon ausgehen, daß ein Teil davon natürlich in die Regierungsarbeit seit Oktober 1982 eingeflossen ist. Sowohl das Haushaltsbegleitgesetz 1983 wie auch das Steuerentlastungsgesetz 1984 sahen eine Reihe von steuerlichen Begünstigungen für die Wirtschaft vor, die auf rasch wirkende Wachstums-, struktur- und wettbewerbspolitische Impulse gerichtet waren. 300 Ordnungs- wie auch prozeßpolitische Aspekte standen dabei im Vordergrund. Parallel dazu sollte eine konsequente Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erfolgen (CDU/CSU), 301 was die FDP vor allem durch den Abbau direkter Subventionen und steuerlicher Vergünstigungen erreichen wollte. Dies sei nicht nur aus ordnungspolitischen Gründen geboten, sondern auch zur Zurückgewinnung von Gestaltungsspielräumen fur die öffentlichen Haushalte. 302 Aus ethisch-sozialpolitischen Erwägungen, aber auch aus wirtschaftspolitischen Gründen wurden fur 1986 und 1988 Tarifsenkungen in der Einkommensteuer sowie die Wiedereinführung bzw. Anhebung des Kinderfreibetrages vorgesehen. 303 A l l diese Maßnahmen waren jedoch aus dem Verständnis eines kurzfristigen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarfs erwachsen. Um zu einer größeren
299
Vgl. Bundesprogramm der Grünen (FN 264), S. 28 und S. 5.
300
Vgl. Haushaltsbegleitgesetz 1983. BGBl. I 1982, S. 1857; Steuerentlastungsgesetz 1984 (StEntlG 1984). BGBl. I 1983, S. 1583. In diesem Zusammenhang ist exemplarisch auf folgende Regelungen hinzuweisen: Berücksichtigung der Dauerschulden und Dauerschuldzinsen nur noch zu 50 v.H. bei der Gewerbesteuer, Verkürzung des Abschreibungszeitraumes fur langerlebige Güter, Sonderabschreibungen bei Investitionen für Entwicklungs- und Forschungsarbeiten (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 u EStG), Abschreibungserleichterungenfür kleinere und mittlere Unternehmen (§ 7 g EStG), Verbesserung des Verlustvor- und -rücktrags (§ 10 d EStG), gewinnmindernde Rücklage bei Übernahme gefährdeter Betriebe (§ 6 d EStG). 301 Vgl. Arbeitsbericht 1982 - 86 der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,34. Bundesparteitag, 6. 8. Okt. 1986, Mainz (Herausgeber: Rudolf Seiters MdB, Wolfgang Bötsch MdB, Bonn, September 1986), S. 21. 302 303
Vgl. FDP (FN 288), Marktwirtschaftlicher Steuerkurs, S. 14 ff.
Vgl. den nach dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 (FN 300) neu eingefügten Abs. 8 des § 8 EStG; vgl. Steuersenkungsgesetz 1986/88. BGBl. I 1985, S. 1153.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
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inneren Geschlossenheit und einer längerfristig geltenden Konzeption der Steuerpolitik zu gelangen, begann die CDU auf der Basis ihrer "Stuttgarter Leitsatze" von 1984 eine Steuerreformdiskussion. In ihnen spielen der Gedanke der Leistungsgerechtigkeit und der familiengerechten Besteuerung eine besondere Rolle. 304 Im einzelnen richteten sich diese Absichten auf eine "umfassende Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs ", dessen Merkmale ein linear-progressiver Tarif sowie eine deutliche Anhebung von Grundfreibetrag und Kinderfreibetrag sein sollten. 305 Die FDP teilte diese Absichten grundsätzlich, und es bestand in den Unionsparteien und der FDP auch Einverständnis darüber, daß der Eingangssteuersatz gesenkt werden sollte. 306 Demgegenüber war die Frage, ob und wie stark auch der Spitzensteuersatz gesenkt werden sollte, lange umstritten. Die CSU forderte einen Spitzensteuersatz von 49 v.H., und die FDP nannte Werte von 46 v.H. bis 49 v.H. 3 0 7 Als weitergehende und längerfristig anzustrebende Zielgröße brachte Gattermann, FDPMdB und Vorsitzender des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags, sogar 36 v.H. ins Gespräch. 308 Die CDU insgesamt akzeptierte zwar das Ziel einer Senkung des Spitzensteuersatzes, sah jedoch keinen aktuellen Entscheidungsbedarf; vielleicht auch deshalb, weil sie die diametralen Positionen des Wirtschaftsrates der CDU (Senkung des Spitzensteuersatzes auf weniger als 50 v.H.) und der Sozialausschüsse (strikte Beibehaltung des Satzes von 56 v.H.) nicht weiter verschärfen wollte. 3 0 9 Im inzwischen in Kraft getretenen Steuerreformgesetz 1990 fand man schließlich den Kompromiß von 53 v.H. 3 1 0 Aus wachstumspolitischen Gründen und wegen der gebotenen Rechtsformneutralität wurde als konsequente Ergänzung zur Senkung des Spitzensteuersatzes
304 Vgl. "Eckpunkte einer Steuerreform", S. 1 [unveröffentliches Arbeitspapier der CDU/CSUBundestagsfraktion]. 305 Vgl. ebenda, S. 2; vgl. auch Kurt Faltlhauser, Grundlinien und Eckpunkte der Großen Steuerreform, in: ders. (FN 261), Steuerstrategie, S. 102 ff., sowie Spilker (FN 271), Steuerpolitik für die Familie, S. 68 ff. 306 Vgl. FDP (FN 288), Marktwirtschaftlicher Steuerkurs, S. 11; Siegfried Friebe, Stand des steuerpolitischen Programms der CDU/CSU-FDP-Koalition, in: DStZ, 74. Jg. (1986), S. 327. 307 Vgl. ebenda, S. 327; Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, "Bayern-Modell" zur Steuerpolitik, Pressemitteilung, 76/89, 30. Marz 1989, S. 1; Presseberichte "FDP will Steuern um 45 Milliarden D M senken" und "Die FDP eröffnet für die weitere Zukunft rosige Steuerperspektiven", in: FAZ, Nr. 168, 24. Juli 1985, S. 11, und Handelsblatt, Nr. 139, 24. Juli 1985, S. 1. 308
Vgl. Gattermann (FN 287), Marktwirtschaftliche Steuerpolitik, S. 13 f.
309
Vgl. Friebe (FN 306), Steuerpolitisches Programm, S. 325 f.
310
Vgl. § 32 a Abs. 1 Nr. 4 EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
in der Einkommensteuer auch eine Senkung des Steuersatzes der Körperschaftsteuer verlangt, wobei die FDP einen deutlich unter 50 v.H. liegenden Satz anvisierte. 311 Unionsparteien und FDP sind sich zudem darin einig, die ertragsunabhängige Belastung der Unternehmen abzubauen. In erster Linie ist dabei an eine Rückführung (CDU/CSU) bzw. einen Abbau (FDP) der Betriebsvermögensteuer gedacht, weil sie die Dynamik des wirtschaftlichen Wachstums und den notwendigen Strukturwandel beeinträchtigt und das Vermögen zum Teil doppelt belaste (bei Kapitalgesellschaften und Anteilseignern). Unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen sei die ursprüngliche Absicht der Vermögensteuer als Zusatzbelastung auf fundierte Einkommen auch keine tragfähige Begründung mehr für risikobehaftetes Betriebsvermögen. 312 Des weiteren wird an eine Abschaffung der Gewerbesteuer gedacht, was allerdings im Zusammenhang mit einer umfassenden Gemeindefinanzreform in langfristiger Perspektive zu sehen sei ("gemeindefreundliche Alternative", FDP). 3 1 3 Inzwischen liegen etliche Modelle zur Abschaffung der Gewerbesteuer vor, konkrete Vorstellungen zu einer umfassenden Gemeindefinanzreform gibt es jedoch noch nicht. Die FDP lehnt allerdings entschieden eine Wertschöpfiingsteuer als Ersatz der Gewerbesteuer ab. 314 Schließlich ist hervorzuheben, daß CSU und FDP eine Finanzierung der Senkung der direkten Steuerlast durch Anhebung der indirekten Steuern ablehnen. Die CSU rät ausdrücklich von "kompensatorischen steuerlichen Maßnahmen" ab, auch dürfe die "Senkung der Steuerlast ... nicht durch erhöhte Sozialabgaben konterkariert werden", 315 und das FDP-Präsidium lehnt jeden Versuch ab, die notwendige Reform des Steuersystems durch eine Erhöhung
311
Vgl. "Eckpunkte einer Steuerreform" (FN 304), S. 2; FDP (FN 288), Marktwirtschaftlicher Steuerkurs, S. 13. 312 Vgl. ebenda, S. 13 f.; "Eckpunkte einer Steuerreform'' (FN 304), S. 3; "Bayern-Modell" zur Steuerpolitik (FN 307), S. 1. 313 Vgl. "Eckpunkte einer Steuerreform" (FN 304), S. 3; vgl. FDP (FN 288), Marktwirtschaftlicher Steuerkurs, S. 14; Michael Glos (CSU-MdB), Redemanuskript fur das steuerpolitische Seminar des ISWA am 29. Mai 1989 in Berlin, S. 1 und S. 8 - 10; "Bayern-Modell" zur Steuerpolitik (FN 307), S. 1. 314 Vgl. FDP (FN 288), Marktwirtschaftlicher Steuerkurs, S. 14; Gattermann (FN 287), Marktwirtschaftliche Steuerpolitik, S. 4 f. 315 Solide Finanzpolitik - Voraussetzung fur Wachstum, Beschäftigung und Leistung, in: Bayernkurier, Nr. 26, 28. Juni 1986, S. 25.
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der indirekten Steuern, insbesondere der Umsatzsteuer, zu finanzieren. 316 In gewissem Widerspruch dazu steht die Absicht der CDU, eine "Veränderung der Relation von direkten und indirekten Steuern im Zuge der zu erwartenden EG-Steuerharmonisierung anzustreben"; eine Forderung, die auch die FDP teilt und die durch die zum 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Verbrauchsteuererhöhungen teilweise umgesetzt wurde. 317 Insgesamt heben Unionsparteien und FDP hervor, daß ihre steuerpolitischen Vorstellungen nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern auch ethisch-sozialpolitisch begründet seien. Dabei ist natürlich der Umverteilungsaspekt anders als bei den Oppositionsparteien akzentuiert; nicht die direkte staatliche Umverteilung verbessere die Lage der sozial Schwächeren, sondern der Anreiz zu größerer Eigenständigkeit, weil nur so dynamisches Wachstum möglich sei, das letztlich die Grundlage zur Verbesserung der Lage der weniger Leistungsfähigen darstelle. Die CDU faßt diese Auffassung in Anlehnung an die Steuerreformpolitik der USA in dem Motto "Lieber niedrigere Steuersätze und weniger Ausnahmen als hohe Steuersätze und viele Ausnahmen" zusammen. 318 Dies wäre zugleich ein Schritt zur Stärkung der steuerrechtlichen Systematik und zur Steuervereinfachung. Als ein gelungenes Beispiel dafür wird in der Koalition die Reform der Grunderwerbsteuer angesehen.319 Im übrigen hat die FDP als einzige Partei im Bundestagswahlkampf 1987 explizit darauf hingewiesen, daß sich die geplante Steuerreform nicht nur in tariflichen und bemessungstechnischen Korrekturen erschöpfen dürfe; vielmehr sei auch den steuerrechtlichen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, um das
316 Vgl. Pressebericht "»Steuerreform auch nicht teilweise durch Verbrauchsteuern finanzieren«", in: Handelsblatt, Nr. 167, 2. Sept. 1986, S. 3. 317 Steuerpolitisches Konzept des Bundesfachausschusses Wirtschaftspolitik. Beschluß vom 20. Febr. 1986 (unveröffentlichtes Papier der CDU), S. 8; vgl. Klaus-Jürgen Hedrich, Direkte Steuern und indirekte Steuern: Zur Struktur des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland, in: Faltlhauser (FN 261), Steuerstrategie, S. 265 und S. 268 f.; Die FDP-Bundestagsfraktion informiert, FDP Tagesdienst, Nr. 666, 17. Juni 1988 (Mischnick: Steuerreform weiter verbessert). 318 Vgl. Steueipolitisches Konzept (FN 317), S. 3; Faltlhauser, S. 113/115.
Große Steuerreform (FN 305),
3,9 Der Steuersatz wurde von 7 v.H. auf 2 v.H. gesenkt, wahrend die früheren Steuerbefreiungen fast vollständig abgeschafft wurden; vgl. GrEStG 1983. BGBl. I 1982, S. 1777; vgl. auch CSU-Landesgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion des Deutschen Bundestages: Bilanz und Perspektiven, Bonn, 25. Juli 1986, S. 42.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Verhältnis Bürger und Staat im sensiblen Bereich der Besteuerung zu entkrampfen. 320 Die konkreten steuerpolitischen Absichten der Oppositionsparteien weichen wie schon die Darstellung ihrer Programmatik zeigte - zum Teil beträchtlich von den Vorstellungen der Unionsparteien und der FDP ab. Für die SPD sind Vorschläge zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sehr wichtig. I m einzelnen zählen dazu: Eine Quellensteuer auf Zinseinkünfte, die jedoch mit einer kräftigen Anhebung der Sparerfreibeträge verknüpft sein soll, zeitnahe Wertansätze, der Fortfall der Spekulationsfristen und die Ausdehnung des Instruments der Kontrollmitteilungen. Außerdem sollte das Prinzip der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz fur die Steuerbilanz zugunsten einer eigenständigen Steuerbilanz abgeschafft werden. Sonderregelungen sollten sorgfältig überprüft und nur in unumgänglichen Fällen beibehalten werden, dann allerdings in der Form eines progressionsunabhängigen Abzugs von der Steuerschuld. Im übrigen ist anzumerken, daß die SPD neuerdings eine Quellensteuer auf Zinseinkünfte nicht mehr erwähnt; statt dessen setzt sie verstärkt auf effektive Kontrollmitteilungen. 321 Die Grünen plädieren demgegenüber für eine Quellensteuer auf Zinseinkünfte von 25 v.H. in Verbindung mit automatischen Kontrollmitteilungen. Der Bankenerlaß sei ersatzlos zu streichen. 322 Die Vorschläge der SPD entsprangen zum einen fiskalisch-budgetären Überlegungen, zum anderen aber sollten sie ausdrücklich ethisch-sozialpolitischen Grundsätzen entsprechen, die in der Regierungsarbeit von CDU/CSU und FDP vernachlässigt worden seien. Damit sind nicht nur die generellen Gerechtig-
320 Im einzelnen ist von der FDP vorgeschlagen worden, die Frist für die Festsetzung der Steuerschuld von vier auf drei Jahre zu verringern (§ 169 AO), den Vorbehalt der Nachprüfung einzuschränken (§ 164 AO), das Instrument der Verböserung fallen zu lassen und die verspätete Erklärungsabgabe nicht mehr als Straftatbestand zu werten (§ 370 AO). Außerdem sollten die Möglichkeiten der Ablaufhemmung (§ 171 AO) verringert und bestimmte Steueiverkürzungstatbestände vom Steuerstrafrecht in den Ordnungswidrigkeitenbereichverlegt werden. Schließlich sollten die Ansprüche des Bürgers an die Finanzvenvaltung auch verzinst werden, was im Steuerreformgesetz 1990 umgesetzt wurde. Vgl. Pressebericht "Zur Steuerreform gehört auch mehr Rechtsschutz und Rechtssicherheit", in Handelsblatt, Nr. 11, 16./17. Jan. 1987, S. 4; Die FDP-Bundestagsfraktion informiert, FDP Tagesdienst, Nr. 197,12. Febr. 1988 (Kleinert: Bürger gegenüber Ämtern stärken), insbes. S. 3. 321 Vgl. "Unser Steuerrecht gerecht gestalten." Das sozialdemokratische Konzept für eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung unseres Steuersystems. Politik, Nr. 2, April 1986, Informationsdienst der SPD, S. 5 f.; Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 1320 (FN 297), Nr. 1063 (FN 297), S. 1 f., und Nr. 969 (FN 298). 322 Vgl. Entschließungsantrag der Abgeordneten Hüser, Sellin, Frau Vennegerts und der Fraktion D I E GRÜNEN. BT-Dnicksache 11/2530, 21. Juni 1988, S. 5 und S. 8.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
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keitspostulate, sondern vor allem das Umverteilungspostulat gemeint. Die SPD stellt in ihren steuerpolitischen Vorschlägen immer wieder darauf ab, daß die christlich-liberale Koalition mit ihrer Steuerpolitik seit 1982 das Umverteilungsgebot verletzt habe. 323 Der Familienlastenausgleich sei sozial gerechter zu gestalten, d.h. konkret ein ausreichendes Kindergeld an Stelle von Kinderfreibeträgen und die Begrenzung des Splittingvorteils. 324 Konsequenterweise lehnt die SPD die Senkung des Spitzensteuersatzes ab; 32S im Gegenteil, sie befürwortete "zur Finanzierung der beschäftigungspolitisch notwendigen Investitionen auch eine zeitliche befristete Ergänzungsabgabe in Höhe von 5 v.H. der Körperschafts[!]steuerschuld und 5 v.H. der Einkommens[!]steuerschuld fiir zu versteuernde Einkommen über 60.000/120.000 D M im Jahr". 326 Dieser Vorschlag geht jedoch nicht nur vom Gedanken der Solidarität aus, sondern stellt aus wirtschaftspolitischen, vor allem beschäftigungspolitischen Gründen auf eine größere aktive Flexibilität der Besteuerung ab. Wachstumsund wettbewerbspolitisch begründet ist ferner die Absicht, fur kleine und mittlere Unternehmen die Möglichkeit einer befristeten Investitionsrücklage zu schaffen. 327 Dieser Vorschlag wurde auch vom CDU-Mittelstand und von der CSU vorgetragen, dem sich jedoch der Wirtschaftsrat der CDU und die FDP aus ordnungspolitischen Gründen heftig widersetzten. 328 SPD und Grüne widersprechen vehement einer wie auch immer gearteten Abschaffung der Gewerbesteuer. Im Rahmen einer funktionsgerechten Neuordnung des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs und einer aufgabengerechten Gemeindefinanzreform komme der "Revitalisierung der Gewerbe-
323
Vgl. exemplarisch dafür die Rede von Hans Apel auf dem Parteitag der SPD in Nürnberg vom 25. - 29. Aug. 1986, "Unser Steuerrecht gerecht gestalten" (Service der SPD für Presse, Funk, T V ) , S. 1, sowie "Gerechte Steuern". Beschluß zur Finanzpolitik der SPD, Parteitag in Nürnberg 25 - 29. 8. 1986. Politik, Nr. 10, Sept. 1986, Informationsdienst der SPD, S. 4 f. 324 Vgl. "Unser Steuerrecht gerecht gestalten" (FN 321), S. 4 f.; Das neue Grundsatzprogramm der SPD (FN 262), S. 21; Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 1063 (FN 297), S. 2 f. 325
Vgl. "Unser Steuerrecht gerecht gestalten" (FN 321), S. 4.
326
"Gerechte Steuern" (FN 323), S. 3.
327
Vgl. ebenda, S. 2; vgl. "Unser Steuerrecht gerecht gestalten" (FN 321), S. 3.
328 vgl. Hansheinz Hauser (stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages), Statt Senkung des Spitzensteuersatzes Einführung einer Investitionsrücklage, in: Handelsblatt, Nr. 65, 4./5. April 1986, S. 7; Heinrich Weiss (Vorsitzender des Wiitschaftsrats der CDU), Steuerreform für eine dynamische Wirtschaft, in: Handelsblatt, Nr. 101,30./31. Mai 1986, S. 1; Gattermann (FN 287), Marktwirtschaftliche Steuerpolitik, S. 13 ff.; Otto Graf Lambsdorff, Das in Nürnberg verabschiedete Programm der SPD ist alte rote Grütze mit etwas grünem Spinat, in: Handelsblatt, Nr. 170, 5./6. Sept. 1986, S. 6.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Steuer" eine besondere Bedeutung zu (SPD), womit vor allem die Erweiterung der Bemessungsgrundlage durch die volle Zurechnung von Dauerschulden und Dauerschuldzinsen und die Einbeziehung von größeren Betrieben der freiberuflich Tätigen gemeint ist. 3 2 9 Die Grünen wollen außerdem ausdrücklich landwirtschaftliche Großbetriebe der Gewerbesteuer unterwerfen. Außerdem soll die Steuerbemessungsgrundlage durch den Übergang von Freibeträgen zu Freigrenzen erweitert werden. Kleinere und mittlere Betriebe sollen hingegen in den Genuß ermäßigter Steuermeßzahlen kommen. Nachdrücklich wenden sie sich gegen die Aushöhlung der Besteuerungsgrundlagen der Gewerbesteuer durch den Bund, weil damit das Hebesatzrecht der Gemeinden unterminiert werde. 330 In jüngster Zeit befürwortet die SPD den Gedanken einer Unternehmensteuerreform, um Investitionen und Arbeitsplätze zu fordern. Diese Reform soll jedoch zu keinen pauschalen Entlastungen führen, sondern aufkommensneutral sein. In diesem Rahmen wird überlegt, die Körperschaftsteuer unabhängig von der Einkommensteuer zu senken und den Unternehmen, die bisher der Einkommensteuer unterliegen, ein Optionsrecht einzuräumen. 331 Charakteristisch für die Grünen ist schließlich ihre Auffassung, die Grundsteuer und die Gewerbesteuer aus ökologischen Gründen zu differenzieren: "Z.B. könnte der Grundsteuersatz für ökologischen Landbau geringer sein als für chemieintensiven Landbau; der Gewerbesteuersatz für umweltschädliche Industrien könnte höher sein als für umweltverträgliches Gewerbe. " 3 3 2 Zu den im ökologischen Sinne ordnungspolitisch motivierten Vorstellungen der Grünen gehört ferner ein umfangreiches System ökologischer Abgaben (z.B. Chlorsteuer, Sondermüllabgaben und spezielle Ressourcensteuern auf nichtregenerierbare Rohstoffe), um den Umfang der umweltbelastenden Pro-
329 Vgl. "Gerechte Steuern" (FN 323), S. 2; "Unser Steuerrecht gerecht gestalten" (FN 321), S. 6; einen detaillierten Vorschlag dazu, der auch an der ertragsunabhängigen Komponente der Gewerbesteuer iesthält, hat der ehemalige Hamburger Finanzsenator Horst Gobrecht entwickelt: Horst Gobrecht, Erste Vorschläge zu Neugestaltungen im Steuersystem, Freie und Hansestadt Hamburg, Finanzbehörde, Mai 1986, S. 25 - 33, insbes. S. 30, S. 31 und S. 32; vgl. auch Das neue Grundsatzprogramm der SPD (FN 262), S. 22; Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 1978, 20. Sept. 1988 (Wir brauchen eine neue Gemeindefinanzreform); Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. BT-Dnicksache 11/3909, 25. Jan. 1989. 330 Vgl. Schreyer (FN 282), Grüne Konzepte, S. 203 f.; Entschließungsantrag der Grünen (FN 322), S. 5 und S. 10 f. 331 Vgl. Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 784, 22. März 1989 (Unternehmens[!Jsteuerreform für mehr Investitionen und Arbeitsplätze); Nr. 969 (FN 298), S. 5 f. 332
Schreyer (FN 282), Grüne Konzepte, S. 200 f.
IV. Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
113
duktion einzuschränken. 333 Auch die SPD fordert in jüngster Zeit immer nachdrücklicher, das Steuersystem neben fiskalischen, sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Zielen auch zum Schutze der Umwelt einzusetzen.334 Aus ihrer Sicht der ethisch-sozialpolitischen Besteuerungsgrundsätze lehnen die Grünen die tarifpolitischen Vorstellungen der Koalitionsparteien und den schließlich im § 32 a EStG 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 gefundenen Kompromiß ganz klar ab. Statt dessen fordern sie die Wiedereinsetzung einer funktionsfähigen Progression, die Entlastung der unteren und mittleren Einkommen und die Abschaffimg der heimlichen Steuererhöhungen. 335 Erste konkrete Schritte dazu sind nach ihrer Auffassung die Erhöhung des Grundfreibetrages auf D M 10.000, die Anhebung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer auf 60 v.H. Der Tarifverlauf sei so zu gestalten, daß die Vergünstigungen durch die Anhebung des Grundfreibetrags mit steigendem Einkommen geringer werden, und zwar so, daß bei einem Bruttoeinkommen von etwa D M 3200 je Monat die gleiche Steuerhöhe erreicht wird, die vor Inkrafttreten der Steuersenkungen 1986/88 und 1990 galt. 336 Der Familienlastenausgleich soll völlig umgestaltet werden. Einerseits soll Ehegattensplitting ersatzlos abgeschafft werden, weil es die Grünen grundsätzlich ablehnen, bestimmte Lebensformen staatlich zu fordern (Ehegatten soll jedoch der Grundfreibetrag von D M 10.000 doppelt gewährt werden). 337 Zum anderen wollen sie die nach ihrer Meinung unsozial wirkenden Kinderfreibeträge durch ein bedarfsorientiertes Kindergeid ersetzen: "Dieses soll nicht mehr nach der Zahl der Kinder, sondern nach deren Alter gestaffelt sein. " 3 3 8 Bis zum 7. Lebensjahr soll es D M 210, bis zum 10. Lebensjahr D M 330, bis zum 14. Lebensjahr D M 400 und danach D M 450 je Monat betragen. 339
333 Vgl. Die Grünen (FN 284), Umbauprogramm, S. 9 f.; Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 4]; vgl. auch Schreyer (FN 282), Grüne Konzepte, S. 197 f.; Heiner Jüttner, Mehr Ökologie durch Ökonomie, in: DIE ZEIT, Nr. 25, 16. Juni 1989, S. 33; Entschließungsantrag der Grünen (FN 322), S. 5 und S. 9 f. 334 Vgl. Das neue Grundsatzprogramm (FN 262), S. 17 und S. 21; Die SPD im Deutschen Bundestag, Nr. 969 (FN 298), S. 6. 333
Vgl. Möller, Wais (FN 285), Öko-soziale Steuerreformen, S. 532.
336
Vgl. Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 2]; Entschließungsantrag der Grünen (FN 322), S. 5 und S. 7. 337
Vgl. Wahlprogramm 1987 der Grünen (FN 264), S. 45.
338
Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 2 f.].
339 Vgl. Die Grünen (FN 284), Umbauprogramm, S. 92 f.; Entschließungsantrag der Grünen (FN 322), S. 5 und S. 7 f.
8 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
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Kindergeld und Einkommen- bzw. Lohnsteuer sollen im übrigen - auch nach den Vorstellungen der SPD - aus praktikabilitätsorientierten Überlegungen nach der sog. Finanzamtslösung miteinander verrechnet werden. 340
3. Steuerpolitische Vorstellungen der Verbände a) Forderungen von Arbeitgeberverbänden (BDI, BDA, DIHT), Handwerk (ZDH), Einzelhandel (HDE), Bauernverband, Kommunen (Deutscher Städtetag), Gewerkschaften (DGB, ÖTV, CGB, DAG, DBB, DStG) und Bund Deutscher Finanzrichter Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) sowie der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) stimmen in der ordnungspolitischen Zielsetzung der Sozialen Marktwirtschaft überein, wobei sie die dahinterstehenden Grundwerte der Demokratie, der Freiheit, der Subsidiarität, und damit verknüpft der Eigenverantwortung, sowie des Föderalismus eigens hervorheben. Im allgemeinen bejahen sie damit die besteuerungspolitischen Grundsätzen nach Neumark ,341 Ausgangspunkt der Steuer- und finanzpolitischen Vorstellungen der genannten Verbände ist die Forderung nach einem geordneten Staatshaushalt. Zwar finden die Konsolidierungsbemühungen der Regierung seit 1982 Beifall, gleichwohl wird bemängelt, daß sie nicht immer weit genug gegangen seien und daß die Gefahr eines vorzeitigen Nachlassens dieser Bemühungen bestehe.342 Vor allem wird die Ausgabengestaltung von Gemeinden und Ländern kritisch beurteilt. 3 4 3 Die Arbeitgeberverbände fordern eine weitere Senkung der Staatsquote, was durch eine ordnungspolitisch erwünschte Kürzung oder Streichung der Subventionen erreicht werden könne.
340 Vgl. Die Grünen im Bundestag (FN 283), Unsere Steuerreform, [S. 3]; "Gerechte Steuern" (FN 323), S. 3. 341 Vgl. BDI, Jahresbericht 1984/86, S. 10, S. 11 ff., S. 15 f. und S. 152 f.; Jahresbericht 1986 der BDA, S. ΧΠ; DIHT (Hrsg.), Mehr Markt, mehr Wettbewerb, mehr Leistung. Grundsatzpapier 1986, S. 5 - 9, S. 13; DIHT, Bericht '88, S. 9 - 13; ZDH, Handwerkspolitische Wünsche und Forderungen zum X I . Deutschen Bundestag, o.O., Oktober 1986, S. 5 f.; vgl. auch Pressebericht "Necker: Zweite Stufe der Steuerreform aufbessern", in: Handelsblatt, Nr. 30, 12. Febr. 1987, S. 3. 342 Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 13 f., S. 145 ff. und S. 150; Jahresbericht 1986 der BDA (FN 341), S. X I und S. 35; Jahresbericht 1988 der BDA, S. X ; DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 13; DIHT, Bericht '86, S. 50. 343
Vgl. BDI, Bericht 1986 - 88, S. 44 ff.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
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Weil sich die im folgenden noch zu umreißenden steuerpolitischen Vorstellungen der Wirtschaftsverbände zu erheblichen Einnahmeausfällen summieren, die nur partiell durch den erhofften Anstieg der Wirtschaftstätigkeit kompensiert werden können, bieten BDI und DIHT ihre Mithilfe beim Problem der Subventionskürzung an. 3 4 4 Als pragmatischen Einstieg dazu schlägt der D I H T eine lineare Senkung aller Subventionen um 20 v.H. vor, weil sich Einzelkorrekturen kaum werden durchsetzen lassen; ein Vorschlag, den der BDI jedoch nur fur begrenzt umsetzbar hält. 345 Der BDI ist außerdem der Meinung, daß die steuerliche Förderung der privaten Vermögensbildung inzwischen obsolet * 346
sei. Das Handwerk befurchtet vor allem, daß die Neuordnung der Steuerstruktur mittelfristig mit einer Erhöhung der Umsatzsteuer einhergehen könnte, weil hier auch mit angeblichen Steuerharmonisierungsnotwendigkeiten im Rahmen der EG argumentiert werden könne. Dies aber würde zwangsläufig die LohnPreis-Spirale erneut in Gang setzen und den Anreiz zur Schwarzarbeit verstärken. Der Z D H widerspricht daher Harmonisierungszwängen bei der Umsatzsteuer und empfiehlt, Subventionen entschlossen und gezielt abzubauen.347 Auch die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (HDE) mahnt, daß steuerreformpolitische Absichten nicht zu einer Erhöhung der Umsatzsteuer fuhren dürfen. Bei gelingender Steuerüberwälzung würde dies nämlich die Preisniveaustabilität gefährden, bei nicht gelingender Überwälzung hingegen in eine ertragsunabhängige Sondersteuer fur den Einzelhandel münden. 348 Ethisch-sozialpolitische, vor allem aber wirtschaftspolitische Überlegungen lassen die Arbeitgeberverbände dafür plädieren, die durch Rechtsform oder Unternehmensgröße bedingten Besteuerungsunterschiede abzubauen349 und
344 Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 147 f.; BDI (Hrsg.), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", Köln, Oktober 1985, S. 23 ff.; Pressebericht "»Vordringlich ist die Entlastung bei den gewerblichen Zusatzsteuern«", in: Handelsblatt, Nr. 179, 18. Sept. 1986, S. 3. 345 Vgl. Pressebericht "DIHT: Subventionen linear um 20 % kürzen", in: Handelsblatt, Nr. 30, 12. Febr. 1987, S. 1; DIHT (FN 341), Bericht '88, S. 18; BDI (FN 344), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", S. 24 f. 346
Vgl. Pressebericht "Entlastung bei den gewerblichen Zusatzsteuern" (FN 344).
347
Vgl. ZDH (Hrsg.), Argumente zur Handwerkspolitik, Nr. 3/86, [S. 2].
348
Vgl. HDE, 41. Arbeitsbericht 1988, S. 35; Pressebericht "Die Steuerreform nicht durch höhere Mehrwertsteuer finanzieren", in: Handelsblatt, Nr. 61, 27./28. März 1987, S. 19. 349 Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 152 und S. 153; BDI (FN 344), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", S. 4 - 10; DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 14; vgl. ZDH (FN 341), Handwerkspolitische Wünsche, S. 24; Pressebericht "Steuerreform aufbessern" (FN 341).
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
das Leistungsfähigkeitsprinzip im Sinne einer maßvollen Progression in der Einkommensteuer zu interpretieren. Demgegenüber stehen die Wirtschaftsverbände dem Redistributionspostulat skeptisch bis ablehnend gegenüber. Exemplarisch sei der Z D H zitiert, der "allen Kräften eine Absage [erteilt], welche auf eine Ausdehnung der Staatsquote hinarbeiten und Steuerpolitik als Instrument der Umverteilung einsetzen wollen". 3 5 0 Der BDI furchtet die Motivations- und Leistungshemmung einer zu steilen Progression, die soziale Probleme nicht abbaue, sondern eher vermehre. 351 Konkret befürworten alle Spitzenverbände der Wirtschaft den mit dem Steuerreformgesetz 1990 eingeführten linear-progressiven Tarifverlauf und aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einen Spitzensteuersatz von deutlich unter 50 v.H. 3 5 2 Der DIHT nennt als Endziel einen Spitzensteuersatz von 36 v.H. und einen entsprechenden Körperschaftsteuersatz auf thesaurierte Gewinne. 353 Diese Forderung ist von der amerikanischen Steuerreform mit inspiriert worden; sie spielt jedoch in der tagespolitischen Diskussion noch keine Rolle. Immerhin kann sich der DIHT auf entsprechende Überlegungen des Sachverständigenrates berufen. 354 Bedenklich sei jedoch aus ordnungspolitischen Gründen die Spreizung zwischen Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer und Körperschaftsteuersatz (53 v.H. bzw. 50 v.H. ab 1990). 355 Zwar begrüßt das Handwerk eine maßvolle Progression im Sinne eines linear-progressiven Tarifs, aber es mißt demgegenüber ergänzenden Tarifmaßnahmen (Anpassung des Grundfreibetrages) wie auch der Absenkung des Spitzensteuersatzes und parallel dazu der Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einbehaltene Gewinne eine deutlich geringere Dringlichkeit zu. 3 5 6 Statt dessen billigen der Z D H und auch der Deutsche Bauernverband ausdrücklich die von der CSU, der SPD und Teilen der CDU unterstützte Forderung
330
ZDH (FN 347), Argumente, Nr. 3/86, [S. 1].
