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German Pages 414 Year 2010
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Band 57
Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) Eine europäische Privatrechtskodifikation Band III
Das ABGB außerhalb Österreichs Herausgegeben von
Elisabeth Berger
Duncker & Humblot · Berlin
Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Band III
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Martin Schermaier, Bonn Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Hamburg
Band 57
Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) Eine europäische Privatrechtskodifikation Band III
Das ABGB außerhalb Österreichs Herausgegeben von
Elisabeth Berger
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 978-3-428-13303-1 (Print) ISBN 978-3-428-53303-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83303-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Vor bald 200 Jahren, am 1. Juni 1811, wurde das „Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie“ kundgemacht und trat am 1. Januar 1812 in Kraft. Zum 200-Jahr-Jubiläum der österreichischen Privatrechtskodifikation widmet sich der vorliegende Band als dritter Teil der Trilogie „Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). Eine europäische Privatrechtskodifikation“ der Wirkungsgeschichte des ABGB außerhalb der heutigen österreichischen Staatsgrenzen. Als „allgemeines“ Gesetzbuch sollte das ABGB in den habsburgischen Ländern – mit Ausnahme der ungarischen Länder – ein formell einheitliches Recht schaffen. Eine derartige Rechtsvereinheitlichung war in einem multinationalen Staat, wie es die Habsburgermonarchie seit jeher war, nur durch die Unabhängigkeit von unterschiedlichen Landesrechten und nationalen Besonderheiten zu erzielen, die folglich kaum Eingang in das Gesetzbuch fanden. Um der Sprachenvielfalt im Geltungsbereich der Kodifikation gerecht zu werden, war eine Vielzahl von Übersetzungen erforderlich, beispielsweise ins Polnische, Tschechische und Italienische. Infolge der Rechtsvereinheitlichung im gesamten Kaisertum Österreich ab 1849 und der Ausdehnung des Geltungsbereichs des ABGB 1852/53 auf Ungarn und dessen Nebenländer folgten u. a. Übersetzungen ins Ungarische, Serbische und Kroatische. Im Vergleich mit den anderen Naturrechtskodifikationen – dem „konservativen“ und „ständisch“ ausgestalteten ALR aus 1794 sowie dem „revolutionären“ und „liberalen“ Code Civil aus 1804 – nahm das ABGB eine Art Zwischenstellung ein, die es einer Reihe von Gründen verdankt: Rechtstechnisch betrachtet bestach es in seiner ursprünglichen Fassung sowohl durch seine kurze und prägnante, jedwede Kasuistik vermeidende Ausdrucksweise, als auch durch seine schlichte, allgemeinverständliche, ja geradezu volkstümliche Sprache. Ganz wesentlich zum leichteren Verständnis trug die vernunftrechtliche und daher logische Konstruktion des Gesetzbuchs bei. Obwohl es der ständischen Gesellschafts- und Staatsordnung seiner Zeit verbunden war, ermöglichten es die Neutralität und Elastizität seiner Regelungen, den wechselnden Anforderungen seiner bald zwei Jahrhunderte umfassenden Geschichte nahezu mühelos gerecht zu werden. Nahezu mühelos ist es dem ABGB auch gelungen, außerhalb der heutigen österreichischen Staatsgrenzen Verbreitung und Einfluss zu gewinnen. Vom Februar 1812 bis zum heutigen Tag steht es – wenn auch mittlerweile mit wesentlichen Abänderungen – im westlichen Nachbarstaat Liechtenstein in Geltung. In Teilen der ehemaligen Habsburgermonarchie – in Ungarn und in der Woiwodina, Kroatien-Slawonien, Polen sowie in der Tschechoslowakei und Italien – stand es zeitweise in Kraft und diente als
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Vorwort
Grundlage für eigene Gesetzgebungsarbeiten. Dies galt auch für das heutige Rumänien, das in diesem Band mangels zeitgerechten Einlangens des Manuskripts leider keine Aufnahme finden konnte. Maßgeblichen Einfluss entfaltete das ABGB auf die Kodifikationsarbeiten der Schweiz sowie Deutschlands und Serbiens, was seine Bedeutung für die europäische Gesetzgebungsgeschichte unterstreicht. Die 14 Autoren dieses Bandes vermitteln in ihren Beiträgen einen facettenreichen und nachhaltigen Eindruck des „Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs“ als einer multinationalen Kodifikation, der es gelungen ist, den unterschiedlichsten kulturellen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dem internationalen Aspekt der österreichischen Privatrechtskodifikation werden auch die Autoren gerecht, deren Beiträge zu diesem Sammelband – soweit es erforderlich war – nur behutsam „eingedeutscht“ wurden, um ihre Authentizität und Originalität beizubehalten. Wien, im Mai 2010
Elisabeth Berger
Inhaltsverzeichnis Elisabeth Berger Das ABGB in Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rezeption des österreichischen ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der „Rezeptionsbruch“ und seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen . . . IV. Die weitere Entwicklung des liechtensteinischen ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Neschwara Das ABGB in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Die Einführung des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 III. Die Geltung des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 IV. Die Wirkungen des ABGB im Rechtsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 V. Das Ende der Geltung des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 VI. Das Fortleben des ABGB auf „ungarischem“ Boden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Jzsef Szalma Das ABGB in der Woiwodina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bürgerliche Reformbewegungen in Ungarn und ihr Einfluss auf die ungarische Sondergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Gebiet Südungarns (der Woiwodina) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das ABGB, die ungarischen Sondergesetze sowie die Kodifikationsentwürfe IV. Ausgaben des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Geltung des ABGB nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikola Gavella, Igor Gliha, Tatjana Josipovic´, Zlatan Stipkovic´ Das ABGB in Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geltung und Veränderungen des ABGB in Kroatien-Slawonien und Jugoslawien (Nikola Gavella) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Einfluss des ABGB auf Kodifikationen in Kroatien (Igor Gliha, Tatjana Josipovic´) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Wissenschaft des ABGB im Gebiet von Kroatien-Slawonien (Zlatan Stipkovic´) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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163 163 180 197
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Inhaltsverzeichnis
Andrzej Dziadzio Das ABGB in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Geltung des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Veränderungen des ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Einfluss des ABGB auf die Gesetzgebungsarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Schubert, Jarmila Pokorna, Josef Fiala, Hans-Christian Krasa Das ABGB in der Tschechoslowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das ABGB und Entwürfe zur Neukodifikation (Werner Schubert) . . . . . . . . II. Die Wissenschaft vom ABGB (Jarmila Pokorna, Josef Fiala) . . . . . . . . . . . III. Die Wahrnehmung des tschechoslowakischen ABGB und seiner Wissenschaft in Österreich (Hans-Christian Krasa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Rosa Di Simone Das ABGB in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung und Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Einfluss auf die italienische Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Übersetzungen und Ausgaben des ABGB in italienischer Sprache . . . . Barbara Dölemeyer Der Einfluss des ABGB auf die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gesetzbücher der „Berner Gruppe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einflüsse des ABGB auf Kodifikationen der „Zürcher Gruppe“ und des Kantons Tessin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kodifikationsversuch St. Gallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 205 216 218 226
227 227 260 273
291 291 299 307 315
319 320 331 335 336
Barbara Dölemeyer, Werner Schubert Der Einfluss des ABGB auf Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 I. Das ABGB in der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches (Barbara Dölemeyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 II. Das ABGB in den Gesetzgebungsarbeiten des Deutschen Reiches (1873 – 1944) (Werner Schubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Jzsef Szalma Der Einfluss des ABGB auf Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gründe für die Auswahl des ABGB als Vorbild und der Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kritische Bewertungen des SBGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Systematischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Statt einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399 399 401 404 411
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Abkürzungsverzeichnis ABGB ADB ADHGB ADR ALR AnwZ ASM AST AVA BGB BHStA Bilten VSV CGB CP-H DJ DJT DJZ DR DStrZ EDRG FNRJ FS GA GBG/ZZK GBl. GerZ GSW HHStA HStA IR JBl JBL JGS JM
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10 JZ-CSR KdmP KPP LGBl LJZ LZ MRP ND NF NN NZ OG OGH OGHW OGZ ÖG-Z OPTK (Österreichisches Allgemeines Gesetzbuch) ÖZV PGR PGS PPiA Prager JZ Prager JZ-WissVJS PrArch Prot Bd RabelsZ RGBl RJM RT RZ Rz SBGB SchlT SFRJ SGZ SHStA Sp SR SR-Komm StA
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Das ABGB in Liechtenstein Elisabeth Berger I. Die Vorgeschichte 1812 wurde das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch von 1811 – mit Ausnahme des Erbrechts – „in dem souveränen Fürstentum Liechtenstein“ in Kraft gesetzt. Diese Rezeption österreichischer Rechtsvorschriften schien dem 1719 entstandenen Reichsfürstentum Liechtenstein1 mit seiner Souveränität, die es 1806 durch die Aufnahme in den Rheinbund und den damit verbundenen Austritt aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches erlangt hatte, vereinbar zu sein, war jedoch nicht von vornherein geplant gewesen.2 Die Stellung als souveräner Staat bzw. die Beendigung der Wirksamkeit der Reichsverfassung machten eine umfassende Verfassungs- und Verwaltungsreform notwendig, die Fürst Johann I.3, kurz nachdem er 1805 die Regierung des Fürstentums übernommen hatte, in Angriff nahm. Als eine der ersten Maßnahmen wurde „unter 1 Mit Palatinatsdiplom Kaiser Karls VI. vom 23. 1. 1719 wurden die Grafschaft Vaduz und die Herrschaft Schellenberg vereinigt und zum unmittelbaren Reichsfürstentum (Hohen-) Liechtenstein erhoben. Aus der umfangreichen Literatur zur Geschichte Liechtensteins und seines Fürstenhauses vgl. exemplarisch: P. Kaiser, Geschichte des Fürstenthums Liechtenstein, 2 Bde., 1847, neu herausgegeben von A. Brunhart, 1989; P. Raton, Liechtenstein. Staat und Geschichte, 1969; V. Press/D. Willoweit (Hrsg.), Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundlagen und moderne Perspektiven, 1987; Liechtensteinische Akademische Gesellschaft (Hrsg.), Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung der politischen Volksrechte, des Parlaments und der Gerichtsbarkeit in Liechtenstein (= Liechtenstein Politische Schriften 8), 1981; A. Schädler, Die geschichtliche Entwicklung Liechtensteins, in: JBL 1919, 5 ff.; O. Seger, 250 Jahre Fürstentum Liechtenstein, in: JBL 1968, 5 ff.; G. Malin, Die politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein in den Jahren 1800 – 1815, in: JBL 1953, 5 ff.; R. Quaderer, Politische Geschichte des Fürstentums Liechtenstein von 1815 bis 1848, in: JBL 1969, 5 ff.; P. Geiger, Geschichte des Fürstentums Liechtenstein 1848 bis 1866, in: JBL 1970, 5 ff.; K. v. In der Maur, Feldmarschall Johann Fürst von Liechtenstein und seine Regierungszeit im Fürstentum, in: JBL 1905, 11 ff.; P. Vogt, Verwaltungsstruktur und Verwaltungsreformen im Fürstentum Liechtenstein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: JBL 92, 1994, 35 ff. 2 Dazu im Detail: G. Schmidt, Fürst Johann I. (1760 – 1836): „Souveränität und Modernisierung“ Liechtensteins, in: Press/Willoweit, wie Fn. 1, 383 ff., hier insb. 387 ff.; J. Hoop, Die Souveränitätsbegründung, in: Das Fürstentum Liechtenstein im Wandel der Zeit und im Zeichen seiner Souveränität, 1956, 22 ff. 3 Geb. 1760, gest. 1836, Regierungszeit von 1805 – 1836. Vgl. zu ihm Schmidt, wie Fn. 2, 407 ff.; V. Press, Das Haus Liechtenstein in der europäischen Geschichte, in: Press/Willoweit, wie Fn. 1, 15 ff., hier insb. 62 ff.; In der Maur, wie Fn. 1, 149 ff.
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Elisabeth Berger
beabsichtigter Aufhebung des bestandenen Landesgebrauchs und derley hergebrachten Gewohnheiten“ die Schaffung einer ganzen Reihe von neuen Gesetzen angeordnet, darunter ein bürgerliches Gesetzbuch sowie eine Verlassenschaftsabhandlungsordnung und eine Erbfolgeordnung.4 Mit der Ausarbeitung dieser Rechtsvorschriften wurde der im Oktober 1808 zum Landvogt von Liechtenstein ernannte, bis dahin als Rentmeister und Gerichtsverwalter in fürstlichen Diensten stehende Beamte Joseph Schuppler aus Mähren betraut.5 Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurde dem neuen Landvogt eine bemerkenswert kurze Frist gesetzt: Die Gesetze sollten laut der Dienstinstruktion, die ihm anlässlich seiner Vereidigung in Wien überreicht worden war, bereits zum 1. Januar 1809 vorliegen!6 Schuppler machte sich unverzüglich an die Arbeit und konnte bereits im Dezember 1808 der fürstlichen Hofkanzlei in Wien seinen „Erbrechts- und Verlassenschaftsabhandlungsentwurf“7 vorlegen. Dieser erhielt den „vollkommenen Beifall“ des Fürsten und wurde zum 1. Januar 1809 unter dem Titel „Erbfolgs- und Verlassenschaftsabhandlungsordnung für das souveräne Fürstenthum Liechtenstein“ in Kraft gesetzt. Zum selben Datum traten rückwirkend die im Januar 1809 vorgelegten Entwürfe für eine Konkursordnung sowie eine Grundbuchsordnung in Kraft. Ein solcher Erfolg war Schupplers „Entwurf zu einem bürgerlichen Gesetzbuche“8, den er im April 1809 der fürstlichen Hofkanzlei auftragsgemäß übermittelte, nicht beschieden. Bei der Ausarbeitung seines insgesamt 831 Paragraphen umfassenden Zivilgesetzbuches hatte er sich an dem österreichischen „Entwurf eines allgemein bürgerlichen Gesetzbuches“ aus 17979 orientiert, der als sogenannter „Urentwurf“ seit 1801 den Beratungen der mit der Ausarbeitung des ABGB befassten österreichischen Gesetzgebungskommission zugrunde lag.10 Der Landvogt hielt sich zwar zum überwiegenden Teil sehr eng an die österreichischen Vorlagen11, ließ aber auch seine eigenen Ideen und Überlegungen in die von ihm ausgearbeiteten Gesetze einfließen und befolgte damit die Anweisungen seiner Dienstinstruktion, wonach er sich zunächst „in die Känntniss der dortigen Landes4
Diese Anordnung findet sich in Punkt 1 der „Dienstinstruktionen für Landvogt Josef Schuppler vom 7. Oktober 1808“, abgedruckt in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung, wie Fn. 1, Anhang, 247 ff. 5 Zu Joseph Schupplers Biographie vgl. bislang am ausführlichsten A. Ospelt (Hrsg.), Die Landesbeschreibung des Landvogts Josef Schuppler aus dem Jahre 1815, in: JBL 1975, 189 ff., hier insb. 204 ff.; weiters Vogt, wie Fn. 1, 140 f., und Malin, wie Fn. 1, 47 ff. 6 Vgl. zum Folgenden ausführlich: E. Berger (Hrsg.), Eine Zivilrechtsordnung für Liechtenstein. Die Entwürfe des Landvogts Joseph Schuppler, 1999, 20 ff. 7 Siehe die Edition des Entwurfs ebda, 43 ff. 8 Siehe die Edition des Entwurfs ebda, 71 ff. 9 Dabei handelte es sich zugleich um den Text der ersten vollständigen Zivilrechtskodifikation, die als Bürgerliches Gesetzbuch für Galizien zu Beginn des Jahres 1798 in Kraft trat. 10 Siehe dazu im Detail W. Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie von 1811, in: GutenbergJahrbuch 1987, 205 ff. 11 Neben dem oben erwähnten sog. „Urentwurf“ dienten Schuppler das Josephinische Erbfolgepatent 1786 und das Josephinische Konkurspatent als Vorbild.
Das ABGB in Liechtenstein
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rechten, Gebräuche, und Gewohnheiten“ zu setzen und in der Folge dem Fürsten „die den Umständen angemessenen Gesetzes Vorschläge“ zu unterbreiten hatte.12 Das heißt aber auch, dass von einer Absicht, österreichisches Recht zu rezipieren, zunächst keine Rede sein konnte, sondern vielmehr an die Schaffung einer eigenständigen Rechtsordnung für das Fürstentum Liechtenstein gedacht war, was sich in den drei zu Jahresbeginn 1809 in Kraft getretenen Gesetzen manifestierte. Schupplers Entwürfe können – und wollen – das österreichische Vorbild nicht verleugnen, bezeichnete er sich doch selbst als „Nachschreiber und Sammler“ österreichischer Rechtsvorschriften. Die enge Anlehnung an das österreichische Vorbild hat vor allem praktische Gründe: Sie ergibt sich zum einen zwingend daraus, dass dem Landvogt in der kurzen Zeit, die ihm zur Ausarbeitung seiner Entwürfe zur Verfügung stand, eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Materie gar nicht möglich gewesen wäre, besonders wenn man berücksichtigt, dass in Österreich vom Beginn der Kodifikationsarbeiten für ein österreichisches Zivilgesetzbuch bis zum Inkrafttreten des ABGB 59 Jahre (!) verstrichen.13 Zieht man zum anderen seine unzureichende Vorbildung für eine derartige Aufgabe in Betracht, so ist Schupplers Leistung in jeder Hinsicht bemerkenswert. Dass man sich überhaupt dazu entschlossen hat, österreichische Rechtsvorschriften als Vorbild heranzuziehen und nicht, wie es aufgrund der Mitgliedschaft beim Rheinbund nahegelegen hätte, den Code Napoleon, hat seinen Grund vor allem in dem persönlichen Naheverhältnis der Fürsten von Liechtenstein zu Österreich sowie in der Vertrautheit der fürstlichen Beamten mit dem österreichischen Recht und der österreichischen Rechtspraxis, wie sie sich im Fall von Joseph Schuppler aus seiner bisherigen Tätigkeit als Justiziär auf verschiedenen liechtensteinischen Herrschaften14 ergab. Als der Landvogt 1809 seinen Entwurf für ein liechtensteinisches bürgerliches Gesetzbuch vorlegte, waren die Arbeiten der österreichischen Gesetzgebungskommission schon weit fortgeschritten – bereits zu Beginn des Jahres 1808 hatte der Kommissionsausschuss die „Revision“ des Bürgerlichen Gesetzbuches abgeschlossen und den Entwurf dem Kaiser vorgelegt, dessen Änderungswünsche in der ab November 1809 vorgenommenen „Superrevision“ behandelt wurden.15 Fürst Johann nahm daher davon Abstand, den Entwurf Schupplers in Kraft zu setzen und entschied sich stattdessen dafür, das bereits absehbare Inkrafttreten des „Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesamten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie“ von 1811 abzuwarten. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Grund für seinen Entschluss, das ABGB zu rezipieren, anstelle den mit Schupplers Arbeiten eingeschlagenen Weg zur Schaffung einer eigenen Privatrechtsordnung fortzusetzen, 12
Wie Fn. 4. Brauneder, wie Fn. 10, 217. 14 Dabei handelte es sich um die Herrschaften Eisenberg, Trübau, Hohenstadt, Aussee und Goldenstein. Vgl. dazu Ospelt, wie Fn. 5, 205. 15 Brauneder, wie Fn. 10, 216, aufgrund von J. Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, 2 Bde., 1889, ND 1976. 13
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in der Unzufriedenheit des Fürsten mit Schupplers Entwurf gelegen hätte. Dieser war vielmehr daran interessiert, in seinem gesamten Herrschaftsbereich, der sich mit Ausnahme des Fürstentums auf österreichischem Staatsgebiet befand, ein einheitliches Recht zu haben, waren doch sämtliche Maßnahmen im Rahmen der Verwaltungsreform primär darauf gerichtet, eine möglichst weitgehende Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit im Gesamtbesitz des Hauses Liechtenstein herzustellen.16
II. Die Rezeption des österreichischen ABGB Die Geschichte der Rezeption österreichischen Rechts beginnt in Liechtenstein mit der Fürstlichen Verordnung vom 18. Februar 181217, die mit Geltung vom Tag ihrer Kundmachung an das „österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“ in Liechtenstein in Kraft setzte.18 Zugleich trat damit auch die österreichische allgemeine Gerichtsordnung von 1781 sowie das österreichische Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von 1803 im Fürstentum Liechtenstein in Kraft. Zum Inhalt des ABGB enthielt die Verordnung allerdings eine Einschränkung. Während alle anderen bürgerlichen und peinlichen Gesetze vom Wirksamkeitsbeginn der Einführungsverordnung an aufgehoben waren, wurde „fernere gesetzliche Kraft“ ausdrücklich der „Erbfolgs- und Verlassenschaftsabhandlungsordnung“ vom 1. Januar 1809 eingeräumt, womit – zwar nicht expressis verbis, aber der Sache nach – das Erbrecht des ABGB zunächst von der Geltung in Liechtenstein ausgenommen war. Erst mit Fürstlicher Verordnung vom 6. April 1846, dem sogenannten Erbrechtspatent, wurde diese spezielle Regelung, „in Erwägung, dass die über das Erbrecht bestehenden Bestimmungen“ des in allen übrigen Teilen rezipierten österreichischen ABGB „der allgemeinen Rechtssicherheit zusagender und vollkommener angemessen sind“, aufgehoben und mit Wirksamkeit vom 1. Januar 1847 die Hauptstücke VIII bis einschließlich XV des zweiten Teils des ABGB, somit die §§ 531 – 824, mit Modifikationen rezipiert.19 Damit wurde nachgeholt, was 1812 nicht in dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen war, nämlich welche Teile des österreichischen ABGB wegen der Fortgeltung der Erbfolgeordnung ursprünglich nicht rezipiert worden waren. Ab dem Inkrafttreten des Erbrechtspatents zu Jahresbeginn 1847 galt 16 W. Brauneder, 175 Jahre „Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch“ in Liechtenstein, in: LJZ 1988, 94 ff., hier insb. 96 f. 17 Abgedruckt in: Amtliches Sammelwerk der Liechtensteinischen Rechtsvorschriften bis 1863, 1971. 18 Ausführlich zur Rezeption des ABGB: K. v. In der Maur, Die Rezeption des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Liechtenstein, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches 1. Juni 1811, Teil I, 1911, 753 ff., hier insb. 759 ff.; Brauneder, wie Fn. 16, 94 ff.; E. Berger, 190 Jahre ABGB in Liechtenstein, in: LJZ 2002, 27 ff. 19 Fürstliche Verordnung betreffend die Einführung der §§ 531 – 824 ABGB, Erbrechtspatent Nr. 3.877 vom 6. April 1846, abgedruckt in: Amtliches Sammelwerk, wie Fn. 17. Vgl. dazu In der Maur, wie Fn. 18, 761. Die Modifikationen bezogen sich auf die §§ 539, 544, 591, 600, 601, 700, 760, 761, 763, 784 ABGB.
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damit in Liechtenstein zwar das gesamte ABGB, allerdings, soweit es das Erbrecht betraf, mit leichten Änderungen gegenüber der österreichischen Fassung. Da sich mit der – sieht man vom Erbrecht ab – unmodifizierten Übernahme des österreichischen ABGB das Inkrafttreten von Bestimmungen, die für liechtensteinische Verhältnisse unpassend oder gegenstandslos waren, nicht vermeiden ließ, behielt sich der Fürst in der Einführungsverordnung vor, „jene Modifikationen mit der Zeit zu gestatten, welche Lokalverhältnisse in einem oder dem anderen Falle nötig machen könnten“. Die liechtensteinische Kanzlei in Wien wies daher das Oberamt an, „mit dem bekannten Diensteifer … nach Vorkommen die nötigen Vorschläge seiner Zeit“ zu unterbreiten.20 Daraus wird ersichtlich, dass durchaus das Bewusstsein vorhanden war, dass die Verhältnisse in Liechtenstein von jenen in Österreich abwichen. Es sollte daher möglich sein, lokale Besonderheiten zu berücksichtigen, über die niemand besser Bescheid wissen konnte als das Oberamt in Vaduz.21 Bereits die Dienstinstruktion von 1808 hatte diesem Umstand Beachtung geschenkt, und zwar in Form der Anordnung, dass der Landvogt bei der Erarbeitung seiner Gesetzentwürfe die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe. Eine Anpassung an die liechtensteinischen Verhältnisse erfuhr jedenfalls der Name des Gesetzbuches. Die Einführungsverordnung verkürzte sowohl in ihrem Titel – „betreffend die Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches …“ – als auch im Text – „das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“ – den nur für Österreich passenden kompletten ABGB-Titel um dessen territorialen Zusatz „für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie“. In dem „souveränen Fürstentum Liechtenstein“ hieß das Gesetzbuch schlicht „Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch“. Beibehalten wurde demnach, obwohl nur bedingt passend, das Wörtchen „allgemein“. Zutreffend war die Bezeichnung „allgemein“ insoweit, als damit an die Stelle des örtlichen Gewohnheitsrechts, des sogenannten „Landsbrauchs“, ein landesweit einheitliches Recht trat. Interpretiert man „allgemein“ jedoch im Sinne einer durch ein Gesetzbuch vermittelten Rechtsvereinheitlichung in einem aus mehreren Ländern zusammengesetzten Staat, wie es z. B. das ALR in Preußen oder eben das ABGB in Österreich bewirkten, so traf dies auf liechtensteinische Verhältnisse nicht zu. Im Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass man sich mit derlei Spitzfindigkeiten nicht abgab, sondern eben nur jenen Teil des Namens, der ganz offenkundig nicht zutraf, wegließ.22
20 Zitiert aus einem Schreiben der Liechtensteinischen Kanzley in Wien vom 18. Februar 1812, Liechtensteinisches Landesarchiv. 21 Zur Einrichtung des Oberamts vgl. im Detail Malin, wie Fn. 1, 21, und besonders ausführlich Vogt, wie Fn. 1, 58 ff. 22 Brauneder, wie Fn. 16, 94. Zu der Bedeutung des Wortes „allgemein“ vgl. ausführlich ders., wie Fn. 10, 241 ff.
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Mangels Existenz einer liechtensteinischen ABGB-Ausgabe23 erfolgte die Rezeption des ABGB in Liechtenstein mittels eines österreichischen ABGB-Textes, und zwar zuerst durch die amtliche Buchausgabe vom Juni 1811.24 Folglich waren darin auch die Abschnitte zum Erbrecht enthalten, die in Liechtenstein aufgrund der fortgesetzten Geltung der „Erbfolgs- und Verlassenschaftsabhandlungsordnung“ aus 1809 nicht rezipiert worden waren, auf deren genaue Bezeichnung die Einführungsverordnung aber, wie schon erwähnt, verzichtet hatte. Mit Schreiben vom 18. Februar 1812 wurde dem Oberamt in Vaduz angekündigt, dass die „erforderlichen Exemplarien obbesagter Gesetzbücher … mittelst Postwagen“ folgen würden, und zwar vorläufig 16 Exemplare des ABGB, wovon drei der Amtskanzlei vorbehalten waren. Falls erforderlich, würde man „den mehreren Bedarf auf oberamtliche Anzeige sogleich verschaffen“.25 Mit dem gleichen Schreiben wurde die Übermittlung des ersten Teiles von Zeillers ABGB-Kommentar angekündigt, dem die weiteren Teile sogleich nach ihrem Erscheinen folgen sollten. Tatsächlich wurde mit einem weiteren Schreiben vom 5. Oktober 1812 das Eintreffen des dritten Teils avisiert, nachdem der zweite schon im März übermittelt worden war.26 Der 1813 erschienene vierte Band mit Register wurde wohl ebenfalls umgehend nach Liechtenstein gesandt. Somit verfügte man in Liechtenstein etwa ab Anfang März 1812 sowohl über den Gesetzestext als auch über den ersten Teil des Kommentars hierzu.27 Ihren Höhepunkt erreichte die 1812 begonnene Rezeption österreichischen Rechts mit der Fürstlichen Verordnung vom 16. Oktober 181928, die bestimmte, dass alle Erläuterungen und Nachtragsverordnungen zu den rezipierten österreichischen Gesetzen ohne weiteren Rechtsakt auch in Liechtenstein gelten sollten.29 Da es einer Entscheidung des Fürsten daher nicht mehr bedurfte, wirkte auf diese Weise der Kaiser von Österreich, in dessen Namen die Regelungen erlassen wurden, direkt als Gesetzgeber für Liechtenstein, was mit dem fürstlichen Gesetzgebungsrecht nur schwer ver23 Als erster liechtensteinischer ABGB-Text ist jener anzusehen, der im Amtlichen Sammelwerk, wie Fn. 17, abgedruckt ist. 24 1814 folgte eine nicht-amtliche Ausgabe. Vgl. dazu Brauneder, wie Fn. 16, 97, und ausführlich ders., wie Fn. 10, 232 ff., sowie O. Seemann, Die mit „1811“ datierten Drucke des ABGB, 1995. 25 Schreiben vom 18. Februar 1812, wie Fn. 20. 26 Zitiert aus einem Schreiben der Liechtensteinischen Kanzley in Wien vom 5. Oktober 1812, Liechtensteinisches Landesarchiv. 27 Brauneder, wie Fn. 16, 97. 28 Im vollen Wortlaut abgedruckt in: W. Kundert, Liechtenstein, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/2, 1982, 1828 f. Die Verordnung verweist ausdrücklich auf die mit Hofdekret vom 13. Februar 1818 erfolgte Konstituierung des Innsbrucker Appellationsgerichts als höchste Revisionsinstanz für Liechtenstein. Damit und mit der Verordnung von 1819 habe man sich „an die diesfällige österreichische Gesetzgebung auch für die Zukunft angeschlossen“, wie § 1 der Landständischen Verfassung vom 9. November 1818 zu entnehmen war. 29 In der Maur, wie Fn. 18, 760; Vogt, wie Fn. 1, 94; Brauneder, wie Fn. 16, 100 f. Das bei Vogt und Brauneder genannte Datum, 16. Oktober 1816, ist unrichtig.
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einbar war. Aufgrund dieser sogenannten „automatischen“ Rezeption galten in Liechtenstein 30 Hofdekrete und Hofkanzleidekrete aus den Jahren 1817 bis 1842, die der österreichischen Justizgesetzsammlung entnommen waren.30 Damit war die liechtensteinische Privatrechtsentwicklung an jene in Österreich gekoppelt, allerdings nur soweit die entsprechenden Regelungen in Liechtenstein überhaupt bekannt wurden. Dass es damit nicht zum Besten stand, ist einem Schreiben von Landvogt Johann Michael Menzinger31 aus 1835 zu entnehmen, in dem er beklagte, dass das Oberamt in Vaduz über keine vollständige österreichische Gesetzessammlung verfüge und die Nachtragsverordnungen, wenn überhaupt, nur vereinzelt nach Vaduz gelangten. Er urgierte deshalb, dass das Oberamt „möglichst schnell in Kenntnis jener nachträglichen k.k. österr. Verordnungen“ kommen müsse, weil sonst „die Unkenntniss der neuen Gesetzgebung mit Grund gerügt werden könne“. Um diesem offensichtlichen, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden Missstand abzuhelfen, wurde dem Oberamt sowohl der laufende Bezug der Justizgesetzsammlung als auch jener der Wiener Zeitung, in deren amtlichen Teil alle österreichischen Gesetze und Verordnungen publiziert wurden, zugestanden.32 Auch auf Seiten der liechtensteinischen Hofkanzlei in Wien scheint es mit der Kenntnis der im Fürstentum geltenden Gesetze nicht viel besser bestellt gewesen zu sein: 1841 und 1846 wurde der amtierende Landvogt Menzinger um eine Zusammenstellung der gültigen Bestimmungen ersucht, was diesen dazu bewog, mit einer systematischen Sammlung der Rechtsvorschriften zu beginnen.33 Ihr formales Ende fand die „automatische“ Rezeption mit der Verordnung vom 20. Januar 1843. Darin wurde angeordnet, dass der Landvogt die einschlägigen österreichischen Regelungen zu sammeln und in regelmäßigen Abständen der Hofkanzlei Vorschläge zu unterbreiten habe, welche Gesetze und Verordnungen für Liechtenstein übernommen werden sollten. In Geltung zu treten hatten demnach nur noch jene Regelungen, die aufgrund dieser Vorarbeiten die „höchste landesfürstliche Sanction“ erhielten und im Fürstentum publiziert wurden, was häufig erst mit einer Verzögerung von mehreren Jahren geschah. Diese Vorgangsweise galt beispielsweise für die bereits erwähnte Einführung des ABGB-Erbrechts mittels Verordnung vom 6. April 1846 und die in Ergänzung dazu ergangene Verordnung vom 20. September 1846 betreffend letztwilliger Anordnungen zugunsten Ungeborener34, weiters für das österreichische Strafgesetzbuch von 1852, das erst mit Verordnung vom 7. November 1859 in Liechtenstein eingeführt wurde und an die Stelle des 1812 rezipierten Strafgesetzes von 1803 trat. Bei dieser Vorgangsweise blieb es bis zur konstitutionellen 30
20 dieser Dekrete stehen heute noch formell in Kraft (www.gesetze.li). Geb. 1792, gest. 1877. Der Sohn von Franz Xaver Menzinger, dem Vorgänger von Schuppler, bekleidete das Amt des Liechtensteiner Landvogts (ab 1848 wurde das Amt in „Landesverweser“ umbenannt) von 1833 bis 1861. Vgl. zu ihm Vogt, wie Fn. 1, 133 f.; Quaderer, wie Fn. 1, 104 f.; M. Menzinger, Die Menzinger in Liechtenstein, in: JBL 1913, 35 ff. 32 Berger, wie Fn. 18, 30. 33 Vogt, wie Fn. 1, 97. 34 Abgedruckt in: Amtliches Sammelwerk, wie Fn. 17. 31
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Verfassung vom 26. September 186235, mit der sich ein Wandel der Regierungsform von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie vollzog, in dessen Folge der Fürst sein bisheriges alleiniges Gesetzgebungsrecht verlor.
III. Der „Rezeptionsbruch“ und seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Die weitere Entwicklung wurde maßgeblich beeinflusst vom Ende des Deutschen Bundes 1866, dem das Fürstentum seit dessen Gründung 1815 angehört hatte. Liechtenstein erlangte damit seine volle, bündnisfreie Souveränität.36 Die mit der Auflösung des Staatenbundes dem Fürstentum unweigerlich drohende wirtschaftliche Isolation konnte bereits im Vorfeld dadurch vermieden werden, dass Liechtenstein, dem seine geographische Lage nur die Wahl zwischen den beiden Nachbarstaaten Schweiz und Österreich bot, in engen wirtschaftlichen Kontakt zu Österreich trat. Abgesehen von dem aus den persönlichen Beziehungen des Fürstenhauses zu Österreich resultierenden Naheverhältnis – das liechtensteinische Staatsoberhaupt gehörte dem österreichischen Hochadel an und war einer der einflussreichsten Großgrundbesitzer – versprach die Habsburgermonarchie mit ihren ca. 52 Millionen Einwohnern als Partner einer Zollgemeinschaft größere wirtschaftliche Vorteile als ein Kleinstaat wie die Schweiz. Die wichtigste Grundlage dieser Verbindung bildete der am 5. Juni 1852 abgeschlossene „Vertrag zwischen Sr. Majestät dem Kaiser von Oesterreich und Sr. Durchlaucht dem souveränen Fürsten von Liechtenstein, den Beitritt Sr. Durchlaucht zu dem österreichischen Zoll- und Steuergebiete betreffend“.37 Nachdem dieser Vertrag 1863 erneuert worden war, wurde am 3. Dezember 1876 ein „durch die gegenwärtigen veränderten Verhältnisse bedingter“ abgeänderter Staatsvertrag38 abgeschlossen. In diesem wurde vereinbart, dass der Vertrag, sollte er 1887 nicht gekündigt werden, 12 Jahre weiterlaufen, dann aber jährlich kündbar sein sollte.39 Aufgrund dieser Zollvereinbarung bewachten österreichische Behörden die Grenze zur Schweiz, hoben Zölle und Verbrauchssteuern ein und bezogen Liechtenstein in das österreichische System der Stempelabgaben und Staatsmonopole mit ein. Die Ge35
Abgedruckt in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung, wie Fn. 1, Anhang, 273 ff. Vgl. dazu näher K. v. In der Maur, Verfassung und Verwaltung im Fürstentum Liechtenstein, 1907. 36 Zum Folgenden im Überblick: F. Kleinwächter, Die neueste Rechtsentwicklung im Fürstentum Liechtenstein, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht NF 42, 1923, 356 ff., hier insb. 394 ff.; H. Zurlinden, Liechtenstein und die Schweiz, 1931, 29 ff.; A. Frick, Wir und die Nachbarn, in: Das Fürstentum Liechtenstein im Wandel der Zeit und im Zeichen seiner Souveränität, 1956, 155 ff.; A. Waschkuhn, Politisches System Liechtensteins: Kontinuität und Wandel (= Liechtenstein Politische Schriften 18), 1994, insb. 45 ff.; P. Geiger, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreissigerjahren 1928 – 1939, Bd. 1, 1997, 52 ff. 37 RGBl. 146/1852. 38 RGBl. 143/1876 und liechtensteinisches LGBl. 3/1876. Abgeändert durch die Additionalkonvention vom 27. Dezember 1888, RGBl. 70. 39 Kleinwächter, wie Fn. 36, 404 mit Fn. 77; Zurlinden, wie Fn. 36, 13 f.
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meinsamkeit kam augenscheinlich darin zum Ausdruck, dass z. B. die „kaiserlichösterreichischen und fürstlich liechtensteinischen“ Zoll- und Steuerämter die Wappen beider Staaten führten40 und die in Liechtenstein stationierten österreichischen Finanzbeamten auf ihren Uniformen neben der österreichischen auch die liechtensteinische Kokarde trugen. Neben den wirtschaftlichen Aspekten hatte die Zollunion auch die Übernahme aller entsprechenden österreichischen Rechtsvorschriften zur Folge. Damit fand in diesem beschränkten Bereich wieder eine automatische Rezeption „für die einschlägigen österreichischen Gesetze sowie neue Gesetze dieser Art … samt den auf diese Gesetze bezugnehmenden Nachträgen und Vorschriften“ statt, ähnlich jener, wie sie zwischen 1819 und 1843 im Bereich des Zivil- und Strafrechts geherrscht hatte.41 Liechtenstein stand aufgrund des Zollvertrages von 1852 aber nicht nur in Zoll-, sondern auch in Währungsgemeinschaft mit Österreich, da es sich dazu verpflichtet hatte, das gleiche Münzystem, d. h. die Guldenwährung einzuführen.42 Folglich wurde mit dem Gesetz vom 3. Dezember 1858 bestimmt, dass „die in Österreich nach dem kaiserlichen Patente vom 19. September 1857 in österreichischer Währung ausgeprägten Landes- und Scheidemünzen nach ihrem vollen Werte im Fürstentume gesetzlichen Umlauf haben“ sollten.43 Der Sturz des Silberpreises in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der Übergang zur Goldwährung im Deutschen Reich im Jahre 1873 bewirkten auch im Fürstentum den Wunsch nach deren Einführung.44 Gehindert war man daran allerdings durch die Bindung an das österreichische Währungssystem. Erst im Zollvertrag von 1876 wurde diese Verpflichtung aufgehoben und dem Land seine währungspolitische Freiheit zurückgegeben, von der es allerdings keinen Gebrauch machte. Anstatt eine eigene Währung einzuführen, wurde in Liechtenstein mit Gesetz vom 8. August 189845 die in Österreich bereits seit 1892 geltende neue Kronenwährung eingeführt und mit Gesetz vom 17. August 190046 zur gesetzlichen Landeswährung erklärt. Im Zusammenhang mit der Währungs- und Zollgemeinschaft gab es einen weiteren Bereich, in dem zwischen den beiden Nachbarstaaten eine enge Beziehung bestand: das Postwesen. Seit 1817, als in Balzers die erste österreichische Poststation errichtet worden war, wurde dieses aufgrund diverser Abkommen von den österreichischen Behörden besorgt. Dem Drängen des liechtensteinischen Landtages nach einer formellen Grundlage wurde am 4. Oktober 1911 mit dem „Übereinkommen 40
Gem. Art. 4 des Zollvertrages. Kleinwächter, wie Fn. 36, 405. 42 Gem. Art. 12 verpflichtete sich der Fürst von Liechtenstein, das selbe Gewicht-, Maßund Münzsystem wie in Österreich einzuführen. Dazu und zum Folgenden Kleinwächter, wie Fn. 36, 394 ff.; Zurlinden, wie Fn. 36, 13 ff. 43 Sog. „Wiener Münzvertrag“. 44 Vgl. die Details bei E. H. Batliner, 29. März 1973. 50 Jahre Zollvertrag Liechtensteins mit der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung des Geldwesens, 1973, 8 f. 45 LGBl. 2/1898. 46 LGBl. 2/1900. 41
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zwischen der k. k. österreichischen und der fürstl. Liechtensteinischen Regierung, betreffend die Verwaltung des Post-, Telegraphen- und Telephondienstes im Fürstentum Liechtenstein“ entsprochen.47 Die Verwaltung oblag der Post- und Telegraphendirektion in Innsbruck.48 Diese engen wirtschaftlichen Verflechtungen sowie eine neuerliche Rezeption österreichischen Rechts zwischen 1912 und 191549 ließen Liechtenstein in den Augen anderer Staaten, in „gebildeten wie in ungebildeten Kreisen“, als Teil des Nachbarstaats, als „österreichische Provinz“ erscheinen.50 Man ging sogar so weit, Liechtenstein „in manchen Zweigen seiner Verwaltung geradezu als Glied unserer Monarchie“ zu bezeichnen.51 Die aus dieser Ansicht resultierenden Zweifel, ob es sich bei dem Fürstentum um einen selbständigen Staat oder um einen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie und damit um den einer Kriegspartei handelte, führten im Ersten Weltkrieg dazu, dass die neutrale Haltung Liechtensteins kaum wahrgenommen und von den Ententemächten nur zögerlich akzeptiert wurde, zumal Liechtenstein es auch verabsäumt hatte, bei Kriegsausbruch eine formelle Neutralitätserklärung abzugeben. Man war der Ansicht gewesen, dass „mit Rücksicht auf das Fehlen militärischer Einrichtungen“52 eine derartige Erklärung überflüssig sei. Die Neutralität Liechtensteins im Ersten Weltkrieg konnte nicht verhindern, dass der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie im Gefolge des Ersten Weltkriegs das kleine Land mitzureißen drohte. Das auf dem Zollvertrag beruhende Naheverhältnis zu Österreich wirkte sich kriegsbedingt zunehmend nachteilig aus und drohte die staatliche Existenz Liechtensteins ernsthaft in Frage zu stellen. Die Inflation der Kronenwährung, die Liechtenstein mit-
47 LGBl. 4/1911. Das Übereinkommen ist auch veröffentlicht in der „Dienstvorschrift für die k.k. Postanstalt, Bd. 1, 1. Abt. Das Postgesetz und die übrigen gesetzlichen Grundbestimmungen über das Postwesen”, 1913, hrsg. vom k.k. Handelsministerium. 48 Kleinwächter, wie Fn. 36, 409 f.; Zurlinden, wie Fn. 36, 15, der als Beispiel für die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern u. a. auch das Eisenbahnwesen anführt. 49 Dies betraf die österreichische Zivilprozessordnung und die Jurisdiktionsnorm von 1895 sowie die österreichische Strafprozessordnung von 1873. Da letztere erst 1914 rezipiert wurde, erweckt dies gewisse Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Übernahme teils schon veralteten Rechts. 50 Zum Folgenden: E. von und zu Liechtenstein, Liechtensteins Weg von Österreich zur Schweiz, 1946; R. Quaderer, Neutralitäts- und Souveränitätsprobleme Liechtensteins im Umfeld des Ersten Weltkriegs, in: A. Riklin/L. Wildhaber/H. Wille (Hrsg.), Kleinstaat und Menschenrechte. Festgabe für Gerard Batliner zum 65. Geb., 1993, 43 ff.; L. Brotschi-Zamboni, Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die liechtensteinische Aussenpolitik, in: Liechtenstein Politische Schriften, Heft 2, 1973, 9 ff. 51 Zitiert nach Zurlinden, wie Fn. 36, 16. Dafür sprach z. B. auch, dass Österreich-Ungarn 1880 die außenpolitische Vertretung Liechtensteins übernommen hatte. 52 Zitiert nach Quaderer, wie Fn. 50, 50. Das liechtensteinische Militär war bereits 1868 aufgelöst worden.
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machen musste, bescherte dem Land große finanzielle Verluste.53 Um das Schlimmste zu verhindern und um die Entwertung der Krone nicht bis zum bitteren Ende mitmachen zu müssen, ging man in der Praxis dazu über, bevorzugt Schweizer Franken als Währung zu verwenden, solange bis sich keine Kronen mehr im Umlauf befanden. Dieser Akt wirtschaftlicher Notwendigkeit stellte zugleich den ersten Schritt zur Annäherung an die Schweiz dar. Juristisch wurde dem Wechsel der Währung mit dem Gesetz vom 27. August 192054 Rechnung getragen, das zwar formal keine Aufhebung der liechtensteinischen Währungsgesetze vorsah, aber bestimmte, dass Steuern und Gebühren derart einzuheben seien, dass für je eine Krone ein Franken geschuldet werde. Das gleiche sollte für Stempel, Taxen, Straf- und Bußgelder gelten. Auf diese Weise hatte Liechtenstein den Schweizer Franken faktisch schon „in Besitz genommen“55, als das Gesetz betreffend die Einführung der Frankenwährung vom 26. Mai 1924 erging.56 An die Lösung des Währungsproblems schloss sich die Frage nach der künftigen wirtschaftlichen Orientierung des Landes: Sollte es bei der Zollverbindung mit Österreich bleiben oder wäre doch die Aufnahme von Beziehungen zur Schweiz günstiger?57 Das Fürstenhaus tendierte aufgrund seiner jahrhunderte langen Beziehungen eher dazu, die Zollverbindung mit Österreich aufrecht zu erhalten. Die wirtschaftliche Lage machte es aber für Liechtenstein zum Gebot der Selbsterhaltung, die Zollgemeinschaft mit Österreich zu lösen. Folglich beschloss der Landtag im August 1919 das Ende des Zollvertrages mit Österreich. Anschließend verständigte die liechtensteinische Regierung das Außenamt der Republik Deutsch-Österreich davon, dass sie den Staatsvertrag von 1876 „als nicht mehr zu Recht bestehend ansehe“. Die Aufhebung wurde von der österreichischen Regierung mit Kabinettsratsbeschluss vom 26. August 1919 zur Kenntnis genommen und am 1. Oktober 1919 wurde die Zolllinie an der liechtensteinisch-vorarlbergischen Grenze errichtet. Infolge der Beendigung der Zoll- und Währungsgemeinschaft mit Österreich war auch das Postübereinkommen nicht mehr haltbar und wurde von der liechtensteinischen Regierung mit Wirksamkeit vom 31. Januar 1921 gekündigt. Mit dieser Loslösung von Österreich hatte das Fürstentum Liechtenstein seine wirtschaftliche Autonomie erlangt und bildete ein selbständiges kleines Zollgebiet, das den Zollverkehr mit seinen eigenen Organen bestreiten musste, für Handel, Post und Bahn wurden jedoch provisorische Verträge mit der Republik Österreich abgeschlossen. Die folgenden Jahre waren zum einen von den Bemühungen um eine selbständige Zoll-, Finanz- und Währungspolitik dominiert, die allerdings aufgrund der 53 Vgl. zum Folgenden Kleinwächter, wie Fn. 36, 397 f.; Zurlinden, wie Fn. 36, 33 f.; M.R. Seiler, Die besonderen Beziehungen der Schweiz mit dem Fürstentum Liechtenstein, in: LJZ 1991, 101 ff., hier insb. 103 f. 54 LGBl. 8/1920. 55 Zu dem Zitat siehe Seiler, wie Fn. 53, 103. 56 LGBl. 8/1924. Erst seit dem Währungsabkommen vom 19. Juni 1980 gehört Liechtenstein auch rechtlich zum schweizerischen Währungsinland, so Seiler, wie Fn. 53, 104. 57 Dazu Kleinwächter, wie Fn. 36, 406 ff.; Geiger, wie Fn. 36, 54.