331
Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 15.
332
Vgl. z.B. BDI (FN 344), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", S. 4 - 10 und S. 17; BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 198 f. und S. 327; Jahresbericht 1988 der BDA (FN 342), S. X I V ; HDE (FN 348), 41. Arbeitsbericht 1988, S. 35; DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 14; DIHT (FN 341), Bericht '88, S. 14 f.; ZDH (FN 341), Handwerkspolitische Wünsche, S. 24 und S. 26 f. 333
Vgl. DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 14.
334
Vgl. dazu auch Gattermann (FN 287), Marktwirtschaftliche Steuerpolitik, S. 12 f.
333
Vgl. BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 199.
336
Vgl. ZDH (FN 341), Handwerkspolitische Wünsche, S. 27.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
117
nach einer auf die Belange des Mittelstandes zugeschnittenen Förderung in Form einer steuerstundenden Investitionsrücklage, die auch einen Ausgleich dafür darstelle, daß Handwerk und Mittelstand kaum an die Börse gehen können. 357 Dieser Vorschlag wird vom BDI und DIHT strikt abgelehnt, weil es kaum eine justitiable Definition des Klein- und Mittelbetriebes gebe. Demzufolge müßte die Investitionsrücklage steuertechnisch äußerst kompliziert ausgestaltet sein, ohne betriebswirtschaftlich nennenswert zu Buche zu schlagen.358 I m Gegensatz zum Handwerk legen die anderen Verbände aus den genannten ordnungspolitischen Gründen der Rechtsformneutralität, aber auch aus wachstumspolitischen Gründen hingegen großen Wert auf eine Reduzierung auch des Körperschaftsteuersatzes auf thesaurierte Gewinne; eine Forderung, die mit dem Steuerreformgesetz 1990, das einen von 56 v.H. auf 50 v.H. zurückgenommenen Körperschaftsteuersatz vorsieht, jedoch nur teilweise umgesetzt worden ist. 3 5 9 Aus wirtschaftspolitischen Gründen richten sich zwei weitere zentrale Forderungen auf die Abschaffung der Vermögensteuer auf Betriebsvermögen und auf die Abschaffung der Gewerbesteuer. Die Vermögensteuer sollte nach Ansicht des BDI aus Gründen der Rechtsformneutralität und weil sie ein Beitrag zur Steuervereinfachung wäre, abgeschafft werden; kann doch dann die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens weitgehend entfallen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und empfiehlt die völlige Abschaffung der Vermögensteuer, weil die Betriebe ohnehin bislang den überwiegenden Anteil des Aufkommens daraus einbrächten. Das nach einer Abschaffung der Betriebsvermögensteuer verbleibende Aufkommen lohne den Aufwand der Erhebung nicht mehr. 360
357 Vgl. ebenda, S. 27 - 30; ZDH (Hrsg.), Argumente zur Handwerkspolitik, Nr. 2/86 (Investitionsrücklage - Finanzierungshilfe für den Mittelstand), und Nr. 4/86 (Positionen zur Bundestagswahl 1987), [S. 1]; Steuerpolitischer Forderungskatalog des Deutschen Bauernverbandes, beschlossen im Dezember 1986, Tz. 4.4. 358 Vgl. Hans Flick, Eine ahnliche Entwicklung wie beim Paragraphen 7 g wäre vorauszusehen, in: Handelsblatt, Nr. 202, 21. Okt. 1986, S. 7; Pressebericht "Entlastung bei den gewerblichen Zusatzsteuern" (FN 344). 359 Vgl. BDI (FN 344), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", S. 6 f. und S. 16 f.; BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 199 ff.; DIHT (FN 341), Bericht '88, S. 14 ff.; Pressebericht "DIHT: Subventionen kürzen" (FN 345); HDE (FN 348), 41. Arbeitsbericht 1988, S. 39; vgl. auch Spitzenverbände der Deutschen Industrie, "Steuerpolitische Position der deutschen Wirtschaft", Köln, Bonn, 7. Juni 1989, 49/89. 360 Vgl. BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 203 ff.; Jahresbericht 1988 der BDA (FN 342), S. X I V ; DIHT (FN 341), Bericht '88, S. 16 f.; Pressebericht "Ein neues Reformmodell für die Gewerbesteuer", in: Handelsblatt, Nr. 186, 27./28. Sept. 1985, S. 5.
118
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Das Handwerk schließt sich mit dem Argument an, daß sonst "mittlere und große Personenunternehmen, bzw. deren Inhaber, weiterhin Vermögensteuer bezahlen, während konkurrierende Publikumsgesellschaften entlastet würden, obwohl bei diesen in der Regel die Doppelbelastung dann nicht zum Tragen kommt, wenn die Aktien sich in[!] Besitz von Kleinaktionären oder institutionellen Anlegern befinden". 361 Der DIHT ergänzt, daß die Betriebsvermögensteuer ohnehin unter dem Gesichtspunkt der Steuerharmonisierung in Europa überprüft werden müsse.362 Die Gewerbesteuer in ihrer derzeitigen Form steht seit Jahren im Zentrum der Kritik der Arbeitgeberverbände. Abgesehen von der dadurch verursachten zusätzlichen Belastung, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtige, 363 erfülle sie zudem ihre wesentliche Zielsetzung nicht mehr, weil die hohe Konjunkturreagibilität die Gemeinden zu stark vom Auf und Ab der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig mache. Außerdem verschärfe sie langandauernde regionale Strukturschwächen. Schließlich sei die Gewerbesteuer heute kaum noch mit dem Aquivalenzprinzip zu rechtfertigen. 364 U m diesen Nachteilen zu begegnen, haben BDI und DIHT Reformmodelle entwickelt. Ein weiterer Vorschlag stammt vom Institut "Finanzen und Steuern". Reformvorschläge zur Gewerbesteuer sind jedoch auch von den Ländern Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Hamburg entwickelt worden, wobei das Hamburger Modell einer allgemeinen Betriebsteuer auf der SPDForderung nach einer "Revitalisierung der Gewerbesteuer" basiert. 365
361
ZDH (FN 347), Argumente, Nr. 3/86, [S. 4].
362
Vgl. DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 14.
363
Vgl. Jahresbericht 1986 der BDA (FN 341), S. ΧΠ; BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 148 ff.; Heidelberger Manifest. Leitlinien der Wirtschaftspolitik aus Anlaß des 125jährigen DIHT-Jubiläums, 13. Mai 1986, S. 3. 364 Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 152; BDI (FN 344), "Zukunftsorientierte Steuerpolitik", S. 14 f.; BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 204 ff.; RA Arnold Willemsen (Mitglied der Hauptgeschäftsfuhrung des BDI), Reform der Unternehmensbesteuerung, 14. Nov. 1988 (Cloppenburger Wirtschaftsform), S. 11 ff. 363
Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 152 ff.; Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Alte Steuer - gute Steuer? Köln 1986; Pressebericht "Reformmodell fur die Gewerbesteuer" (FN 360); Hans Flick, Gewerbesteuerreform aus der Sicht der Wirtschaft, insbesondere der Vorschlag des D I H T , in: Schriftenreihe der Industrie- und Handelskammer Regensburg, Heft 9, 1984: Gewerbesteuer auf neuem Kurs? S. 23 - 26, insbes. S. 25 f.; vgl. Deutscher Industrie- und Handelstag (Hrsg.), Gewerbesteuer auf neuem Kurs, Bonn, Juni 1982; Institut "FSt", Modell für die Ablösung der Gewerbesteuer durch einen Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer, Brief 211, Bonn 1982; Wolfgang Ritter, Abbau der Gewerbesteuer, in: BB, 38. Jg., 10. März 1983, S. 394 f.; Gobrecht (FN 329), Neugestaltungen im Steuersystem, S. 25 - 33, insbes. S. 29 ff.;
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
119
BDI und DIHT sind sich natürlich im klaren darüber, daß die Kommunen auf die Diskussion zur Reform der Gewerbesteuer empfindlich reagieren. Tatsachlich ist denn auch der Deutsche Städtetag besonders an den fiskalisch-budgetären Besteuerungsgrundsätzen der Ausreichendheit und der Steigerungsfahigkeit sowie aus steuertechnischer Sicht an dem Grundsatz der Praktikabilität der Steuermaßnahmen interessiert. Er plädiert aus verfassungsrechtlichen Gründen fur einen funktionsgerechten Finanzausgleich und akzentuiert vor allem die Beibehaltung des Hebesatzrechtes der Gemeinden.366 Der Deutsche Städtetag lehnt daher die meisten der diskutierten Reformvorschläge ab, verkennt jedoch nicht die Notwendigkeit einer Reform. Diese soll jedoch darauf abzielen, durch eine Ausweitung der Steuerpflichtigen und die Verbreiterung der Besteuerungsgrundlagen eine durchschnittliche Entlastung der heutigen Gewerbesteuerzahler zu ermöglichen. Der Grundidee nach knüpft der Vorschlag des Deutschen Städtetages an die Vorstellung einer Wertschöpfungsteuer des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen an. Im Gegensatz zum Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats, der alle Wertschöpftmgsbestandteile dem gleichen Steuersatz unterwerfen will, sollen nach den Reformüberlegungen des Städtetages die einzelnen Komponenten der Wertschöpftmg unterschiedlich gewichtet werden, um so auch die Möglichkeit zu schaffen, den ertragsunabhängigen Bestandteilen ein geringeres Gewicht geben zu können. 367 Nach Auffassung von BDI und DIHT muß eine entsprechende Reform daher verfassungsrechtlich abgesichert sein, und sie darf den Finanzstatus der Gemeinden auf keinen Fall verschlechtern. Die anhaltende Diskussion darüber zeigt, daß der Zeitbedarf fur eine solche Reform größer ist als ursprünglich vermutet wurde. 368 Die beiden Verbände akzeptierten deshalb zwischenzeitlich als Alternative ein Anrechnungsmodell, das im Bundesfinanzministerium seit
Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Überlegungen zu einer Reform der Unternehmensbesteuerung (Februar 1986), S. 9 f.; Walter Hirche (Niedersächsischer Minister für Wirtschaft, Technologie und Verkehr), Die Abschaffung der Gewerbesteuer - ein Hebel fur mehr Arbeitsplätze, in: Wirtschaftspolitik aktuell, Nr. 17, April 1988; Niedersächsisches Diskussionmodell zur Abschaffung der Gewerbesteuer (Stand: Mai 1989). 366 Vgl. z.B. Hanns Karrenberg, Engelbert Münstermann, Gemeindefinanzbericht 1987, in: Der Städtetag, N.F., Jg. 40 (1987), S. 77 ff.; dies., Gemeindefinanzbericht 1989, in: Der Städtetag, N.F., Jg. 42 (1989), S. 102; Hans Joachim Schäfer, Zur Zukunft der Gewerbesteuer, in: Der Städtetag, N.F., Bd. 39 (1986), S. 775. 367 Vgl. im einzelnen dazu Vorschlag des Deutschen Städtetages zur Umgestaltung der Gewerbesteuer, in: Der Städtetag, N.F., Bd. 39 (1986), S. 776 ff., insbes. S. 777, S. 778 f., S. 780 und S. 781. 368
Vgl. DIHT (FN 341), Bericht '88, S. 16.
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
120
Anfang 1987 erwogen wird. 3 6 9 Inzwischen halten sie diese Alternative nicht mehr fur akut, und der BDI setzt erneut auf sein Kombinationsmodell. 370 Skeptisch verhalten sich BDI und DIHT jedoch gegenüber dem von RheinlandPfalz eingebrachten Vorschlag, und ganz vehement wenden sie sich gegen eine kommunale Wertschöpfungsteuer anstelle der jetzigen Gewerbesteuer. 371 Der Kritik an einer Wertschöpfungsteuer schließt sich das Handwerk an, weil es zusätzliche Belastungen fur lohnintensive Betriebe und einen hohen Verwaltungsaufwand befurchtet. Allerdings hält der Z D H auch die anderen Vorschläge der Wirtschaftsverbände fur unakzeptabel, weil sie im Ergebnis zur Anhebung der Umsatzsteuer fuhren und damit die Gefahr einer Ausweitung der Schattenwirtschaft in sich bergen. Da auch die "Revitalisierung der Gewerbesteuer" abgelehnt wird, ist zu schließen, daß das Handwerk den derzeitigen Zustand beibehalten möchte. 372 Schließlich fordern alle Verbände eine Steuerrechtsvereinfachung. Das Steuerrecht dürfe nicht wie bisher mit außerfiskalischen Zielsetzungen überfrachtet sowie durch komplizierte und überzogene Detailregelungen unüberschaubar gemacht werden. 373 Der DIHT will neben Erleichterungen bei den unentgeltlich für den Fiskus zu erbringenden Hand- und Spanndiensten zudem eine Verbesserung des Klimas zwischen Steuerpflichtigen und Finanzämtern durch ein bürgerfreundliches Steuerverfahren und durch die Beschleunigung der finanzgerichtlichen Verfahren erreichen. 374 Der BDI unterstreicht in diesem Zusammenhang den rechtsstaatlichen Grundsatz, wonach im Besteuerungsverfahren zunächst vom ehrlichen Steuerbürger auszugehen sei, und er legt besonderen Wert auf rechtsstaatliche Grundsätze im grenzüberschreitenden Aus-
369 Vgl. Pressebericht "BDI und D I H T haben sich mit dem Anrechnungsmodell angefreundet", in: Handelsblatt, Nr. 32, 16. Febr. 1987, S. 4. 370
Vgl. im einzelnen dazu BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 207 ff.
371
Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 152; BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 205 ff. Zur Erläuterung des Vorschlags einer Wertschöpfungsteuer, der vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen vorgelegt wurde, vgl. Alois Oberhauser, Kommunale Wertschöpfungsteuer als Alternative zur Gewerbesteuer, in: Schriftenreihe der Industrie- und Handelskammer Regensbuig (FN 365), Gewerbesteuer auf neuem Kurs? S. 12 - 22. 372
Vgl. ZDH (FN 341), Handwerkspolitische Wünsche, S. 30 f.
373
Vgl. ebenda, S. 31 f.
374
Vgl. DIHT (FN 341), Mehr Markt, S. 14; DIHT (FN 342), Bericht »86, S. 58.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
121
kunftsverkehr. 375 Der DIHT ergänzt diese Forderungen mit dem Begehren, daß die Finanzämter künftig bei geplanten wichtigen unternehmerischen oder privaten Entscheidungen eine verbindliche Auskunft über die Steuerbelastungen erteilen sollen. 376 Ausgangspunkt der Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und seiner Gewerkschaften sind die unveräußerlichen Rechte des Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung. 377 Zu ihrer Realisierung bedürfe es eines Höchstmaßes an Gerechtigkeit und Chancengleichheit. 378 Insofern decken sich die Grundwerte von Parteien, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Unterschiede werden jedoch in der Entfaltung dieser Werte sichtbar. Der fortbestehende "Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit" erfordere nämlich nach Ansicht des DGB, sich auf "ethische und politische Grundhaltungen" zu besinnen, "die den Geist der Solidarität in der Gewerkschaftsbewegung bestimmen". Nur so sei es möglich, bisherige soziale Errungenschaften zu sichern und "eine Gesellschaftsordnung zu erkämpfen, die allen die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht". 379 Konsequenterweise sind der weitere Ausbau des sozialen Rechtsstaates und die Mitwirkung der Gewerkschaften an der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft zentrale Zielsetzungen des DGB, und er begreift die Gewerkschaften als "entscheidendein] Integrationsfaktor und unentbehrliche Kraft für eine demokratische Fortentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft". 380 Ganz konkret wird eine volkswirtschaftliche Rahmenplanung mit wirksamer Investitionsplanung gefordert. In einer solchen Planung möchte der DGB die öffentlichen Haushalte sowie die Finanz-, Steuer- und Geldpolitik vorrangig in den Dienst dieser Zielsetzungen stellen. 381
373 Vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 154 ff.; BDI (FN 343), Bericht 1986 - 88, S. 212 f., DIHT (FN 342), Bericht '86, S. 57 f.; vgl. auch Siegfried F. Franke, Stand und aktuelle Entwicklung des internationalen Steuerrechts, in: List Forum, Bd. 15 (1989), S. 92 f. 376
Vgl. DIHT (Hrsg.), DIHT-Meinung 1985, Bonn 1985, S. 65.
377
Vgl. DGB-Bundesvorstand bundes, Düsseldorf 1981, S. 1. 378
(Hrsg.), Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschafts-
Vgl. ebenda, S. 2, S. 3 und S. 5.
379
Alle Zitate ebenda, S. 1.
380
Vgl. ebenda, S. 2 und S. 5; ebenda, S. 2.
381
Vgl. ebenda, S. 11 f. und S. 13; Dieter Höckel, Die ordnungspolitische Konzeption des Deutschen Gewerkschaftsbundes, in: List Forum, Bd. 12 (1983/84), S. 126.
122
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Der Christliche Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB) wie die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) lehnen demgegenüber den umfassenden gesellschaftlichen Anspruch des DGB ab und vertreten eine oft abweichende Position. Sie bejahen die Soziale Marktwirtschaft, weil sie die angestrebten Werte praktisch umzusetzen vermag. 382 Der Deutsche Beamtenbund (DBB) w i l l hingegen wie der DGB zu Fragen allgemeiner gesellschaftspolitischer Bedeutung Stellung nehmen, weil nur so eine umfassende gestaltende Politik für den Bürger möglich sei. 383 Allerdings geißelt die ihm angegliederte Deutsche Steuer-Gewerkschaft (DStG) die Vorstellung, daß schlechthin alle gesellschaftsund wirtschaftspolitischen Staatsziele über das Steuerrecht erreicht werden könnten. Im Gegensatz zur programmatischen Vorstellung des DGB vom instrumentellen Einsatz des Steuerrechts fordert die DStG eine Besinnung auf die Einnahmenerzielung als eigentliche Funktion nach § 3 AO Abs. I . 3 8 4 Wenngleich die skizzierten Positionen der Gewerkschaften die grundsatzliche Akzeptanz der besteuerungspolitischen Postulate nach Neumark implizieren, so liegt in ihnen zugleich der Grund für die im einzelnen beträchlich von einander abweichenden steuerpolitischen Vorstellungen. Ethisch-sozialpolitisch begründet ist die Forderung des DGB, daß die soziale Gerechtigkeit im Sinne des Leistungsfähigkeitsprinzips oberstes Gebot der Steuer- und Sozialpolitik sein müsse.385 Soziale Gerechtigkeit soll auch die »richtige« Aufteilung zwischen direkten und indirekten Steuern bestimmen, was zugleich wirtschaftspolitische Besteuerungsgrundsätze berührt: Vor allem aber leiten sich generelle wirtschaftspolitische Besteuerungsleitlinien aus der skizzierten Neuorientierung der Wirtschaftsordnung ab, die ordnungs- und prozeß-
382 Vgl. Bundesvorstand des CGB (Hrsg.), Leitsatze des Christlichen Gewerkschaftsbundes Deutschlands, Bonn, November 1977, S. 5, Nr. 2, S. 6, Nr. 6, Nr. 9, Nr. 10, und S. 7 f., Nr. 19; DAG, Bundesvorstand, Programm der DAG zur Gesellschaftspolitik, Hamburg, Mai 1984, S. 7, S. 9, S. 14 und S. 33 f. 383 Vgl. Bundesleitung des DBB (Hrsg.), Karlsruher Programm des DBB für den öffentlichen Dienst, Bonn, o.J. [1983], S. 5 und S. Π. 384
Vgl. Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 13; DStG, Rahmenvorschläge zur Steuervereinfachung und Steuerentlastung, Manuskript, S. 3. Diese Vorschläge sind von der Bundesleitung verabschiedet und vom 11. Steuer-Gewerkschaftstag am 8./9. Mai 1987 in Dortmund angenommen worden. Sie dienten gleichzeitig für eine gemeinsame Initiative mit dem Bund der Steuerzahler. Zugestimmt hat diesen Vorschlägen auch der Steuerausschuß der Arbeitsgemeinschaft "Klimatagung", in der die DStG mit den Bundeskammern und Bundesverbänden der steuerberatenden Berufe der Bundesrechtsanwaltskammerund dem Bund Deutscher Finanzrichter zusammenarbeitet. 383
Vgl. Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 19.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundstze
123
politische Aspekte umfaßt. Steuerrechtliche und steuertechnische Grundsätze leiten die Forderung des DGB nach einer wirksamen Steuerverwaltung und Steuerkontrolle, 386 und die DAG legt großen Wert auf "eine Verbesserung der Steuerveranlagungs- und Erhebungstechniken sowie Maßnahmen zur Verringerung von Steuerrückständen und Steuerlücken". 387 CGB und DBB wollen komplizierte Paragraphen und Sonderregelungen abschaffen sowie alle Möglichkeiten der Verwaltungsvereinfachung ausschöpfen, was zudem ordnungspolitisch geboten sei. 388 Die DStG beklagt insbesondere den inzwischen entstandenen " Steuerdschungel ", der das Steuerrecht zum Steuerunrecht wandele. Für sie verknüpfen sich Gerechtigkeits- und Vereinfachungsaspekte miteinander: "Steuergerechtigkeit und Steuervereinfachung müssen wichtigstes Ziel der Steuergesetzgebung und des Besteuerungsverfahrens sein. w 3 8 9 An dieser Stelle sei eingefugt, daß der Bund Deutscher Finanzrichter als zentrales Anliegen ebenfalls das Ziel der Steuervereinfachung verfolgt. Nur ein grundlegend vereinfachtes Steuerrecht entspreche den Grundsätzen der Transparenz, der Praktikabilität und vor allem dem der Steuergerechtigkeit. Deshalb kritisieren die Finanzrichter die Steuerreform 1990, weil sie hauptsächlich auf eine reine Tarifreform abstelle, eine wirklich durchgreifende echte Steuerreform jedoch nicht beinhalte; eine Einschätzung, die die DStG teilt. 3 9 0 Weder werde die Rechtsanwendung erleichtert noch die hohe Zahl der Streitfälle und deren überlange Verfahrensdauer bei den Finanzgerichten reduziert. Daher sei abzusehen, daß das Steuerrecht nach wie vor als ungerecht empfunden werde; Akzeptanz des Steuerrechts und Steuermoral werden demzufolge kaum steigen. 391 Die steuerpolitischen Vorstellungen des DGB, in deren Mittelpunkt der "Vorrang einer beschäftigungssichernden Finanzpolitik" steht, entsprechen dem
386
Vgl. ebenda, S. 13.
387
Programm der DAG (FN 382), S. 35.
388
Vgl. CGB, 9. Ordentlicher Bundeskongreß, 17. und 18. Oktober 1986, Bonn, Antragsteil "Steuerrecht"; DBB (FN 383), Karlsmher Programm, S. I und S. 1. 389 Vgl. DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 1 ff.; Programm der Deutschen SteuerGewerkschaft (1983), Tz. 2. 390 Vgl. DStG, "Steuerreform 1990". Stellungnahme der Deutschen Steuer-Gewerkschaft zum Entwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP eines Steuerreformgesetzes 1990, Bonn, [Mai 1988], S. 1 - 3 . 391 Vgl. Pressebericht "Von einer wirklichen Steuerreform ist nicht die Rede", in: Handelsblatt, Nr. 53, 17. März 1987, S. 3.
124
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
umrissenen Grundsatzprogramm. Dazu fordert der DGB beharrlich ein staatliches Beschäftigungsprogramm in Milliardenhöhe, 392 dessen Finanzierungskomponente im Rahmen dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist. Die Finanzierung soll u.a. durch einen Verzicht auf die Senkung von Unternehmensteuern, fur die aus gewerkschaftlicher Sicht ohnehin kein Bedarf vorliege, erfolgen: "Wenn überhaupt, kommen nur solche Steuersenkungen und Strukturverbesserungen in Frage, die vorwiegend den Arbeitnehmern und Masseneinkommen zugute kommen, sozial strukturiert und vor allem dazu geeignet sind, eine Stärkung der Kaufkraft und Nachfrage sicherzustellen." 393 Die Gewerkschaften halten daher eine Senkung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer für völlig "indiskutabel" (Ernst Breit)? 94 Aus programmatischer Sicht seien vielmehr die Unternehmenseinkommen und Spitzeneinkommen durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer auf 60 v.H. und eine Ergänzungsabgabe stärker zu besteuern. Da zugleich das Existenzminimum erhöht, die untere Proportionalzone ausgeweitet und eine Abflachung in der ersten Progressionszone angestrebt werden, ergibt sich fur den weiteren Tarifverlauf ein kräftiger Progressionsanstieg. 395 CGB, DAG, DBB und DStG plädieren aus ethisch-sozialpolitischer Sicht ebenfalls für eine kräftige Anhebung der Grundfreibeträge ( D M 6000/DM 12.000, DAG), befürworten aber einen linear-progressiven Anstieg des Grenzsteuersatzes. Nach Meinung der DAG soll er von 17 v.H. bis 60 v.H. laufen, allerdings soll der Spitzensteuersatz erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von D M 175.000/DM 350.000 einsetzen. CGB und DBB möchten den bisherigen Satz von 56 v.H. beibehalten.396 Die DStG äußert sich nicht
392 DGB, Bundesvorstand (Hrsg.) y Protokoll. 13. Ordentlicher Bundeskongreß. Hamburg 1986, Frankfurt (Main), Oktober 1986, Antragsteil, Antrag Nr. 89, S. 186; vgl. auch Antrag Nr. 75, S. 143 ff. 393 Hartmut Tofaute, Gesamtwirtschaftliche Entwicklungslinien der Steuerpolitik aus verteilungspolitischer Sicht, in: WSI-Mitteilungen, 39. Jg. (1986), S. 772. 394 Ohne Verf., DGB/Gesprach mit Ernst Breit. "Eine Senkung des Spitzensteuersatzes ist fur die Gewerkschaften indikutabel", in: Handelsblatt, Nr. 32, 16. Febr. 1987, S. 3. 393 Vgl. Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 13; vgl. DGB (FN 392), 13. Bundeskongreß, Antrag Nr. 89, S. 186 f.; Hans Georg Wehner, Anforderungen an die Steuerpolitik aus gewerkschaftlicher Sicht vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerpolitik, in: WSI-Mitteilungen, 39. Jg. (1986), S. 811 ; ÖTV (Hrsg.), Beschlüsse. 10. Gewerkschaftstag München 1984, Karlsruhe 1984, Antrage 411 f., S. 113 f.; ÖTV, Beschlüsse, 11. Gewerkschaftstag Hamburg 1988, Stuttgart 1989, Antrage 213 und 217, S. 109 und S. 112 f. 396 Vgl. CGB (FN 388), 9. Bundeskongreß, Antragsteil "Steuerrecht Ait. "Der 11. Bundestag muß ran! Erwartungen der christlichen Gewerkschaften", in DGZ, 33. Jg., Nr. 2, Februar 1987, S. 4/5; CGB, Schriftliche Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
125
eigens zur Höhe des Spitzensteuersatzes. Allerdings bezeichnete der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Werner Hagedorn, in einem Interview die Diskussion um den Spitzensteuersatz als einen "Popanz", weil von seiner Höhe kaum Auswirkungen auf das Investitionsklima ausgingen.397 Die Gewerkschaften im DGB sehen weder im internationalen Vergleich noch aus beschäftigungspolitischen Gründen Notwendigkeiten oder Spielräume fur eine Senkung der Körperschaftsteuer. Der DGB fühlt sich in dieser Hinsicht durch das jüngst vom D I W vorgelegte Gutachten über einen internationalen Vergleich der Unternehmensteuerbelastung bestätigt. 398 In der derzeitigen Situation sei neben dem Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer auch der Körperschaftsteuersatz zumindest beizubehalten und zeitweise mit einer Ergänzungsabgabe zu versehen. Allenfalls wäre über aufkommensneutrale Strukturreformen in der Unternehmensbesteuerung nachzudenken.399 Die ÖTV fordert darüber hinaus aus gerechtigkeits- und wirtschaftspolitischen Gründen die Anhebung der Vermögensteuer auf 2 v.H., die Abschaffung von Abschreibungsgesellschaften und Steuervergünstigungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG a.F. (sog. Flick-Paragraph) sowie eine Bodenwertzuwachssteuer ohne Veräußerungsfrist. 400 Die letzten beiden Forderungen finden die Zustimmung der D A G . 4 0 1 Der CGB trägt die Forderung nach einer allgemeinen Erhöhung der Unternehmensbesteuerung nicht mit, w i l l jedoch auch die Privilegien und geldwerten Vorteile der Selbständigen und Freiberufler beschneiden.402 Der DGB schließt sich im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und aus wirtschaftspoli-
FDP eines Steuerreformgesetzes 1990, Bonn, 3. Mai 1988, S. 2; DAG, Bundesvorstand, Dringlichkeitsprogramm der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft fur den 11. Deutschen Bundestag, Hamburg 1987, Kap. "Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft"; Stellungnahme des Deutschen Beamtenbundes fur die öffentliche Anhörung durch den Finanzausschuß des Deutschen Bundestages am 17. April 1985 zum Steuersenkungsgesetz 1986/88, [Bonn], 3. April 1985; DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 3 f. 397 Vgl. Art. "Steuervereinfachungunmöglich ohne Subventionsabbau",in: Die Steuer-Gewerkschaft, 36. Jg. (1987), S. 23. 398 Vgl. DGB, Bundespressestelle, Nachrichten-Dienst, Nr. 148, 18. Mai 1989 (Steuergutachten bestätigt DGB-Auffassung). 399 Vgl. Ingrid Scheibe-Lange, Zu hohe Belastung der Unternehmensgewinne mit ErtragSteuern? In: WSI-Mitteilungen, 39. Jg. (1986), S. 772 ff.; Wehner (FN 395), Steuerpolitik aus gewerkschaftlicher Sicht, S. 811; DGB, Bundespressestelle, Nachrichten-Dienst, Nr. 122, 26. April 1989 (DGB fordert arbeitnehmerfreundliche Korrektur in der Steuerpolitik), S. 2 (Nr. 5). 400
Vgl. ÖTV (FN 395), 10. Gewerkschaftstag, Anträge 411 f., S. 113 f.
401
Vgl. Programm der DAG (FN 382), S. 35 und S. 37.
402 Vgl. Informationsblatt des CGB "Besteuerung von geldwerten Vorteilen fur Arbeitnehmer", Bonn, 12. 6. 1986; CGB (FN 388), 9. Bundeskongreß, Antragsteil "Steuerrecht".
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
tischen Gründen mit der Forderung nach Abschaffung steuerlicher Gestaltungsprivilegien, der Verschließung von Ausweichmöglichkeiten, der Intensivierung von Betriebsprüfungen und Steuerfahndung sowie einer konsequenten Beitreibung von Steuerrückständen an. 403 Schließlich sei eine gerechtere Besteuerung der Geldvermögenseinkommen ins Auge zu fassen (Einfuhrung einer Quellensteuer auf alle Kapitalerträge, ÖTV). Der DGB strebt darüber hinaus eine vereinfachende und gerechtere Gestaltung der Steuergesetzgebung an, indem z.B. alle kinderbezogenen Vergünstigungen zu einer einheitlichen Unterstützungsleistung zusammengefaßt werden. 404 DGB und CGB wenden sich insbesondere gegen Verbrauchsteuererhöhungen zur Finanzierung weiterer Steuersenkungen. Wegen ihrer regressiven Wirkung einerseits und der (gewollten) Möglichkeit andererseits, indirekte Steuern auf den Endverbraucher abzuwälzen, seien sie sozial ungerecht. 405 Als sozial ungerecht werden vom DGB auch Kinderfreibeträge empfunden, weil sie entsprechend der jeweiligen Grenzsteuerbelastung zu unterschiedlich hohen, insbesondere reiche Eltern begünstigenden Entlastungen fuhren. Statt dessen sollte ein großzügig bemessenes Kindergeldsystem eingeführt werden, das einkommensabhängig gestaffelt sein könnte. Diesen Forderungen schließt sich die DAG an, während der CGB zwar progressiv nach der Zahl der Familienangehörigen steigende materielle Hilfen fordert, um den Lebensraum der Familie gerecht zu berücksichtigen, zu Einzelheiten der Ausgestaltung (Kinderfreibeträge vs. Kindergeld; ggf. Einbeziehung in den Splittingtarif) äußert er sich jedoch nicht. 406 DBB und DStG wollen beim miteinander verzahnten System von steuerrechtlich angemessenen Kinderfreibeträgen (etwa D M 4000 j e Kind und Jahr, DBB) und Kindergeld bleiben. Weil der Kinderfreibetrag bei Geringverdienern nicht voll zum Tragen komme, sei ihnen ein Kindergeldzu-
403
Vgl. DGB (Hrsg.) (FN 392), 13. Bundeskongreß, Antrag Nr. 89, S. 123.
404
Vgl. ebenda, S. 123 f.; ÖTV (FN 395), 10. Gewerkschaftstag, Antrage 411 f. und 416 a, S. 113 f. 403 Vgl. Tofaute (FN 393), Steuerpolitik aus veiteilungspolitischer Sicht, S. 763 f.; DGB (FN 392), 13. Bundeskongreß, Antrag Nr. 89, S. 187; DGB, Bundespressestelle, NachrichtenDienst, Nr. 270, 6. Juli 1988 (DGB: Massive Verbrauchsteuererhöhungen drohen Konjunktur abzuwürgen); CGB (FN 388), 9. Bundeskongreß, Antragsteil "Steuerrecht"; Art. "Steuerreform. Soziale Ausgewogenheit erforderlich", in: DGZ, 33. Jg., Nr. 3, März 1987, S. 2. 406 Vgl. Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 19; vgl. DGB, Wirtschaftspolitische Informationen, Nr. 1/1985, 12. Februar 1985 (über die Reformpläne der Regierungskoalition zu Steuertarif und Familienlastenausgleich), S. 1 2 - 15\ DAG (FN 396), Dringlichkeitsprogramm, Kap. "Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft"; Leitsätze des CGB (FN 382), S. 7, Nr. 12, Nr. 14 und Nr. 18.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
127
schlag zu gewähren (zur Zeit ist an monatlich D M 72 gedacht), der aus Verwaltungsvereinfachungsgrûnden jedoch nur beim Lohnsteuer-Jahresausgleich geltend gemacht werden solle. 407 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß beide Verbände aus gerechtigkeitspolitischen Gründen eine Abstimmung zwischen Steuerrecht und Transfers befürworten. Die DStG befürwortet zudem aus Vereinfachungsgründen die Entwicklung des Finanzamtes zum sozialen Transferamt, sofern die Steuerverwaltung zusätzliches Personal erhalte. 408 Die ÖTV fordert aus Gerechtigkeitsgründen, die derzeitige Splittingbesteuerung abzuschaffen, während die DAG daran nicht rütteln will. 4 0 9 Im Gegensatz zum BDI hält der DGB - wie auch CGB und DAG, die besonderen Wert auf die Bildung von Produktivvermögen legen, - im übrigen die Förderung der Ersparnis- und Vermögensbildung bei den unteren und mittleren Einkommensgruppen nach wie vor für wichtig, 4 1 0 wobei dem DBB daran gelegen ist, auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst am Produktivkapital zu beteiligen. 411 Der DGB hält ferner eine gründliche Reform des Gemeindesteuersystems fur nötig, die jedoch nicht auf eine Abschaffung der Gewerbesteuer hinauslaufen dürfe, sondern sie vielmehr um- und ausbauen müsse, um das Einnahmenniveau der Gemeinden zu erhöhen. 412 Die gewerkschaftlichen Vorstellungen in diesem Bereich kommen im Ergebnis der von der SPD geforderten "Revitalisierung" der Gewerbesteuer nahe. 413 Die bisher vorgeschlagenen Modelle werden abgelehnt, weil sie entweder zu einer Erhöhung der Umsatzsteuer mit ihren unsozialen Verteilungswirkungen oder zu Personalkosteneinsparungen bei
407 Vgl. Stellungnahme des Deutschen Beamtenbundes zum Steuersenkungsgesetz 1986/88 (FN 396); Pressebericht "Die Finanzamter in der Umwandlung zu »Sozialen Transfer-Ämtern«", in: Handelsblatt, Nr. 113, 18. Juni 1988, S. 7. 408 Vgl. ebenda; DBB (FN 383), Karlruher Programm, S. 13; Hans Buob, Dem Transferamt entgegen, in: Die Steuer-Gewerkschaft, 37. Jg. (1988), S. 169 f. 409 Vgl. ÖTV (FN 395), 10. Gewerkschaftstag, Antrag 411, S. 113; ÖTV (FN 395), 11. Gewerkschaftstag, Antrag 213, S. 108 f.; DAG (FN 396), Dringlichkeitsprogramm, Kap. "Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft". 410 Vgl. Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 10; CGB (FN 382), Leitsatze, S. 8, Nr. 25, und S. 11, Nr. 41 und Nr. 44; DAG (FN 396), Dringlichkeitsprogramm, Kap. "Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft". 411
Vgl. DBB (FN 383), Karlsniher Programm, S. 9.
412
Vgl. Michael Deitmer, Werner Sauerborn, Systemkrise der Gemeindesteuern: gewerkschaftliche Anforderungen und Lösungsansätze, in: WSI-Mitteilungen, 39. Jg. (1986), S. 799; vgl. DGB (FN 392), 13. Bundeskongreß, Antrag Nr. 75, S. 145. 413
Vgl. ebenda, Antrag Nr. 84, S. 176 ff.
128
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Einführung etwa einer Wertschöpfungsteuer fuhren. 414 Die ÖTV teilt diese Analyse und bringt eine "Gewerbesteuer neuer Art" in die Diskussion, die sich mit den Vorschlägen von DGB und SPD zum Teil decken, mit der geplanten Wiedereinführung einer »Lohnsummensteuer« aber darüber hinausgehen.415 Ein spürbarer Subventionsabbau wurde nicht nur von den Regierungsparteien, sondern auch von BDI, DIHT und vom Z D H thematisiert, und auch DStG und DBB halten dies aus fiskalisch-budgetären Gründen für wichtig. 4 1 6 Der DGB hingegen steht einem Subventionsabbau zur Finanzierung von Steuersenkungen betont skeptisch gegenüber. Nach seiner programmatischen Einstellung stellen Subventionen in erster Linie wirtschaftspolitische Steuerungselemente dar: Nicht ihr Abbau als Selbstzweck, sondern die Kontrolle mit dem Ziel eines möglichst wirkungsvollen Einsatzes der finanziellen Mittel muß die Richtschnur der Subventionspolitik sein. Dies könnte durch Umwandlung aller Steuervergünstigungen in offene und deshalb besser kontrollierbare Zuschüsse, durch befristet gewährte Subventionen mit Berichtspflicht und durch rückzahlbare statt verlorener Zuschüsse erfolgen. 417 Auch für die ÖTV spielt der Subventionsabbau kaum eine Rolle; notwendig sei allerdings die "Bindung öffentlicher Subventionen an arbeitsplatzschaffende Auflagen". 418 Der Funktion der DStG als Interessenvertretung der Steuerbeamten entspricht, daß ihre aktuellen steuerreformpolitischen Vorschläge sehr ins steuerrechtliche Detail gehen, die hier mit Bezug auf die besteuerungspolitischen Grundsätze - soweit nicht oben schon referiert - nur in ihren Grundzügen dargestellt werden können. 419 Unter fiskalisch-budgetären Gesichtspunkten wird - im Gegensatz zur oft in der politischen Diskussion vorherrschenden Tendenz - für eine teilweise Beibehaltung der Bagatellsteuern plädiert, weil sie zum Teil fiskalisch recht ergiebig und mit vergleichsweise geringem Aufwand an der Quelle erhoben werden
414
Vgl. Deitmer, Sauerborn (FN 412), Systemkrise der Gemeindesteuern, S. 801 - 805.
415
Vgl. ÖTV, Steuern und Finanzen. Für eine Reform des Gemeindefinanzsystems, Stuttgart, Mai 1987, S. 30 ff., insbes. S. 34 f. 416
Vgl. DBB (FN 383), Karlmher Programm, S. 13.
417
Vgl. DGB (Hrsg.), Informationen zur Wirtschafte- und Umweltpolitik, Nr. 4/86, 25. Febr. 1986, S. 4; Grundsatzprogramm des DGB (FN 377), S. 13. 418
Arbeitsprogramm Neue Techniken/Rationalisierung der ÖTV, Stuttgart, August 1986,
S. 32. 419 Vgl. im einzelnen dazu DStG (FN 390), "Steuerreform 1990"; DStG (FN 384), Rahmenvorschlage.
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können. 420 Die weiteren Vorschläge berühren neben haushaltspolitischen auch ethisch-sozialpolitische sowie steuerrechtliche und steuertechnische Aspekte. So wird die Einfuhrung einer Ergänzungsabgabe abgelehnt, weil sie systemwidrig sei, einen hohen Verwaltungsaufwand erfordere und zudem nachgewiesenermaßen ungeeignet sei, um soziale Gerechtigkeit im Steuerrecht zu verwirklichen. 421 Die Steuerbeamten sind überdies skeptisch gegenüber der oft empfohlenen Ausweitung der Kontrollmitteilungen: Sie verursachten nämlich einen hohen Arbeitsaufwand. Ergiebiger sei es, auf der Grundlage des geltenden Verfahrensrechtes die Ermittlungschancen der Finanzbehörden zu steigern, indem die hierfür notwendigen sachlichen (Verdichtung des Informationsflusses zwischen Banken und Finanzämtern) und personellen Voraussetzungen geschaffen werden. Dies würde es auch ermöglichen, die Schattenwirtschaft einzudämmen. 422 In diesem Zusammenhang ist weiter zu erwähnen, daß die DStG großen Wert auf rechtsstaatliche Grundsätze in der Besteuerung legt, weshalb sie auch heftig das Amnestiegesetz in bezug auf hinterzogene Zinsen und die Aufnahme des Bankenerlasses in die Abgabenordnung kritisiert. 423 Die DStG lehnt das Konzept eines Familiensplitting rundweg ab, weil Kinder zwar einen Unterhaltsanspruch gegen ihre Eltern haben, aber nicht Teilhaber der Erwerbs- und Wirtschaftsgemeinschaft »Ehe« sind. Rechtsstaatlich problematisch wäre zudem das damit unumgänglich verbundene Eindringen in die Privatsphäre, um die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten zu erkunden. 424 Dem Verdikt entsprechend, daß der Staat nicht versuchen solle, mit dem Steuerrecht alle möglichen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Ziele zu verwirklichen, finden sich keine nennenswerten Vorschläge zur Höhe oder zur Umgestaltung der Unternehmensbesteuerung. Die steuergewerkschaftliche Zurückhaltung läßt sich allenfalls ordnungspolitisch mit den Grundsätzen der Vermeidung steuerdirigistischer Maßnahmen und der Minimierung der
420
Vgl. ebenda, S. 15.
421
Vgl. Pressebericht "SPD auf dem falschen Weg", in: Handelsblatt, Nr. 164, 28. Aug. 1986,
S. 1. 422 Vgl. Pressebericht "Finanzverwaltung fühlt sich mit einer »verbindlichen Auskunft« überfordert" und "Finanzierung der Steuerreform durch die Besteuerung der Schattenwirtschaft", in: Handelsblatt, Nr. 226, 26. Nov. 1985, S. 3, und Nr. 67, 6. April 1987, S. 5; DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 10 f. 423 Vgl. DStG (FN 390), "Steuerreform 1990", S. 3 f. und S. 24 ff.; vgl. auch Alt. "Steuerrechtspflege - Steuerstrafrecht. »Fairer Umgang in Legalitat«", in: Die Steuer-Gewerkschaft, 38. Jg. (1988), S. 83 f. 424
Vgl. DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 4 f.
9 Franke
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
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steuerlichen Eingriffe in die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit der einzelnen begründen. Zwar fordert die DStG den Abbau von steuerlichen Subventionen und Sonderregelungen, dies wird jedoch nicht wirtschaftspolitisch begründet, sondern als wesentliches Mittel zur Steuervereinfachung verstanden. Auch die vorgeschlagene Anhebung der Freibeträge der Vermögensteuer ist nicht etwa als wirtschaftspolitische Entlastungsmaßnahme, sondern als Maßnahme der Steuervereinfachung gedacht.425 Weil das Steuerrecht erneut mit komplizierten Regelungen befrachtet würde, wird auch die steuerstundende Investitionsrücklage abgelehnt; befürchtet wird hier allerdings, daß sie zu betriebswirtschaftlich unvernünftigen Investitionen führen könnte. 426 Der Eindruck einer ausgesprochenen wirtschaftspolitischen Zurückhaltung drängt sich auch bei der Beurteilung der Gewerbesteuer auf. So heißt es lapidar: "Durch den Abbau der Gewerbesteuer kann ein erheblicher Beitrag zur Steuervereinfachung erreicht werden. Die Gewerbesteuer bewirkt mit ihren beiden Teilsteuern (Gewerbeertragsteuer und Gewerbekapitalsteuer) eine unnötige Aufblähung und Komplizierung des Steuerrechts." 427 M i t kaum einem Wort werden jedoch die wirtschaftlichen, die verfassungsrechtlichen und die kommunalen Probleme sowohl der bisherigen Regelung als auch vorgeschlagener Reformmodelle erwähnt. Der Vereinfachungsgedanke läßt die Steuer-Gewerkschaft schlicht dafür plädieren, die Gemeinden in den Umsatzsteuerverbund einzubeziehen.428 Die Furcht vor einem möglichen höheren Verwaltungsaufwand bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlagen diktiert auch die Ablehnung einer Wertschöpfungsteuer. 429 Die Ausführungen lassen das Argumentationsmuster der DStG erkennen: Zum einen sind die meisten ihrer Vorschläge vom Gedanken der Steuervereinfachung beherrscht, 430 zum anderen wird immer wiederkehrend die perso-
423
Vgl. ebenda, S. 11 und S. 13 f.
426
Vgl. Pressebericht "SPD auf dem falschen Weg" (FN 421).
427
DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 12.
428
Vgl. ebenda, S. 12.
429
Vgl. ebenda, S. 13.
430
So z.B. auch die Begründung für eine Reihe weiterer Vorschläge im Bereich der Einkommensteuer, zur Einheitsbewertung und fur den Einbau der Kfz-Steuer in die Mineralölsteuer; vgl. DStG (FN 384), Rahmenvorschläge, S. 5 - 11, S. 13 und S. 14; DStG (FN 390), "Steuerreform 1990", S. 33 ff.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
131
nelle Verstärkung der Steuerverwaltung gefordert. 431 So sperrt sich die DStG aus verständlichen Gründen gegen die aus rechtsstaatlicher Sicht wünschenswerte »verbindliche Auskunft«, 432 weil die Länder in den vergangenen Jahren beträchtlich an Sachmitteln und Personal gespart haben und weil eine fatale Tendenz zu beobachten ist, daß dem Gesetzgeber beabsichtigte Steuerrechtsvereinfachungen zu weiteren Komplizierungen geraten. 433
b) Forderungen des Bundes der Steuerzahler und des Deutschen Steuerberaterverbandes 434 Der Bund der Steuerzahler (BdSt) versteht sich als Organisation von Bürgern, die ihrem Staat positiv gegenüberstehen, es aber für erforderlich halten, das staatliche Handeln wachsam zu kontrollieren. 435 Die dieser Grundhaltung entsprechende Programmatik stellt auf die strikte Beschränkung des Staates auf das Notwendige, den Vorrang der Privatinitiative vor Staatseingriffen und eine marktwirtschaftliche Ordnung ab. 4 3 6 Außerdem werden die Postulate der
431 Vgl. ebenda, passim; vgl. Art. "Hagedorn mahnt: Beförderungsstau abbauen", in: Die Steuer-Gewerkschaft, 36. Jg. (1987), S. 4 und S. 6; vgl. Presseberichte "Die Finanzämter in der Umwandlung zu »Sozialen Transfer-Ämtern«" (FN 407); "SPD auf dem falschen Weg" (FN 421); "Die Steuerbeamten verfugen nicht einmal über das einfachste Handwerkszeug der Gesetzestexte", in: Handelsblatt, Nr. 194, 9. Okt. 1986, S. 9; "Das Bonner Steuerchaos wird immer schlimmer", in: Handelsblatt, Nr. 197, 14. Okt. 1986, S. 4; "Finanzverwaltung fühlt sich mit einer »verbindlichen Auskunft« überfordert" (FN 422). 432
Vgl. ebenda.
433
So hat das 1987 in Kraft getretene und als Steuervereinfachung gedachte Steuerbereinigungsgesetz in 25 Artikeln 153 steuerrechtliche Vorschriften geändert, an 48 Stellen wurde die Abgabenordnung und an 23 Stellen das Einkommensteuergesetz geändert; vgl. Pressebericht "Die Steuerbeamten verfugen nicht einmal über das einfachste Handwerkszeug der Gesetzestexte" (FN 431). 434 Auch das 1949 gegründete Institut "Finanzen und Steuern" e.V. wäre im Rahmen dieser Arbeit zu nennen. Es ist eine Einrichtung der deutschen gewerblichen Wirtschaft, "die - ausgehend von volks- und betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen - in ständiger enger Verbindung mit der Praxis, der Wirtschaft laufend das unerläßliche Material zur Verfugung stellt, dessen sie zur konstruktiven Mitarbeit an der Gestaltung der Steuergesetze und der Steuerverwaltungspraxis bedarf". Zu diesem Zwecke schätzt das Institut Steuermindereinnahmen durch Änderungsgesetze und analysiert die Finanzgebarung der öffentlichen Haushalte. Darüber hinaus hat es durch zahlreiche Diskussionsbeiträge zur Lösung aktueller steueipolitischer Probleme beizutragen versucht (Informationsschreibendes Instituts "FSt", Bonn, o.J., S. 1 und S. 2). 435 Vgl. Ernst H. Kunze, Klaus Schelle, Der Bund der Steuerzahler, 2. Aufl., Düsseldorf 1977, S. 12; § 1 Abs. 4 der Satzung des Präsidiums des Bundes der Steuerzahler e.V. in der Fassung vom Mai 1984. 436 Vgl. Werner Stoye, Der Bund der Steuerzahler im Wandel der Zeit, in: Präsidium des BdSt (Hrsg.), Chronik des Bundes der Steuerzahler, Wiesbaden 1983, S. 106.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Rechtsstaatlichkeit, der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die jedoch auf keinen Fall überdehnt werden dürfe, sowie die der Verständlichkeit, Transparenz und Praktikabilität der Besteuerung hervorgehoben. 437 Aus fiskalisch-budgetärer Sicht beurteilt der BdSt nicht die Etats von Bund, Ländern und Gemeinden, sondern auch Probleme der EG-Finanzpolitik und die Personalausgaben der öffentlichen Hand. Er fordert eine Senkung der Staatsausgaben und die Rückführung der verfassungsrechtlich bedenklich hohen Staatsverschuldung. 438 Problematisch seien vor allem die überhandnehmenden Subventionen, die den Wettbewerb verfälschten, überholte Strukturen zementierten und zudem oft unkontrolliert versickerten, ohne die zu Begünstigenden zu erreichen. Darüber hinaus korrumpierten sie Politiker und Parteien. 439 Diese Beurteilung der Subventionen führt zu wirtschaftsordnungs- und -prozeßpolitischen Aspekten, die den BdSt veranlassen, nachdrücklich eine Reduzierung der seiner Meinung nach zu hohen Abgabenbelastung zu fordern. Die Schattenwirtschaft nämlich sei eine zwangsläufige Folge einer zu hohen Belastung mit Steuern und Abgaben, die außerdem die Entfaltungsmöglichkeiten der einzelnen vermindere. 440 Die damit zugleich angesprochenen ethischsozialpolitischen Erwägungen lassen den BdSt für eine maßvolle Progression mit linearem Tarifverlauf, einem Spitzensteuersatz von unter 50 v.H., einer hinausgeschobenen oberen Proportionalzone, einem geringeren Eingangssteuersatz und höheren Grundfreibeträgen plädieren. 441 Erkennbar wird eine steuerliche Umverteilung skeptisch beurteilt; sei doch die Progression nicht die Lösung, sondern eher der Anfang eines Bündels von Fragen nach der »richtigen« oder »gerechten« Tarifkonstrukion. 442 So kritisiert der BdSt heftig das tariflich programmierte inflationsbedingte Hineinwachsen vieler Einkommensbezieher in Progressionsbereiche, die ursprünglich nicht für sie gedacht waren.
437
Vgl. § 2 Abs. 2 der Satzung (FN 435).
438
Vgl. Karl-Bräuer-Institut des BdSt (Hrsg.), Heft 47, Finanzpolitik am Scheideweg, Wiesbaden 1980, S. 38 ff. und S. 131 ff. 439
Vgl. Stoye (FN 436), Der Bund der Steuerzahler, S. 121 f.
440
Vgl. Armin Feit, Präsident des Bundes der Steuerzahler, Nicht kleckern, sondern klotzen! Interview in der ZEIT, Nr. 30, 18. Juli 1986, S. 24; Willy Haubrichs, Grenzen für den Steuerstaat, in: Präsidium des BdSt (Hrsg.), Grenzen fur den Steuerstaat, Wiesbaden 1981, S. 86 f. 441 Vgl. z.B. Karl-Bräuer-Institut des BdSt (Hrsg.), Heft 56, Ein Vorschlag zur Reform des Lohn- und Einkommensteuertarifs, Wiesbaden 1984, S. 40 ff.; Präsidium des BdSt, Stellungnahme zum Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990, Wiesbaden, 5. Mai 1988, S. 1 und S. 3. 442 Vgl. Armin Feit, Geleitwort, in: Karl-Bräuer-Institut und Einkommensteuertarifs, S. 5 f.
(Hrsg.) (FN 441), Reform des Lohn-
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Der von ihm für diese Entwicklung geprägte Ausdruck von den »heimlichen Steuererhöhungen« hat seit langem Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden, 443 wobei es dem BdSt um den rechtsstaatlich fragwürdigen Vorgang geht, daß diese Art einer Steuererhöhung "völlig losgelöst von parlamentarischen Beschlüssen wirksam wird". 4 4 4 Damit wird deutlich, daß der BdSt besonderen Wert auf steuerrechtliche Grundsätze legt. Namentlich ist in diesem Zusammenhang sein Kampf um die Offenlegung von Haushaltsplänen, um die Unabhängigkeit der Finanzgerichtsbarkeit und um eine faire Betriebsprüfungsordnung zu nennen. 445 Aus rechtsstaatlichen Gründen fordert er außerdem die Finanzgerichtsbarkeit von zwei auf drei Instanzen zu erhöhen, um damit die zuweilen bis an den Rand der Rechtsverweigerung gehende Dauer der anhängigen Verfahren abzukürzen. Ursächlich dafür sei die Normenflut und die sich ausbreitende Tendenz, den Bürger ohne ausreichende Ermächtigungsgrundlagen zu Auskunftspflichten anzuhalten. Schließlich ist ihm die Mißachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch die Nichtanwendungserlasse des Bundesministers der Finanzen ein Dorn im Auge, und er weist auf dubiose Praktiken an der Nahtstelle von Außenprüfung und Steuerstrafverfahren hin. 4 4 6 Die referierten Forderungen werden vom BdSt in die aktuelle steuerreformpolitische Diskussion eingebracht. Ins Detail gehende Vorschläge, die wesentliche Grundlage fur die bereits dargestellten Positionen der DStG waren und die sich vor allem auf eine konsequente Steuervereinfachung richten, hat der Arbeitskreis Steuern des BdSt entwickelt. Steuervereinfachungen und Steuerentlastungen müssen jedoch von strenger Ausgabendisziplin begleitet sein; auch dürfe es keine Kompensation durch Anhebimg indirekter Steuern geben. 447
443 Vgl. Dieter Kohler, Aktivitäten und Erfolge des Bundes der Steuerzahler, in: Präsidium des BdSt (Hrsg.) (FN 436), Chronik des Bundes der Steuerzahler, S. 142; Feit (FN 442), Geleitwort, S. 6. 444 Ebenda, S. 6; vgl. Bruno Molitor, Ökonomisches Staatsversagen, in: Präsidium (Hrsg.) (FN 440), Grenzen fur den Steuerstaat, S. 100 ff.
des BdSt
443 Vgl. Kohler (FN 443), Aktivitäten und Erfolge, S. 143 ff. und S. 153 ff.; Stoye (FN 436), Der Bund der Steuerzahler, S. 109; vgl. Armin Feit, Mehr Rechtsschutz für den Steuerzahler, in: Präsidium des BdSt (Hrsg.) (FN 440), Grenzen fur den Steuerstaat, S. 13. 446 447
Vgl. ebenda, S. 13 ff.
Vgl. Karl-Bräuer-Institut des BdSt (Hrsg.), Heft 60, Steuervereinfachung, Wiesbaden, November 1986, S. 69 ff., S. 60 ff. und S. 265 ff.; R[olfJ Boreil, Keine Erhöhung indirekter Steuern zum Ausgleich der Tarifentlastung, in: Handelsblatt, Nr. 58, 24. März 1987, S. 7; Präsidium des BdSt, Stellungnahme zu den Entwürfen eines Verbrauchsteueränderungsgesetzes 1988 und eines Haushaltsbegleitgesetzes 1989, Wiesbaden, 21. Okt. 1988; Karl-Bräuer-Institut des
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Schwach begründet ist allerdings die Position des BdSt zur Versteuerung von Kapitaleinkünften; will er doch nicht nur auf die Quellensteuer, sondern auch auf ein Kontrollmitteilungssystem verzichten, weil man davon ausgehen könne, daß die Diskussion zur Quellensteuer den Unwissenheitsgrad abgebaut habe und viele Bürger künftig eine korrekte Steuerklärung abgeben werden. 448 Der Abschaffung der Quellensteuer aus Vereinfachungsgründen stimmt auch der Deutsche Steuerberaterverband e.V. (DStV) zu. Ebenso lehnt der Verband ein Kontrollmitteilungssystem ab. Gleichzeitig bringt er allerdings deutlich sein Unbehagen darüber zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber seinen Willen zur Besteuerung der Kapitaleinkünfte aus allokationspolitischen Gründen nicht klar äußere, was die Arbeit der Steuerberater, die dem Recht, aber auch ihren Mandanten verpflichtet seien, erschwere. 449 Der DStV vertritt auch Belange der Steuerpflichtigen, wenngleich er in erster Linie als Berufsvereinigung angelegt ist. Seine Satzung enthält sich folglich einer expliziten Programmatik und begnügt sich mit dem Hinweis, daß es u.a. zu seinen Aufgaben gehört, an der Fachgesetzgebung mitzuarbeiten. 450 Zentrales Anliegen des Verbandes ist eine faire, leistungsgerechte und rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Besteuerung. Steuervereinfachungen begründet er mit der aus rechtsstaatlichen Gründen unbedingt zu erhaltenden Steuermoral. Darauf beruhen konkrete Vorschläge an die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie an das Bundesfinanzministerium, die zum großen Teil auf 24 Thesen und ihrer Begründung fußen, die nach dem Steuerberaterkongreß 1985 formuliert worden sind. 451 Der DStV begrüßt den linear-progressiven Grenzsteuerverlauf, hält allerdings die Senkung des Spitzensteuersatzes für nicht ausreichend. Er sollte 49 v.H.
BdSt (Hrsg.), Stellungnahmen, Nr. 23, Verbrauchsteuererhöhung schädlich und vermeidbar, Wiesbaden, Juni 1988. *** Vgl. Präsidium 29. Mai 1989, S. 1.
des BdSt, Stellungnahme zur Abschaffung der Quellensteuer, Wiesbaden,
449 Vgl. DStV, Brief an den Vorsitzenden des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 (BT-Drucksache 11/4507), 23. Mai 1989, S. 1 f. und S. 3. 450 451
Vgl. DStV e.V., Bonn, Satzung, § 2 Buchst, e.
Vgl. DStV, Bonn, 10. Februar 1987, Briefen die Fraktion der CDU/CSU des Deutschen Bundestages, an die Fraktion der F.D.P. des Deutschen Bundestages und an das Bundesministerium der Finanzen zur "Steuerreform 1987"; DStV, Der Vorstand, DStV-Thesen zu einer fairen, leistungsgerechten und die Steuermoral verbessernden Reform der Besteuerung und des Transfersystems, Bonn, November 1985.
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betragen und erst bei einem zu versteuernden Einkommen von D M 250.000/ D M 500.000 einsetzen. Der Grundfreibetrag sollte auf mindestens D M 6000/ D M 12.000 angehoben werden. Der Verband erhofft sich davon Impulse zu mehr Leistung und Wachstum und ein Absinken der Anreize fur Schattenwirtschaft und Steuerwiderstand. Die Anhebung des Grundfreibetrags wäre außerdem ein Beitrag zur Abstimmung zwischen dem Steuersystem und dem Transfersystem. Dem dient auch der Vorschlag, eine achte Einkunftsart, nämlich "Einkünfte aus staatlichen Transferleistungen" ins Einkommensteuergesetz einzuführen. 452 M i t Bezug auf das Bundesverfassungsgericht streben die Steuerberater eine kräftige Anhebimg des Kinderfreibetrags an ( D M 3600). Sofern sich Freibeträge nicht auswirken, soll eine negative Einkommensteuer über die Arbeitgeber an die Steuerpflichtigen ausgezahlt werden. Ein weiteres Anliegen betrifft die Vereinfachung bei der Kinderforderung, weil zu viele Paragraphen im Einkommensteuergesetz die steuerliche Berücksichtigung von Kindern regeln. 453 In bezug auf die Unternehmensbesteuerung fällt der in den Thesen vorgeschlagene einheitliche Körperschaftsteuersatz von 46 v.H. für thesaurierte und ausgeschüttete Gewinne ins Auge, was den Verzicht auf die Kapitalertragsteuer ermöglichen soll. 454 An sich sei es wünschenswert, die Vermögensteuer auf Betriebsvermögen abzuschaffen; weil jedoch vermutlich der finanzielle Spielraum bei der Steuerreform dazu nicht ausreicht, sollte - auch aus Vereinfachungsgründen - wenigstens die Vermögensteuerbelastung bei Kapitalgesellschaften durch die Übernahme der Ertragsteuerwerte bei der Ermittlung des Einheitswerts des gewerblichen Betriebsvermögens reduziert werden. 455 Eine Reihe weiterer Vorschläge zur Unteraehmensbesteuerung bezieht sich auf steuerliche Einzelregelungen. So sollte der Verlustrücktrag nach § 10 d EStG aus Gründen der Steuergerechtigkeit auf den (gesamten) Festsetzungszeitraum ausgedehnt werden, § 15 a EStG sollte abgeschafft werden, weil durch die inzwischen erfolgte Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs der ursprüngliche Regelungsbedarf entfallen ist und nur noch Unternehmen betroffen
432
Vgl. ebenda, S. 4 f.; Brief zur "Steuerreform 1987" (FN 451), S. 2.
433
Vgl. ebenda, S. 2 f.
434
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 6 f. Im Brief zur "Steuerreform 1987" (FN 451) wird dieser Vorschlag allerdings nicht wiederholt, dem der BDI gravierende Nachteile entgegenstellt; vgl. BDI (FN 341), Jahresbericht 1984/86, S. 158 f. 435
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 8 f.
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Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
sind, die an sich gar nicht gemeint waren, und die Möglichkeiten fur Umweltschutz-Sonderabschreibungen nach § 7 d EStG sollten erweitert und das Verfahren vereinfacht werden. 456 Der DStV lehnt - wie BDI und DIHT - die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage ab und befürwortet statt dessen eine Maßnahme zur Verbesserung der Eigenkapitalstruktur der gewerblichen Wirtschaft, die darauf hinausläuft, den bilanzierenden Unternehmen fur die Dauer von zehn Jahren jährlich 3 v.H. des Gewinns einer Rücklage zuzuführen. 457 Die Steuerberater teilen vielfach vorgetragene Kritik an der Gewerbesteuer und plädieren fur ihre Abschaffung bis 1992. Da es bis dahin wegen der EGSteuerharmonisierung ohnehin wahrscheinlich zu einer Umsatzsteuererhöhung kommen werde, könnten die daraus resultierenden M e h r e i n n a h m e n als Ausgleich fur die Gemeinden verwendet werden. Ergänzend wäre eine weitere Beteiligung der Kommunen an der Einkommensteuer ins Auge zu fassen. 458 Der Steuerberaterverband ist sich darüber im klaren, daß ein Großteil seiner Vorschläge nur verwirklicht werden kann, wenn Subventionen und steuerliche Vergünstigungen spürbar abgebaut werden, und er signalisiert seine Bereitschaft zur Mitarbeit bei dieser schwierigen Problematik. Im übrigen sei die Lösung der Subventionsfrage nicht nur zur Finanzierung der Steuerreform, sondern auch aus ordnungspolitischen Gründen notwendig. 459 Einen hohen Stellenwert mißt der Verband rechtsstaatlich begründeten Forderungen zu, wobei hauptsächlich die Reform des Steuerstrafrechts akzentuiert wird. Zum einen rührt die Sensibilität der Steuerberater gegenüber dem Steuerstrafrecht daher, daß sie für ihren Berufsstand eine "besondere Gefahrenneigung" sehen und daß sie die Wertung des Gesetzes für Steuerstraftaten (§ 370 AO) für überzogen halten; ordnet es doch teilweise den gleichen Strafrahmen an (bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug) wie für die Bildung einer kriminellen Vereinigimg, für das Inverkehrbringen von Falschgeld, für Freiheitsberaubung und Erpressung. 460 Zum anderen sind die steuerberatenden Berufe von der
436
Vgl. ebenda, S. 7 und S. 9; DStV (FN 451), Brief zur "Steuerreform 1987", S. 6 f.
457
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 7 f.
4 M
Vgl. ebenda, S. 10; DStV (FN 451), Brief zur "Steuerreform 1987", S. 4 f.
459
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 16.
460
Vgl. DStV, Bonn, 7. November 1987, Brief an die Vorsitzendendes Rechtsausschusses und des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages sowie an die Bundesministerien der Finanzen und der Justiz zur "Reform des Steuerstrafrechts", S. 4, S. 2 und S. 8.
I V . Akzeptanz der Besteuerungsgrundsatze
137
Erfahrung geprägt, daß Rechtsprechung und Verwaltung sie mitunter noch als Hilfsorgane der Finanzverwaltung betrachten. In der Tat vertritt die Finanzverwaltung hierzu bedenkliche Auffassungen. 461 Der DStV fordert nachdrücklich, Bagatellfälle großzügiger zu regeln und die Aushöhlung der jedem Beschuldigten zustehenden Rechte nicht zuzulassen. Besonders wichtig sei es daher, das Steuerstrafverfahren deutlich vom Außenprüfungsverfahren abzugrenzen. 462 Unbedingt notwendig sei schließlich die Aufhebung der 1985 eingeführten Abschaffimg der Streitwertrevision vor dem Bundesfinanzhof, solange die aus Rechtsschutzgründen eigentlich zu wünschende Dreistufigkeit der Finanzgerichtsbarkeit nicht gegeben ist. 463 Zum rechtsstaatlichen Grundsatz der Steuertransparenz gehöre ferner, daß etwaige Kontrollmitteilungen dem Steuerpflichtigen bekanntzugeben und daß die Finanzverwaltung zur verbindlichen Auskunft gesetzlich zu verpflichten seien. Außerdem entspreche die nach § 367 Abs. 2 AO im Rechtsbehelfsverfahren immer noch mögliche Verböserung nicht dem Grundsatz der Stetigkeit des Steuerrechts; dieses Instrument sei daher abzuschaffen. Auch sollten die Korrekturen von Steuerbescheiden zu Ungunsten des Steuerpflichtigen unabhängig von der Verschuldensfrage nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erfolgen. 464
4. Besteuerungsgrundsätze der Regierungen Selbstverständlich bekennen sich alle Regierungen zur verfassungsmäßigen Grundordnung. Im einzelnen akzentuiert jedoch jede Regierung zeit- und situationsabhängig und nach dem relativen Gewicht der Koalitionsparteien die Grundwerte sehr unterschiedlich. Insbesondere nach Regierungswechseln, die zugleich mit einem Wechsel der Koalition oder einem Wechsel des Regierungschefs verbunden sind, wird einerseits das gemeinsame Fundament der Grund-
461 Vgl. ebenda, S. 4; vgl. auch Wienand Meilicke, Wird das Steuerstrafrecht zum russischen Roulette? In: BB, 39. Jg. (1984), S. 1885 - 1890, und Eckhart Ulmer, Steuervermeidung, Steuerumgehung, Steuerhinterziehung, in: DStZ, 74. Jg. (1986), S. 292 ff. 4 0
Vgl. DStV (FN 460), Brief zur "Reform des Steuerstrafrechts", S. 3 f., S. 5 f. und S. 6 ff.