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„schicksalhaften Eigenart … ohne Anlehnung an fremde Nachbarn überhaupt nicht leben zu können“58 von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Zum anderen setzte sich zunehmend die Ansicht durch, dass eine Annäherung an die Schweiz der zweckmäßigste Weg wäre, um die wirtschaftliche Isolation zu überwinden.59 Dabei handelte es sich, wenn schon nicht um eine „plötzliche Anwandlung von Sympathie oder Geistesverwandtschaft gegenüber seinem westlichen Nachbarn“, so doch um einen Akt politischer Klugheit und wirtschaftlicher Notwendigkeit.60 In diesen Zeitraum fielen einige weitere Ereignisse, in denen sich die Loslösung von Österreich und zugleich die Selbständigkeitsbestrebungen des Landes manifestierten, wie etwa der Erlass der monarchisch-demokratischen Verfassung vom 5. Oktober 192161, die an die Stelle der konstitutionellen Verfassung von 1862 trat und in ihren Grundzügen heute noch in Geltung steht.62 Sie räumte dem Volk die weitestgehende Mitwirkung an den Staatsgeschäften ein, führte Referendum und Initiative als direktdemokratische Einrichtungen sowie das allgemeine, gleiche, geheime und direkte (Männer-) Wahlrecht63 ein. Aufgrund der Verfassung kam es auch zur Verlegung sämtlicher Justizbehörden ins Land und zur Loslösung von der österreichischen Gerichtsbarkeit.64 Der Tendenz zur wirtschaftlichen Annäherung an seinen westlichen Nachbarn entsprach das im November 1920 abgeschlossene und zum 1. Februar 1921 in Kraft getretene Postübereinkommen. Mit diesem Tag übernahm die Schweiz den Post-, Te-
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Zitiert nach Zurlinden, wie Fn. 36, 31. Einzelheiten bei Batliner, wie Fn. 44, 10 ff. 60 Seiler, wie Fn. 53, 102. 61 LGBl. 15/1921. 62 Siehe aus der umfangreichen Literatur zur liechtensteinischen Verfassung 1921 z. B.: Kleinwächter, wie Fn. 36, 365 ff.; A. Ignor, Monarchisches und demokratisches Prinzip in der liechtensteinischen Verfassungsentwicklung, in: Press/Willoweit, wie Fn. 1, 465 ff.; ebda D. Willoweit, Fürstenamt und Verfassungsordnung, 487 ff.; G. Batliner, Schichten der liechtensteinischen Verfassung, in: A. Waschkuhn (Hrsg.), Kleinstaat. Grundsätzliche und aktuelle Probleme, 1993, 281 ff.; G. Batliner (Hrsg.), Die liechtensteinische Verfassung 1921, 1994. 63 Zur Einführung des wirklichen allgemeinen und beide Geschlechter umfassenden Wahlund Stimmrechts kam es erst 1984. Dazu näher V. Marxer, Zur Einführung des Frauenstimmrechts in Liechtenstein, in: Frauenprojekt Liechtenstein (Hrsg.), Inventur. Zur Situation der Frauen in Liechtenstein, 1994, 169 ff. m.w.N.; ebda, A. Willi, 1984 bis 1994: 10 Jahre Frauenstimmrecht, 236 ff.; W. Marxer, 20 Jahre Frauenstimmrecht – Eine kritische Bilanz (= Liechtenstein-Institut Beiträge 19), 2004 (als pdf-Datei unter: www.liechtenstein-institut.li/ Publikationen). 64 Die Art. 99 bis 103 der Verfassung enthalten Bestimmungen über die Rechtspflege, näher ausgeführt durch das Gerichtsorganisationsgesetz vom 7. April 1922, LGBl. 16. Demzufolge ging der Instanzenzug nun vom FL Landgericht an das FL Obergericht und an die Stelle des OLG Innsbruck trat als letzte Instanz der FL Oberste Gerichtshof. Vgl. dazu E. Berger, Unter dem Einfluss der Nachbarn: Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit im Fürstentum Liechtenstein, in: Bericht über den 24. Österreichischen Historikertag in Innsbruck 2005 (= Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 33), 2006, 265 ff.; A. Ospelt, Die geschichtliche Entwicklung des Gerichtswesens in Liechtenstein, in: Beiträge zur geschichtlichen Entwicklung, wie Fn. 1, 217 ff. 59
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legraphen- und Telefonbetrieb in Liechtenstein.65 Ein Jahr vorher, im Februar 1920, war mit den langwierigen Verhandlungen über einen Zollvertrag begonnen worden, die mit dem Vertrag über den Anschluss des Fürstentums Liechtenstein an das schweizerische Zollgebiet vom 29. März 192366 ihren Abschluss fanden.67 Damit verzichtete Liechtenstein auf ein eigenes Zollgebiet und wurde zum schweizerischen Zollinland erklärt. Mit der Unterzeichnung dieses Staatsvertrages kehrte Liechtenstein zu einer automatischen Rezeption, diesmal allerdings von schweizerischem Recht zurück, da gemäß Artikel 4 die gesamte schweizerische Zollgesetzgebung sowie die übrige Bundesgesetzgebung, „soweit der Zollanschluss ihre Anwendung bedingt“, in Liechtenstein unmittelbar in Geltung traten. Das galt auch für die von der Schweiz mit Drittstaaten abgeschlossenen Handels- und Zollverträge. Der Zollanschlussvertrag bildete den Auftakt für eine Vielzahl weiterer Verträge und Abkommen, die die Basis für das heute noch bestehende Naheverhältnis des Fürstentums zur Schweizerischen Eidgenossenschaft bilden.68 Im Einklang mit der wirtschaftspolitischen Neuorientierung Liechtensteins und der damit verbundenen Annäherung an das Schweizer Recht standen die in der Folge einsetzenden Bestrebungen, auch in anderen Bereichen die enge Verbindung mit dem österreichischen Recht zu lösen. So gut sich diese bewährt hatte, solange Liechtenstein und Österreich ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet bildeten, so hinderlich war sie unter den nunmehrigen Bedingungen. Die Hinwendung zur Schweiz bewirkte somit einen „Rezeptionsbruch“, d. h. dass an die Stelle der österreichischen Rezeptionsgrundlage schweizerisches Recht trat. Mit dem aufgrund des Zollvertrages rezipierten schweizerischen Recht war der Anfang gemacht worden. IV. Die weitere Entwicklung des liechtensteinischen ABGB Aufgrund der geschilderten politischen und wirtschaftlichen Ereignisse entschied man sich in Liechtenstein dafür, die Teilrevision der österreichischen Privatrechtskodifikation durch die Novellen 1914, 1915 und 191669, durch die sich etwa 18 % des Gesetzbuchs veränderten70, nicht mitzumachen. Gedacht war vielmehr daran, das 65 Einzelheiten bei Zurlinden, wie Fn. 36, 37 ff. Das Übereinkommen ist abgedruckt ebda, Anlage 1, 71 ff. 66 LGBl. 24/1923. Der Vertrag trat zum 1. 1. 1924 in Kraft und gilt mit zahlreichen Änderungen nach wie vor. 67 Zum Zustandekommen des Vertrages vgl. im Einzelnen: Zurlinden, wie Fn. 36, 40 ff.; Batliner, wie Fn. 44, 20 ff. 68 Seiler, wie Fn. 53, 104 m.w.N.; Geiger, wie Fn. 36, 57 f. 69 Einzelheiten u. a. bei: H. Klang, Der OGH und die Entwicklung des Bürgerlichen Rechts, in: Festschrift zur Hundertjahrfeier des OGH, 1950, 16; B. Dölemeyer, Die Revision des ABGB durch die drei Teilnovellen von 1914, 1915 und 1916, in: H. Coing (Hrsg.), Ius Commune VI, 1977, 274 ff. m.w.N. 70 Brauneder, wie Fn. 16, 102.
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liechtensteinische Privatrecht zu verselbständigen und es in Anlehnung an schweizerisches und deutsches Recht neu zu gestalten. Das geplante liechtensteinische Zivilgesetzbuch sollte aus fünf Teilen bestehen: Sachenrecht, Obligationenrecht, Personen- und Gesellschaftsrecht, Familienrecht und Erbrecht. Dieses Vorhaben wurde aber letztlich nur zum Teil verwirklicht, sodass das liechtensteinische ABGB nach wie vor in Kraft steht, allerdings mit zahlreichen Änderungen und mit Ausnahme jener Materien, die durch liechtensteinische Spezialgesetze geregelt sind. Am Beginn der Bemühungen um ein eigenes Zivilgesetzbuch für Liechtenstein stand das von Emil Beck, einem Schüler des berühmten ZGB-Redaktors Eugen Huber71, ausgearbeitete Sachenrecht (SR) vom 31. Dezember 1922, das am 1. Februar 1923 in Kraft trat und als „Liechtensteinisches Zivilgesetzbuch. Sachenrecht“ publiziert wurde.72 Mit diesem Gesetz wurden in praktisch unveränderter Form die Einleitungsartikel sowie das den vierten Teil des schweizerischen ZGB bildende Sachenrecht rezipiert. Abweichungen waren überall dort notwendig, wo das Schweizer Gesetz Verweise auf kantonale Bestimmungen enthielt, an deren Stelle das liechtensteinische Landesrecht trat. Das SR wurde, bedingt durch seine enge Anlehnung an das schweizerische ZGB ebenso wie dieses als modernes Gesetz gerühmt, „das in vorbildlicher Weise die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft mit dem bewährten alten, im Volke lebenden Rechtsgut vereinigt“. Besonders hervorgehoben wurde die den beiden Gesetzeswerken eigene „klare, leichtverständliche Sprache“. Dieser Aspekt war gerade für ein kleines Land wie Liechtenstein von Bedeutung, da es „mangels eines ausgebreiteten Anwaltsstandes“ – ein Umstand, der sich mittlerweile geändert haben dürfte! – notwendig war, dass der Bevölkerung der Gesetzestext auch ohne juristischen Beistand verständlich war.73 Auf das liechtensteinische ABGB, speziell auf dessen zweiten Teil „Von dem Sachenrechte“, hatte das SR gravierende Auswirkungen: Der erste Abschnitt „Von den dinglichen Rechten“ enthält infolge der Aufhebung der einschlägigen Regelungen seitdem nur noch die erbrechtlichen Bestimmungen.74 Aufgehoben wurden weiters einschlägige Normen des ADHGB75, das von Landvogt Joseph Schuppler ausgearbei71 Zu ihm vgl. G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. 2008, 207 ff.; M. Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, 2001, 309. 72 LGBl. 4/1923. Vgl. dazu M. Rümelin, Liechtensteinisches Zivilgesetzbuch vom 31. Dezember 1922, in: Archiv für die civilistische Praxis NF 1, 1923, 120 f.; Kleinwächter, wie Fn. 36, 388 ff. Neuerdings hierzu: E. Berger, Rezeption im liechtensteinischen Privatrecht unter besonderer Berücksichtigung des ABGB, 2008, 51 ff. 73 In diesem Sinne Kleinwächter, wie Fn. 36, 390. Zitate ebda. 74 Gem. Art. 141 Ziff. 1 der den Schlusstitel (SchlT) bildenden Übergangsbestimmungen des SR – darin ist irrtümlich die Rede vom österreichischen ABGB „vom Jahre 1810“ – wurden die §§ 285 – 530 und 825 – 858 sowie eine Reihe weiterer Einzelbestimmungen des liechtensteinischen ABGB aufgehoben. 75 In Liechtenstein wurde das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch vom 16. März 1861 mit dem Gesetz vom 16. September 1865 betr. die Einführung des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches im Fürstentum Liechtenstein, LGBl. 10/1865, eingeführt.
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tete Grundbuchspatent von 1809 und eine ganze Reihe von Bestimmungen in weiteren Gesetzen, soweit sie die Rechte und die Verfügungsgewalt an Sachen zum Gegenstand hatten.76 Den nächsten Schritt in der Entwicklung des liechtensteinischen Privatrechts bildete nicht das Schuldrecht, wie es aufgrund des Aufbaus des geplanten Liechtensteinischen Zivilgesetzbuches nahe gelegen hätte, sondern dessen dritter Teil, das Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR) vom 20. Januar 192677. Dessen Einleitung, die die entsprechenden Bestimmungen des ABGB teils ersetzte, teils ergänzte, stimmt – so wie jene zum SR – inhaltlich im Wesentlichen mit den Einleitungsartikeln des schweizerischen ZGB überein. Die nochmalige Aufnahme dieser Artikel in das PGR rührt von der Absicht her, die verschiedenen Teile des geplanten Zivilgesetzbuches als separate Werke und somit jeweils mit einer – gleichlautenden – Einleitung zu publizieren. Was das liechtensteinische ABGB betrifft, so hatte das Inkrafttreten des PGR weitreichende Folgen: Das erste Hauptstück des ersten Teils78 wurde durch das ausführliche und moderne, sich vor allem am schweizerischen, punktuell auch am deutschen Recht orientierende Personenrecht des PGR79 weitestgehend gegenstandslos. Darüber hinaus wurde das 27. Hauptstück des zweiten Teils „Von dem Vertrage über eine Gemeinschaft der Güter“ (§§ 1175 ff.) sowie eine Reihe von Einzelbestimmungen aufgehoben.80 Einen massiven Eingriff stellte das neue Gesetz auch für das seit 1865 in Liechtenstein geltende ADHGB dar, indem das Recht der Handelsgesellschaften aus diesem heraus- und in das Privatrecht hineingenommen wurde, womit – ähnlich wie in der Schweiz – die bis dahin bestehende Trennung zwischen bürgerlichem Recht und Handelsrecht weitestgehend aufgehoben wurde.81 Seit dem Inkrafttreten des PGR, das nunmehr den größten Teil des Handels- und Gesellschaftsrechts enthält, stehen folglich nur mehr ganz wenige Teile des ADHGB in Geltung, sodass es in der Praxis fast keine Bedeutung mehr hat.82 Mit diesen beiden Gesetzen, dem SR von 1922 und dem PGR aus 1926, ging Liechtenstein den Weg der Abkehr von dem österreichischen Recht als Rezeptionsgrundlage, den es bereits mit der Nichtberücksichtigung der Teilnovellen eingeschlagen hatte, weiter. Dass man sich mit der Absicht trug, weitere Bereiche des schweizerischen Privatrechts für liechtensteinische Verhältnisse zu adaptieren und an die Stelle der jeweiligen Vorschriften des ABGB zu setzen, lässt sich aus Formulierungen in der Schlussabteilung des PGR schließen: „Bis zum Erlass eines neuen Erbrechts 76
Gem. Art. 141 Ziff. 2 – 17 SchlT SR. LGBl. 4/1926. Näheres zum PGR bei G. Marok, Die privatrechtliche liechtensteinische Anstalt unter besonderer Berücksichtigung der Gründerrechte, 1994, 7 ff.; Berger, wie Fn. 72, 57 ff. 78 §§ 15 – 43 ABGB gem. § 155 Abs. 2 Ziff. 1 SchlT PGR. 79 Art. 9 – 105 PGR. 80 Gem. § 155 Ziff. 1 SchlT PGR. 81 § 155 Ziff. 2 SchlT PGR listet die aufgehobenen Artikel des ADHGB auf. 82 Berger, wie Fn. 72, 61 f. 77
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…“ (§ 4 Abs. 2) oder „Bis zum Erlass eines Familienrechtes …“ (§ 12). Zudem enthält dieser Abschnitt eine ganze Reihe von Bestimmungen, die damit nicht im Zusammenhang stehen, wie z. B. eine ganze Reihe von obligationenrechtlichen Bestimmungen, die bis zur Neuregelung der jeweiligen Privatrechtsmaterien hier nur provisorisch ihren Platz finden sollten.83 Konkret waren durch das SR und das PGR acht Hauptstücke des ABGB ausdrücklich aufgehoben und eines weitestgehend gegenstandslos geworden, sodass das liechtensteinische und das österreichische ABGB im Jahre 1926, mehr als ein Jahrhundert nach dem Inkrafttreten des Gesetzbuchs in den beiden Ländern, von den ursprünglich 1502 nur noch etwa 850 Paragraphen gemeinsam hatten.84 Die Fertigstellung des liechtensteinischen Zivilgesetzbuchs scheiterte in erster Linie daran, dass man sich über die Neukodifikation des Schuldrechts nicht einig werden konnte. Neben Verfechtern der modifizierten Rezeption schweizerischen Privatrechts gab es nun wieder vermehrt Befürworter einer anderen Vorgehensweise, nämlich der Beibehaltung des Obligationenrechts des ABGBs in der Fassung der Teilnovellen. Einem generellen Schwenk zurück zur österreichischen Rechtsordnung als Rezeptionsgrundlage stand allerdings der Zollvertrag mit der Schweiz im Weg, der in vielen Bereichen die liechtensteinische Rechtsordnung beeinflusste und darüber hinaus in der Bevölkerung als Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung galt. Solange sich in der Frage der Obligationenrechtsreform keine Lösung abzeichnete, war an eine Reform der übrigen noch ausständigen Rechtsmaterien – Familienrecht und Erbrecht – nicht zu denken.85 Nach einer längeren Phase der Stagnation kamen die Reformbestrebungen im Privatrecht erst in den siebziger Jahren wieder in Schwung. 1974 wurden in Liechtenstein in Anlehnung an das 1972 in Kraft getretene schweizerische Bundesgesetz über den Arbeitsvertrag mit dem neugeschaffenen § 1173 a (Art. 1 bis 113) moderne Bestimmungen über den Arbeitsvertrag in das ABGB eingefügt.86 Im selben Jahr trat mit dem Gesetz vom 13. Dezember 197387 an die Stelle des seit seiner Einführung 1812 praktisch unverändert beibehaltenen Eherechts des ABGB ein spezielles Ehegesetz.88 Damit wurde das zweite Hauptstück „Von dem Eherechte“89 im ersten Teil 83 F. Gschnitzer, Lebensrecht und Rechtsleben des Kleinstaates, in: A.P. Goop (Hrsg.), Gedächtnisschrift Ludwig Marxer, 1963, 19 ff., hier insb. 41. 84 Brauneder, wie Fn. 16, 102. 85 E. Berger, Rechtsrezeption und Souveränität – ein Widerspruch? in: JBL 105, 2006, 35 ff., hier insb. 40. 86 Gesetz vom 13. Dezember 1973 über die Revision des 26. Hptstk. des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, LGBl. 18/1974, in Kraft getreten am 1.1.1974. Dazu H. Dworak/ H.J. Stotter, Die Reform des Justizrechtes in Liechtenstein, in: LJZ 1980/81, 10 ff., hier insb.17 ff.; Berger, wie Fn. 72, 115 ff. 87 LGBl. 20/1974. 88 Vgl. zum liechtensteinischen Eherecht im Einzelnen: Dworak/Stotter, wie Fn. 86, 13 ff.; P. Sprenger, Das Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht des Fürstentums Liechtenstein, Diss. Zürich, 1985; U. Wachter, Das Liechtensteinische Eherecht. Die Entwicklung des Liechtensteinischen Eherechts seit 1800, in: Inventur, wie Fn. 63, 1994, 124 ff.; F. Zindel, Die wirt-
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des ABGB, das sich an konfessionellen Grundsätzen orientiert hatte, zur Gänze aufgehoben, zugleich wurden diverse Hofdekrete aufgehoben bzw. gegenstandslos90. An die Stelle dieser Bestimmungen trat ein 100 Artikel umfassendes separates Ehegesetz. Als Rezeptionsgrundlage wurde in diesem Fall nicht nur schweizerisches, sondern auch österreichisches Eherecht herangezogen, es wurde aber auch eigenständiges liechtensteinisches Recht geschaffen. Während etwa die Bestimmungen zur Eheschließung und „Über die Wirkungen der Ehe“ dem schweizerischen ZGB angeglichen wurden, entstammte insbesondere das nacheheliche Unterhaltsrecht dem österreichischen Recht. Eigenständige Regelungen wurden vor allem im Bereich des Trennungs- und Scheidungsrechts geschaffen, da sowohl das schweizerische als auch das österreichische Scheidungsrecht von der traditionsverhafteten liechtensteinischen Bevölkerung als zu fortschrittlich empfunden wurden.91 Das neue Ehegesetz brachte einige wesentliche Neuerungen gegenüber der bisherigen Rechtslage: Es statuierte die obligatorische Ziviltrauung, doch blieb es jedem freigestellt, nach dem staatlichen Trauungsakt und gegen Vorweis des Ehescheins die Ehe auch kirchlich zu schließen. Den wohl bedeutendsten Reformschritt bildeten aber die Zulassung der Ehescheidung und die damit längst fällige Anpassung an die tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Waren bis dahin im Falle des Scheiterns der Ehe nur die faktische Trennung oder das Konkubinat, die sog. „Wilde Ehe“, möglich gewesen, so stand nun eine Reihe von Scheidungsgründen zu Gebote, allerdings eingeschränkt auf ein unentbehrliches Minimum. Wenig änderte sich mit dem neuen Ehegesetz an der patriarchalischen Grundhaltung des Eherechts. Das Ehegesetz griff in die althergebrachten Verhältnisse nur sehr behutsam ein, da allzu weitgehende Änderungen mit der katholischen und konservativen Gesinnung weiter Kreise der liechtensteinischen Bevölkerung nicht zu vereinbaren gewesen wären. Während die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Eherecht in Österreich bereits 1978 und in der Schweiz 1988 beseitigt und dem Partnerschaftsgedanken zum Durchbruch verholfen wurde, geschah dies in Liechtenstein erst mit der Novelle 1993, durch die das Ehegesetz von 1974 teilweise gravierend abgeändert wurde. Zu weiteren Novellierungen des ABGB kam es mit dem am 15. Januar 1975 in Kraft getretenen Gesetz über die Abänderung des 25. Hauptstückes des ABGB92, mit dem ein neues Mieterschutzrecht nach Schweizer Vorbild erlassen wurde, das sich vor allem um einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Vermieters und dem Schutzbedürfnis des Mieters bemühte.93 Den Forderungen nach einem modernen, den Anforderungen der Zeit angepassten Adoptionsrecht wurde durch das schaftlichen Folgen der Eheauflösung nach liechtensteinischem Recht, 1995; Berger, wie Fn. 72, 100 ff. 89 §§ 44 – 134 ABGB. 90 Aufgelistet bei Zindel, wie Fn. 88, 4 Fn. 13. 91 Ebda, 5 ff. 92 LGBl. 6/1975. 93 Dworak/Stotter, wie Fn. 88, 20 f.; Berger, wie Fn. 72, 119 ff.
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Gesetz vom 13. Mai 1976 über die Abänderung des Ersten und Zweiten Teiles des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches entsprochen.94 Das neue Adoptionsrecht orientierte sich weitgehend an den Adoptionsvorschriften, wie sie im Zuge der österreichischen Familienrechtsreform 1960 geschaffen worden waren, einzelne Bestimmungen wurden dem schweizerischen Recht entnommen.95 Mit der Neuregelung dieser Materie, vor allem aber mit dem Gesetz über die Abänderung von Bestimmungen des Zweiten und Dritten Teiles des ABGB, das im wesentlichen die Einarbeitung der drei österreichischen Teilnovellen in das liechtensteinische ABGB brachte, erfolgte – wie zuletzt schon beim Ehegesetz – eine Rückbesinnung auf das österreichische Recht als Rezeptionsgrundlage. Es war beabsichtigt, das ABGB auf den Stand zu bringen, wie es in seinem Ursprungsland, in Österreich, galt. Allerdings blieben dabei die österreichischen Sondergesetze, die anstelle des ABGB oder neben ihm galten, außer Betracht.96 Einen weiteren gravierenden Eingriff in das liechtensteinische Privatrecht brachte die Ehe- und Familienrechtsreform, die 1993 nach ausführlichen, sich über insgesamt zehn Jahre hinziehenden Vorarbeiten, in Kraft trat.97 Bei der Ausarbeitung der Novelle orientierte man sich an dem Vorbild Österreichs, wo das Familienrecht bereits zwischen 1960 und 1983 in mehreren kleinen Schritten reformiert worden war. Die liechtensteinische Reform verfolgte vor allem das Ziel der Einführung des Partnerschaftsund Gleichberechtigungsprinzips, das nicht nur den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, sondern auch dem in der liechtensteinischen Verfassung verankerten Gleichheitsprinzip entsprach. Als weitere Reformpunkte hatte man sich die erbrechtliche Besserstellung des überlebenden Ehegatten sowie die Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern zum Ziel gesetzt. Nicht Gegenstand der Novelle sollte vorerst das Ehetrennungs- und Ehescheidungsrecht sein, womit einer der revisionsbedürftigsten Bereiche aus der Reform ausgeklammert blieb. Der Grund dafür war das nahezu unerschöpfliche Potential an Streitfragen, deren Klärung das Zustandekommen der gesamten Reform in weite Ferne gerückt hätte. Bevor man sich aus Gründen der Rechtstradition und der Rechtskontinuität zur Rezeption österreichischen Rechts entschloss, waren Überlegungen angestellt worden, ein eigenständiges liechtensteinisches Ehe- und Familienrecht zu schaffen. Diese Absicht wurde aber, wohl zu Recht, mit der Begründung verworfen, dass der liechtensteinische Gesetzgeber damit überfordert wäre. In einigen Punkten orien94
LGBl. 40/1976, in Kraft getreten am 1.7.1976. Vgl. dazu Dworak/Stotter, wie Fn. 88, 21 f.; N. Kaiser, Adoption in Liechtenstein. Divergenzen zwischen geschriebenem und angewandtem Recht, in: LJZ 1997, 43 ff.; Berger, wie Fn. 72, 122 ff. 96 LGBl. 75/1976. Dworak/Stotter, wie Fn. 88, 22; Berger, wie Fn. 72, 126 ff. 97 Gesetz vom 22. 10. 1992 über die Abänderung des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, LGBl. 54/1993, in Kraft getreten am 1.4.1993. Vgl. dazu Zindel, wie Fn. 90, 13 ff., der eine detaillierte Chronologie der Reform zusammenstellt. Weiters ausführlich hierzu: Berger, wie Fn. 72, 133 ff.; weiters dies., Rezeption im liechtensteinischen Ehe- und Familienrecht, in: LJZ 2006, 49 ff. 95
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tierte man sich allerdings auch am schweizerischen Recht, so etwa hinsichtlich der Bestimmungen über die Ehewirkungen. Änderungen erfuhren durch die Ehe- und Familienrechtsreform vor allem das PGR, das Ehegesetz und das ABGB, wobei sich die Reform in letzterem vor allem auf das Kindschaftsrecht, das Vormundschaftsrecht, das Erbrecht sowie auf das Recht der Ehepakte auswirkte.98 Der – vorläufig – letzte große Reformschritt im Ehe- und Familienrecht betraf das Trennungs- und Scheidungsrecht.99 Die wesentlichste Neuerung in diesem Rechtsbereich bestand in der Aufgabe des Verschuldensprinzips zugunsten der Einführung des Zerrüttungsprinzips. V. Resümee Wie die obigen Ausführungen deutlich machen, ist das liechtensteinische Privatrecht ein Konglomerat von Rechtsvorschriften100 und zwar „zum Teil österreichischer Herkunft, zum Teil nach Schweizer Muster geformt, zum Teil eigenständiges Recht“101: Dem österreichischen Recht entspricht vor allem das Eherecht, das Erbrecht und zum Teil das Schuldrecht, schweizerischer Herkunft ist das Sachenrecht, das Personenrecht und Teile des Schuldrechts, eine vergleichsweise eigenständige liechtensteinische Schöpfung hingegen stellt das Gesellschaftsrecht mit seinen spezifischen Gesellschaftsformen dar. Lässt man die bald zwei Jahrhunderte währende Rezeptionsgeschichte im liechtensteinischen Privatrecht Revue passieren, so zeigt sich, dass es gelungen ist, sich in zunehmendem Maße als selbständiger, unabhängiger und nur der Qualität verpflichteter Gesetzgeber zu profilieren. Dass die Anlehnung an die Rechtsordnungen der Nachbarstaaten dabei intensivere Ausmaße annimmt als in anderen Staaten, ist den besonderen Bedingungen der Kleinstaatlichkeit geschuldet. Sie sind der Grund dafür, dass nicht die Frage „ob“ rezipiert wird im Vordergrund steht, sondern „wie“ rezipiert wird. Das Fürstentum Liechtenstein hat es geschafft, die passive Rolle eines ohne eigenes Zutun von ausländischen gesetzgeberischen Vorarbeiten profitierenden Staates abzulegen und in eine aktive und selbstbestimmte Rolle hineinzuwachsen, dessen mit der Gesetzgebung betrauten Organe es verstehen, die Rezeption als Rechtserzeugungsinstrument in bestmöglicher Weise zu nutzen. Auch in Zukunft wird die ABGB-Reform den liechtensteinischen Landtag intensiv beschäftigen. Gegenwärtig widmet sich eine von der liechtensteinischen Regierung im Sommer 2007 eingesetzte Expertengruppe der Aufgabe, die liechtensteinische Privatrechtsordnung – zeitgerecht zu dem 2012 bevorstehenden ABGB-Jubilä98 Vgl. zu den durch die Reform bewirkten Änderungen vor allem Berger, wie Fn. 72, 156 ff.; dies., Rezeption, wie Fn. 97, 15. Speziell zu den Ehepakten vgl. W. Brauneder (Bearb.), §§ 1217 – 1266, in: M. Schwimann (Hrsg.), ABGB-Praxiskommentar, Bd. 5, 3. Aufl. 2006, 796 ff. 99 LGBl. 28/1999. Vgl. hierzu Berger, wie Fn. 72, 179 ff. 100 Zur Rezeptionsproblematik im Kleinstaat grundlegend Gschnitzer, wie Fn. 83, und jüngst Berger, wie Fn. 72. 101 Zitiert nach Gschnitzer, wie Fn. 83, 24.
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um – auf einen aktuellen Stand zu bringen. Mit diesem Vorhaben wird die ungebrochene Lebenskraft des liechtensteinischen ABGB in überzeugender Weise unter Beweis gestellt.
Das ABGB in Ungarn Christian Neschwara I. Forschungsstand* Fragen der Geltung des ABGB in den Ländern der ungarischen Krone sowie seines Fortwirkens haben in der österreichischen (rechts-)historischen Forschungsliteratur bis 1990 eine nur oberflächliche Betrachtung erfahren1. Sehr kursorisch ist dieses Thema auch in den Beiträgen der ungarischen Autoren zum Standardwerk der Geschichte Österreich-Ungarns, „Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918“2, bzw. in dem von Helmut Coing herausgegebenen „Handbuch der Quellen und der Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte“, behandelt worden3. Ausführlichere Darstellungen sind erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten entstanden, und zwar zunächst von Autoren österreichischer Herkunft, die sich mit der Geltung des österreichischen ABGB in Ungarn und seinen Nebenländern bis zum Ausgleich von 18674 bzw. bis zum Ende der Monarchie und darüber hinaus5 ausein* Das Manuskript zu diesem Beitrag war im Wesentlichen bereits 1995 abgeschlossen und wurde zuletzt 2003 inhaltlich überarbeitet und ergänzt. Die mittlerweile erschienene Literatur konnte lediglich in den Fußnoten berücksichtigt werden. 1 Vgl. etwa: L. Rvsz, Die Bedeutung des Neoabsolutismus für Ungarn, in: Der Donauraum. Zeitschrift des Forschungsinstituts für den Donauraum 14 (1969), 142 ff.; H. Hofmeister, Vom Sylvesterpatent zum Oktoberdiplom – die Periode der Rechtseinheit im pannonischen Raum, in: Bericht über den 17. Österreichischen Historikertag in Eisenstadt (Veröffentl. des Verbandes der österr. Geschichtsvereine 26), 1989, 158 f. (ein von Hofmeister 1979 in Budapest präsentierter Vortrag über „Die ungarische Judexkurialkonferenz von 1861 aus österreichischer Sicht“ ist nur in ungarischer Sprache veröffentlicht worden, nämlich in der Schriftenreihe des damaligen rechtsgeschichtlichen Instituts der Eötvös-Lorand-Universität Budapest, Budapest 1980, 127 ff.). 2 G. Barany, Ungarns Verwaltung, in: A. Wandruszka/P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band II (Verwaltung und Rechtswesen), 1975, 353 f.; sowie B. Sarls, Das Rechtswesen in Ungarn, ebda 514 f. 3 J. Zlinszky, Ungarn, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band III (Das 19. Jahrhundert) / Teilband 2 (Gesetzgebung zum allgemeinen Privatrecht und zum Verfahrensrecht), 1972, 2141 ff. und 2178 ff. passim. 4 St. Malfr, Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch in Ungarn zur Zeit des „Provisoriums“ 1861 – 1867, in: ZNR 14, 1992, 32 ff.; Ch. Neschwara, Die Geltung des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches in Ungarn und seinen Nebenländern von 1853 bis 1861, in: SZ. Germ. Abt, 113, 1996, 362 ff. 5 Ch. Neschwara, Zur Geltung des ABGB in Ungarn: Verfassungsrechtlich bedingte Adaptation einer Kodifikation, in: P. Caroni/E. Dezza (Hrsg.), LABGB e la codificazione as-
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andersetzen. In jüngster Zeit hat diese Thematik aber zunehmend auch das Interesse von Autoren ungarischer Herkunft gefunden und zahlreiche Beiträge dazu auch in deutscher Sprache hervorgebracht6.
burgica in Italia e in Europa, in: Pubblicazioni della Universit di Pavia. Facolt di Giurisprudenza. Studi nelle scienze giuridiche e sociali, Nuovo serie 112, Mailand 2006, 450 – 478; ders., Österreichs Recht in Ungarn – Geltung und Wirkung vor und nach dem Ausgleich, in: B. Mezey (Hrsg), Der österreichisch-ungarische Ausgleich 1867 in: B. Mezey (Hrsg.) Rechtsgeschichtliche Vorträge der Rechtsgeschichtlichen Forschergruppe der Ungarischen Akademie der Wissenschaften an dem Lehrstuhl für Ungarische Rechtsgeschichte Eötvös Lornd Universität, Heft 52, Budapest 2008, 104 – 112 [in ungarischer Übersetzung erschienen als: Az osztrk jog Magyarorszgon, in: Jog-törtneti szemle 3/2007, Budapest-Györ-Miskolc 2008, 42 – 46]; ferner zur Drucklegung vorbereitet: ders., Gescheiterte Modernisierung durch Transfer: Der orbius juris austriacus und die ungarische Rechtskultur im 19. Jahrhundert (in ungarischer Übersetzung für: Institut für Rechtsgeschichte / Unversität Pecs, Gastvorträge). 6 I. Kajtr, Österreichisches Recht in Ungarn (Die Probleme der Rezeption und Identität während der Modernisation des ungarischen Rechtssystems um die Mitte des 19. Jahrhunderts), in: O.M. Pter/B. Szab (Hrsg.), A bonis bona discere. Festgabe für Jnos Zlinszky zum 70. Geburtstag (= Ünnepi Tanulmnyok V), Miskolc 1998, 451 ff.; ferner ebda: K. Gönczi, Die historische Rechtsschule in Ungarn und ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe, 429 – 450; J. Balogh, Österreichische Recht in Ungarn und in Siebenbürgen – Westeuropäische Einflüsse auf das ungarische Zivilrecht im 19. Jahrhundert, in: M. Polaschek/A. Ziegerhofer (Hrsg.), Recht ohne Grenzen. Grenzen des Rechts. Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Graz 1997, Frankfurt/Main-u. a. 1998, 123 ff.; K. Gönczi, Die deutschungarischen Rechtsverbindungen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart: Wissenstransfer, Kodifikationen und liaison men, in: Osteuropa-Recht. Gegenwartsfragen zu den Rechten des Ostens 46, Berlin 2000, 222 f.; J. Szalma, Parlament und Zivilgesetzgebung in Ungarn, in: G. Mathe/B. Mezey (Hrsg.), Von den Ständeversammlungen bis zum parlamentarischen Regierungssystem in Ungarn. Studien zur Parlamentsgeschichte, Budapest-Graz 2001, 136 f., 140 ff.; M. Homoki Nagy, Die Kodifikationen des ungarischen Zivilrechts im 19. Jahrhundert, in Rechtsgeschichtliche Vorträge der Rechtsgeschichtlichen Forschergruppe der Ungarischen Akademie der Wissenschaften an dem Lehrstuhl für Ungarische Rechtsgeschichte Eötvös Lornd Universität, hrsg. von B. Mezey, Heft 25), Budapest 2004; G. Hamza, Beitrag zur Geschichte der Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Ungarn, in: ders., Symposion Hundert Jahre BGB. Entwicklung des Privatrechts im deutschen und mittel-osteuropäischen Sprachraum seit dem Inkrafttreten des BGB, 13.–14. Oktober 2000 Budapest (= Bibliotheca Iuridica. Publikationen der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös Lornd Universität. Acta Congressuum 3), Budapest 2006, 1 – 12; ebda, A. Harmathy, Die Entwicklung des ungarischen Privatrechts, 56 – 67; J. Szalma, Der Einfluss des ABGB in der präzedenziellen Rechtsprechung des ungarischen Obersten Gerichtshofes (Curia) zum Schadenersatzrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: G. Kohl/Ch. Neschwara/Th. Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, 661 – 676; B. Mezey, Richter und Gerichtshöfe (Jahrhunderte des ungarischen Gerichtssystems), in: G. Math/B. Mezey (Hrsg.), Rechtsgeschichtliche Studien. Beiträge zur Institutionsentwicklung in der ungarischen Rechtsgeschichte, Passau-Budapest 2008, 35 – 61; M. Homoki-Nagy, Anmerkungen zur Entwicklung des ungarischen Privatrechts im 19. Jahrhundert, in: E. Jakab / W. Ernst (Hrsg.), Kaufen nach römischem Recht. Antikes Erbe in den europäischen Kaufrechtsordnungen, Berlin-Heidelberg 2008, 105 – 121, besonders 105 ff.; G. Hamza, Geschichte der Kodifikation des Zivilrechts in Ungarn, in: Anuario da Facultade de Dereito da Universidade da CoruÇa. Revista jurdica interdisciplinar internacional 12 (2008), 533 – 544.
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II. Die Einführung des ABGB 1. Bedingungen und Umfeld a) Verfassungsrechtliche Grundlagen Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) brachte mit seinem Inkrafttreten am 1. Jänner 1812 im Kaisertum Österreich erstmals die Rechtseinheit im Privatrecht, allerdings nicht im Gesamtstaat, sondern bloß für einen Teil davon, nämlich für die sogenannten deutschen Erbländer, welche bis 1806 zum Verband des Heiligen Römischen Reiches gehörten, ferner für Galizien und die Bukowina sowie die kroatischslawonische Militärgrenze7; später erfolgte eine Ausdehnung des Geltungsbereiches auf Lombardo-Venetien (1815) und Dalmatien (1816)8. Die Nichteinbeziehung des ungarischen Länderkomplexes in die Rechtsvereinheitlichung war eine Konsequenz der verfassungsrechtlichen Sonderstellung dieser Länder im Verband des habsburgischen Gesamtstaates, die sich etwa in der Existenz von eigenen Zentralbehörden sowie einer eigenständigen Behördenorganisation auf mittlerer und lokaler Ebene manifestierte. Die Geltung von „allgemeinen“ Gesetzen beschränkte sich daher in der Regel auf die nichtungarischen Länder. Bemühungen, auch den Komplex der ungarischen Länder in die Rechtsvereinheitlichung des Gesamtstaates einzubeziehen, wie insbesondere unter Josef II., blieben Episode: So wurde etwa nach dem Erlass des Teil-ABGB von 1786 die in Wien mit den Arbeiten an den noch ausständigen Teilen der in drei Büchern geplanten Privatrechtskodifikation befasste Gesetzgebungskommission 1788 um zwei Räte der ungarischen bzw. siebenbürgischen Hofkanzlei erweitert9. Darüber hinaus war bereits 1786 das erbländische Ehepatent von 1783 auch in den ungarischen Ländern – Siebenbürgen allerdings ausgenommen – eingeführt worden10. Die Rechtseinheit im Eherecht dauerte jedoch nur kurze Zeit. Unmittelbar nach dem Tod von Josef II. wurde dort zunächst die Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche in Ehesachen wiederhergestellt; nach den Beschlüssen des Landtags von 1790/91 musste das bis dahin im materiellen Sinn vereinheitlichte staatliche Eherecht wieder einer Vielzahl
7 U. Wagner, Zur Geschichte des Privatrechts der österreichischen Militärgrenze, in: Die wichtigsten Gesetzgebungsakte in den Ländern Ost-, Südosteuropas und in den ostasiatischen Volksdemokratien, 1966. 8 Dazu grundsätzlich: W. Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, 247 f. 9 Dazu Ph. Harras v. Harrasowsky, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen, Band IV (Entwurf Horten), 5 Fn. 8; ders., Geschichte der Codification des österreichischen Civilrechtes, 1868, 152. – Vgl. Kajtr, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 6, 452. 10 Vgl. dazu F. Mdl, Kodifikation des ungarischen Privat- und Handelsrechts im Zeitalter des Dualismus, in: A. Csizmadia/K. Kovcs (Hrsg.), Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa, Budapest 1970, 93.
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von konfessionellen Eherechtssystemen weichen11. Die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Länder Ungarns im Staatsverband des Kaisertums Österreich ließ eine Einbeziehung dieser Länder ohne Mitwirkung der Landstände nicht zu. Erst der Verlust dieser verfassungsrechtlichen Sonderstellung durch die für den gesamten Staatenverband des Kaisertums Österreich geltende Reichsverfassung 1849 ermöglichte es, eine Ausdehnung der Geltung des ABGB auf alle Teile des Staatsgebietes, also auch auf die ungarischen Länder, in Aussicht zu nehmen. Zu den für alle Länder gemeinsamen Reichsangelegenheiten zählte nunmehr unter anderem auch das gesamte Justizrecht, also die Gerichtsverfassung, das Strafrecht, die Verfahrensrechte sowie explizit auch „das bürgerliche Recht“12. Zunächst blieben aber die für „Ungarn, Siebenbürgen, Kroatien, Slawonien, samt dem kroatischen Küstenlande und Fiume“ bestehenden Bestimmungen des „bürgerlichen Rechts“ in Geltung. Doch wurde für diese Kronländer zugleich auch angeordnet, „die bisherige Gesetzgebung“ im Bereich des Zivilrechts „einer Revision zu unterziehen, um … die gewünschte Übereinstimmung der Gesetzgebung in allen Teilen des Reiches“ auf diesem Gebiet herzustellen13. Wie der Großteil der Verfassung 1849 nicht effektiv geworden war, so blieb auch dieser verfassungsrechtliche Auftrag unrealisiert. Nach der formellen Aufhebung der Verfassung zu Silvester 185114 wurde aber mit den gleichzeitig erlassenen Organisationsgrundsätzen15 das ABGB „als das gemeinsame Recht für alle Angehörigen des österreichischen Kaiserstaates“ erklärt. Es sollte daher „auch in jenen Ländern, in welchen es dermalen noch nicht Geltung hat“, also in den ungarischen Ländern, „eingeführt“ werden, allerdings erst „nach und mit angemessenen Vorbereitungen“ sowie unter „Beachtung der eigentümlichen Verhältnisse“ in diesen Kronländern. Unter einem neuen, dem umfassenden Geltungsbereich angepassten Titel wurde das ABGB in diesen Ländern als „Allgemeines österreichisches bürgerliches Gesetzbuch“ im Verlauf des Jahres 1853 eingeführt. Mit Geltungsbeginn ab 1. Mai 1853 trat es in Ungarn und in dessen 1849 als Kronländer verselbständigten ehemaligen Nebenländern Kroatien, Slawonien, der Woiwodschaft Serbien mit dem Temeser Banat, sowie mit Wirksamkeitsbeginn ab 1. September 1853 im 1849 ebenfalls verselbständigten Siebenbürgen – jeweils mit einer Reihe von inhaltlichen Modifikationen – in Kraft16.
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I. Schwartz, Die geschichtliche Entwicklung des ungarischen Eherechts, in: JBl 23, 1894,
505. 12 13 14 15 16
§ 68 (1) Reichsverfassung 1849 (RGBl. Nr. 150). § 69 (2) Reichsverfassung 1849. RGBl. Nr. 1 und 2/1852. RGBl. Nr. 4/1852. KdmP. für Ungarn: RGBl. Nr. 246/1852; für Siebenbürgen: RGBl. Nr. 99/1853.
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b) Das ungarische Privatrecht zur Zeit der Einführung des ABGB aa) Entwicklung bis Mitte des 19. Jahrhunderts Die Einführung des ABGB erfolgte in Ungarn zu einer Zeit, als 1848 die seit Ende des 18. Jahrhunderts anlaufenden Bemühungen17 um eine Reform des in seinen mittelalterlichen Wurzeln versteinerten Privatrechts in eine entscheidende Phase getreten waren. Das Jahr 1848 markiert daher eine scharfe Zäsur in der Privatrechtsentwicklung Ungarns18. Bis dahin zeichnete sich das ungarische Privatrecht durch einen eigenartigen, mittelalterlich-ständisch geprägten Charakter aus. Es handelte sich im Wesentlichen um ein gewohnheitsrechtlich gebildetes Recht. Seine hauptsächliche Quelle bildete das sogenannte Tripartitum des Stefan Werböczy, ein Rechtsbuch, das 1514 fertig gestellt, ursprünglich zwar als Gesetzbuch konzipiert, aber aus formellen Gründen nie zum Gesetz geworden war. Nach seiner Drucklegung als Privatarbeit in Wien 151719 erlangte es in der Praxis aber rasch gewohnheitsrechtliche Anerkennung. Hinzu kam eine Reihe von Gesetzen („Decreta“), vom König förmlich sanktionierte Beschlüsse des Landtags, die seit 1696 gemeinsam mit dem Tripartitum im offiziösen „Corpus Juris Hungarici“ gesammelt und veröffentlicht wurden. Dieses enthielt die seit Anfang des 16. Jahrhunderts bis zur Regierungszeit von Maria Theresia erlasse-
17 So erfolgte 1791 auf Beschluss des Landtags die Einsetzung einer „Deputatio juridica“ zur Aufzeichnung unter anderem des Privatrechts in einem Gesetzbuch: Zehntbauer, Einführung in die Geschichte des ungarischen Privatrechts, 1916, 20 f.; A. Plosz, Ungarns Justizwesen, in: Zeitschrift für Ungarisches Privatrecht (ZUÖP) II (1896), 25; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, 94, wie Fn. 10; Harmathy, Entwicklung, in: Hamza, 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch, wie Fn. 6, 56 f.; K. Gönczi, Bayern als Vorbild für die ungarische Rechtsmodernisierung im 19. Jahrhundert, in: Ungarn-Jahrbuch 27, 2004, 387 – 399, besonders 391 ff; Homoki Nagy, Kodifikation des ungarischen Zivilrechts, 3 ff. – Zur Gerichtsverfassung: Mezey, Richter, in: Math/Mezey, wie Fn. 6, 35 ff. 18 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 87 ff.; C. Putz, System des ungarischen Privatrechts, Wien 1870, 53 ff., 58 ff., 60 ff.; F. Schlegelberger (Hrsg.), Rechtsvergleichendes Handwörterbuch für das Zivil- und Handelsrecht des In- und Auslandes, Berlin 1929, I (Länderberichte), 276 ff.; A. Almsi, Ungarisches Privatrecht I, Berlin-Leipzig 1924, besonders 3 ff.; Zehntbauer, wie Fn. 17, 20 f.; vgl. auch Plosz, in: ZUÖP II (1896), , wie Fn. 17, 23 ff.; J. Zlinszky, Wissenschaft und Gerichtsbarkeit. Quellen und Literatur der Privatrechtsgeschichte Ungarns im 19. Jahrhundert (= Ius Commune. Sonderhefte 91), Frankfurt/Main 1997, 7 f. 19 Der lateinische Titel der gedruckten Ausgaben lautete: Opus tripartitum juris consuetudinarii inclyti regni Hungarici. – Zu den weiteren Ausgaben bis in das 19. Jahrhundert hinein in lateinischer Sprache sowie zu den deutschen und ungarischen Übersetzungen: Putz, wie Fn. 18, 56; E. Heymann, Das ungarische Privatrecht und der Rechtsausgleich mit Ungarn, Tübingen 1917, 9 ff. – Zu seiner Verbreitung in Österreich: W. Brauneder, Österreichischungarische Rechtsbeziehungen am Beispiel des ungarischen Tripartitum, in: K. Ebert (Hrsg.), Festschrift zum 80. Geburtstag von Hermann Baltl, Wien 1998, 11 ff.
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nen ungarischen Gesetze; es wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig in Neuauflagen nachgedruckt20. Das Tripartitum bildete auch das Verbindungsstück der ungarischen Privatrechtsentwicklung zu jener Siebenbürgens21, wo es seit 1691 als gesetzesgleiche Quelle eine weitgehende Rechtseinheit zwischen Ungarn und Siebenbürgen, bis zu dessen Eingliederung in den ungarischen Staatenverband 1848, wahrte. Siebenbürgen, seit 1540 ein selbständiges Fürstentum und bis 1848 von Ungarn abgesondert verwaltet, besaß auch eine eigene Gesetzgebung, wogegen in Kroatien und Slawonien das „Corpus Juris Hungarici“ galt, dort freilich in Verbindung mit und neben landständischem Statutarrecht22. Hinzu kamen als weitere Quellen des Privatrechts noch die Entscheidungen des ungarischen Höchstgerichts, der königlichen Kurie, denen bei gleichförmiger Rechtsprechung in Einzelfällen die Wirkungen von Präjudizien, also generelle Wirkung, zukam; schließlich zählten zu den Quellen des ungarischen Privatrechts auch noch königliche Privilegien für Einzelpersonen, Familien oder Sachen23. Bedingt24 durch die Nachwirkungen der türkischen Besatzungszeit und das Fortwirken von Rechts- und Wirtschaftsinstituten, die noch im Mittelalter wurzelten, stagnierte die ungarische Rechtsentwicklung bis Ende des 18. Jahrhunderts, im Privatrecht sogar bis 1848. Das ungarische Privatrecht wies daher bis dahin starke feudale Bindungen, insbesondere im Familien-, Sachen- und Erbrecht, auf: Aufgrund eines eigentümlichen adeligen Lehn- und Erbgütersystems, dem sog. Donationssystem25 20 Corpus Juris Hungarici Seu Decretum Generale Inclyti Regni Hungariae Partiumque Eidem Annearum …, in drei Bänden erschienen 1751 in Tyrnau (= Nagyszombat/Slowakei) sowie 1779, 1822 und 1844 in Ofen (Buda). 21 M. Füger v. Rechtborn, Das alte und neue Privatrecht in Ungarn, Hermannstadt 1858, 3 ff. 22 Autonom (unter Umständen mit königlicher Genehmigung) von den Munizipien (StadtGemeinden) und Komitaten (Selbstverwaltungs-Bezirke) erlassen. 23 Putz, wie Fn. 18, 58 ff.: Die königliche Kurie bestand aus den Mitgliedern des Gerichts der Landstände, der Septemviraltafel (ursprünglich sieben Mitglieder, nämlich der königliche Palatin sowie je drei weltliche und geistliche Magnaten; daher auch diese Bezeichnung) und dem königlichen Gericht, der Königlichen Tafel. – Unter Maria Theresia wurden die Entscheidungen der Kurie aus dem Zeitraum von 1723 bis 1769 amtlich gesammelt (sog. „Planum tabularae“) und 1800 auch in Preßburg gedruckt; danach bestanden private Sammlungen mit Entscheidungen bis 1847; Schlegelberger, wie Fn. 18, 277 f. – Dazu aus ungarischer Sicht in jüngerer Zeit: J. Zlinszky, Die Rolle der Gerichtsbarkeit in der Gestaltung des ungarischen Privatrechts vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ius Commune. Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Band X (1983), 49 ff.; F. Majoros, Zur Gesetzgebung des Fürstentums Siebenbürgen (XVI.-XVII. Jh.) Ein breites Feld religiöser Toleranz, in: M. Hofmann/H. Küpper (Hrsg), Kontinuität und Neubeginn. Staat und Recht in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Festschrift für Georg Brunner aus Anlaß seines 65. Geburtstags, Baden-Baden 2001, 409 – 416. 24 Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2197 ff.; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10 89 f.; Zehentbauer, wie Fn. 17, 21 f.; Heymann, wie Fn. 19, 12. 25 Das Donationssystem war geprägt vom Grundsatz, dass alles Land im Eigentum der Krone stehe. Der König gab Liegenschaften samt den darauf haftenden Herrschaftsrechten an Adelige, freie Städte und die Kirche als „Donation“ weiter. Die königlichen Schenkungen waren zwar in der Regel mit dem Recht der Erblichkeit verbunden, fehlten jedoch erbberech-
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bzw. der sog. Avitizität26, war ein freier Liegenschaftsverkehr nicht möglich; Beschränkungen im Liegenschaftsverkehr bestanden aber auch für Stadtbürger, für die geistlichen Einrichtungen sowie in Bezug auf die Krongüter; gänzlich von der Verfügung über Liegenschaften ausgeschlossen waren die untertänigen Bauern im Rahmen der Gutsherrschaft. Weder das Inkrafttreten des ABGB in den Erbländern ab 1812 noch die vorübergehende Geltung des Code civil in jenen Teilen der ungarischen Länder, die kurzfristig von 1810 bis 1814 den Illyrischen Provinzen des napoleonischen Frankreich zugehörten, und auch nicht die vorübergehende Einführung des ABGB im ungarischen Küstenland von 1815 – 1822, konnten auf dem Gebiet des allgemeinen Privatrechts dem Kodifikationsgedanken in Ungarn entscheidende Impulse verleihen27. Die Idee einer umfassenden Rechtsreform, die auch das Privatrecht einschließen sollte, gewann aber ab 1825 zunehmend an Bedeutung28. Einer der prominentesten Befürworter einer Rechtserneuerung in Ungarn, Graf Carl Szchenyi, sah in der Kodifikationsidee vor allem auch ein Mittel für wirtschaftliche Reformen. Um aber den Weg zu einer Kodifikation des Privatrechts zu eröffnen, hätte man aus seiner Sicht „neun
tigte Nachkommen des ursprünglichen Donationsempfängers, so kam es zum Rückfall des Schenkungsgutes an die Krone, und zwar unabhängig davon, ob die Donation inzwischen durch allfällige Verfügung eines Donationsinhabers an Dritte veräußert worden ist. Solchen Erwerbern stand allerdings die Möglichkeit offen, eine „nova donatio“ vom König zu erwirken und so den Titel ihres Erwerbes erneuern zu lassen: Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2198 ff.; Schlegelberger, wie Fn. 18, 276 f.; Th. Kern, Die gesetzliche Erbfolge in Ungarn, in: (Grünhuts) Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 24, 1897, 5 ff., besonders 9 f.; A. Meszlny, Alt-Ungarn in seiner Rechts- und Wirtschaftsorganisation, in: Jung-Ungarn. Monatsschrift für Ungarns politische, geistige und wirtschaftliche Kultur, Band 1, 1911, 1311 ff. 26 Die Avitizität stand in engem Konnex zum Donationssystem; sie sollte gewährleisten, dass die Donation den erbberechtigten Nachkommen des jeweiligen Inhabers vererbt wird. Dieser konnte zwar durch letztwillige Verfügung die männlichen oder weiblichen Nachkommen begünstigen, erlosch aber die zunächst bevorzugte Linie, fiel das Erbe an die andere. Der letzte Donationsinhaber einer aussterbenden Linie konnte zu Ungunsten der subsidiär erbberechtigten anderen Linie nicht mehr über das Donationsgut verfügen, sondern musste diese Näherberechtigten bei entgegenstehenden Verfügungen um ihre Zustimmung angehen; er verlor also sein freies Verfügungsrecht. Den Seitenverwandten stand somit in diesem Fall ein Anwartschaftsrecht zu. Wurden sie vom Donationsinhaber zur Ausübung dieses Rechts aber nicht aufgefordert, so konnten sie oder auch ihre Nachkommen das Donationsgut von jedem dritten Erwerber herausverlangen und gegen Erlag des Kaufpreises an sich ziehen. Die Folgen dieser Regelung waren oft außerordentlich langwierige Prozesse um die Geltendmachung von Donationsansprüchen übergangener Erben. Wer Liegenschaftseigentum nicht aufgrund einer Donation erworben hatte, musste wegen des strengen „nemo plus iuris“-Prinzips ständig damit rechnen, mit Herausgabeansprüchen Dritter konfrontiert zu werden; daraus resultierte auch die starke Beeinträchtigung des Wirtschaftsverkehrs in Ungarn, weil es bei Liegenschaften keinen Schutz gutgläubigen Erwerbs gab: Kern, in: (Grünhuts) Zeitschrift, wie Fn. 25, 9 f.; Meszlny, wie Fn. 25, 1311 ff.; Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2198 ff.; Rvsz, Neoabsolutismus, in: Der Donauraum 14 (Wien 1969), 146 f. 27 Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2149 f. 28 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 95 f.; Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2160 f.