463
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 14; Brief zur "Steuerreform 1987" (FN 451), S. 5 f.; vgl. auch die vom DStV zusammengestellte Dokumentation "Zum Rechtsschutz wird eine zweite Tatsacheninstanz gefordert", Bonn [April 1987]. 464
S. 11.
Vgl. DStV (FN 451), Thesen, S. 13 ff.; DStV (FN 451), Brief zur "Steuerreform 1987",
138
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Ordnung betont, andererseits aber hervorgehoben, welche bislang vernachlässigten Werte gestaltend aufgegriffen werden sollen. 465 Diesem Grundmuster der Argumentation entspricht, daß SPD-FDP-Regierungen den Wert der Solidarität hervorheben, während CDU/CSU-FDP-Bündnisse den der Subsidiarität unterstreichen. 466 Typisch ist weiterhin der Gegensatz zwischen der Planungseuphorie der ersten sozial-liberalen Regierung und der Aussage von Kohl: "Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger. 1,467 Daß Regierungswechsel in der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie keine abrupten Kursänderungen nach sich ziehen, belegt beispielsweise die Aussage in der Regierungserklärung von 1969, daß die notwendige Vermögensumverteilung nicht etwa durch konfiskatorische Steuern auf bereits bestehende Vermögen herbeigeführt werden soll, sondern durch die Schaffung von Voraussetzungen fur eine breitere Vermögensbildung vor allem in Arbeitnehmerhand. 468 Einen weiteren exemplarischen Beleg liefert die Regierungserklärung von 1982, die das Prinzip der Solidarität unterstreicht, das sich in einer Reihe gesetzlicher Regelungen niedergeschlagen habe, bevor der im letzten Absatz bereits erwähnte Wert der Subsidiarität hervorgehoben wird. 4 6 9 Alle bisherigen Regierungen bejahen die Marktwirtschaft. SPD-geführte Regierungen betonen jedoch ihre Funktionsorientierung im gesamtgesellschaftlichen Rahmenplan. Demzufolge wird der Strukturpolitik besondere Bedeutung beigemessen.470 Christlich-liberale Regierungen legen indessen großen Nachdruck auf die Soziale Marktwirtschaft. Dies wird nicht nur in den Regierungserklärungen, sondern auch in den letzten Jahreswirtschaftsberichten klar, die diese Orientierung neben den sachlichen Ausführungen bereits durch entsprechende Überschriften im Hauptteil zum Ausdruck bringen. 471
465 Vgl. z.B. die Regierungserklämngenvon Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl; Regierungserklärungen 1969, S. 1121, S. 1122 und S. 1123 fif.; 1974, S. 593 und S. 601; 1982, S. 855. 466
Vgl. Regierungserklärungen 1969, S. 1121; 1973, S. 53; 1982, S. 864 f.
467
Vgl. Regierungserklärung 1969, S. 1123 f. und S. 1125 f.; Regierungserklärung 1983,
S. 398. 468
Vgl. Regierungserklärung 1969, S. 1123.
469
Vgl. Regierungserklärung 1982, S. 856.
470
Vgl. Regierungserklärungen 1969, S. 1122 f. und S. 1125 f.; 1973, S. 49 f.
471
Vgl. Regierungserklärungen 1982, S. 856; 1983, S. 398; vgl. Jahreswirtschaftsberichte 1984, S. 8 ff., Tz. 11 ff.; 1985, S. 9 ff., Tz. 15 ff.; 1986, S. 10 ff., Tz. 17 ff.; 1987, S. 11 ff., Tz. 17 ff.; 1988, S. 12 ff., Tz. 14 ff.; 1989, S. 11 ff., Tz. 13 ff.
V . Zusammenfassende Bewertung der besteuerungspolitischen Grundsätze
139
Hinsichtlich der wesentlichen Grundwerte von Verfassung und Gesellschaft kann formal also eine weitgehende Übereinstimmung aller Regierungen konstatiert werden; hinsichtlich der konkreten Ausformung im Detail ergeben sich freilich zum Teil beträchtliche Interpretationsunterschiede. Dies gilt auch in bezug auf die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung besonders interessierenden besteuerungspolitischen Grundsätze nach Neumark und in bezug auf den föderativen Staatsaufbau. Grundsätzlich läßt sich sagen, daß alle bisherigen Regierungen diese Prinzipien der Sache nach bejahen. Exemplarisch soll dies aus Äußerungen der Jahre 1980 und 1986 belegt werden. So werden im Jahreswirtschaftsbericht 1980 die zum 1. Januar 1981 bzw. zum 1. Januar 1982 wirksam gewordenen Steuerrechtsänderungen vorgestellt und kurz begründet. Sie umfaßten eine Korrektur des Einkommensteuertarifs, verbesserte familienpolitische Maßnahmen, ergänzende Maßnahmen fur Arbeitnehmer, Selbständige und freie Berufe sowie einige Steuerrechtsvereinfachungen. Der Katalog dieser Maßnahmen wie auch die vorgetragenen Begründungen lassen deutlich die Berufung auf wesentliche besteuerungspolitische Prinzipien erkennen, 472 die auch einer Rede des ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Friedrich Voss zugrunde liegen, in der er im Frühjahr 1986 die wirtschaftsund finanzpolitischen Ziele der Bundesregierung referierte. 473 Auch lassen die Haushaltsreden die Übereinstimmung in den besteuerungspolitischen Grundprinzipien bei deutlichen Differenzen in der konkreten Steuerpolitik in Abhängigkeit von der jeweils regierenden Koalition erkennen. 474
V. Zusammenfassende Bewertung der besteuerungspolitischen Grundsätze von Parteien, Verbänden und Regierungen Die Darstellung der besteuerungspolitischen Aussagen und Forderungen von Parteien, Verbänden und Regierungen sollte deutlich machen, daß alle die dieser Arbeit als Referenzrahmen zugrundeliegenden Besteuerungsnormen nach Neumark und die sich aus dem Föderalismus ergebenden finanz- und steuerpolitischen Konsequenzen prinzipiell bejahen. Die Analyse zeigte jedoch gleichzeitig, daß die einzelnen Besteuerungsgrundsätze nach der jeweiligen program-
472
Vgl. Jahreswirtschaftsbericht 1980, S. 9 f., Tz. 14.
473
Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin Nr. 25, Bonn, 8. März 1986: Konsolidierung der Staatsfinanzen als Ziel der Haushalts- und Steuerpolitik. Rede von Staatssekretär Dr. Voss in Uelzen. 474
Vgl. exemplarisch die Haushaltsreden 1977, 1980, 1981, 1983, 1985 und 1988.
140
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
matischen Grundeinstellung und aus der Kenntnis der aktuellen gruppenspezifischen Probleme heraus unterschiedlich stark gewichtet werden. Bei den Parteien ist erkennbar, daß die CDU und die CSU, mehr noch aber die FDP besonderes Gewicht auf eine ordnungspolitische Fundierung der Besteuerung legen, während die SPD und die Grünen verteilungs- und prozeß politische Aspekte mehr in den Mittelpunkt rücken. Hinzu kommt die klar erklärte Absicht der Oppositionsparteien, das Steuerrecht als Instrument der ökologischen Erneuerung zu betrachten. Aktuelle Zwänge und tatsächliche oder vermeintliche Notwendigkeiten brachten es jedoch mit sich, daß christlichliberale Regierungen nicht daran vorbeikamen, in beträchtlichem Umfange auch prozeßpolitische Ziele in ihrer Steuerpolitik zu berücksichtigen, während SPD-gefuhrte Regierungen von einer ausdrücklich über die Besteuerung bewirkten Umverteilung absahen. Wie belegt werden konnte, akzeptieren alle Parteien fiskalisch-budgetäre sowie steuerrechtliche und steuertechnische Besteuerungsgrundsätze. Eine weitgehend ungehemmte Erfüllung aller gruppenspezifischen Ausgabenwünsche und -notwendigkeiten überdehnt in der Regel die Anforderungen an die Ausreichendheit und die Steigerungsfähigkeit der Besteuerung, so daß Widersprüche insbesondere hinsichtlich ethisch-sozialpolitischer und wirtschaftspolitischer Zielsetzungen der Steuerpolitik auftreten. Fiskalisch-budgetäre Überlegungen müssen daher auch auf eine Begrenzung der Ausgabenseite des Etats gerichtet sein, wenn eine als zu hoch empfundene und daher auch auf Widerstände stoßende Staatsverschuldung vermieden werden soll. In der praktischen Regierungsverantwortung seit 1969 gelang es den christlich-liberalen Regierungen mehr als den sozial-liberalen, haushaltspolitische Aspekte der Steuerpolitik und auch der Ausgabenpolitik umzusetzen; die letzte SPD-gefuhrte Regierung zerbrach ja 1982 unter anderem wegen der haushaltspolitischen Spannungen zwischen den damaligen Koalitionspartnern. Ausnahmslos alle Regierungen taten sich bis jetzt jedoch schwer, wirklich nennenswerte Fortschritte im Bereich der Steuervereinfachung zu erreichen. Desgleichen gelang es nicht - trotz entsprechender programmatischer Äußerungen -, das Steuerrecht insgesamt transparenter und widerspruchsfreier zu gestalten und mehr Rechtsschutz fur die Steuerzahler zu installieren. Insoweit sind die konkreten Vorschläge der FDP nicht nennenswert in die Regierungsarbeit eingeflossen. Alle Parteien betonen, daß zum Prinzip des Föderalismus ein funktionsgerechter Finanzausgleich gehört, der eine ausreichende und geordnete Gemein-
V . Zusammenfassende Bewertung der besteuerungspolitischen Grundsätze
141
definanzierung umschließen muß. Übereinstimmung besteht zwischen ihnen denn auch darin, daß die Gemeindefinanzierung, insbesondere mit ihrem Kernstück, der Gewerbesteuer, einer Neuordnung bedarf. Konkretere Vorstellungen dazu sind jedoch bislang lediglich von der SPD und den Grünen entwickelt worden, die im wesentlichen auf eine Erweiterung der Bemessungsgrundlagen abzielen, um so eventuell die Gewerbesteuerbelastung senken zu können. Die FDP spricht sich klar fur eine Abschaffimg der Gewerbesteuer aus, was ihr leichter als den anderen Parteien fallt, weil sie kaum in starker kommunalpolitischer Verantwortung steht. Die CDU hat sich in dieser Beziehung noch nicht deutlich geäußert, während die CSU wenigstens den ertragsunabhängigen Teil der Gewerbesteuer ersetzen möchte. Daraus erklärt sich denn auch, daß sich die Regierung zum Problembereich der Gemeindefinanzen bislang nur allgemein geäußert hat. Ein Vergleich der steuerpolitischen Aussagen ergibt, daß sich die Parteien insgesamt viel prononcierter äußern als die Regierungen. Ohne der Erklärung des steuerpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozesses vorzugreifen, können doch einige allgemeine Überlegungen dazu angestellt werden. Politische Aufgabe, Selbstverständnis und auch wahltaktische Überlegungen bedingen, daß sich die Oppositionsparteien, aber auch die Koalitionsparteien deutlicher äußern als dies in der Regel die Regierung tut. Der Unterschied zwischen den steuerpolitischen Aussagen der Regierung einerseits und denen der sie tragenden Parteien andererseits, ist zwar auch unter wahltaktischem Kalkül zu erklären, hinzu kommt indessen der Aspekt, daß letztendlich die Regierung - und nicht die Parteien - in der unmittelbaren ausgaben- und einnahmenpolitischen Verantwortung steht und daß sie um ihre begrenzten Handlungsmöglichkeiten weiß. Daher ist verständlich, daß sie ihre steuerpolitischen Ankündigungen häufig allgemein hält und zurückhaltend formuliert, um die von den Verbänden aufgebauten Erwartungshaltungen zu dämpfen, zumindest aber nicht allzusehr zu verstärken. Die oftmals zögernde Haltung der Regierung hat ihren Grund jedoch auch darin, daß es nicht leicht ist, die vielfältig vorgetragenen Wünsche wie auch die sachlichen Informationen im kollektiven Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß so zu aggregieren und zu verarbeiten, daß sowohl problemangemessene wie auch politisch tragfähige Kompromisse erreicht werden können. Als Beispiel sei an die Kontroverse um die mittelstandsbezogene steuerstundende Investitionsrücklage erinnert, die nicht nur zwischen den Wirtschaftsverbänden und zwischen CDU/CSU und FDP, sondern auch innerhalb der CDU/CSU
142
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
selbst umstritten ist. Außerdem muß die Regierung den nicht zu unterschätzenden Einfluß der Bürokratie mit berücksichtigen. Grundlegende Änderungen lassen sich immer nur mit, nie jedoch gegen die Verwaltung durchsetzen. Dies alles zusammengenommen fuhrt notwendigerweise oft zu einem diffusen und eher reaktiven Steuerprogramm der Regierung. Die damit angesprochenen und i m einzelnen später noch auszuführenden Zusammenhänge sind eine Erklärungsmöglichkeit fur die Tatsache, daß sich die von den Parteien bekundete und von vielen Verbänden geforderte Integration des Steuer- und Transfersystems von der Regierung selbst bislang kaum aufgegriffen worden ist. Die im letzten Absatz angesprochenen Wünsche und Informationen fuhren zu einer knappen Bewertung der steuerpolitischen Einstellungen und Forderungen der Verbände. Zunächst einmal kann resümierend festgehalten werden, daß die Arbeitgeberverbände insgesamt das Umverteilungspostulat ablehnen und daß sie besonderen Wert auf eine investitionsbegünstigende Steuerpolitik legen. Dazu gehört auch, daß sie fiskalisch-budgetäre Überlegungen akzeptieren, den Schwerpunkt dabei jedoch beim Ausgabegebaren des Staates und nicht so sehr bei fiskalisch orientierten Einnahmeüberlegungen sehen. Die Gewerkschaften halten demgegenüber eine auch mit den Mitteln der Steuerpolitik bewirkte Umverteilung für wünschenswert. Sie verknüpfen dies neben Gerechtigkeitserwägungen vor allem mit konjunktur-und wachstumspolitischen Überlegungen zur Stärkung der Massenkaufkraft. Formal einig sind sich Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften im Ziel nach mehr Steuergerechtigkeit, die über einen Abbau von Widersprüchen und Lücken im Steuersystem und durch Maßnahmen zur Steuervereinfachung erreicht werden soll. Die Gewerkschaften haben dabei jedoch im Auge, daß dadurch die Steuereinnahmen gesteigert werden können, um damit dann z.B. Beschäftigungsprogramme zu finanzieren, während es den Arbeitgeberverbänden um mehr Transparenz zur Erleichterung ihrer längerfristigen Investitionsvorhaben geht. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sie nicht durchsetzbare Forderungen nach Steuervereinfachungen regelmäßig als Begründung der Forderung nach mehr Personal für die Steuerverwaltung nimmt. Nur mit mehr Personal sei auch mehr Rechtsschutz für den Steuerpflichtigen erreichbar. Hinsichtlich der Frage der Gewerbesteuer teilen die Gewerkschaften im Grundsatz die Position der SPD und der Grünen, während sich die Arbeitgeberverbände für eine Abschaffung dieser Steuer aussprechen. Allerdings signalisieren sie Verständigungsbereitschaft, weil sie die Finanzierungsnotwen-
V . Zusammenfassende Bewertung der besteuerungspolitischen Grundstze
143
digkeiten der Kommunen sehen und weil der Wirtschaft mit einem finanziellen Ausbluten der Gemeinden und Städte nicht gedient sein kann. Die oben im einzelnen herausgearbeiteten grundsätzlichen Einstellungen der Verbände zur Steuerpolitik und die daraus abgeleiteten Forderungen zur Reform des Steuersystems brauchen hier nicht im einzelnen wiederholt zu werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Parteien und Regierung diese Äußerungen aufnehmen, weil sie daraus wertvolle Informationen über Wählerstimmungen und über sachliche Zusammenhänge gewinnen können. Natürlich stehen dabei die großen Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften im Vordergrund; dies auch deshalb, weil ihre Führer als Identifikationsfiguren wirken können. Sachinformationen sind jedoch auch aus den Vorstellungen und Forderungen der sonstigen Verbände und Organisationen zu gewinnen. Die kleineren Verbände müssen sich natürlich wegen ihrer begrenzten Mittel auf ihre unmittelbaren Anliegen konzentrieren. Programmatische Vertiefungen wie auch allgemeine gesellschaftspolitische Äußerungen fehlen bei ihnen in der Regel. Dennoch kann festgestellt werden, daß sie auf dem Boden der verfassungsrechtlichen Ordnung stehen und damit implizit wesentliche Besteuerungspostulate teilen. Der erste Hauptteil der vorliegenden Untersuchung zur Steuerpolitik in der Demokratie ist damit abgeschlossen. Als zusammenfassendes Fazit zum gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Anspruch der Besteuerung kann festgestellt werden, daß das Maß der prinzipiellen Übereinstimmung aller gesellschaftsund wirtschaftspolitisch relevanten Gruppen, der Parteien und der Regierung doch so groß ist, daß es gerechtfertigt ist, die im folgenden zweiten Teil der Arbeit zu beschreibende Steuerrealität an dem von Neumark und Haller entwickelten Maßstabsgefüge zu messen. Die dort herauszustellenden Mängel des Besteuerungssystems lassen sich natürlich auf die schon angedeutete unterschiedliche Gewichtung einzelner besteuerungspolitischer Postulate zurückführen. Daß und in welchem Umfange sich die verschiedenen Interpretationen und daraus abgeleitete Forderungen niederschlagen, ist jedoch nicht ohne Rückgriff auf den konkreten steuerpolitischen Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß zu erklären. Dies wird - nach der Darstellung der besteuerungspolitischen Wirklichkeit - Gegenstand des dritten Teils der Analyse sein. Die Grundzüge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit erstrecken sich auf die Steuern vom Einkommen und Ertrag (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbeertragsteuer), auf die Umsatzsteuer als wichtigster Verkehrsteuer sowie auf die Substanzsteuern (Vermögensteuer, Grundsteuer,
144
Erster Teil: Anspruch der Besteuerung
Gewerbekapitalsteuer und Erbschaft- und Schenkungsteuer). Weil es sich bei diesen Steuern um die Hauptsaulen des Steuersystems handelt, ist zu erwarten, daß in ihrer konkreten Ausgestaltung Mängel, die später im Erklärungsteil theoretisch nachzuvollziehen sind, in besonderem Maße auftreten. 475 Außerdem soll in ubergreifender Sicht die Verletzung steuersystematischer, steuertechnischer und steuerrechtlicher Grundsätze herausgearbeitet werden. Die Darstellung berücksichtigt natürlich die aktuellen Steuerreformgesetze. 476 Allerdings wird sich zeigen, daß die herausgearbeiteten Mängel von den Reformgesetzen nicht oder nur sehr geringfügig gemildert wurden. I m Erklärungsteil wird zudem deutlich, daß die Reformen und die aktuelle Debatte sowie die Einflüsse der Verbände theoretisch ableitbaren allgemeinen Entwicklungstendenzen der Steuerpolitik folgen.
473 Im übrigen kann bereits hier darauf hingewiesen werden, daß auch andere Steuerbereiche, die im Rahmen dieser Arbeit nicht eigens behandelt werden, die Ansprüche der Besteuerungsgrundsatze zum Teil erheblich verfehlen. Vgl. z.B. Franke (FN 106), Finanzausgleich, ders. (FN 375), Internationales Steuerrecht; ders., Mängel im Bewertungsrecht aus gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Sicht [demnächst]. 476
StRefG 1990, Haushaltsbegleitgesetz 1989, Gesetz zur Änderung des StRefG 1990.
Zweiter Teil
Grundzüge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit I . Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten 1. Steuern vom Einkommen und Ertrag a) Die Einkommensteuer aa) Hohe fiskalische Ergiebigkeit der Lohnsteuer Reinfiskalisch-budgetär gesehen, ist die Einkommensteuer insgesamt außerordentlich ergiebig. Seit Inkrafttreten der Großen Steuerreform von 1975 stiegen die Gesamteinnahmen aus der Einkommensteuer von rund D M 101,4 Milliarden auf rund D M 190,2 Milliarden im Jahre 1986. 1987 überstiegen sie die 200-Milliarden-Grenze ( D M 202,8 Milliarden), und fur 1988 bzw. 1989 werden die Gesamteinnahmen auf D M 207,4 Milliarden bzw. D M 217,7 Milliarden geschätzt.1 Dies ist eine Steigerung um rund 87,6 v.H. (1986) bzw. um etwa 114,7 v.H. (1989). Der größte Teil dieses Anstiegs entfällt auf die sog. Lohnsteuer, d.h. auf jenen Teil der Einkommensteuer, der im Quellenabzugsverfahren direkt vom Arbeitslohn einbehalten wird. Von 1975 bis 1987 stieg das diesbezügliche Aufkommen von D M 71,2 Milliarden auf etwa D M 164,2 Milliarden; das entspricht einem Zuwachs von rund 130,6 v.H. Bezieht man das geschätzte Ergebnis fur 1989 mit ein, so beläuft sich der prozentuale Anstieg des Aufkommens allein aus der Lohnsteuer sogar auf etwa 149,7 v.H. Demgegenüber ist die veranlagte Einkommensteuer aufkommensmäßig nur geringfügig gestiegen, und zwar von D M 28 Milliarden fur 1975 auf D M 30,6 Milliarden im Jahre 1987. Für 1988 und 1989 lauten die Schätzungen auf D M 31 Milliarden bzw. D M 31,2 Milliarden. 2 Das ist nur ein Anstieg von 9,3 v.H. bzw. 11,4 v.H. Diese Zahlen spiegeln freilich nichts anderes wider als den Rückgang der Gewinne aufgrund der teilweise stark rückläufigen Wirtschafts-
1
Vgl. BMF (Hrsg.), Finanzbericht 1989, Tab. 12, S. 197/199.
2
Vgl. ebenda, Tab. 12, S. 197/199.
10 Franke
146
Zweiter Teil : Grundzûge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
tätigkeit; enthält doch die veranlagte Einkommensteuer im wesentlichen die Gewinneinkünfte natürlicher Personen. Hier machen sich sowohl der allgemein zu beobachtende Rückgang der Gewinne als auch die hohe Zahl an Insolvenzen bemerkbar, die vorwiegend kleine und mittlere Einzelunternehmen und Personengesellschaften betraf. 3 Bis zum Jahre 1979 waren die Einnahmen aus der nicht veranlagten Einkommensteuer nämlich noch auf D M 37,6 Milliarden gestiegen, um dann kontinuierlich bis auf D M 26,4 Milliarden im Jahre 1984 zurückzugehen. Erst danach war wieder ein geringer Anstieg zu verzeichnen. 4 Wenn auch die Aufkommensentwicklung der veranlagten Einkommensteuer im großen und ganzen mit der wirtschaftlichen Entwicklung erklärt werden kann, so zeigt doch die Aufkommenshöhe in den einzelnen Jahren einen asynchronen Verlauf zum konjunkturellen Auf und Ab. Der Grund dafür liegt in der ungenügend zeitnahen Veranlagung. Zwischen der Entstehung der Gewinneinkünfte und der endgültigen Festsetzung der Steuerschuld liegt ein zum Teil beträchtlicher time lag 5 , der sich vor allem deshalb ungünstig auswirkt, weil die Anpassung der jeweiligen Steuervorauszahlung lückenhaft ist. Dies läßt sich am Ergebnis der steuerlichen Betriebsprüfung ablesen. Im Jahre 1986 betrugen die Nachforderungen insgesamt rund D M 9,4 Milliarden. Davon entfielen etwa 77 v.H. auf die Prüfung von Großbetrieben. 6 Die zeitliche Aufkommensentwicklung der veranlagten Einkommensteuer entspricht also nicht den fiskalisch-budgetären Besteuerungsgrundsätzen der Ausreichendheit und der deckungspolitischen Anpassungsfähigkeit. Darüber hinaus genügt die Entwicklung nicht dem wirtschaftspolitischen Grundsatz der passiven Flexibilität. Das auf den ersten Blick sehr positive Bild der Aufkommensentwicklung der Einkommensteuer beruht mithin überwiegend auf der Aufkommensentwicklung der Lohnsteuer. Berücksichtigt man bei diesen Ergebnissen, daß im betrachteten Zeitraum vier allgemeine Einkommensteuertarifsenkungen (zwei davon allein
3 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistische Jahrbücher fur die Bundesrepublik Deutschland 1981 - 1988, S. 133, S. 128, S. 132, S. 135, S. 134, S. 133, S. 137, S. 131. 4
Vgl. Finanzbericht 1989 (FN 1), Tab. 12, S. 198/199.
5
Die Häufigkeit der Außenprüfung hängt von der Betriebsgrößenklasse ab und sie schwankt von Land zu Land. Im Jahre 1984 betrugen die Zeitabstände bei Großbetrieben zwischen 3,1 und 6,2 Jahre, bei Mittelbetrieben zwischen 5,2 und 13,0 Jahren, bei Kleinbetrieben zwischen 9,1 und 31,9 Jahren und bei Kleinstbetrieben sogar zwischen 28,9 und 144,9 Jahren; vgl. Klaus Tipke, Joachim Lang, Steuerrecht, 13. Aufl., Köln 1991, S. 698. 6
Vgl. BMF, Finanznachrichten, Nr. 35/87, S. 1 f.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
147
in den Jahren 1986 und 1988) wirksam wurden, zu denen noch zahlreiche Maßnahmen traten, die die Bemessungsgrundlagen senkten, so ist klar, daß der Beitrag der Lohnsteuerzahler zur Erfüllung fiskalisch-budgetarer Ziele überzogen ist. Dieses Urteil stützt sich auch auf die Entwicklung der Lohn- und Gehaltssumme sowie des Volkseinkommens einerseits und der Lohnsteuer andererseits. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme stieg von 1975 bis 1987 um ca. 79,1 v.H., nämlich von D M 485,9 Milliarden auf D M 870,4 Milliarden. Das um die Reinvestitionen, die Subventionen und um die indirekten Steuern bereinigte Sozialprodukt (Nettosozialprodukt zu Faktorkosten = Volkseinkommen) stieg im selben Zeitraum von D M 803,6 Milliarden auf D M 1571,4 Milliarden, also um 95,5 v.H. Demgegenüber betrug die prozentuale Steigerung des Aufkommens der Lohnsteuer 130,6 v.H. 7 Das deutliche Auseinanderklaffen der Aufkommensentwicklung von Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer berührt ethisch-sozialpolitisch begründete Gerechtigkeitsüberlegungen, denn ganz offensichtlich sind die Gruppen der Unselbständigen und der Selbständigen vom Progressionsanstieg unterschiedlich betroffen. Bezogen auf 1987 und 1989 macht das Aufkommen aus der Lohnsteuer rund 35 v.H. bzw. 34,8 v.H. (geschätzt) des Gesamtsteueraufkommens aus, während dieser Anteil 1975 erst 29 v.H. betrug. 8 Die skizzierte Aufkommensentwicklung der Lohnsteuer und der veranlagten Einkommensteuer belegt, daß die generellen Gerechtigkeitspostulate nach Neumark (Allgemeinheit, Gleichmäßigkeit [horizontale Gerechtigkeit], Verhältnismäßigkeit [vertikale Gerechtigkeit]) beeinträchtigt sind. Die weitere Analyse wird ferner zeigen, daß der horizontalen Gerechtigkeit sowohl innerhalb der Gruppe der Arbeitnehmer wie auch innerhalb der der Selbständigen in vielfältiger Weise nicht entsprochen wird. Der überproportional starke Anstieg des Aufkommens aus der Lohnsteuer i m Verhältnis zum Anstieg der Lohn- und Gehaltssumme und des Volkseinkommens sowie im Verhältnis zu Größenordnung und Anstieg des Aufkommens aus der veranlagten Einkommensteuer macht verständlich, daß die Progression der Lohnsteuer von vielen als zu stark empfunden wurde, zumal davon haupt-
7
Vgl. Statistisches Jahrbuch 1988 (FN 3), S. 539; Finanzbericht 1989 (FN 1), Tab. 12, S. 197/199. 8 Vgl. ebenda Tab. 12, S. 197/199; vgl. auch die Analyse des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 1983: Wolfgang Rosinus, Bnittolohn und Lohnsteuer 1983, in: WiSta, Heft 8, August 1986, S. 644 ff.
148
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
sächlich jene Steuerpflichtigen betroffen sind, die kaum über »Gestaltungsprivilegien« verfugen. Daraus wird, insbesondere von den Gewerkschaften, eine ungenügende Berücksichtigung des speziellen Gerechtigkeitspostulates, des Umverteilungsziels nämlich, abgeleitet.9
bb) Übersteigerte und unsystematische Einzelregelungen Bereits einzelne Regelungen im Einkommensteuerrecht zeigen, daß ethischsozialpolitische Grundsätze vielfach verletzt sind. Schon der in § 2 Abs. 2 EStG angelegte Dualismus in Gewinn- und Überschußeinkünfte sowie der Gegensatz von Total- und Teilerfassung sind zu bemängeln, weil sie von vornherein den Grundsatz der Allgemeinheit und den der Gleichmäßigkeit beeinträchtigen. 10 Besonders auffällig wird dies bei der oft kaum zu begründenden Abgrenzung zwischen freiberuflicher und gewerblicher Tätigkeit, 11 auf die bei der Behandlung der Gewerbesteuer weiter einzugehen ist, und es setzt sich im lückenhaften Einkommensbegriff fort; wird doch nur dasjenige Einkommen der Einkommensteuer unterworfen, das sich einer der in § 2 Abs. 1 EStG genannten Einkunftsarten zurechnen läßt. Hinzu kommt eine ganze Reihe von steuerfreien Einnahmen, die in den §§ 3, 3 a und 3 b EStG erschöpfend aufgezählt ist. Nicht nur aus steuersystematischer Sicht ist zu kritisieren, daß das Einkommensteuerrecht keinem geschlossenen wirtschaftlichen, sondern eher einem kasuistischen Einkommensbegriff folgt, weil die unterschiedlichen Einkommensbegriffe und komplizierten Rechtsvorschriften auch unterschiedliche Folgen implizieren. Tipke/Lang wie auch Schneider arbeiten heraus, daß das Einkommensteuerrecht wegen der vielfältigen und zum Teil sinnwidrigen Einzelregelungen weder in der »Summe der Einkünfte aus den Einkunftsarten« eine hinreichende objektive steuerliche Leistungsfähigkeit noch im »zu versteuernden Einkommen« eine befriedigende Bemessungsgrundlage der persönlich-individuellen (subjektiven) steuerlichen Leistungsfähigkeit mißt. 12
9 Vgl. ζ. B. Hartmut Tofaute, Gesamtwirtschaftliche Entwicklungslinien der Steuerpolitik aus verteilungspolitischer Sicht, in: WSI, 39. Jg. (1986), S. 758 ff.; vgl. auch Jahresgutachten 1984/85 des Sachverstandigenrates. BT-Drucksache 10/2541, 30. Nov. 1984, Tz. 454, S. 213. 10
Vgl. dazu weiter Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 236 ff.
11
Vgl. ebenda, S. 336.
12
Vgl. ebenda, S. 211 ff.; Dieter Schneider, Grundzüge der Unternehmensbesteuerung, 5. Aufl., Wiesbaden 1990, S. 133; vgl. auch Siegfried F. Franke, Entwicklung und Begründung der Einkommensbesteuerung, Darmstadt 1981, S. 23 f.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
149
Die vielen Einzelregelungen unterscheiden mit abweichenden Folgen zwischen Landwirten, Gewerbetreibenden, Freiberuflern, Vermietern, Kapitaleinkünftebeziehern, Beamten, Rentnern, Abgeordneten, alten und jungen Steuerpflichtigen, Tag- und Nachtarbeitnehmern, Verheirateten und Geschiedenen, Beziehern von Markteinkommen, Beziehern von Unterhalt, Beziehern von Sozialeinkünften. 13 Zwingende ökonomische Kriterien fur diese Unterscheidungen sind selten erkennbar, so z.B. bei besonderen Vorschriften fur Beamte, Rentner und Landwirte. Dies widerspricht klar dem ethisch-sozialpolitisch begründeten Postulat der Allgemeinheit der Besteuerung. So mahnt denn auch das Bundesverfassungsgericht seit geraumer Zeit eine Neuordnung der Besteuerung von Renten und Alterseinkünften an. 14 Außerdem werden die Grundsätze der horizontalen und der vertikalen Gerechtigkeit beeinträchtigt. Exemplarisch sei auf die Regelung des § 13 a EStG hingewiesen, die Landwirte als Sozialfälle begreift und ihre Kinder zu BAFöG-Fällen macht und insofern begünstigt. Tipke bemerkt dazu sarkastisch, daß man auch von nicht buchfuhrenden Landwirten wenigstens die Aufzeichnung von Einnahmen und Ausgaben verlangen könne; schließlich seien sie kein Hirtenvolk. 15 In der Tat sind die in den §§ 13 a und 34 e EStG enthaltenen enormen Subventionen kaum sachgerecht mit individuellen wirtschaftlichen Bedürfhissen zu begründen. 16
cc) Tarifgestaltung und Steuerbelastung α) Zur Höhe der Grenz- und Spitzensteuerbelastung Die zahlreichen Möglichkeiten zur Beeinflussung der Bemessungsgrundlagen sind nicht nur als Mittel wirtschaftslenkender Maßnahmen, sondern vielmehr auch als Reaktion auf die ansteigende Steuerbelastung, insbesondere auf den stark steigenden Grenzsteuersatz, zu verstehen. Droschka plädiert in einer verfassungsrechtlichen Untersuchung dafür, den Eingangssteuersatz soweit
13
Vgl. z.B. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 329.
14
Vgl. BVerflGE, Bd. 54, S. 11 ff.; Wolfgang Zeidler, Verfassungsrechtliche Fragen zur Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, in: StuW, 62. (15.) Jg. (1985), S. 1 ff. 13 Vgl. Klaus ïïpke, Von der Unordnung zur Neuordnung des Einkommensteuerrechts, in: Arndt Raupach, Klaus Tipke, Adalbert Uelner, Niedergang oder Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts?Köln 1985, S. 139. 16 Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 331 f. § 13 a EStG sieht für nicht buchfuhrende Landwirte eine außergewöhnlich günstige Ermittlung des Gewinns nach Durchschnittssätzen vor, und § 34 e EStG gewährt buchfuhrenden Landwirten eine Ermäßigung der tariflichen Einkommensteuer um bis zu D M 2000.
150
Zweiter Teil: Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
abzusenken, daß Transferleistungen weitgehend entfallen können, und er hält eine Durchschnittssteuerbelastung von 50 v.H. fur eine Obergrenze, jenseits derer die Eigentumsgarantie nach Art. 14 GG verletzt sei. 17 Seine Sicht kann streitig diskutiert werden, zumal das Bundesverfassungsgericht an die Verfassungswidrigkeit der Steuerbelastung hohe Maßstäbe anlegt (das Vorliegen einer »Erdrosselungssteuer« müßte einwandfrei nachgewiesen werden). 18 Dennoch ist anzumerken, daß das Festhalten an der Grenze von D M 130.000 fur den Beginn des Spitzensteuersatzes von 56 v.H. über einen Zeitraum von 15 Jahren (1975 bis 1989) der Einkommens- und Preisentwicklung in keiner Weise entspricht. Während dieser Zeit ist der Grundfreibetrag von D M 3000 um 158,4 v.H. auf D M 4752 und die untere Proportionalzone von D M 16.000 auf D M 18.000 angehoben worden. Auch die ab 1990 geltenden Grenzen berücksichtigen kaum die Einkommens- und Preisentwicklung. 19 Daher ist die anhaltende Diskussion um eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes zu verstehen. Wenn sich beim Hineinwachsen in den Bereich der Progression die relative Bruttoeinkommensposition nicht verändert, verschlechtert sich durch den verstärkten Steuerzugriff die Einkommensposition nach Steuern, es sei denn, daß besondere Steuervergünstigungen in Anspruch genommen werden können. Bei hohen Grenzsteuersätzen und über lange Zeit festgeschriebenen Einkommensgrenzen ergeben sich daher starke Bestrebungen, die Bemessungsgrundlage - wenn auch auf eher versteckten Wegen - mildern zu können. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß kräftig ansteigende Grenzsteuersätze den Leistungswillen beeinträchtigen und die Schattenwirtschaft begünstigen können. 20 In diesem Zusammenhang sei ein Blick auf die Wirkungen des ab 1990 geplanten linear-progressiven Tarifs geworfen. Zunächst ergeben sich im Vergleich zum Einkommensteuertarif 1986 bzw. 1988 beträchtliche Entlastungswirkungen sowohl hinsichtlich der Durchschnitts- als auch der Grenzbelastung. I m Bereich der unteren Einkommen ist dabei die Senkung der Durchschnittssteuerbelastung stärker als die Senkung der Grenzsteuerbelastung. I m Bereich mittlerer Einkommen sinkt demgegenüber die marginale Belastung relativ
17 Vgl. Heribert Droschka, Steuergesetzgebende Staatsgewalt und Grundrechtsschutz des Eigentums, Heidelberg 1982, S. 184 und S. 189 ff. 18
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 56 f., mit Verweisen.
19
Vgl. § 32 a EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990 (Gnindfreibetrag: D M 5616; Spitzensteuersatz : 53 v.H. ab D M 120.000 zu versteuerndem Einkommen). 20 Vgl. Friedrich Schneider, WiSt, 15. Jg. (1986), S. 503 ff.
Das Ausmaß der Schattenwirtschaft in den OECD-Staaten, in:
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
151
stärker als die durchschnittliche Belastung; ein Ergebnis, das sich aus der politisch gewollten Beseitigung des »Mittelstandsbauches« ergibt. Dementsprechend liegen sowohl die Aufkommens- als auch die Residualeinkommenselastizität deutlich unter den bisherigen Werten. Die oberen Einkommensschichten erfahren dagegen eine zum Teil spürbare Progressionsverschärfung (sowohl im Maß der Aufkommens- als auch im Maß der Residualeinkommenselastizität). Diese Verschärfimg erreicht ihr Maximum beim zu versteuernden Einkommen von D M 120.000, um dann allmählich abzusinken.21 Der Grund fur dieses scheinbar verblüffende Ergebnis liegt darin, "daß die oberen Einkommensschichten auch an den Marginalsteuertarifabsenkungen der unteren Einkommensschichten sowie an der Erhöhung des Grundfreibetrags partizipieren, ohne jedoch hinsichtlich ihrer Marginalbelastung durch den Tarif 1990 derart entlastet zu werden, daß wenigstens der Progressionsgrad des Tarifs 1986 aufrechterhalten wird". 2 2 Seidl/Kaletha bezweifeln daher mit Recht, daß von diesem Tarif länger anhaltende wachstumspolitische incentives ausgehen werden, weil nämlich Belastungsvergleiche immer abhängig von der Vergleichsbasis sind: So ist es sehr wahrscheinlich, daß die Steuerpflichtigen des Jahres 1995 ihre Belastungssituation nicht mehr mit der von 1986 vergleichen, sondern mit der dann gegebenen Situation. Danach beeinträchtigt eine Marginalbelastung von 50 v.H. im Verhältnis zu einer Durchschnittsbelastung von 25 v.H. (Tarif 1990) die Motivation mehr als eine Marginalbelastung von 54 v.H. im Verhältnis zu einer Durchschnittsbelastung von 40 v.H. (Tarif 1986). 23 Unter Motivationsgesichtpunkten müssen schließlich Sozialabgaben und Transfers mit in die Betrachtung einbezogen werden. Die Sozialversicherungsabzüge sind als Pflichtabgaben konstruiert und haben deshalb aus der Sicht der Arbeitnehmer den gleichen Zwangscharakter wie die Lohnsteuer. Da sie zudem in festen Prozentsätzen vom Bruttoeinkommen berechnet werden, lassen sie sich - im Gegensatz zur Steuer - nicht durch Werbungskosten oder sonstige Aufwendungen beeinflussen. In der Höhe der Belastung mit Lohnsteuer und Sozialabgaben fur einen Industriearbeiter (verheiratet, zwei Kinder) nahm die Bundesrepublik Deutschland hinter den Niederlanden und Schweden mit knapp
21 Vgl. Christian Seidl, Karen Kaletha, Ein analytischer Veigleich der Einkommensteuertarife 1986 und 1990, in: WiSt, 16. Jg. (1987), S. 381 f.; vgl. auch Hans-Georg Petersen, Ein Dokument der Mut- und Kraftlosigkeit, in: Wiitschaftsdienst, 67. Jg. (1987), S. 175. 22
Seidl, Kaletha (FN 21), Einkommensteuertarife, S. 382. Vgl. ebenda, S.
2 .
152
Zweiter Teil : Grundzûge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
28 v.H. den dritten Platz ein. 24 In bezug auf die Unternehmen ist der Belastungsanstieg der gesamten volkswirtschaftlichen Steuer- und Abgabenquote der letzten Jahre sehr stark auf den Anstieg der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zurückzuführen. 25 Die Wirtschaft folgert daher, daß ohne eine Senkung der Sozialabgaben die Tarifsenkungen nur wenig nützen werden, zumal andere wichtige Industrieländer die Steuerbelastungen ebenfalls gesenkt haben bzw. noch weiter senken wollen. 26 Es bleibt abzuwarten, inwieweit die geplante Rentenreform und die schon erfolgte Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung entlastend wirken. Einkommenserhöhungen lösen nicht nur eine höhere Steuer- und Sozialabgabenlast aus; beim Uberschreiten bestimmter Einkommensgrenzen muß darüber hinaus mit dem Fortfall von Transfers gerechnet werden. Die kombinierte Wirkung von direkten Steuern und Sozialabgaben führt schon bei einem Einkommen von etwa D M 25.000 zu einer Grenzbelastung von mehr als 40 v . H . 2 7 Bezieht man noch die Transfers mit ein, so übersteigt sie häufig sogar SO v.H.; in einzelnen Fällen sind sogar »Umkippeffekte« möglich, d.h., das disponible Einkommen verringert sich nach einer Bruttoeinkommenserhöhung 28 . Im übrigen zeigt allein der Umfang des Transfervolumens (nach dem Stande von 1982: D M 280 Milliarden) 29 das erhebliche Abstimmungsund Konfliktpotential zur Einkommensteuer.
β) Ungenügende Sicherung des Existenzminimums Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den zu niedrigen Grundfreibetrag. Dieser soll die verfassungsrechtlich garantierte Steuerfreiheit eines auskömmlichen Exi-
24 Vgl. Winfried Fuest, Rolf Kroker, Einkommensbesteuerung in zehn Industrieländern, in: iwTrends, Nr. 2/87, 15. Juni 1987, S. B-8 ff.; Jahresgutachten 1982/83 des Sachverständigenrates. BT-Drucksache 10/669, 24. Nov. 1983, Tz. 232 ff., S. 128 ff. 25 Vgl. Willi Leibfritz [Ifo-Insitut, München], Die Unternehmensbesteuerungim internationalen Vergleich, in: ohne Verf., Steuersystemund wirtschaftliche Entwicklung, Berlin 1987, S. 119. 26 Vgl. Pressebericht "Ohne Senkung der Sozialabgaben wird eine Steuerreform nur wenig nützen", in: Handelsblatt, Nr. 104, 2. Juni 1987, S. 1. 27 Vgl. Johann K. Brunner, Hans Georg Petersen, Marginal Tax Burden. A Case Study of Austria and the Federal Republic of Germany, in: Empirica - Austrian Economic Papers (1985), S. 220 f. 28 Vgl. Bernd Fritzsche, Wann führt Mehrleistung zu einem Rückgang des Einkommens? In: Mitt RWI, 32. Jg. (1981), S. 141 ff.; RalfZeppernick, Transfer-Einkommen und Einkommensverteilung, Berlin 1986, S. 162 ff., S. 172 und S. 175 ff. 29
Vgl. ebenda, S. 7 f.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
153
stenzminimums gewährleisten (Art. 1 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG), das nach Tipke/Lang auch ausreichende kulturelle und zivilisatorische Bedürfnisse beinhalten muß. 30 Diesen Anforderungen entspricht der Grundfreibetrag auch in der ab 1990 geltenden Höhe von D M 5616 nicht, denn er liegt immer noch unterhalb des sozialhilferechtlichen Existenzminimums.31 Die Höhe des Grundfreibetrags müßte zumindest mit dem Sozialhilferecht und der Studienförderung (BAFöG) abgestimmt werden. 32 Inzwischen hat der 57. Deutsche Juristentag (1988) sogar beschlossen, daß das steuerliche Existenzminimum von Verfassungs wegen nicht unter dem sozialrechtlichen, sondern um der Grundrechte willen deutlich darüber liegen müsse. Auch sollte es richtigerweise in der Bemessungsgrundlage und nicht im Tarif berücksichtigt werden. 33 Dieser Forderung kann entgegengehalten werden, daß die Entlastungswirkung eines spürbar erhöhten Grundfreibetrages allen Einkommensteuerzahlern, also auch den Beziehern sehr hoher Einkommen zugute komme. 34 Daher sei es sinnvoller, die aus Gesichtspunkten der familiären Bedarfsgerechtigkeit notwendige Existenz- und Einkommenssicherung mit Maßnahmen der Sozialpolitik zu garantieren. Dieselbe Argumentation greift in bezug auf den hohen Eingangssteuersatz und die untere Proportionalzone. Eine Absenkung des Eingangssteuersatzes noch unter den ab 1990 geltenden Wert von 19 v.H. oder eine Ausweitung der Proportionalzone über die dann geltende Grenze von D M 8100/DM 16.200 hinaus würde darüber hinaus massive Einnahmenverluste zur Folge haben und fiskalisch-budgetäre Grundsätze verletzen. Weiterhin ist zu
30 Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 212; vgl. auch Franke (FN 12), Einkommensbesteuerung, S. 60 if. 31 Nach dem Stand vom Februar 1984 betrug in der Stadt Bonn bereits der monatliche Sozialhilfewert tur eine Familie mit zwei Kindern (14 und 17 Jahre alt) D M 2330; das sind D M 27960, die steuerfrei im Jahr gewährt wurden; vgl. "Zur Reform der Familienbesteuerung " (Stellungnahmen von Prof. Dr. Klaus Tipke und Prof. Dr. Joachim Lang), in: StuW, 61. (14.) Jg. (1984), S. 131. Nach dem Stand vom 1. Juli 1989 beträgt der Jahres-Sozialhilfewert allein tur den Haushaltsvorstand im ungünstigsten Falle D M 4992 (u.a. Bayern) und im günstigsten Falle D M 5340 (Berlin); entnommen aus einer Übersicht über die Regelsätze in den einzelnen Bundesländern nach § 22 Bundessozialhilfegesetz, zusammengestellt von der Behörde tur Arbeit, Gesundheit und Soziales in Hamburg. Hinzuzurechnen sind die tatsächlichen Kosten fur Miete und Heizung sowie etwaige notwendige Mehrbedarfe (z.B. verordnete Diätkost). 32 Vgl. Klaus Tipke, Steuerrecht, 11. Aufl., Köln 1987, S. 305; vgl. auch BVerfGE, Bd. 66, S. 214, insbes. S. 218 f.; Joachim Lang, Familienbesteuerung, in: StuW, 60. (13.) Jg. (1983), S. 118 ff.; "Zur Reform der Familienbesteuerung" (FN 31), S. 128 und S. 131; Zeidler (FN 14), Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, S. 2, S. 5, S. 6 und S. 8. 33 34
Nachweise bei Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 213 f.
Vgl. zum Folgenden Siegfried Baden-Baden 1983, S. 193 ff.
F. Franke, Theorie und Praxis der indirekten Progression,
154
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
berücksichtigen, daß neben dem Grundfreibetrag zahlreiche Regelungen den schließlich steuerfrei bleibenden Betrag erheblich ausweiten. Zu nennen sind die Sonderausgaben, der Arbeitnehmerfreibetrag (bis 1990), der Weihnachtsfreibetrag (bis 1990), 35 die Absetzbarkeit von 5 v.H. (höchstens D M 1200) bei der Ermittlung des Einkommens aus freier Berufstätigkeit (§18 Abs. 4 EStG), 36 die bereits erwähnten Vergünstigungen fur die Landwirtschaft sowie gegebenenfalls der Altersentlastungsbetrag, außergewöhnliche Belastungen und Freibeträge (Altersfreibetrag, 37 Haushaltsfreibetrag und Kinderfreibetrag). Demgegenüber ist zu bedenken, daß die Ergänzung des Steuerrechts durch die Sozialpolitik kompliziert und teuer ist, weil weitere Behörden beteiligt sind, und daß es zu zahlreichen (neuen) Ungerechtigkeiten kommt, weil die Einkommenskonzepte und -grenzen des Transfersystems und des Steuersystems nicht aufeinander abgestimmt sind. 38 So beschreibt der Einkommensbegriff des Sozialrechtes nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Daher hat das Bundessozialgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG ein konkretes Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht eingeleitet, dessen verwaltungskonforme Entscheidung aber die hochgespannten Erwartungen enttäuscht haben dürfte. 39 Nicht zuletzt ist zu bemängeln, daß die steuerrechtlichen Regelungen zur Ermittlung der Bemessungsgrundlagen kompliziert sind und die tatsächliche Steuerbelastung verschleiern, indem sie Vergleiche erschweren, ohne die sinnvolle Aussagen über das erreichte Maß der horizontalen und der vertikalen Gerechtigkeit nicht möglich sind. Gerechtigkeitspostulate sind damit ebenso beeinträchtigt wie der steuerrechtliche Grundsatz der Transparenz, denn nicht selten sind sich die Steuerpflichtigen über ihre wahre Belastung im unklaren. 40 Die Täuschung hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes der Steuerbelastung resultiert auch daraus, daß das Einkommensteuerrecht existenznotwendige Ausgaben sowie Unterhaltsbelastungen nicht in angemessener Höhe zum Abzug
35 Arbeitnehmerfreibetrag und Weihnachtsfreibetrag gehen zusammen mit der Werbunskostenpauschale von D M 564 in einem (neuen) Arbeitnehmer-Pauschbetragvon D M 2000 auf; vgl. § 9 a Nr. 1 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990. 36
Der Freibetrag fur Freiberufler fallt ab 1990 fort.
37
Der Altersfreibetrag fällt ab 1990 fort.
38
Vgl. Zeppernick (FN 28), Transfer-Einkommen, S. 15 ff.; Christoph Franz, Einkommensbegriffe im Steuer- und Sozialrecht, in: StuW, 65. (18.) Jg. (1988), S. 17 ff. 39 Vgl. BVerfGE, Bd. 82, S. 60 ff.; Peter Brandis, Einkommensermittlung und Verlustausgleich: Das Bundesverfassungsgerichtentscheidet, in: Handelsblatt, Nr. 85, 5. Mai 1986, S. 4. 40
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 212 f.
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von der Bemessungsgrundlage zuläßt. 41 Dadurch wird insbesondere der Grundsatz der horizontalen Gerechtigkeit verletzt. Allgemein ist festzuhalten, daß § 12 Nr. 1 und 2 EStG nicht dem Leistungsfahigkeitsprinzip entspricht. I m einzelnen wird dies besonders deutlich bei der eingeschränkten Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen nach einer Ehescheidung und bei der unzureichenden steuerlichen Ausgestaltung des Differenzierungsmerkmals »Kinder«. Die diesbezüglichen Normen enthalten offenkundige Wertungswidersprüche zum Leistungsfahigkeitsprinzip. Während das Scheidungsrecht über den Versorgungsausgleich sicherstellen will, daß eine Scheidung nicht an wirtschaftlichen Gründen scheitert, erschwert das Steuerrecht die Scheidung,42 weil es - anders als während der Ehe durch das Splittingverfahren - Unterhaltsverpflichtungen nur bis zur Höhe von D M 18.000 (demnächst D M 27.000) jährlich anerkennt, und auch das nur, wenn der geschiedene und unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Ehegatte diesem Antrag zustimmt (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Liegen höhere Rechtstitel vor, so verstößt schon die Beschränkung gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip. Vollends unzumutbar sei es jedoch, den steuerlichen Abzug von der Zustimmung einer Person abhängig zu machen, zu der die Brücken abgebrochen worden sind (Tipke/Lang). So hatte schon der Bundesrat Bedenken, ob das begrenzte Realsplitting verfassungskonform ist, und es wundert nicht, daß diese Regelung zahlreiche Streitigkeiten und Zivilprozesse ausgelöst hat. Zu den rechtlichen Bedenken kommt hinzu, daß das sog. Realsplitting steuerrechtssystematischen Gesichtspunkten nicht entspricht, denn die Unterhaltsleistungen an den geschiedenen Ehegatten werden als Sonderausgaben gewertet, während alle anderen Unterhaltsleistungen - soweit sie geltend gemacht werden können - als außergewöhnliche Belastungen zu betrachten sind.
y) Probleme des Splittingverfahrens Die unzulängliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen an den geschiedenen Ehegatten bedeutet freilich nicht, daß die steuerliche Behandlung von Ehegatten den entwickelten Besteuerungsnormen entspricht. Das bereits erwähnte Splittingverfahren begründet sich aus der Überlegung, daß zwei verdienende Ehegatten steuerlich nicht schlechtergestellt sein dürfen als vor ihrer Eheschließung. Durch die progressionsverschärfende Zusammenrechnung der
41 42
Vgl. ebenda, S. 212 f. und S. 229.
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 9, S. 382 ff.; Joachim Lang, Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteueigesetzes, Köln 1985, S. 75 und S. 41 f.
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Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
Einkünfte der Ehegatten wird nämlich - wie das Bundesverfassungsgericht seinerzeit festgestellt hatte - die besondere Schutzvorschrift des Art. 6 Abs. 1 GG verletzt. In der näheren Begründung hatte das Verfassungsgericht im übrigen erwähnt, daß das damals in den USA geltende Splittingverfahren verfassungsgemäß sei, worauf sich der Gesetzgeber entschloß, das Ehegattensplitting ab 1958 auch in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen. 43 Bei näherer Analyse zeigt sich allerdings, daß dem Splittingverfahren gravierende Mängel anhaften. Zunächst ist kritisch zu erwähnen, daß die Anwendung des Ehegattensplitting von der gewählten Form des gesetzlichen Güterstandes abhängig sein müßte. 44 Während das Splitting für den gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft und bei Gütergemeinschaft gerechtfertigt ist, verbietet es sich jedoch in den Fällen der Gütertrennung, weil hier keine Erwerbsund Vermögensgemeinschaft besteht und weil im Falle der Scheidung auch kein Zugewinnausgleich stattfindet. Die in Gütertrennung lebenden Ehegatten sind also wirtschaftlich als Einzelpersonen zu betrachten. Praktikabilitätsenvägungen reichen nicht aus, um auch ihnen die Vergünstigung der gemeinsamen Veranlagung zukommen zu lassen, zumal angenommen werden kann, daß die Gütertrennung vor allem von Ehepaaren mit hohem Einkommen gewählt wird. Der Gesetzgeber geht beim Splittingverfahren davon aus, daß beide Ehegatten in gleichem Maße zum Einkommen beitragen und daß sie es auch je zur Hälfte verwenden. Ökonomisch muß gleichwohl unterschieden werden, ob nur ein Ehegatte Einkommen erzielt oder ob beide daran beteiligt sind, und wenn ja, in welchem Verhältnis die Teileinkommen beider Ehegatten zueinander stehen. Beziehen beide Ehegatten ein Einkommen, das nach der Grundtabelle in die untere oder in die obere Proportionalzone fällt oder beziehen sie beide ein gleich hohes Einkommen, so ergibt sich aus der Anwendung des Splittingverfahrens kein Vorteil gegenüber der getrennten Besteuerung. Vorteile ergeben sich jedoch dann, wenn in den anderen Fällen beide Ehegatten unterschiedlich hohe Einkommen erzielen oder wenn nur ein Ehegatte Einkommen erhält. Ein einfaches Beispiel nehme das gemeinsam zu versteuernde Einkommen mit D M 100.000 an. Davon entfalle auf einen Ehegatten a) D M 20.000, b) D M 30.000 bzw. c) D M 40.000. Ab 199045 sind auf das Gesamteinkommen D M
43
Vgl. BVerfGE, Bd. 6, S. 55 ff., insbes. S. 76; § 32 a Abs. 2 EStG 1958.
44
Vgl. zum Folgenden Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 396 ff.
45 Vgl. zum Folgenden Einkommensteuer-Grundtabelle 1990 und Einkommensteuer-Splittingtabelle 1990. BStBl. I 1988, Nr. 12, Anlage 1 und 2, S. 272 ff. und S. 294 ff.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
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22.168 an Einkommensteuer zu entrichten. Demgegenüber wären bei getrennter Steuerzahlung insgesamt a) D M 24.920, b) D M 23.402 und c) D M 22.490 zu zahlen. Der Splittingvorteil beträgt demnach im Falle a) D M 2752, im Falle b) D M 1234 und im Falle c) nur noch D M 322; als Folge des Progressionstarifs ergibt sich nämlich konsequenterweise, daß der Splittingeffekt abnimmt, j e näher die beiden Einkommensteile zusammenrücken. Der rein steuerliche Anreiz zur Eheschließung ist mithin bei noch unverheirateten Paaren um so geringer, je dichter ihre jeweiligen Einkommen beieinander liegen. Dies galt uneingeschränkt auch fur die vor 1990 geltenden Steuerbeträge. Betrachten wir andererseits einen Fall, bei dem ein Einkommen von D M 80.000 nach den Splittingvorschriften zu versteuern ist, das ein Ehegatte allein bezogen hat. Der Steuerbetrag beträgt dann fur 1990 D M 16.134. Falls nun durch eine neu oder wieder aufgenommene Berufstätigkeit des anderen Ehegatten das zu versteuernde Einkommen auf D M 100.000 steigt, so steigt der zu entrichtende Steuerbetrag auf D M 22.168. Das bedeutet jedoch, daß allein D M 6034 von den zusätzlichen D M 20.000, das sind 30,17 v.H., an Steuern zu entrichten sind. Rechnet man die Sozialabgaben hinzu, so überschreitet die Gesamtabgabequote leicht 45 v.H. Dies Ergebnis verstößt offenkundig gegen das Postulat der Leistungsfähigkeit; es ist leistungsfeindlich, diskriminiert in vielen Fällen Frauen, die wieder in den Beruf eintreten wollen, und begünstigt die Schattenwirtschaft. Damit wird deutlich, daß die derzeitige Form des Ehegattensplitting nicht nur gegen ethisch-sozialpolitische, sondern auch gegen fiskalisch-budgetäre und gegen wirtschaftspolitische Grundsätze verstoßen kann. 46 Gilt diese Bewertung schon fur den ab 1990 in Kraft tretenden linearprogressiven Tarif, so ist zu verstehen, daß sie für die vor 1990 liegenden Jahre noch schärfer hervorgehoben werden muß. Bezieht nur ein Ehegatte Einkommen, so ergibt sich - auch beim neuen Tarif ein unbefriedigendes Resultat, wenn man die Splittingeffekte bei unterschiedlich hohen Einkommen vergleicht. Bei unteren und mittleren Einkommen ist die Entlastung völlig unzureichend, während sie im Bereich hoher und sehr hoher Einkommen vermögensbildenden Charakter annehmen kann, vor allem dann, wenn längerfristige Zeiträume betrachtet und mögliche Zinseffekte mit einbezogen werden. 47 Nach den TarifVorschriften für 1986/1987 beträgt der Splittingvorteil bei einem zu versteuernden Einkommen von D M 20.000 nur
46
Vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 210 ff.
47
Vgl. ebenda, S. 123 ff. und S. 206 ff.
158
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
D M 1022 im Jahr und bei zu versteuernden Einkommen von D M 40.000, D M 60.000 und D M 100.000 steigt der Vorteil von D M 3302 über D M 6560 auf D M 10.906. Der höchste Splittingvorteil betrug ab 1986 D M 16.433 (ab D M 260.000). Ab dem Veranlagungszeitraum 1988 stieg der maximal mögliche Entlastungseffekt auf D M 19561, und nach dem Steuerreformgesetz erreicht er sogar den Betrag von D M 22.843 (ab D M 240.000). 48 Offensichtlich widersprechen die Wirkungen des Splittingverfahrens den Gerechtigkeitspostulaten der Gleichmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit. Eine dringend gebotene Änderung ist aber weder mit einer betragsmäßigen Grenze des Splittingvorteils (was nicht nur von der SPD, sondern zeitweilig auch von der christlich-liberalen Koalition erwogen wurde 49 ) noch über eine sukzessive Abschmelzung der sog. Grundentlastung erreichbar. 50 Beides führt nämlich dazu, daß der Grenzsteuersatz bei Überschreiten der entsprechenden Einkommensgrenzen Sprungstellen aufweist, die sogar 100 v.H. überschreiten können, um danach langsam zurückzufallen. 51 Ein tarifmäßig widerspruchsfreier Ausweg bietet sich nur, wenn ein auf etwa 50 v.H. gesenkter Spitzensteuersatz bereits bei ungefähr D M 58.000 einsetzt.52 Befriedigendere Ergebnisse der Besteuerung von Ehegatten lassen sich nur erzielen, wenn entweder der Splittingdivisor variabel gestaltet und eventuell mit in ein volles Familiensplitting einbezogen wird oder wenn man nach neuen, Art. 6. Abs. 1 GG entsprechenden Wegen der Ehegattenbesteuerung sucht. Beides dürfte nicht nur aus Gründen der parteiund gesellschaftspolitischen Willensbildung, sondern auch deshalb schwierig sein, weil das Bundesverfassungsgericht inzwischen in einer Entscheidung zur steuerlichen Behandlung alleinstehender Steuerpflichtiger mit Kindern ausge-
48 Vgl. § 52 Abs. 23 b EStG 1986; § 32 a Abs. 1 Nr. 5 EStG 1987 für die Vz. 1988 und 1989; § 32 a Abs. 1 Nr. 5 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990. 49 Vgl. BMF (Hrsg.), Finanzbericht 1983, S. 49. Danach sollte der Splittingvorteil auf D M 10.000 begrenzt werden; eine Absicht, die sich insbesondere die SPD zu eigen machte; vgl. auch BMF, Finanznachrichten, Nr. 2/83, S. 1. 50 Vgl. Horst Gobrecht, Erste Vorschläge zu Neugestaltungen im Steuersystem, Freie und Hansestadt Hamburg, Finanzbehörde, Mai 1986, S. 15. Unter »Grundentlastung«versteht Gobrecht die Differenz der Steuerbetrage, die sich aus einer unterschiedslosen Anwendung des Spitzensteuersatzes auf alle Einkommensteile und der nach § 32 a EStG abschnittsweise entsprechenden Tarifvorschrift ergibt. Dem Tarif 1988 entsprechend ist die »Grundentlastung« D M 19.561, ab 1990 steigt sie auf D M 22.842; dies entspricht gleichzeitig dem maximal möglichen Splittingvorteil. 31
Vgl. Siegfried F. Franke, Konzeptionelle Neugestaltungen im Steuerrecht? In: StuW, 63. (16.) Jg. (1986), S. 393 f. 52 Vgl. Wolfram F. Richter, 13. Jg. (1984), S. 10.
Steuertarifliche Entlastungen beim Ehegattensplitting, in: WiSt,
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
159
fuhrt hat, daß "das Ehegattensplitting keine beliebig veränderbare Steuer-» Vergünstigung«, sondern - unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers - eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Art. 3 Abs. 1 GG) orientierte sachgerechte BesteuerungH ist. 53 Die SPD hat sich deshalb auf eine Formulierung zurückgezogen, wonach "in verfassungsrechtlich einwandfreier Form sichergestellt werden [muß], daß der maximale Splittingvorteil nicht noch weiter anwächst, sondern eingeschränkt wird", 5 4 während die christlich-liberale Koalition dieses Thema nicht mehr erwähnt. 55 Das Steuerreformgesetz 1990 hält die herkömmliche Teilung in Grund- und Splittingtarif denn auch bei. Damit verschärft sich tariftechnisch unvermeidbar das völlig disparate Entlastungsverhältnis zwischen Ehepaaren geringen und sehr hohen Einkommens.
ò) Ungenügende Berücksichtigung von Kindern Gleichfalls als nicht sachgerecht wird von vielen - wenn auch mit unterschiedlicher Begründung - die steuerliche Berücksichtigung von Kindern empfunden, die ein wesentliches Element der belastungsbezogenen Einkommensdifferentiation ist. Sie ist allerdings bislang unzureichend ausgestaltet. Dies gilt auch fur die kombinierte Wirkung von Kinderfreibetrag und Kindergeld. Für den Zeitraum von 1959/1963 bis 1974 konnte fur typische Arbeitnehmer (verheiratet, zwei Kinder) empirisch eine durchschnittliche jährliche Entlastung j e Kind nachgewiesen werden, die von D M 248 bis zu D M 499 reichte. 56 Die während dieser Zeit geltenden Kinderfreibeträge betrugen D M 900 fur das erste, D M 1680 für das zweite und D M 1800 fur jedes weitere Kind; ab 1961 wurde der Freibetrag für das erste Kind auf D M 1200 angehoben. Außerdem ist das - damals nur für Geringverdiener in Betracht kommende - Kindergeld für das zweite Kind mit berücksichtigt worden. 57
53
BVerfGE, Bd. 61, S. 319 ff., insbes. S. 347.
54
"Unser Steuerrecht gerecht gestalten." Das sozialdemokratische Konzept fur eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung unseres Steuersystems. Politik, Nr. 2, April 1986, Informationsdienst der SPD, S. 5. 55 Allerdings haben sich jüngst die Sozialausschüsse der C D U wieder für eine Änderung des Ehegattensplitting ausgesprochen; vgl. Pressebericht "Das Ehegattensplitting soll modifiziert werden", in: Handelsblatt, Nr. 105, 5. Juni 1989, S. 1. 56
Vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 112 - 116.
57
Vgl. ebenda, S. 113 und S. 116; § 32 Abs. 2 Nr. 4 EStG 1958 und § 32 Abs. 2 Nr. 4 EStG
1961.
160
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
Ab 1975 wurde die Freibetragsregelung durch allgemeine Kindergeldzahlungen abgelöst. Das Kindergeld betrug zunächst D M 50 für das erste, D M 70 fur das zweite und D M 120 fur jedes weitere Kind. Es ist inzwischen mehrfach angehoben worden und beträgt zur Zeit D M 50 fur das erste, D M 100 fur das zweite, D M 220 fur das dritte und D M 240 fur jedes weitere Kind. Sofern bestimmte Einkommensgrenzen überschritten werden, sinkt das Kindergeld fur das zweite und jedes weitere Kind stufenweise auf D M 70 bzw. D M 140. Demgegenüber kommen Geringverdiener in den Genuß von Kinderzuschlägen, die bis zu D M 46 je Kind reichen. 58 Die Kindergeldregelung führte bei (zwei Kindern) im Zeitraum von 1975 bis einschließlich 1980 zu einer durchschnittlichen jährlichen Entlastung von D M 780je Kind. Bei dieser Entlastungsrechnung wird der Logik der vertikalen und der horizontalen Gerechtigkeit entsprechend angenommen, daß das Kindergeld eine »negative Einkommensteuer« ist, wobei unerheblich ist, daß die technische Abwicklung durch eine andere Behörde als das Finanzamt erfolgt. 59 Bezieht man in die Analyse ein, daß Kinder die Höhe der maximal ausschöpfbaren Sonderausgaben beeinflußen, so steigt für die betrachteten Fälle der durchschnittliche Entlastungseffekt auf bis zu D M 958 je Jahr. 60 Das System der Kindergeldzahlung ist durch die Gewährung von Kinderbetreuungskosten, Kindergrundfreibeträgen und einen begrenzten Kinderfreibetrag in Höhe von D M 432 stufenweise ergänzt und zu einem dualen System des Familienlastenausgleichs ausgebaut worden. Seit dem Veranlagungszeitraum 1986 gilt neben dem Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz ein Kinderfreibetrag in Höhe von D M 2484 je Kind bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens, der ab 1990 auf D M 3024 steigt. 61 Grundsätzlich und immer wiederkehrend wird an der Freibetragsregelung kritisiert, daß ihre Entlastungswirkung vom individuellen Grenzsteuersatz abhänge. So entlaste die derzeitige Regelung die Bezieher sehr hoher Ein-
58
Vgl. §§ 10 und 11 a BKKG in der Fassung vom 21. Januar 1986. BGBl. I 1986, S. 222.
59
Vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 45 f. und S. 63 f. In der Regel wird jedoch das Kindergeld nicht mit dem Leistungsfahigkeitsprinzip begründet, sondern mit dem sozialpolitischen Argument, daß Familien mit Kindern von einem Teil der entstehenden Kosten (direkt) entlastet werden sollen; vgl. Alois Oberhauser, Die Ungereimtheiten des dualen Systems, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 34 (1985), S. 15. 60
Vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 123.