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Zehntel von Werböczy verbrennen“ müssen, und auch „wenigstens neun Zehntel … des Corpus iuris“ Hungarici29. Eine der hauptsächlichen Stoßrichtungen der im Vormärz wachsenden Kodifikationsbewegung in Ungarn war es also, den im Privatrecht unüberschaubar gewordenen Quellenpluralismus zu beseitigen und durch modernes, kodifiziertes Recht zu ersetzen, womit sich als weitere Ziele auch die Beseitigung der Zersplitterung der ungarischen Länder in mehrere Rechtsgebiete sowie die Befreiung des ungarischen Privatrechts von seinen feudal-ständischen Wurzeln verbanden. Auf den Landtagen von 1832/34, 1840 und 1844 erfolgte zunächst ein teilweiser Abbau adeliger Vorrechte sowie die Schaffung eines beschränkten bäuerlichen Verfügungsrechts über Liegenschaften. Dadurch wurde der Boden für die Verwirklichung einer Privatrechtskodifikation vorbereitet30. Zunächst war 1840/44 eine Reihe von kodifikationsartigen Gesetzen aber nur im Bereich des Sonderprivatrechts realisierbar gewesen. Sie betrafen vor allem das Handelsrecht31, das in seiner Funktion als Obligationenrecht für den Handelsstand aber auch allgemeinprivatrechtliche Normen schuf; etwa in Bezug auf Vertragstypen wie Kauf und Tausch, bestimmte Arbeitsverhältnisse, Auftrag, Hinterlegung, Leihe und Miete. So konnte das Handelsrecht einen bedeutenden Beitrag auch zur Modernisierung des ungarischen Privatrechts leisten32.
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Th. Vcsey, Graf Stefan Szchenyi und das ungarische Privatrecht, in: ZUÖP I (1895), 427 ff., besonders 428. 30 Der junge Franz Dek machte sich auf dem Landtag 1834 zum Wortführer einer zeitgemäßen Erneuerung des allgemeinen Privatrechts in Anlehnung an die bereits bestehenden Kodifikationen in Preußen sowie in Frankreich und auch der österreichischen Gesetzbücher: K. Gönczi, in: Ungarn-Jahrbuch 27, wie Fn. 6, 393; dies., in: Festgabe Zlinszky, wie Fn. 6, 440 ff., sowie B. Szab, Dek und das Privatrecht, in: G. Math/B. Mezey (Hrsg.), Nationalstaat – Monarchie – Mitteleuropa – zur Erinnerung an den „Advokaten der Nation“, Ferenc Dek (= Bibliotheca Iuridica Az ELTE llam-s Jugtudomnyi Karnak tudomnyos kiadvnayai. Acta Congressum 13, Budapest 2004) 31 A. Rentmeister, Ein Blick auf die rechtswissenschaftliche Literatur und den Zustand des Rechtsunterrichts in Ungarn, in: (Haimerls) Vierteljahresschrift für Rechts- und Staatswissenschaft 27, Wien 1866, 265; – dazu auch K. Gönczi, Wissenstransfer bei den Kodifikationsarbeiten im ungarischen Vormärz, in: Ius Commune. Zeitschrift für europäische Rechtsgeschichte XXV, Frankfurt/Main 1998, 273 ff. 32 Rentmeister, Rechtswissenschaftliche Literatur, in: (Haimerls) Vierteljahresschrift 27 (1866), 265, meinte sogar, dass man mit der Kodifikation des Wechselrechts 1840 im damaligen Ungarn – verglichen mit der Entwicklung bis dahin – „einen wahren salto mortale mitten hinein in das moderne Rechtsleben gethan“ habe. – Auch Zlinszky, Wissenschaft und Gerichtsbarkeit, 60, konstatiert, dass im ausgehenden Vormärz in Ungarn „die Wissenschaft auf dem Gebiet des Handelsrechts mit der Entwicklung“ wie sie in Mitteleuropa bereits in voller Entfaltung begriffen war, durchaus „Schritt gehalten“ habe; vgl. dazu aber Zweifel an dieser These seitens Gönczi, in: Ius Commune XXV, wie Fn. 31, 275.
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Die Kodifikationsbemühungen33 kulminierten schließlich auf dem RevolutionsLandtag von 1847/4834. Diese am 12. November 1847 in Preßburg als „Reichstag“ eröffnete Ständeversammlung beschloss unter anderem auch 31 Gesetzartikel (GA), welche als „ungarische Verfassung des Jahres 1848“ bekannt geworden sind. Am 11. April 1848 wurde diese Verfassungskompilation von Kaiser Ferdinand in Wien sanktioniert. Damit war Ungarn – unter Einbeziehung von Kroatien-Slawonien einschließlich der kroatischen Militärgrenze (GAV) sowie auch von Siebenbürgen (GAVII)35 auf dem Weg zum Übergang von einer altständischen zu einer nahezu parlamentarischen Monarchie. Mit dem revolutionären Programm der „Bauernbefreiung“ (GA IX) und der „Beseitigung adeliger Vorrechte“ (GA III, IV, VIII und XI) hatten die Landstände Ungarns radikal mit der bisher herrschenden Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung gebrochen. Es war daher eine völlige Neuordnung des Sachen- und Erbrechts notwendig geworden. Die Forderung nach der Schaffung eines modernen privatrechtlichen Gesetzbuches konnte auch nicht ausbleiben: Der damalige Justizminister, Franz Dek, wurde beauftragt, den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches auszuarbeiten und dem nächsten Landtag vorzulegen; zugleich wurde, um die Kodifikationsbewegung zu beschleunigen, auch die Avitizität aufgehoben (GA XV). Zu der vom Landtag geforderten Kodifizierung des ungarischen Privatrechts konnten aber – trotz Einrichtung einer eigenen Kodifikationsabteilung im Justizministerium36 – nicht einmal Vorarbeiten geleistet werden. Durch die Einbeziehung in den Geltungsbereich der Reichsverfassung 184937 verlor Ungarn sodann seine erst 1848 gewonnene verfassungsrechtliche Sonderstellung, und damit war auch den ungarischen Kodifikationsbestrebungen der Boden entzogen worden38.
33 Kajtr, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 6, 454 f.; dazu auch Hamza, in: Hamza, wie Fn. 6, 1 f. 34 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 98; Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2151, 2157. 35 Die Fusion Ungarns mit Kroatien-Slawonien, der kroatischen Militärgrenze (Gesetzartikel V) und Siebenbürgen (Gesetzartikel VII) war freilich – trotz zustimmender Landtagsbeschlüsse – nicht effektiv geworden: E. Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, 2. Aufl. Wien 1910, 78. 36 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 100; K. Szladits, Franz Dek und unser heutiges Privatrecht, in: ZUÖP IX (1903), 326. – Ihr Leiter war Ladislaus Szalay, der bereits um 1840 als Befürworter der Kodifikationsidee im Strafrecht hervorgetreten ist: Mdl, in: Csizmdia/ Kovcs, wie Fn. 10, 96 f., 100 Fn. 32 b. 37 Die schon zu Anfang Oktober 1848 erfolgte Auflösung des ungarischen „Reichstags“ blieb zunächst fruchtlos, ebenso blieb der Erlass der Verfassung 1849 zunächst ohne Wirkung, ja der ungarische Landtag erklärte am 15. April 1849 sogar die Absetzung der Dynastie und stattete den „Regierungschef“ Ludwig Kossuth als „Reichsverweser“ (Staatsoberhaupt) mit umfassenden Vollmachten aus. Erst nach einer militärischen Intervention österreichischer Truppen unter Mithilfe Russlands musste sich die ungarische Armee Mitte August 1849 bei Vilagos ergeben: Bernatzik, wie Fn. 35, 82. 38 Zlinszky, in: Coing III/2, 2195 ff., 2198 ff.; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 99; ebda, E. Böszörmnyi-Nagy, Das ungarische Erbrecht im Dualismus, 415.
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bb) Wahrnehmung in Cisleithanien In den Erbländern hatte man vor 1848 nur wenig Kenntnisse über den Stand der ungarischen Rechtsentwicklung: Karl Josef Pratobevera etwa stellte 1815 im ersten Band der von ihm in Wien herausgegebenen „Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege in den österreichischen Erbstaaten“39, der damals einzigen juristischen Fachzeitschrift40, in einer Anmerkung zu seinen „Beiträgen zur neuesten Geschichte der österreichischen Gesetzgebung“, fast resignierend fest: Zur Vollständigkeit seines Beitrags müsste er eigentlich auch einen „Rückblick auf die Gesetzgebung Ungarns“ geben, „allein darüber mangeln … die nöthigen Notizen“41. Auch die als Nachfolgerin der „Materialien“ ab 1825 in Wien von Vinzenz August Wagner herausgegebene „Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzkunde“ enthält in den 75 bis zu ihrer Einstellung 1849 erschienenen Bänden nur einige wenige Beiträge, die sich mit der Rechtsentwicklung in Ungarn befassen42, und überhaupt nur einen einzigen Beitrag, der sich mit ungarischem Privatrecht auseinander-
39 Zu den Materialien im Detail: Ch. Neschwara, Über Carl Joseph von Pratobevera. Ein Beitrag zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte des österreichischen Rechts im Vormärz, in: W. Ingenhaeeff/G. Staudinger/K. Ebert (Hrsg.), Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf Palme, 2002, 369 – 394, besonders 379 – 384. – Sie galten als „eine nicht ganz mißrathene Fortsetzung der zu früh geschlossenen jährlichen Beyträge des Hrn. Hofrathes von Zeiller“: So Pratobevera selbst in der Vorerinnerung zu Band 1 (Wien 1815) seiner Materialien, VI.; vgl. dazu auch B. Dölemeyer, Zur Frühgeschichte des juristischen Zeitschriftenwesens in Österreich, in: M. Stolleis/Th. Simon (Hrsg.), Juristische Zeitschriften in Europa, 2006, 269 – 285, besonders 270 ff. – Zu Zeillers „Beyträge“ siehe sogl. die folgende Fn. 40 Keinerlei Bezüge auf die Rechtsentwicklung in Ungarn finden sich in der von Franz Zeiller in Wien von 1806 bis 1809 herausgegebenen Zeitschrift „Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten“, 4 Bände (Wien 1810/ 11 in unveränderter Neuauflage unter dem Titel „Vorbereitung zur neuesten oesterreichischen Gesetzkunde im Straf- und Civil-Justiz-Fache …“); dasselbe gilt für das nur kurzzeitig 1814/15 in Graz von Carl Wagersbach herausgegebene „Archiv für wichtige Anordnungen in den k.k. österreichischen Staaten über Kriminal- und Ziviljustiz …“. 41 Pratobeveras Materialien 1/1815, 246 Fn. *. 42 Wagners Zeitschrift 1826 II, 134 ff.: J. Jung, Das Indigenat im Königreiche Ungarn; 1828 III, 287 ff.: (J. Jesser, Rezension zu) Darstellung des ungarischen Privat-Rechts, bearbeitet von Johann Jung … (2. Aufl. 1827); ebda, 499 ff.: (J. Wessely, Rezension zu) Jus personarum regnis Hungarici, secundum systema codicis civilis imperii Austriaci, elaboratum per Joannem a Jung, 1828; 1829 III, 288 ff.: (annyme Rezension zu) I. Frank, Principia juris civilis Hungarici, Pest 1829; die der anonyme Rezensent als eine „sehr schätzbare Abhandlung“ und als ein „vortreffliches Handbuch“ würdigte; Wagners Zeitschrift 1839 III, 142 ff., 162 ff.: 1. J. N. Preyer, Des ungarischen Bauern früherer und gegenwärtiger Zustand …, Pest 1838; 2. Johann Mailth, Das ungarische Urbarialsystem …, Pest/Leipzig 1838.1830 II, 112 ff.: J. P. Nmethy, Darstellung der von Sr. Majestät genehmigten Beschlüsse des letzten ungarischen Reichstages; 1832 III, 184 ff.: (anonyme Rezension zu) Enchiridion seu Tractatus benignarum normalium ordinationum regiarum praecavenda … per .. Ignatii Kassics, … Pest 1825; 1833 III, 231 ff.: J. P. Nmethy, Darstellung der von … Franz I. genehmigten Gesetzartikel des vorletzten ungarischen Reichstages im Jahre 1830. – Zu Wagners Zeitschrift: Dölemeyer, in: Stolleis/Simon, wie Fn. 39, 275 ff.
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setzt43. Bezeichnend ist, dass der Autor dieses Beitrages, Johann Jung, Landesadvokat in Ungarn, an der Universität Wien Lektor für allgemeines ungarisches Privatrecht gewesen ist. Solche „fremde Rechte“ waren – soweit sie auch für den österreichischen Juristen von Interesse sein konnten – gemäß Studienordnung von 1810 in den Studienplänen an den einzelnen juristischen Fakultäten als Nebenfächer vorzusehen. Hierzu zählte eben auch das ungarische Privatrecht, das in Wien vorerst an der Theresianischen Ritterakademie und dann seit 1819 auch an der Universität im Rahmen von Vorlesungen eingeführt wurde. Erster Dozent für dieses Fach war der erwähnte Johann Jung. Nach den Ankündigungen des Wiener Universitätsschematismus44 dürfte Jung seine Lehrveranstaltungen tatsächlich aber erst 1823 aufgenommen haben; er hielt sie täglich von 10 – 11 Uhr „über sein eigenes Lehrbuch“, und zwar bis 182645. Seine Nachfolger bis 1848 waren Johann Peter Nmethy und Johann Godinger46. Anders als Jung sind sie allerdings mit keinen selbständigen wissenschaftlichen Publikationen zum ungarischen Privatrecht hervorgetreten.47 Von 1832 bis 1851 bestand dann an der Universität Wien sogar eine eigene Lehrkanzel für ungarisches Privatrecht, allerdings in einer merkwürdigen Fächer-Kombination, nämlich in Verbindung mit dem Bergrecht. Für den Vorlesungsbetrieb war den Lektoren für das ungarische Privatrecht als Vorlesebuch das Lehrbuch von Jung vorgeschrieben worden. Das ungarische Privatrecht hat jedenfalls durch seine Einbindung in eine gemeinsame Lehrkanzel mit dem Bergrecht keine Aufwertung, sondern eher eine Verdrängung aus dem Vorlesungsbetrieb erfahren. Jung ist im Vormärz jedenfalls der Autor der einzigen deutschsprachigen Darstellung des ungarischen Privatrechts geblieben: Sein Werk48 hat sich allerdings durch wenig Originalität ausgezeichnet; es folgte nämlich „dem in seiner Art als classisch allgemein anerkannten“ Werk des Pester Rechtsprofessors Emerich Kelemen, Institutiones juris privati Hungarici, das dort 1814 zunächst in Lateinisch und 1822 auch in einer ungarischen Übersetzung erschienen war49. Von den wenigen in Wagners Zeit43 Wagners Zeitschrift 1825 I, 177 – 187, II, 26 – 48 und 368 – 389: J. Jung, Parallelen über die Rechte der Ehegatten auf ihr Vermögen; nach dem allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch und den ungarischen Gesetzen. 44 Archiv der Universität Wien (UA), Wiener Universitätsschematismus 1823. 45 Zu Jungs Biographie: Nekrolog in Wagners Zeitschrift 1828 III, 233 f.; ferner C. Wurzbach, Biographisches Lexikon des österreichischen Kaiserstaates, Band X (Wien 1863), 315. 46 Dazu: Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898, Wien 1898, 160 f. 47 Zu Nmethys Beiträgen in Wagners Zeitschrift siehe oben Fn. 42. 48 Darstellung des ungarischen Privatrechts …, 5 Bände Wien 1818; 2. Aufl. 1827. – Jung hat also bloß eine deutsche Bearbeitung des in lateinischer Sprache erschienen Werkes von Kelemen geliefert; er ist aber 1828 in Wien noch mit einem weiteren Werk über ungarisches Privatrecht, allerdings in lateinischer Sprache hervorgetreten: Jus personarum regnis Hungariae, Wien 1828; bemerkenswert an ihm war der Versuch, das materielle ungarische Personenrecht in der Systematik des ABGB darzustellen: Zlinszky, wie Fn. 18, 8 f. 49 Dazu und zu etwa ein Dutzend anderer Darstellungen des ungarischen Privatrechts in lateinischer oder ungarischer Sprache vom ausgehenden 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts: Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 94 f; Putz, wie Fn. 18, 7 f.; Almsi, Privatrecht.
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schrift enthaltenen Beiträgen, Mitteilungen und Rezensionen abgesehen, ergab aber auch eine Analyse der übrigen in Österreich im Vormärz bestehenden juristischen Zeitschriften, „Der Jurist“50, „Themis“51 und „Archiv für Civil-Justizpflege“52 ein ebenso ernüchterndes Ergebnis. Von ihnen konnten also kaum Wirkungen zur Verbreitung von Kenntnissen über die Rechtsentwicklung in Ungarn, insbesondere seiner Privatrechtssituation, erwartet werden; keine der drei erwähnten Zeitschriften enthält Anzeigen oder Rezensionen über die vor 1848 aktuellste Darstellung des ungarischen Privatrechts, nämlich jene von Ignaz Frank, dem damals führenden ungarischen Zivilisten, die 1845/47 in zwei Bänden in Ungarisch in Ofen53 erschienen war. Ein ähnlich trostloses Bild vermittelt auch die österreichische Privatrechtsliteratur des Vormärz. Die beiden zeitgenössischen juristischen Bibliographien von Johann Kreuzer54 und von Johann Vesque v. Püttlingen55 enthalten keine Hinweise auf ungarisches Privatrecht; ebenso nicht die zeitgenössischen ABGB-Kommentare von Franz Zeiller56, Josef Scheidlein57, Michael Schuster58, Franz Xaver Nippel59, Josef Grundriß der neueren Entwicklung, in: Jahrbuch des ungarischen Rechts 1 (1918), 10 f.; Zlinszky, wie Fn. 18, 6 ff. – Sie alle waren ebenso wie die Praxis über den Rahmen des Tripartitums kaum hinausgekommen. 50 In der von Ignaz Wildner in Wien von 1839 – 1848 in 19 Bänden herausgegebenen Zeitschrift „Der Jurist, eine Zeitschrift vorzüglich für die Praxis des … österreichischen Rechts“ ließen sich überhaupt keinerlei Bezüge auf die Privatrechtsentwicklung in Ungarn feststellen; davon abgesehen finden sich in Band 3 (1843), 317: (I. Wildner, Rezension zu) Ungarns Verfassung, Leipzig 1843; 11 (1844), 356: G. Wenzel, Das Wirken der königlich ungarischen Wechselgerichte; 15 (1846), 111: G. Wenzel, Das Gerichtswesen und die Verfassung der Gerichte in Ungarn und Siebenbürgen, Bezüge auf die ungarische Rechtsentwicklung. 51 Die von Josef Wessely 1835 – 1849 in Prag herausgegebene Zeitschrift „Themis, Sammlung von Rechtsfällen, Abhandlungen und wissenschaftlichen Berichten aus dem Gebiete des Privat- und Strafrechts“ enthält überhaupt keinen einzigen Bezug auf die Rechtsentwicklung in Ungarn. 52 Das „Archiv für Civil-Justizpflege“ wurde von Franz Josef Schopf von 1837 – 1839 in Wien und später ab 1846 in Graz herausgegeben. Es zeigt jedoch – im Vergleich zu den anderen Zeitschriften – ein relativ stärker ausgeprägtes Interesse seines Herausgebers an der ungarischen Rechtsentwicklung. Bemerkswert ist nämlich, dass die Ungarn betreffenden Beiträge allesamt vom Herausgeber selbst herrühren, nämlich die Beiträge in Schopfs Archiv 1 (1837), 422 ff.: Die besonders glaubwürdigen Orte [loca credibilia] im Königreiche Ungarn, und die Beweiskraft der von denselben angefertigten Urkunden; ebda 2 (1838), 134 ff.: Die Erwerbung des ungarischen Adels, des Indigenats, und dessen Rechte; ebda 251 ff.: Ungarns Gerichtsbehörden und deren Wirkungskreis; ebda 3 (1839), 117 ff.: Die adeligen Güter in Ungarn, deren Erwerbung, Veräußerung und Verpfändung; ebda 305 ff.: Die Unterthansverfassung in Ungarn, das Rechtsverhältniß des Grundherrn und Unterthans im Königreiche Ungarn. Diese letzten beiden Beiträge sind für die Vermittlung von Kenntnissen des ungarischen Privatrechts von besonderer Relevanz. 53 Közigazsg törvnye magyar honban (= Das gemeine ungarische Recht). – Dazu auch Zlinszky, wie Fn. 18, 3. 54 Handbuch der Literatur des österreichischen Privatrechts, Wien 1808. 55 Darstellung der Literatur des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Wien 1827. 56 Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch …, Wien-Triest 1812/13.
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Ellinger;60 dasselbe gilt für die Monographien von Thomas Dolliner zum Eherecht61 sowie von Josef Linden zum „Frauenrecht“62 und auch für dessen rechtsvergleichende Darstellung zum vorkodifikatorischen Privatrecht63. Die in Wien in zwei Auflagen 1818 und 1827 erschienene deutschsprachige „Darstellung des ungarischen Privatrechts“ von Jung, die er vermutlich hier nur für seine Vorlesungen über ungarisches Privatrecht an der Theresianischen Ritterakademie und der Universität konzipiert hatte, scheint nach seinem Tod (1828) keine allzu große Nachfrage mehr gefunden zu haben: der Verleger hatte später dazu geäußert, er habe „noch nie eine so reiche und noble Maculatur“ drucken lassen64. Das ist bemerkenswert, denn die beiden Nachfolger von Jung im Lehramt über ungarisches Privatrecht, Johann Peter Nmethy und Johann Godinger, hatten – der Studienordnung gemäß – nach dessen Lehrbuch zu lesen. Godinger etwa kündigte dies sogar noch 1848 im Vorlesungsverzeichnis an: „Das ungarische Civil- Privat- und allgemeine Bergrecht, täglich Nachmittags von 5 – 6 Uhr, vom Hrn. Königl. Hofconcipisten, ungar. Landes- und Gerichtsadvocaten, und suppl. Prof. Dr. Johann Godinger (nach Jungs Lehrbüchern)“65. In der Tat konnte man daher vor 1848 davon sprechen, dass die ungarische Rechtsentwicklung für die Juristen in den Erbländern noch immer eine „terra incognita“ war66. Die in Ungarn seit etwa 1825 anlaufende Reformbewegung hatte man im Rahmen der Berichterstattung in den österreichischen Fachzeitschriften zwar wahrgenommen, dennoch ist kein markanter Anstieg von Beiträgen über die Rechtsentwicklung in Ungarn zu verzeichnen67.
Handbuch des österreichischen Privatrechts, Wien-Triest 1814/15. Theoretisch-praktischer Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch …, Prag 1818. 59 Erläuterung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches …, Graz 1839/38. 60 Handbuch des österreichischen Civilrechtes, Wien 1844 (2. Aufl. 1846, 3. Aufl. 1849). 61 Handbuch des in Österreich geltenden Eherechts, Wien-Triest 1813/18. 62 Das österreichische Frauenrecht, Wien 1834 (2. Aufl. 1839). 63 Das früher in Österreich übliche gemeine und einheimische Recht, Wien 1815/20. 64 C. Putz, Beiträge zur Geschichte des ungarischen Privatrechts, Wien 1869, 6. 65 UA, Wiener Universitäts-Schematismus 1848. 66 So der Herausgeber Wagner in seiner Zeitschrift in Zusammenhang mit der Rezension einer in Hermannstadt 1830 erschienen Gesetzessammlung (1831 III, 52 ff., 54). 67 Als wichtige Beiträge zur Kenntnis des „Brudervolkes“ und als notwendige Voraussetzung für eine „enge Verschwisterung“ lobte ein Rezensent 1839 (Wagners Zeitschrift 1839 III, 212) zwei im Jahr davor in Pest erschienene Darstellungen über die Agrarverfassung in Ungarn, das sogenannte Urbarialsystem. – Berichte von den sog. „Reform“-Landtagen 1832/36 in Wagners Zeitschrift (1830 II, 112 ff. und 1833 II, 231 ff., jeweils von J. P. Nmethy, dem supplierenden Inhaber der Lehrkanzel für ungarisches Privatrecht und Bergrecht an der Universität Wien) sowie in Schopfs Archiv (1837, Notizenblatt 21 ff.); über jenen von 1839/40 in Schopfs Archiv (1839, Notizenblatt 33 ff., 57 ff, 102 ff., 119 ff.). 57 58
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2. Vorbereitungen und äußerer Ablauf a) Bis zum Erlass der Verfassungsgrundsätze 1852 Mit der Verfassung 1849 hatte der Gesamtstaat unter Einschluss der ungarischen Länder zwar eine einheitliche staatsrechtliche Grundlage erhalten, im Justizrecht insbesondere „rücksichtlich der Gesetzgebung über das bürgerliche Recht“ blieb es aber beim Status quo. Insoweit in den ungarischen Ländern aber vom cisleithanischen Privatrecht „abweichende gesetzliche Normen“ bestanden, blieb in jenen Ländern sogar die Zuständigkeit der einzelnen Landtage in der Privatrechtsgesetzgebung bestehen, freilich unter dem Vorbehalt, „die bisherige Gesetzgebung … einer Revision zu unterziehen, um baldigst die wünschenswerthe Übereinstimmung“ des Privatrechts „in allen Theilen des Reiches herbeizuführen“68. Die Realisierung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags zur Vereinheitlichung des Privatrechts blieb mangels Aktivierung der Landtage aber letztlich der Regierung in Wien vorbehalten. Erste Vorbereitungsarbeiten69 für die Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern setzten bereits im April 1850 unter Justizminister Anton Schmerling ein. Zur Mitarbeit hoffte man auch prominente ungarische Juristen gewinnen zu können, unter anderem den ungarischen Justizminister des Jahres 1848, Franz Dek, sowie den damals führenden ungarischen Zivilisten Ignaz Frank. Dek lehnte ab, Frank sagte zwar zunächst zu, doch verübte er kurz darauf Selbstmord70. Schließlich wurde eine etwa dreißigköpfige Kommission unter dem Vorsitz von Justizminister Schmerling gebildet. Ihr gehörten überwiegend ungarische Juristen an, etwa der Präsident der Septemviraltafel sowie mehrere andere Mitglieder des ungarischen Höchstgerichts. Die unter Schmerling begonnenen Beratungen wurden nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt unter seinem Nachfolger, Minister Karl Kraus, in der ersten Jahreshälfte 1851 in einer neuen Kommission, dem sogenannten Comit, dem ebenfalls Fachleute aus Ungarn, Kroatien und Siebenbürgen angehörten, fortgesetzt71. Die Arbeiten konzentrierten sich zunächst auf die provisorische Einführung des ABGB-Personenrechts in Ungarn. Sie waren bis Jahresmitte 1851 bereits bis zur Fertigstellung eines Gesetzentwurfs gediehen. Dieser Entwurf – zu einem Gesetz über ein ungarisches Personenrecht – hatte den Text der entsprechenden Hauptstücke des ABGB zur Grundlage. Diese war allerdings durch eine Reihe von Ergänzungen und Zusätzen verändert worden, ebenso wie durch „Berich68
§ 68 Reichsverfassung 1849. Zum Folgenden Szladits, wie Fn. 36, 320; Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2151; Kajtr, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 6, 455 ff. – Ferner Verhandlungen des österreichischen verstärkten Reichsrathes 1860. Nach den stenographischen Berichten II, (Neudruck) Wien 1972, 345 ff.; Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 – 1867 (MRP), Abteilung V/Teil Band 4, Wien 1986, 24. 70 Dazu Zlinszky, wie Fn. 18, 141; zu Frank: B. Szab, Frank Ignc, in: M. Stolleis (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, 214 f. 71 F. Walter, Die österreichische Zentralverwaltung (ÖZV) III/1, 1964, 542 f. 69
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tigungen“ und durch „Weglassungen“ von einzelnen Paragraphen: Gänzlich „weggelassen“ wurde vor allem das Eherechts-Hauptstück72. Justizminister Kraus beteuerte, dass er gewünscht hätte, die unverzügliche Einführung des ABGB als Ganzes zu beantragen, doch habe sich diese Vorgangsweise insofern als problematisch erwiesen, als eine Reihe von Bestimmungen des ABGB seit 1811 durch „Nachtragsverordnungen“, „Zusätze“ und „Erläuterungen“ sowie „Berichtigungen“ inhaltliche Änderungen erfahren hatten. Insbesondere müsste – jedenfalls soweit sie für das allgemeine Privatrecht von Relevanz sind – auch noch jenen Auswirkungen Rechnung getragen werden, welche die Reichsverfassung und die auf ihrer Grundlage erlassenen Gesetze herbeigeführt hatten: Mehr als 60 Paragraphen des ABGB wurde wegen ihrer Verweisungen auf öffentliches Recht73 mit der Geltung der Verfassung 1849 und den dazu ergangenen Ausführungsgesetzen materiell derogiert74. Die Lehre sah durch den Erlass der Verfassung 1849 einen dringenden Bedarf an Reformen, welche alle „die Zweige der Justizgesetzgebung“, vor allem aber – wie etwa Nippel betonte – „hauptsächlich: das bürgerliche Gesetzbuch, die Civil-Gerichtsordnung und das Kriminalrecht“ betreffen mussten; auf eine allfällige Einbeziehung auch der ungarischen Länder in diese Rechtsreformen ging er in diesem Zusammenhang nicht ein75. Dem Justizminister erschien es aber dennoch als unpraktikabel, das ABGB in seinem Urtext von 1811 kundzumachen. Aus seiner Sicht war jedoch nicht nur eine Revision aller Teile des ABGB notwendig, sondern vor allem auch eine Rücksichtnahme auf die „besonderen Verhältnisse in den betreffenden Kronländern“, wo das ABGB noch nicht in Geltung stand, nämlich in Ungarn, vor allem in Bezug auf die Avitizität76 sowie auf das Eherecht. Nach Maßgabe der Dringlichkeit sollte aber zunächst das Personenrecht, jedoch ohne das Eherecht, neu geregelt werden. Kurz nach Abschluss der Ausarbeitung eines Personenrechts für Ungarn machte der Justizminister bereits Mitte Juli 1851 den Vorschlag, auch das ABGB-Erbrecht, ebenfalls mit entsprechenden Modifikationen, in Ungarn einzuführen77. Die Arbeiten hierzu wurden in der Folge aber im Comit des Justizministeriums nicht mehr aufgenommen. Auch der Entwurf über das Personenrecht wurde vom Justizminister dann 72 Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien (AVA), Justizministerium (JM) I B I, Karton 44, Post 1. 73 Dazu siehe auch unten II.1.a)cc). 74 Vgl. dazu W. Frühwald, Versuch einer Darstellung der durch die seit dem März 1849 erflossenen organischen Gesetze an den Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches und der allgemeinen Gerichtsordnung geschehenen Abänderungen, in: Wagners Zeitschrift 1849 II, 394 ff. 75 F. Nippel, Materialien zur Reform der österreichischen Gesetzgebung im Justizfache, Band I, 1850, Vorerinnerung (unpaginiert) Seite 2 f. 76 Verhandlung darüber im Ministerrat: HHStA, Kabinettsarchiv, Kabinettskanzlei, Ministerratsprotokolle, Karton 13: Protokoll vom 18. Juni (Kabinettzahl 2004 / Punkt 9) 30. Juni (Kabinettszahl 2250) sowie vom 2. (Kabinettszahl 2252) und 4. Juli (Kabinettszahl 2253). 77 AVA, JM I B I, Karton 44, Post 4.
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„zurückbehalten“, obgleich dafür schon die kaiserliche Entschließung über seine Genehmigung vorlag. Nach Aufhebung der Verfassung und dem gleichzeitigen Erlass der Verfassungsgrundsätze waren die Weichen dann aber nicht auf eine partielle, sondern auf eine Total-Einführung des ABGB in Ungarn und seinen Nebenländern gestellt. In der Zwischenzeit war nämlich offenkundig geworden, dass der weitere Vollzug der Verfassung 1849 unterbleiben wird. Ministerrat und Reichsrat, das Beratungsorgan des Kaisers in Fragen der Gesetzgebung, hatten nämlich zu Ende August 1851 in kaiserlichem Auftrag „die Frage über den Bestand und die Möglichkeit der Vollziehung der Verfassung … 1849 in reife und eindringliche Erwägung zu ziehen“, wobei die „Aufrechterhaltung … der staatlichen Einheit“ besonders zu beachten war78. Für den Gesamtstaat war im Zuge der Ausarbeitung dieses Gutachtens im Reichsrat ein radikaler Umbau der Justiz- und Verwaltungsorganisation vorgesehen: für Ungarn drohte – wie Reichsratspräsident Kübeck in seinem Tagebuch notierte – „die … völlige Verwischung des Königreiches“79. Damit war aber die Gesamteinführung des ABGB in den ungarischen Ländern noch nicht explizit festgelegt. Erst in der gemeinsamen Sitzung des Reichsrats und des Ministerrats zu Ende Dezember 185180 über die Frage der künftigen Neuorganisation des Gesamtstaates nach Aufhebung der Verfassung stellte Justizminister Kraus den Antrag, das ABGB in einem eigenen Gesetz zum gemeinsamen Recht aller Staatsbürger des Kaisertums Österreich zu erklären und daher seine Geltung auf die ungarischen Länder auszudehnen. Zugleich wäre auch das Institut der Avitizität ersatzlos zu beseitigen. Anders als die Minister hielten die meisten Reichsratsmitglieder diesen Weg der Einführung jedoch für undurchführbar oder zumindest für verfrüht, die ungarischen Reichsräte Szögyny und Zichy sogar für schlicht unmöglich. Die Regierung hatte also die Mehrheit der Reichsräte gegen sich, dennoch gelang es ihr, sich mit ihrem Anliegen beim Monarchen durchzusetzen81. Justizminister Kraus erinnerte daran, dass 1811 auch „in den deutschen Provinzen der Übergang“ zu kodifiziertem Privatrecht „binnen weniger Monate“ möglich gewesen sei; sogar in Galizien, „wo man sich früher nach dem alten polnischen Rechte benommen habe“, sei dieser Übergang reibungslos abgelaufen. Innenminister Bach assistierte mit dem Hinweis, dass die Einführung des ABGB anstelle des Code Napoleon auch in Lombardo-Venetien 1815 „ungeachtet der wesentlichen Eigentümlichkeiten dieser Länder auf keine Schwierigkeithen gestoßen“ sei, darüber hinaus werde die Einführung des ABGB in Ungarn aus wirtschaftlichen Erwägungen auch „von der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung gewünscht“. 78
RGBl. Nr. 197. Walter, wie Fn. 71, 542 f.; ders. (Hrsg.), Aus dem Nachlaß des Freiherrn Carl Friedrich Kübeck von Kübau, 1960, 80, vgl. auch 82 (Erzherzog Albrecht über die Lage in Ungarn). 80 Ministerkonferenz-Protokoll vom 20. 5. 1862, in: St. Malf r (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung V/Band 4 (MRP V/4), Wien 1985, 24. 81 Walter, wie Fn. 71, 542 f. 79
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Reichsratspräsident Karl Kübeck82 unterstützte den Regierungsantrag zwar im Grundsätzlichen, doch forderte er, dass der Einführung des ABGB „angemessene Vorbereitungen“ vorangehen müssten und seine Einführung auch nur unter Berücksichtigung der „eigentümlichen Verhältnisse in diesen Kronländern“ erfolgen dürfe. Diese Formulierung Kübecks fand schließlich auch die Zustimmung des Monarchen. Am 28. Dezember 1851, in der Schlussbesprechung über die in Aussicht genommene Aufhebung der Verfassung 1849 mit Kübeck, genehmigte der Kaiser den ihm von diesem unterbreiteten Entwurf über die Grundsätze zu einer neuen Gerichts- und Verwaltungsorganisation des Gesamtstaates. Nach der Befassung des Ministerrates am 29. Dezember erfolgte die kaiserliche Sanktion der Entwürfe zu Silvester 185183. Der in den Organisationsgrundsätzen für die Ausdehnung des ABGB relevante Punkt 33 lautete: „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch soll als das gemeinsame Recht für alle Angehörigen des österreichischen Staates auch in jenen Ländern, in welchen es dermalen noch nicht Geltung hat, nach und mit angemessenen Vorbereitungen, dann mit Beachtung der eigentümlichen Verhältnisse derselben eingeführt … werden“. b) Seit Erlass der Verfassungsgrundsätze 1852 Die Arbeiten, die sich an diesen kaiserlichen Auftrag der Organisationsgrundsätze anschlossen, setzten gegen Ende April 1852 im Ministerrat mit Beratungen über die Aufhebung der Avitizität in den ungarischen Ländern mit Ausnahme von Siebenbürgen ein. Damit sollten die Voraussetzungen für die Einführung des ABGB geschaffen werden84. Von Mitte bis Ende Juli wurde sodann der Reichsrat mit diesem Gegenstand befasst85. Um eine möglichst rasche Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern zu ermöglichen, sollte von einer umfassenden Revision des Inhalts Abstand genommen werden. Modifikationen in der Anwendung ergaben sich aber aus dem Umstand, dass das ABGB seit 1812 zwar nicht durch Novellen, aber durch authentische Interpretationen, welche zuweilen über den Zweck einer bloßen Erläuterung des Gesetzes durch den Gesetzgeber hinausliefen, verändert worden war, die bei vielen Bestimmungen zu einer materiellen Verbesserung oder Ergänzung geführt hatten86. Auf die Existenz von solchen in der zeitgenössischen Diktion als „nachträgliche Verord-
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Zum Folgenden Ministerkonferenz-Protokoll vom 30. 11. 1852, in W. Heindl (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abt. III/Band 1 (MRP), Wien 1975, 347 f. 83 RGBl. Nr. 1 und 2 (Aufhebung der Verfassung 1849) und 4 (Organisationsgrundsätze für neue Verwaltungs- und Gerichtseinrichtungen in den Kronländern). 84 AVA, JM, Karton 44, Post 2, auch 4 und 5; ferner MRP III/1, 348 Fn. 4. 85 Walter, wie Fn. 79, 97 f.: Schlusssitzung am 29. Juli 1852. 86 Hierzu H. Gruber, Authentische Interpretationen und Novellen zum ABGB 1811 von dessen Inkrafttreten bis zum Jahre 1848, Diss. iur. Wien 1993.
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nungen“87 bezeichneten Modifikationen des Gesetzestextes hatte man bei der Einführung des ABGB in den nach 1815 dem Kaisertum Österreich wieder eingegliederten und von ihm neu erworbenen Gebieten noch keine Rücksicht genommen; offenbar deshalb, weil solche „nachträglichen Verordnungen“ dadurch noch nicht in einer größeren Zahl vorlagen. Erst bei Einführung des ABGB in Krakau 1852 hatte man diesem Umstand Beachtung geschenkt, und zwar durch Aufnahme einer Generalklausel in das Kundmachungspatent, wonach das ABGB in Krakau „sammt allen, auf Gegenstände desselben sich beziehenden, nachträglichen Verordnungen“ in Kraft gesetzt werde88. So einfach diese Formulierung auf erstem Blick erscheinen mag, so hatte sie doch in der Praxis Probleme aufgeworfen, denn die Mehrzahl solcher „nachträglichen Verordnungen“ war nur an einzelne Behörden adressiert, und zwar zumeist in Beantwortung von an den Gesetzgeber gerichteten Anfragen einzelner Gerichte über Zweifel in der Anwendung des Gesetzes. Die Art der Kundmachung von solchen Anfragebeantwortungen – zumeist ebenfalls bloß an einzelne Gerichte – ließ es aber oft nur schwer erkennen, ob sich diese authentischen Interpretationen auch an die Behörden in anderen Ländern, zur Behebung allfälliger ähnlicher Zweifel, richteten. aa) Ungarn und seine Nebenländer – ausgenommen Siebenbürgen Bei der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern hatte man sich daher für einen anderen Weg der Kundmachung des Gesetzes, als bei dessen Einführung in Krakau, entschieden: für einen Weg, den man bereits 1815 anlässlich der Neuauflage des Strafgesetzes89 beschritten hatte: Dem in Gesetzbuchform kundgemachten Text des ABGB sollten in einem Anhang die maßgeblichen „nachträglichen Verordnungen“ beigebunden werden, womit zugleich auch den „eigentümlichen Verhältnissen in diesen Kronländern Rechnung getragen war90. Die Arbeiten an diesem „Anhang“ und über das Kundmachungspatent zum ABGB für die ungarischen Länder konnten im Comit des Justizministeriums in der ersten Märzhälfte 1852 in fünf Sitzungen abgeschlossen werden91. 87 Dazu: St. (= Stubenrauch, der Herausgeber?), Die Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches vom 1. Juni 1811 in Ungarn, Croatien, Slavonien, Serbien und dem Temeser Banate, in: Allgemeine Österreichische Gerichts-Zeitung (ÖG-Z) 4 (Wien 1853), 1 f. 88 RGBl. Nr. 77 Abs. 2. – Dazu auch AVA, JM I B I, Karton 33. 89 Ausgabe der k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1815: „Zweyte Auflage, mit angehängten neueren Vorschriften“, Anhang zum 2. Teil (schwere Polizeiübertretungen). – Vgl. dazu auch Ch. Neschwara, Über Carl Joseph Pratobevera und Franz von Zeiller. Ein Beitrag zur Gesetzgebungsgeschichte des ABGB, in: Festschrift für Hermann Baltl zum 80. Geburtstag, 1998, 224; ders., Pratobevera – Zeiller – Jenull: Eine „herrliche Trias unserer Gesetzgebung“. Ein Beitrag zur Gesetzgebungsgeschichte des österreichischen Strafrechts im Vormärz, in: U. Aichhorn/H. Rinnerthaler (Hrsg.), Festschrift für Peter Putzer zum 65. Geburtstag, 2004, Band II, 581 f. 90 Weitere Modifikationen in Bezug auf die Geltung des ABGB sollten im Kundmachungspatent normiert werden: dazu im Detail unten 3. 91 AVA, JM I B I, Karton 44, Post 3: Anhang; ebda Post 4: Kundmachungspatent.
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Die Ministerkonferenz war mit diesen überwiegend bloß technischen Fragen der Einführung des ABGB sodann seit Ende Mai 1852 befasst92. Die Debatten über das Kundmachungspatent waren geprägt von dem Bemühen von Kultus- und Unterrichtsminister Leo Thun-Hohenstein, anlässlich der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern, das Gesetz selbst weitgehend zu novellieren. Er hatte in dieser Frage aus Anlass einer Juristenpromotion sub auspiicis majestatis als Vertreter des Kaisers mit einer „Ansprache … über das Rechtsstudium“, die später sogenannte „Schmährede“ gegen das ABGB, für einen Sturm der Entrüstung bei seinen Regierungskollegen gesorgt93. Justizminister Kraus warf ihm vor, er habe das ABGB in einer nicht zu billigenden Weise – in der Öffentlichkeit und vor jungem akademischem Publikum, vor allem vor eben erst absolvierten Juristen – herabgesetzt. Und dies noch dazu in einem völlig unpassenden Augenblick, wo dieses Gesetz auch in den ungarischen Ländern eingeführt werden sollte. Dadurch werde die gesamte Regierung dem Vorwurf ausgesetzt, sie wolle diesen Ländern „ein Gesetz aufdringen …, gegen welches selbst ein Minister … sich mit Tadel erhebt“ und „feierlich erklärt …, man sei aufgewachsen in blinder Anbetung des ABGB, man habe sich vor demselben wie vor einem Götzen in stummer Verehrung niedergeworfen“94. Beifall und Unterstützung erhielt der Justizminister von anderen Ministerkollegen, vor allem von Innenminister Alexander Bach, von Handelsminister Andreas Baumgartner und vom Vorsitzenden der Ministerkonferenz, Außenminister Karl Ferdinand Buol-Schauenstein. Thun rechtfertigte sich gegen diese Vorwürfe, indem er erklärte, dass er in seiner Rede nicht das ABGB als solches angegriffen oder gar herabgesetzt, sondern lediglich seine wissenschaftlich-methodische Bearbeitung und Anwendung in Frage gestellt habe. Thun hatte in seiner Rede auch auf die besondere Situation der Rechtsentwicklung der ungarischen Länder hingewiesen. Er forderte daher, bei der Einführung des ABGB darauf besonders Rücksicht zu nehmen. Dies sei zwar in Bezug auf das Eherecht auch bereits erkannt worden95, doch müsse man noch weiter gehen; etwa im Familienrecht durch eine Aufwertung der väterlichen Gewalt und im Ehegüterrecht durch ein Abgehen vom grundsätzlichen System der Gütertrennung sowie im Erbrecht durch eine Stärkung der Idee eines Familien(erb)guts. Ihm schien es auch „nicht ausführbar das ABGB schon im laufenden Jahr“, also 1852, einzuführen. Er forderte daher, dass man den „Richtern, Advokaten und Parteien Zeit gönne, sich damit vertraut zu machen“96. 92 MRP III/1, 46 ff., 58 f., 63 f., 75 ff.: Kundmachungspatent; ebda 80 f., 83: Anhang der „nachträglichen Verordnungen“; 347 f.: Schlusssitzung am 29. November, auf welche die kaiserliche Entschließung über die Sanktion der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern mit Ausnahme von Siebenbürgen erfolgte. 93 MRP III/1, 60 f.: Ministerkonferenz vom 13. Mai 1852. – Rede Thuns: ebda, 65 f. 94 MRP III/1, 61. 95 Thun bezog sich hier auf die erste Debatte in der Ministerkonferenz am 1. Mai 1852: MRP III/1, 46 ff. 96 Dazu auch seine „Bemerkungen … zur Einführung des ABGB. In Ungarn“: MRP III/1, 75 f.
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Schließlich wurde im Juli 1852 auch der Reichsrat zur Begutachtung der für die Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern notwendigen gesetzlichen Maßnahmen – zunächst in Bezug auf die Aufhebung der Avitizität – eingeschaltet. Gegen Ende September wurde dort die Begutachtung auch des Kundmachungspatents und des Anhangs der „nachträglichen Verordnungen“ abgeschlossen. Hierzu wurden auch Stellungnahmen und Gutachten des ungarisch-kroatischen Senats am Obersten Gerichtshof in Wien eingeholt97. bb) Siebenbürgen Von der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern blieb Siebenbürgen zunächst ausgenommen. Justizminister Kraus hatte aber – anlässlich der Vorlage des ABGB-Kundmachungspatents für die ungarischen Länder an den Kaiser zur Sanktion – zu Ende November 1852 bereits darauf hingewiesen, dass für Siebenbürgen eine abgesonderte Regelung der Einführung des ABGB und der Aufhebung der Avitizität erfolgen werde. Die Verhandlungen darüber wurden noch zu Anfang September 1852 im Comit des Justizministeriums98 aufgenommen. Anders als bei der Einführung des ABGB in den übrigen ungarischen Ländern waren schon Vorarbeiten vor Ort, nämlich in der siebenbürgischen Hauptstadt Hermannstadt, geleistet worden. Die sächsische Nationaldeputation der siebenbürgischen Landstände hatte bereits zu Mitte März 1851 einen Antrag an das Justizministerium auf Einführung des ABGB gestellt, da es „ein gediegenes, seit Jahrzehnten erprobtes Gesetz“ sei. Es folgte dazu sodann im November 1851 ein Erlass des Justizministers mit der Weisung an die Gerichtseinführungskommission in Siebenbürgen99, unter Beiziehung von Vertrauensmännern aus Hermannstadt100 und Umgebung, Beratungen auch über die Frage der Einführung des ABGB „im Sachsenlande“ aufzunehmen und dem Justizministerium darüber ein Gutachten zu erstatten. Dabei war zunächst noch zu differenzieren, ob das ABGB nur für „das Sachsenland“ oder das gesamte Kronland einzuführen wäre, und dann ob davon zunächst nur einzelne Teile betroffen sein sollten; ferner war auch die Frage zu behandeln, welche inhaltlichen Modifikationen des ABGB allenfalls notwendig erschienen, um den „eigenthümlichen Landesverhältnissen“ Rechnung zu tragen; schließlich war auch die Frage von Übergangsbestimmungen in Betracht zu ziehen. Die Beratungen darüber in Hermannstadt liefen von Anfang bis Ende März 1852, also zu einer Zeit, als die Verhandlungen über die Einführung des ABGB in den an97
MRP III/1, 348 Fn. 4; Walter, wie Fn. 79, 100. AVA, JM, Karton 44, Post 12. – Zum Folgenden: AVA, JM, Karton 44, Post 8: Es fanden drei Sitzungen zwischen 4. und 8. Dezember 1852 statt. Unter den Teilnehmern aus Siebenbürgen befand sich unter anderem Friedrich Sachsenheim (zu ihm und seiner unvollständig gebliebenen Darstellung, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch … verglichen mit dem siebenbürgischen Civilrechte, Wien 1856, besonders XXXVII ff.). 99 Eingerichtet zu Jahresbeginn 1853 mit RGBl. Nr. 10/1853. 100 Darunter unter anderem Maximilian Füger v. Rechtsborn. – Zu ihm siehe sogleich im Folgenden. 98
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deren ungarischen Ländern in Wien im Comit des Justizministeriums erst begannen. Das Gutachten aus Hermannstadt wurde sodann mit 8. April erstattet. Es bezog sich nach der Aufhebung der Verfassung 1849 und dem Erlass der Organisationsgrundsätze zu Jahresbeginn 1852 aber nur noch auf die Frage der Gesamteinführung des ABGB und die dabei notwendigen Modifikationen seiner Geltung sowie auf die Frage der Übergangsbestimmungen101. Vehement auf die möglichst sofortige Einführung des ABGB drängte Maximilian Füger von Rechtborn, der als Mitglied der siebenbürgischen Kommission sogar ein Separatvotum über diese Frage abgab: Das ABGB sei in Siebenbürgen ein der Allgemeinheit keineswegs ganz fremdes Gesetz, in Teilen der siebenbürgischen Militärgrenze werde es bereits seit Jahren als geltendes Gesetz gehandhabt102. Es werde in der Praxis vor allem „im Sachsenlande“ von den Advokaten und Richtern wegen der „Unvollkommenheit der einheimischen Gesetze“ zur Lösung von Rechtsfragen regelmäßig „nachgelesen“. Viele dieser absolvierten Juristen seien auch an erbländischen Universitäten ausgebildet worden, die Richter, Advokaten und Richteramtsanwärter auf die Einführung dieses Gesetzes daher bereits „gefaßt“, ja das ABGB werde auf der Rechtsakademie zu Hermannstadt schon unterrichtet. Es sei auch so konzipiert, dass man sich seinen „Inhalt in wenigen Monaten eigen machen“ könne, ihm schien daher eine Legisvakanz von bloß drei Monaten als angemessen103. Beide Gutachten wurden zu Mitte April 1852 seitens der Gerichtseinführungskommission in Siebenbürgen an das Justizministerium in Wien übermittelt. Die Gerichtseinführungskommission selbst regte – in Erwartung einer umgehenden Einführung – in ihrem Bericht darüber hinaus auch an, man möge in Wien eine „neue und wohlfeile Auflage des ABGB“ veranstalten und „in einer bedeutenden Anzahl – vielleicht auch zur unentgeltlichen Verteilung“ an die Beamten und Justizstellen nach Siebenbürgen senden104, damit sich die Praktiker mit dem künftigen Gesetz bereits vertraut machen konnten. Die Beratungen über die Kundmachung des ABGB und die Aufhebung der Avitizität in Siebenbürgen konnten in der Ministerkonferenz rasch in nur einer Sitzung Mitte Jänner 1853 erledigt und dann im April 1853 im Reichsrat abgeschlossen wer-
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Die im Gutachten vorgeschlagenen Modifikationen sind dann auch nahezu unverändert in das ABGB-Kundmachungspatent für Siebenbürgen eingeflossen: dazu siehe unten im Detail 3. 102 Hier stand das ABGB freilich formell in Geltung (in den meisten Teilen, nämlich der kroatisch-slawonischen Militärgrenze, schon seit Jahresbeginn 1812; für den Bereich der Karlstädter und Banater Militärgrenze erfolgte die Ausdehnung des Geltungsbereiches mit 1. Juli 1814). – 1851 wurde dieses Gebiet dem Kronland Siebenbürgen eingegliedert: Barany, wie Fn. 2, 365. 103 Also nicht einmal sechs Monate wie bei der Einführung des ABGB 1811. 104 AVA, JM, Karton 44, Post 8.
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den105. Der ursprünglich für 1. Juli 1853 vorgesehene Termin des Inkrafttretens wurde auf 1. September verschoben. Inhaltlich folgten das Kundmachungspatent und der Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ sowie das Avitizitätspatent106 der Schablone der für die anderen ungarischen Länder ergangenen Patente. 3. Kundmachung und Inkrafttreten Die Einführung des ABGB sowie die gleichzeitige Aufhebung der Avitizität wurden vom Monarchen für Ungarn am 29. September 1852, für Siebenbürgen am 29. Mai 1853 sanktioniert. Nach einer Legisvakanz von sieben Monaten trat das ABGB mit Geltungsbeginn ab 1. Mai 1853 in Ungarn und – wie von Füger angeregt – nach einer bloß dreimonatigen Legisvakanz mit Geltungsbeginn ab 1. September 1853 in Siebenbürgen in Kraft. In Verbindung mit der Sanktion der Kundmachung des ABGB für die ungarischen Länder erfolgte auch die Anordnung des Kaisers107, nur das Kundmachungspatent im Reichsgesetzblatt sofort einzuschalten, dort aber in einer Anmerkung darauf hinzuweisen, dass die Ausgabe des ABGB samt Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ ohne Verzug in einer Handausgabe der Staatsdruckerei erfolgen werde. Festgelegt wurde – dem umfassenden Geltungsbereich entsprechend – als neuer Titel „Allgemeines österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch kundgemacht“ für Ungarn bzw. für Siebenbürgen; zu berichtigen waren auch die Druckfehler in den §§ 163 und 591 der Erstausgabe von 1811108 und das Kundmachungspatent von 1811 musste durch die jeweiligen Kundmachungspatente für Ungarn bzw. Siebenbürgen ersetzt werden, ferner war dem Gesetzestext der jeweilige Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ für Ungarn bzw. Siebenbürgen anzufügen sowie danach alphabetische Sachregister. Für den Zweck der Kundmachung in Ungarn sollten zunächst 6000 Exemplare dieses ABGB gedruckt werden109. 4. Gesetzbuchausgaben und Übersetzungen Der Gesetzestext des ABGB samt Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ sollte für Ungarn und Siebenbürgen – wie eben erwähnt – nicht in amtlichen Publi105
MRP III/1, 421 ff. – Im Reichsrat wurde Anfang April verhandelt, Reichsratspräsident Kübeck erstattete Ende April 1853 sein Gutachten: MRP III/1, 423 in Fn.; Walter, wie Fn. 79, 111. 106 Das Avitizitätspatent galt in Siebenbürgen überdies nur für die Nation der Szekler und der Ungarn (Magyaren), nicht aber für die „Sächsische“ (Deutsche), deren Privatrecht, als Teil des sogenannten „Eigenlandrechts“, keine derartige Erbfolge kannte. 107 AVA, JM, Karton 44, Post 8. 108 Zu den Druckfehlern: Brauneder, wie Fn. 8, 232 f.; O. Seemann, Die mit 1811 datierten Drucke des ABGB, Wien 1995. 109 AVA, JM, Karton 44, Post 6 (ABGB-Kundmachungspatent für Ungarn mit kaiserlicher Sanktion); ebda Post 12 (das gleiche für Siebenbürgen).
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kationsorganen, etwa dem Reichsgesetzblatt oder den Landesgesetzblättern, kundgemacht werden. Dort wurde jeweils nur der Text des Kundmachungspatents abgedruckt. Lediglich eine kleine unscheinbare Anmerkung zum Kundmachungspatent für Ungarn110 – im siebenbürgischen fehlt sogar dieser Hinweis – kündigte die Publikation des Gesetzestextes „in amtlicher Handausgabe“, also in Buchform, an. Die Kundmachung sollte in deutscher wie auch „in allen in (diesen) … Kronländern üblichen Landessprachen“ geschehen. Die Vorbereitungen zu den Übersetzungen in das Ungarische und das Rumänische liefen bereits seit dem Sommer 1849111; mit ihrer Publikation wurde aber bis zur Kundmachung des ABGB zugewartet. Die ungarische Übersetzung lag dann aber immer noch nicht vor112. Jeweils mit der Kundmachung des ABGB lag für Ungarn und Siebenbürgen aber je eine deutsche Ausgabe113 vor. Knapp danach wurde für beide Gebiete jeweils 1853 auch eine doppelsprachige Fassung in Ungarisch-Deutsch114, und für das Kronland Kroatien auch eine doppelsprachige in Kroatisch-Deutsch115 herausgegeben. Für das serbischsprachige Geltungsgebiet existierte bereits seit 1849 eine amtliche Ausgabe in Serbisch/Kyrillisch116, doch gab es hierzu keine Ergänzung durch den Anhang der „nachträglichen Verordnungen“. Erst viel später, nämlich 1859/60, folgte für Sie110
RGBl. 1852, Seite 1030 Fn. * zu Art. I. Bereits 1849 waren „Anstalten wegen Übersetzung der Gesetzbücher [des ABGB und des Strafgesetzes] ins Romanische … im Gange“ und es hieß auch bereits: „Die Übersetzungen derselben ins Ungarische werden eben [also 1849] hier in Wien geprüft: Siehe Abschnitt IV. Absatz 2 des Memorandums für den Zivil- und Militär-Gouverneur und den bevollmächtigten kaiserlichen Zivilkommissär in Siebenbürgen, in: H. Schlitter, Versäumte Gelegenheiten. Die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Zürich/Leipzig/ Wien 1920, Anhang X, 165. 112 Dazu P. Harum (im Rahmen seiner Rezension von Stubenrauchs ABGB-Kommentar aus 1850), in: Haimerls Magazin 8 (1853), 389 Fn. *; zu dieser Verzögerung auch: MRP III/1, 232. 113 Der Titel der deutschsprachigen Ausgabe des ABGB für Ungarn lautete: „Allgemeines österreichisches bürgerliches Gesetzbuch kundgemacht mit dem Patente vom 29. November 1852 in den Königreichen Ungarn, Croatien und Slavonien, der serbischen Woiwodschaft und dem Temeser Banate, sammt den auf dieses Gesetzbuch sich beziehenden nachträglichen Verordnungen“; der Titel des für Siebenbürgen kundgemachten Gesetzbuches variiert bloß im Mittelteil: „… kundgemacht mit dem Patente vom 29. Mai 1853 in dem Großfürstenthume Siebenbürgen …“. – Die beiden amtlichen Ausgaben wiesen allerdings eine Reihe von Druckfehlern auf, die 1860 mit Verordnung des Justizministeriums berichtigt wurden: RGBl. Nr. 133/1860 V 27. 114 Der Titel der Ausgabe für Ungarn lautete: „Ausztrai talnos polgri törvnykönyv kihirdettetett az 1852 november 29. nyiltparancscal Magyar-, Horvt- s Ttorszgban, a Szerbvajdasgban s a temesi bnsgban, az ezm törvnykönyvre vonazot, a függelkben foglalt utlogos redeletekkel együtt“; bzw. jener der siebenbürgischen Variante: „… kihirdettetett az 1853 mjus 29. nyiltparancscal az Erdlyi nagyfejedelemsgben …“. 115 Der Titel lautete in Kroatisch: „Obci austrianski gradjanski zakonik proglasen patentom od 29. studenoga 1852 u kraljevinah Ugarskoj, Hrvatskoj i Slavonii, srboskoj Vojwodini i tamiskom Banatu“. 116 Ihr Titel lautete in Serbisch: „Sveobstij gradjanskij zakonik za sve jnemacke naseljedne zemlje austrijske monarchie“. 111
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benbürgen eine weitere doppelsprachige Ausgabe in Rumänisch/KyrillischDeutsch117, aber auch ihr fehlte der Anhang der „nachträglichen Verordnungen“. III. Die Geltung des ABGB 1. Modifikationen in der Anwendung des Gesetzes Nach den Intentionen der Organisationsgrundsätze von 1852 sollte das ABGB zwar „als gemeinsames Recht für alle Angehörigen des österreichischen Staates auch in jenen Ländern, in welchen es … noch nicht Geltung hat, … in Wirksamkeit gesetzt werden“, jedoch unter „Beachtung der eigentümlichen Verhältnisse“ in diesen Kronländern. Diese Richtlinie war in den jeweiligen Kundmachungspatenten des ABGB entsprechend zu berücksichtigen118, einerseits durch Beschränkung der Anwendbarkeit des Gesetzes sowie andererseits durch nähere Bestimmung seines Inhalts119. a) In Bezug auf den Inhalt aa) im Eherecht Von120 Einschränkungen der Anwendbarkeit war hauptsächlich das EherechtsHauptstück des ABGB betroffen. Hiervon wurden in Ungarn nur die Eherechts-Bestimmungen für Juden und Akatholiken, von diesen allerdings nicht-unierte Griechen ausgenommen, uneingeschränkt in Geltung gesetzt. Für die protestantischen Landeseinwohner hatte sich nichts grundlegendes geändert, denn an die Stelle des 1786 in den ungarischen Ländern eingeführten erbländischen Ehepatents aus 1783 war das Eherecht des ABGB getreten121, wobei in Bezug auf Mischehen insofern eine Ausnahme vom ABGB-Eherecht bestand, als die feierliche Erklärung der Einwilligung
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Ihr Titel lautete in Rumänisch: „Codicele civile Austriacu universale …“. Art. I KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. – Dazu aus zeitgenössischer Sicht: Füger, wie Fn. 21, 17 ff. 119 Jeweils Art. III–VI der beiden Kundmachungspatente. – In den Schlussbestimmungen (ebda jeweils Art. XIV) sind auch verschiedene Bestimmungen über Begriffe, die das ABGB 1811 verwendet, und die nun den geänderten verfassungsrechtlichen Verhältnissen angepasst wurden: So waren Verweisungen des ABGB auf eine „Provinz“ (etwa § 194, insgesamt 6) als auf ein „Kronland“, solche auf die „Länderstelle“ (etwa § 76, insgesamt 8) als auf die „oberste politische Landesbehörde“, solche auf die „Kreisämter“ (etwa § 79, insgesamt 5) als auf „politische Behörden mit gleichartigem Wirkungskreis“, und solche auf die „Landrechte“ (etwa § 97, insgesamt 5) als auf „Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen“ bezogen zu verstehen. 120 Zum Folgenden: Die Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches vom 1. Juni 1811 in Ungarn, Croatien, Slavonien, Serbien und dem Temeser Banate, in: ÖG-Z 4 (1853), 5 f. 121 Schwartz, in: JBl 23 (1894), wie Fn. 11, 507; Zehentbauer, wie Fn. 17, 20 f. – Dazu aus zeitgenössischer Sicht: Füger, wie Fn. 21, 19 ff., 25 ff. 118
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zur Eheschließung nicht nur vor dem katholischen Seelsorger (§ 77 ABGB), sondern auch vor jenem des akatholischen Teils zulässig war122. Kultusminister Thun hatte in der Ministerkonferenz zwar Bedenken gegen diese Bestimmung geäußert, die Mehrheit der Ministerkollegen votierte jedoch dafür, da sie mit Zustimmung der katholischen Kirche faktisch bereits seit 1848 bestand. Auch war zu befürchten, dass eine abermalige Änderung dieses Zustandes Anlass zu neuerlichen Unruhen in Ungarn geben könnte123. Die dort vor Einführung des ABGB bestehende Rechtslage blieb also insoweit aufrecht. Ähnliches gilt auch für Siebenbürgen, wo sogar alle christlichen Konfessionen gleichgestellt waren. Katholiken, Protestanten beider Bekenntnisse und Griechen, uniert wie nicht-uniert, behielten ihr konfessionelles Eherecht. In Siebenbürgen war das ABGB-Eherecht somit allein auf Juden uneingeschränkt anwendbar124. Für die von der Anwendbarkeit des ABGB-Eherechts ausgenommenen Religionsangehörigen blieb gemäß Kundmachungspatent für Ungarn das bisher geltende ungarische Recht aber nur insoweit noch weiter anwendbar, als es den „gültigen Abschluß und die Verhandlung über die Ungültigkeit der Ehe, die Scheidung und Trennung“ betraf125. Das siebenbürgische Kundmachungspatent präzisierte diese Einschränkung dahingehend, als nun in allen hier nicht ausdrücklich erwähnten Fällen, die das eheliche Verhältnis tangierten, und welche das ABGB selbst regelte, dieses auch anwendbar sein sollte126. Daher blieben von den partikularen Bestimmungen des ungarischen und siebenbürgischen Rechts eigentlich nur jene über Ehehindernisse noch weiter in Geltung. In Bezug auf die persönlichen Rechtswirkungen der Ehe (§§ 88 – 92 ABGB) und das Verlöbnis (§§ 45 f.) bestanden somit keinerlei Beschränkungen in der Anwendbarkeit des ABGB. Die Gerichtsbarkeit in Ehesachen blieb unabhängig von den jeweils anwendbaren materiellen Rechtsnormen den bis zur Einführung des ABGB zuständigen geistlichen Gerichten vorbehalten127. Kultusminister Thun beantragte in der Ministerkonferenz sogar, diesen Instanzen überhaupt alle mit dieser Zuständigkeit akzessorischen Fragen kompetenzmäßig zuzuweisen. Thun wollte etwa die Absonderung des Vermögens der Ehegatten im Fall der Scheidung oder Trennung der Ehe sowie die Frage der Erziehung der Kinder wegen Konnexität mit den übrigen Gegenständen der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ehesachen verbinden. Die Mehrheit der Regierung lehnte dies jedoch ab, da man eine derart weitgehende Kompetenz nicht nur „für wirklich 122 Art. IV KdmP. für Ungarn. – Diese Ausnahme erklärt sich daraus, dass die Formvorschriften des Konzils von Trient in Ungarn keine Anwendung hatten. 123 MRP III/1, 46 ff.: Ministerkonferenz vom 1. 5. 1852. 124 Art. IV KdmP. für Siebenbürgen. 125 Art. III (1) KdmP. für Ungarn. 126 Art. III (1) KdmP. für Siebenbürgen. 127 Art. III (2) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. – Diese Zuständigkeit bestand gemäß kaiserlicher Entschließung schon vor Einführung des ABGB: Ungarisches LGBl. Nr. 1/ 1850; nach Inkrafttreten der Verfassung 1849 bestätigt: RGBl. Nr. 193/1851.
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bedenklich“ hielt, sondern vor allem auch der Gefahr wegen, die geistlichen Gerichte würden solche Fragen „nur nach den kanonischen Satzungen unter Ausschluß aller weltlichen Gesetze“ entscheiden128. Nicht zu den Kompetenzen der geistlichen Gerichte zählte das Aufgebotsverfahren. Dieses war in Ungarn wie auch in Siebenbürgen bereits vor Einführung des ABGB in die Zuständigkeit der politischen Behörden gefallen, sodass die entsprechenden Bestimmungen des ABGB über das Aufgebot (§§ 70 – 74 und 85 – 88) uneingeschränkt zur Anwendung kamen129. Der Beurteilung der persönlichen Fähigkeit zur Eheschließung waren die bestehenden konfessionellen Rechte als statuta personalia zugrunde zu legen, und zwar unabhängig davon, an welchem Ort die Ehe geschlossen werden sollte130. Die speziellen Bestimmungen des ABGB über das Eherecht und Eheverfahren von der Militärgerichtsbarkeit131 unterworfenen Personen (§ 54 ABGB) waren dagegen in Ungarn wie auch in Siebenbürgen unabhängig von den dort für Zivilpersonen sonst bestehenden Ausnahmen in Geltung getreten132. Diese Sonderregelung wurde erst im Verlauf der Verhandlungen in der Ministerkonferenz in die Kundmachungspatente aufgenommen133. bb) aufgrund von „nachträglichen Verordnungen“ Da die Einführung des ABGB nach Maßgabe der „eigentümlichen Verhältnisse in diesen Kronländern“ erfolgte, wichen die beiden Anhangstexte auch von einander ab: Der dem ABGB für Ungarn beigefügte Anhang enthielt 86 Nachträge zu 71 Paragraphen des Gesetzes, der zum siebenbürgischen 83 Nachträge zu 71 Paragraphen. Überwiegend bezogen sich diese auf den ersten Teil des ABGB, und zwar etwa die Hälfte auf die Einleitung, das Personen-, Familien-, Kindschafts- und Vormundschaftsrecht sowie je etwa ein Viertel auf das Sachen-, Erb- und Vertragsrecht. cc) aufgrund von Verweisungen Das ABGB stand in vielfacher Weise auch mit anderen Materien der Rechtsordnung in Verbindung. Schon das Kundmachungspatent von 1811 hob diese Berührungspunkte besonders hervor, indem es auf die „das Privatrecht beschränkenden
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MRP III/1, 46 f. Art. III (3) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 130 Art. V KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. – Dieser Grundsatz, den das ABGB (§§ 4, 34, 37) selbst kennt, wurde konsequent in die Kundmachungspatente aufgenommen. 131 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 14. 132 Art. X KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 133 MRP III/1, 46. 129
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oder näher bestimmenden Verordnungen“134, hinwies. Zu diesen stellt das ABGB durch die ihm eigentümliche Verweisungstechnik mannigfache Beziehungen her135. Sämtliche Verweisungen sind bewusst allgemein gehalten, sie sollten die bezogenen Vorschriften inhaltlich nicht näher bestimmen. Diese konnten daher von Land zu Land variieren und konnten sich auch ändern, ohne sich unmittelbar auf den Inhalt des ABGB selbst auszuwirken. Etwa 75 Paragraphen verbinden durch Verweisungen das allgemeine Privatrecht des ABGB mit den übrigen Teilen der Rechtsordnung. Die im ABGB allgemein geregelten Rechtsinstitute werden durch diese Verweisungen ergänzt und präzisiert. Selbst dort, wo sich das Gesetz nicht explizit auf solche das ABGB „beschränkende und näher bestimmende“ Teile der Rechtsordnung bezog, blieben diese gemäß Kundmachungspatent beachtlich136. Dieselbe Verweisungstechnik findet sich auch in den Kundmachungspatenten des ABGB für Ungarn und Siebenbürgen137. Sie erfuhr dort aber insofern eine Einschränkung, als die verwiesenen Vorschriften nur insoweit in Geltung blieben, als sie nicht zu den seit der Eingliederung der ungarischen Länder im österreichischen Kaiserstaat erlassenen Gesetzen oder zu den Organisationsgrundsätzen von 1852 in Widerspruch standen oder mit diesen unvereinbar waren. Ungeachtet dieser an sich klaren Bestimmung hatte man es jedoch für zweckmäßig erachtet, einige dieser verwiesenen Vorschriften, vor allem die „politischen Verordnungen“, in den Kundmachungspatenten besonders hervorzuheben, auch war das Verhältnis des ABGB zu den „Finanz- und Cameralgesetzen“ sowie zum Sonderprivatrecht in einigen Punkten klarzustellen. Ausdrücklich138 etwa wurde festgehalten, dass mit Aufhebung der Grunduntertänigkeit zwar die entsprechenden Bestimmungen des ABGB nicht mehr anwendbar waren139, jedoch die Beschränkungen der gesetzlichen Erbfolge in Bauerngüter aufrecht blieben140. Für die nichtungarischen Länder hatte dies ein Erlass des Justizministeriums bereits im Jahre 1850 klargestellt141; sein Inhalt wurde im Kundmachungspatent des ABGB für Ungarn und Siebenbürgen eingeschaltet142. 134
Art. VIII KdmP. 1811, in: Gesetze und Verordnungen im Justizfache … (= sog. JustizGesetzsammlung; im Folgenden: JGS) Nr. 946. 135 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 9 ff.: Solche Verweisungen betreffen überwiegend „politische Verordnungen“ (etwa § 13; insgesamt 29) sowie die „Vorschriften“ für „Finanz- und Cameralgegenstände“ (z. B. § 986). Außerdem beruft sich das ABGB auf eine Reihe von konkreten Einzelgesetzen wie die „Auswanderungs-Gesetze“ (§ 32) oder auf für das „Dienstgesinde … bestehende Vorschriften“ (§ 1172), es verweist ferner auf die „Landesverfassung“ (etwa §§ 288, 298 oder 1142), die „Provinzial-Gesetze“ (§ 1132), die „Verfassung (der Gemeinde)“ (§ 867) und auf das „Staatsrecht“ (§ 290), auf die „Strafgesetze“ (etwa § 102; insgesamt 11) und das „Strafgesetzbuch“ (§ 393) sowie auf die „Gerichtsordnung“ (etwa § 163; insgesamt 15). 136 Abs. 8 KdmP. 1811. 137 Art. VI KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 138 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 9. 139 Art. VII (Abs. 1, Ziffer 1) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 140 Art. VII (Abs. 1, Ziffer 2) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 141 RGBl. Nr. 277 vom 17. 7. 1850.
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Ebenso wurde auch festgehalten, dass die Bestimmungen des ABGB über das Erbrecht geistlicher Personen (§§ 539, 573, 761), insbesondere die Beschränkungen der Testierfähigkeit von Ordensgeistlichen, ohne Einschränkung in Geltung traten. Hiervon waren jedoch in Ungarn Prälaten, und zwar auch jene der griechisch-unierten Kirche, grundsätzlich ausgenommen143. Dasselbe galt für die Erbfolge nach geistlichen Personen, und zwar auch bezüglich jener Teile des Nachlasses, in welche die Verwandten des Erblassers als gesetzliche Erben berufen wurden, sowie für Nachlassvermögen, das aufgrund der Avitizität erworben worden war. Auch die Behandlung erbenloser Verlassenschaften wies das ABGB „politischen Verordnungen“ (§ 760) zu. Solches Vermögen fiel nun nach Einführung des ABGB in Ungarn und Siebenbürgen allein dem Staat zu, sofern die Avitizitätspatente144 nichts Abweichendes bestimmten. Besonders hervorgehoben wurden in den Kundmachungspatenten auch die Bestimmungen des ABGB über den Nachdruck literarischer Werke (§ 1171) und über den Verlagsvertrag (§ 1164), welche ebenfalls nach „politischen Vorschriften“ zu beurteilen waren, und zwar für die nichtungarischen Länder seit 1847 nach dem Patent über den „Schutz des literarischen und artistischen Eigentums“145, das nun durch Aufnahme in den Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ zu den jeweiligen Gesetzbuchausgaben auch für Ungarn und Siebenbürgen in Geltung gesetzt wurde146. Spezielle Berücksichtigung fanden in den Kundmachungspatenten auch bestimmte „Finanz- und Cameralgesetze“147, und zwar wegen der Verweisung im DarlehensHauptstück (§ 986) des ABGB auf besondere „darüber“ bestehende „Vorschriften“. Diese regelten die Modalitäten der Rückzahlung von Darlehen in Münze oder Papiergeld, und waren den Finanzpatenten von 1816 und 1848148 zu entnehmen, welche nun mit der Einführung des ABGB in Ungarn und Siebenbürgen in Geltung gesetzt wurden.149 Beide Gesetze sind auch in den amtlichen Gesetzbuchausgaben des ABGB für diese beiden Länder jeweils im Anhang der „nachträglichen Verordnungen“ eingeschaltet worden150.
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Art. VII (Abs. 1, Ziffer 3) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. Dies in Ungarn unter Berufung auf die sogenannte „Declaratio Illyricum“ vom 16. 9. 1779 den Erzbischof von Karlowitz und die übrigen ungarischen Bischöfe betreffend. 144 Dazu siehe unten 2.d). 145 Politische Gesetze und Verordnungen … (= sog. Politische Gesetzsammlung; im Folgenden PGS) Nr. 114: Patent vom 19. 10. 1846. 146 Art. IX KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen; Nr. 72 bzw. 69 des Anhangs der nachträglichen Verordnungen der jeweiligen Gesetzesausgaben für Ungarn bzw. Siebenbürgen. 147 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 13. 148 PGS Nr. 70: Patent vom 1. 6. 1816; PGS Nr. 77: Patent vom 2. 6. 1848. 149 Art. IX KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 150 Nr. 66 (Ungarn) bzw. 63 (Siebenbürgen). 143
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Die Grundentlastung151 war nach 1848 nur in den nichtungarischen Ländern durchgeführt worden152. Im Zeitpunkt der Einführung des ABGB bestand für Ungarn und Siebenbürgen lediglich eine provisorische Verordnung aus 1849, welche die Wertminderung von Grundstücken, die mit einem sogenannten „Urbarialverhältnis“153 verbunden waren, zum Schutz der Eigentümer auszugleichen suchte. Solche Liegenschaften waren häufig mit hypothekarisch sichergestellten Forderungen belastet. Eine Kündigung des Kapitals wie auch dessen zwangsweise Einforderung wäre für den Grundstückseigentümer aber mit erheblichen Nachteilen verbunden gewesen: Einerseits hätten die meisten Betroffenen aufgrund der verminderten Nutzungsmöglichkeiten die Rückzahlung des Kapitals nicht aufbringen können, andererseits hätte sie auch eine Veräußerung der Liegenschaft schlechter gestellt, da diese nach Aufhebung der Grunduntertänigkeit einen nur mehr verminderten Wert hatte, sodass ein angemessener Erlös nicht zu erwarten gewesen wäre. Solchen Grundstückseigentümern wurde daher vom Gesetz ein Moratorium zugestanden154. Das155 Verhältnis des im ABGB geregelten allgemeinen Privatrechts zu sonderprivatrechtlichen Materien, etwa dem Lehenrecht, dem Bergrecht oder dem Handelsund Wechselrecht, stellten die Kundmachungspatente für Ungarn und Siebenbürgen nur in Bezug auf das Handels- und Wechselrecht klar: Dieses blieb, sofern es vom ABGB abwich, auch weiterhin anwendbar156. dd) aufgrund von Staatsverträgen Die Schlussbestimmungen der Kundmachungspatente regelten auch die Anwendbarkeit von Staatsverträgen, welche Materien des bürgerlichen Rechts zum Gegenstand hatten und sich nicht bloß auf bestimmte Kronländer bezogen.157 Ihre Anwendbarkeit wurde nun grundsätzlich auch auf Ungarn und Siebenbürgen erstreckt158.
Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 13 f. Das sogenannte Grundentlastungspatent vom 7. 9. 1848 (PGS Nr. 112) galt nur in Cisleithanien. 153 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 13 f. 154 Keine vor dem April 1848 in Ungarn, und keine vor dem Juni 1848 in Siebenbürgen auf einer mit einem „Urbarialverhältnis“ verbundenen Liegenschaft sichergestellte Geldschuld durfte zwangsweise eingefordert werden; hiervon grundsätzlich ausgenommen waren aber hypothekarisch sichergestellte Wechselforderungen aus Handelsgeschäften Art. IX KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. 155 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 14. 156 Art. XI KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. – Dies entsprach Absatz VII des KdmP. ABGB 1811. 157 Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 18. 158 Ebda jeweils Art. XIII. 151 152
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b) In Bezug auf den zeitlichen Wirkungsbereich Der159 zeitliche Wirkungsbereich der Geltung des ABGB in Ungarn und Siebenbürgen wurde durch die Übernahme der Nichtrückwirkungsregel des ABGB160 in die Kundmachungspatente zwar klar abgegrenzt, aber letztendlich doch nicht konsequent durchgeführt, da hiervon vier Ausnahmen normiert wurden, nämlich: (1.) Verfahren über die Ungültigkeit, Trennung und Scheidung der Ehe, welche nach Inkrafttreten des ABGB anhängig gemacht worden sind, waren, sofern weltliche Gerichtsbehörden einzuschreiten hatten, nach dem ABGB zu beurteilen161; (2.) Eltern, welche bereits vor Inkrafttreten des ABGB von der Rechnungslegung über die Verwaltung von Kindesvermögen befreit worden waren, blieben dies zwar auch weiterhin, wurden aber verpflichtet, die Substanz dieses Vermögens dem Gericht auszuweisen, welches vorhandene Sicherstellungen als ausreichend anerkennen konnte oder für eine entsprechende Sicherstellung sorgen musste162; (3.) Vormünder und Kuratoren wurden ungeachtet dessen, dass sie vor Inkrafttreten des ABGB bereits bestellt worden waren, der gerichtlichen Aufsicht unterstellt163 ; und (4.) die Regelung der Beziehungen über noch fortdauernde Rechtsfolgen der aufgehobenen Avitizität164, insbesondere solcher aus letztwilligen Verfügungen, aus gesetzlicher Erbfolge oder aus ehegüterrechtlichen Vereinbarungen, blieben, sofern Rechtswirkungen bereits vor Inkrafttreten des ABGB eingetreten waren, den Avitizitätspatenten für Ungarn und Siebenbürgen vorbehalten165. 2. Ergänzungen durch privatrechtliche Nebengesetze Der Einführung des ABGB in Ungarn und Siebenbürgen war bereits eine Reihe von privatrechtlichen Nebengesetzen vorangegangen bzw. es folgten ihr noch weitere nach 1853166. a) Personenrecht Für das Personenrecht167 sind anzuführen eine Verordnung aus 1850, mit der die Bestimmungen des ABGB über Großjährigkeit, Adoption und Legitimation168, sowie eine Instruktion aus 1851, mit der in Waisen- und Vormundschaftsangelegenheiten, 159 160 161 162 163 164 165 166
Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 17 f. Absatz 5 KdmP. ABGB 1811, § 5 ABGB. Art. XII (Abs. 2, Ziffer 1) KdmP. für Ungarn; ebenso Siebenbürgen. Ebda jeweils Art. XII (Abs. 2, Ziffer 3). Ebda jeweils Art. XII (Abs. 2, Ziffer 4). Dazu siehe oben bei Fn. 26. Ebda jeweils Art. XII (Abs. 2, Ziffer 5). Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2178 ff; Putz, wie Fn. 18, 50 ff.; Füger, wie Fn. 21,
19 ff. 167 168
Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2178 ff, besonders 2283. RGBl. Nr. 257/1850 VI 29.
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jeweils vorweg die entsprechenden Bestimmungen des ABGB in Ungarn eingeführt wurden169. 1860 wurden die Juden in den ungarischen Ländern und Siebenbürgen mit kaiserlicher Verordnung in Bezug auf ihre Besitzfähigkeit den Angehörigen der im Gesamtstaat anerkannten Konfessionen gleichgestellt170. b) Familienrecht Auf dem Gebiet des Familienrechts erfolgten 1853 Durchführungsgesetze zum Eherecht und Eheverfahren der Juden in Siebenbürgen171. Die Durchführung des kanonischen Eherechts im Gesamtstaat für Katholiken aufgrund des Konkordats von 1855172 hatte für die ungarischen Länder keine materiellrechtlichen Auswirkungen, da bei der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern das konfessionelle Eherecht und die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte im Eheverfahren beibehalten worden war173. Die bis dahin in bestimmten Fällen in Rechtssachen von Angehörigen der beiden protestantischen Konfessionen bestandene Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche in Ungarn wurde allerdings infolge des Konkordats aufgehoben und den staatlichen Gerichten unterstellt, während sich die Rechtslage für die Protestanten in Siebenbürgen nicht änderte174. Für Siebenbürgen wurden 1859 auch Sonderbestimmungen betreffend Vereinbarungen über eine eheliche Gütergemeinschaft erlassen175. c) Sachenrecht Für den Bereich des Sachenrechts sind anzuführen jene Ausführungs- und Durchführungsgesetze, die zwischen 1851 und 1853 in Zusammenhang mit der Aufhebung der Grunduntertänigkeit erlassen worden sind176. Besonders hervorzuheben ist vor allem die Umstellung des Liegenschaftsverkehrs in den ungarischen Ländern auf das in den Erbländern übliche Grundbuchsystem. Hiefür hatte die Regierung in Wien sogar besonders Propaganda gemacht. Aufgrund eines Preisausschreibens wurde eine „Ansprache an das Volk Ungarns über die Nothwendigkeit und den Nut-
169
Dazu A. Degr, Vormundschaftsrecht in Ungarn von 1848 bis 1878, in: Csizmdia/ Kovcs, wie Fn. 10, 449 ff., besonders 451; vgl. auch ÖG-Z 3 (1852), 20. 170 RGBl Nr. 15/1860 II 18. 171 RGBl Nr. 108/1853 VI 9 und Nr. 122/1853 VI 26. 172 RGBl Nr. 185/1856 X 8. 173 Vgl. dazu auch die Debatten im Ministerrat zwischen 11. März und 1. April 1856: W. Heindl (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung III/ Band 4, Wien 1987, 236 ff., besonders 236 und 248. 174 Dazu Schwarz, in: JBl 23 (1894), wie Fn. 11, 507; siehe auch oben II.1.a)aa). 175 RGBl 151/1859 VIII 12. 176 In Durchführung des (zweiten) Silvesterpatents 1851 über die Aufhebung des Grundrechtspatents von 1849 (RGBl. Nr. 3/1852): RGBl. Nr. 39 – 42/1853 III 2.
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zen der neuen Grundbücher“ in gedruckter Fassung verbreitet177. Gewinner dieses Preisausschreibens – und damit der Autor dieser „Ansprache“ – war der oben bereits erwähnte Franz Josef Schopf, der auch schon im Vormärz als Schriftsteller mit einer Reihe von Beiträgen zur Rechtsentwicklung Ungarns hervorgetreten ist. Nach 1850 hat er bis 1860 bei einem Pester Verlag, nämlich bei Heckenast, als Autor mehr als zehn weitere Werke herausgebracht, darunter eine Reihe von Titeln, die sich auch ausdrücklich auf die Rechtssituation in Ungarn bezogen, allerdings nicht auf das allgemeine Privatrecht, sondern auf sonderprivatrechtliche Materien wie etwa eine Darstellung über das „Verfahren in Grundbuchs-Angelegenheiten in Ungarn“ (1850). Bei der Einrichtung der Grundbücher konnten auch rasch Fortschritte erzielt werden, so dass ihre Anlegung bis zur Einführung des ABGB bereits abgeschlossen war178. Hinzu kommt 1854 noch der Erlass eines gesamtstaatlichen Berggesetzes179 und 1855 der Erlass einer gesamtstaatlichen Grundbuchsordnung180. Wesentliche Änderungen der bisherigen Rechtslage im Bereich des Liegenschaftsrechts brachten vor allem die gleichzeitig mit der Einführung des ABGB erlassenen Avitizitätspatente181. Eine Alternative zur Familienbindung von größeren Vermögenskomplexen anstelle des bisherigen Donations- und Avitizitätssystems bot sich aber ab 1853 mit dem ABGB in Gestalt von (Familien-)Fideikommissen. In der Ministerkonferenz vom 5. November 1856 – in Zusammenhang mit Durchführung der Grundentlastung – betonte der Innenminister zwar, dass der Kaiser die Errichtung von Fideikommissen in Ungarn begünstigt wissen wollte182. In der Praxis kam es aber zu keinem bedeutenden Anstieg der Zahl der in Ungarn vor Einführung des ABGB ohnehin nicht zahlreichen
177 Eine Reihe von anderen – zumeist der Praxis gewidmeten – Handbüchern sowie populärer Anleitungen für juristische Laien sind zwar allesamt zwischen 1854 und 1859 auch bei Heckenast in Pest erschienen, sie weisen keinerlei Bezüge auf die Rechtssituation in Ungarn auf. – Für die bibliographischen Hinweise über das schriftstellerische Schaffen von Franz Josef Schopf bin ich meinem Kollegen, Herrn Univ.-Prof. Dr. Gerald Kohl zu Dank verpflichtet. 178 Verordnung 1849 XII 28 (betreffend die Einführung der Grundbücher, kundgemacht 1850 I 14: Ungarisches LGBl. Nr. 2/1850) bei den neueingerichteten Bezirksgerichten zur Erleichterung des Übergangs zur Grundbuchsführung wie in den cisleithanischen Ländern); 1852 XII 22 mit Verordnung auf Siebenbürgen erstreckt. – Zur Vorbereitung der Grundbücher in Ungarn vgl. dazu auch Ferdinand Schuster (Professor für Zivilgerichtliches Verfahrensrecht an der Universität Pest), Kurze Anleitung zum Studium der neuesten gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung und Führung des Grundbuches in […] Ungarn […], Wien 1857. 179 RGBl. Nr. 146/1854. – Weitere sachenrechtlich relevante Nebengesetze: Forstgesetz (RGBl. Nr. 121/1857), Verordnung betreffend das Verfahren bei der Enteignung zum Zweck von Straßen- und Wasserbauten (RGBl. Nr. 82/1857). 180 RGBl. Nr. 222/1855 XII 15 – für alle ungarischen Länder des Gesamtstaates, ausgenommen Siebenbürgen, wo diese Grundbuchsordnung erst 1870, nach der „Wiedervereinigung“ mit dem Königreich Ungarn eingeführt wurde. 181 RGBl. Nr. 247: Patent vom 29. 11. 1852 für Ungarn, bzw. Nr. 100: Patent vom 29. 5. 1853 für Siebenbürgen. 182 Vgl. dazu W. Heindl (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung III/Band 5 (MRP III/5), Wien 1993, 203.
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Fideikommisse. Zu den bis 1848 bestehenden 27 adeligen Fideikommissen kamen von 1849 bis 1861 bloß weitere fünf hinzu183. d) Erbrecht Erhebliche Änderungen brachten die Avitizitätspatente auch im Erbrecht mit der Aufhebung der bis zur ABGB-Einführung differenzierten Erbfolge in ererbtes (avitisches) und aufgrund anderer Rechtstitel erworbenes Vermögen184. e) Schuldrecht Für das Schuldrecht schließlich sind anzuführen besondere Vorschriften über den gesetzlichen Zinsfuß185 sowie über Miet- und Pachtverhältnisse an verliegenschafteten Sachen wie Schiffsmühlen und Schiffen186, jeweils aus 1858. Spezielle Bestimmungen über Wildschaden und spezielle Verjährungsregeln enthielt auch das Berggesetz187. 3. Überleitung weiterer Justizgesetze In Verbindung mit der Neuorganisation der Justiz kam es, vom Erlass des Strafgesetzes und des ABGB abgesehen, zur Schaffung von weiteren Teil-Kodifikationen, nämlich 1852 zum Erlass einer provisorischen Zivilprozessordnung und einer provisorischen Konkursordnung für Ungarn und Siebenbürgen188, für alle Länder gemein183 K. Kovcs, Grundeigentumsformen mit feudalen Charakterzügen im bürgerlichen Recht, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 225 ff., besonders 227; vgl. auch ÖG-Z 2 (1851), 28. 184 Zu den übrigen Modifkationen in der Anwendung des ABGB-Erbrechts siehe oben II.1.a)cc); vgl. auch Rvsz, Neoabsolutismus, in: Der Donauraum 14 (Wien 1969), 147 f. 185 RGBl. Nr. 72: Verordnung vom 5. 5. 1858. 186 RGBl. Nr. 234: Verordnung vom 17. 12. 1858. 187 Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2208 f. 188 Noch im selben Jahr erfolgte auch die Überleitung des österreichischen Zivilverfahrensrechts mit dem Erlass von provisorischen Zivilprozessordnungen für Ungarn samt den verselbständigten Verwaltungsgebieten Kroatien-Slawonien, Woiwodina und Banat, beziehungsweise für Siebenbürgen sowie mit dem Erlass einer für alle ungarischen Länder gemeinsamen Konkursordnung: Provisorische Zivilprozessordnungen: RGBl. Nr. 104 (Siebenbürgen) beziehungsweise Nr. 190 (Ungarn); provisorische Konkursordnung: RGBl. Nr. 132. – Zum Strafprozessrecht: W. Ogris, Rechtsentwicklung in Cisleithanien, in: A. Wandruszka / P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band II (Verwaltung und Rechtswesen), Wien 1975, 558; zum Strafrecht ebda 566; zum Zivilprozessrecht: B. SchönigerHekele, Die österreichische Zivilprozessreform 1895. Wirkungen im Inland bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 – Ausstrahlungen ins Ausland, Frankfurt/Main etc. 2000, 127; J. Zlinszky, Ungarn, Zivilprozeßrecht, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band III (Das 19. Jahrhundert) / Teilband 2 (Gesetzgebung zum allgemeinen Privatrecht und zum Verfahrensrecht), München 1972, 2820, 2826 f.; K. Gönczi, Das juristische Vermächtnis des 19. Jahrhunderts in Ungarn und seine Umgestaltung im europäischen Kontext, in: Th. Giaro (Hrsg.), Modernisierung durch Transfer
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sam erfolgte 1853 der Erlass einer Strafprozessordnung189 sowie 1854 der Erlass des Gesetzes über das Außerstreitverfahren 1854;190 1852 folgte noch der Erlass einer Advokaten-191 und 1859 der Erlass einer Notariatsordnung für Ungarn und Siebenbürgen.192 IV. Die Wirkungen des ABGB im Rechtsleben 1. Unmittelbare Würdigungen Die Einführung des österreichischen Privatrechts hatte für das Rechtsleben in den ungarischen Ländern und Siebenbürgen sehr weitreichende Wirkungen nach sich gezogen, aber dadurch auch Reaktionen hervorgerufen, die sich dieser massiven Änderung der eigenen Rechtskultur entgegenzustemmen versuchten193. Der Herausgeber der in Wien seit 1850 erscheinenden Allgemeinen österreichischen Gerichts-Zeitung, Moriz Stubenrauch, etwa begrüßte die Einführung des ABGB mit „wahrhaft patriotischer Freude“. Dadurch würden „eilf Millionen Menschen“ der ungarischen Länder „mit ihren übrigen Mitbürgern verbunden“. Bezogen auf den seit 1849, insbesondere seit 1852 in Angriff genommenen Neuaufbau des Gesamtstaates hob er hervor, dass die „Herrschaft gemeinsamer Gesetze“ und „eines gemeinsamen Rechtes“ „der festeste Kitt“ sein würden, um „die Fugen eines Staatsgebäudes … zu schließen“. Die „Segnungen eines vollkommen geordneten Rechtszuim 19. und frühen 20. Jahrhundert. Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers, Band I (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 205), Frankfurt/Main 2006, 109 – 128, besonders 121. 189 RGBl. Nr. 151. 190 RGBl. Nr. 208. – Dazu R. Sprung/P. G. Mayr, Die Entstehung und Weiterentwicklung des Außerstreitgesetzes 1854, in: W. Kralik/W. H. Rechberger (Hrsg.), Symposion Außerstreitreform, Wien 1992, 9. – Ferner dazu Ch. Neschwara, Ohne Notariat gehts auch? Notarielles Gerichtskommissariat und Außerstreitverfahren 1848 – 1854, in: W. H. Rechberger (Hrsg.), Außerstreitverfahren zwischen 1854 und 2005 (= Veröffentlichungen des LudwigBoltzmann-Institutes für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen XXIX), Wien 2006, 31 ff. 191 RGBl. Nr. 109 (Siebenbürgen) und Nr. 170 (Ungarn). Dazu K. Korsne-Delacasse, Oktroyierte Rechtsanwaltsordnung in Ungarn oder die erste moderne Regelung, in: M. Steppan/ H. Gebhardt (Hrsg.), Zur Geschichte des Rechts. Festschrift für Gernot Kocher zum 65. Geburtstag, Graz 2007, 205 ff. 192 RGBl. Nr. 23. – Dazu Ch. Neschwara, Österreichs Notariatsrecht in Mittel- und Osteuropa. Zur Geltung und Ausstrahlung des österreichischen Notariats, Wien 2000, 27 – 33; jüngst Ch. Neschwara, Österreich(-Ungarn): Geschichte und Historiographie des Notariats, in: M. Schmoeckel/W. Schubert (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte des Notariats der europäischen Traditionen (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte), Tübingen 2009, 265 ff. (Exkurs: Ungarn). 193 Nahezu als eine groteske Reaktion mutet es an, dass – nach bereits erfolgter Kundmachung des ABGB für Ungarn – Gustav Wenzel im Auftrag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften 1853 zu einer Forschungsreise nach Deutschland aufbrach, nämlich nach Bayern, Sachsen und Preußen, um die Situation in Bezug auf Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsunterricht der bereisten Länder zu studieren!: Gönczi, in: Ungarn-Jahrbuch 27, wie Fn. 17, 396 f.
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standes“ würden nun „auch … jenen Ländern, in denen bisher eine mangelhafte Gesetzgebung“ und damit auch „Rechtsunsicherheit“ herrschten, zugute kommen. Das ABGB werde „zwar seinem vollen Umfange nach“ eingeführt, doch wirke es durchaus nicht nivellierend, sondern trage den „Eigenthümlichkeiten“ dieser Länder Rechnung. Einige „wichtige Beschränkungen und nähere Bestimmungen“ beträfen vor allem das Eherecht, ferner die Erbfolge in Bauerngüter, die Erb- und Testierfähigkeit der Geistlichen sowie die „Regelung der Aviticitätsverhältnisse“194. Ein anonymer Autor setzte in einem Beitrag über das Avitizitätspatent hinzu: Das „Erscheinen dieses Gesetzes“ sei ein „Epoche machendes Ereigniß“195, denn mit ihm würde das Liegenschaftsrecht vom „Schutte veralteter und krankhaft verbildeter Institutionen“ befreit. Peter Harum, seit 1852 Professor des österreichischen Zivilrechts an der Universität Pest, betonte vor allem den Aspekt der Rechtseinheit: Durch den „Umschwung in den Verhältnissen unseres Staatslebens“ bestehe durch das ABGB „für alle Angehörigen unseres großen Vaterlandes vom Po [in Venetien] bis zur Weichsel [in Galizien] und vom Inn [in Tirol] bis zur Alt [= Aluta in Siebenbürgen] ein … gleiches Recht“196. 2. Rechtsordnung Das ABGB verwirklichte erstmals die Rechtseinheit im gesamten Privatrecht für die ungarischen Länder. Es brachte – aus rechtspolitischer Perspektive betrachtet – auch durchaus akzeptable Lösungen: Jene Reformen, die der ungarische Landtag als Voraussetzung für eine künftige eigene ungarische Privatrechtskodifikation bereits 1848 beschlossen hatte197, fanden jetzt in der Einführung des ABGB, dem Erlass des Avitizitätspatents und der Durchführung der Grundentlastung ihre definitive Realisierung. Im Personenrecht wurden durch die Einführung des ABGB ständische Ungleichheiten nivelliert. Bestehen blieben aber konfessionell bedingte Ungleichheiten, die sich vor allem im Familienrecht auswirkten. Unter Berücksichtigung der „besonderen Verhältnisse“ der ungarischen Länder und Siebenbürgens blieb der enge Konnex zwischen Konfession und Eherecht erhalten, sodass die Vielfalt von verschiedenen Eherechtssystemen in den ungarischen Ländern und in Siebenbürgen fortlebte. Die intermediäre Gewalt der anerkannten Kirchen wirkte auch im Matrikelwesen insofern weiter, als trotz grundsätzlicher Schaffung staatlicher Personenstandsregister die ABGB-Kundmachungspatente jeweils Ausnahmen für die Eheschließungen normierten.