61
Vgl. § 32 Abs. 6 EStG 1986; § 32 Abs. 6 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
161
kommen 2,5 mal j e Kind mehr als die geringerer Einkommen. 62 Solche Überlegungen mögen wahltaktisch begründet sein;63 steuerrechtssystematisch sind sie verfehlt, weil die degressive Wirkung bei abnehmender Bemessungsgrundlage der logische Reflex der progressiven Belastung bei zunehmenden Einkommen ist. 6 4 Ohne Zweifel sind Kinderfreibeträge im übrigen verfassungskonform. 65 Auch können kinderbedingte Ausgaben nicht als beliebige Einkommensverwendung angesehen werden, weil sie nicht nur sittlich und tatsächlich unvermeidbar, sondern zudem unterhaltsrechtlich erzwungen sind. 66 Legt man die nach dem Unterhaltsrecht gegebenen Ansprüche der Kinder zugrunde, 67 so ist festzustellen, daß selbst die zusammengefaßte Wirkung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen deren Höhe nicht erreicht. Die kinderbezogene Einkommensdifferentiation deckt also nicht die mit Kindern verbundenen notwendigen Aufwendungen. Auch die nach der Steuerreform 1990 vorgesehene Verbesserung der Familienforderung erreicht nicht die Höhe, die nach den Entscheidungsgründen mehrerer Bundesverfassungsgerichtsurteile als angemessen anzusehen und die auch auf »Halbfamilien« zu beziehen sind. 68 Tipke folgert daher, daß es fast den Eindruck erwecke, als wolle der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes negieren. 69
62
Vgl. z.B. Gobrecht (FN 50), Neugestaltungen im Steuersystem, S. 14.
63
Vgl. dazu Franke (FN 12), Einkommensbesteuerung, S. 114 f.
64
Vgl. u.a. Franke (FN 51), Neugestaltungen im Steuerrecht? S. 392 f.; Joachim Lang, Das Einkommensteuergesetz 1975 - Gewinn an Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung? In: StuW, 51. (4.) Jg. (1974), S. 302; Hans Laux, Absurditäten der Steuerreform, in: StuW, 53. (6.) Jg. (1976), S. 356 f.; Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 197 f. und S. 386. 65 Vgl. Karl-Bräuer-Institut Wiesbaden, April 1989, S. 82 fif.
des BdSt (Hrsg.), Heft 64, Kinderfreibetrag und Grundgesetz,
66 Vgl. Wolfgang Zeidler, 4. Kap., 2. Abschn. "Ehe und Familie", in: Ernst Benda, Werner Maihof er, Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), unter Mitwirkung von Konrad Hesse, Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin, New York 1983, S. 604. 61 Vgl. die sog. Düsseldorfer Tabelle nach dem Stand vom 1. Jan. 1989, in: NJW, 41. Jg. (1988), S. 2352 f. Danach ist z.B. bei einem monatlichen Nettoeinkommen von D M 4000 des Unterhaltsverpflichteten für ein Kind zwischen sieben und zwölf Jahren D M 5280 im Jahr an Unterhalt zu zahlen. Hinzugefügt werden muß, daß der andere Elternteil sich in etwa die gleiche Summe an Aufwendungen zurechnen lassen muß, die in der Regel natural erbracht werden. Dies Beispiel zeigt, wie sehr die Unterhaltsansprüche über die steuerrechtlich in Betracht kommenden Beträge hinausgehen. 68 Vgl. BVerfGE, Bd. 61, S. 319, insbes. S. 343 ff.; Bd. 66, S. 214, insbes. S. 223 ff.; Bd. 67, S. 290, insbes. S. 297 f.; Zeidler (FN 14), Besteuerung von Familien- und Alterseinkommen, S. 1 ff.; Klaus Vogel, Zwangsläufige Aufwendungen, in: StuW, 61. (14.) Jg. (1984), S. 197 ff.; Karl-Bräuer-Institut (Hrsg.) (FN 65), Kinderfreibetrag, S. 83 ff. 69
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. X ; vgl. auch Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 382 f.
11 Franke
162
Zweiter Teil: Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
Verfassungsrechtlich bedenklich ist zudem, daß der Gesetzentwurf zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 die steuerliche Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten von einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis abhängig macht; versagt doch diese Vorschrift all jenen die Abzugsfähigkeit, die sich aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse nur eine geringer besoldete Hilfskraft leisten können. 70 Allerdings erfüllen auch die oben dargestellten Vorschläge der Oppositionsparteien und der Gewerkschaften kaum die verfassungsrechtlich gebotenen Anforderungen. Die unzulängliche Berücksichtigung des Differentiationsmerkmals »Kinder« gründet zum einen in der Furcht, massive Einnahmenverluste hinnehmen zu müssen, zum anderen aber auch im Wissen, daß zahlreiche Maßnahmen der Sozialpolitik zum sozialen Ausgleichs für Familien mit Kindern beitragen. 71 Freilich bleibt der Einwand, daß die Kombination von Steuer- und Sozialpolitik kompliziert, teuer und zum großen Teil undurchsichtig ist. Dadurch ergeben sich nicht nur mögliche Ungerechtigkeiten, sondern auch enorme Schwierigkeiten beim Versuch einer exakten Vergleichs- und Wirkungsanalyse. 72
e) Probleme des Periodizitätsprinzips Unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist ferner zu bemängeln, daß das Differentiationsmerkmal »Zeit« nur ungenügend berücksichtigt wird. 7 3 Dahinter verbirgt sich das bekannte Problem, daß sich aus der Verknüpfung grundsätzlich progressiver Steuertarife, die in der Regel längere Zeit unverändert bleiben, mit dem Prinzip der jährlichen Besteuerung (sog. Periodizitätsprinzip, § 2 Abs. 7 EStG) ergibt: In periodenübergreifender Sicht können sich nämlich bei Vorliegen bestimmter Umstände beträchtliche Ungleichbelastungen interperiodisch gleich hoher Einkommen ergeben, die die
70 Vgl. Gesetzentwurf zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990. BT-Drucksache 11/4507, 9. Mai 1989, S. 3 und S. 10; Präsidium des BdSt, Stellungnahme zum steuerlichen Abzug von Aufwendungen für Familien- und Pflegehilfen. Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages am 1. Juni 1989, Wiesbaden, 23. Mai 1989, S. 2. 71
Vgl. z.B. Zeppernick (FN 28), Transfer-Einkommen, S. 84 ff.
72
Vgl. ebenda, S. 6 ff.; Franz (FN 38), Einkommensbegriffe, S. 17 ff.
73
Vgl. zum Folgenden u.a. Dieter Brümmerhof, Finanzwissenschaft, 5. Aufl., München, Wien 1990, S. 298 f., Siegfried F. Franke, Löhne und Gehälter in langfristiger Sicht und ihre Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, Baden-Baden 1979, S. 24 ff.; ders. (FN 34), Indirekte Progression, S. 59 f.; Johannes Hackmann, Die Besteuerung des Lebenseinkommens, Tübingen 1979; William Vickrey, Averaging of Income for Income-Tax Purposes, in: JPE, Vol. 47 (1939), S. 379 - 397.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
163
Verteilung erheblich beeinflussen. 74 Wird das Leistungsfähigkeitsprinzip konsequent zu Ende gedacht, so dürfte als Bemessungsgrundlage nur das gesamte Lebenseinkommen unter Berücksichtigung aller im Laufe der Zeit aufgetretenen Minderungsfaktoren in Frage kommen. 75 Eine solche Fassung der Bemessungsgrundlage ist jedoch - wie bisherige Vorschläge zur interperiodischen Durchschnittsbesteuerung zeigen - kaum oder nur äußerst schwer durchfuhrbar, 76 und darüber hinaus ist stark zu bezweifeln, ob die Besteuerung des Lebenseinkommens wirklich gerechter wäre; sind doch die zum Teil sehr wechselvollen Abläufe eines ganzen Lebens kaum monetär zu bewerten. Dennoch ist darauf hinzuweisen, daß in interperiodischer Sicht zum Teil beträchtliche steuerliche Nachteile auftreten können. Neben interperiodisch schwankenden Einkommen ist die Verkürzung der durchschnittlichen Zeitspanne der Erwerbsmöglichkeiten zu nennen, was u.a. durch die Kindern gewidmeten Erziehungszeiten, durch längerdauernde Krankheiten oder Arbeitslosigkeit oder durch eine qualifizierte Ausbildung (Studium) verursacht werden kann. 77 Das deutsche Steuerrecht enthält freilich etliche Durchbrechungen des Periodizitätsprinzips. Zu erwähnen sind Steuerbefreiungen (z.B. §§3 Nr. 9 und 10, 23 Abs. 1 Nr. 1 EStG), Freibeträge und ermäßigte Steuersätze fur außerordentliche Einkünfte (§§ 14, 14 a EStG; §§ 16, 17 und 18 Abs. 3 EStG; § 34 Abs. 1 und 2 EStG; § 34 b EStG), die Verteilung von Entlohnungen für mehrjährige Tätigkeiten auf drei Jahre (§ 34 Abs. 3 EStG), die Übertragung stiller Reserven bei Einzelveräußerungen (§§ 6 b, 6 c EStG) sowie die Möglichkeit
74 Vgl. Dieter Brümmerhoff, Zur Beeinflussung der Verteilung der Jahres- und der Lebenseinkommen durch die Finanzpolitik, Tübingen 1977. 73 Vgl. M. Francis Bravman, Equalization of Tax on all Individuals with the same aggregate income over number of years, in: Columbia Law Review, Vol. 50 (1950), S. 4. 76 Vgl. Johannes Hackmann, Ein Gesetzesvorschlag fur einen generellen intelperiodischen Progressionsausgleich, in: StuW, 59. (12.) Jg. (1982), S. 173 ff.; ders., Interperiodische Durchschnittsbesteuerungdes Einkommens, in: FA, Ν . F., Bd. 34 (1975/76), S. 1 ff.; ders., Lebenseinkommensbesteuerung durch interperiodischen Progressionsausgleich, in: StuW, 57. (10.) Jg. (1980), S. 318 ff.; Joachim Mitschke, Lebenseinkommensbesteuerung durch interperiodischen Progressionsausgleich, in: StuW, 57. (10.) Jg. (1980), S. 122 ff.; ders., Textentwurf einer EStGÄnderung zur Lebenseinkommensbesteuerung durch interperiodischen Progressionsausgleich, 57. (10.) Jg. (1980), S. 252 ff.; ders., Steuer- und Transferordnung aus einem Guß, Baden-Baden 1985. 77 Vgl. im einzelnen die detaillierte Analyse des Verf.: Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 72 ff., S. 143 ff. und S. 218 ff. Zur Analyse der einkommensteuerlichen Zusatzbelastung mittelständischer Unternehmen bei jährlich schwankenden Gewinneinkünften vgl. Klaus Dittmar Haase, Die Progressions-Strafsteuer ist ein Ärgernis ersten Ranges, in: Handelsblatt, Nr. 246, 24. Dez. 1985, S. 3.
164
Zweiter Teil: Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
des Verlustvor- und -rücktrags (§ 10 d EStG; § 10 a GewStG). Nach Mitschke hat der Gesetzgeber selbst offenbar kein unbedingtes Vertrauen in die Zweckmäßigkeit des Periodizitätsprinzips. 78 Gemeinsam ist diesen Vorschriften jedoch, daß sie vor allem von den Arbeitnehmern kaum genutzt werden können. Speziell in bezug auf den Verlustrücktrag ist zu erwähnen, daß er nicht - wie eigentlich geboten - aus Gerechtigkeitsgründen, sondern aus konjunkturellen Überlegungen eingeführt worden ist. 79 Die schon 1982 erfolgte Verlängerung des Rücktragszeitraumes von einem auf zwei Jahre und die Anhebung des rücktragsfähigen Betrages von D M 5 Millionen auf D M 10 Millionen ist darüber hinaus aus Wachstums- und ordnungspolitischen Gründen zu begrüßen. 80 Wirtschaftspolitisch nachteilig war bislang, daß nicht alle Verluste steuerlich geltend gemacht werden können. Dies gilt vor allem bei Unternehmen des Großanlagenbaus mit langen Bau- und Lieferzeiten (weil im Rücktrag nicht ausgleichbare Verluste bisher nur fünf Jahre lang vorgetragen werden konnten 81 ), im Kohlenbergbau und in der Stahlindustrie. 82 Aspekte der Gerechtigkeit und der Steuersystematik werden zudem durch den hohen Komplizierungsgrad der Verlustberücksichtigung berührt, der sich "im Zusammenhang mit dem allgemeinen Abgabenrecht, ferner durch das KörperschaftsteuerAnrechnungsverfahren und schließlich durch das Zusammentreffen mit Verlustabzugsbeschränkungen des Einkommensteuerrechts" ergibt. 83 Von eher nachteiliger Wirkung ist auch die Tendenz der Unternehmenspraxis, Zusatzbelastungen bei schwankenden Einkommen durch eine flexiblere Gewinnermittlung in der Handels- und Steuerbilanz aus dem Wege zu gehen, weil dieses Vorgehen die Aussagekraft der Bilanz trübt. 84
78 Vgl. Mitschke (FN 76), Lebenseinkommensbesteuerung durch interperiodischen Progressionsausgleich, S. 124. 79
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 212.
80
Vgl. Siegfried F. Franke, Zur Systematik einer rationalen Besteuerung, in: List Forum, Bd. 13 (1985/86), S. 12. 81 Diese Beschränkung fällt jedoch ab 1990 fort; vgl. Neufassung des § 10 d EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990. 82 Vgl. Arndt Raupach, Niedergang des deutschen Einkommensteuerrechts - Möglichkeiten der Neubesinnung, in: Raupach et al. (FN 15), Neuordnung des deutschen Einkommensteuerrechts, S. 113. 83
Ebenda, S. 113; Zu den Einzelheiten vgl. ebenda, S. 113 f.
84
Vgl. Haase (FN 77), Progressions-Strafsteuer.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
165
In diesem Zusammenhang ist auf die kontrovers diskutierte Neuregelung des § 34 Abs. 1 EStG einzugehen. Ursprünglich wurde auf Gewinne von Betriebsveräußerungen der halbe durchschnittliche Steuersatz angewandt, um einerseits die Auswirkungen des Periodizitätsprinzips zu mildern und andererseits die Alterssicherung von Mittelständlern zu fordern; eine Regelung, die aus Gründen des Leistungsfähigkeitsprinzips gerechtfertigt war. 85 Das Steuerreformgesetz 1990 beschnitt diese Ermäßigung ganz erheblich. 86 Aufgrund der Kritik der Wirtschaft und der sich schon abzeichnenden Verkaufswelle bei mittelständischen Unternehmen 87 sieht der Änderungsentwurf zum Steuerreformgesetz 1990 eine Anhebung der Grenze für den halben durchschnittlichen Steuersatz von D M 2 Millionen auf D M 30 Millionen vor. Auf eine weitere Stufung wird aus Vereinfachungsgründen verzichtet. 88 Wie bei der Quellensteuer, so dürfte das Hin und Her beim § 34 Abs. 1 EStG die Rechtssicherheit und das Vertrauen in die Politik nicht gerade erhöht haben.89 Einen weiteren Aspekt der ungenügenden Berücksichtigung des »Zeit« bringt neuerdings Tipke unter dem Eindruck sich immer kürzender Wochenarbeitszeiten für bestimmte Gruppen. In der Tat Standpunkt der Gerechtigkeit legitim, danach zu fragen, ob das
85
Merkmals weiter verist es vom Jahresein-
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 394.
86
Der halbe durchschnittliche Steuersatz gilt danach nur noch bis zu einem Veräußerungsgewinn von D M 2 Millionen; zwischen D M 2 Millionen und D M 5 Millionen werden zwei Drittel des durchschnittlichen Steuersatzes angewendet; darüber hinausgehende Gewinne werden mit dem vollen Steuersatz erfaßt. 87
Vgl. z.B. Presseberichte "»Die Änderung des § 34 EStG ist ein vorsätzlicher Angriff auf den Mittelstand«" [Heinz Dürr]; "Konzentrationsgefahr für den Mittelstand"; "Eingabe der acht Spitzenverbände: Wirtschaft für Beibehaltung des § 34 EStG", in: Handelsblatt, Nr. 80, 25. April 1989, S. 7; Nr. 13, 20. Jan. 1988, S. 1; Nr. 103, 1. Juni 1989, S. 7; ohne Verf., Vollversteuerung der Gewinne bei Betriebsveräußerung: Die mittelständischen Unternehmen sind beunruhigt, in: Handelsblatt, Nr. 238, 11./12. Dez. 1987, S. 6; Wolfgang Bernhardt, Die mittelständischen Familienunternehmen werden durch die Steuerreform in ihrer Existenz gefährdet, in: Handelsblatt, Nr. 77, 21. April 1988, S. 4. 88
Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 (FN 70),
S. 12. 89 Pointiert dazu Wolfram Engels, Anti-Unternehmer-Steuer, in: Wirtschaftswoche, 42. Jg., Nr. 22, 27. Mai 1988, S. 142; vgl. auch Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 393 f. Vermutlich war die Verschärfung der Besteuerung der Veräußerungsgewinne durch den Sonderfall der FlickTransaktion mit begründet; vgl. ohne Verf., Der Milliardentrick, in: Wirtschaftswoche, 41. Jg., Nr. 21, 15. Mai 1987, S. 17 ff.; Pressebericht "Die Probleme liegen nicht auf der Seite des Erwerbers, sonderndes Veräußerers", in: Handelsblatt, Nr. 113, 16. Juni 1987, S. 2.
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kommen aufgrund einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 35 Stunden oder von 70 oder gar mehr Stunden erzielt wird. 9 0
dd) Wirtschaftslenkende Normen a) Mangelnde Begründung der Eingriffsabsicht Viele Regelungen im Einkommensteuergesetz sind als wirtschaftslenkende Normen zu verstehen. Als Elemente der gestaltungsbezogenen Einkommensdifferentiation sollen sie bestimmte Verhaltensweisen subventionieren oder prämieren, andere hingegen mit Sanktionen belegen oder Nachteile aus sozialethischen oder wirtschaftspolitischen Gründen ausgleichen bzw. mildern. Allerdings sind die diesbezüglichen Vorschriften derartig vielfältig, diffus und zum Teil widersprüchlich gestaltet, so daß ihre positiven Effekte kaum nachweisbar sind. Schlimmer noch: Oft muß begründet angenommen werden, daß sich die eigentlich angestrebte Wirkung ins Gegenteil verkehrt. Die Folgen zeigen sich in beträchtlichen Fehlallokationen der Ressourcen und dementsprechenden Wachstumseinbußen. Außerdem werden distributionspolitische Zielsetzungen und damit auch Gerechtigkeitsaspekte beeinträchtigt. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang einerseits auf die Fülle der Steuerbefreiungen und Freibeträge im deutschen Steuerrecht und andererseits auf das Treiben der sog. Abschreibungsgesellschaften hingewiesen.
ß) Obsolete Steuerbefreiungen Steuerbefreiungen werden meistens sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch begründet. Ein Beispiel dafür ist die Steuerfreiheit fur Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge nach § 3 b EStG, die zwar nach dem Steuerreformgesetz 1990 etwas reduziert, aber nicht abgeschafft ist. Ursprünglich wurde sie mit der konjunkturellen Situation begründet. Darüber hinaus werden Aspekte des Allgemeinwohls (z.B. bei ärztlicher Hilfe) angeführt. M i t der Zunahme der Arbeitslosigkeit ist die wirtschaftspolitische Begründung jedoch längst obsolet geworden. Soweit jedoch das besondere Arbeitsleid fur ungewöhnliche Arbeitszeiten prämiert werden soll, ist es in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Sache der Unternehmen oder der Anstellungsbehörden die dafür geforderte zusätzliche Entlohnung zu übernehmen. Im übrigen ist es
90
Vgl. Tipke (FN 15), Neuordnung des Einkommensteuerrechts, S. 136 ff.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprche ausgewählter Steuerarten
167
inkonsequent und ungerecht, daß das Gesetz solche Steuerbefreiungen nur für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern vorsieht und in allen anderen Fällen die Frage, wann eine Arbeit geleistet wird, fur unerheblich hält. 91
y) Unsystematische und unbegründete Freibeträge Viele Begünstigungen werden steuertechnisch als Freibetrag oder Freigrenze gewährt. 92 So gibt es den Übungsleiterfreibetrag in Höhe von D M 2400 fur nebenberufliche Einkünfte, soweit sie aus gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Tätigkeit stammen (§ 3 Nr. 26 EStG), den Freibetrag in Höhe von D M 2000/DM 4000 für Einkünfte aus der Land- und Forstwirtschaft (§ 13 Abs. 3 EStG) sowie den Freibetrag fur freie Berufe (5 v.H. der Einkünfte, höchstens jedoch D M 1200, § 18 Abs. 4 EStG). Bis 1989 gab es den Arbeitnehmerfreibetrag in Höhe von D M 480 (§ 19 Abs. 4 EStG) und den ebenfalls nur Arbeitnehmern gewährten Weihnachtsfreibetrag in Höhe von D M 600 ( § 1 9 Abs. 3 EStG) sowie den Sparerfreibetrag in Höhe von D M 300 fur Einkünfte aus Kapitalvermögen (§ 20 Abs. 4 EStG) (ab 1989: D M 600). A l l diese Freibeträge lassen sich weder mit Gerechtigkeitserwägungen noch wirtschaftspolitisch hinreichend begründen. So ist nicht einzusehen, warum nicht auch Übungsleiter ihren Aufwand nachweisen sollen. Darüber hinaus ist § 3 Nr. 26 EStG unklar formuliert, so daß streitig ist, ob auch ein Aufwand, der über D M 2400 hinausgeht, geltend gemacht werden kann. 93 Der Freibetrag für Landwirte begünstigt nicht nur den eventuell förderungsbedürften kleinen Familienbetrieb, sondern auch sehr gut verdienende Großbetriebe. Steuersystematisch kann man diese Vergünstigung als Subventionsfreibetrag bezeichnen. Betriebe freilich, die mit Verlusten arbeiten, erhalten keine Subvention. Darüber hinaus ist noch die den Landwirten mögliche Vergünstigung nach § 34 e EStG zu erwähnen, wonach die tarifliche Einkommensteuer um bis zu D M 2000 abgesenkt wird. Damit sind individuelle Steuerentlastungen um bis zu D M 4000 möglich. Auch der Freibetrag fur Freiberufler läßt sich mit einer reduzierten steuerlichen Leistungsfähigkeit nicht zwingend rechtfertigen. Soweit geltend gemacht
91
Vgl. dazu ebenda, S. 149 f.
92
Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 151 - 157; Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 224 f.
93
Vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 31 f.
168
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
wird, daß er ein Ausgleich fur eine längere qualifizierte Berufsausbildung sein soll, läßt sich einwenden, daß dies auch auf eine Reihe anderer Berufsgruppen zutrifft. Als Unterstützung zur notwendigen privaten Altersvorsorge ist er steuersystematisch verfehlt; vorausgesetzt, das Argument ist stichhaltig, wären dann die Sonderausgaben-Höchstbeträge entsprechend auszugestalten. Ab 1990 fällt der Freibetrag fur freie Berufe fort, ohne daß dies in den Sonderausgaben berücksichtigt wäre. Der Arbeitnehmerfreibetrag wurde bislang als Ausgleich dafür angesehen, daß Arbeitnehmer kaum Gestaltungsprivilegien in Anspruch nehmen können und darüber hinaus im Gegensatz zu den veranlagten Steuerpflichtigen der Quellensteuer (Lohnsteuer) unterliegen, woraus sich Zinsvorteile fur die letzteren ergeben können. 94 Demgegenüber ist einzuwenden, daß auch Unternehmen gegenüber den Arbeitnehmern erhebliche Nachteile haben: Sie müssen zeitaufwendig Bücher führen, Steuererklärungen abgeben, Hilfsdienste für Fiskus und Sozialversicherungsträger erbringen, Außenprüfungen hinnehmen und die Hilfe eines Steuerberaters in Anspruch nehmen. Darüber hinaus sind sie oft durch interperiodisch schwankende Einkommen benachteiligt und haben im Durchschnitt höhere Arbeitszeiten. Gestaltungsprivilegien sind jedoch als Ausgleichsbegründung insofern verfehlt, als sie aus Gerechtigkeitsgründen ohnehin beseitigt werden müßten. Der bislang gewährte Weihnachtsfreibetrag kann als aufgestockter Arbeitnehmerfreibetrag gekennzeichnet werden. Er läßt sich also ebensowenig begründen wie der Arbeitnehmerfreibetrag selbst. Wird er jedoch als eine Art staatliches Weihnachtsgeschenk aufgefaßt, so ist erstens nicht zu erklären, warum er ohne Rücksicht auf die individuelle Bedürftigkeit allen Arbeitnehmern zugute kommt, und warum er zweitens Unternehmern, Vermietern oder Rentnern mit niedrigen Einkommen nicht auch gewährt wird. Der Arbeitnehmerfreibetrag und der Weihnachtsfreibetrag sind zusammen mit der bislang gültigen Werbungskostenpauschale in Höhe von D M 564 im Arbeitnehmer-Pauschbetrag in Höhe von D M 2000 aufgegangen (§ 9 a Nr. 1 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990). Diese Änderung ist nicht unumstritten. Zunächst ist der Einwand des letzten Absatzes begründet zu wiederholen: Es ist nicht einzusehen, warum Selbständige mit niedrigen Einkommen nicht auch diesen Pauschbetrag in Anspruch nehmen können. Sollen aber nur Arbeitnehmer
94
Vgl. Schneider (FN 12), Unternehmensbesteuerung,S. 124.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
169
begünstigt werden, so werden im Verhältnis zur bisherigen Regelung all jene benachteiligt, deren Werbungskosten D M 920 überschreiten, während jene, die niedrigere geltend machen, begünstigt werden. Der maximal erreichbare Vorteil beträgt D M 356, wenn die Werbungskosten D M 564 nicht überschreiten. 95 Grundsätzlich wirkt also die Arbeitnehmer-Pauschale nivellierend auf die Nettoverteilung der Einkommen. Allerdings ist die Frage der (richtigen) Berücksichtigung von Werbungskosten ein typisches Problem der horizontalen Gleichbehandlung.96 Es bleibt abzuwarten, ob die Neuregelung Bestand haben wird. DGB und SPD wollen sich nämlich nicht auf das Umverteilungsargument - und auch nicht auf Vereinfachungsgründe - einlassen; sie halten die Abschaffung der Freibeträge für verfassungswidrig, wobei sich der DGB auf ein Rechtsgutachten stützt. 97 Die Klage eines Arbeitnehmers in Karlsruhe hätte durchaus Aussicht auf Erfolg, weil der Bundesfinanzhof entschieden hat, daß Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag die Nachteile des Lohnsteuerabzugsverfahren ausgleichen und insofern nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen. 98 Arbeitnehmer können über die oben genannten Freibeträge hinaus noch eine Reihe sonstiger Vergünstigungen in Anspruch nehmen, die zum Teil als Freibetrag, zum Teil als Freigrenze ausgestaltet sind. Sie reichen vom Essensfreibetrag in Höhe von D M 1,50 je Tag (Abschn. 19 LStR; fällt ab 1990 fort) über steuerfreie Heirats- und Geburtsbeihilfen (§ 3 Nr. 15 EStG), Jubiläumszuwendungen (§ 3 Nr. 52, § 4 LStDV), Entlassungsabfindungen (§ 3 Nr. 9 EStG) bis hin zu den Vergünstigungen aus der Überlassung verbilligten Wohnraums durch den Arbeitgeber (Abschn. 50 Abs. 2 Nr. 3 LStR). 99 In diesem Zusammenhang sind ferner die geldwerten Vorteile zu erwähnen, die durch Personalrabatte erlangt werden können. Nach § 8 Abs. 2 EStG wären diese Vorteile eigentlich nach den üblichen Mittelpreisen des Verbrauchsortes in Geldgrößen umzurechnen und entsprechend zu versteuern gewesen, was - mit Duldung des Finanzministeriums - lange Zeit nicht geschah. Bekanntgeworden
95 Vgl. Gerold Kr ause-Junk, Vom Arbeitnehmerfreibetrag zur Arbeitnehmerpauschale, in: Wirtschaftsdienst, 68. Jg. (1988), S. 87. 96
Vgl. ebenda, S. 87 f.
97
Vgl. DGB, Bundespressedienst, Nachrichten-Dienst, Nr. 246, 20. Juni 1988 (Abschaffung der Freibeträge verfassungswidrig); Pressebericht "Die SPD-Fraktion kündigt Verfassungsbeschwerden an. Verfassungsgericht soll Abschaffung der Arbeitnehmerfreibeträge prüfen", in: Handelsblatt, Nr. 221, 17. Nov. 1987, S. 1. 98
Vgl. BFH-Urteil IV R 225/84, 7. Aug. 1986. BStBl. Π 1986, S. 862.
99
Vgl. im einzelnen dazu Tipke (FN 15), Neuordnung des Einkommensteuerrechts, S. 154.
170
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
sind die Vorteile beim Bezug von Personenkraftwagen durch Werksangehörige, die trotz eines Vorstoßes durch den Bundesrechnungshof lange unversteuert blieben. 100 Nach Tipke/Lang bestand die bisherige Freiheit nur im fehlenden Gesetzesvollzug, ein Zwang zur Neuregelung habe eigentlich nicht bestanden. I m Gegenteil: § 8 Abs. 3 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990 schreibt mit dem Personalrabatt-Freibetrag von D M 2400 ein neues Steuerprivileg fest und konterkariert damit die Reformziele der Steuergleichheit und des Abbaus ungerechtfertigter Steuervergünstigungen. 101 Hinzu kommt, daß die Abgabepreise um 4 v.H. reduziert werden, so daß sich der letztlich zu versteuernde Vorteil weiter ermaßigt. Hinsichtlich des Sparerfreibetrags gibt es rein theoretisch gesehen nur eine Begründung, nämlich die des Ausgleichs fur etwaige Inflationsverluste. Der Gesetzgeber hat es jedoch nicht fur opportun gehalten, diese Begründung offen auszuweisen.102 Diese Sicht ist allerdings zu verkürzt, weil allokations- und wachstumspolitisch ein Anreiz zur Erhöhung der volkswirtschaftlichen Sparquote begründet werden kann. Demgegenüber wurde das Fehlen einer Quellensteuer für Zinseinkünften aus Gerechtigkeitsgründen beklagt. Aus der Sicht der Gerechtigkeitspostulate allein läßt sich gegen diese Klage nichts einwenden. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist jedoch zu bedenken, daß Kapital heutzutage der einzig wirklich elastische Produktionsfaktor ist. Daher kann es sich kein Land erlauben, Kapital und Kapitaleinkünfte ohne Berücksichtigimg der steuerlichen Verhältnisse in anderen Ländern zu besteuern. 103 Die kurze Episode der Quellensteuer (Januar bis Juni 1989) hat dies mit dem enormen Abfluß von Kapital ins Ausland (1988: D M 86 Milliarden [das sind 44 v.H. der privaten Vermögensbildung], während es 1987 nur D M 23 Milliarden waren 104 ) eindrucksvoll belegt.
100 Vgl. Hans Mundorf, Gesetzlose Steuerbefreiungen im Lohnsteuerrecht. Versteuerung der »Personalrabatte«, in: Handelsblatt, Nr. 110, 12. Juni 1986, S. 2. 101
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 325.
102
Vgl. ebenda, S. 225.
103 Vgl. Hans-Werner Sinn, Alternativen zur Einkommensteuer, in: ohne Verf. (FN 25), Steuersystem und wirtschaftliche Entwicklung, S. 11 f.; vgl. auch Eike von Hippel, Quellensteuer auf Zinseinkünfte? In: ZRP, 21. Jg. (1988), S. 82 f.; Hannes Rehm, Quellensteuer - eine notwendige Ergänzung der Einkommensbesteuerung?In: Wirtschaftsdienst, 66. Jg. (1986), S. 225 ff.; ders., Zur Quellenbesteuerung von Kapitalerträgen, in: StuW, 61. (14.) Jg. (1984), S. 230 ff. 104 Vgl. Gesetzentwurf zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 (FN 70), S. 8; Pressebericht "Waigel: EG-Quellensteuer fördert Kapitalflucht", in Handelsblatt, Nr. 92, 16. Mai 1989, S. 4.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
171
Weitere Freibeträge werden bei Betriebsveräußerungen sowie bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften bei wesentlicher Beteiligung zugestanden (§§ 14 S. 2, 14 a, 16 Abs. 4, 18 Abs. 3 S. 2, 17 Abs. 3 EStG). Ökonomische und gesellschaftspolitische Gründe dafür, warum diese Freibeträge unterschiedlich hoch sind, sind nicht ersichtlich. 105 Unterschiedlich hoch sind auch der Versorgungsfreibetrag nach § 19 Abs. 2 EStG (40 v.H. der Bezüge, höchstens jedoch D M 4800) und der Altersentlastungbetrag nach § 24 a EStG (40 v.H. des Arbeitslohns, höchstens jedoch D M 3000; ab 1990: D M 3720), wofür es ebenfalls keinen plausiblen Grund gibt. Sie können freilich als teilweiser Ausgleich dafür angesehen werden, daß die Rentner über den Ertragsanteil nach § 22 Nr. 1 EStG noch stärker begünstigt sind. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gebietet, die steuerliche Belastung der Alterseinkünfte dem Gleichheitsgrundsatz anzupassen. Das hat zur Folge, daß diese Vergünstigungen fortfallen müssen. Es ist bislang freilich überhaupt nicht abzusehen, wann der Gesetzgeber dem schon auf das Jahr 1980 zurückgehenden Auftrag des Verfassungsgerichtes folgen w i l l . 1 0 6 Die §§ 7 e und 10 a EStG gewähren Steuervergünstigungen für Vertriebene und Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Ursprünglich sollte damit ihre Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft beschleunigt werden. Tipke hält diese Vorschriften zu Recht für überholt, weil die Vertreibung oder Verfolgung heute wirklich nicht mehr ursächlich für eine etwaige »Nichteingliederung« sein dürfte. 107 Schließlich ist ein Freibetrag zu erwähnen, der sogar ohne gesetzliche Grundlage und damit rechtswidrig gewährt wird und der auch von der Steuerreform 1990 nicht angetastet wurde. Er ist als Werbungskosten-Pauschbetrag für unselbständige und als Betriebsausgaben-Pauschbetrag für selbständige Parlamentsjournalisten ausgestaltet (35 v.H. der Einnahmen höchstens jedoch D M 10.200 bzw. D M 10.800 bei Bundestagsjournalisten in Bonn, Landtagsjournalisten erhalten niedrigere Sätze).108
103
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 225.
106
Vgl. ebenda, S. 371; Tipke (FN 15), Neuordnung des Einkommensteuerrechts, S. 156 f.; vgl. auch Dieter Birk, Altersvorsorge und Alterseinkünfte im Einkommensteuerrecht, Köln 1987; Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Gutachten zur einkommensteuerlichen Behandlung von Alterseinkünften, Bonn, Juni 1986; BVerfGE, Bd. 54, S. 11 ff. 107
Vgl. 7ipke (FN 15), Neuordnung des Einkommensteuerrechts, S. 157.