Einführung, in: ÖG-Z 4 (1853), 147. Studien aus dem ungarischen Rechte. Ein Beitrag zum Verständnis der a.h. (Avitizitäts)Patente, in: ÖG-Z 3 (1852), 317. 196 P. Harum, (in einer Rezension über die ersten Lieferungen von Josef Unger zu Band I seines Systems des österreichischen allgemeinen Privatrechts, 1853 das dann bis 1856 vollständig erschienen ist), in: (Haimerls) Magazin für Rechts- und Staatswissenschaft mit besonderer Rücksicht auf das österreichische Kaiserreich, Prag (und Wien) 8 (1853), 388. 197 Dazu siehe oben bei Fn. 33 ff. 194
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Anders als im konfessionell bestimmten Eherecht brachte das ABGB im Personen- und Familienrecht für die ungarischen Länder und Siebenbürgen eine formale Rechtsgleichheit; geschlechtsspezifische Beschränkungen – etwa im ehelichen Vermögensrecht – wurden also weitgehend abgebaut. Die im Erbrecht 1848 noch vom Landtag beschlossene Beseitigung der aufgrund der Avitizität bestehenden ständisch-feudalen Elemente kam erst mit der Einführung des ABGB praktisch zur Geltung, ebenso wie im Bereich des Liegenschaftsverkehrs; hier in Verbindung auch mit der Einführung der Grundbuchsordnung von 1855 und dem Berggesetz von 1854. Neben das ABGB trat eine Reihe von weiteren Kodifikationen hinzu: Im Bereich des Sonderprivatrechts die Allgemeine Wechselordnung 1850198 ; im Bereich des Verfahrensrechts die provisorische Zivilprozeßordnung 1852 für Ungarn199 und Siebenbürgen200 sowie 1853 die ungarische und siebenbürgische Konkursordnung201 sowie das (allgemeine) Gesetz über das Verfahren in Außerstreitsachen 1854202 und im Bereich des Strafrechts 1852 das (allgemeine) Strafgesetz203 sowie die (allgemeine) Strafprozeßordnung 1853204. 3. Rechtswissenschaft a) Rechtsunterricht Noch vor Beginn der Geltung des ABGB wurde damit begonnen, das österreichische Privatrecht im Unterricht an den Rechtsfakultäten der ungarischen Länder und in Siebenbürgen205 einzuführen. Schon zu Beginn des Studienjahres 1850/51 wurden provisorische Studien-Vorschriften für die Rechtsakademien Agram (in Kroatien) sowie Großwardein, Kaschau und Preßburg (jeweils in Ungarn) erlassen206. Diese sahen vor, dass außer „das bisher geltende Privatrecht“ – an den ungarischen Rechtsakademien „sammt dem Bergrech-
198
RGBl. Nr. 51 vom 25. 1. 1850. RGBl. Nr. 190 vom 16. 7. 1852. 200 RGBl. Nr. 104 vom 3. 5. 1852. 201 RGBl. Nr. 132 vom 18. 7. 1853. 202 RGBl. Nr. 208 vom 9. 8. 1854. 203 RGBl. Nr. 117 vom 27. 5. 1852. 204 RGBl. Nr. 151 vom 29. 7. 1853. 205 Zum Rechtsunterricht im Detail, insbesondere seit 1860: W. Zorn, Die Organisation der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien in Ungarn seit 1860, in: JBl 13 (Wien 1884), 233 ff., 245 ff.; knapp dazu auch: Zlinszky, wie Fn. 18, 133; jüngst: K. Gönczi, Die Juristenausbildung in Ungarn vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Habsburgermonarchie, in: Z. Pokravac (Hrsg.), Juristenausbildung in Osteuropa bis zum Ersten Welkrieg (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 225 = Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers, hrsg. von T. Giaro, Band 3), Frankfurt/Main 2007, 37 – 80, besonders 67 – 75. 206 RGBl. Nr. 380 bzw. Nr. 381. 199
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te“ – nun auch „das österreichische Privatrecht“ zu unterrichten war207. Gleichzeitig wurde für die einzige Universität in den ungarischen Ländern, die Universität Pest, die an den erbländischen Universitäten maßgebliche juristische Studienordnung auf deren juristische Fakultät ausgedehnt208. Die übrigen konfessionellen Rechtsakademien und Kollegien mit rechtswissenschaftlichen Studien wurden bereits 1850 eingestellt209. Zum Kreis der in den ungarischen Ländern fortbestehenden Rechtsfakultäten kam 1852 noch die siebenbürgische Rechtsakademie zu Hermannstadt hinzu210. 1853 erhielt darüber hinaus auch das rechtswissenschaftliche Kollegium zu Debreczin in Ungarn das Öffentlichkeitsrecht, verlor dieses aber schon wieder 1855211 im Zuge der Hochschulreform unter Kultus- und Unterrichtsminister Thun-Hohenstein212. Die neue juristische Studienordnung von 1855 sah für das dreijährige, 120 Wochenstunden umfassende Rechtsstudium an den Rechtsakademien im ersten Semester des zweiten Studienjahres zehn Wochenstunden für Vorlesungen über „österreichisches Privatrecht“ vor. Im zweiten Semester kamen weitere sechs hinzu, allerdings neben fünf Wochenstunden über „ungarisch-siebenbürgisches Privatrecht“213. Für die Universität Pest ergab sich eine Modifikation in Bezug auf das – nur dort zulässige – Doktoratsstudium insofern, als das ungarische Privatrecht dort auch einen Gegenstand der Rigorosen bildete214. Unterrichtet wurde das „österreichische Privatrecht“ auch an der Universität Pest seit 1850, und zwar in deutscher Sprache215. Der erste Ordinarius für dieses Fach war Gustav Wenzel, einer der führenden Juristen Ungarns, der vom Wiener Theresianum hierher berufen wurde, und zwar in Verbindung mit dem in Ungarn bisher geltenden Privatrecht sowie dem Bergrecht216; 1852 wurde das österreichische Privatrecht in Verbindung mit „allgemeinem deutschen Privatrecht“217 gelesen, nämlich von Peter Harum218 aus Graz, der zuvor 1850/51 dieselben 207
RGBl. Nr. 380 § 13 Ziffer 2 und 3, bzw. RGBl. Nr. 381 § 16 Ziffer 2 und 5. RGBl. Nr. 430. 209 Vgl. dazu den Überblick über die in den Ländern Ungarns bestehenden Hochschulen und Universitäten mit Rechtsunterricht bei: Zlinszky, wie Fn. 18, 134 ff. 210 Hinweis auf einen – in den amtlichen Publikationsorganen nicht kundgemachten – Erlass des Ministeriums für Kultus und Unterricht aus 1852 XI 26, in: Übergangsbestimmungen (I lit. b) zur Studienordnung 1855 (RGBl. Nr. 172). 211 Studienordnung 1855 (RGBl. Nr. 172), Übergangsbestimmungen IV lit. n. 212 Dazu im Detail: H. Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, 1962, 365. 213 Vgl. dazu Zlinszky, wie Fn. 18, 141. 214 Kaiserliche Entschließung über den Erlass der Studienordnung: Lentze, wie Fn. 212, 365. 215 AVA, Unterricht – allgemeine Reihe, Faszikel 1110 (Universität Klausenburg und Pest, Jus), Akt Nr. 100/99 ex 1850. 216 AVA, Unterricht, Faszikel 1110 Akt Nr. 3732/266 ex 1850. 217 Auch Wenzel hielt seit 1854 solche Vorlesungen, allerdings in ungarischer Sprache: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 4252/228 ex 1854. – An der Universität Pest als 208
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Fächer schon an der Rechtsakademie zu Hermannstadt in Siebenbürgen vertreten hatte219. An der Rechtsakademie in Preßburg wurde das österreichische Zivilrecht von einem Extraordinarius betreut, nämlich von Prokopp Heller, davor Privatdozent für dieses Fach am 1849 geschlossenen Lyzeum Olmütz;220 an der Rechtsakademie zu Kaschau las August Eckmayer als Extraordinarius allgemeines österreichisches Zivilrecht in Verbindung mit dem Handels- und Wechselrecht;221 in derselben Funktion und dieselbe Fächerkombination findet sich an der Rechtsakademie Großwardein ein gewisser Paul Josef Nmthi222. Auch an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien blieb das ungarische Privatrecht im Unterricht erhalten, und zwar gemäß Studienordnung 1855 als Gegenstand der Rechtsgeschichte „einzelner österreichischen Länder“. Hierzu wurde der Lehrstuhl für ungarisches Recht herangezogen. Inhaber war seit 1854 Anton Vghy. Er ist davor Professor für Statistik und Bergrecht an der ungarischen Rechtsakademie zu Kaschau gewesen. 1863 ersuchte er um die Versetzung an eine ungarische Rechtsakademie oder um die Verleihung einer der beiden vakanten Lehrkanzeln für die ungarischen Zöglinge an der Theresianischen Ritterakademie in Wien für ungarisches Privat- und Staatsrecht. Die Versetzung an eine ungarische Rechtsakademie war aber aus politischen Gründen nicht realisierbar, und am Theresianum bestand für die insgesamt bloß etwas mehr als 50 Zöglinge aus ungarischen Ländern kein Bedarf für die Besetzung einer eigenen Lehrkanzel, außerdem war Vghy für das ungarische Staatsrecht fachlich überhaupt nicht ausgewiesen. Seine beiden Gesuche wurden daher vom Unterrichtsministerium abgelehnt223. Vghy ist danach auch Privatdozent für dieses Fach und Rechtsgeschichte wurde 1859 noch Hugo von Kremer-Auenrode habilitiert, so dass ein dritter Lektor für das Privatrecht zur Verfügung stand: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 12790/749; vgl Hof- und Staatshandbuch des Kaiserthumes Österreich für das Jahr 1856, 4. Teil, 58 (ebenso 1858 und 1859): Professor des ungarischen Privatrechts, des Zivilprozesses, des Bergrechts sowie der deutschen Rechts- und Reichsgeschichte. – Kremer wurde nach der Magyarisierung der Universität Pest 1861 nach Wien berufen, erlangte dort 1864 das Extraordinariat und wurde 1874 als Ordinarius des Deutschen Rechts nach Prag berufen, wo er bereits 1888 verstarb: H. Sturm (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder, Band 2 (München 1984), 303. 218 An seiner Stelle hätte ursprünglich 1851 Johann Söllner, berufen werden sollen, dieser starb jedoch bevor er sein Lehramt antreten konnte: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 3427/329 ex 1851; vgl. zu Harum: Hof- und Staatshandbuch des Kaiserthumes Österreich für das Jahr 1856, 4. Teil, 58 (ebenso 1858 und 1859): Professor für österreichisches Zivilrecht und die Prozeßordnung. 219 Harum las dort außerdem noch österreichisches Strafrecht: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 13005/817 ex 1861. 220 AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 4210/226 ex 1862; vgl. Hof- und Staatshandbuch des Kaiserthumes Österreich für das Jahr 1856, 4. Teil, 169 (ebenso 1858), 1859, 1127. 221 Hof- und Staatshandbuch des Kaiserthumes Österreich für das Jahr 1856, 4. Teil, 299 (ebenso 1858). 222 Hof- und Staatshandbuch des Kaiserthumes Österreich für das Jahr 1856, 4. Teil, 358 (ebenso 1858). 223 Geschichte der Universität Wien, 161.
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weder in seinem Lehramt224 noch als juristischer Publizist hervorgetreten, sondern als „leidenschaftlicher Vogelfreund“225. b) Juristische Literatur aa) Darstellungen österreichischer Juristen Die Ausdehnung der cisleithanischen Justizgesetzgebung auf die ungarischen Länder und Siebenbürgen seit 1849 gab der deutschösterreichischen Rechtswissenschaft Anstöße zu literarischen Aktivitäten. So nahmen im Bereich des allgemeinen Privatrechts die Kommentierungen des ABGB auf dessen Sonderstellung in jenen Ländern Rücksicht, insgesamt aber blieben solche Bezüge doch eher spärlich. Anzuführen sind das 1853 in 5. Auflage erschienene „Handbuch des österreichischen allgemeinen Zivil-Rechtes“ von Josef Ellinger, welches nun auch das ABGBEinführungspatent für die ungarischen Länder enthielt, noch nicht aber auch jenes für Siebenbürgen. Das „Handbuch des allgemeinen Privatrechts“ von Adalbert Theodor Michel aus Prag, 1853 in Wien und Olmütz erschienen, weist in der Vorrede jedenfalls darauf hin, dass es besondere Bedachtnahme „vorzüglich … auch auf Ungarn, Siebenbürgen, Kroazien, Slavonien, die serbische Woiwodschaft und das Temeser Banat“ nehmen werde. Moriz Stubenrauch kommentierte seit 1853 „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch … sammt den dazu erflossenen Nachtrags-Verordnungen“, vor allem auch „unter Berücksichtigung der Einführung des Gesetzbuches in Ungarn und Siebenbürgen“, durch die er, wie er im Vorwort betont, zur Abfassung dieses Kommentars veranlasst worden ist226. Eine Rezension in Haimerls Magazin von Peter Harum, Professor des österreichischen Zivilrechts an der Universität Pest, über die ersten beiden Lieferungen zu Stubenrauchs 1. Band seines Kommentars aus 1853 betont den Bedarf an solchen Darstellungen in der Praxis, weil die älteren, „zum Theile … gänzlich vergriffenen Commentare“ dafür „nicht mehr genügen“. Verglichen mit Ellingers „Handbuch“ und mit den in Ungarn erschienenen Darstellungen227 galt ihm Stubenrauchs Kommentar jedenfalls als „der bedeutendste“228. Zugleich mit dem Abschluss des 1. Bandes zu Stubenrauchs Kommentar ist 1856 in Wien auch die 2. Auflage der Darstellung „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch …“, eine populäre Bearbeitung, „ausgelegt für Bürger und Landmann“ von einem 224 Wie aus seinem Personalakt hervorgeht ist er nach 1863 nur mehr mit regelmäßig gestellten Forderungen um Gehaltserhöhungen hervorgetreten: AVA, Unterricht, allgemeine Reihe, Faszikel 592 (Universität Wien, Professoren); vgl. auch ebda. Faszikel 586 (Universität Wien, Lehrkanzel für ungarisches Recht). 225 Aber auch als solcher ist er mit dem Projekt einer Kanarienvogelzucht im Tiergarten Schönbrunn gescheitert. C. Wurzbach (Hrsg.), Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Band 50, 71. 226 Vorrede, III f. 227 Zu diesen sogleich im Folgenden. 228 Haimerls Magazin 8 (1853), 388 ff., besonders 389 Fn. *.
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namentlich nicht genannten „practischen Juristen“ erschienen; ihr waren aber bloß die Texte der ABGB-Kundmachungspatente für Ungarn und Siebenbürgen beigebunden229. Keinerlei Bezüge auf die besondere Situation des Privatrechts in den ungarischen Ländern finden sich aber in Ungers – ebenfalls 1856 erschienenem – 1. Band zu seinem „System des österreichischen Privatrechts“. Weiters ist noch anzuführen eine 1860 in Wien herausgegebene „Sammlung von Gesetzen zum österreichischen bürgerlichen Gesetzbuche“, welche auch die aufgrund der Verweisungen des ABGB mit diesem verbundenen Gesetze und die das ABGB ergänzenden Nachtragsverordnungen nach dem Stand der Gesetzgebung bis Ende Mai 1860 wiedergab. In der „Einleitung“230 wies der Herausgeber zwar darauf hin, dass „die wegen späterer Einführung des Gesetzbuches in mehreren Kronländern erschienenen Kundmachungspatente überall als bekannt vorausgesetzt“ wurden, dennoch fand die besondere Situation des ABGB in den ungarischen Ländern Berücksichtigung, freilich ohne dies im Text hervorzuheben oder sichtbar zu machen. Ebenfalls 1860 erschien in Wien noch die Neuauflage einer „Sammlung von Entscheidungen zum österreichischen ABGB“, und zwar unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass mit Geltung des ABGB „im gesamten Umfang des Kaiserstaates“ auch die Zuständigkeit des obersten Gerichtshofs in Wien ausgedehnt worden sei: Daher „muß diese Rechtsprechung durch eine geordnete Sammlung dem juridischen Publikum“ in jenen Ländern, wo das ABGB erst seit 1853 in Geltung stand, „allgemein und leicht zugänglich sein“231. bb) Darstellungen ungarischer Juristen Aus der Sicht von Gustav Wenzel, einem der damals führenden ungarischen Juristen, war man durch die Einführung des ABGB „an ein Ziel gelangt“, an dem „österreichisch-deutsche und … ungarische Juristen“ nicht mehr durch unterschiedliches Recht von einander getrennt seien, so dass „es nunmehr dem ungarischen Juristen auch obliegt, die österreichische bürgerliche Gesetzgebung zum Gegenstande ernster Studien“ zu machen, dass aber „den österreichisch-deutschen Juristen ebenfalls“ das bisherige ungarische Recht, „namentlich bürgerliche, nicht mehr eine terra incognita bleiben“ dürfe232.
229 Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für das Kaiserthum Österreich. Ausgelegt für Bürger und Landmann und zum Nachschlagen eingerichtet von einem praktischen Juristen, 2. Aufl., 1856; im Vorwort kein Hinweis auf die Geltung des ABGB in den ungarischen Ländern; Einleitung, 3 – 7, ABGB-Kundmachungspatent/Ungarn sowie 7 – 10, ABGB-Kundmachungspatent/Siebenbürgen, jeweils Art. III–VII und XII. 230 Einleitung (unpaginiert), 5. Seite. 231 F. Peitler, Sammlung von Entscheidungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche (von 1813 – 1857), 2. Auflage, Wien 1860, Vorwort, 1. 232 G. Wenzel, Die Avitizität des ungarischen Rechts, in: ÖG-Z 2 (1851), 381 ff.
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Obgleich die Geltung des österreichischen Privatrechts in den ungarischen Ländern zu einer völlig veränderten Situation für die Rechtswissenschaft geführt hatte, kamen von Seiten der ungarischen Rechtswissenschaft zur Einführung und Anpassung des österreichischen Rechts an die ungarischen Verhältnisse so gut wie keine Beiträge233. Es sind daher relativ wenige Darstellungen des neuen Privatrechts durch ungarische Autoren feststellbar; an in ungarischer Sprache erschienenen Werken sind folgende anzuführen: Ludwig Kalls, Grundsätze des österreichischen ABGB „mit Erklärungen“, Pest 1852;234 eine anonyme Ausgabe des ABGB „als Handbuch für Richter und Rechtsanwälte“, Pest 1853; Gustav Wenzel, Das österreichische ABGB „erklärt nach den Verhältnissen“ der ungarischen Länder, Pest 1853; Wilhelm Rcz, Das österreichische ABGB „erklärt“, in drei Bänden, Wien 1854; Kroly Obernyik, Systematischer Auszug des „Österreichisch-ungarischen ABGB“, Pest 1853; sowie Stefan Szokolay, Das neue österreichische ABGB „erklärt“, 1853 im Selbstverlag in Pest erschienen. Sämtliche der angeführten Darstellungen standen aber – so wie die ungarische Privatrechtswissenschaft überhaupt – auf keinem hohen wissenschaftlichen Niveau. Szokolays Darstellung etwa werteten Leopold Pfaff und Franz Hofmann später in ihrem seit 1877 gemeinsam veranstalteten ABGB-Kommentar als ein völlig „unbrauchbares Machwerk“235. Zu den angeführten ABGB-Bearbeitungen in ungarischer kommen weitere in deutscher Sprache hinzu; sie alle wurden von der deutschösterreichischen Kritik ausgesprochen negativ beurteilt. Die 1853 in Pest und im selben Jahr auch in deutscher Übersetzung erschienene, praxisorientierte Darstellung „Der ungarische Hausadvokat auf Grundlage der neuesten Gesetze“ etwa, herausgegeben von dem eben erwähnten Szokolay, wurde zwar als „wahrhaft populäre Darstellung“ charakterisiert – was aber nicht in positivem Sinn gemeint war: Der Rezensent sah sich sogar genötigt, „dem Verfasser … von ähnlichen Versuchen, wenigstens in deutscher Bearbeitung abzurathen“.236 Noch schlechter weggekommen ist ein im selben Jahr in Pest erschienener vierbändiger ABGB-Kommentar von Wilhelm Pauly237. Ein Rezensent238 bemängelte, dass sich in diesem Werk „kein einziges Quellencitat“ finde, und er weist dann sogar nach, dass Pauly seine Ausführungen aus dem ABGB-Kommentar „Nippels geradezu wörtlich abgeschrieben“ habe; es sei ihm daher der Vorwurf zu machen, 233 So Zlinszky, wie Fn. 18, 34: Er charakterisiert die Haltung der ungarischen Rechtswissenschaft als Ausdruck passiven Widerstandes. 234 Er ist 1846 in Pest auch mit einer Darstellung des ungarischen Privatrechts hervorgetreten. 235 L. Pfaff/F. Hofmann, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, Band I/Teil 1, Wien 1877, 67. 236 Haimerls Magazin 9 (1854), 423 ff., besonders 426. 237 „Allgemeines österreichisches Gesetzbuch, eingeführt … in Ungarn, … nebst den auf dieses Gesetzbuch sich beziehenden nachträglichen Verordnungen. Systematisch und praktisch erklärt …“, Pest 1853. 238 ÖG-Z 4 (1853), 379 f. – Vgl. auch J. Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, I, 1856, 19 Fn. 4: „Diese ganz und gar werthlose Schrift hat ihre gebührende Abfuhr in der allg. Österr. Gerichts-Zeitung“; ferner Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 63.
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bloß ein „Plagiat“ geliefert zu haben239. In der Kritik ebenfalls „durchgefallen“ ist die in vier Bänden in Wien 1854 erschienene „Ausführliche Erläuterung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches mit besonderer Berücksichtigung auf Ungarn und dessen vormahlige Nebenländer“ des Ludwig Pexa;240 eines Konzeptsbeamten am serbischbanatischen Oberlandesgericht zu Temesvar. Ein Rezensent241 stellte sarkastisch fest: Pexa habe einen ABGB-Kommentar geliefert, mit dem er „auf jeder Seite … zeigt, daß er gar keine Berechtigung und Befähigung zum juristischen Schriftsteller“ habe. Die Darstellung sei gekennzeichnet durch „gänzliche Systemlosigkeit oder vielmehr Zerfahrenheit“ und daher in keiner Weise positiv zu würdigen. Auch Josef Unger242 urteilte in der Einleitung zum ersten Band seines Systems negativ darüber: „ein flaches geist- und werthloses Product eitler Buchmacherei, recht darauf berechnet, bei der Einführung des bürgerl. Gesetzb. in Ungarn … jede tiefere Auffassung“ über das österreichische Privatrecht „im Keim zu ersticken“. Ein weiteres Werk von Pexa, „Die gesamten gesetzlichen Bestimmungen in Ehesachen im Kaiserthume Oesterreich“243, das die für die Länder Ungarns bestehenden Vorschriften im Eherecht enthält, ist von der Kritik nicht mehr beachtet worden. Allein die 1853 in Preßburg erschienenen „Erläuterungen zum allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche“ von Franz Petruschka, Professor an der dortigen Rechtsakademie, hatte keine ausdrücklich negative Aufnahme gefunden. Pfaff und Hofmann244 etwa beließen es bei der neutralen Bemerkung, Petruschka habe ein Werk „für das momentane Bedürfnis“ verfasst. Ferner ist auf von ungarischen Autoren in deutscher Sprache veröffentlichte Spezialliteratur hinzuweisen, die sich zum einen mit den Folgen der Aufhebung der Avitizität sowie zum anderen mit der Einführung des Grundbuchs in den ungarischen Ländern auseinandersetzt. Anders als die ABGB-Bearbeitungen haben diese Darstellungen eine durchaus positive Aufnahme in der Kritik durch die cisleithanischen juristischen Fachzeitschriften gefunden. Lorenz Tths Broschüre über „Die Avitizität und sonstigen Besitzverhältnisse geordnet durch das Patent … 1852“, 1853 in Pest in deutscher Übersetzung245 erschienen, wurde in Haimerls Magazin246 lobend behan-
239 F. X. Nippel, Erläuterung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches …, 9 Bände, Graz 1830 – 1838. 240 Das Werk ist offenbar schon 1853 in Pest (siehe auch unten die in Fn. 271 angeführte Rezension) sowie 1853/54 auch im siebenbürgischen Temesvar verlegt worden und 1856 in Pest in 2. Auflage erschienen. 241 Haimerls Magazin 12 (1856), 136 ff., besonders 136 und 140. 242 Unger, wie Fn. 238, 19 Fn. 5. 243 Das Heftchen ist in Pest 1857 erschienen. 244 Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 63. 245 Ferner ist von ihm erschienen: Erläuterungen des Aviticitäts-Patent, Pest 1854; später auch noch: Theoretischer und praktischer Wegweiser in Urbarialsachen, Pest 1857 (dazu auch Zlinszky, wie Fn. 18, 26 Fn. 71).
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delt: Sie zeichne sich durch „Klarheit und Bündigkeit“ sowie „Faßlichkeit“ aus; es sei daher „den mit dem ungarischen Rechte und seinen Eigenthümlichkeiten minder vertrauten, vielleicht in Ungarn seine Laufbahn erst beginnenden Geschäftmännern, wie z. B. dem Fiscalbeamten, dem Richter“ zu empfehlen, da gerade diese „häufig und längere Zeit nach der Kenntniß des früher bestandenen Rechtes … bedürfen“. Eine weitere Broschüre über „Das kaiserliche Aviticitäts-Patent … 1852“ wurde 1856 von Adam Osten 1856 in Pest herausgegeben. Sie enthielt im Anhang auch zwei 1856 bereits in der ungarischen Fachzeitschrift „Jogtudomny. s Törvnykezsi Tr“ veröffentlichte Beiträge über spezielle erbrechtliche Folgen der Aufhebung der Avitizität in deutscher Übersetzung247. Sodann ist Ferdinand Schusters „Anleitung zum Studium der neuesten gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung und Führung des Grundbuches“, 1857 in Wien erschienen, anzuführen. Über sie äußerte sich ein Rezensent248 durchaus gefällig, meint aber auch, Schusters Darstellung „wird sich aber speciell nur vielleicht in den Händen seiner Zuhörer vorfinden“249. Weniger an den „theoretisch und practisch gebildeten“ Fachmann“ als vielmehr „im volkstümlichen und gemeinnützigen Sinne“ an den „angehenden Beamten“ wandte sich bereits 1851 ein österreichischer Grundbuchsbeamter in Ungarn mit einer Broschüre über die „Practische Anwendung der prov. Gesetze … über das Grundbuchsverfahren … im Kronlande Ungarn“250. Schließlich sind noch einige rechtsvergleichend-rechtshistorisch orientierte Darstellungen anzuführen. Ihre Autoren, Friedrich Schuler v. Libloy, Friedrich Sachsenheim und Maximilian Füger v. Rechtborn, waren jeweils Angehörige der deutschen Volksgruppe in Siebenbürgen, der sogenannten „Sachsen“, und setzten sich vor allem mit der besonderen Privatrechtssituation in diesem Land auseinander. Schuler hat zwei derartige Darstellungen geliefert, und zwar zunächst 1853 eine rechtshistorische Arbeit über „Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen …“251, wofür ihm in einer Rezension in Haimerls Magazin252 sein „lobenswerthes Streben“ positiv angerechnet wurde. In den folgenden Jahren bis 1858 entstand in Lieferungen seine drei246
Haimerls Magazin 9 (1854), 426 f., besonders 427 (Rezensent: Ferdinand Schuster, damals Professor für Zivilgerichtliches Verfahren und Lehenrecht an der Universität Pest: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 4806/262 und 5517/2299 ex 1854). 247 Anhang I (46 – 49): „Von den letztwilligen Fideicommissen“; Anhang II (50 – 56): „Von der Geltung der alten Testamente“. 248 Haimerls Magazin 16 (1857), 526 ff., besonders 529. 249 Schuster war damals bereits Ordinarius für Zivilgerichtliches Verfahren sowie Handelsund Wechselrecht an der Universität Pest: AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Akt Nr. 19382/1127 ex 1856. 250 F. Brezina, Practische Anwendung der prov. Gesetze vom 28. Dezbr. 1849 und 16. August über das Grundbuchsverfahren, und vom 2. August 1850 über die Stämpel- und Taxgebühren im Kronlande Ungarn, Preßburg 1851. 251 „Statuta jurium municipalium Saxonum in Transylvania. Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen …“, Hermannstadt 1853. 252 Haimerls Magazin 8 (1853), 138 ff. (Rezensent Ferdinand Schuster). – Vgl. auch die Anzeige in der ÖG-Z 4 (1853), 277.
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bändige „Siebenbürgische Rechtsgeschichte“253, die zum Teil aus seinen Vorlesungen als Rechtslehrer an der Rechtsakademie zu Hermannstadt hervorgegangen war. Sie erfasste die Rechts- und Verfassungsgeschichte, das Privatrecht, und zwar differenziert nach den Sonderrechtgebieten der in Siebenbürgen anerkannten Volksgruppen (Ungarn, Szekler und „Sachsen“)254, sowie das Straf- und Verfahrensrecht. In den cisleithanischen Fachzeitschriften fand sie eine durchwegs positive Aufnahme255. Von der zeitgenössischen Kritik als „eine wahre Bereicherung unserer Rechtsliteratur“ aufgenommen wurde auch die in Wien 1853/56 erschienene, durch den Tod des Verfassers aber unvollständig gebliebene Darstellung „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch … verglichen mit dem siebenbürgischen Civilrechte“ von Friedrich Sachsenheim256. Dasselbe gilt für das in Hermannstadt 1858 erschienene Werk „Das alte und neue Privatrecht in Ungarn …“ von Maximilian Füger v. Rechtborn. Es wurde vom Rezensenten als „bestens anzuempfehlen“ bewertet, weil ihr Autor als Professor an der Rechtsakademie zu Hermannstadt wirkte und als Vizepräsident des dortigen Oberlandesgerichts auch als Praktiker ausgewiesen war, was eine „umso erfreulichere Erscheinung sei“257. Füger geht in seiner Darstellung nach einem kurzen Überblick über die ungarisch-siebenbürgische sowie die deutschösterreichische Rechtsgeschichte auch der Frage der Fortdauer des alten und der Rückwirkung des neuen Privatrechts258 nach. Er hebt vor allem die vielfältigen Verbindungen des ABGB mit den ihm in der Geltung zeitlich vorangehenden Rechtsordnungen, besonders zum siebenbürgischen Landesrecht hervor. Aus diesem Problemkreis greift Füger sodann 1860 für eine weitere Arbeit das „Erbrecht nach dem Oesterreichischen allgemeinen bür-
253 Siebenbürgische Rechtsgeschichte … compendiarisch dargestellt, 3 Bände, Hermannstadt 1855 – 1858. 254 Vgl. Zlinszky, wie Fn. 18, 19. 255 ÖG-Z 5 (1854), 15: Der Rezensent lobte bereits nach den ersten Lieferungen („Hefte“) zu Band I „das gehaltvolle Werk“ als die „auf einem bis jetzt vernachlässigten Gebiete die bedeutendste Erscheinung“; etwas kritischer bereits die Besprechung in Haimerls Magazin 11 (1855), 437 f., wo es hieß, dass man „um so ungeduldiger“ weitere Lieferungen erwarte, „als darin manche fühlbare Lücke dieses Heftes ausgefüllt“ würden; eine zweite Rezension im folgenden Jahr (11/1856, 246 ff., besonders 248) war ebenfalls durchaus positiv gehalten: Man werde die weiteren Lieferungen zu diesem „Werk im Voraus mit Freuden begrüßen“. 256 Rezensionen: ÖG-Z 4 (1853), 415 f.; vgl. auch F. Schuster in Haimerls Magazin 8 (1853), 138 Fn. *, der in einer Rezension der Darstellung Schulers v. Libloy über das „EigenLandrecht der Siebenbürger Sachsen“ 1853 auf dieses „interessante Werk“ hinwies; vgl. dagegen das eher abschätzige Urteil von Pfaff, in: Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 63, welcher dort in Frage stellte, dass Sachsenheim damit eine „wissenschaftliche Erläuterung“ geliefert habe. – Sachsenheims Darstellung brach nach dem Tod des Verfassers nach der 7. Lieferung bei § 937 ABGB ab; es war dem Verlag aber nicht gelungen „einen geeigneten Mann ausfindig zu machen, welcher im Stande gewesen wäre, … die Arbeit fortzusetzen“: Vgl dazu das Vorwort des Verlags. 257 Haimerls Vierteljahresschrift 1 (1858), 25 ff., besonders 27. – Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 63, halten sie für eine bloß „mittelmäßige Arbeit“. 258 Dazu siehe oben bei Fn. 120 ff.
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gerlichen Gesetzbuche“259 heraus und stellt es in einem Vergleich den Besonderheiten des ungarisch-siebenbürgischen Erbrechts gegenüber. cc) Österreichische Zeitschriften260 Bis zur Einführung des ABGB hat die juristische Fachzeitschriften-Literatur in Cisleithanien sich bloß punktuell und sporadisch in Beiträgen und Mitteilungen sowie in Anzeigen und Rezensionen mit der Privatrechtssituation in den ungarischen Ländern befasst. Um 1852 und 1853 ist sodann zwar ein Anstieg von Beiträgen mit solchen Bezügen festzustellen, doch bleibt ihr Anteil insgesamt durchwegs gering; ab 1860/61 – mit der formellen Beendigung der Geltung des ABGB in Ungarn – setzt auch wieder ein markanter Rückgang ein. Die Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung261 enthält im Zeitraum von 1850 bis 1860 insgesamt 44 Beiträge, die sich auf die Rechtssituation in den ungarischen Ländern beziehen; die meisten davon, fast die Hälfte, betreffen das Privatrecht: Für 1851 liegt bloß ein Beleg vor, nämlich eine Ankündigung der Regierung über die Einführung der Grundbücher;262 1852 aber sodann bereits drei Mitteilungen über die ersten auch die ungarischen Länder betreffenden gesetzlichen Maßnahmen im Bereich des Privatrechts263 sowie eine Abhandlung von Gustav Wenzel, Professor der Rechte an der Universität Pest, die sich mit der „Avitizität des ungarischen Rechts“264 auseinandersetzt; 1853 ist ein deutlicher Anstieg auf insgesamt sieben Beiträge zu verzeichnen, nämlich: zwei Rezensionen265 und eine Buchanzeige266 sowie vier Abhandlungen, eine davon vom Herausgeber Moriz Stubenrauch über „Die Einführung des
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Das Erbrecht nach dem Oesterreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche systematisch dargestellt und mit den früheren Landesgesetzen in Ungarn … Siebenbürgen … verglichen“, Hermannstadt 1860. 260 Zu den im Folgenden analysierten Zeitschriften allgemein: W. Brauneder, Juristische Fachzeitschriften in Österreich / Cisleithanien als Zeichen rechtlicher Zäsuren in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Stolleis/Simon, Juristische Zeischriften, wie Fn. 39, 287 ff. 261 Seit 1850 in Wien erschienen; Herausgeber Moriz Stubenrauch, 1858 – 1863 Julius Glaser Mitherausgeber. 262 ÖG-Z 2 (1851), 28: „Ansprache an das Volk Ungarns über die Nothwendigkeit und den Nutzen der neuen Grundbücher“; dazu siehe auch oben bei Fn. 176 ff. 263 ÖG-Z 3 (1852), 20: Hinweis auf die „Waisen- und Kuratelordnung für Ungarn“ (dazu siehe auch oben II.2.a); ebda 147: Hinweis auf „Die Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Ungarn …“; ebda 432: kurzer Bericht über die „Fortschritte der Einrichtung von Grund- und Intabulationsbüchern in Ungarn …“. 264 ÖG-Z 3 (1852), 377 f., 381 f., 385 f., 389 f., 393 f., 397 f., 401 ff. 265 ÖG-Z 4 (1853), 277 (Schuler v. Libloy, … Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen …, Hermannstadt 1853; dazu siehe auch oben bei Fn. 251 ff.), 369 f. (Pauly, ABGB …, 1853; dazu siehe auch oben Fn. 237 f.). 266 ÖG-Z 4 (1853), 415 f. (Sachsenheim, Das ABGB …, 1853; dazu siehe auch oben bei Fn. 251 ff.).
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allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Ungarn …“267. Hinzu kommen eine weitere Abhandlung von einem anonymen Autor über „Studien aus dem ungarischen Recht“, und zwar „zum Verständnis“ der Avitizitätspatente268, sowie zwei „Rechtsfälle“ aus der Praxis in Zusammenhang mit dem Geltungsbeginn des ABGB in Ungarn269 von Franz Petruschka, Professor an der Rechtsakademie zu Preßburg. Danach fällt in der Gerichts-Zeitung aber die Zahl solcher Belege stark ab: 1854 sind es nur noch vier, nämlich eine Buchanzeige, eine wissenschaftliche Mitteilung sowie zwei „Rechtsfälle“ aus der Praxis;270 je ein weiterer Beitrag findet sich erst wieder 1858 bzw. 1860;271 die Jahrgänge von 1855 bis 1857 und jener von 1859 enthalten überhaupt keine mehr. Im Magazin bzw. Österreichische Vierteljahresschrift für Rechts- und Staatswissenschaft272 finden sich in den ersten sechs Bänden, von 1850 – 1852 keine Beiträge, die sich auf die Privatrechtssituation in den ungarischen Ländern beziehen. Ab 1853 lassen sich solche feststellen, ihr Anteil an der gesamten Berichterstattung der Zeitschrift bleibt aber unauffällig. Insgesamt liegen sieben Abhandlungen und sieben Rezensionen mit solchen Bezügen vor. Für die Beiträge zeichnen jeweils Juristen aus ÖG-Z 4 (1853), 1 ff. (in fünf Fortsetzungen; dazu siehe auch oben bei Fn. 226). ÖG-Z 4 (1853), 317 ff., 321 f., 325 f., 329 f. – Zu den Avitizitätspatenten siehe oben bei Fn. 165 und 181. 269 Welche Verzugszinsen kann der Gläubiger von seinem Schuldner in Ungarn verlangen, wenn die mora bereits zur Zeit der Wirksamkeit des ungarischen Rechts begonnen, der Gläubiger aber die Leistung der verspäteten Zahlung erst nach dem Anfange der Wirksamkeit des allgem. Bürgerl. Gesetzbuches gerichtlich angesprochen hat? ÖG-Z 4 (1853), 508 f; ebda Wofür ist ein, in Ungarn nach dem 1. Mai 1853 von einem Gatten im Sinne des ungarischen Rechtes zugesichertes Heurathsgut [sic!] anzusehen? 569 f. 270 Buchanzeige: ÖG-Z 5 (1854), 15 (Schuler v. Libloy, Siebenbürgische Rechtsgeschichte …, [zu den ersten Teillieferungen zu Band I, der 1855 vollständig vorlag]; dazu siehe auch unten bei Fn. 251 ff.). – Wissenschaftliche Mitteilung: ebda 137 ff. und 141 f. (Julius Weiske [Professor an der Universität Leipzig], Eine Andeutung über Rechtsgeschichte, veranlaßt durch das ungarische Dotalitium; Weiske weist darauf hin, dass er zu dieser Mitteilung durch den Beitrag von Petruschka in der ÖG-Z 4 (1853), 569 f., angeregt worden ist; dazu siehe eben bei Fn. 269). – Rechtsfälle: ebda 145 f. und 149 f. (anonym, Nach welchen Vorschriften ist das zur Eingehung einer Ehe erforderliche Alter bei Eheschließungen von siebenbürgischen Staatsangehörigen zu beurtheilen?), bzw. ebda 244 ff. (Franz Petruschka, Noch ein Wort über ein – nach dem 1. Mai 1853 in Ungarn im Sinne des früheren ungarischen Rechtes zugesichertes Heurathsgut, dos; als Zusatz zu seinem Beitrag in der ÖG-Z 14 (1863), 569 f.; dazu siehe oben bei Fn. 269). 271 ÖG-Z 7 (Wien 1858), 53 f. (Alois Sentz [Prof. an der Rechtsakademie zu Hermannstadt], Über die Geltendmachung der Meliorationen und Deteriorationen in Pfand-Einlösungs-Processen nach dem siebenbürgisch-ungarischen Privatrechte); ebda 1860, 508 ff. (Sentz, Über die Haftung des Erben für die Schulden des Erblasser nach dem siebenbürgisch-ungarischen und siebenbürgisch-sächsischen Privatrechte). – In ÖG-Z 11 (1860), 104 auch der Hinweis auf den Erlass der Justizministerialverordnung betreffend die Gleichstellung der Israeliten in Bezug auf ihre Besitzbesitzfähigkeit mit den Angehörigen staatlicher anerkannter Konfessionen (dazu siehe auch oben bei Fn. 172). 272 Herausgegeben von Franz Haimerl in 16 Bänden zunächst bis 1852 in Prag, dann bis 1857 in Wien; ab 1858 bis zum Tod des Herausgebers (1866) fortgesetzt unter dem Titel „Österreichische Vierteljahresschrift für Rechts- und Staatswissenschaften“. 267 268
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Ungarn273 verantwortlich, nämlich Peter Harum (Professor an der Universität Pest für österreichisches Zivilrecht in Verbindung mit allgemeinem deutschem Privatrecht)274, Josef Helm, Ratssekretär am Oberlandesgericht zu Esperies (Presov/Slowakei)275, Ferdinand Schuster (Professor an der Universität Pest für Zivilgerichtliches Verfahren und Lehenrecht)276 und Alois Sentz (Professor an der Rechtsakademie zu Hermannstadt)277. Sie haben zum einen dogmatische Fragen des allgemeinen österreichischen Privatrechts zum Gegenstand, zum anderen – und auch hauptsächlich – aber Probleme der Praxis. Die Rezensionen betreffen die oben bereits angeführten Werke von Szokolay, Tth, Schuler v. Libloy, Pexa, Schuster und Füger v. Rechtborn278. 273 Außer den im Folgenden angeführten Juristen ist noch Franz Petruschka anzuführen, der das Erstlingswerk von Unger, Die Ehe in ihrer welthistorischen Entwicklung (1850), rezensiert hat: Haimerls Magazin 2 (1850), 282 ff. 274 Haimerls Magazin 6 (1852), 155 ff: Natur und Wirkung der unmöglichen und unerlaubten Bedingungen nach dem österreichischen bürgerlichen Rechte; ebda 11 (1855) und 13 (1856): Zur Lehre vom Pfandrechte nach dem österreichischen bürgerlichen Rechte. – Von ihm stammen auch drei Rezensionen, und zwar über Ungers Kritik am Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen, 1853 (ebda 8 [Wien 1853], 401 ff.), dann über dessen System, 1. Band 1856, und Johann Nepomuk Bergers, Kritische Beiträge zur Theorie des österreichischen allgemeinen Privatrechts, 1856 (ebda 15 [Wien 1857], 141 ff. und 225 ff.) sowie über Stubenrauchs erste drei Lieferungen zum seinem Kommentar über das ABGB, 1853 (ebda 8 [Wien 1853], 388 ff.; 10 [Wien 1854], 245 ff. und 12 [Wien 1855], 404 ff.). 275 Haimerls Magazin 11 (1855), 104 ff.: Nach welchen Gesetzen sind Lieferungsverträge zu beurtheilen, welche nach Einführung des allg. Bürgerl. Gesetzbuches in Ungarn zwischen Nicht-Handelsleuten geschlossen werden?; ebda 13 (1856); Kann der Verpächter nach Ausgang der Pachtzeit das Pachtgut von dem die Übergange verweigernden Pächter mit Besitzstörungsklage zurückfordern? 354 ff. – Helm hatte davon (als „Dr. in Olmütz“) schon drei zivilrechtliche Beiträge für Haimerls Magazin beigesteuert: Einige Bemerkungen über die Verordnung vom 12. August 1851, R.G.B., Nr. 184, ebda 5 (1852), 278 ff; Die Civilehe in Oesterreich; 6 (1852), 77 ff.; Über die Erbserklärung und deren gerichtliche Erledigung, 6 (1852), 396 ff. – Hinzu kommen noch sieben weitere Beiträge aus dem Bereich des Zivilprozeß- und Handelsrecht: dazu Repertorium über das Magazin für rechts- und Staatswissenschaften …, Wien 1861, 50. 276 Haimerls Magazin 12 (1855), Beitrag zur Erläuterung des §. 904 des allg. Bürgerl. Gesetzbuches; 16 (1857), 328 ff.; Über die Grundsätze der Befriedigung eines durch Simultanhypothek versicherten Gläubigers, 99 ff. – Von ihm stammen noch drei weitere Beiträge, darunter auch ein zivilrechtlicher (als „Privatdozent in Wien“): ebda 9 (1854), 205 ff. (Beitrag zur Erläuterung der §§. 155, 156 und 157 des allg. Bürgerl. Gesetzbuches); dazu je ein strafrechtlicher sowie zivilprozeßrechtlicher Beitrag; ferner fünf Rezensionen: dazu Repertorium zu Haimerls Magazin, 60 f. (darunter die im Folgenden noch zu erwähnenden Werke von Schuler v. Libloy und Tth). 277 Haimerls Magazin 12 (1855), 238 ff.: Beiträge zur Literaturgeschichte des Sonderrechts der Siebenbürger Sachsen; dazu weitere drei Beiträge aus dem Bereich des Zivilprozeßrechts sowie zwei Rezensionen: dazu Repertorium zu Haimerls Magazin, 61. 278 Haimerls Magazin 8 (1853), 138 ff. (Friedrich Schuler von Libloy, Statuta jurium municipialium Saxonum in Transylvania. Das Eigen Landrecht der Siebenbürger Sachsen …, Hermannstadt 1853; Rezensent: Ferdinand Schuster); ebda 9 (1854), 423 ff. (Stefan Szokolay, Der ungarische Hausadvokat …, Pest 1853); ebda 426 f. (Lorenz Tth, Die Avitizität .., Pest 1853; Rezensent: Ferdinand Schuster); ebda 11 (1855), 437 f. (Schuler v. Libloy, Siebenbür-
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Die Gerichtshalle279 weist im Vergleich zu den beiden anderen Fachzeitschriften statistisch gesehen zwar einen höheren Anteil von Beiträgen mit Bezügen auf die Rechtssituation in Ungarn auf280, für das Privatrecht relevant sind davon jedoch nur einige wenige: für 1857 und 1858 ist jeweils ein Beleg, für 1860 sind drei anzuführen281, für den Jahrgang 1859 gar keiner. dd) Ungarische Zeitschriften282 Mit der Geltung des österreichischen Justizrechts in den ungarischen Ländern ist sogar eine eigene Zeitschrift für Gesetzkunde und Rechtspflege in Ungarn, Kroatien und Slawonien, Siebenbürgen, Serbien und dem Temeser Banate ins Leben getreten. In seinem Vorwort zum ersten Jahrgang 1855/56 betont ihr Herausgeber, dass in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum in den ungarischen Ländern eine „radicale Umgestaltung“ der Rechtsordnung erfolgt sei. Dieser Umschwung habe nun auch die „Periode der Stagnanz“ der ungarischen Rechtsentwicklung beendet. Ein „allmähliger, auf eine längere Zeit berechneter Umbau des ganzen Rechtsgebäudes“ wäre aber „nicht thunlich“ gewesen, „weil ja alle Theile desselben morsch waren“. Die „in den übrigen Theilen der Monarchie als gut – weil den Verhältnissen angemessen – schon bewährten Civil- und Strafrechtsgeseze“ würden nun auch den ungarischen Ländern zugute kommen, den „praktischen Juristen dieser Länder“ falle aber „das Eindringen in den Geist des neuen Rechts und Verfahrens und damit auch die Anwendung des Gesezes auf gegebene Fälle … schwer“, weil sie sich von den „Grundsäzen des früheren Rechts“ erheblich unterscheiden. Es gebe „zwar viele für die vorbezeichneten gische Rechtsgeschichte, 1. Heft …, Hermannstadt 1855); ebda 12 (1855), 136 ff. (L. Pexa, … Erläuterungen des ABGB …, Pest 1853); ebda 14 (1856), 246 ff. (Schuler v. Libloy, Siebenbürgische Rechtsgeschichte …, Band I, Hermannstadt 1855); ebda 16 (1857), 526 ff. (Ferdinand Schuster, Kurze Anleitung zum Studium der neuesten Bestimmungen über die Entwicklung des Grundbuches …, Wien 1857). – Ferner in Haimerls Vierteljahresschrift 1 (1858), 27 ff. (Maximilian Füger v. Rechtborn, Das neue und alte Privatrecht in Ungarn …, Hermannstadt 1858). 279 Herausgegeben von Oskar Pisko ab 1857 in Wien. 280 Von 1857 bis 1860 beläuft sich ihr Anteil bei den Abhandlungen auf fast 5 %, bei den Rechtsfällen auf fast 3 % und bei den Entscheidungen fast 4 %. – Ihr Anteil in Haimerls Magazin beträgt dagegen bei den Abhandlungen und Rechtsfällen kaum 2 %, bei den Rezensionen (die in der Gerichtshalle dagegen gänzlich fehlen) kaum 1 %. 281 1857, 287: Mitteilung über „Die Einführung der Grundbücher in Ungarn“; 1858, 2 ff.: Zivilrechtsfall „Bei der Übertragung der alten Lasten in den neuen Lastenstand der neuen Grundbücher in Ungarn findet der § 994 a.b.G.B. seine Anwendung“; 1860, 83 f.: Zivilrechtsfall „Über die gerichtliche Todeserklärung eines Verschollenen. Aus Ungarn“; ebda 254: Mitteilung über „Die Gerichtssprache in Ungarn“; ebda 258 ff.: Zivilrechtsfall „1. Die Wirkungen des Witwenrechts einer ungarischen adeligen Witwe erstrecken sich nicht auf das Fideicommmißvermögen ihres verstorbenen Gatten; 2. Das Urtheil, welches den Fruchtgenuß des Fideicommisses der ungarischen adeligen Witwe entzieht, enthält eine nach den ungarischen Gesetzen zuläßige Beschränkung des Witwenrechts“. 282 Dazu allgemein K. Gönczi, Die ungarische Rechtskultur im Spiegel der juristischen Zeitschriften im 19. Jahrhundert, in: Stolleis/Simon, Juristische Zeitschriften wie Fn. 39, 259 ff.
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Länder berechnete, mitunter brauchbare Commentare und Hilfsbücher“, doch würden diese allein „durch ihr Volumen die Schwierigkeit der Aneignung“ der neuen Gesetze nur noch mehr erschweren. Es sei daher eine Zeitschrift vonnöten, welche „kurze Erörterungen und vergleichende Darstellungen der neuen Geseze mit den früher bestandenen – interessante Rechtsfälle“, dann „strafgerichtliche Verhandlungen und erflossene gerichtliche Urtheile“ anbiete. Dafür bestehe bei „den praktischen Juristen“ dieser Länder ein „dringendes Bedürfniß“. Die zwei damals in Cisleithanien erscheinenden Fachzeitschriften, die Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung und Haimerls Magazin für Rechts- und Staatswissenschaft , genügten „dem in Ungarn und seinen ehemaligen Nebenländern jetzt gefühlten Bedürfnisse“ aber nicht, vor allem weil sie „das in der Gesammtmonarchie Brauchbare vor Augen haben“283. Die neue Zeitschrift ist also als Fachorgan für die in den ungarischen Ländern in der Rechtspraxis tätigen Juristen konzipiert gewesen. Als Autoren fungierten daher überwiegend Rechtslehrer der Universität Pest sowie der Rechtsakademien in Preßburg und Hermannstadt, hinzu kamen aber auch Vertreter des ungarischen und siebenbürgischen Beamten-, Advokaten-, Richter- und Notarenstandes. Bis zu ihrer Einstellung war sie in sechs Jahrgängen auf einen Umfang von etwa 1250 großformatigen Seiten angewachsen. Der Niederschlag von Beiträgen mit Bezügen auf die Privatrechtssituation in den ungarischen Ländern ist mit bloß zehn allerdings relativ gering geblieben. Die Schwerpunkte in der Berichterstattung über das materielle Privatrecht bildeten die Geltung des ABGB284 und die Einführung der Grundbücher285 sowie die Aufhebung der Avitizität286 und in Verbindung damit auch das neue Pfand- und Hypothekarwesen287. 283
Vgl. das Vorwort, 1 f., zur Zeitschrift für „Gesetzkunde und Rechtspflege in Ungarn …“. 1855/56, 89 f., 101 f.: anonym, „Über den Einfluß des allg. Bürgerl. Gesezbuches auf die in Ungarn und dessen ehemaligen Kronländern bestehenden Tabulargeseze“; ebda 93 ff.: Pfersche (Advokat/Preßburg), „Die jezige Rechtswirksamkeit der vor der Einführung des b. G. B. leztwillige verfügten fideikommisarischen Substitution“. – 1858/59: 201 f. und 1858/ 59, 11 f. 14 f., 17 f., 22 f., 29 f, 39 f., 43 f., 46 f., 50 f., 63 f., 70 f., 74 ff.: Nedomansky, „Zur Österreichischen Ehegesezgebung“. 285 1855/56, 89 f., 101 f.: „Über den Einfluß des allg. Bürgerl. Gesezbuches auf die in Ungarn und dessen ehemaligen Kronländern bestehenden Tabulargeseze“; ebda, 157 ff., 163 f., 193 f., 229 f., sowie 1856/57, 53 f., 77 f., 85 ff., 181 ff.: „Die Justizminsterial-Verordnung vom 15. Dezember 1855, über die Verlautbarung der Grundbuchsprotokolle und Führung derselben als Grundbücher“; 1857/58, 140 f.: „Zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Anlegung neuer Grundbücher in Ungarn … (etc)“; 1858/59, 209 f.: „Zur Grundbuchsfrage in Siebenbürgen“. 286 1855/56, 129 ff.: Heinrich (Advokat/Klausenburg), „Eine Ansicht über die Frage, ob die in dem kaiserlichen Patente vom 29. November 1852 festgesetzten Fristen wahre Verjährungsfristen seien?“; 1856/57, 172 ff.: „Auch eine Ansicht über die Frage, von welchem Zeitpunkte die Erbansprüche der Anwärter auf avitische, kraft der Witwen- oder Capillarrechte im Besitze von Weibern befindliche männliche Güter, als entstanden (§ 9 des kaiserlichen Patentes vom 29. November 1852), anzusehen sind“. 287 1855/56, 149 ff., 153 ff., 161 ff., 184 f., 198 f., 207 f., 219 ff., 233 ff.: Helm (Ratssekretär/ OLG Esperies), „Das alte und das neue Pfandrecht in Ungarn“; 1856/57 11 f., 18 ff., 25 ff., 29 f., 33 f., 37 ff., 41 ff., 49 ff., 57 ff., 62 f., 66 f., 70 ff., 73 ff., 78 f., 95 f., 102 f., 106 f., 111 f., 113, 284
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Auch die in Ungarn in ungarischer Sprache zur Zeit der Geltung des ABGB herausgegebenen juristischen Zeitschriften konzentrierten sich auf die neuen österreichischen Rechtsinstitute – und zwar aus der Perspektive der Praxis wie die Jogtudomny s Törvnykezsi Tr [Magazin für Rechtswissenschaft und Rechtsprechung], welche allerdings nur 1855/56 erschienen ist. Noch stärker an der Gerichtspraxis orientiert zeigte sich die Berichterstattung der seit 1857 in Pest erscheinenden Törvnyskezsi Lapok [Blätter für Rechtsprechung]; sie war auch nur kurzlebig und wurde 1859 eingestellt. Langlebiger war die seit 1859 erschiene Törvnyszki Csarnok [Gerichtshalle]288. Die seit der Einführung des ABGB neue Privatrechtssituation der ungarischen Länder fand aber keinen nennenswerten Niederschlag, die Jahrgänge 1859 und 1860 enthielten bloß jeweils zwei derartige Beiträge289. 4. Praxis a) In den ungarischen Ländern Die Aufnahme des ABGB im Rechtsleben der neuen Geltungsgebiete gestaltete sich nicht reibungslos. Unmittelbar vor seinem Inkrafttreten erfolgte auch die Neugestaltung der Gerichts- und Verwaltungsorganisation in Ausführung der Organisationsgrundsätze von 1852. Die neuen Gerichtseinrichtungen stellten die Rechtspflege im Königreich Ungarn290 auf völlig neue Grundlagen, es zeigten sich dabei durchaus auch Kontinuitäten mit der vorangehenden Situation, während die anderen ungarischen Länder, Kroatien-Slawonien, Siebenbürgen und die serbische Woiwodschaft samt dem Temeser Banat ebenfalls eine neue, aber mit den cisleithanischen Kronlän-
118 f., 121 f., 126 f., 130 f., 133 f., 138 f., 145 f., 150 f., 154 f., 162 f.: Helm, „Das Pfand- und Hypothekarwesen in Ungarn“. 288 Sie erschien zweimal wöchentlich, enthielt wissenschaftliche Abhandlungen, auch Rechtsfälle und Gerichtsentscheidungen unter Einschluss auch der cisleithanischen Rechtsprechung, Literaturbesprechungen und Mitteilungen aus der Gesetzgebung; Redakteur war Istvn Szokolay (zu ihm siehe oben bei Fn. 237 f.). 289 1859, 27: I. Szokolay (Kritik zu einem Beitrag von Peter Harum, in: Haimerls Vierteljahresschrift 1 (1858), 24 – 61: Beiträge zur Erläuterung des … Patentes … 1856 über das Eherecht der Katholiken in Österreich; fortgesetzt ebda 4 (1859), 45 – 96); ebda, 131: A. Karvasy (Ein Beitrag über Morgengabe, Mitgift und Erbvertrag nach ungarischem Recht im Vergleich mit österreichischem); 1860, 49: E. Sandor (ein Vergleich des § 796 ABGB [Versorgung des überlebenden Ehegatten] mit dem ungarischen Privatrecht); 1860, 121, 125 f, 129 f., 135 f., 137: P. Hoffmann (ein Beitrag über das Recht des Pfandgläubigers nach § 461 ABGB [Verfall der Forderung]). 290 RGBl. Nr. 9/1853: Verordnung der Minister des Inneren, der Justiz und der Finanzen vom 19. Jänner 1853, womit die kaiserliche Entschließung zur Einrichtung und Amtswirksamkeit der politischen Behörden und Gerichte in Ungarn durchgeführt wird, nämlich durch eigene gemischte Kommissionen mit Sitz in Pest, Ofen, Preßburg, Ödenburg, Kaschau und Großwardein.
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dern völlig gleiche Gerichtsorganisation erhielten;291 ebenso übernommen wurde das System der österreichischen Advokatur292 und des Notariats293. Der dadurch in den ungarischen Ländern entstandene Bedarf an mit der österreichischen Rechtsordnung vertrauten Beamten musste rasch gedeckt werden. Es wurde daher, etwa im Prüfungsbetrieb der Rechtsfakultäten notwendig, für „Candidaten des öffentlichen Dienstes in Ungarn“ Erleichterungen einzuführen294. Im Zuge der Einrichtung der für die ungarischen Länder vorgesehenen neuen Gerichtsorganisation war aber absehbar geworden, dass diese Maßnahmen im Bereich der Juristenausbildung den plötzlich entstandenen Bedarf an rechtskundigen Beamten nicht decken konnten „und die deutsch-slavischen Kronländer einen Theil ihrer Beamten nach Ungarn“ würden abstellen müssen;295 überwiegend wurden diese aus Böhmen und Mähren sowie aus Galizien rekrutiert296. Einer der von diesen Maßnahmen betroffenen Beamten297, der „als Assessor bei einem Gerichtshofe in einem deutsch-slavischen Kronlande“, vermutlich in Böhmen, nach Ungarn versetzt worden war, berichtete rückblickend 1861298 über seine Erlebnisse als „juristischer Entwicklungshelfer“. Er war an einem nicht näher bezeichneten „ungarischen Collegialgerichte“ in der Slowakei zugewiesen worden, und zwar „zur praktischen Anweisung“ des dortigen Gerichtspersonals „in der Anwendung des Gesetzes und der Formen des Verfahrens“299. Er berichtet von einem „chaotischen Geschäftsgang“, so dass er gezwungen war, „den gesammten Personalstand des Gerichtes, … formell und materiell, theoretisch und practisch, und von den Anfangsgründen beginnend“ mit der neuen Rechtsordnung vertraut zu machen. Er kam mit seinem Gerichtsvorsteher „überein, … täglich durch zwei Stunden förmliche Vorlesungen über das gesammte materielle und formelle Recht zu halten“, und zwar neben den ihm vom „Oberlandesgerichtspräsidenten speciell übertragenen Erledigungen und sonstigen
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RGBl. Nr. 10/1853: Am Sitz der einzelnen Statthaltereibehörden wurden Oberlandesgerichte geschaffen, nämlich in Agram (die sog. Banaltafel für Kroatien-Slawonien), in Temesvar (für die serbische Woiwodschaft und das Banat) und in Hermannstadt (für Siebenbürgen). 292 K. Delacasse, in: Steppan/Gebhardt, wie Fn. 191, 205 ff. 293 Ch. Neschwara, in: Schmoeckel/Schubert, wie Fn. 191, 251 ff. 294 Verordnung des Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 1. Mai 1852 (RGBl. Nr. 99) über „einige Modifcationen des Gesetzes über die theoretischen Staatsprüfungen, vom 30. Juli 1850“ (RGBl. Nr. 327), besonders § 1 lit. a und b. 295 Von einem k.k. Stuhlrichter in Disponibilität, Acht Jahre Amtsleben in Ungarn, Leipzig 1861, in Auszügen in: Gerichtshalle 5 (1861), 203 f., 206 ff., sowie in ÖG-Z 12 (1861), 138. 296 O. Sashegyi, Ungarns politische Verwaltung in der Ära Bach 1849 – 1860, Graz 1979, 97. 297 Hierzu siehe auch unten bei und in Fn. 437 ff. 298 Amtsleben, in: ÖG-Z 12 (1861), wie Fn. 295, 203 f. und 206 ff.; Gerichtshalle 5 (1861), wie Fn. 295, 138 f., 140 f., 146 f. und 154 ff. 299 Gemeint waren das ABGB und die (provisorische) Zivilprozeßordnung/Ungarn 1853.
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Aufsätzen im gerichtlichen Verfahren“300. Hierzu hatte er sich einen straffen Plan, eine fixe „Stundeneintheilung“ zurechtgelegt: „Früh von 6 bis 8 Uhr Vorlesung, an welcher auch alle Advocaten Theil nehmen zu können ersuchten … Von 9 Uhr zweimal in der Woche Gerichtssitzung; an den übrigen Tagen Unterweisung der Manipulations-Beamten … bis oder über 11 Uhr“; um 13 Uhr ungarischer Sprachunterricht; nachmittags Vorbereitung „für die morgige Vorlesung“ und Erledigung der ihm sonst als Gerichtsbeamter übertragenen Arbeiten. Nach eigenen Angaben ergibt sich, dass er „täglich 11, oft bis 14 Stunden arbeitete“. Er hatte mit seiner Ausbildungstechnik auch so großen Erfolg, dass der Oberlandesgerichtspräsident ihm vorschlug, dass er seine „Methode der Information und Ordnungsüberstellung“ in einem Turnus „von acht zu acht Wochen je bei anderen Gerichten … in Anwendung bringen solle“. Auch die Bevölkerung, die sich von dem „neuen Beamten die Reintegrirung ihres vermeintlichen Unrechtes … erwartet“ hatte, strömte zu ihm „wie zu einem Wunderdoctor“301. Er selbst fühlte sich aber in seiner Lage zunehmend „nicht angenehm“ und hoffte auf die „baldige Erlösung“ und die Rückkehr auf seinen „früheren Dienstposten“, was ihm anlässlich der Versetzung nach Ungarn auch „ausdrücklich vorbehalten“ worden war.302 Stattdessen erhielt er im April 1853 aber das Ernennungsdekret als „Stuhlrichter“, also als Einzelrichter an einem Gericht 1. Instanz, in einem – vom anonymen Verfasser – nicht näher bezeichneten Komitat.303 An dem ihm zugewiesenen Gerichtsort musste er von seinen ungarischen Vorgängern etwa 500 Akten an „Geschäftsrückständen“, was etwa „dem Einlaufe eines Vierteljahres“ entsprach, übernehmen. In dem völligen „Chaos der gerichtlichen Acten“ fand er „unter dem Bette des Amtsdieners“, der im Amtslokal gewohnt hatte, auch „einen Haufen großer Bücher“, die eben erst neu angelegten Grundbücher! Er verfügte zwar über Personal, seinen drei „Conceptsbeamten“ waren „die bestehenden Gesetze … fremd“, ja zwei von ihnen „hatten nie ein Gesetz gelesen“. Sie alle „konnten eben schreiben, aber nichts weiter“304. Auch ein neues Gerichtsgebäude stand zur Verfügung, es fehlten aber die Kanzleieinrichtungsgegenstände. Belustigt stellt er dazu fest: „Ich sollte amtiren und hatte nichts, als die leeren Wände, keinen Tisch, keinen Sessel“. Die Kanzleieinrichtungsgegenstände kamen auch erst nach zwei Jahren, über vollständig ausgestattete „Amtslocalitäten“ verfügte er schließlich nach fünf Jahren.
Amtsleben, wie Fn. 295, in: ÖG-Z 12 (1861), 203; Amtsleben, in: Gerichtshalle 5 (1861), 138. 301 Amtsleben, wie Fn. 295, in: ÖG-Z 12 (1861), 204; Amtsleben, in: Gerichtshalle 5 (1861), 140. 302 Amtsleben, wie Fn. 295, in: Gerichtshalle 5 (1861), 141. 303 Amtsleben, wie Fn. 295, in: ÖG-Z 12 (1861), 204; Amtsleben, in: Gerichtshalle 5 (1861), 146. 304 Amtsleben, wie Fn. 295, in: ÖG-Z 1861, 207; Amtsleben, in: Gerichtshalle 5 (1861), 154 f. 300
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Die Anwendung des neuen Rechts durch einheimische305, mit dem Gesetz nicht vertraute, bzw. durch landesfremde, der Landessprache nicht mächtige Beamte306 war – wie die vorangehende Schilderung der ungarischen Rechtspflege illustriert – von einem Einleben des ABGB im Rechtsleben nicht gerade förderlich. Die fehlerhafte Anwendung der – vielfach fremd gebliebenen – österreichischen Gesetze durch unzureichend ausgebildete Juristen führte auch zu Verzögerungen und damit zu einer Verteuerung der Rechtspflege für die betroffenen Parteien307. In Rechnung zu stellen ist hierbei jedoch auch, dass sich die Zivilrechtsprechung vor Einführung der österreichischen Justizgesetze auf „einige tausend Edelleute und Bürger“ beschränkte, die Aufhebung der Grunduntertänigkeit nicht nur eine „Fluth von Rechtsgeschäften“ der nun emanzipierten bäuerlichen Bevölkerung nach sich gezogen hatte, sondern auch – damit freilich in Verbindung stehend – eine massenhafte Vermehrung der Rechtsstreitigkeiten308. Der stärkste Niederschlag zeigte sich im ländlichen Bereich in Zusammenhang mit der Aufhebung der Avitizität309. Die Handhabung der Rechtspflege durch akademisch ausgebildete Juristen musste auch zu einem Anstieg der Kosten der Rechtspflege führen. Ein Umstand, der auch das Misstrauen der Bevölkerung gegen das ABGB wachsen ließ310. In der Praxis manifestierte sich die „Antipathie gegen dieses fremde Recht“311 vor allem in einem Widerstand gegen die Bürokratisierung bestimmter – bis dahin autonom gehandhabter – Bereiche der Privatrechtspflege wie des Vormundschaftswesens312, das als Gegenstand der staatlichen Gerichtsbarkeit aus der Selbstverwaltung der Komitate herausgefallen war; ähnliches ist in Bezug auf Verlassenschaftsverfahren zu beobachten313. Die neue österreichische Rechtspflege war auch gänzlich anders organisiert als die frühere nach altem ungarischem Recht, sie wurde auch durch staatlich ernannte Richter ausgeübt, und nicht wie im Rahmen der alten ungarischen Gerichtsbarkeit durch Organe, die aufgrund von Wahlen „aus dem Volke hervorgegangen“ waren. Das ABGB und die anderen österreichischen Gesetze wurden von der Bevölkerung daher durchaus als Instrumente einer Besatzungspolitik, als Symbol der Unterdrückung empfunden. Der Gegensatz zwischen dem gewohnheitsrechtlich gebildeten ungarischen und dem wissenschaftlich konstruierten österreichischen Pri305
Dazu auch Kajtr, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 33, 457. Dazu auch Sashegyi, wie Fn. 296, 98 f. 307 A. Dauscher, Das ungarische Civil- und Strafrecht nach den Beschlüssen der JudexCurial-Conferenz, 2. Aufl., Wien 1862, 2. 308 M. Füger v. Rechtborn, Über die Wiederherstellung des bestandenen ungarischen Privatrechtes. Ein civilistischer Beitrag zur Erörterung einer der belangreichsten Fragen für den bevorstehenden Landtag, Hermannstadt 1861, 112. 309 Szladits, wie Fn. 36, 320. 310 Dauscher, wie Fn. 307, 2 f.; Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 42. 311 I. Schwarz, Die Berathungsprotokolle der ständigen Kodifikationskommission des ungarischen bürgerlichen Gesetzbuches, in: ZUÖP IV (1898), 3. 312 Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2190. 313 Dauscher, wie Fn. 307, 2. 306
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vatrecht wuchs alsbald zu einem allgemeinen Gegensatz zwischen ungarischem und österreichischem Recht aus314. Gänzlich anders wurde dies freilich von den aus Cisleithanien nach Ungarn versetzten Beamten empfunden. Sie sahen sich keineswegs in der Rolle von „Kolonialoffizieren“, sondern eher im Gegenteil: Sie fühlten sich „gerade so wie weiland Robinson Crusoe“ auf einer fremden Insel ausgesetzt315. Fraglich ist freilich auch, ob die landesfremden Beamten, die oftmals ohne gefragt zu werden, nach Ungarn versetzt worden waren, auch dem ihnen vorgezeichneten Beamtenethos nachkommen konnten. Der Widerwille der ungarischen Bevölkerung gegen die sog. „Bach-Husaren“ schlug auch alsbald in offene Verachtung und in Hass um. Der oben erwähnte unbekannte Beamte aus Böhmen, der im Zuge der Neuorganisation der Rechtspflege in Ungarn an ein Gericht in der Slowakei versetzt worden war, vermeinte jedenfalls, dass ihn die Bevölkerung als „Thiran“ angesehen habe.316 Aber noch schlimmer ist es jenen einheimischen ungarischen Beamten ergangen, die im Zuge der Neuorganisation in die österreichischen Einrichtungen der Rechtspflege übernommen worden waren; sie wurden als Abtrünnige angesehen und waren bei der Bevölkerung vielleicht sogar noch unbeliebter als die landesfremden nach Ungarn berufenen Beamten317. b) In Cisleithanien Vor große Probleme in der Vollziehung des ABGB in den ungarischen Ländern waren aber nicht nur die Organe der dortigen Rechtspflege gestellt, sondern auch jene in Österreich. Nach Aufhebung der ungarischen Septemviraltafel das als Höchstgericht auch für Kroatien, Slawonien und Siebenbürgen zuständig war, hatten sich die unerledigten Rechtssachen am nunmehr alleinigen Höchstgericht, dem Obersten Gerichtshof in Wien, angehäuft. Schon zu Anfang 1850 wurde dort eine eigene Abteilung für Rechtssachen aus Ungarn eingerichtet, welcher die Aufarbeitung der enormen Rückstände, insgesamt nahezu 6000 Akten, oblag318. Im Sommer 1850 wurden sodann für kroatische, slawonische und siebenbürgische Rechtssachen eigene Senate geschaffen319. Der Präsident des Obersten Gerichtshofes klagte aber auch über die „unendliche Verwirrung aller Rechtsverhältnisse in Ungarn“, welche eine Verminderung der Zivilrechtssachen nicht so bald erwarten lassen würde320. Nach 1852 ist am 314
Dies wird dann auch die Entwicklung des ungarischen Rechts ab 1860/61 entscheidend beeinflussen: Dazu Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 93; Böszörmnyi-Nagy, ebda, 426. 315 Amtsleben, wie Fn. 295, in: Ö-GZ 12 (1861), 207. 316 Dazu Sashegyi, wie Fn. 296, 98. 317 Dazu Sashegyi, wie Fn. 296, 99. 318 Verhandlungen Verstärkter Reichsrat, 341 ff. 319 Dazu, vor allem zu den Schwierigkeiten bei der Bildung der Senate, siehe den Motivenbericht: Beilage-Heft zum RGBl. 1850, 21 ff., besonders 218, 220. 320 O. Leonhard, Aus der Geschichte des österreichischen Obersten Gerichtshofes, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des österreichischen Obersten Gerichtshofes 1850 – 1950, 1950, 172 ff., besonders 178.
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Obersten Gerichtshof auch eine deutliche Zunahme der Einlaufzahlen aus Ungarn festzustellen, nämlich von 13.650 Stück im Jahr 1853 auf 15.142 im Jahr 1860. Dennoch wurde der Anstieg des Geschäftsanfalls auch positiv angesehen: Er zeigte nämlich auch eine Konsolidierung des Rechtslebens in Ungarn an! V. Das Ende der Geltung des ABGB 1. Die „Oktober-Erlässe“ 1860: Wegfall der verfassungsrechtlichen Grundlagen seiner Geltung a) Ablauf und Inhalt Der seit dem Erlass der Verfassung 1849 in den ungarischen Ländern hervortretende passive Widerstand gegen die – aus ungarischer Sicht – verfassungswidrige Beseitigung der 1848 vermeintlich errungenen staatlichen Selbständigkeit, verstärkte sich nach der Einführung der österreichischen Justizgesetze. Das auf Grundlage der Organisationsgrundsätze 1852 geplante Verfassungskonzept für den Gesamtstaat erstarrte in einem Neoabsolutismus, der vor allem in den ungarischen Ländern von Anfang an offene Ablehnung erfuhr. „Zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung“321, die auf eine Modifikation dieses Regierungssystems abzielen sollten, hatte aber erst das sogenannte Laxenburger Manifest nach dem verlorenen Krieg in Oberitalien zu Mitte Juli 1859 verkündet und die Einberufung des „verstärkten“ Reichsrates initiiert. Im Zuge der sog. Verstärkung322 wurden unter anderem 38 „zeitliche“ außerordentliche Reichsräte aus den einzelnen Landtagen des Gesamtstaates in den Reichsrat berufen, davon ein Drittel, nämlich 13, aus den Landtagen der ungarischen Länder zugewiesen323, darunter z. B. aus Ungarn Johann Barkczy und Georg Majlth324, Georg Andrssy325 und Anton Szcsen326. Unter den bereits vor der Verstärkung des Reichs321
RGBl. Nr. 133. Gemäß § 1 des kaiserlichen Patents über „eine Verstärkung des Reichsrates durch außerordentliche Reichsräte“ vom 5. März 1860 (RGBl. Nr. 56); vgl. auch Verhandlungen verstärkter Reichsrat I, 18 f., 21 sowie II, 416 ff. (dort Kurzbiographien der Mitglieder des Verstärkten Reichsrats); ferner MRP, Einleitungsband, 60 f. und die Tabelle 3, sowie Bernatzik, Verfassungsgesetze, 229 ff.; vgl. auch: A. Gottsmann, Der Reichstag 1848/49 und der Reichsrat 1861 bis 1865, in: H. Rumpler/P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band VII (Verfassung und Parlamentarismus), 1. Teilband (Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, Zentrale Repräsentativkörperschaften), Wien 2000, 611 ff. 323 Neben den sechs für Ungarn, drei für Siebenbürgen und je zwei für Kroatien-Slawonien bzw. die serbische Woiwodschaft und das Temeser Banat. 324 Beide waren später auch Teilnehmer an der sog. Judexkurialkonferenz (dazu siehe unten 2.), Majlth fungierte nach dem Erlass des Oktoberdiploms 1860 zunächst als Statthalter in Ungarn und war dann von Mitte 1865 bis zum Ausgleich Minister ohne Portefeuille. 325 Er wurde später Nachfolger von Apponyi als Judex Curiae in Ungarn [zu diesem und zu dieser Funktion siehe unten c)]. 322
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rats vom Kaiser ernannten zwölf ordentlichen Reichsräten (unter Einschluss von Präsident und Vizepräsident) befanden sich auch zwei ungarische Mitglieder, nämlich Ladislaus Szögyny und Moriz Almsy327; zu diesen kamen im Zuge der Verstärkung des Reichsrates außerdem noch drei auf Lebenszeit ernannte außerordentliche Reichsräte aus den ungarischen Ländern hinzu, darunter unter anderem Georg Apponyi für Ungarn328. Die Anregungen des Verstärkten Reichsrats zu zeitgemäßen Änderungen der „allgemeinen Lage des Reiches“329 führten sodann zum Erlass des Oktoberdiploms 1860330, dem ersten Versuch, das bestehende Regierungssystem zu modifizieren, und zwar in erster Linie um einen allseits befriedigenden Einbau der ungarischen Länder in den Gesamtstaat zu ermöglichen. Es ging vor allem auf Anregungen konservativer ungarischer Politiker im verstärkten Reichsrat zurück und suchte eine Annäherung an den in den ungarischen Ländern vertretenen Standpunkt über deren verfassungsrechtliche Stellung. Diese sollten aber durchaus nicht auf den verfassungsrechtlichen Boden von 1848 zurückgeführt werden, sondern eher auf ihren Verfassungszustand vor 1848331. Für die Geltung der österreichischen Justizgesetze, und damit auch des ABGB, in den ungarischen Ländern, bedeutete der Erlass des Oktoberdiploms eine scharfe Zäsur. Mit ihm waren die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Geltung des ABGB erheblich verändert worden, da die Justizgesetzgebung, und damit auch das Zivilrecht, als Gegenstand der Gesetzgebung wieder in die Kompetenz der Landtage der ungarischen Länder gefallen war.332 Zugleich333 mit dem Oktoberdiplom verfügte 326 Er wurde nach dem Erlass des Oktoberdiploms – wie Majlth – zum Minister ohne Portefeuille ernannt. – Ferner Anton Korizmits von der Universität Pest sowie Eugen Topperczer aus dem Kreis der ungarischen Spitzenbürokratie; unter den ursprünglich für Ungarn Berufenen, die aber der Berufung keine Folge leisten konnten, sind hervorzuheben: Josef Eötvös (später Teilnehmer an der Judexkurialkonferenz) und Nikolaus Vay [mit Erlass des Oktoberdiploms 1860 zum ersten ungarischen Hofkanzler in Wien ernannt: dazu siehe auch unten 3.a)]. 327 Almsy wurde 1861 in den Staatsrat berufen, Szögyny zum zweiten ungarischen Hofkanzler bestellt. 328 Apponyi wird später als Judex Curiae in der unter seinem Vorsitz von Jänner bis März 1861 in Pest tagenden sog. Judexkurialkonferenz über die Frage der Wiederherstellung der ungarischen Justizgesetzgebung und -organisation eine maßgebliche Rolle spielen. – Ferner gehörten zu den auf Lebenszeit berufenen außerordentlichen Reichsräten noch der Banus von Kroatien-Slawonien Josef Sokcevic sowie der pensionierte General Franz Haller (aus Siebenbürgen), er wurde später siebenbürgischer Hofkanzler in Wien. 329 Gutachten der 16. Sitzung vom 22. 9. 1860: Verhandlungen des österreichischen verstärkten Reichsrathes. Nach den stenographischen Berichten. Mit Einleitung und ergänzten biographischen Hinweisen neu herausgegeben von G. Silvestri, Band II, Wien 1972, 1 – 81. 330 RGBl. Nr. 226: Diplom vom 20. 10. 1860. 331 W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Auflage 2009, 137 ff., besonders 141 sowie 179 ff., besonders 181. 332 Gemäß Absatz II und III Oktoberdiplom.
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ein kaiserlicher Erlass334 für die ungarischen Länder – im Einklang mit den Intentionen einer Rückkehr zur Verfassungssituation vor 1848 – hinsichtlich der Zentralverwaltung die Wiederherstellung der ungarischen und siebenbürgischen Hofkanzleien in Wien, der ungarische Hofkanzler wurde dadurch sogar Mitglied des Ministerrates. In Bezug auf die „Justizangelegenheiten und Rechtsprechung in … Ungarn“ erfolgte die Wiedereinsetzung der königlichen Kurie in Pest unter Vorsitz des Judex Curiae335. Gleichzeitig erging eine Reihe von weiteren Erlässen336, welche auf die beabsichtigte Wiederherstellung der Landesverwaltung nach dem Status von 1848337 abzielten sowie darauf, „die gesamte Gerichtsverwaltung … Ungarns wieder innerhalb“ des Landes „zu verlegen“. Hierzu sollte unter Vorsitz des Judex Curiae in Pest eine Konferenz zusammentreten und Vorschläge über die Frage „der Organisierung der ungarischen Justizpflege“ ausarbeiten. „Im Interesse der Sicherheit des Besitzes und der Stetigkeit der Privatrechtsverhältnisse“ hatten aber die Justizgesetze, insbesondere „alle Bestimmungen und Einrichtungen“ des bürgerlichen Rechts solange „in voller Wirksamkeit zu bestehen“, bis im Weg der ordentlichen Gesetzgebung, auf verfassungsmäßigem Weg, also nach Beschluss des Landtags338 und der Sanktion des Kaisers, „die allfälligen Veränderungen vereinbart werden“. Damit diese Behörden- und Rechtsüberleitung „ohne Eintrag und Nachteil für die Stetigkeit der Verwaltung und Rechtspflege vor sich gehe“, hatten auch die bestehenden Einrichtungen, insbesondere die Gerichtshöfe solange „ihre Wirksamkeit fortzusetzen“, bis sie durch die vorgesehenen neuen Organe ersetzt waren339. Separate Erlässe betrafen Kroatien-Slawonien und Siebenbürgen340, so dass bereits mit den „Oktober-Erlässen“ für die Justizgesetzgebung, und damit auch für das Privatrecht, die Weichen auf eine künftige – letztlich bis 1918 und darüber hinaus
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Zum Folgenden: Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10. 101; Dauscher, wie Fn. 307, 2 f.; Malfr, wie Fn. 4, 32; Szladits, wie Fn. 36, 318; Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2152. 334 Handschreiben an den Ministerpräsidenten: Bernatzik, wie Fn. 35, 228 f. 335 Seine Funktion wurde der des englischen Lord Chancellor gleichgehalten: Schlegelberger, wie Fn. 18, 277. 336 Kaiserliches Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler: Bernatzik, wie Fn. 35, 232 ff. 337 In diesem Zusammenhang erfolgt zugleich, aber separat auch die „Wiederherstellung der früheren ungarischen Komitatsverfassung“: Kaiserliches Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler: Bernatzik, wie Fn. 35, 233 f. 338 Hierzu wurde zugleich dessen „möglichst beschleunigt(e)“ Einberufung in Aussicht gestellt: Kaiserliches Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler: ebda, 230 f. 339 Kaiserliches Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler: ebda, 235 f. 340 Handschreiben an den ungarischen Hofkanzler: ebda, 236 ff. – Dem Wunsch einer zu Ende November in Temesvar tagenden Notabelnkonferenz folgend, wurde zu Ende Dezember 1860 die Fusion der serbischen Woiwodschaft und des Temeser Banats mit dem Königreich Ungarn verfügt: ebda, 251 f.
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andauernde – Spaltung des ungarischen Länderkomplexes in mehrere Rechtsgebiete341 gestellt worden waren. b) Reaktionen und Wirkungen Die Oktober-Erlässe haben in der Tagespresse der cisleithanischen Länder eine eher nüchterne Beurteilung erfahren342, teils hervorgehoben wurde die gute Stimmung343 innerhalb der Bevölkerung. Adolf Pratobevera, der nur wenige Monate später zu Anfang Februar 1861 als Justizminister in die Regierung berufen worden ist, etwa notierte zum 20. Oktober in seinem Tagebuch: „Abends waren die Straßen beleuchtet, durch die der Kaiser … fuhr“. Es war also zur Feier dieses Anlasses in Wien eine Festbeleuchtung der Stadt veranstaltet worden; so wie auch 1848 zur Feier des Verfassungserlasses344. In Ungarn dagegen lösten die Oktober-Erlässe allgemeine Unzufriedenheit345 aus. Es kam sogar zu gewaltsamen Straßendemonstrationen. Pratobevera notierte zum 27. Oktober 1860 in seinem Tagebuch: „Zu Pest floß Blut zum Dank für das kaiserliche Geschenk“346. Dadurch verzögerte sich auch die mit den Oktober-Erlässen in Aussicht gestellte Einberufung des Landtags. Die Komitate hatten aber inzwischen damit begonnen, sich – den Oktober-Erlässen gemäß – als Selbstverwaltungskörper zu konstituieren347, und zwar nach dem Stand von 1848. Sie usurpierten daher auch die Gerichtsbarkeit als Teil der Selbstverwaltung und forderten ungestüm die sofortige Wiederherstellung des früher geltenden ungarischen Rechts. Innerhalb kurzer Zeit hatten 52 Komitate und der Großteil der königlichen Freistädte begonnen, die Rechtspflege „ungarisch … zu gestalten“. Die Komitatsbehörden verlangten daher auch von den österreichischen Gerichten die Akten heraus, was ihnen aber verweigert wurde, worauf die Komitate ihren Beamten untersagten, an der Vollstreckung von Entscheidungen österreichischer Gerichte mitzuwirken. Das eigenmächtige Vorgehen der Komitate ist aber nicht allein aus der allgemeinen öffentlichen Stimmung im Land erklärbar, sondern auch aus dem Umstand einer gewissen Zwangslage, da 341
Dazu siehe unten V. Vgl. Bote für Tirol und Vorarlberg, Nr. 243 vom 22. Oktober 1860; Prager Zeitung, Nr. 251 vom 23. Oktober 1860. Ohne Kommentar: Wiener Zeitung, Nr. 149 vom 21. Oktober 1860; Brünner Zeitung, Nr. 244 vom 22. Oktober 1860. 343 Brünner Zeitung, Nr. 245 vom 23. Oktober 1860. 344 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Familienarchiv Pratobevera, Karton 12 (Tagebücher). – Zu 1848: W. Brauneder, Leseverein und Rechtskultur. Der juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 bis 1990, Wien 1992, 185 f. 345 Dazu mit zahlreichen Belegen über die Stimmung in Ungarn: Kajtr, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 6, Vgl. für Siebenbürgen: Siebenbürger Bote, Nr. 213 vom 27. Oktober: Bericht über Gegenkundgebungen in Hermannstadt, aber als „ohne politische Bedeutung“ kommentiert. 346 ÖStA, HHStA, Familienarchiv Pratobervera, Karton 12 (Tagebücher). 347 Bernatzik, wie Fn. 35, 233; Dauscher, wie Fn. 307, 3 f. 342
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nach der Auflösung der österreichischen Stuhlrichterämter, die funktionell etwa den sogenannten Bezirksämtern der übrigen Länder entsprachen, zwar deren Verwaltungsagenden auf die Komitate übergegangen waren, nicht aber auch die Gerichtsbarkeit. Diese wurde daher usurpiert, jedoch ohne „Gleichförmigkeit und ohne Richtung“348. Darüber hinaus wurden die als faktisch wiederhergestellt betrachteten früheren ungarischen Gesetze unterschiedlich ausgelegt; manche Komitate machten auch Konzessionen hinsichtlich der Anwendung des ABGB. Schiere Willkür herrschte aber vor allem im ländlichen Bereich, „Verwirrung und Rathlosigkeit“ auch in den Städten. Das Pester städtische Gericht etwa hatte „die österreichischen Gesetze in ihrem ganzen Umfange zu beseitigen gefunden“, das Pester Komitat und das Ofener städtische Gericht aber die österreichische Grundbuchsordnung von 1855 unverändert beibehalten, nur wenige Gerichte auch das ABGB zur Gänze oder wenigstens partiell „für wirksam erklärt“.349 Man vertrat durchwegs den Standpunkt, dass der Rechtszustand, wie er in Ungarn bis 1848 bestand, trotz der seit 1849 eingetretenen Verfassungsänderungen „nicht verändert“ worden sei; die „in Ungarn seitdem publicirten Gesetze und … eingeführten Gerichte“ waren daher als „in sich nichtig einfach zu ignoriren“350, und zwar ohne Rücksicht auf die im vorausgegangenen Jahrzehnt im Rechtsleben Ungarns eingetretenen Änderungen351. Ein anonymer Bericht aus Ungarn umschrieb diese Situation der Anarchie innerhalb der ungarischen Justizpflege als einen „Zustand des Unrechts und der Ungesetzlichkeit, … wahrer Rechts- und Gesetzlosigkeit“, wie man sie in Europa seit „der großen Hunnenwanderung“ nicht mehr erlebt habe. Der „Spott des Auslandes“ hatte sich „über ungarische Justiz“ ergossen352. 2. Die Judexkurialkonferenz 1861: Aufhebung des ABGB und Wiederherstellung des ungarischen Privatrechts a) Umfeld Die mit den Oktober-Erlässen 1860 verfügte Wiederherstellung der autonomen Landesverwaltung in Ungarn war zufolge des eigenmächtigen Vorgehens der Komitate weit über ihr Ziel hinausgelaufen. Die gleichzeitig ausgesprochene Absicht, auch „die gesamte Gerichtsverwaltung … Ungarns wieder innerhalb“ des Landes „zu verlegen“, war damit faktisch unterlaufen worden353. Der Inhalt der Vorschläge der unter Vorsitz des Judex Curiae in Pest in Aussicht genommenen Konferenz über die Frage 348 349 350 351 352 353
Szladits, siehe Fn. 36, 319 f., besonders 319 Fn. 3. Die Justiz in Ungarn, in: Gerichtshalle 5 (1861), 186. Ein Blick auf Ungarn, in: ÖG-Z 12 (1861), 44 ff. Die Beschlüsse der Judex-Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 1861, 169. Die Justiz in Ungarn, in: Gerichtshalle 5 (1861), 185. Dazu auch Zlinszky, wie Fn. 18, 168.
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„der Organisierung der ungarischen Justizpflege“354 war daher aufgrund der mittlerweile faktisch eingetretenen Situation bereits weitgehend präjudiziert. Aus ungarischer Sicht war mit den Oktober-Erlässen im Kaisertum Österreich die „Einheit der Rechtspflege aufgehoben“ worden und die „Wiederaufrichtung der Scheidewand“ – wie vor 1848 – initiiert worden. Beklagt wurde aber, dass für Ungarn nicht zugleich auch das „ABGB außer Kraft“ gesetzt war, weil es „den Principien und dem Geiste der … Gewohnheitsrechte in Ungarn“ zuwiderlief355. Vorbehalte wurden vor allem gegen die im ABGB enthaltenen „Grundsätze über das Familienrecht, die Ehe, das Verhältniß zwischen Ältern und Kindern, das Erbrecht“ gemacht, da sie „dem Genius der ungarischen Nation schroff entgegen“ standen.356 Es gab aber auch andere Ansichten darüber, wonach „das von allen Fachmännern gepriesene“ ABGB nach 1849 „an die Stelle der sofort unpassenden und ungenügenden älteren Gesetze dem laut gewordenen Wunsche eines Theiles der Bevölkerung entsprechend“, eingeführt worden wäre.357 Das ABGB habe erstmals zu „Harmonie und … Vollständigkeit“ des ungarischen Privatrechts geführt358, dennoch hatte es „wenig Aussicht“, dass die „Herrschaft aller seiner Pragraphe im künftigen Ungarn gesichert“ sein würde.359 Realistischerweise wurde aber ungarischerseits auch eingesehen, dass man jedenfalls nicht zur Situation des vorrevolutionären Privatrechts zurückkehren konnte, wie groß auch immer die „Pietät für das magyarische Privatrecht“ sein mochte. Nach Ansicht des Siebenbürgers Max Füger gab es nur zwei Alternativen: „entweder ein ganz neues“ eigenes Privatrechtsgesetzbuch zu schaffen bzw. „irgend ein ausländisches Gesetzbuch z. B. … Code Napoleon … an[zu]passen“ oder das ABGB „nach vorangegangener Revision an[zu]nehmen“. Die erste Alternative aufzugreifen, hieße aber die „in Europa herrschenden Ideen“ der Rechtsgleichheit „aus nationaler Befangenheit zurück[zu]weisen“. Abgesehen davon würde – wie es etwa eine der bekanntesten ungarischen Tageszeitungen auf den Punkt brachte – die „Befähigung unserer Zeitgenossenschaft zur Kodifikation … kaum zu erwarten“ sein.360 Aber selbst dabei könne – wie Füger unterstrich – auch nur das ABGB „zur Folie … dienen“, vor allem im Bereich des Personen- und Familienrechts; das Liegenschaftsrecht könne „unverändert“ bleiben, das Schuldrecht sogar „für alle civilistischen Staaten Europas zur Geltung kommen“361. Das ABGB, das sich in allen Kronländern „vortrefflich bewährte“, sei jedenfalls besser als ein 354 In diesem Zusammenhang war – wie erwähnt (siehe oben bei Fn. 347 ff.) – auch die „Wiederherstellung der früheren ungarischen Komitatsverfassung“ erfolgt. 355 Die Rechtspflege in Ungarn nach Wiederherstellung der besonderen Justizverwaltung, in: Gerichtshalle 4 (1860), 361, 377. 356 Aus Ungarn, in: Gerichtshalle 5 (1861), 15. 357 Füger, wie Fn. 308, 3, 6. 358 Füger, wie Fn. 308, 18. 359 Die Rechtspflege in Ungarn nach Wiederherstellung der besonderen Justizverwaltung, in: Gerichtshalle 4 (1860), 377. 360 Aus Ungarn, in: Gerichtshalle 1861, 14 f. 361 Füger, wie Fn. 308, 11 f.
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„neues Gesetz für Ungarn“ oder gar „verschiedene … für Ungarn, Szekler, Croaten, Sachsen, Slovaken, Romänen“362. Selbst von den Befürwortern der Wiederherstellung des früher geltenden ungarischen Privatrechts wurde eingestanden, dass in Bezug auf das Vertragsrecht, das „ohnehin in unsern vaterländischen Gesetzen nicht gehörig ausgebildet“ war, am ABGB festgehalten werden sollte, insbesondere auch deswegen, „um die ungarische Nation mit dem Geiste des a. b. G. B. auszusöhnen“363. b) Einberufung Die Weichenstellung für die Einberufung der Judexkurialkonferenz erfolgte mit einer Erklärung des Kaisers am 26. November 1860364. Nachdem im Anschluss an eine zu Anfang Dezember in Gran abgehaltene Vertrauensmännerkonferenz die Einberufung des Landtags für Anfang April 1861 verfügt worden war, hatte sich die Lage in Ungarn vorübergehend auch etwas entschärft365. Nur wenig später empfing der Kaiser den Führer der gemäßigten Opposition in Ungarn, Franz Dek, zu einer Audienz in Wien, auf der vermutlich die Entscheidung für die Einberufung der Judexkurialkonferenz verabredet worden ist366. Doch konnte auch die Ankündigung der Judexkurialkonferenz die verworrene Lage der ungarischen Justizpflege nicht mehr ändern. Selbst der Vorschlag, dass die Munizipien einstweilen die Rechtsprechung in die Hände ungarischer Richter legen, und die Entscheidungen des Landtags abwarten und übergangsweise das „deutsche Gesetz“ (das ABGB) anwenden sollten, stieß auf kein Gehör. Am 16. Jänner 1861 erging daher knapp vor der Eröffnung der Judexkurialkonferenz an die Munizipien ein Reskript des Kaisers, das in energischem Ton alle jene Beschlüsse annullierte, welche auf eine Nichtbeachtung des – mit den Oktober-Erlässen 1860 – provisorisch in Geltung gebliebenen österreichischen Justizrechts hinausliefen367. Dieser Schritt „befreite den Geist aus der Flasche der ungarischen öffentlichen Meinung“ und löste eine Flut von Adressen aus den Komitaten an den Kaiser aus, die sich in der Frage des in Ungarn geltenden Rechts einhellig auf das frühere ungarische Recht beriefen368. Ungeachtet des kaiserlichen Erlasses vom 16. Jänner kam es danach nicht selten vor, dass „kaiserliche“ Beamte sogar in Haft genommen wurden. Deswegen wurde sogar erwogen, alle österreichischen Beamten unter den Schutz 362
Füger, wie Fn. 308, 111. Aus Ungarn, in: Gerichtshalle 5 (1861), 15. 364 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 102. 365 Bernatzik, wie Fn. 35, 251. – Pratobevera spricht in seinem Tagebuch zunächst von „scheinbarer Ruhe“, aber zu Mitte Jänner schon von „Gräulnachrichten aus Ungarn“: HHStA, Familienarchiv Pratobevera, Karton 12 (Tagebücher). 366 Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 38, 416. 367 Szladits, wie Fn. 36, 320 f. 368 Kajtr, wie Fn. 6, 458 ff. 363
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des Militärs zu stellen, wovon man aber aus innenpolitischen Rücksichten seitens der Regierung in Wien letztlich doch Abstand nahm369. Der österreichische Justizbeamtenstand, der bis Anfang Mai in Ungarn verblieb, war weiterhin „allen Schmach und Unbilden“ ausgesetzt370. c) Zusammensetzung Jedenfalls wurde zu Anfang Jänner 1861 Georg Apponyi, zuvor im März 1860 als außerordentliches Mitglied in den Verstärkten Reichsrat berufen, zum Judex Curiae ernannt, nachdem der zunächst dazu berufene Johann Czirky schon zu Ende November 1860 zurückgetreten war. Am 20. Jänner wurde sodann die ungarische Abteilung des obersten Gerichtshofs in Wien geschlossen und die Richter des wiederhergestellten ungarischen Höchstgerichts, der Septemviraltafel, ernannt; am 22. Jänner schließlich erfolgte die Eröffnung der Konferenz zu Pest371. Unter dem Vorsitz des Judex Curiae Georg Apponyi gehörten ihr die Mitglieder der Septemviraltafel einschließlich ihres Präsidenten Georg Mailth an; hinzu kamen Experten aus Praxis und Lehre sowie Politiker; die bekanntesten waren Franz Dek, Balthasar Horvth und Lorenz Tth. Insgesamt bestand die Konferenz aus 60 Teilnehmern372. Gemäß den Oktober-Erlässen 1860 sollte sich die Konferenz auf die Erörterung der Möglichkeiten einer Wiederherstellung der vor der Eingliederung der ungarischen Länder in den Gesamtstaat bestehenden ungarischen Rechtspflege beschränken; ausdrücklich war jedenfalls nur die Rede von „Fragen der Organisation“. Entsprechende Vorschläge über die Wiederherstellung bzw. Neuorganisation der ungarischen Gerichtsorganisation waren dem Kaiser durch den Judex Curiae im Weg der ungarischen Hofkanzlei in Wien vorzulegen. Formelle Änderungen der österreichischen Gerichtsorganisation oder der österreichischen Justizgesetze blieben allerdings dem verfassungsmäßigen Weg vorbehalten; das heißt, sie waren vom Landtag zu beschließen und vom Monarchen zu sanktionieren. Mit der kaiserlichen Erklärung vom 26. November 1860 kam aber noch eine weitere Aufgabe hinzu, nämlich auch „jene Rechtsnormen zu bezeichnen bzw. zu verfassen, deren Anwendung [in der Rechtspflege] sie für angebracht hielt“373.
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Barany, wie Fn. 2, 367 f. Vgl. dazu in der Gerichtshalle 6 (1862), 41: Die disponiblen ungarischen Justizbeamten. Ein Vorschlag zu ihrer defintiven Anstellung; sowie ebda, 58 f.: Die disponiblen ungarischen Justizbeamten. 371 Dauscher, siehe Fn. 307, 3; Bernatzik, wie Fn. 35, 252. 372 Weitere Mitglieder namentlich angeführt in: Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 1861, 30; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 102. 373 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 102. 370
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d) Ablauf und Tendenzen374 Die Arbeiten dieses Gremiums begannen am 22. Jänner 1861, nach insgesamt 18 Sitzungen wurde die Konferenz am 4. März 1861 geschlossen375. Der Judex Curiae lenkte, nachdem die Wiederherstellung der ungarischen Justizorganisation zum Großteil bereits faktisch vollzogen war376, die Beratungen von Beginn der Konferenz an auch sogleich auf die Frage der Modalitäten einer sofortigen Wiederherstellung der ungarischen Justizgesetze. In dieser Frage standen einander zwei Gruppen gegenüber. Die Verhandlungen verliefen zunächst völlig systemlos, es gab keine klare Zielsetzung. Eine radikal-konservative Gruppe, die Mehrheit der Konferenz, zielte auf eine Rückkehr zum vorrevolutionären Status ab377; die gemäßigte unter Führung von Dek, Tth und Horvth war darauf bedacht, die Errungenschaften von 1848 für die künftige Rechtspflege sicherzustellen378. 1848 war aber vor allem das vorrevolutionäre ungarische Privatrecht weitgehend obsolet geworden379. Es wurde daher sogar in Erwägung gezogen, das ABGB vorerst provisorisch in Geltung zu belassen, da es dem Standpunkt der ungarischen Gesetzgebung von 1848 näherstand als die vorrevolutionären ungarischen Gesetze. Deks380 Antrag, anstelle der überstürzten Aufhebung des österreichischen Privatrechts, das ABGB „von Paragraph zu Paragraph“ dahingehend zu untersuchen, „was an dessen Stelle aus dem früher bestandenen ungarischen Privatrecht gesetzt“ werden könnte, wurde aber nicht bloß von den Konservativen abgelehnt, sondern blieb sogar bei den Gemäßigten ohne jede Unterstützung381! Diese Intentionen konnten auch von vorneherein gegen die Mehrheit der Konferenz keine Aussicht auf Erfolg haben. Es wurde aber schließlich doch ein Kompromiss gefunden. Es bestand unter den Konferenzteilnehmern die allgemeine Überzeugung, dass eine Wiederherstellung der ungarischen Gesetze in Bausch und Bogen un374 Szladits, wie Fn. 36, 321 f.; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 101 ff., besonders 105; Böszörmnyi-Nagy, ebda, 417; Kajtr, siehe Fn. 6, 461; Aus Ungarn. Die Judex KurialKonferenz, in: Gerichtshalle 1861, 30; vgl. auch St. Teleszky, Entwurf des ungarischen Erbrechts …, Budapest 1887, Vorwort II. 375 Dauscher, wie Fn. 307, 3. 376 Die Konferenz hatte sich, wie ein Teilnehmer formulierte, „um ein paar Monate verspätet“: Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 5 (Wien 1861), 38. 377 Zu den Argumenten gegen die Rezeption österreichischen Rechts: Kajtr, wie Fn. 5, 461 ff. 378 Zu den Argumenten für die Rezeption österreichischen Rechts: Kajtr, wie Fn. 6, 464 ff. 379 Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 5 (1861), 38 (insbesondere die Argumentation von Dek). 380 Zu seiner Einstellung zum Privatrecht: B. Szab, Dek und das Privtarecht, in: G. Math/ B. Mezey (Hrsg.), Nationalstaat – Monarchie – Mitteleuropa – zur Erinnerung an den „Advokaten der Nation“, Ferenc Dek (= Bibliotheca Iuridica Az ELTE llam-s Jogtudomny Karnak tudomnyos kiadvnyai. Acta Congressuum 13), Budapest 2004, 124 – 129; Hamza, in: Hamza, wie Fn. 6, 2 f. 381 Hoffmann, Gesetzbuch, in: ÖG-Z 16 (1865), 124 (insbesondere zur Taktik von Dek).
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möglich war: Es sollte im Privatrecht also weder zu einer vollständigen Wiederherstellung der ungarischen Gesetze kommen, noch das ABGB beibehalten werden, und zwar auch nicht in einer modifizierten Fassung382. Zielsetzung der Konferenz383 war es daher geworden, für das Privatrecht provisorische Rechtsnormen auf Grundlage des früheren ungarischen Rechts, jedoch ohne Rückwirkung, aber mit Änderungen sowie Ergänzungen, soweit solche Modifikationen aufgrund der seit 1848 veränderten Staats- und Rechtsentwicklung notwendig oder zweckmäßig erschienen. Die definitive Entscheidung „über einheitliche Zivilrechtsnormen“, also letztlich über ein eigenes ungarisches Zivilgesetzbuch, wurde aber dem Landtag vorbehalten384. Zur Bewältigung ihrer Aufgabe wurden am 25. Jänner 1861 vom Plenum der Konferenz eine Reihe von Subkommissionen eingesetzt385, darunter unter anderem auch eine eigene für „formelles und materielles Privatrecht“ und „Grundbücher“, also für das Privatrecht im weiten Sinne unter Einschluss des zivilgerichtlichen Verfahrens und des Grundbuchwesens. Im Subkomit für das Privatrecht386 war vor allem die Frage der Grundlagen des künftigen ungarischen Erbrechts umstritten. Gemäßigte wie Tth und Horvth forcierten die provisorische Weitergeltung des ABGB-Erbrechts, um eine Wiederherstellung der Avitizität zu verhindern. Gegen den Auftrag des Plenums hatte sich die Mehrheit der Subkomit-Mitglieder also nicht für die modifizierte Wiederherstellung des ungarischen Privatrechts, sondern für die provisorische Fortgeltung des ABGB ausgesprochen, um „von zwei Übeln das Kleinere zu wählen“, wie es in der Begründung des Gutachtens hieß387. Ein Separatvotum forderte dagegen die Wiederherstellung des früheren ungarischen Erbrechts388. Die Vorschläge des Subkomits wurden am 22. Februar vom Plenum in Verhandlung genommen389. Sie lösten unter der konservativen Mehrheit, welche die Interessen des Großgrundbesitzes vertrat, Bestürzung aus. Es wurde freilich zwiespältig argumentiert390. Vehement abgelehnt wurde nicht das österreichische Erbrecht allein, sondern das ABGB: Es widerspreche dem „Charakter der ungarischen Nation“; man sollte dem Volk „sein angestammtes Recht“ wieder geben, nach dem es sich nach „diesen elf schrecklichen Jahren“, in denen das ABGB gegolten habe, „innig 382
Szladits, wie Fn. 36, 322 ff. Dauscher, wie Fn. 307, 2 f.; Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 43; Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 417; Homoki Nagy, wie Fn. 6, 7 ff. 384 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 102. 385 Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 1861, 38. 386 Szladits, wie Fn. 36, 325; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 38, 101 ff.; Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 5 (1861), 38 f. 387 Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 418. 388 Szladits, wie Fn. 36, 324. 389 Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 1861, 63 (Gutachten über das Erbrecht), 70 (Gutachten über die ehemaligen grundherrschaftlichen und damit verwandte Verhältnisse), 78 (Gutachten über die Grundbücher). 390 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105. 383
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sehnt, das ungarische Recht“. Die Rezeption des ABGB-Erbrechts, im Umfang von etwa 400 Paragraphen, hätte bewirkt, dass das ungarische Erbrecht eigentlich ein „deutsches“391 geblieben wäre. Andererseits wurde aber die Beibehaltung des österreichischen Grundbuchswesens begrüßt, da es „die Empfindlichkeit jener Interessen“, gemeint waren natürlich nur jene des Großgrundbesitzes, anerkenne. Erst in der Schlusssitzung der Konferenz am 4. März fiel die definitive Entscheidung über das bürgerliche Recht392. Die Judexkurialkonferenz beschloss, „die, das materielle bürgerliche Privatrecht betreffenden ungarischen Gesetze“ wiederherzustellen393, allerdings in modifizierter Form und auch mit Ergänzungen durch Elemente aus den seit 1850 in Ungarn eingeführten österreichischen Gesetzen, womit den seit 1848 veränderten Sozial- und Wirtschaftsverhältnissen Rechnung getragen wurde. Es konnte so – hauptsächlich auf Initiative von Dek394, einem der Väter des späteren staatsrechtlichen Ausgleichs von 1867 – ein „privatrechtlicher Ausgleich“395 erzielt werden, ein Kompromiss zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Privatrecht, der aber die Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit der in der Judexkurialkonferenz vorgetragenen Argumente letztlich doch nicht überbrücken konnte. Ihre Beschlüsse führten zu einer äußerst eigentümlichen Rechtsreform, die Ungarn weitestgehend auf seine vormärzliche Privatrechtssituation zurückfallen ließ. Sie beendeten aber die seit 1853 in Verbindung mit der Einführung des ABGB fortschreitende Privatrechtsentwicklung und standen damit eigentlich in schroffem Widerspruch zu den Intentionen des Landtags von 1847/48. Die Beschlüsse der Judexkurialkonferenz wurden unter dem Titel „Anträge der landesrichterlichen … in Angelegenheiten der Rechtspflege“ zusammengefasst. In einer Art Präambel dazu sind auch knapp die Motive umrissen: Es sollten „die vaterländischen Gesetze ohne Erschütterung des Credits, ohne Kränkung privatrechtlicher Verhältnisse und Stockung des Rechtsganges wieder in das Leben treten“. Damit zugleich aber auch „den Ansprüchen der Zeit und den Bedürfnissen der veränderten Umstände entsprochen werde“, könnten diese durch die Judexkurialkonferenz „festgestellten … provisorischen Einrichtungen“ den zur Rechtspflege berufenen Organen nur „in der Durchgangsperiode als Richtschnur“ dienen, bis „die verfassungsmäßige Gesetzgebung“, also aufgrund eines vom Monarchen sanktionierten Landtagsbeschlusses, „das systematische Werk der Codification vollenden kann“. Die Judexkurialkonferenz wollte den Landtag also auch in dieser Frage präjudizieren. 391
Szladits, wie Fn. 36, 325. Aus Ungarn. Die Judex Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 5 (1861), 30 f., 38 f., 62 f., 70 f., 78. 393 Judexkurialkonferenz-Beschlüsse, Teil I, A § 1. 394 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 104. 395 Ebda, 101 ff.; I. Kajtr, Dek und die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts, in: G. Math/B. Mezey (Hrsg), Nationalstaat – Monarchie – Mitteleuropa – zur Erinnerung an den „Advokaten der Nation“, Ferenc Dek (= Bibliotheca Iuridica Az ELTE llam-s Jugtudomnyi Karnak tudomnyos kiadvnayai. Acta Congressum 13, Budapest 2004, 24 – 33, besonders 30 f. 392
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e) Ergebnis: Übergangsregeln bis zur Neukodifikation des ungarischen Privatrechts396 Der Inhalt der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse verteilt sich auf acht Kapitel und umfasst etwas mehr als 300 Paragraphen397. Bloß 23 davon betrafen im 1. Kapitel, „Das bürgerliche Privatrecht“, das materielle Privatrecht398. Es ist diesem Abschnitt eine Generalklausel (§ 1) vorangestellt, wonach zwar die früheren ungarischen Privatgesetze wieder hergestellt werden, aber mit einer Reihe, „durch den öffentlichen Credit, die Rechtscontinuität und die Erfordernisse der Lage … bedingten Nachträgen“. Die anschließenden kaum zwei Dutzend Paragraphen haben lediglich die Funktion, die seit dem Tripartitum Werböczys erfolgten gesetzlichen Veränderungen des ungarischen Privatrechts festzustellen. Hierbei erfolgte aber kein konsequentes Zurückgehen auf den Stand der Gesetzgebung vor 1848399. Spezialregelungen400 wurden getroffen insbesondere im Bereich des Ehegüter- und Erbrechts.401 So blieb das gesetzliche Erbrecht402 zwar grundsätzlich losgelöst von den Bindungen der Avitizität, es war aber bei Fehlen von unmittelbaren Nachkommen ein merkwürdiges Rückfallserbrecht vorgesehen, das keine Erbrechtsgrenze kannte, so dass es sich eigentlich als Surrogat für die nicht mehr existente Avitizität erwies. Das Avitizitätspatent blieb bestehen, freilich hat die Judexkurialkonferenz auch hiervon Ausnahmen normiert403.