108
Vgl. ebenda, S. 152 [mit Angabe des entsprechenden Erlasses].
172
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
Aus Vereinfachungsgründen sehen die §§22 Nr. 3 und 23 Abs. 4 EStG bestimmte Freigrenzen vor: Sonstige Einkünfte aus Leistungen sowie Gewinne aus Spekulationsgeschäften bleiben steuerfrei, wenn sie D M 500 bzw. D M 1000 im Jahr nicht übersteigen. Indessen ist die beabsichtigte Verwaltungsvereinfachung zu bezweifeln; die Freigrenzen spielen eine unwesentliche Rolle und sind seit etlichen Jahren unverändert geblieben, so daß sie ohne weiteres gestrichen werden könnten. 109 Außerdem sei erwähnt, daß manche Freibeträge bei der Zusammenveranlagung ohne ersichtlichen Grund verdoppelt werden, andere hingegen nicht. Zusammengefaßt ist festzustellen, daß es für viele Steuervergünstigungen entweder nie stichhaltige gesellschafts- und wirtschaftspolitische Begründungen gab oder daß sie inzwischen gegenstandslos geworden sind. Zudem ist kein einheitliches Gestaltungsprinzip bei der Gewährung und näheren Ausgestaltung der Vergünstigungen erkennbar. Soweit sie in einer Reduktion der Steuerbemessungsgrundlage bestehen, bewirkt der progressive Tarif, daß die Entlastung im umgekehrten Verhältnis zum Subventionsbedürfhis steht und insofern grundsätzlich sachungerecht ist. 110 Merkwürdigerweise taucht dieses Argument in der (partei-)politischen Diskussion nicht auf; mit Ausnahme in der Auseinandersetzung um die Kinderfreibeträge, wo es freilich - wie oben gezeigt - am Kern der Sache vorbeigeht. Offensichtlich ist auch, daß eine aussagekräftige Analyse der gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Wirksamkeit der Freibetrags- und Freigrenzenregelungen kaum möglich ist.
δ) Zur Entstehung und Bekämpfung der Abschreibungsgesellschaften Das »Wirken« der sog. Abschreibungsgesellschaften konnte nur mühsam eingedämmt werden, obwohl viele Anleger geschädigt wurden. Die Konstruktion, über hohe Anfangsverluste Steuerersparnisse zu erlangen, reizt zu Mißbrauch und zur Verschwendung von Ressourcen, was zugleich distributionspolitische Aspekte negativ berührt. 111 Gesetzgeber und Verwaltung versuchten über eine "Vielzahl hektischer, kasuistischer und konzeptionsloser Einzel-
109 Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 225; Klaus Tipke, Steuerrecht - Chaos, Konglomerat oder System? In: StuW, 48. (1.) Jg. (1971), S. 13. 1,0
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 197 f.
111
Vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 216; ders. (FN 80), Rationale Besteuerung,
S. 13 f.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
173
maßnahmen, die durch emotional, ideologisch und parteipolitisch befrachtete Stimmungsmerkmale und Polemik zusätzlich belastet wurden", entgegenzuwirken. 1 1 2 Der eigentliche Grund fur das Entstehen und Ausbreiten der Verlustzuweisungsgesellschaften ist jedoch im mißglückten Begriff des Mitunternehmers in § 15 Abs.l Nr. 2 EStG zu sehen.113 Die Mitunternehmerschaft wird nämlich an die Personengesellschaftsform geknüpft, ohne nach der Beteiligungsform an der Gesellschaft zu differenzieren. Daher wird der Kommanditist als Mitunternehmer behandelt, obwohl seine Beteiligung in der Regel kaum unternehmerische Qualität aufweist. Seine gesetzliche Qualifizierung als Mitunternehmer erlaubte jedoch die Bildung sog. Verlustzuweisungsgesellschaften, "deren Initiatoren die zivilrechtliche Zulässigkeit des negativen Kapitalkontos als Vehikel der steuermindernden Verlustproduktion jenseits des tatsächlichen Vermögensrisikos mißbrauchten 1 1 4 Natürlich sind die Kapitalgeber für gewöhnlich weder über das (unternehmerische) Risiko solcher Beteiligungen noch darüber aufgeklärt worden, daß - von Liquiditäts- und Zinsvorteilen sowie zwischenzeitlichen Steuertarifreformen abgesehen langfristig gesehen keine endgültigen Steuereinsparungen zu erzielen sind. Den durch die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen möglichen hohen Buchverlusten der Anfangsphase stehen entsprechend höhere Gewinne späterer Perioden gegenüber. Wird hingegen der steuerbegünstigte Zweck nicht erreicht, so ist neben dem ganzen oder teilweisen Verlust der Beteiligung noch mit Steuernachzahlungen zu rechnen. Nachzahlungen sind im übrigen beim Nichteinhalten bestimmter Sperrfristen zu erwarten. Schließlich ist zu bedenken, daß die hohen Anfangsverluste auch durch bewußte »Kostenproduktion« (Provisionen, Beratungskosten, Treuhandgebühren u.ä.) entstehen, denen kaum ein reeller Gegenwert zugeordnet werden kann. 115 Der so zum großen Teil vom Gesetzgeber selbst geschaffene Handlungsbedarf fand seinen Niederschlag im neugeschaffenen § 15 a EStG, der Verlustzuwei-
112
Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 541.
113
Vgl. Lang (FN 42), Reformentwurf [EStG], S. 59; zur grundsätzlichen Technik der den Kapitaleinsatz überschreitenden Verlustzuweisung vgl. Franke (FN 34), Indirekte Progression, S. 71 f.; zur Entwicklung der Verlustzuweisungsgesellschaften mit zum Teil recht skurrilen Geschäftsgegenständen vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 107 -
110. 114 113
Lang (FN 42), Reformentwurf [EStG], S. 59.
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 540 - 542; Hans Gunnar Fleischmann, Helmut W. Röschinger, Hans-Dieter Meyerhoff, Steuern die Vermögen werden? 7. Aufl., München 1983, S. 326 ff.
174
Zweiter Teil : Grundzûge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
sungen, die den Eigenkapitalanteil übersteigen, verhindern sollte. 116 Lang kritisiert diese Maßnahme als die "mißglückte Reaktion auf einen mißglückten Mitunternehmerbegriff" 117 . Steuerrechtssystematisch müßte das Problem vielmehr durch die klare Begriffsfassung der Mitunternehmereigenschaft gelöst werden, was sich konkret in seinem Reformvorschlag zum Einkommensteuergesetz niederschlägt, aber in der Steuerreform 1990 nicht aufgegriffen wurde. 118 Darüber hinaus ist zu bemängeln, daß § 15 a EStG den angestrebten Zweck nicht sicher erreicht. Zum einen nämlich ist sein wortreicher Text 1 1 9 kaum praktikabel, zum anderen verhindert er wegen seiner steuerrechtssystematisch ungenügenden Absicherung nicht alle unerwünschten Steuerminderungen. 120 Fast zwangsläufig ergaben sich daher weitere Gesetzgebungseingriffe. Zunächst wurde die Möglichkeit eingeschränkt, Auslandsverluste, die als volkswirtschaftlich unerwünscht angesehen werden, geltend zu machen. Seit 1983 können nach § 2 a EStG Auslandsverluste nur noch mit positiven Einkünften derselben Einkunftsart aus demselben Staat verrechnet werden (Quellenund Staatenidentität).121 Als weitere Maßnahmen folgten der neu eingefugte § 15 Abs. 2 EStG und eine veränderte Fassung des § 37 Abs. 3 EStG. M i t § 15 Abs. 2 EStG soll klargestellt werden, daß die reine Absicht, eine Minderung der Einkommensteuer zu erreichen, keine Gewinnerzielungsabsicht
116 Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980. BGBl. I 1980, S. 1545; vgl. auch die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 15 a EStG in BT-Drucksache 8/3684, S. 14 und S. 16. 117
Lang (FN 42), Reformentwurf [EStG], S. 18.
1,8
Vgl. ebenda, S. 59 sowie S. 91 und S. 96 f. (§§ 13 Abs. 3 S. 1, 24 Abs. 3 Nr. 1, 25 Abs. 4 EStG-E). 119
§ 15 a EStG umfaßt fünf Absätze auf fast drei D I N A 5-Seiten, zu denen zwei weitere Seiten in der außerordentlich schwer verständlichen Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 19 EStG hinzukommen. Die diesbezügliche Kritik von Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 26, behält auch nach dem EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990 ihre volle Gültigkeit. Im übrigen hätte - wie § 15 Abs. 2 S. 2 EStG zeigt - ein Satz zur Bekämpfung der Verlustzuweisungsgesellschaftengenügt (vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 208). 120 Vgl. Lang (FN 42), Reformentwurf [EStG], S. 18; Brigitte Knobbe-Keuk, Die gesetzliche Regelung des negativen Kapitalkontos des Kommanditisten - eine Mißgeburt, in: NJW, 33. Jg. (1980), S. 2557; dies., Der neue § 15 a EStG - ein Beispiel fur den Gesetzgebungsstil unserer Zeit, in: StuW, 58. (11.) Jg. (1981), S. 97; Thomas Kaligin, Auffanggestaltungen zur Umgehung der gesetzgeberischen Zielsetzung des § 15 a EStG, in: DStZ, 72. Jg. (1984), S. 521. 121 Eingeführt durch Art. 1 Nr. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982. BGBl. I 1982, S. 1857. In diesem Zusammenhang ist auf die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit des § 2 a - wie auch des § 15 Abs. 4 - EStG hinzuweisen; vgl. Τι pke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 208.
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175
ist, und § 37 Abs. 3 S. 5 schließt bestimmte Verluste bei der Berechnung der Einkommensteuervorauszahlungen aus. 122 Fatalerweise erlauben diese Vorschriften jedoch "keine gezielte Bekämpfimg der Verlustzuweisungsgesellschaften und Bauherrenmodelle, sondern betreffen auch Steuerpflichtige mit »normalen« Verlusten". 123 Dementsprechend hat der Steuerberaterverband wiederholt den Bundesfinanzminister gemahnt, den mißglückten § 15 a EStG abzuschaffen, weil der Bundesfinanzhof in seinem Beschluß vom Mai 1987 eine Verfassungswidrigkeit des § 15 a EStG weder aus Gesichtspunktendes Übermaß Verbotes noch des Gleichheitsgrundsatzes oder des Rechtsstaatsprinzips erkannt hat. Auch bezweifelt der Verband, daß der Gesetzgeber den abgegrenzten Begriff der Verlustzuweisungsgesellschaften vor Augen hatte. Etwaige Ungereimtheiten sieht er nicht als schwerwiegend an; eine sinnvolle Auslegung sei durch Richterspruch möglich. 124 Abschließend ist zu resümieren, daß die dargestellten Zusammenhänge es als höchst zweifelhaft erscheinen lassen, daß das Instrument der Verlustzuweisung positive allokations-, Wachstums- und strukturpolitische Effekte hat, sofern Gesetzgeber und Regierung überhaupt jemals klare diesbezügliche Ziele hatten. Per Saldo überwiegen für die Gesamtwirtschaft eher die nachteiligen Folgen.
ee) Verfehlung prozeßpolitischer Prinzipien α) Keine aktive Flexibilität Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß nicht nur fiskalisch-budgetäre und ethisch-sozialpolitische, sondern auch wirtschaftspolitische sowie steuersystematische Besteuerungsgrundsätze vielfach verletzt sind. Die ungenügende Berücksichtigung der wirtschaftspolitischen Aspekte der Besteuerung soll
122 Beide Vorschriften wurden durch Ait. 5 Nr. 6 und 9 StEntlG 1984 vom 22. Dezember 1983 eingeführt. BGBl. I 1983, S. 1583; vgl. auch Bericht der Bundesregierung über die Wirkung bisheriger Maßnahmen und eventueller weiterer Maßnahmen gegen Verlustzuweisungsgesellschaften, Bauherrenmodelle und vergleichbare Rechtsgestaltungen. BT-Drucksache 10/1927, 31. Aug. 1984, insbes. S. 6 ff. 123 Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 110; vgl. auch Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 208. 124 Vgl. BFH-Beschluß Vffl Β 104/85, 19. Mai 1987. BStBl. Π 1988, S. 5; Pressebericht "Deutscher Steuerberaterverband fordert sofortige Abschaffung des § 15 a EStG", in: Handelsblatt, Nr. 172, 9. Sept. 1987, S. 5; ohne Werf., § 15 a EStG. Der Deutsche Steuerberaterve Aand fordert die Abschaffung dieses lästigen und sinnlosen Paragraphen, in: Handelsblatt, Nr. 209,30./31. Okt. 1987, S. 9.
176
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i m folgenden inprozeßpolitischer Sicht noch etwas hervorgehoben werden, weil die Mißachtung ordnungspolitischer
Prinzipien bereits dargestellt worden ist.
Wie oben ausgeführt, sind die Möglichkeiten der built-in flexibility skeptisch zu beurteilen. 125 Ein Grund dafür ist die mangelnde Fähigkeit der Verwaltung, die Einkommensteuerveranlagungen zeitnah durchzufuhren, ein weiterer, daß sich die automatische Stabilisierungswirkung eines progressiven Einkommensteuertarifs nur entfalten kann, wenn sich der Staat mit seinen Ausgaben antizyklisch verhält. Dies ist - wie der Ausgaben- und Schuldenanstieg von Bund und Ländern sowie die Mißachtung der §§ 5, 7 und 15 StWG (Bildung einer Konjunkturausgleichsrücklage) zeigen - jedoch nicht der Fall. 1 2 6 Hinsichtlich der aktiven Flexibilität ist das Urteil positiver. Im Haushaltsbegleitgesetz 1983 und im Steuerentlastungsgesetz 1984 sind etliche konjunkturanregende Einkommenssteueränderungen enthalten. 127 Dieser Weg ist mit dem Steuersenkungs-Erweiterungsgesetz 1988 durch Verbesserung der Sonderabschreibungen fur kleine und mittlere Betriebe weiter verfolgt worden. 128 Einschränkend ist freilich zu sagen, daß die Betroffenen selbst von der Wirksamkeit einer Mittelstandsförderung über verbesserte Abschreibungsbedingungen nach § 7 g EStG nicht sehr überzeugt sind. Der DIHT hält eine allgemeine Tarifsenkung für wirkungsvoller als solche Sonderregelungen. 129 Besondere Kritik richtet sich auf die kaum praktikable Abgrenzung des Begriffs kleiner und mittlerer Betriebe, ein weiterer auf die Auswahl der in Betracht
125
Vgl. s. 78 f.
126
Vgl. Statistische Beihefte zu den Monatsberichten der Deutschen Bundesbank, Reihe 4: Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, Nr. 2, Febr. 1988, Tab. 39, S. 78. 127
Zu den Einzelheiten Franke (FN 80), Rationale Besteuerung, S. 9 ff.
128
Vgl. § 7 g EStG i.V.m. § 52 Abs. 11 a EStG, beide i.d.F. des StSenkErwG 1988. BGBl. I 1987, S. 1629 (Verdoppelung des Einheitswertes der Betriebe als Schwelle für die Inanspruchnahme der SonderabSchreibungen von D M 120.000 auf D M 240.000; Verdoppelung des Höchstsatzes der Sonderabschreibungen von 10 v.H. auf 20 v.H.; flexiblere Gestaltung des Begünstigungszeitraumes). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß ein Entwurf Bayerns vorsah, § 7 d EStG im Sinne eines besseren Umweltschutzes zu ändern (vgl. Pressebericht "Ausweitung der Sonderabschreibungen für integrierte Umweltschutzanlagen in: Handelsblatt, Nr. 164, 28./29. Aug. 1987, S. 3). Dies ist jedoch im Steuerreformgesetz 1990 nicht umgesetzt worden. 129 Vgl. Pressebericht "DIHT hält Steuerabschlag für wirkungsvoller", in: Handelsblatt, Nr. 232, 3. Dez. 1987, S. 5; vgl. zum Folgenden auch Hans Flick, Allgemeine Tarifsenkung statt steuerlicher Sonderregelungen, in: Handelsblatt, Nr. 90, 13. Mai 1986, S. Β 11; ders., Eine ähnliche Entwicklung wie beim Paragraphen 7 g wäre vorauszusehen, in: Handelsblatt, Nr. 202, 21. Okt. 1986, S. 7; ders., Steuerliche Investitionsförderung ist nicht zu empfehlen, in: Handelsblatt, Nr. 193, 8. Okt. 1985, S. 3; vgl. auch Alfons Kühn, Die Mittelstandsforderung durch Steuerpolitik hat voll versagt, in: Handelsblatt, Nr. 17, 26. Jan. 1987, S. 5.
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kommenden Wirtschaftsgüter. Betriebswirtschaftliche Entscheidungskalküle müssen ferner die Nutzungsdauer des Wirtschaftsgutes und seinen Restwert mit berücksichtigen. So nimmt es nicht wunder, daß von dieser Regelung nur im Umfang von D M 200 Millionen Gebrauch gemacht worden ist (der Gesetzgeber hatte mit D M 1 Milliarde gerechnet). Da dies ohnehin nur Steuerverschiebungen sind, berechnet sich die effektive Förderung aufgrund von Zinseffekten auf das kärgliche Ergebnis von gerade D M 20 Millionen. Wahrscheinlich werden die vom Steuersenkungs-Erweiterungsgesetz 1988 vorgesehenen Verbesserungen der Sonderabschreibungen noch nicht einmal das 1984 vorgesehene Förderungsvolumen umfassen. Des weiteren ist nicht auszuschließen, daß es aufgrund des § 7 g EStG auch zu Fehlinvestitionen gekommen ist. Weitere Möglichkeiten einer aktiven Flexibilität sind durch §§26 Nr. 3 b und 27 StWG gegeben. Danach können, in Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Situation, Sonderabschreibungen und erhöhte Absetzungen sowie die degressive Abschreibung ganz oder teilweise ausgesetzt werden (vgl. § 51 Abs. 2 EStG). Außerdem kann die Einkommensteuer um 10 v.H. herauf- oder herabgesetzt werden ( § 5 1 Abs. 3 EStG). 130 Dieses Instrumentarium ist schon seit rund zehn Jahren nicht mehr aktiviert worden. Ohne an dieser Stelle näher auf die massive und teilweise berechtigte Kritik an den durch das Stabilitätsund Wachstumsgesetz vorgestellten Möglichkeiten der makroökonomischen Steuerung näher einzugehen,131 sind doch zwei Aspekte hervorzuheben. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß sich die Bundesregierung beharrlich weigerte, eine Steuersenkung nach § 26 Nr. 3 b StWG vorzunehmen oder Teile der Steuerreform vorzuziehen. Trotz der sich abzeichnenden Wachstumsschwäche132 und der Gefahr einer Rezession insbesondere nach dem Börsen-
130 Die Regelung bezog sich ursprünglich auch auf die Körperschaftsteuer. Mit der Körperschaftsteuerreform von 1977, die das volle Anrechnungsverfahren brachte, ist die Möglichkeit einer Variation der Körperschaftsteuer aus Substanzerhaltungs-und Investitionsgründen entfallen. 131 Vgl. z.B. die frühe Kritik von Hoppmann et al. Erich Hoppmann (Hrsg.), Konzertierte Aktion. Kritische Beiträge zu einem Experiment, Frankfurt (Main) 1971; vgl. auch Ulrich Teichmann, Grundriß der Konjunkturpolitik, 4. Aufl., München 1988, S. 264 f.; ders., Grundlagen der Wachstumspolitik, München 1987, S. 162 ff. 132 Das Bruttosozialprodukt war 1987 real nur noch um 1,7 v.H. gestiegen (vgl. WiSta, Heft 3, März 1988, S. 157), und das D I W rechnete fur 1988 nur mit einer realen Zunahme des Bruttosozialproduktes um 1 v.H. (vgl. DIW-Wochenbericht, 55. Jg., Nr. 12, 24. März 1988, S. 167). Im Frühjahrsgutachten 1988 schätzten die Wirtschaftsforschungsinstitute insgesamt den realen Zuwachs auf 2 v.H.; vgl. DIW-Wochenbericht, 55. Jg., Nr. 18, 5. Mai 1988, S. 230 und S. 232). Der Bundeswirtschaftsminister rechnete fur 1988 nur noch mit einem Wachstum von 1,5 bis 2 v.H. (vgl. Jahreswirtschaftsbericht 1988, Tz. 8 ff., insbes. Tz. 16, S. 40 ff.).
12 Franke
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Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
debakel vom Oktober 1987 und dem weiter nachgebenden Dollar folgte die Bundesregierung der vielfach aus Wissenschaft und Wirtschaft vorgetragenen Forderung nicht, den zweiten Teil der Steuerentlastung 1986/1988 (rückwirkend) auf den 1. Jan. 1987 vorzuziehen und darüber hinaus, möglichst auch die ab 1990 ohnehin geplante große Steuerreform vorzuverlegen. 133 Der Grund für ihre Weigerung war wohl in der Sorge begründet, unkalkulierbare Einnahmenausfälle hinnehmen zu müssen.134 Demgegenüber nahm sie in Kauf, die Gewerkschaften und Teile ihrer Anhänger zu verprellen, die vehement aktive Beschäftigungsprogramme und eine Aufhebung zumindest der Tarifreform 1990 im mittleren und oberen Einkommensbereich forderten. 135 Diese Überlegung ist aus der Sicht des Finanzministers, der auch in haushaltsrechtlichen Zwängen steht, durchaus zu verstehen. Wenn aber - aus welchen Gründen auch immer - ein vorliegendes Gesetz wie das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz nicht angewendet und offenkundig mißachtet wird, so wäre es konsequent und für das Rechtsempfinden der Bevölkerung zuträglicher, es auch förmlich aufzuheben. 136 Pikanterweise kann die Bundesregierung jedoch nachträglich für sich in Anspruch nehmen, richtig gehandelt zu haben. Wie die
133 Vgl. u.a. ohne Verf., Die Chance vergeben [Wissenschaftler werfen der Regierung steuerpolitische Versäumnisse vor: Die Steuerentlastung in zwei Stufen 1986 und 1988 sei zu gering und falsch terminiert], in: Wirtschaftswoche, 39. Jg., Nr. 44, 25. Okt. 1985, S. 17 ff.; "Steuern drastisch senken". Interview mit Professor Manfred Neumann, in: Wirtschaftswoche, 39. Jg., Nr. 44,25. Okt. 1985, S. 19 ff.; Presseberichte "WirtschaftswissenschaftlicheInstitute/Konjunkturanstieg wird abflachen. Die 1988er Stufe der Steuerentlastung auf das Jahr 1987 vorziehen"; "RWI fordert Abbau der Progression und Senkung des Spitzensteuersatzes"; "Lambsdorff fordert Vorziehen der Steuerreform auf spätestens 1989", in: Handelsblatt, Nr. 202, 21. Okt. 1986, S. 3; Nr. 28, 10. Febr. 1987, S. 3; Nr. 88, 8./9. Mai 1987, S. 1; "DIHT hält Steuerabschlag fur wirkungsvoller" (FN 129); vgl. auch Jahresgutachten 1987/88 des Sachverständigenrates. BTDrucksache 11/1317, 24. Nov. 1987, Tz. 289 ff., S. 150 (Steuerreform 1990 nachbessern Wachstum kräftigen). 134 Vgl. Pressebericht "Bundesregierunggegen Vorziehen der Steuerreform", in: Handelsblatt, Nr. 211, 3. Nov. 1987, S. 1; vgl. auch Klaus Mackscheidt, Konsolidierung durch Erhöhung von Steuern und Abgaben? In: Hans-Herbert von Arnim, Konrad Littmann (Hrsg.), Finanzpolitik im Umbruch, Berlin 1984, S. 145 ff. 135 Vgl. u.a. ohne Verf.: DGB/Gespräch mit Ernst Breit - "Statt Steuerentlastung zunächst gezielte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Eine Senkung des Spitzensteuersatzes ist fur die Gewerkschaften indiskutabel", in: Handelsblatt, Nr. 32, 16. Febr. 1987, S. 3; Presseberichte "Arbeitslosigkeit/DGB fordert Programm von jährlich 20 Mrd. D M . Breit: Staatliche Investitionsoffensive wäre beschäftigungswirksamerals Steuerreform" und "»Das wirtschafte- und finanzpolitische Konzept der Regierung ist gescheitert«", in: Handelsblatt, Nr. 127, 8. Juli 1987, S. 5, und Nr. 232, 3. Dez. 1987, S. 6. 136 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung über die Möglichkeiten des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes bei veränderter wirtschaftlicher Situation durch einen seiner Schöpfer; vgl. "Wir brauchen die Angebots- und Nachfragepolitik. Stabilitätsgesetz nur noch »partiell anwendbar«". Interview mit Prof. Karl Schiller, in: Süddeutsche Zeitung, 9. März 1988.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
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unerwartet hohen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts fur 1988 und 1989 (3,4 v.H. bzw. 3,5 v.H. [geschätzt]) zeigen, 137 waren weder die Schätzungen der Wirtschaftsforschungsinstitute noch die Annahme des Bundeswirtschaftsministers sonderlich treffsicher. Im Grunde zeigt aber auch diese positive Entwicklung nur die Fragwürdigkeit der Instrumente einer aktiven Flexibilität.
β) Mängel im Bilanzsteuerrecht Im folgenden soll am Beispiel ausgewählter Regelungen des Bilanzsteuerrechtes die Beeinträchtigung des wachstumspolitischen Grundsatzes der Besteuerung aufgezeigt werden. Zunächst ist zu bemängeln, daß das Steuerrecht den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der Substanzerhaltung nicht genügend Beachtung schenkt. So sind Abschreibungen stets von den historischen Anschaffungs- oder Herstellungskosten zu berechnen. Möglichkeiten, auch in begründeten Fällen auf höhere Wiederbeschaffungs- oder Wiederherstellungskosten abzustellen, sind weder vom Handels- noch vom Steuerrecht vorgesehen.138 Allerdings ist einzuräumen, daß ein genereller Ubergang zu Wiederbeschaffungskosten als Bemessungsgrundlage der Abschreibungen die Betriebsprüfimg zur entscheidenden Instanz der Unternehmensbesteuerung werden ließe, was nach Littmann beim besten Willen nicht mehr verfassungsgemäß sein kann. 139 Hinsichtlich der Herstellungskosten ist weiter darauf hinzuweisen, daß sich der handelsrechtliche Begriff (vgl. § 255 Abs. 2 HGB) nicht mit dem steuerrechtlichen Begriff deckt. Nach Abschn. 33 Abs. 1 S. 2 EStR ist der Umfang der steuerlichen Herstellungskosten wesentlich weiter gefaßt als nach dem Handelsrecht. Im Steuerrecht wird nämlich bei der Ermittlung der Herstellungskosten zur Bewertung der Lagerbestände oder selbsterstellten Anlagen immer noch von der begrifflichen Vorstellung der Vollkosten ausgegangen, d.h.,
137 Vgl. DIW-Wochenberichte, 56. Jg., Nr. 17/18,27. April 1989, S. 197 (Frühjahrsgutachten 1989), und 56. Jg., Nr. 26/27, 29. Juni 1989, S. 292. 138 Vgl. z.B. Siegfried Hummel, Wolf gang Männel, Kostenrechnung 1 , 4 . Aufl., Wiesbaden 1986, S. 72, und Brigitte Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, 8. Aufl., Köln 1991, S. 169. 139 Vgl. Konrad Littmann, [Unternehmensbesteuerungin der Bundesrepublik Deutschland]. Die finanzwissenschaftliche Sicht, in: Gerhard Fels, Otto Vogel (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung am Standort Bundesrepublik, Köln 1988, S. 25.
180
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
keines der begründet entwickelten Verfahren der Teilkostenrechnung 140 wird bislang akzeptiert. Dies bedeutet, daß die steuerlichen Herstellungskosten nicht nur die Materialeinzel- und die Fertigungseinzelkosten, sondern zwingend auch anteilige Material- und Fertigungsgemeinkosten enthalten müssen.141 Unter steuerrechtssystematischen Gesichtspunkten ist schließlich zu erwähnen, daß die durch Abschn. 33, 34 und 163 EStR gewährten Wahlrechte nicht mit dem Anschaffungs- und Herstellungsbegriff vereinbar sind. 142 Die Substanzerhaltung wird ferner dadurch erschwert, daß das Steuerrecht die erheblichen Risiken, die von der Pflicht zur Sozialplanaufstellung ausgehen, nicht berücksichtigt. 143 Kritisiert werden muß weiterhin, daß es jahrelang nicht möglich war, für verbindlich eingegangene Pensionszusagen steuerlich wirksame Rückstellungen zu bilden. 144 Formal fußte dies auf einem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1961, der für Pensionszusagen keine Passivierungspflicht, sondern nur ein -Wahlrecht annahm. Inhaltlich berief man sich auf sozialpolitische Rücksichten, weil eine Passivierungspflicht angeblich die Unternehmen von Passivierungszusagen abhalten könnte. Diese Begründung ist recht zweifelhaft, denn zum einen kann ein bloßes Passivierungswahlrecht zu leichtfertigen Pensionszusagen fuhren 145 und zum anderen werden im Schadensfalle andere Unternehmen mitbelastet. M i t Recht stellt Knobbe-Keuk daher fest, daß Pensionszusagen immer dann unterbleiben sollten, wenn der bilanzielle Ausweis entsprechender Verbindlichkeiten nicht verkraftet werden kann. 146
140
Vgl. u.a. Carl-Christian Freidank, Kostenrechnung, 4. Aufl., München, Wien 1992, S. 263 ff.; Siegfried Hummel, Wolfgang Männel, Kostenrechnung 2, 3. Aufl., Wiesbaden 1983, S. 87 f.; Marcel Schweitzer, Hans-Ulrich Küpper, Systeme der Kostenrechnung, 4. Aufl., Landsberg am Lech 1986, S. 310 ff. 141
Notwendige Materialgemein- und Fertigungsgemeinkosten werden beispielhaft in Abschn. 33 Abs. 2 EStR aufgezählt. Zwingend ist auch der Wertverzehr des Anlagevermögens, soweit er der Fertigung der Erzeugnisse (einschließlich des Materialbereichs) dient, zu den Herstellungskosten zu rechnen (Abschn. 33 Abs. 4 EStR). Auch die Gewerbesteuer, die auf das der Fertigung (ebenfalls einschließlich des Materialbereichs) dienende Gewerbekapital entfallt, gehört zu den Herstellungskosten (Abschn. 33 Abs. 6 S. 3 EStR). 142
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 301.
143
Vgl. Manfred Lennings, Reform der Besteuerung der Unternehmen drängt, in: Handelsblatt, Nr. 88, 8./9. Mai 1987, S. 5. 144
Vgl. dazu Knobbe-Keuk (FN 138), Unternehmenssteuerrecht, S. 109 ff.
145
Vgl. Adolf Moxter, Bilanzlehre, Bd. II, 3. Aufl., Wiesbaden 1986, S. 32.
146 Wie zum Beispiel der AEG-Fall zeigte, sind im Schadensfalle die anderen Unternehmen über ihre Beiträge zum Pensionssicherungsverein mit betroffen; vgl. Knobbe-Keuk (FN 138), Unternehmenssteuerrecht, S. 109; Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 45 f.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
181
Nachdem sich der Unterausschuß des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages aufgrund der negativen Erfahrungen im AEG-Fall für eine uneingeschränkte Passivierungspflicht von Pensionszusagen ausgesprochen hatte, ist der (unveränderte) Wortlaut von § 6 a Abs. 1 S. 1 EStG in Verbindung mit §§ 249 Abs. 1 S. 1 und 246 HGB als Verpflichtung zur Pensionsrückstellung zu begreifen. Gleichwohl ist es dem Bundesfinanzministerium gelungen, in der Übergangsvorschrift des § 28 Abs. 1 S. 2 EGHGB eine Dauerregelung unterzubringen, die mittelbare Pensionsverpflichtungen von der steuerlichen Rückstellungsverpflichtung ausschließt. Darunter fallen zu erwartende künftige Beiträge bzw. Beitragserhöhungen zum Pensionssicherungsverein. Auch umgreift die neue Regelung nach § 28 Abs. 1 S. 1 EGHGB nur solche Pensionsansprüche, die nach dem 31. Dezember 1986 begründet oder erhöht werden. 147 Eine besondere Rolle spielte die Frage der Zulässigkeit von Rückstellungen für Jubiläumszuwendungen. Der Bundesfinanzhof hatte mit dem Urteil vom 5. Februar 1987 entschieden, daß für Jubiläumszusagen Rückstellungen mit steuerlicher Wirkung zu bilden sind; 148 eine Feststellung, die sich eindeutig aus § 249 Abs. 1 S. 1 HGB ergibt. Die Reaktion des Bundesfinanzministeriums auf dieses Urteil stellte unter Mißachtung rechtlicher Grundsätze fiskalische Erwägungen in den Vordergrund. 149 Zeitweilig wurde sogar ein Nichtanwendungserlaß erwogen. Eine so offenkundige Mißachtung der Entscheidung des Bundesfinanzhofs wurde schließlich vermieden. Dafür sah der Regierungsentwurf des Steuerreformgesetzes 1990 im umgestalteten Abs. 4 des § 5 EStG eine massive Beschneidung der handelsrechtlich gebotenen Jubiläumsrückstellungen vor, indem Rückstellungen nur noch zulässig sein sollten, "soweit die versprochene Zuwendung dem Berechtigten für jeden Fall der vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses zusteht und die Zusage rechtsverbindlich in
147 Vgl. Knobbe-Keuk (FN 138), Unternehmenssteuerrecht, S. 109 f.; Pressebericht "PensionsSicherungs-Verein/Zur Zulässigkeit von Rückstellungen für künftige Beiträge der PSV-Mitgliedsunternehmen. Passivierungsverbot hat keine Rechtsgrundlagen", in: Handelsblatt, Nr. 223, 20./21. Nov. 1987, S. 5. 148 149
Vgl. BFH-Urteil IV R 81/84, 5. Febr. 1987. BStBl. Π 1987, S. 845.
Vgl. zum Folgenden Presseberichte "Ein »Nichtanwendungserlaß«wegen zu hoher Steuerausfölle wird abgelehnt" und "Eine Belohnung für die »Betriebstreue« kann nicht zeitanteilig gewährt werden", in: Handelsblatt, Nr. 106, 4. Juni 1987, S. 5, und Nr. 16, 25. Jan. 1988, S. 4; Werner Flume, Gesetzgeber ohne Scheu vor schmutzigen Tricks, in: Handelsblatt, Nr. 18, 27. Jan. 1988, S. 5; ohne Verf., Rückstellungen fiir JubiliäumszuWendungen. Contempt of court, in: Handelsblatt, Nr. 106, 4. Juni 1987, S. 2; ohne Verf., Ohne Rücksicht auf das Recht, in: Handelsblatt, Nr. 199, 16./17. Okt. 1987, S. 2.