396 Dauscher, wie Fn. 307, 7; Putz, wie Fn. 18, 51. – Im Überblick dazu auch: Zlinszky, wie Fn. 18, 169 f. 397 Dauscher, wie Fn. 307, 7 ff.; vgl auch Zehentbauer, wie Fn. 17, Einführung, 23 f.; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105 f. – Kapitel I betrifft das Privatrecht im weitesten Sinn (einschließlich des Grundbuchsrechts und des Zivilprozeßrechts), Kapitel II das Strafprozeßrecht; Kapitel III das Wechselrecht; Kapitel IV das Konkursrecht; Kapitel V das Handelsrecht; Kapitel VI „Urbarial-, Grundentlastungs-, Proportional- und feldpolizeiliche Angelegenheiten“, Kapitel VII das Bergrecht und Kapitel VIII die Advokatur und das Notariat. 398 Die §§ 24 – 180 betreffen den „Formellen Teil“ des Privatrechts (B), nämlich die Gerichtsorganisation (1. Hauptstück: §§ 24 – 29), die Gerichtszuständigkeit (2. Hauptstück: §§ 30 – 42), das zivilgerichtliche Verfahrensrecht sowie das Exekutionsrecht (3.–11. Hauptstück: §§ 43 – 144); hinzu kommt das Grundbuchsrecht (12. Hauptstück: §§ 145 – 158), das „Verfahren in Betreff verlorener Urkunden (13. Hauptstück: § 159 – 162), das Verlassenschaftsverfahren (14. Hauptstück: §§ 163 – 173) sowie Übergangsbestimmungen (15. Hauptstück: §§ 173 – 180), die sich auf die provisorische (österreichische) Zivilprozeßordnung 1853 sowie auf das Patent über das Verfahren in Verlassenschaftsabhandlungen 1854 beziehen. 399 Nur einzelne 1848er-Gesetze wurden anerkannt, etwa Gesetzartikel XV (Aufhebung der Avitizität). 400 Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105 f. 401 Judexkurialkonferenz-Beschlüsse (JKKB) Teil, I A §§ 2 – 4 (Modalitäten der Aufhebung der Avitizität), §§ 5 f (Form letztwilliger Verfügungen), §§ 7 f (Testierfähigkeit), §§ 9 – 12 (gesetzliche Erbfolge), §§ 13 – 17 (Frauenrechte: Abgeltung des gemeinsamen Erwerbs, Ehegattenerbrecht, insbesondere der Witwe, Versorgung der Witwe), §§ 18 (Heimfallsrecht), §§ 19 f (verschiedene Bestimmungen in Bezug auch die Avitizitätspatente). 402 Dazu Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 38, 419. 403 Dauscher, wie Fn. 307, 22: Teil I, A § 20 JKKB.
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Mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen war zwar die Geltung des ABGB formell beendet, ebenso die der seit 1850 in Ungarn erlassenen privatrechtlichen Nebengesetze. Sie sahen allerdings eine Reihe von Ausnahmen vor, welche das Avitizitätspatent 1852, die Grundbuchsordnung 1855, sowie das Gesetz zum Schutz des geistigen Eigentums 1846404, das mit der Einführung des ABGB in den ungarischen Ländern in Geltung gesetzt worden ist, betrafen. Inhaltliche Einflüsse des ABGB machten sich darüber hinaus auch in den Spezialregelungen zum wiederhergestellten ungarischen Ehegüter- und Erbrecht geltend, etwa in der Übernahme des Parentelensystems als Grundlage für die gesetzliche Erbfolge;405 auch die Ausgestaltung des rechtsgeschäftlichen Erbrechts zeigte Anlehnungen an das ABGB; erhalten blieben auch die Fideikommisse406. In Verbindung mit der weitergeltenden Grundbuchsordnung wurden auch die entsprechenden materiellrechtlichen Bestimmungen des ABGB übernommen407. Auch die 1860 im Gesamtstaat eingeführte Liegenschaftserwerbsfreiheit für Juden blieb aufrecht408. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse stellten insoweit tatsächlich einen „Ausgleich“ im Privatrecht409 dar. Sie hatten insoferne eine „Brückenrolle“410, und versuchten weitestgehend die Kontinuität mit dem ungarischen Privatrecht vor der Einführung des ABGB zu wahren, eine lückenlose Wiederherstellung war aber nach den Reformen des Jahres 1848 unmöglich geworden. Durchbrechungen des wiederhergestellten früheren ungarischen Privatrechts zeigten sich im Familien- und vor allem im Erbrecht zufolge der Aufhebung der Avitizität. Die Judexkurialbeschlüsse führten daher nicht zu einer völligen Restauration der ungarischen Privatrechtssituation vor der Einführung des ABGB, sie brachten durchaus auch neue Elemente, die sich durch die seit 1848 eingetretene Entwicklung als notwendig erwiesen hatten. Sie stellen aber einen anachronistischen Torso dar. In dem bunten Konglomerat von alten und neuen ungarischen Rechtselementen, in welchem auch größere und kleinere Partikel des ABGB und anderer österreichischer Gesetze eingesprengt blieben, widerspiegelt sich auch das Gedankenchaos, das die Judexkurialkonferenz gekennzeichnet hat. Auch das – ungarischerseits – zu Gunsten der Konferenzbeschlüsse angeführte Motiv der Beseitigung der unter österreichischer Herrschaft oktroyierten Gesetze war aber völlig verfehlt worden, weil gerade von diesen wesentliche Bestimmungen beibehalten wurden. Konsequenterweise hätte – aus der Perspektive der Kon404
Gemäß Teil I, A § 23 JKKB. Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 419. 406 Teil I, A § 3 JKKB; dazu auch Kovcs, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 226. 407 Dauscher, siehe Fn. 304, 22: Teil I, A § 21 JKKB. – Die Weitergeltung der GBO 1855 zieht die Übernahme der Bestimmungen des ABGB über das materielle Grundbuchsrecht nach sich, insbesondere der §§ 321 f., 350, 431 – 441, 443 – 445, 451, 453 f., 468, 1905, 1236, 1369, 1446, 1467, 1469, 1498 – 1500. 408 Gemäß Teil I, A § 22 JKKB; zur kgl. VO 1860 II 18/RGBl. Nr. 45 siehe auch oben bei Fn. 169. 409 Szladits, wie Fn. 36, 326; Malfr, wie Fn. 4, 33; Kajtr, wie Fn. 6, 469 f. 410 Kajtr, wie Fn. 6, 469. 405
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tinuität des früheren ungarischen Rechts – eigentlich die ganze österreichische Gesetzgebung „annulliert“, „auf dem Boden der Opportunität stehend“, aber die ganze österreichische Gesetzgebung beibehalten werden müssen, wie kritische Stimmen aus Ungarn betonten: Denn „in keinem Zweige des Privatrechtes vermochten die ungarischen Gesetze aber Besseres zu liefern, als die österreichischen“. Dem ABGB wurde vor allem der Vorzug „der Gleichheit aller vor dem Gesetz“ sowie jener „der erschöpfenden Behandlung des Rechtsstoffes“ eingeräumt. Es gleiche „einem großartigen für Jahrhunderte bestimmten Baue“, den die Judexkurialkonferenz „durch die sporadischen Normen des corpus juris Hunagrici, die Gesetzesartikel von Olims Zeiten …, die auf weggeschwemmten Instituten, auf Unterschieden, welche der Neuzeit fremd sind, beruhen“, mehr aus politischen als rechtlichen Motiven, ersetzt habe411. 3. Das Wirksamwerden der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse 1861 a) Befassung der Regierung in Wien412 Die Anträge des Judex Curiae zur Reorganisation der Rechtspflege in Ungarn waren sodann ab Mitte März 1861 mehrmals Gegenstand der Verhandlungen im Ministerrat413. Als Vorfrage wurde zunächst geprüft, ob diese Anträge als „Provisorium“ bis zur definitiven Regelung dieses Gegenstandes im Weg der ordentlichen Gesetzgebung dienen sollten, oder ob der Judex Curiae zu ermächtigen wäre, die auf der Judexkurialkonferenz gefassten Beschlüsse mit Genehmigung des Kaisers im eigenen Namen als Verordnung zu erlassen. Eine solche Sanktion des Monarchen war ursprünglich nicht vorgesehen gewesen, doch wurde sie von konservativen ungarischen Politikern im Anschluss an die Judexkurialkonferenz im März 1861 gefordert. Auf Regierungsebene wurden diese Positionen auch von den ungarischen Mitgliedern des Ministerrats in Wien vertreten. Seit dem Erlass des Oktoberdiploms gehörten ihm drei ungarische Vertreter an: Anton Szcsen als Minister ohne Portefeuille, Teilnehmer an den Verhandlungen waren auch die beiden Leiter der ungarischen Hofkanzlei in Wien, Nikolaus Vay und Ladislaus Szögyny. Der Ministerrat befasst sich mit den Beschlüssen der Judexkurialkonferenz erstmals am 21. März. Minister Szcsen betonte, dass der anarchische Zustand der ungarischen Rechtspflege nur durch den Erlass der Beschlüsse seitens des Judex Curiae beendet werden könnte; es sei also Eile am Platz. Auch Hofkanzler Vay hielt diesen Weg für politisch opportun, da dem Judex Curiae die Leitung des Landtags zukommen werde. Er räumte auch ein, dass die Beschlüsse zwar über die Grenzen der Ok411
Die Beschlüsse der Judex-Kurial-Konferenz, in: Gerichtshalle 5 (1861), 169 f. Malfr, wie Fn. 4, 32 f.; dazu auch Kajtr, wie Fn. 6, 466 f. 413 H. Brettner-Messler (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abt. V/Band 1 (MRP V/1), Wien 1977, 200 ff. – Der erste ungarische Hofkanzler Vay hatte dem Kaiser – im Weg des Ministerpräsidenten – am 20. März über das Ergebnis der Judexkurialkonferenz berichtet. Ministerpräsident Erzherzog Rainer legte den Bericht aber erst am 31. März tatsächlich vor: ebda, 203 Fn. 3. 412
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tober-Erlässe hinausgingen, ihre unverzügliche Ausführung sei aber zur Sicherung der Rechtspflege unumgänglich. Unterstützung fanden diese Argumente auch durch Polizeiminister Carl Mecsry, der aber dennoch auf eine Befassung des Landtags drängte. Nur für den Fall, dass dort die Behandlung der JudexkurialkonferenzBeschlüsse boykottiert würde, wäre eine Ermächtigung des Judex Curiae ins Auge gefasst worden; allenfalls aber auch die Verhängung des Ausnahmezustands414. Auch die übrigen nichtungarischen Teilnehmer der Ministerratssitzung brachten Einwände vor. Außenminister Johann Bernhard Rechberg sah es vor allem als problematisch an, sich mit den Beschlüssen zu befassen, ohne auch im Einzelnen ihren Inhalt zu kennen. Da der Landtag ohnedies in wenigen Tagen zusammentreten werde, könnte er sich in absehbarer Zeit selbst damit befassen415. Staatsminister Schmerling sah vor allem mit dem von der Judexkurialkonferenz vorgeschlagenen „Provisorium“ auch die Interessen der nichtungarischen Länder verletzt. Überdies sei zu erwarten, dass es vermutlich für lange Zeit maßgeblich bleiben würde, vielleicht für mehrere Jahre. Es wäre daher eine inhaltliche Prüfung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse unumgänglich. Finanzminister Ignaz Plener416 schloss sich vorbehaltslos an. Sollte tatsächlich das Bedürfnis nach Änderungen des status quo bestehen, müsste der Landtag die Initiative ergreifen. Ein alleiniger Erlass des Kaisers – ohne Befassung des Landtags – würde ihn sofort dem Einwand des Oktroy aussetzen. Aber die Ermächtigung des Judex Curiae wäre ein beispielloser verfassungswidriger Vorgang. Josef Lasser, Minister ohne Portefeuille, rügte vor allem das eigenmächtige Abgehen des Judex Curiae: Anstatt die Reorganisation der Gerichtsverfassung zu behandeln, habe sich die Judexkurialkonferenz als Gesetzgebungskommission betätigt; Plener trat daher ebenfalls für den verfassungsmäßig vorgezeichneten Weg ein. Auch Justizminister Adolf Pratobevera betonte, dass jedes andere Vorgehen die Legalisierung eines faktisch bestehenden Zustandes bedeuten würde417. Handelsminister Matthias Wickenburg plädierte sogar dafür, das von der Judexkurialkonferenz vorgeschlagene „Provisorium“ auf die Gerichtsorganisation zu beschränken418. Staatsratspräsident Thaddäus v. Lichtenfels419 äußerte Bedenken vor allem in Bezug auf seinen Inhalt. Der Staatsrat habe noch kein Gutachten erstatten können420, weil den Regierungsstel414
MRP V/1, 203 (Szcsen), 203 f. (Vay), 200 (Mecsry). MRP V/1, 200. 416 Ihm schließen sich Kriegsminister Christoph Degenfeld-Schonburg, Minister ohne Portefeuille Josef Lasser und Justizminister Adolf Pratobevera an: MRP V/1, 203, 205. 417 MRP V/1, 201 f., 203 (Plener), 201 f. (Lasser), 202 (Pratobevera). 418 MRP V/1, 201 f. – Der Polizeiminister würde Konzessionen nur für den Fall einräumen, wenn dadurch der Standpunkt der Oktober-Erlässe gewahrt würde: MRP V/1, 205. 419 Mit Erlass der Reichsverfassung 1861 war an die Stelle des nunmehr zum Parlament umfunktionierten Reichsrats als neues Beratungsorgan des Kaisers in Gesetzgebungsangelegenheiten der Staatsrat getreten: RGBl. Nr. 22. 420 St. Malfr (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung V/Band 2 (MRP V/2), Wien 1981, 330 Fn. 7: Hinweis darauf, dass der Judex Curiae zu Ende August 1861 dem ungarischen Hofkanzler in Wien eine zu Pest gedruckte amtliche Übersetzung zur Verfügung gestellt habe. 415
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len in Wien die Beschlüsse noch nicht im Einzelnen bekannt seien; er müsse daher in jedem Fall die Annahme durch den Kaiser ablehnen. Eine derartig weitreichende „Umwälzung der Gesetze“ knapp vor der Einberufung des Landtags wäre unverantwortlich, Änderungen der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse durch den Landtag könnte man nicht ausschließen; unter Umständen aber auch nicht die Rückkehr zur vormärzlichen Rechtssituation421. Hofkanzler Szögyny422 beteuerte, dass er persönlich zwar für die Beibehaltung des ABGB wäre, doch könnte er diesen Standpunkt nicht mehr vertreten, nachdem 46 Komitate und Städte die Wiederherstellung des alten ungarischen Privatrechts und Gerichtsverfahrens verlangt hatten. Die Anträge des Judex Curiae sähen aber nicht den Erlass neuer Gesetze vor, wofür die Mitwirkung des Landtags notwendig wäre. Die Judexkurialkonferenz habe als das hierzu berechtigte Organ bloß den allgemeinen Wunsch des Landes ausgesprochen, nämlich die Wiederherstellung der früheren verfassungsmäßigen Justizgesetzgebung. Es müsse daher dem Judex Curiae die Ermächtigung erteilt werden, ihre Beschlüsse im Wege einer Verordnung zu erlassen, um auch eine geordnete Rechtspflege zu ermöglichen. Die Mehrheit im Ministerrat sprach sich aber für die Überweisung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse an den Landtag aus. Die Beratungen423 über die Frage der Kundmachung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse wurden sodann am 22. März 1861 unter dem persönlichen Vorsitz des Kaisers und auch in Anwesenheit von Georg Apponyi, dem Judex Curiae, fortgesetzt. Die beiden ungarischen Hofkanzler Vay und Szögyny bezeichneten die sofortige Ausführung der Beschlüsse als den einzigen Weg, um Recht und Ordnung in Ungarn wiederherzustellen, und um nicht zu außerordentlichen Mitteln greifen zu müssen. Szögyny beteuerte, dass mit der Ermächtigung des Judex Curiae zwar ein außerordentlicher Weg beschritten werde, aber doch auch kein neuer, da auch viele der seit 1850 für Ungarn erlassenen Gesetze „provisorische“ gewesen seien, nämlich durch den dazu vom Kaiser ermächtigten Justizminister. Die Beschlüsse der Judexkurialkonferenz seien unter Mitwirkung der besten Juristen Ungarns zustande gekommen, auch der Judex Curiae als Präses der Septemviraltafel, dem ungarischen Höchstgericht, gelte als anerkannte Autorität; sie fänden daher im Land allgemeines Vertrauen. Ihre Kundmachung so knapp vor der Einberufung des Landtags, sei durchaus sinnvoll, denn der Landtag werde sich nicht sogleich mit diesem Gegenstand befassen können, so dass die anarchischen Zustände in der Rechtspflege Ungarns andauern würden424.
421 MRP V/1, 205 f. – Eine Rückkehr zur vormärzlichen Privatrechtssituation wäre vor allem für das Handelsrecht von Nachteil gewesen, da die Arbeiten am Entwurf eines Allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs für die Staaten des Deutschen Bundes knapp vor ihrem Abschluss standen. 422 MRP V/1, 206 f. 423 MRP V/1, 208 ff.: Ministerrat am 22. März. 424 MRP V/1, 209 (Vay), 209 f. (Szögyny).
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Staatsminister Schmerling425 hob abermals hervor, dass der Inhalt der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse der Regierung nur in Umrissen bekannt sei. Sie bezweckten aber generell – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Abschaffung der österreichischen Gesetzgebung; seien daher verfassungswidrig, weil sie sich gegen die im vorigen Oktober ergangenen Erlässe richteten. Sie könnten aber auch nicht oktroyiert werden, sondern müssten auf verfassungsmäßigem Weg in Wirksamkeit gebracht werden. Der Landtag werde ohnedies bald eröffnet, dort wären die Beschlüsse als Anträge des Königs einzubringen. Apponyi426 selbst beteuerte, dass die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse keine förmlichen Gesetze darstellten, sie beschränkten sich auf die Organisierung der Rechtspflege. Eine Verlagerung der gesamten Rechtsprechung Ungarn innerhalb der Landesgrenzen, gemäß den Oktober-Erlässen, wäre aber nur in Verbindung mit einer Rückkehr auch zur alten Gesetzgebung und Gerichtsverfassung möglich gewesen. Würden seine Anträge „als freiwilliger Akt der kaiserlichen Gnade und des kaiserlichen Vertrauens hinausgehen“, dann wäre im Land kein Widerstand zu erwarten. Er ersuche daher um die kaiserliche Ermächtigung zum Erlass der Beschlüsse, da eine Abhilfe von Seiten des Landtags nicht zu erwarten sein würde, weil er sich zunächst mit wichtigeren Fragen befassen müsste. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse seien daher das einzige Mittel zur Befriedung des Landes, sonst bliebe es „bei der Rechtsanarchie als wahre Landplage“. Schmerling427 entgegnete, dass sie auch als Eingeständnis der Regierung aufgefasst werden könnten, die bisher für Ungarn bestehenden Gesetze seien unberechtigte gewesen, was unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde. Minister Szcsen hielt diese Einwände zwar für durchaus richtig, sie würden aber nicht dazu beitragen, den Rechtsstillstand in der ungarischen Rechtspflege zu beheben. Für die Kundmachung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse sei daher folgender Weg einzuschlagen: Sanktion des Kaisers und Ermächtigung des Judex Curiae zur Kundmachung. Auch die beiden ungarischen Hofkanzler unterstützen diesen Antrag einhellig. Auf die anschließende ausdrückliche Anfrage des Kaisers, ob denn eine Genehmigung der Beschlüsse unter Einschränkung auf die Gerichtsorganisation zur Erreichung des Zweckes nicht auch genügen könnte, beteuerten die ungarischen Teilnehmer im Ministerrat, dass – bei der derzeit in Ungarn herrschenden Stimmung – die ungarische Rechtsprechung nur aufgrund ungarischer Gesetze funktionieren würde428. Die Willensbildung innerhalb der Regierung war damit aber immer noch nicht abgeschlossen. Knapp vor dem Zusammentritt des ungarischen Landtags429 fand am 2. April noch eine weitere Debatte im Ministerrat, und zwar abermals unter Vorsitz 425
MRP V/1, 210 f. MRP V/1, 212 f. 427 MRP V/1, 213. – Auch der Polizeiminister sah in der Ermächtigung des Judex Curiae keine Erfolgsgarantie: MRP V/1, 214 f. 428 MRP V/1, 215. 429 MRP V/2, XXV: Einberufungstermin war der 6. April. 426
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des Kaisers, statt. Die beiden ungarischen Hofkanzler und Minister Szcsen wiederholten im wesentlichen ihre bereits bekannten Standpunkte und Bedenken430 ; sie betonten vor allem, dass eine Kundmachung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse im Weg des Oktroy die Situation „der Rechtslosigkeit und der Rechtsunsicherheit“ in Ungarn nur verlängern und auch eine Vorlage an den Landtag nur zur „Fortdauer der Konfusion“ führen würde. Es sei daher sofort die Ermächtigung des Judex Curiae zu veranlassen; denn nur dann bestünde Aussicht darauf, dass der Landtag die Beschlüsse „in Bausch und Bogen“, also ohne inhaltliche Änderungen, annehmen werde. Szcsen ergänzte noch, dass der Judex Curiae freilich von dieser Ermächtigung nur im äußersten Notfall und auch nur im Interesse der Krone Gebrauch machen würde431. Der Judex Curiae jedenfalls lege – so Szcsen – großen Wert auf diese Ermächtigung, weil er darin einen Beweis des Vertrauens der Krone sehe. Hofkanzler Vay sekundierte mit dem Hinweis, dass der Judex Curiae bereits aus Wien abgereist sei, und zwar in der Erwartung, dass er diese Ermächtigung erhalten werde; sollte sie aber ausbleiben, würde er wohl zurücktreten432. Staatsminister Schmerling sprach sich – unterstützt von der Mehrheit seiner deutschen Ministerkollegen433 – dennoch gegen eine so weitreichende Ermächtigung aus. Er würde sie nur für den Notfall erteilen, allenfalls auch telegraphisch, bezweifle es aber, dass der Landtag die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse überhaupt behandeln werde. Der Kaiser veranlasste zwar, den Judex Curiae aufzufordern, von der gewünschten Ermächtigung Abstand zu nehmen, er war aber in der Frage der Kundmachung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse bereit, einzulenken, vor allem wollte er jeden Eindruck eines Oktroy vermeiden434. Der Judex Curiae wurde daher angewiesen, die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse dem Landtag zur Prüfung vorzulegen435. Konzessionsbereitschaft signalisierte die Regierung in Wien aber bereits mit dem kaiserlichen Handschreiben vom 29. März an den ungarischen Hofkanzler436, mit dem die Wiederherstellung der früher bestandenen Gerichtsorganisation zum 1. Mai 1861 angeordnet wurde. Bis dahin erfolgte auch der gänzliche Abbau des österreichischen Justizbeamtenstandes in Ungarn. Zur Unterbringung von disponiblen Justizbeamten der nichtungarischen Justizorganisation bestand der Grundsatz, diese dort wiederzuverwenden, wo sie, bevor sie nach Ungarn versetzt wurden, zu-
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MRP V/1, 246 f. (Hofkanzler Vay und Szögyny), 247 (Szcsen). MRP V/1, 247. MRP V/1, 247 f. Vor allem der Polizeiminister und auch der Außenminister äußerten Bedenken: MRP V/
1, 247. 434
MRP V/1, 247 f. – Der Kaiser drängte auch mehrmals auf eine Vorlage an den Landtag; vgl. auch MRP V/2, 169 (zu Ende Juni 1861), 177. 435 MRP V/2, 185 f. in Fn. 1. 436 MRP V/1, 248 in Fn. 2; vgl auch ebda 203 in Fn. 3.
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letzt gedient hatten437. Eine Rückkehr an die frühere Dienststelle war dem Großteil der betroffenen Beamten anlässlich ihrer Versetzung in die ungarischen Länder auch ausdrücklich zugesichert worden. Dabei sollte auch so vorgegangen werden wie bei Versetzungen von ungarischen Beamten in die cisleithanischen Länder vor den Oktober-Erlässen 1860, nämlich unter Wahrung des letzten Dienstranges438. Die meisten der etwa 5000 in Ungarn infolge der Oktober-Erlässe „disponibel“ gewordenen Beamten, davon mindestens 2000 aus den böhmisch-deutschen Erbländern, kehrten auch tatsächlich auf ihre ursprünglichen Dienstposten zurück. Probleme gab es aber bei der Unterbringung jener Beamten, denen dies nicht vorbehalten worden war. Ihnen wurde zunächst ein „Begünstigungsjahr“ unter Fortzahlung des Gehalts gewährt. Nach Ablauf dieser Frist war aber das Problem mit dem Heer der disponiblen Beamten noch immer nicht gelöst. Da viele Betroffene nicht sofort untergebracht werden konnten, mussten diese Begünstigungen immer wieder verlängert werden439. Schließlich regten Alternativ-Vorschläge zur Lösung des Problems an, sämtliche bereits mehr als vierzig Jahre im Dienst stehenden Beamten zu pensionieren440. Zahlreiche der nach 1860 „disponibel“ gewordenen österreichischen Juristen aus den Ländern Ungarns wurden auch tatsächlich in den Ruhestand versetzt, sofern sie nicht mit Dienstposten in den westlichen Ländern Österreichs versorgt werden konnten, wofür vor allem das Notariat herhalten musste.441
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Vgl. dazu: Die disponiblen ungarischen Justizbeamten. Ein Vorschlag zu ihrer definitiven Anstellung, in: Gerichtshalle 6 (1862), 41; sowie ebda, 58 f.: Die disponiblen ungarischen Justizbeamten. 438 Noch ein Wort über die ungarischen disponiblen Beamten, in: Gerichtshalle 6 (1862), 407. 439 MRP V/2, 24 (Ende April/Anfang Mai 1861); St. Malfr (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung V/Band 3 (MRP V/3), Wien 1985, 111 f. (Mitte Dezember 1861) und 187 f. (Anfang Jänner 1862). – Zu Ende 1863 wurden schließlich eigene Kommissionen eingesetzt: T. Kletecˇka (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung V/Band 7 (MRP V/7), Wien 1992, 157 (Mitte Dezember 1863). – Die Frage der Finanzierung blieb aber ein Problem: MRP V/7, 359 (Anfang Mai 1864). 440 Dazu: Die disponiblen ungarischen Justizbeamten, in: Gerichtshalle 6 (1862), 107. 441 Vgl. dazu Ch. Neschwara, Österreichs Notariatsrecht in Mittel- und Osteuropa. Zur Geltung und Ausstrahlung des österreichischen Notariats (= Schriftenreihe des Österreichischen Notariats 13), Wien 2000, 42. – Ein prominenter disponibler Beamter aus Ungarn, der sich um die Verleihung eines Notariats in Wien bemüht hatte, war übrigens der ehemalige Ordinarius für zivilgerichtliches Verfahren sowie Handels- und Wechselrecht an der Universität Pest, Ferdinand Schuster. Er war seit Mitte Oktober 1861 Notariatspraktikant bei dem renommierten Wiener Notar Josef Chiari und bewarb sich 1861 auch um ein Notariat in WienLandstraße bzw. Hietzing, damaligs Vorort von Wien. Als er tatsächlich zum Notar ernannt werden sollte, jedoch für den unbedeutenden Bezirk Mank in Niederösterreich, schlug er die Verleihung aus. Er verblieb bis Mitte Jänner 1863 als Praktikant bei Notar Chiari: AVA, JM II 18 (Österreich 1859 – 1863), Karton 2206/Post 52 sowie 83 und 84; ferner AVA, Unterricht, Faszikel 1110, Nr. 2729/126 ex 1861.
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b) Prüfung durch den Landtag in Pest442 Die Einberufung des Landtags443 erfolgte wie vorgesehen zu Anfang April 1861. Auf dem Landtag formierten sich – wie schon zuvor auf der Judexkurialkonferenz – zwei Parteien, eine gemäßigte unter Führung von Dek und die sogenannte „Beschlußpartei“, die Mehrheit, welche auf eine völlige Wiederherstellung der Verfassungssituation von 1848 abzielte. Die Landtagsmehrheit beschloss folglich auch, keine Mitglieder nach Wien in das für 29. April einberufene Abgeordnetenhaus des Reichsrats zu delegieren. Der kategorischen Forderung nach Wiederherstellung der ungarischen Verfassung von 1848 angeschlossen wurde noch eine weitere auf den Anschluss von Siebenbürgen und Kroatien. Die Durchführung der 1848 vereinbarten Fusion von Siebenbürgen mit dem Königreich Ungarn war aber seitens der Krone schon abgelehnt worden, nämlich mit kaiserlichem Reskript schon zu Anfang November 1860; Siebenbürgen behielt daher auch das nach 1849 eingeführte österreichische Justizrecht und die seitdem bestehende Gerichts- und Verwaltungsorganisation444. Ein weiteres kaiserliches Handschreiben hatte zu Ende des Jahres 1860 – offenbar beeindruckt von der in Ungarn sich zunehmend radikalisierenden politischen Missstimmung – dann auch eingeschärft, „daß im Interesse der Sicherheit des Besitzes und der Stetigkeit der Privatverhältnisse alle Bestimmungen des bürgerlichen … Rechts insolange in voller Wirksamkeit zu bleiben haben, als nicht in Betreff derselben im Wege der Gesetzgebung Veränderungen vereinbart werden“445. Der Kroatische Landtag proklamierte sogar seine Unabhängigkeit zusammen mit Fiume sowie Dalmatien in einem gemeinsamen (Drei-)Königreich und forderte den ungarischen Landtag auf, diesen Schritt auch anzuerkennen. Danach wollte man aber in Verhandlungen über einen „Ausgleich“ treten446. Ungeachtet der umstrittenen Haltung in der Verfassungsfrage nahmen beide Kammern des Landtags aber die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse an, das Abgeordnetenhaus am 22. Juni mit 152:70 Stimmen, das 442 Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2153; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105; Sarls, wie Fn. 2, 514 f.; Zehntbauer, wie Fn. 17, 23; Putz, wie Fn. 18, 51; Malfr, wie Fn. 4, 32 f.; Almsi, wie Fn. 49, 5 f.; Dauscher, wie Fn. 307, 2 ff. 443 MRP V/2, XXV; Bernatzik, wie Fn. 35, 309. 444 Bernatzik, wie Fn. 35, 254. 445 Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 43. – Für Siebenbürgen war zwar ebenfalls mit dem Oktoberdiplom die modifizierte Wiederherstellung seiner alten bis 1848 bestehenden Verfassung verfügt worden, der Landtag wurde aber erst zu Mitte Juli 1863 einberufen. Der Verpflichtung zur Delegierung von 26 Mitgliedern in das Abgeordnetenhaus des Reichsrats in Wien kam aber auch nur die Sächsische Nation nach; die von ihr entsandten 10 Mitglieder waren daher die einzigen transleithanischen Abgeordneten im Reichsrat. Der Landtag zu Hermannstadt erklärte zwar im August 1861 die 1848 über die Fusion mit Ungarn getroffene Vereinbarung für nichtig, aber nach einer von der Krone einseitig herbeigeführten Veränderung der politischen Gewichtung im Landtag wurde der Weg zur Fusion aufgrund eines Landtagsbeschlusses von Anfang Dezember 1865 geöffnet: Bernatzik, wie Fn. 35, 321. 446 Von der Krone wurde der Beschluss dann zu Mitte November 1861 sanktioniert. Fiume bildete tatsächlich bis 1868 einen Bestandteil von Kroatien; die Zuordnung von Dalmatien blieb dann aber formal bis 1918 offen: Bernatzik, wie Fn. 35, 310.
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Oberhaus, die Magnatentafel, am 1. Juli, und zwar jeweils „en bloc“447, das heißt ohne im einzelnen auf ihren Inhalt einzugehen, – also anders, als von den Ministern in Wien erwartet. Dadurch wurde auch die Autorität der Beschlüsse gesteigert. c) Genehmigung des Kaisers448 Die Frage der allfälligen „Genehmigung“ der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse durch den Kaiser wurde im Ministerrat unmittelbar darauf am 4. Juli ausführlich erörtert449. Hofkanzler Vay, der über den Verlauf der Landtagsverhandlungen Bericht erstattete, und auch Minister Szcsen traten für die Erteilung der „Zustimmung“ des Kaisers ein. Staatsminister Schmerling und Minister Lasser sprachen sich aber für die Vertagung aus450. Schmerling sah in der gesamten Vorgangsweise eine grundsätzliche Verletzung des Oktoberdiploms, da mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen die gesamte in Ungarn bestehende Justizgesetzgebung aufgehoben werden sollte. Nachdem aber – vor allem für Schmerling unerwartet – beide Kammern des Landtags bereits zugestimmt hatten und mit den österreichischen Gesetzen vertraute Gerichte faktisch auch nicht mehr bestanden, erklärte er sich bereit, diesem „Provisorium“ zuzustimmen451. Auch Minister Lasser erklärte sich dagegen, wenn nicht der Kaiser schon seine Zustimmung erklärt hätte, für den Fall, dass der Landtag die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse annehmen würde. Staatsratspräsident Lichtenfels gab aber zu bedenken, dass der Kaiser einen Akt des Landtags genehmigen wolle, der ihn noch nicht einmal als König von Ungarn anerkannt habe; es sei daher eher eine Auflösung des Landtags in Erwägung zu ziehen. Justizminister Pratobevera beklagte, dass wichtige Gesetze mit einem Schlag beseitigt würden, so dass erhebliche Probleme entstehen würden. Die Regierungsmitglieder konnten sich im Einzelnen aber nicht dazu äußern, da ihnen der genaue Inhalt der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse mangels deutscher Übersetzung immer noch nicht bekannt war452. Für den Staatsratspräsidenten Lichtenfels lief die Restauration des früheren ungarischen Justizrechts auch bloß auf die „Wiederherstellung der alten Konfusion“ hinaus, nämlich auf eine Rechtsungleichheit nach Person, Ort und Gewohnheit453. Im Ministerrat am 21. Juli454 beantragte der ungarische Hofkanzler aber dennoch die „Sanktion“ des Monarchen zu den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen. Außenmi447
MRP V/2, 327. Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2153; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105; Sarls, wie Fn. 2, 514 f.; Zehntbauer, wie Fn. 17, 23; Putz, wie Fn. 18, 51; Malfr, wie Fn. 4, 32 f.; Almsi, wie Fn. 49, 5 f.; Dauscher, wie Fn. 307, 2 ff. 449 MRP V/2, 185 ff.: Ministerrat am 4. Juli. 450 MRP V/2, 185 f. (Vay), 188 (Szcsen), 188 (Schmerling, Lasser). – Auch der Handelsminister war gegen jede Überstürzung. 451 MRP V/2, 186, 187 (ebenso der Außen- und der Kriegsminister). 452 MRP V/2, 187 f. – Zum Übersetzungsproblem siehe auch unten bei Fn. 452, 462 f. 453 MRP V/2, 187. 454 MRP V/2, 218. 448
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nister Rechberg riet aber weiter dazu, zunächst abzuwarten, welche Haltung der Landtag zum Kaiser als – wenn auch ungekröntem – König von Ungarn einnehmen werde. Diese Intentionen wurden aber vom Kaiser selbst unterlaufen, er hatte schon am 20. Juli dem Judex Curiae die Ermächtigung erteilt, die Beschlüsse auf geeignete Weise kundzumachen, jedoch unter dem ausdrücklichen Hinweis auf ihre bloß provisorische Geltung sowie unter Festlegung eines bestimmten Wirksamkeitsbeginns, freilich unter Ausschluss der Rückwirkung455. d) Bekanntmachung durch den Judex Curiae456 Um ihren provisorischen Charakter zu betonen, waren die JudexkurialkonferenzBeschlüsse vom Landtag nicht als förmliches Gesetz behandelt und daher auch nicht vom Monarchen förmlich sanktioniert worden. Es musste daher auch ihre Publikation in der amtlichen „Gesetz-Sammlung“ unterbleiben. Die königliche Kurie unter Vorsitz des Judex Curiae erklärte daher in einer feierlichen Plenarsitzung am 23. Juli, „daß [sie] diese Vorschriften … von nun an bei allen vorkommenden Fällen als feststehende Norm in der Rechtspflege befolgen werde“457, und zwar solange, als nicht im Weg der ordentlichen Gesetzgebung Änderungen verfügt würden. Dieser Beschluss wurde noch am selben Tag allen ungarischen Gerichten unter Beilage eines Exemplars der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse bekannt gemacht. 4. Versuche zur Wiederherstellung der Geltung des ABGB von 1861 bis zum Ausgleich von 1867458 Während in Ungarn die Beschlüsse der Judexkurialkonferenz mit der modifizierten Wiederherstellung der früheren ungarischen gleichzeitig die grundsätzliche Aufhebung der österreichischen Justizgesetze herbeigeführt hatten, also im wesentlichen die Idee der Kontinuität des ungarischen Rechtssystems verkörperten, sah man in Cis455
MRP V/2, 218 Fn. 7. Zlinszky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2153; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105; Sarls, wie Fn. 2, 514 f.; Zehntbauer, wie Fn. 17, 23; Putz, wie Fn. 18, 51; Malfr, wie Fn. 4, 32 f.; Almsi, wie Fn. 49, 2 ff. 457 „Schreiben des Judex Curiae … an die Juridictionen wegen erfolgter Sanction der JudexCurial-Beschlüsse“ (Pest, 23. Juli 1861), in: Dauscher, wie Fn. 307, 265: in Plenarsitzung „den feierlichen Beschluß ausgesprochen, dass sie die von der Judex-Curial-Conferenz provisorisch in Vorschlag gebrachten, die Rechtspflege betreffenden Vorschriften, nachdem sie von … Majestät … bestätigt wurden, und nachdem sie auch durch die übereinstimmenden Beschlüsse des (Parlaments) … ausgesprochen wurde, dass diese Vorschriften als provisorische Auskunftsmittel benutzt werden können, so lange, bis die constitutionelle Gesetzgebung nicht anderes verfügt, von nun an bei allen vorkommenden Fällen als feststehende Norm in der Rechtspflege befolgen werde“. 458 Zum Folgenden: Malfr, wie Fn. 4, 35 ff.; P. Hofmann, Ein privatrechtliches Gesetzbuch für Ungarn, in: ÖG-Z 16 (1865), 123 f., 127 f. 456
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leithanien durch sie die Leitziele der seit 1849 verfolgten Rechtspolitik, vor allem die Herstellung der Rechtseinheit im Gesamtstaat, beseitigt und – im Lichte des Zustandes der ungarischen Rechtspflege – auch die Rechtssicherheit gefährdet. Es gab daher eine Reihe von Versuchen der Regierung in Wien, welche zum einen auf eine Revision der Beschlüsse der Judexkurialkonferenz bzw. sogar auf eine Wiedereinführung des ABGB in Ungarn abzielten. a) August 1861: Initiativen zur Revision der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse Schon unmittelbar nach Auflösung des ungarischen Landtags zum 21. August 1861459 machte sich in der Ministerkonferenz zu Ende August 1861460 in Zusammenhang mit Debatten über Budget-Probleme im ungarischen Bergbau eine deutliche Abneigung der deutschen Minister gegen die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse breit, ihre weitere Geltung als „Provisorium“ wurde dabei etwa von Handelsminister Wickenburg in Frage gestellt. Staatsminister Schmerling beteuerte, dass zum Glück kein förmlicher Landtagsbeschluss gefasst worden und in der en bloc-Annahme (ohne inhaltliche Prüfung) durch den ungarischen Landtag daher lediglich eine Art moralische Mitwirkung bzw. ein Vertrauensvotum zu sehen sei. Polizeiminister Mecsry riet aber dennoch dazu, zunächst abzuwarten, ob nicht noch gegen andere Bestimmungen der Beschlüsse Beschwerden vorgebracht würden461. Auch Schmerling sah in einer bloß teilweisen Rücknahme einzelner Regelungen die Gefahr einer Kompromittierung des Kaisers. Dennoch wären aber seiner Ansicht nach erst bei Vorliegen der Übersetzung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse Verhandlungen darüber in der Ministerkonferenz einzuleiten. Allein Staatsratspräsident Lichtenfels plädierte für ein rasches Vorgehen, da in Hinblick auf den misslichen Zustand der Rechtspflege in Ungarn ein weiteres Zuwarten ein teures Experiment werden könnte. Nachdem ohnedies kein förmlicher Landtags-Beschluss über den Inhalt der Beschlüsse vorliege, sollten diese sofort sistiert werden. Der ungarische Hofkanzler wurde aufgefordert, die Übersetzung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse anzufordern und an die Minister zu verteilen462. 459 MRP V/3, XIV: Die liberale Mehrheit anerkannte zwar die Existenz von gemeinsamen Angelegenheiten, forderte aber die Rückkehr zur Verfassungssituation von 1848, lehnte daher Oktoberdiplom 1860 sowie Reichsverfassung 1861 ab, denn mit ihnen würde sich der politische Vorteil verbinden, Oppositionsführer in diese Kommission einzubeziehen und im Sinn der Regierung zu beeinflussen, sie gleichsam in Regierungsfreunde umzuwandeln. 460 MRP V/2, 327 ff.: Ministerrat vom 28. August. 461 MRP V/2, 329 (Schmerling), 328 (Mecsry). 462 MRP V/2, 329 Fn. 7: An der Übersetzung wurde noch gearbeitet; am 31. August übergab der Judex Curiae ein Exemplar an den ungarischen Hofkanzler, dem Finanzminister lagen zu Ende September mehrere Kopien vor. – Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse erschienen dann auch in gedruckter Fassung, zunächst 1861 in Pest unter dem Titel „Einstweilige Norm für die Gerichtspflege in Ungarn in Gemäßheit der Anträge der Judex-Kurial-Conferenz“; ferner in Form einer kommentierten Ausgabe durch Anton Dauscher, welche in zwei unmittelbar auf-
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Die Übersetzung stand zwar zu Ende September 1861 der Regierung in Wien bereits zur Verfügung und zu Ende Oktober erinnerte der Finanzminister463 auch daran, dass schon im vergangenen August Einsprüche gegen einzelne Regelungen gemacht worden seien. Obwohl er nun abermals dazu aufforderte, weitere allfällige Einwände geltend zu machen, ergriff keiner seiner Regierungskollegen die Initiative. Anfang November brachte dann auch der ungarische Hofkanzler die „nachbevorstehende Revision“ der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse im Ministerrat abermals zur Sprache464 – jedoch ohne Erfolg465. b) Jänner 1862: Initiative zur Neukodifikation des ungarischen Justizrechts Die Problematik der Aufhebung des ABGB in Ungarn wurde sodann zu Ende November 1861 anlässlich der Vorlage des Allgemeinen Handelsgesetzbuches an den Reichsrat in der Ministerkonferenz wieder ins Spiel gebracht. Staatsratspräsident v. Lichtenfels beklagte in diesem Zusammenhang, dass unter der derzeit gegebenen unterschiedlichen Privatrechtssituation in Cisleithanien und Ungarn kein einheitliches Handelsrecht möglich sei, während der Außenminister Boul-Schauenstein in der Verschiedenheit des Privatrechts nicht notwendigerweise ein Hindernis für ein einheitliches Handelsrecht sah, da ja das AHGB auch in allen deutschen Staaten in Kraft treten werde, wo ebenfalls nicht das ABGB gelte. Staatsminister Schmerling relativierte diese Sicht mit dem Hinweis, das AHGB passe deswegen auf alle deutschen Staaten, weil diese eine gemeinrechtliche Tradition verband, die aber dem ungarischen Privatrecht fremd geblieben sei466. An Aktualität gewann die Privatrechtsfrage dann wieder zu Mitte Jänner 1862 in einer Debatte der Ministerkonferenz über Probleme, vor allem des Handelsstandes, bei der Exekution von gerichtlichen Erkenntnissen nichtungarischer Behörden in Ungarn467. In diesem Zusammenhang stellte Minister (ohne Portefeuille) Ndasdy, der gleichzeitig auch als Leiter der siebenbürgischen Hofkanzlei in Wien fungierte, den Antrag, die vom Ministerrat bereits beschlossene Verhandlung über die strittigen Paragraphen der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse alsbald aufzunehmen; der ungarieinander folgenden Auflagen 1861 und 1862 in Wien erschienen sind: zu diesen siehe auch oben bei Fn. 300. 463 MRP V/2, 456 f.: Ministerrat vom 24. Oktober. 464 MRP V/2, 471: Ministerrat vom 1. November. 465 MRP V/3, 21 ff. Ministerrat vom 14. November: Debattiert wurde lediglich über die spezielle Frage der Auswirkungen der Judexkurialkonferenzbeschlüsse auf die Taxen im Wechselgerichtsverfahren sowie auf die Priorität von Steuerrückständen im Konkursverfahren. 466 MRP V/3, 67 f.: Ministerrat vom 30. November. – Das AHGB ist letztlich doch nicht in Ungarn eingeführt worden: ebda., 69 in Fn. 4. 467 MRP V/3, 219 f.: Ministerat vom 18. Jänner 1862; ebda Fn. 10: Bis Mitte Juni lag der Entwurf für ein königliches Reskript über die gegenseitigen Exekutionen ohne Vermittlung der Hofkanzlei vor, der Erlass erfolgte dann gegen Ende August 1862. – Vgl. auch die Notiz dazu in: Zeitschrift für das österreichische Notariat 1862, 94.
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sche Hofkanzler Forgch ergänzte, dass er in dieser Sache die Initiative seiner Ministerkollegen abwarten müsse. Ungeachtet dessen ergriff er dennoch selbst die Initiative und beantragte in der Sitzung der Ministerkonferenz am 20. Mai 1862468, man möge den Judex Curiae469 in Pest mit der Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuches sowie eines Straf- und Handelsgesetzbuches beauftragen, also die Ausarbeitung von Kodifikationen des Justizrechts einleiten. Nach Forgch470 hatten sich bei den bestehenden „Provisorien“ mannigfache Lücken und Mängel gezeigt und daher auch in Ungarn den Wunsch hervorgerufen, ein „Definitivum“ einzuführen. Der Judex Curiae habe bereits den Vorschlag gemacht, ihn zu ermächtigen, in die Ausarbeitung unter anderem auch eines bürgerlichen Gesetzbuches Fachleute aus Ungarn einzubeziehen und deren Gutachten in einer in Pest tagenden Kommission zu prüfen; das Ergebnis dieser Arbeiten wäre dann als Vorlage des Königs dem nächsten Landtag vorzulegen. Drei Gesichtspunkte wären zu beachten: 1. den verfassungsmäßigen Weg einzuhalten, also den Landtag damit zu befassen; 2. auf die besonderen Verhältnisse des Landes Rücksicht zu nehmen, also den ungarischen Rechtsanschauungen Rechnung zu tragen; 3. den Beziehungen der Bewohner Ungarns zu den übrigen Ländern Beachtung zu schenken, also auch den einheitlichen Interessen der Gesamtmonarchie471. Staatsratspräsident Lichtenfels472 sprach sich gegen diese Anträge aus. Er glaubte, der Judex Curiae Apponyi wolle offenbar wieder an die ungarischen Gesetze und Gewohnheiten anknüpfen, was aber ein verfehlter Standpunkt sei. Für ein ordentliches Zivilgesetzbuch in Ungarn könne man eben nicht an das alte ungarische Recht anknüpfen, da es mangelhaft und in jeder Beziehung antiquiert sei. Das ständige Proklamieren, dass man im Land nur die alten Gesetze haben wolle, sei bloß politisch motiviert. Um aber etwas wirklich Neues zu schaffen, könne nur das ABGB zur Grundlage genommen werden, freilich unter Berücksichtigung der besonderen Landesverhältnisse. Apponyi aber habe gerade in Zivilrechtssachen das Land durch die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse in die größte Verwirrung gestürzt, wie alle aus Ungarn einlangenden Berichte bestätigten. Auch sei Apponyi als Gegner des jetzigen Regierungssystems bekannt, seine Betrauung mit der Kodifizierung des Justizrechts könnte im Land so aufgefasst werden, als ob die Regierung Ungarn nicht mehr länger 468 MRP V/4, 21 ff.: Ministerrat vom 20. Mai betreffend die Ausarbeitung und Einführung neuer Zivil-, Kriminal- und Gewerbegesetze in Ungarn. 469 Nachdem der Kaiser sich bereits im August 1861, knapp vor Auflösung des ungarischen Landtags, von seinen Beratern in Wien, dem ungarischen Hofkanzler Vay und Minister Szcsen, getennt hatte, folgten ihnen Anton Forgch bzw. Moriz Esterhzy (ab Mitte Juli) und Ndasdy (ab Anfang November), war zu Jahresbeginn 1862 auch die Enthebung Apponyis als Judex Curiae ins Gespräch gekommen; es war aber kein geeigneter Nachfolger in Sicht: MRP V/3, XIV, XLIII. 470 MRP V/4, 21 f. 471 Forgch beantragte, den Vorschlägen des Judex Curiae entsprechend vorzugehen und legte auch bereits den Entwurf zu einem kaiserlichen Handschreiben vom 13. Mai 1862 dem ungarischen Hofkanzler vor: MRP V/4, 31 f. 472 MRP V/4, 23 f., 25.