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Zweiter Teil: Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
schriftlicher Form erteilt ist". 1 5 0 Der ursprüngliche Sinn der Jubiläumszusagen als Belohnung fur die Betriebstreue wäre damit aufgehoben. Die inzwischen beschlossene Regelung (§ 5 Abs. 4 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990) geht nicht ganz so weit; allerdings sind die Hürden zur Rückstellungsbildung immer noch hoch: Sie ist erst ab 1993 zulässig (§ 52 Abs. 6 EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990), das Dienstverhältnis muß mindestens zehn Jahre bestanden haben, und es darf frühestens das 15. Jubiläum prämiert werden. Der Bundestag hat also darauf bestanden, Rückstellungen, die im Vertrauen auf das BFH-Urteil bereits gebildet worden sind, ab 1988 gewinnerhöhend aufzulösen. Das einzige Zugeständnis war die Verteilung der gewinnerhöhenden Auflösung von zwei auf drei Jahre. Für diese Entscheidung waren offenbar fiskalische Gründe ausschlaggebend,151 während die Kritik der Systemwidrigkeit, weil die Neuregelung gegen das von § 5 Abs. 1 EStG eigentlich geforderte Maßgeblichkeitsprinzip der Handelsbilanz fur die Steuerbilanz verstößt und damit auch die Grundsätze der Bilanzwahrheit verletzt, unbeachtet blieb. 152 Dazu ist zu sagen, daß ein ausschließlich fiskalisch motiviertes Handeln den Grundsatz der wachstumspolitischen Ausrichtung der Besteuerung unterminiert. Von schlechtem Stile zeugt schließlich, daß die zeitliche Vorstellung des Bundesministers der Finanzen zur Auflösung der bereits gebildeten Jubiläumsrückstellungen trickreich in einer Datumsgrenze versteckt war. 1 5 3 In ähnlicher Weise hatte das Bundesfinanzministerium bereits das Urteil des Bundesfinanzhofs vom November 1981 mißachtet, wonach Rückstellungen fur die mögliche Inanspruchnahme wegen Patentverletzungen gebildet werden
130 § 5 Abs. 4 EStG nach dem "Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990" von Bundesregierung bzw. Koalitionsfraktionen. BT-Drucksache 11/2226, 2. Mai 1988, und BT-Drucksache 11/2157, 19. April 1988 [Hervorhebung vom Verf.]. 151 Vgl. Pressebericht "Die Rückstellungen in den Bilanzen sind in drei Jahren gewinnerhöhend aufzulösen", in Handelsblatt, Nr. 127, 6. Juli 1988, S. 4. 152
Vermutlich ist mit Verfassungsbeschwerdengegen die Neuregelung zu rechnen, die sich aus den genannten Gründen auch auf die Verletzung des Leistungsfähigkeitsprinzips nach Art. 3 Abs. 1 GG stützen wollen; vgl. Pressebericht "Wegen Verfassungswidrigkeit Einspruch gegen Steuerbescheid", in: Handelsblatt, Nr. 2, 3. Jan. 1989, S. 1. 153 In der Begründung des Gesetzentwurfs hieß es nämlich: "Die Beschränkung fur die Verpflichtung zur Leistung einer Jubiliäumszuwendungsoll nicht rückwirkend, sondern erst fur die Wirtschaftsjahre gelten, die nach dem 30. Dezember 1988 enden." Vgl. BT-Drucksache 11/2157 (FN 150), S. 140 [Hervorhebung vom Verf.]. Faktisch bedeutet dies aber eben doch rückwirkend, weil die meisten Wirtschaftsjahre am 31. Dezember enden. Wie ein Erlaß des Bundesfinanzministeriums vom 28. Dez. 1987 zeigt, hatte das Ministerium diese Regelung offenbar schon fest ins Auge gefaßt (Anwendungserlaß zum BFH-Urteil IV R 81/84. IV Β 2 - S 2137 - 50/87. BStBl. I 1987, S. 770).
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
183
dürfen. 154 Daraufhin ersann das Ministerium die Formulierung des § 5 Abs. 3 EStG 1983, die die Möglichkeit entsprechender Rückstellungen erheblich einschränkte. Zum schon erwähnten Maßgeblichkeitsprinzip ist zu bemerken, daß der Gesetzgeber mit dem Bilanzrichtliniengesetz durch § 6 Abs. 3 EStG eine umgekehrte Maßgeblichkeit postuliert hat, d.h., daß erhöhte Absetzungen, Sonderabschreibungen und die volle Abschreibung fur geringwertige Wirtschaftsgüter im Jahr der Anschaffung (bis zu D M 800) nur in Anspruch genommen werden können, wenn die sich daraus ergebenden niedrigeren Werte auch in der Handelsbilanz ausgewiesen werden. Damit verlieren freilich die rein steuerrechtlichen Wahlrechte ihren Sinn. 155 Die exemplarisch herausgearbeiteten bilanzsteuerrechtlichen Aspekte zeigen beträchtliche Verstöße gegen das wachstumspolitische Besteuerungspostulat. In diesem Zusammenhang ist weiterhin auf eine im großen und ganzen recht hohe steuerliche Belastung der Unternehmen hinzuweisen. Auf weitere Einzelheiten dazu soll jedoch bei der Besprechung der Körperschaftsteuer eingegangen werden. Gleichfalls ist auf steuerrechtssystematische Verstöße aufmerksam gemacht worden. Die abschließenden Ausführungen sollen daher nur noch besonders drastische Verfehlungen gegen das Gebot der Steuersystematik im Rahmen der Einkommensteuer behandeln.
ff) Allgemeine steuerrechtliche und steuersystematische Mängel Unter steuerrechtlichen und steuersystematischen Gesichtspunkten sind Aufbau und Terminologie des Einkommensteuergesetzes allgemein als unzureichend zu beurteilen. Die ursprünglich 53 Paragraphen des EStG 1934 sind inzwischen um weitere 77 auf 130 Paragraphen im EStG 1987 i.d.F. des StRefG 1990 angestiegen. Demgegenüber zählte selbst das EStG 1952 nur 62 Paragraphen (davon neun Buchstabenparagraphen). Zwischenzeitlich war es sogar schon einmal auf insgesamt 138 Paragraphen angeschwollen (EStG 1985). 156 Tipke bemerkt dazu, daß hauptsächlich die Buchstabenparagraphen kompliziert,
154
Vgl. BFH-Urteil I R 157/79, 11. Nov. 1981. BStBl. I I 1982, S. 748.
153
Vgl. dazu Günter Söffing, Offene Fragen beim umgekehrten Maßgeblichkeitsgrundsatz (Teil I und Teil II), in: DB, 41. Jg. (1988), S. 241 ff. und S. 297 ff. 136
Vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 23.
184
Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
weitschweifig und unklar sind. 157 Nicht einmal der formale Aufbau entspreche dem § 33 Abs. 1 S. 3 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. 158 Inhaltliche Mängel ergeben sich u.a. durch eine uneinheitliche Verwendung von Begriffen, durch einen unklaren Gebrauch gesetzlicher Vermutungen und durch die Technik der doppelten und dreifachen Verneinung. Sogar die einfache Wortstellung sei manchmal irreführend und sinnwidrig. 159 Diese Mängelliste sei mit einigen Beispielen illustriert: Der Gesetzesaufbau vermengt des öfteren die Bemessungsgrundlage mit dem Tarif. So finden sich die §§ 32, 32 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 und 6, 33 bis 33 c sowie 34 Abs. 3 EStG im Abschnitt »Tarif« (§§ 32 bis 34 b EStG), obwohl sie auf die Reduzierung der »Bemessungsgrundlage« abstellen.160 Dies erschwert natürlich auch die Einsicht in den Zusammenhang zwischen dem Markteinkommen ( = objektive Leistungsfähigkeit) und dem disponiblen Einkommen als Bemessungsgrundlage der subjektiven Leistungsfähigkeit ( = Markteinkommen ./. nicht disponibles Einkommen). 161 Die Einkunftsarten sind in den §§ 13 bis 24 EStG näher umrissen. Dort sind sie jedoch falsch lokalisiert; sie gehören an den Anfang der Einkünfteermittlungsvorschriften, also im Anschluß an § 2 EStG. 162 Das Wort »Einkünfte« wird in § 22 EStG zwölfmal, aber mit drei verschiedenen Inhalten benutzt. 163 Gemäß § 15 a Abs. 1 S. 3 EStG darf eine Vermögensminderung aufgrund der Haftung "nicht ... nach Art und Weise des Geschäftsbetriebs unwahrscheinlich sein". Doch was ist schon im Wirtschaftsleben »wahrscheinlich« und »unwahrscheinlich«, und wie kann der Steuerpflichtige die Grenze des Tatbestandes erkennen? 164 Raupach bemerkt dazu, daß der Gesetzgeber wohl kaum die Rechtssicherheit im Auge hatte, wenn er das Tatbestandsmerkmal »nicht unwahrscheinlich« verwendet. 165 Angesichts dieser Umstände ist
157 Vgl. 7Ipke (FN 32), Steuerrecht, S. 162; vgl. auch Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 182 f.; Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 23. 158
Vgl. ebenda, S. 25.
159
Vgl. ebenda, S. 25 ff. und S. 33.
160
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 166.
161
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 197 f. und S. 211 ff.
162
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 179.
163
Vgl. Kurt Meßmer, "Steuergerechtigkeit" durch Normenflut, offene und verdeckte Subventionen und Entlastung der Finanzgerichtsbarkeit, in: BB, 36. Jg. (1981), Beilage 1/1981, S. 12. 164 Vgl. Claus Dopfer, Das Unwahrscheinliche - hier wird's Ereignis, in: DB, 35. Jg. (1982), S. 1028. 165
Vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 30.
I. Unzulänglichkeiten und Widersprüche ausgewählter Steuerarten
185
verständlich, daß manchen steuerlichen Vorschriften die "Qualität von Montagsautos" testiert wird. 1 6 6 Schwer wiegt schließlich, daß das zerklüftete Einkunftsartenrecht den historischen Fortschritt von der Schedulensteuer zur Gesamteinkommensteuer faktisch rückgängig macht. 167 Die Rechtssicherheit ist jedoch auch durch die Normenflut und die teilweise Sprunghaftigkeit des Gesetzgebers in Frage gestellt. Fünfzig Einkommenssteuerrechtsänderungen im Jahr, im Durchschnitt also eine j e Woche, sind die Regel. Manchmal wird ein und derselbe Paragraph innerhalb weniger Tage mehrfach geändert. Allein der die Sonderausgaben betreffende § 10 EStG ist seit 1950 26mal geändert worden. 168 Hinzu kommen die Änderungen nach dem Steuerreformgesetz 1990. Inzwischen befassen sich bis zu sieben der zehn Senate des Bundesfinanzhofs allein mit Streitfragen aus dem Bilanzsteuerrecht. 169 Die im Teil I I des Bundessteuerblattes abgedruckten Urteile des Bundesfinanzhofs umfaßten 1985 725 Seiten, 1986 924 Seiten und 1987 875 Seiten. Einschlägige Kommentare zum Einkommensteuerrecht umfassen 13.000 Seiten. Typisch für das schnellebige Steuerrecht sind des weiteren Loseblattwerke, von denen die Bibliothek des Bundesfinanzhofs 1990 ca. 2400 führte. 1 7 0 Nicht zuletzt ist zu erwähnen, daß der Zick-Zack-Kurs der Bundesregierung bei der Quellensteuer auf Zinserträge das Rechtsbewußtsein der Bürger beeinträchtigt haben dürfte. 171 Die genannten Zahlen und die aufgezeigten inhaltlichen Mängel belegen, daß die Einkommensteuergesetzgebung in vielfältiger Weise gegen die Grundsätze
166 Vgl. Olaf Borgmann, Es gibt im Steuerrecht Vorschriften, die die Eigenschaften von "Montagsautos" haben, in: Handelsblatt, Nr. 190, 374. Okt. 1986, S. 5. 167
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 191 und S. 328 f.
168
Vgl. Tipke (FN 32), Steuerrecht, S. 161.
169 Vgl. Schneider (FN 12), Unternehmensbesteuerung,S. 142; ders., Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuerrechtsprechung, in: FA, Ν . F., Bd. 42 (1984), S. 408. Vgl. auch Geschäftsverteilungsplan des Bundesfinanzhofs fur das Geschäftsjahr 1989. BStBl. Π 1989, S. 173 ff. Zu einem langjährigen Überblick über die Zahl der Einkommensteuerrechtsänderungen vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 21 ff. und S. 128 - 132. 170 171
Vgl. Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 14.
Vgl. exemplarisch dazu die offenen Briefe der Steuerfachanwälte und Strafverteidiger in Steuersachen, Michael Streck und Thomas Rainer, an den Bundesfinanzminister: "Versteuerung der Kapitalerträge: Fragen eines Strafverteidigers an Theo Waigel" und "Die Berater sollen die Steuermoral pflegen, die das Gesetz hintertreibt", in: Handelsblatt, Nr. 90, 11. Mai 1989, S. 3, und Nr. 99, 26./27. Mai 1989, S. 7. Auf weitere Einzelheiten dazu ist später, auch im Zusammenhang mit dem Amnestiegesetz, noch weiter einzugehen.
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Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
der Widerspruchslosigkeit und Systemhaftigkeit, gegen die der Transparenz und die der Stetigkeit des Steuerrechts verstößt. Der Befund wird noch durch die Praxis der Erlasse weiter unterstrichen, die häufig dazu dienen, mißlungene Rechtsvorschriften aus der Sicht der Finanzverwaltung zu deuten: 172 "Interpretierende Verwaltungsanweisungen erhöhen die Gefahr, daß sie »statt« des Gesetzes angewendet werden, der Anwender schaut gar nicht mehr ins Gesetz, sondern sogleich in die Richtlinien." 173 Hinzu kommt, daß es nicht nur Erlasse des Bundesfinanzministeriums, sondern auch der Länderfinanzministerien und der Mittelbehörden (OFD) gibt, daß viele von den Erlassen nicht veröffentlicht werden und damit fur den Steuerpflichtigen nicht einsehbar sind und daß es fur diese Erlaßflut keine halbwegs geordnete Dokumentation gibt. 1 7 4 Die Folge ist natürlich eine sehr uneinheitliche Rechtsanwendung; Rechtssicherheit und die von Tipke geforderten regelhaften, »eingebürgerten« Gesetze können sich auf diese Weise nicht einstellen.
b) Die Körperschaftsteuer aa) Zu den Grundbegriffen Die Körperschaftsteuer richtet sich auf das Einkommen (Gewinn) juristischer Personen. In erster Linie sind damit die Kapitalgesellschaften (GmbH, AG) angesprochen. Nach § 1 Abs. 1 KStG fallen unter die unbeschränkte Steuerpflicht der Körperschaftsteuer auch Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, Versicherungen auf Gegenseitigkeit, sonstige juristische Personen des privaten Rechts, nichtrechtsfähige Vereine, Anstalten, Stiftungen und andere Zweckvermögen des privaten Rechts sowie Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Dabei können sich gelegentlich recht eigenartige Abgrenzungsprobleme ergeben. 175 Die unbeschränkte Körperschaftsteuerpflicht erstreckt sich auf sämtliche Einkünfte (§ 1 Abs. 2 KStG), wobei die entsprechenden Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuergesetzes anzuwenden sind. Nach den §§7 und 8 KStG kommen daher haupt-
172
Vgl. Christian Flämig, Steuerprotest und Steuerberatung, Köln 1979, S. 27.
173
Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 48.
174 Vgl. ebenda, S. 52; sarkastisch, aber sehr realitätsentsprechend die Beschreibung bei Johannes Jenetzky, Die Misere der Steuerverwaltung, in: StuW, 59. (12.) Jg. (1982), S. 273 ff. 173
Vgl. z.B. Schneider (FN 12), Unternehmensbesteuemng,S. 144.
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sächlich die §§ 5 bis 7 und 10 d EStG in Betracht. 176 Beschränkt steuerpflichtig sind u.a. juristische Personen, die weder Geschäftsleitung noch Sitz i m Inland haben, sofern sie inländische Einkünfte haben (§ 2 Nr. 1 KStG). Hinter den steuerpflichtigen juristischen Personen stehen natürliche Personen, die ausgeschüttete Gewinne der Einkommensteuer zu unterwerfen haben. U m eine dadurch entstehende Doppelbelastung zu vermeiden, hat sich der Gesetzgeber seit dem Körperschaftsteuergesetz 1977 für die sog. Vollanrechnung der Körperschaftsteuer auf den ausgeschütteten Gewinn entschieden, so daß im Ergebnis nur der nicht ausgeschüttete (thesaurierte) Gewinn mit der Körperschaftsteuer belastet wird. Der Steuersatz auf nicht ausgeschüttete Gewinne war bis einschließlich 1989 aus Gründen der Rechtsformneutralität identisch mit der Höhe des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer und betrug im Regelfall 56 v.H. (§ 23 Abs. 1 KStG). Ab 1990 beträgt der Steuersatz jedoch nur noch 50 v.H. und liegt damit 3 v.H. unter dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer. Dieser Regelung widersprachen nicht nur Opposition und Gewerkschaften, sondern auch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, der aus Gründen der Gewinnverwendungs- und der Rechtsformneutralität gegen eine Spreizung des Körperschaftsteuersatzes auf thesaurierte Gewinne und des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer plädierte. 177 Nach der Koalitionsbegründung ist eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes um einige Prozentpunkte unter den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer jedoch notwendig und gerechtfertigt, weil der Durchschnittssteuersatz der Einkommensteuer meistens tiefer liegt als der Körperschaftsteuersatz, der zugleich Grenz- und Durchschnittssteuersatz ist. 178 Die ausgeschütteten Gewinne sind mit 36 v.H. belastet (§§ 27 ff. KStG). Diese Steuerbelastung wird auf die Einkommensteuer angerechnet. Je nach Höhe der endgültigen Steuerschuld des Anteilseigners kann es zu einer Steuer-
176 Genaugenommen haben die Körperschaften in der Terminologie der Wirtschaftswissenschaft kein Einkommen, so daß die Körperschaftsteuer als Ertragsteuer zu bewerten ist; vgl. Τι pke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 416. 177 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF, Stellungnahme zur Tarifstruktur der Körperschaftsteuer, Bonn, Januar 1987, S. 3 ff. Die Beurteilung der Spreizung von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer als verfassungswidrig durch Mössner dürfte indessen überzogen sein; vgl. Pressebericht "Körperschaftsteuer: Kleinerer Satz wäre verfassungswidrig", in: Handelsblatt, Nr. 24, 4. Febr. 1987, S. 1. 178
Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf eines Steuerreformgesetzes 1990 (FN 150). BTDrucksachel 1/2157, S. 173.
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Zweiter Teil : Grundzge der besteuerungspolitischen Wirklichkeit
erstattung oder zu einer Nachzahlung kommen. Da jedoch von der ausgeschütteten Bardividende 25 v.H. Kapitalertragsteuer als Quellensteuer einzubehalten sind (§§ 43 ff. EStG), verkürzen sich D M 100 Gewinn vor Steuern (Bruttodividende) letztlich auf eine Auszahlung an den Anteilseigner von D M 48 (Nettodividende), und es kann zu einer Nachzahlung nur kommen, wenn der Durchschnittssteuersatz des Steuerpflichtigen 52 v.H. übersteigt (vgl. §§ 49, 51 f. KStG i.V.m. §§ 36 ff. EStG). Zu Gewinnausschüttungen können nicht nur die Gewinne des jeweiligen Wirtschaftsjahres, sondern auch frühere (thesaurierte) Gewinne verwendet werden. Schließlich kann es sein, daß das fur Ausschüttungen verwendete Eigenkapital infolge nicht steuerbarer Vorgänge, Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen aus Teilen besteht, deren Tarifbelastung unterschiedlich hoch ist. Dementsprechend schreibt § 30 KStG eine Gliederung des Eigenkapitals entsprechend seiner Tarifbelastung zum Schluß eines jedes Wirtschaftsjahres vor, um bei einer Ausschüttung von der jeweiligen Tarifbelastung auf die herzustellende Ausschüttungsbelastung rückrechnen zu können. Diese Gliederung muß in einer Nebenrechnung außerhalb der Steuerbilanz ständig fortgeschrieben werden.
bb) Die fiskalische Ergiebigkeit Die statistische Erfassung der Körperschaftsteuer beruht auf dem einheitlichen Steuerbescheid, der die zu zahlende Summe in ihrer Gesamthöhe ausweist. Sie wird in der weiteren Aufbereitung nicht weiter nach der Ausschüttungsbelastung (36 v.H.) und der Tarifbelastung (56 v.H.) unterschieden. Dennoch läßt sich keine große Aufkommenselastizität der Körperschaftsteuer feststellen. Dies liegt daran, daß die Unternehmen meistens über längere Zeiträume hinweg eine konstante Ausschüttungspolitik verfolgen. In dem Maße, in dem dies gelingt, kommt es zu einem durchschnittlich proportionalen Mischsteuersatz zwischen der Ausschüttungs- und der Tarifbelastung in bezug zur Bemessungsgrundlage. Ausfiskalisch-budgetärer Sicht läßt sich daher der Grundsatz der deckungspolitischen Anpassungs- und Steigerungsfähigkeit nicht isoliert in bezug auf die Körperschaftsteuer beurteilen, sondern nur im Zusammenhang mit der gesamten Wirtschafte- und Finanzpolitik; ist doch die Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer abhängig vom wirtschaftlichen Wachstum. Eine solche Gesamtwürdigung würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit überschreiten. Dennoch lassen sich aus der langjährigen Entwicklung des Körperschaftsteueraufkommens Indizien dafür entnehmen, daß die Politik auf wirtschaftliche
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Problemsituationen nicht immer richtig reagiert hat. So fiel beispielsweise das Körperschaftsteueraufkommen 179 - jeweils in bezug zum Aufkommen des vorangegangenen Zeitraumes - im Jahre 1970 um 20 v.H., im Jahre 1971 nochmals um 17,8 v.H., in den Jahren 1974 und 1975 um 4,4 v.H. bzw. 3,4 v.H., in den Jahren 1980 und 1981 um 6,9 v.H. und 5,4 v.H. und im Jahre 1987 um (geschätzt) 9,3 v.H. Gemessen am Gesamtsteueraufkommen fiel der prozentuale Anteil des Körperschaftsteueraufkommens auf einen absoluten Tiefststand von 4,16 v.H. im Jahre 1971, nachdem er noch im Zeitraum zwischen 1960 und 1964 zwischen rund 9,5 v.H. und 8 v.H. lag. Selbst als Folge der Rezession von 1965/66 und den daraufhin ergriffenen konjunkturpolitischen Maßnahmen aufgrund des neu eingeführten Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes ging der Anteil des Körperschaftsteueraufkommens in den Jahren 1965 bis 1967 nur von 7,74 v.H. auf 6,16 v.H. zurück, um bis zum Jahre 1969 wieder auf 7,5 v.H. zu steigen. Betrachten wir nur den Zeitraum seit der Körperschaftsteuerreform von 1977, so hatte das Jahr 1981 mit 5,44 v.H. den niedrigsten Anteil am Aufkommen aus der Körperschaftsteuer. Den höchsten Anteil mit 7,28 v.H. und 7,14 v.H. weisen die Jahre 1985 und 1986 auf. 1987 beträgt der Anteil nur noch 5,82 v.H. Das ist ein Rückgang des Körperschaftsteueraufkommens von 1987 im Vergleich zu 1986 um 15,48 v.H. Darin kommt zum einen ein schwächer gewordenes Wirtschaftswachstum zum Ausdruck, zum anderen jedoch macht sich der »Flick-Effekt« bemerkbar, der zu einer Erstattung von D M 2 Milliarden an Körperschaftsteuer führte (ohne diese Erstattung hätte der Anteil der Körperschaftsteuer am Gesamtsteueraufkommen etwa 6,25 v.H. betragen). 180 Das kärgliche Körperschaftsteueraufkommen von 1987 spiegelt zudem wider, daß die Unternehmen das bereits erwähnte BFHUrteil, wonach Jubiläumsrückstellungen erlaubt sind, in hohem Maße umgesetzt
179 Vgl. zu den folgenden Zahlen und Berechnungen BMF (Hrsg.), Finanzbericht 1980, Tab. 12, S. 230 ff., und Finanzbericht 1989 (FN 1), Tab. 12, S. 196 ff. 180 Im Zusammenhang mit dem Verkauf der Unternehmensgruppe Flick ist es durch die steuerrechtlich geschickte Abwicklung zur Erstattung von knapp D M 2 Milliarden an Körperschaftsteuer gekommen, die hauptsächlich Nordrhein-Westfalen betraf; vgl. ohne Verf. (FN 89), Der Milliardentrick; Pressebericht "Die Probleme liegen nicht auf der Seite des Erwerbers, sondern des Veräußerers" (FN 89). Dieses Geschäft hat fur etliche Kommunen zudem noch Steuerausfalle bei der Gewerbesteuer zur Folge, weil die Deutsche Bank rechnerische Verluste in Höhe von D M 3 Milliarden geltend machen kann; vgl. ohne Verf., Flick-Verkauf mit schmerzlichen Spätfolgen, in: Wirtschaftswoche, 41. Jg., Nr. 12, 13. Mäiz 1987, S. 9. Die Buchverluste mit der Folge der Körperschaftsteuererstattung kamen dadurch zustande, weil Gewinne, die durch die Veräußerung von Aktien entstehen, rückgängig gemacht werden können. Eine vom Bundesrat schon 1974 vorgeschlagene Einfügung eines § 17 a KStG hätte solche ausschüttungsbedingten Wertminderungen verhindert; vgl. Bundesratsdrucksache700/8/73 vom 15. Febr. 1974.
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haben. 181 Diese Rückstellungen machen sich im geschätzten Anteil iur 1988 und vermutlich auch fur 1989 bemerkbar (6,03 v.H. bzw. 5,87 v . H . ) . 1 8 2 Der zum Teil kräftig schwankende Anteil des Körperschaftsteueraufkommens an den gesamten Steuereinnahmen zeigt, daß die Körperschaftsteuer auch aufgrund der Wirtschaftspolitik ihren Beitrag zum Grundsatz der Ausreichendheit der Steuererträge nicht voll zu erfüllen vermag; belegen doch gerade die Vorgänge um den Flick-Verkauf und die Jubiliäumsrückstellungendie erwähnte These, daß die Finanz- und Wirtschaftspolitik wesentlich zu den Schwankungen des Körperschaftsteueraufkommens beiträgt.
cc) Vermeidung der Mehrfachbelastung Unter distributiven Gesichtspunkten soll eine mehrfache Belastung derselben Einkünfte vermieden werden. Schwer wiegen jedoch auch die mit einer Mehrfachbelastung verbundenen wirtschaftspolitischen Nachteile. Neben der Erschwerung der Bildung von Risikokapital sind vermögenspolitische Nachteile zu nennen. Da die Doppelbelastung seit der Körperschaftsteuerreform von 1977 im wesentlichen aufgehoben ist, soll sich die weitere Beurteilung der Körperschaftsteuer nur auf den Zeitraum ab 1977 beziehen. Der Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit verbietet nicht nur die Mehrfachbelastung derselben Einkünfte; konsequent zu Ende gedacht ist jede eigenständige, zusätzliche Leistungsfähigkeit von Körperschaften zu verneinen. 183 Gleichwohl ist es zweckmäßig, die Einkünfte an der Quelle, d.h. bereits die Erträge der entsprechend organisierten Unternehmen, zu besteuern. Als triftige Gründe kommen hauptsächlich die Verhinderung der Steuerhinterziehung und die Wahrung der Wettbewerbsgleichheit in Betracht. Das zweite Argument rechtfertigt eine Besteuerung solcher Gesellschaften, hinter denen
181
BFH-Urteil I V R 81/84 vom 5. Febr. 1987 (FN 148).
182
Die Schätzung für 1989 dürfte allerdings aufgrund der guten Konjunktur und aufgrund der beschlossenen Auflosung der Jubliäumsrückstellungen zu vorsichtig ausgefallen sein. 183 Frühe Begründungen einer solchen zusätzlichen Leistungsfähigkeit stellten vor allem auf die Wettbewerbsvorteile und auf die verbesserten Kreditzugangsmöglichkeitenab. Auch spielte in den Anfangsjahren der Körperschaftsteuer eine etwaige Doppelbelastung wegen der sehr geringen Steuersätze keine große Rolle; vgl. Knobbe-Keuk (FN 138), Unternehmenssteuerrecht, S. 513. Zugunsten der selbständigen Körperschaftsbesteuerung wurde ferner die wirtschaftliche Eigenständigkeit und Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Einzelunternehmen und Personengesellschaften angeführt; vgl. Institut "FSt", Zur Steuerreform. Die Körperschaftsteuer, Heft 100, Bd. 6, Bonn, März 1976, S. 11.
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keine einkommenssuchenden natürlichen Personen, sondern Gemeinschaftseinrichtungen stehen.184 Aus dem Postulat der Vermeidung der Doppelbesteuerung einerseits und dem Quellenabzugsverfahren der Körperschaftsteuer auf ausgeschüttete Gewinne andererseits folgt zwangsläufig die Integration von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer. Dies ist zwar von der Reform von 1977 im wesentlichen aufgegriffen, aber nicht konsequent genug verfolgt worden. Doppelbelastungen bestehen nämlich weiterhin hinsichtlich der Vermögensteuer, und sie können hinsichtlich der Gewerbesteuer auftreten, "wenn der Anteilseigner die Beteiligung im Betriebsvermögen hält: Ausschüttung und Steueranrechnung erhöhen seinen Gewerbeertrag, die Beteiligung erhöht sein GewerbekapitaP. 185 Diese Doppelbelastung konterkariert neben ethisch-sozialpolitischen vor allem allokations- und wachstumspolitische Zielsetzungen, weshalb die Monopolkommission auf eine Abschaffung drängt. 186 Außerdem ist die investitionshemmende Besteuerung von Auslandserträgen zu nennen: 187 Nach der Verwendungsfiktion des Anrechnungsverfahrens sind steuerfreie Auslandserträge mit der Ausschüttungsbelastung von 36 v.H. zu belasten, sofern sie als ausgeschüttet gelten (vgl. § 28 KStG). Damit wird dem Sinn der Körperschaftsteuerbefreiungen im Rahmen der Doppelbesteuerungsabkommen mit Entwicklungsländern entgegengewirkt, die von der ihrerseits ausgesprochenen Steuerbefreiung vermehrte ausländische Investitionen in ihrem Lande erwarten. Der Anteilseigner kann nämlich im Anrechnungsverfahren nur die deutsche Einkommensteuer, nicht aber auch etwa gezahlte ausländische Einkommensteuer aufrechnen. Weitere Belastungen entstehen im übrigen dadurch, daß nach § 10 Nr. 4 KStG die Hälfte der Aufsichtsratsvergütungen nicht als abziehbare Aufwendungen berücksichtigt werden dürfen. 188 Knobbe-Keuk bezeichnet dieses Abzugsverbot, das auch im Steuerreformgesetz 1990 nicht beseitigt wurde, als "Kurio-
184
Vgl. Schneider (FN 12), Unternehmensbesteuerung, S. 161.
185
Tipke, Lang (FN 5), Steuerrecht, S. 405 f.; vgl. §§ 9 Nr. 2 a und 12 Abs. 3 Nr. 2 a GewStG. 186 Vgl. Viertes Hauptgutachten der Monopolkommission 1980/81. BT-Drucksache 9/1892. 2. Aug. 1982, Tz. 760 und 770, S. 209 und S. 210 f. 187 Vgl. zum Folgenden Heinz-Gerd Stein, Auswirkungen der Körperschaftsteuerre form auf die Investitionspolitik deutscher Unternehmen im Ausland, in: Lutz Fischer (Hrsg.), Unternehmung und Steuern, Wiesbaden 1983, S. 336 ff. 188 Dabei ist in Abschn. 45 Abs. 3 KStR noch ausdrücklich ausgeführt, daß der Begriff der Überwachung der Geschäftsführung weit auszulegen ist.
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sum im System der steuerlichen Gewinnermittlungsvorschriften", und sie weist darauf hin, daß zumindest die Aktiengesellschaften wegen der gesetzlichen Pflicht zur Einsetzung eines Aufsichtsrates diesen eindeutig betrieblich veranlaßten Aufwendungen nicht einmal ausweichen können. 189
dd) Mängel des Anrechnungsverfahrens Steuertechnisch gesehen ist das Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren ungewöhnlich kompliziert ausgestaltet. Der hohe Komplizierungsgrad resultiert insbesondere aus der nach § 29 KStG geforderten Eigenkapitalgliederung, vor allem dann, wenn es infolge anrechenbarer ausländischer Körperschaftsteuern und der Verlustverrechnung sowie der Behandlung nicht abzugsfahiger Ausgaben zu einer Vielzahl unterschiedlicher Tarifbelastungen kommt. Die geforderte Eigenkapitalgliederung wird schon bald von Großunternehmen mit umfangreichen Auslandsbeziehungen kaum noch praktizierbar sein. 190 Der Gesetzgeber selbst hat aus der möglichen Vielzahl schon den Schluß gezogen, daß die thesaurierten Eigenkapitalanteile einer von drei Kategorien zuzurechnen sind, nämlich entweder einer Tarifbelastung von 56 v.H. (bzw. 50 v.H. ab 1990) oder einer von 36 v.H. oder einer von 0 v.H. (vgl. § 32 KStG). 191 In Fortfuhrung dieses Gedankens hat Krebs die völlige Aufgabe der Eigenkapitalgliederung vorgeschlagen. 192 Ein Referentenentwurf des Bundesfinanzministeriums sieht den Fortfall des Teilbetrages »EK 36 « vor, was bei bestimmtem Ausschüttungsverhalten zu Steuerentlastungen fuhren kann. 193 Unabhängig von solchen Vereinfachungsüberlegungen zur Eigenkapitalgliederung ist festzustellen, daß immer dann, wenn aufgrund einer Ausschüttung steuerbefreite oder steuerbegünstigte Gewinne auf die jeweilige Grenzsteuerbelastung des Anteilseigners heraufgeschleust werden, die ursprüngliche gesell-
189 Vgl. Knobbe-Keuk (FN 138), Unternehmenssteuerrecht,S. 543; vgl. auch Mitschke (FN 76), Steuer- und Transferordnung, S. 40. 190
Vgl. Raupach (FN 82), Niedergang des Einkommensteuerrechts, S. 123.
191
Dementsprechend wird das Eigenkapital in die drei Kategorien EK^, EK^ und EK