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festzuhalten beabsichtige. Staatsminister Schmerling473 anerkannte zwar die Notwendigkeit einer dringenden Regelung der Rechtszustände in Ungarn, nachdem überall im Lande die Klagen darüber, vor allem aus den Reihen des Handelsstandes, lauter würden. Er hatte allerdings Vorbehalte, ob gerade von Apponyi in dieser Hinsicht etwas Ersprießliches erwartet werden könne. Auch Finanzminister Plener und Handelsminister Wickenburg äußerten Vorbehalte, weil sie meinten, dass von Apponyi kaum erwartet werden könne, dass er die österreichischen zur Grundlage neuer ungarischer Gesetze mache474. Schmerling regte eine gemischte Kommission an, zusammengesetzt aus Rechtsgelehrten, Richtern und sonstigen sachkundigen Personen. Sie sollte zunächst aber bloß die Grundlagen erörtern und feststellen. Dann könnte eine Subkommission in Ungarn installiert werden, welche auf dieser Basis und unter besonderer Berücksichtigung der Landesverhältnisse die konkreten Gesetzesentwürfe ausarbeiten sollte. Ihre Arbeiten wären dann freilich wieder von der Zentralkommission zu prüfen, und erst danach könnte eine entsprechende Entschließung des Kaisers erfolgen. Minister Esterhzy unterstützte den Vorschlag des ungarischen Hofkanzlers, gab aber zu bedenken, dass der nächste Landtag wohl noch sehr lange nicht abgehalten werden könne. Daher sollte wenigstens ein „Provisorium“ geschaffen werden, das dem Land Beruhigung verschaffe475. Minister Ndasdy dagegen war überzeugt davon, dass die ganze Sache letztlich zwecklos sein werde, denn die Vorschläge der Kommission als Vorlage des Monarchen an den Landtag würden allein schon deswegen auf Ablehnung stoßen; er sei aber nicht gegen die Einsetzung einer Landeskommission, wie sie Apponyi vorschlug. Er glaubte, dass sich mit der Landeskommission der politische Vorteil verbinden würde, auch Oppositionsführer einbeziehen zu können und diese auch im Sinn der Regierung zu beeinflussen, sie also gleichsam in Regierungsfreunde umzuwandeln476. Auch Polizeiminister Mecsry plädierte nicht gegen eine solche Kommission, doch sollten ihr seitens der Regierung genaue Weisungen über das Vorgehen erteilt werden. Minister Lasser schlug sogar vor, dass die ungarische Hofkanzlei einen Entwurf ausarbeitet, der dann der Kommission zur Beratung überwiesen werde, um ein Ergebnis zu verhindern wie mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen477. Zu Mitte August 1862 folgte die Anweisung des Monarchen an den ungarischen Hofkanzler im Einvernehmen mit dem Judex Curiae durch eine besondere Kommission für die Justizgesetzgebung Gesetzentwürfe für eine Vorlage an den Landtag vorzubereiten – ausgenommen das Handelsrecht, nachdem eine Ausdehnung des AHGB
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MRP V/4, 25 f. MRP V/4, 28. 475 MRP V/4, 26 f., 27. – Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet stimmt ihm der Kriegsminister zu. 476 MRP V/4, 27. 477 MRP V/4, 28. 474
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auf Ungarn ins Auge gefasst worden war478. Dies entsprach im Wesentlichen dem von Forgch bereits zum Ministerrat vom 20. Mai vorbereiteten Vorschlag, den Ministerpräsident Schmerling dem Kaiser aber erst im Juni zuleitete479. In der juristischen Fachpresse wurde dieser kaiserliche Auftrag „mit Freuden“ begrüßt, weil damit Ungarn „in Bezug auf die Straf- und allgemeinen Civilgerichte die Wohlthat … sistematischer Gesetzbücher genieße“ wie auch die übrigen Länder480, freilich unter möglichster Berücksichtigung der besonderen Landesverhältnisse Ungarns und seiner Beziehungen zu den übrigen Ländern. Sofern es notwendig und zweckmäßig erschien, sollte der Judex Curiae – nach Rücksprache mit dem ungarischen Hofkanzler – Angehörige des Richterstandes und andere geeignete Sachkundige beiziehen. Im Übrigen sollte aber so vorgegangen werden wie von Schmerling im Ministerrat vorgeschlagen. Gleichzeitig erging auch eine – nicht veröffentlichte – kaiserliche Entschließung mit dem Auftrag, für die geplanten Kodifikationen das ABGB bzw. die im Justizministerium liegenden Entwürfe über das Strafgesetzbuch, das Zivil- und Strafverfahrensrecht zugrundezulegen, und bloß die für Ungarn notwendigen Änderungen vorzunehmen. Der Kaiser folgte auch hierbei freilich den Vorschlägen seines Ministerpräsidenten Schmerlings und des Staatsratspräsidenten v. Lichtenfels481. Dadurch war aber auf ungarischer Seite eine Verstimmung eingetreten, die Einsetzung der angeordneten Kommission verzögerte sich folglich auch. Erst zu Anfang Jänner 1863 legte der ungarische Hofkanzler die Vorschläge des Judex Curiae vor482. Apponyi beantragte die Einsetzung von zwei Konferenzabteilungen, eine für Handels- und Strafrecht unter Beiziehung von Rechtsgelehrten und Praktikern, sowie eine zweite nur für das Zivilrecht zuständige, wofür bestimmte Einzelpersonen die Vorarbeiten zum Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches483 besorgen sollten, nämlich der bereits auf der Judexkurialkonferenz als gemäßigter Teilnehmer hervorgetretene Advokat und spätere ungarische Justizminister Balthasar Hovth484, sowie der ehemalige Sekretär von Dek, Lorenz Tth485. Apponyi forderte außerdem Entschädigungen für die nichtbeamteten Mitglieder der Kommission und die Anmietung eines eigenen Gebäudes zur Durchführung der Arbeiten. Er meinte auch, dass das 478
Malfr, wie Fn. 4, 35. Am 16. August erging dann dieses Handschreiben: MRP V/4, 28 Fn. 12. – Vgl auch: Ein kaiserliches Handschreiben, in: Gerichtshalle 6 (1862), 325 f., besonders 326. 480 Ein kaiserliches Handschreiben, in: Gerichtshalle 6 (1862), 325 f. 481 Malfr, wie Fn. 4, 35. 482 Malfr, wie Fn. 4, 36; vgl. dazu auch Notizen, in: Gerichtshalle 7 (1863), 23; ebda, 100: Judex-Curial-Conferenz. 483 Sowie Entwürfe für eine Notariats- und Advokatenordnung und eines Gesetzes über das Verfahren außer Streitsachen. 484 Von 1867 – 1871 Justizminister. – Zu ihm siehe auch oben bei Fn. 372 und 378 sowie vor Fn. 380. 485 Als dritter Experte wurde der Advokat Szabo, aus Stuhlweißenburg, und zwar speziell für den Entwurf einer Zivilprozeßordnung und einer Gerichtsverfassung, in Vorschlag gebracht. 479
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ABGB zwar die Grundlage für die Beratungen bilden sollte, dass aber ungeachtet dessen vor allem im Bereich des Familien- und Erbrechts zweckmäßige Abweichungen gemacht werden müssten. Apponyis Antrag lief also auf eine Neukodifikation auf Grundlage des ABGB und nicht auf dessen bloße Adaption mit einem Einführungsgesetz wie 1853 hinaus. Er unterlief damit die Intentionen der Regierung in Wien, alle seine Vorschläge stießen dort auch auf Ablehnung. Staatsratspräsident Lichtenfels beharrte auf der kaiserlichen Weisung von Mitte August 1862. Die Beratungen sollten mit dem Handelsrecht beginnen, sich aber auf Einführungsgesetze zum AHGB und zur AWO beschränken, sowie danach mit dem Entwurf der Modifikationen des ABGB fortsetzen. Lichtenfels war auch gegen die Einbeziehung von nichtbeamteten Fachleuten. Außerdem sollten die Arbeiten in einem öffentlichen Gebäude durchgeführt werden. Neben der ABGBKommission wäre die Hofkanzlei gleichzeitig zur Ausarbeitung einer provisorischen Gerichtsverfassung zu berufen486. Eine Konferenz unter Vorsitz des Judex Curiae wurde sodann tatsächlich von Ende Februar bis Mitte März 1863 in Pest abgehalten. Sie beschränkte sich aber bloß auf die Prüfung der Frage, inwiefern die offensichtlichen Missstände der ungarischen Rechtspflege auf die mit den Beschlüssen der Judexkurialkonferenz wieder eingeführten ungarischen Handels- und Wechselgesetze zurückzuführen wären. Gleichzeitig ersuchte in diesem Zusammenhang auch eine Deputation der Pester Handelsleute den Kaiser um die Wiederherstellung der Allgemeinen Wechselordnung und um die Einführung des AHGB. Das Ergebnis der Pester Konferenz blieb auch weit hinter den Erwartungen zurück487; ein Oktroy der vom Pester Handelsstand geforderten Gesetze wurde für nicht opportun angesehen488. Keiner der im Vorstehenden erwähnten Vorschläge kam aber in der Folge zur Beratung. Das politische Umfeld hatte sich inzwischen auch erheblich verändert, nämlich durch Gespräche über einen Ausgleich mit Ungarn. Ihr Scheitern zu Ende März 1863 erzwang auch den Rücktritt Apponyis als Judex Curiae, weil er die ungarischen Vorstellungen personfizierte. Seine Stelle nahm der kaisertreue Georg Andrassy ein. In politischer Hinsicht konnte nun auch wieder der Weg für eine Einführung der österreichischen Justizgesetze in Ungarn beschritten werden489.
486
Malfr, wie Fn. 4, 36 f. Dazu: Ungarns Justizzustände, in: Zeitschrift für das österreichische Notariat (NZ) 1863, 128. 488 MRP V/7, 8 Fn. 17. – Es wurde eine Richterkommission in Aussicht gestellt, die sich aber lediglich mit der Revision einiger Artikel des ungarischen Wechselrechts nach den Beschlüssen der Landtage von 1840/44 (dazu siehe oben bei Fn. 30 f.) befassen sollte. 489 Malfr, wie Fn. 4, 37; MRP V/5, XXXVI ff; MRP V/8, XXI. 487
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c) April 1863: Initiative zur neuerlichen Einführung des ABGB Nach dem Scheitern der Ausgleichsverhandlungen zu Ende März wurden der ungarische Hofkanzler Forgch und der neue Judex Curiae Andssy zu Ende April 1863 angewiesen, in der Frage der Neuordnung der ungarischen Justizgesetzgebung neue Anträge zu stellen. Zu Mitte Juli 1863 lagen sie vor. Es wurde vorgeschlagen, die im August 1862 angeordnete Kommission nicht einzuberufen, stattdessen sollte die ungarische Hofkanzlei in Wien sämtliche Gesetzesentwürfe liefern, allenfalls unter Beiziehung von Fachkräften aus Ungarn490. Auf Anraten des Staatrates sollten der Hofkanzlei aber Richtlinien vorgegeben werden, wie diese bei der Bearbeitung der Gesetzesentwürfe vorzugehen hatte, also genau so wie vom Staatsrat schon Anfang Jänner 1863 in seiner Stellungnahme zu den Vorschlägen des damaligen Judex Curiae Apponyi vorgesehen war. Im Ministerrat wurden die Anträge des ungarischen Hofkanzlers betreffend die Ausarbeitung und die Vorberatung der Gesetzesentwürfe für Ungarn zu Mitte Oktober 1863 behandelt. Forgch hatte vorgesehen, die vom Kaiser zu Mitte August des vorigen Jahres491 angeordnete Kodifikationskonferenz abzusetzen; stattdessen sollten die in Aussicht genommenen Gesetzesvorlagen für Ungarn, wofür bereits Grundlagen vorhanden (wie etwa zum AHGB) oder noch zu liefern waren, im Kreise der ungarischen Hofkanzlei in Wien unter Beiziehung von Mitgliedern der ungarischen königlichen Kurie beraten und ausgearbeitet werden. Staatsratspräsident v. Lichtenfels teilte diesen Plan, doch hatte er Vorbehalte gegen eine Beiziehung von Kräften aus Ungarn, da es vorerst lediglich um die Einführung des AHGB und des Entwurfs einer neuen Wechselordnung ging sowie um die Frage der Modifikationen des ABGB. Diese Maßnahmen erschienen Lichtenfels aber uneingeschränkt notwendig, da eine Neuordnung der Rechtspflege in Ungarn auf verfassungsmäßigem Wege in absehbarer Zeit wohl kaum zu bewältigen sein würde. Der Hofkanzler sollte daher beauftragt werden, entsprechende Vorschläge für eine provisorische Reglung zu unterbreiten, denn der gegenwärtige Zustand Ungarns bedürfe dringend einer Abhilfe. Der ungarische Hofkanzler gab zu bedenken, dass dafür die der Hofkanzlei zur Verfügung stehenden Kräfte nicht reichen könnten; im übrigen überraschte ihn der VorMalfr, wie Fn. 4, 37 f. – Etwa zur selben Zeit erschien in der Österreichischen Revue, Band 1, 1863, 106, ein öffiziöser Beitrag, „Über Ungarns Gerichtsverfassung“, von Ludwig Hegedüs, Sekretär der ungarischen Hofkanzlei. In Zusammenhang mit den Beschlüssen der Judexkurialkonferenz betont Hegedüs deren Brückenfunktion zum früheren ungarischen Recht und beteuert, man habe allgemein die Einsicht gewonnen, dass eine Änderung dieses Zustandes notwendig sei. Entsprechende Reformen müssten sich, um dem angestrebten Erfordernis der Rechtskontinuität und Rechtseinheit gerecht zu werden, an bereits bewährte (österreichische) Gesetzeswerke anlehnen; letztlich sollten einzelne Gesetze sogar rezipiert werden, soweit dies ohne Gefährdung der nationalen Autonomie Ungarns möglich wäre: Malfr, wie Fn. 4, 42. 491 Vom 16. August an den ungarischen Hofkanzler (MRP V/4, 28 Fn. 2), das als „Antwort“ auf den Vortrag des Hofkanzlers vom 13. Mai 1862, der dem Kaiser am 8. Juni 1862 vorlag, zu sehen ist; in Durchführung dieses kaiserlichen Handschreibens beantragte der Judex Curiae die Bildung einer zweiten Judexkurialkonferenz in Pest. 490
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schlag des Staatsrates, da er offenbar eine Änderung des Bestehenden im Weg eines Oktroy herbeizuführen beabsichtigte. Es habe sich aber – seiner Meinung nach – im Land kein dazu befragtes oder berufenes Organ dahingehend geäußert, so dass dort also kein großes Bedürfnis nach solchen Änderungen bestehe; auch sei es nicht ratsam, in Ungarn alle Augenblicke den status quo in Frage zu stellen; fortgesetzte Oktroyierungen würden nur die Gemüter beunruhigen492. Staatsratspräsident Lichtenfels erwiderte darauf, dass es durchaus zahlreiche Stimmen aus Ungarn gebe, die sich in den Zeitungen Luft gemacht hätten über den verheerenden Zustand der Justizpflege in Ungarn, seitdem sie durch den Vandalismus des Judex Curiae in Verwirrung gestürzt worden sei493. Trotz sich abzeichnender innenpolitischer Konsolidierung bestanden nämlich im Gerichtsverfahren tatsächlich anarchische Verhältnisse fort. Zu Ende Februar 1863 hatte sich – wie erwähnt – Apponyi wegen der immer massiver werdenden Klagen des ungarischen Handelsstandes sogar dazu genötigt gesehen, eine Kommission zur Prüfung der Frage einzusetzen, ob die offensichtlichen Missstände in den durch die JudexkurialkonferenzBeschlüsse 1861 wieder eingeführten alten Gesetzen begründet seien. Die Pester Handelsleute wandten sich daraufhin im März 1863 an den Kaiser mit der Bitte, die AWO wiederherzustellen und das neue AHGB einzuführen. Das Ergebnis der von Apponyi initiierten Untersuchungskommission war schließlich, dass die Oktroyierung von gesetzlichen Maßnahmen unerwünscht wäre; stattdessen wurden neue Richtlinien in Aussicht gestellt, die aber lediglich eine Teilrevision der alten ungarischen Wechselordnung aus 1840 vorsehen sollten494. Nun sprach sich auch Minister Ndasdy– entgegen seiner bisherigen Haltung – für den Vorschlag des Staatsrats aus; nur auf diesem Weg könne man in Ungarn auch bleibend Gutes und Nützliches schaffen. Auch könne er bestätigen, dass sehr viele Ungarn wünschten, es solle „etwas von oben aus … geschehen“. Jedenfalls dürfe man dem Zustand der Rechtspflege Ungarns nicht mehr länger tatenlos zusehen, zumal keine Aussicht bestehe, im Wege des Landtags zu einer baldigen Abhilfe zu gelangen495. Staatsminister Schmerling unterstützte ebenfalls den Vorschlag des Staatsrates, glaubte aber, dass man den Beratungen über die Gesetzesentwürfe in einer Kommission in Wien auch Fachleute aus Ungarn beiziehen werde müssen. Der Zustand des Justizwesens in Ungarn sei notorisch und tangiere auch die Interessen der anderen Länder496, man könne daher nicht abwarten, bis im Land allgemein nach Abhilfe ge492 Dazu Malfr, wie Fn. 4, 37 f. – MRP V/7, 7 f.: Ministerratssitzung vom 15. Oktober 1863. – Minister Esterhzy stimmte für den ungarischen Hofkanzler; für einen kaiserlichen Auftrag für provisorische neue Justizgesetze sei es jetzt nicht an der Zeit: ebda, 10. 493 MRP V/7, 8 Fn. 17. 494 Vor allem die Handels- und Gewerbekammern drängten daher auf eine Änderung: Baranay, wie Fn. 2, 374 f. 495 MRP V/7, 8 (Lichtenfels), 8 f. (Ndasdy). 496 Vgl. dazu auch: Zur ungarischen Gesetzesmisere, in: NZ 1863, 102.
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rufen würde. Es sei aber von einem Oktroy abzusehen, wenn Chancen auf eine baldige Rückkehr zu geordneten Zuständen – durch einen staatsrechtlichen Ausgleich – bestünden. Er stimmte daher für den Antrag des Staatsrats, zumal auch die Wiederherstellung der früheren ungarischen Justizgesetzgebung durch die Beschlüsse der Judexkurialkonferenz geschah, ohne das Land zu fragen. Außenminister Rechberg erinnerte daran, dass der Kaiser entschlossen sei, von weiteren Oktroyierungen abzusehen; schon deswegen müsse er sich gegen den Antrag des Staatsrats aussprechen. Es sei aber zu hoffen, je länger und tiefer man in Ungarn die Nachteile des früheren Rechtssystems empfinde, um so sicherer werde man auf verfassungsmäßigem Weg auch zu guten Justizgesetzen kommen. Minister Lasser erklärte sich im wesentlichen mit den vom ungarischen Hofkanzler vorgeschlagenen Modalitäten einverstanden; seiner Meinung nach sollten aber zuerst die geplanten Gesetzesentwürfe zustande gebracht, und erst danach die Frage des Oktroys in Erwägung gezogen werden. Finanzminister Plener teilte die Meinung des Staatsrats, obwohl er aus eigener Wahrnehmung dessen Ansichten über den Zustand der ungarischen Rechtspflege nicht bestätigen konnte. Handelsminister Wickenburg trat ebenfalls der Meinung des Staatsrats bei; er fand aber keinen Anstand, die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse, da sie das ungarische Justizwesen in die größte Verwirrung gestoßen hatten, im Weg eines Oktroy zu beseitigen. Justizminister Hein betonte, dass das ganze Reich unter den schlechten ungarischen Gesetzen und der nicht minder schlechten Rechtspflege zu leiden habe; dadaurch sei der Handelsverkehr gelähmt und sinke die Steuerkraft. Das Verhältnis der übrigen Länder zu Ungarn sei teils ungünstiger als jenes zum Ausland. Er stimmte vollkommen mit dem Staatsratspräsidenten überein. Marineminister Burger konnte sich von den Anträgen des Hofkanzlers keinen befriedigenden Erfolg erwarten; er hielt zwar die Änderung des ungarischen Justizwesens für sehr wünschenswert, wollte sich aber im Moment nicht für eine isolierte Oktroyierung entschließen497. Der ungarische Hofkanzler resümierte abschließend, dass die ungarische Justiz nicht so gut sei wie sie sein sollte, aber auch nicht so schlecht wie sie hier hingestellt werde. In Pest habe im Frühjahr eine Konferenz unter Vorsitz des Judex Curiae stattgefunden, auf der sich jene Persönlichkeiten, die hier – im Ministerrat – so viel klagten, äußern hätten können, dies aber dort unterließen. Die in den Zeitungen zur Sprache gebrachten einzelnen „grellen Fälle“ habe er untersuchen lassen; dabei sei manche Übertreibung und Unrichtigkeit hervorgekommen498. Die Mehrheit der Regierung stand zwar hinter dem Antrag des Staatsratspräsidenten bezüglich der für Ungarn erforderlichen Gesetzesentwürfe – hierzu wurden Mitte November 1863 auch entsprechende Aufträge erteilt –, nicht aber auch in Bezug auf die Frage des Erlasses von „Provisorien“, also im Weg des Oktroy. Insofern konnte 497 MRP V/7, 9 ff. – Polizeiminister Mecsry stimmte für den Staatrat, betont aber, dass er sich von Provisorien keinen praktischen Nutzen erwarte; der Kriegsminister teilte diese Meinung: ebda, 10. 498 MRP V/7, 11.
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sich der ungarische Hofkanzler also gegen Schmerling und Lichtenfels durchsetzen499. Zu Mitte November 1863 folgten entsprechend den Vorschlägen Forgchs die kaiserlichen Aufträge. Es waren durch die Hofkanzlei in Wien Einführungsgesetze zur Allgemeinen Wechselordnung sowie zum AHGB auszuarbeiten, wobei auf die für Ungarn notwendigen Abweichungen Bedacht genommen werden sollte. Ferner waren auch die erforderlichen Modifikationen bei der neuerlichen Einführung des ABGB in Ungarn zu beraten. Sollte für die Ausarbeitung der genannten Entwürfe die Bestellung von außerhalb der Hofkanzlei stehenden Experten oder die zeitweise Zuweisung solcher Personen bei den Beratungen erforderlich werden, so hatte die Auswahl aus dem Kreis der Richter oder der Universitätslehrer zu erfolgen, und zwar nur auf Antrag durch den Kaiser; andere Gesetzgebungsprojekte für Ungarn, wie die Konkursordnung und das Strafgesetz, wurden zurückgestellt500. Etwa ein Vierteljahr später, zu Mitte Februar 1864, lagen die Vorschläge der Hofkanzlei vor. Sie sahen die Einrichtung einer Kommission in Wien vor, zu der insgesamt auch acht Fachleute aus Ungarn beigezogen werden sollten; sieben davon waren allein für das ABGB vorgesehen, jeder sollte einen bestimmten Abschnitt zur Bearbeitung übernehmen. Ihre Vorschläge wären dann von der Kommission zu beraten gewesen. Damit hatte der Hofkanzler aber die Intentionen des Staatsrats unterlaufen, er hatte eine neue Kodifikation und nicht bloß ein Einführungsgesetz für das ABGB in Aussicht genommen. Der Staatsrat wünschte daher ständig über den Fortgang dieser Arbeiten informiert zu werden; er wollte sich ein Aufsichtsrecht einräumen lassen501. Staatsminister Schmerling und Staatsratspräsident v. Lichtenfels betrieben in der Folge auch die Ablöse des widerspenstigen ungarischen Hofkanzlers. Forgch musste dann auch – allerdings krankheitsbedingt – Mitte April 1864 um seine Enthebung ersuchen502. d) Februar 1864: Initiative zur Vereinheitlichung der Justizgesetzgebung im Gesamtstaat Die zahlreichen Bemühungen, vor allem der Regierung, um die Verbesserung des Zustandes der ungarischen Justizpflege, insbesondere durch Wiederherstellung auch des ABGB, wurden also im Februar 1864 durch eine Initiative im Reichsrat bereichert503. Der liberale, regierungsnahe mährische Abgeordnete Anton Ryger stellte, 499
MRP V/7, 11. MRP V/7, 11 Fn. 21. 501 Malfr, wie Fn. 4, 38 f. 502 St. Malfr (Hrsg.), Die Protokolle des Österreichischen Ministerrates 1848 – 1867, Abteilung V/Band 8 (MRP V/8), Wien 1994, XXI f: Forgchs Nachfolger Zichy war bereit, Schmerlings Politik zu unterstützen. 503 Malfr, wie Fn. 4, 42 f.; Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Abgeordnetenhauses … (StenProt AH), 77. Sitzung der 2. Session am 28. Jänner 1864, 1956, sowie 86. Sitzung der 2. Session am 10. Februar 1864, 2251 – 2257. 500
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unterstützt von 70 weiteren Mandataren, im Abgeordnetenhaus den Antrag auf „Einführung der Civil- und Strafgesetzgebung, dann der Ausübung der Civil- und Strafjustiz“ als Kompetenz des Gesamtstaates. Die Initiative war heikel, da sie nicht nur auf eine Verfassungsänderung abzielte, nämlich auf eine Novelle zum Grundgesetz über die Reichsvertretung, sondern vor allem auch, weil sie eine Kompetenzverschiebung zu Lasten der ungarischen Länder504 vorsah. Sie sah daher auch die Prüfung der Vorfrage über die „Zweckmäßigkeit und Opportunität“ eines solchen Schrittes vor, also eine Art Enquete. Es wurden eine Reihe von Einwendungen gemacht, die sich zum einen gegen eine Verfassungsreform im Allgemeinen richteten. Weitere Einwendungen betrafen die verfassungsrechtliche Betroffenheit der ungarischen Länder im besonderen, zumal die betreffenden Landtage sich weigerten, Delegierte in das Abgeordnetenhaus zu entsenden, und daher die beabsichtigte Verfassungsänderung für diese einem Oktroy gleichgekommen wäre. Schließlich gab es auch Bedenken, ob nicht eine konforme Justizgesetzgebung und Justizpflege der Verschiedenheit der Länder zuwiderlaufen könnte505. Ryger zielte mit seinem Antrag aber in erster Linie nicht auf die Herstellung einer – inhaltlichen – Konformität in der Justizgesetzgebung der cisleithanischen und der ungarischen Ländern ab, sondern auf eine gemeinsame Handhabung unter Mitwirkung aller Länder des Gesamtstaates. Er wies in diesem Zusammenhang aber auch deutlich auf die Entwicklung in Ungarn hin, wo man nach der Rückkehr zum früheren Justizrecht einen „Mißwachs“ zu verzeichnen hatte, wodurch eben „ein großer Nothstand, eine große Calamität“ in der Rechtspflege eingetreten wäre. Insofern erschien sein Antrag auch als ein Mittel zur Beseitigung der Gebrechen in der ungarischen Rechtspflege. Es ging ihm aber nicht – wie Pisko in seinem Kommentar in der Gerichtshalle pathetisch formulierte – um die „Wiederaufnahme und Realisirung einer großen Idee“, nämlich um die „Aufführung eines neuen für die ganze Monarchie bestimmenden Rechtsgebäudes“, die „Wiederherstellung der Rechtseinheit, welcher weder Ungarn noch Österreich entbehren können“. Pisko begrüßte daher den Antrag „mit Freuden“, er betrachtet ihn auch „als den einzigen Weg, der auf dem Gebiete der Rechtspflege zu dem angestrebten Ziele der Rechtssicherheit führt, ein Ziel, welches trotz aller politischen Gegenbestrebungen wird gesucht und erreicht werden müssen“. Innerhalb der Regierung stieß der Vorschlag Rygers aber auf wenig Gegenliebe, obgleich er den Ambitionen der Regierung durchaus entgegenkam. Der Antrag schien nicht opportun, „solange nicht … Repräsentanten aus allen Königreichen und Ländern ihre Sitze“ im Reichsrat eingenommen hatten; er sollte daher aus der Sicht Schmerlings, der den Standpunkt der Regierung – und auch jenen des Kaisers – im Reichsrat vertrat, „nicht weiter in Verhandlung genommen werden“506. Der Antrag wurde folglich auch vom Abgeordnetenhaus abgelehnt. 504
I. Pisko, Der Rygerische Antrag, in: Gerichtshalle 8 (1864), 53 f. StenProt AH, 86. Sitzung der 2. Session am 10. Februar 1864, 2251 f. 506 Pisko, wie Fn. 504, 53. – Ryger: StenProt AH, 86. Sitzung der 2. Session am 10. Februar 1864, 2252, 2255. – Schmerling: ebda, 2256 f. (10. Februar); MRP V/7, 220: Ministerratssitzung vom 2. Februar 1864. 505
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e) April 1864: Letzter Versuch zur neuerlichen Einführung des ABGB Nach der krankheitsbedingten Ablöse Forgchs als ungarischer Hofkanzler zu Mitte April 1864 zeigte sich sein Nachfolger Hermann Zichy der Regierung gegenüber überaus kooperationsbereit. Seine Anträge in Bezug auf die künftige Justizgesetzgebung Ungarns erfüllten nun alle Wünsche, vor allem jene des Staatsrats. Sie blieben zunächst zwar liegen, der Kaiser genehmigte sie aber dann doch zu Mitte Oktober 1864. Die Hauptstoßrichtung zur Verbesserung des Justizwesens in Ungarn sah Zichy aber in der Einrichtung einer neuen Gerichtsverfassung in Ungarn. Hinsichtlich der Justizpflege sei es längst an der Zeit, umfassende Reformen vorzunehmen, nachdem „die Übelstände eine beinah unerträglich gewordene Höhe erreicht haben“ und die öffentliche Meinung auch in Ungarn „dringend Abhilfe begehrt“507. Die Klagen richteten sich vor allem gegen die unklar geregelten Kompetenzen in der Rechtspflege, die Verschleppung von anhängigen Verfahren und die mangelnde Bereitschaft ungarischer Gerichte zur Rechtshilfe sowie die daraus resultierende Rechtsunsicherheit vor allem in den Kreisen der Handels- und Gewerbetreibenden. Allgemein missbilligt wurde, dass „die Rechtspflege als ein ungeordneter Faktor der Politik behandelt und Fragen des Privatrechtes mit den Verfassungsfragen auf eine traurige Weise vermengt“ wurden, so dass sich sogar die Nationalbank bei der gerichtlichen Einbringung ihrer Forderungen in Ungarn „Verschleppungen ausgesetzt“ sah. In auffallender Weise häuften sich also Klagen über Verzögerungen der Rechtspflege und selbst über Fälle von Justizverweigerung. Im Ministerrat wurde sogar gerügt, dass auch „Fälle nicht selten vorkommen“, in denen Entscheidungen ungarischer Gerichte bewusst fiskalische Interessen verletzten508. Gegen Ende 1865 wurde mit Justizministerialerlass sogar eine Enquete eingeleitet, nämlich über „Fälle …, in denen ungarische Behörden sich weigerten, der Requisition der hiesigen Gerichte zu entsprechen, oder in denen die Interessen der Parteien durch auffallende Verzögerungen gefährdet wurden“.509 Zichy selbst glaubte allerdings, dass die Stimmung in Ungarn für eine „radikale Umgestaltung des ganzen Justizwesens im Sinn der Gesetzgebung in den deutsch-slawischen Ländern noch nicht reif“ sei. Die sensiblen politischen Verhältnisse machten es aus seiner Sicht „rätlich, jetzt noch nicht nach dem absolut Besten … zustreben“. Der Entwurf einer neuen provisorischen Gerichtsverfassung für Ungarn wurde in den Grundzügen sodann zu Anfang Juni vom Kaiser genehmigt, danach von der ungarischen Hofkanzlei im Detail ausgearbeitet und am 19. Dezember 1864 im Ministerrat beschlossen. Seitens der ungarischen Teilnehmer wurde dort aber bezweifelt, ob man 507
MRP V/8, XXII sowie 12 ff.: Ministerratssitzung vom 31. Mai 1864. Eine Stimme aus Ungarn über die ungarische Rechtspflege, in: Gerichtshalle 8 (1864), 245. – Die Nationalbank und die ungarische Justiz, in: Gerichtshalle 7 (1863), 69. – MRP V/8, 142 f.: Ministerratssitzung vom 29. September 1864. 509 Justizministerial-Erlass, in: Gerichtshalle 9 (1865), 500. 508
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mit oktroyierten Gesetzen die politische Stimmung im Land verbessern konnte. Mittlerweile hatte sich aber die öffentliche Stimmung gewandelt; es wurde vehement nach Ausgleichsverhandlungen gerufen; diese setzen tatsächlich an der Jahreswende 1864/65 zwischen dem Kaiser und Dek ein. Die vom Ministerrat geplante Oktroyierung der Gerichtsverfassung wurde daher zurückgezogen, nachdem die Einberufung des ungarischen Landtags bevorstand510. Die ungarische Hofkanzlei arbeitete dessen ungeachtet an den anderen in Aussicht genommenen Gesetzen für Ungarn weiter. Anfang Februar 1865 legte Zichy die Entwürfe für ein Einführungsgesetz zum AHGB sowie zur AWO vor, noch nicht aber auch die vorzuschlagenden Modifikationen zum ABGB. Sämtliche Entwürfe sollten aber im nächsten ungarischen Landtag eingebracht werden. Noch im Frühjahr 1865 liefen dann auch die Beratungen der Hofkanzlei über das ABGB an, wofür sogar vier Experten aus Ungarn, drei Richter und ein Rechtslehrer der Pester Universität eingeladen worden waren511. Etwa zur selben Zeit hatte auch Paul Hoffmann, Professor an der Rechtsakademie zu Preßburg, in der Gerichts-Zeitung die Werbetrommel für das ABGB gerührt. Obgleich es ihm „willkommener wäre, ein eigenthümlich ungarisches Privatrecht“ abzufassen, fragte er sich, woraus denn die Verfasser eines eigenen ungarischen Privatrechtsgesetzbuches „die specifisch ungarisch-nationale Rechtsanschauung, der sie Ausdruck verleihen sollen“, schöpfen könnten. Die gegen die Wiedereinführung des ABGB vorgetragenen Einwendungen, dass es „sehr mangelhaft sei und von uns selbst ein viel besseres abgefaßt“ werden könnte, beruhte für Hoffmann „auf … Selbsttäuschung“, ihm schienen jedenfalls auch „die für die Codification […] zu Gebote stehenden Kräfte“ als ungeeignet. Ein eigenes ungarisches Privatrechtsgesetzbuch würde „nicht um ein Jota mehr ungarische Rechtsanschaung“ enthalten, „als dermalen in Geltung“ stehe; der noch in Geltung verbliebene Rest des ungarischen Privatrechts sei aber „verschwindend wenig“. Ferner fehlte es an einer „auch nur von Ansätzen“ entwickelten ungarischen Rechtsgeschichte, mangels wissenschaftlicher Durchdringung sei aber das ungarische Privatrecht „so dunkel, unbestimmt und unverläßlich, daß dermalen daraus keine systematisch durchgeführte Normirung … zu construiren“ wäre. Man werde daher nur auf die bereits vorhandenen fremden Gesetzbücher zurückgreifen und „einen Codex hervorbringen, … dessen Inhalt … nur vermeintlich ungarisches, in Wirklichkeit aber babylonisches Recht“ enthalten könnte. Demgegenüber wäre ein mit Modifikationen in Ungarn wiedereingeführtes ABGB für die „nationale Rechtsanschauung das bei weitem mindere und viel leichter zu verwindende Übel“, ja es würden sich „aus der Identität unseres Privatrechts“ mit jenem der anderen Länder, ja selbst mit dem der deutschen Staaten große Vorteile für den Rechts- und Wirtschaftsverkehr ergeben. Allein mit der Einführung des ABGB könnte dem „bedauerlichen und kaum mehr zu ertragenden Zustand unseres Privatrechtes rasch abgeholfen“ werden; es würde auch die Rechtsüberleitung reibungslos verlau510 511
MRP V/8, XXII f. sowie 12 f.: Ministerratssitzung vom 31. Mai 1864. Hofmann, wie Fn. 458, 123 f.
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fen: „denn es ist das österreichische Gesetzbuch uns allen vollkommen bekannt!“, stellte Hofmann trotzig fest. Und tatsächlich stand es formell jedenfalls zum Teil in noch viel größerem Ausmaß aber materiell in Geltung512. f) Ende der Revisionsbemühungen: Sistierung 1865 und Ausgleich 1867 Die Beratungen der ungarischen Hofkanzlei über die Einführung des ABGB in Ungarn wurden aber auf unbestimmte Zeit aufgeschoben. Auch die vom Staatsrat ausgearbeiteten Gutachten über die handelsrechtlichen Einführungsgesetze wurden dem Kaiser nicht mehr erstattet: Die zu Ende des Vorjahres aufgenommenen geheimen Ausgleichsgespräche verliefen erfolgversprechend, ungarischerseits wurde jedenfalls zu Ostern 1865 Kompromissbereitschaft signalisiert513. Damit waren die Weichen für den – staatsrechtlichen – Ausgleich gestellt. Nach Einberufung aller Landtage und der Verfügung der „Sistierung“ des Grundgesetzes über die Reichsvertretung am 20. September 1865 (RGBl. 89) wurde am 14. Dezember dieses Jahres der ungarische Landtag eröffnet. In der Eröffnungsthronrede war von einer Änderung der ungarischen Justizgesetze keine Rede mehr. Der Landtag verhandelte zwar bis zu seiner Auflösung während des Krieges von 1866 erfolglos, unmittelbar danach aber vereinbarte der Kaiser die Neugestaltung des Verhältnisses zu Ungarn im Sinn eines staatlichen „Dualismus“ zweier gleichberechtigter Monarchien, der österreichischen und der ungarischen: Es kam daher zur Auflösung der ungarischen Hofkanzlei in Wien und zur Bestellung eines ungarischen Ministeriums; die neue Verfassung hatte ein vom Landtag im März 1866 gewählter Ausschuss ausgearbeitet, sie wurde vom Monarchen zu Ende Juli 1867 sanktioniert514.
VI. Das Fortleben des ABGB auf „ungarischem“ Boden 1. In der ungarischen Monarchie bis 1918 Die faktisch seit 1861 zwischen Cisleithanien und Ungarn wieder getrennte Justizgesetzgebung leitete die Entwicklung zweier separater Rechtsräume mit völlig unterschiedlichem Charakter ein. Nach 1867 verstärkten sich diese Tendenzen im Privatrecht durch die allmähliche Profilierung einer eigenständigen ungarischen Rechtswissenschaft, die – wenngleich auch nur in engem Rahmen im Weg der Einzelgesetzgebung – zur Modernisierung des ungarischen Privatrechts beitragen konnte515. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse brachten eine Umgestaltung des ungarischen Rechtssystems, in der sich aus ungarischer Sicht die Rechtskontinuität als Leit512 513 514 515
Hofmann, wie Fn. 458, 127 f. MRP V/8, XXIII; Malfr, wie Fn. 4, 39. Bernatzik, wie Fn. 35, 309, 315, 318 f. Kajtr, wie Fn. 6, 469 f.; Hamza, in: Hamza, wie Fn. 6, 3 ff.; Harmathy, ebda, 57 f.
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ziel der Rechtspolitik manifestieren sollte. Trotz des mehrheitlichen Willens zur grundsätzlichen Wiederherstellung des früheren Justizrechts war die Judexkurialkonferenz aber einerseits zu Anpassungen an die durch die ungarische Gesetzgebung von 1848 geschaffenen Neuerungen gezwungen sowie andererseits deswegen aber auch dazu, der seit 1849 unter „österreichischer“ Herrschaft eingetretenen Neuerungen ebenso Rechnung zu tragen. Dadurch wurden auch die meisten durch das ABGB und der dazu erlassenen Nebengesetze in Ungarn herbeigeführten Justizreformen bestätigt, bisweilen freilich in modifizierter Form, wie etwa im Erbrecht, wo den Besonderheiten der ungarischen Rechtsentwicklung Rechnung getragen wurde; im Verfahrensrecht und der Gerichtsverfassung sowie im Handelsrecht kam es jedenfalls – anders als im Privatrecht – zu einer nahezu lückenlosen Restauration des früheren ungarischen Rechts. Stets betont wurde nach 1861 seitens ungarischer Politiker und der österreichischen Regierung auch der provisorische Charakter der Beschlüsse. Dies erklärt sich vor allem aus dem Umfeld ihres Zustandekommens und wurde auch sichtbar gemacht in der Form ihrer Kundmachung. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse wurden allgemein bloß als ein „vorläufiges Aushilfs- und Orientierungsmittel“516 für die ungarische Rechtspflege angesehen und sollten die Rechtsüberleitung von der österreichischen auf die ungarische Privatrechtsordnung erleichtern. Geltung517 kam ihnen zu durch die Anerkennung seitens aller berufenen Vertreter der Rechtspflege als „gesatztes Gewohnheitsrecht“. Sie hatten daher eine ähnliche, nahezu analoge Rechtsnatur wie das Tripartitum, das – neben den wenigen mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen wiederhergestellten privatrechtlich relevanten Gesetzen – auch wieder zur Grundlage der Privatrechtsordnung Ungarns werden sollte. Diese Basis ist aber letztendlich ein Torso geblieben, weil die mit dem Erlass der Judexkurialkonferenz verbundene Hoffnung auf ein eigenes ungarisches Zivilgesetzbuch letztlich unrealisierbar geblieben ist. Schon durch die Reformgesetzgebung des ungarischen Landtags von 1848518 war beinahe der ganze geschriebene Teil des ungarischen Privatrechtes aufhoben worden, sein im Tripartitum aufgezeichneter gewohnheitsrechtlicher Teil war mit der Einführung des ABGB obsolet geworden. Das eigentliche Privatrecht in Ungarn war also bis 1861 bereits zu einem verschwindend kleinen Bruchteil zusammengeschrumpft. Es konnte – aus der Sicht der Minderheit der Judexkurialkonferenz, der auch Dek angehört hatte, – nach der Aufhebung des ABGB auch unmöglich durch das frühere ungarische Privatrecht ersetzt werden. Trotz formeller Aufhebung des ABGB und trotz der mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen angeordneten Ablösung durch das frühere ungarische Privatrecht stand überwiegend nicht dieses, sondern jenes in tat-
516
Almsi, wie Fn. 18, 19 f. Schlegelberger, wie Fn. 18, 277; Putz, wie Fn. 18, 51; Mdl, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 10, 105. 518 Hoffmann, wie Fn. 458, 123 f. 517
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sächlicher Geltung519. Die Schaffung eines privatrechtlichen Gesetzbuches für Ungarn war dadurch zum dringendsten rechtspolitischen Bedürfnis geworden. Die Privatrechtssituation Ungarns nach Beseitigung des ABGB wurde – vor allem aus der Sicht der Kodifikationsbefürworter – auch als „hinsiechend, unbefriedigend und unhaltbar“ empfunden. Als unhaltbar musste es vor allem erscheinen, dass „nominell“ zwar das mit den Judexkurialkonferenz-Beschlüssen wiederhergestellte ungarische Privatrecht, „in Wirklichkeit“ aber das ABGB fortwirkte520. Der allseits betonte „interimistische“ Charakter der Geltung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse verwischte sich in der Folge aber durch die Nichtverwirklichung einer eigenen ungarischen Privatrechtskodifikation; sie entfalteten daher über weite Strecken eine permanente Wirkung. Die Rechtsfortbildung blieb der Rechtsprechung und den künftigen, allerdings auch nach 1867 nur spärlich ergangenen Spezialgesetzen überlassen521. Sie vermochten daher auch nicht alle Lücken der Privatrechtsordnung Ungarns zu schließen. Die Kodifikationsfrage blieb – trotz mehrfacher Anläufe nach 1867 – letztendlich sogar bis über 1918 hinaus offen. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse sind letztlich nicht nur ein Torso geblieben, weil sich die Hoffnung auf ein eigenes Zivilgesetzbuch schließlich doch als unrealisierbar erwiesen hatte; darüber hinaus blieb aber auch der Weg zur Rechtsvereinheitlichung522 im Gesamtverband der ungarischen Länder versperrt. Die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse erstreckten sich – entgegen der Situation von 1848 – nur auf das Königreich Ungarn sowie auf das Temeser Banat und die serbische Woiwodschaft als mit ihm nach dem Oktoberdiplom wieder verbundene Teile des ungarischen Staatsgebiets523 von 1848, nicht aber auch auf die Militärgrenze, Kroatien und Slawonien, Fiume und Siebenbürgen524, ausgenommen dort lediglich die sog. partes adnexae Ungarns. Diese differenzierte Geltung resultierte aus der Zusammensetzung des ungarischen Landtags, der sich 1861 mit der Frage der Geltung der Judexkurialkonferenz-Beschlüsse zu befassen hatte. Es gehörten ihm nämlich keine Vertreter Sieben519
Dazu beispielhaft zum Schadenersatzrecht: J. Szalma, Der Einfluss des ABGB in der präzedenziellen Rechtsprechung des ungarischen Obersten Gerichtshofes (Curia) zum Schadenersatzrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: G. Kohl/Ch. Neschwara/Th. Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, 661 – 676, besonders 661: „Nach Gustv Wenzels Ansicht war die Rezeption des ABGB (besonders im Schuldrecht) nach der ungarischen Judexkurialkonferenz (1861) der Rezeption des Römischen gemeinen Rechts in Deutschland ähnlich!“ 520 Hoffmann, wie Fn. 458, 127. Vgl. aktuell: Zlinszky, wie Fn. 18, 11, wonach „das ungarische Privatrecht einfach auf dem Wege der Rezeption des ABGB“ ersetzt werden sollte. 521 Almsi, wie Fn. 18, 9. 522 Zehntbauer, wie Fn. 17, 24 f.; Zlinsky, in: Coing III/2, wie Fn. 3, 2142 f., 2153; Almsi, wie Fn. 18, 6; Pfaff/Hofmann, wie Fn. 235, 43 f. 523 Bernatzik, wie Fn. 35, 237 f.; Barany, wie Fn. 2, 365. 524 Szladits, wie Fn. 36, 317, 326; Böszörmnyi-Nagy, in: Csizmdia/Kovcs, wie Fn. 38, 417; Zehntbauer, wie Fn. 17, 23 f.; Malfr, wie Fn. 4, 33.
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bürgens, Kroatiens- Slawoniens, Fiumes und der Militärgrenze525 an. In den einzelnen Abschnitten der Militärgrenze wurden die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse auch nicht nach deren schrittweisen Eingliederung in das Königreich Ungarn von 1872 bis 1882526 eingeführt. Dort entfaltete das ABGB weiterhin eine uneingeschränkte Geltung; auch nach 1867 erfolgte ein nur teilweiser Abbau durch die Einführung ungarischer Gesetze über einzelne Materien des Privtatrechts. In Siebenbürgen wurden die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse trotz seiner – nach dem Intermezzo von 1848/ 49 – mit dem Ausgleich von 1867 erfolgten abermaligen „Wieder“-Vereinigung mit Ungarn ebenfalls nicht eingeführt. Der status quo, also die Fortgeltung des ABGB, wurde seitens der ungarischen Regierung stillschweigend anerkannt; ebenso wie in der Militärgrenze erfolgte allerdings nach 1867 ein schrittweiser Abbau durch die Einführung ungarischer Einzelgesetze. In Kroatien und Slawonien wurde das ABGB zunächst gemäß Beschlüssen des Landtags bzw. der Banalkonferenz aus 1861 unverändert in Geltung belassen, partielle Modifikationen erfuhr die Privatrechtssituation dort aber nach der Vereinbarung des ungarisch-kroatischen Ausgleichs von 1868; dies jedoch nur in Bezug auf das Sonderprivatrecht: Die Geltung des ABGB blieb davon unberührt. Auf Fiume und das Küstenland, das bis 1868 Bestandteil von Kroatien blieb, erstreckte sich nach Abschluss des ungarisch-kroatischen Ausgleichs von 1868 die Geltung von ungarischen Privatrechtsgesetzen nur, soweit dies im Einzelfall auch ausdrücklich angeordnet worden war. In Bosnien-Herzegowina trat nach dessen Okkupation und Einrichtung als gemeinsames österreichisch-ungarisches Verwaltungsgebiet der Gesamtmonarchie das ABGB als subsidiäre Privatrechtsquelle neben das einheimische Recht, wo es in komplizierter Weise teils partiell, teils subsidiär zur Anwendung kam527. Mit der Etablierung einer eigenen Justizgesetzgebung in der ungarischen Monarchie ist ein von Cisleithanien separater Rechtsraum mit eigenständigem Charakter entstanden. Im Privatrecht sind die Unterschiede besonders deutlich hervorgetreten, weil der Komplex der ungarischen Länder – rechtsgeographisch betrachtet – in eine Vielzahl von unterschiedlichen Privatrechtsgebieten zerfallen ist, in denen das ABGB einen jeweils anderen Grad an Geltung entfaltet hat. Für Ungarn ist daher die Schaffung eines eigenen Privatrechts-Gesetzbuchs als Symbol der staatlichen Einheit zu einem dringenden rechtspolitischen Bedürfnis geworden, weil die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse das ABGB – vor allem im Königreich Ungarn selbst – in der Praxis nicht durch das frühere ungarische Privatrecht ersetzen konnten528. Das ungarische
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Barany, wie Fn. 2, 372. Bernatzik, wie Fn. 35, 559. 527 I. Pilar, Entwicklungsgang der Rezeption des österr. allg. bürgerl. Gesetzbuches in Bosnien und der Herzegowina unter besonderer Berücksichtigung des Immobilienrechts, in: ABGB-FS I, 701 ff.; Vgl. auch E. Bauer, Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Verwaltung in Bosnien-Herzegowina, Wien-München 1971, 138 ff. 528 G. Mth, Problems of codification during the Austrian-Hungarian dual monarchy, in: G. Mth/B. Mezey (Hrsg.), Von den Ständeversammlungen bis zum parlamentarischen Re526
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Privatrecht ist 1861 zwar „nominell“ wiederhergestellt worden, „in Wirklichkeit“ ist aber das ABGB, insbesondere im Liegenschafts- und im Obligationenrecht, für die Vertrags- und Gerichtspraxis grundlegend geblieben529. Das ABGB ist aber außerdem neben dem ungarischen Privatrecht auch im Rechtsunterricht an den ungarischen Rechtsfakultäten und damit auch in der ungarischen Rechtswissenschaft präsent geblieben. Die ungarische Privatrechtswissenschaft hat allerdings mit der Zuwendung zur Pandektistik und dem Vorliegen von Kodifikationsentwürfen zu einem ungarischen BGB um 1900 zunehmend ein eigenes – nämlich ein vom ABGB distanziertes – Profil entwickelt. Als Vorbild für die Privatrechtsentwicklung in Ungarn ist mit der Hinwendung zur Pandektistik aber auch immer mehr das Pandektenrecht und schließlich das deutsche BGB in den Vordergrund gerückt worden: Und dementsprechend hat damit auch der Stellenwert des ABGB im Rahmen der Kodifikationsbemühungen in Ungarn abgenommen. Nachdem530 die seit 1867 aufgenommenen Versuche, die Verwirklichung einer eigenen ungarischen Privatrechtskodifikation sukzessive mit Teilkodifikationen zu erreichen (1871 Allgemeiner Teil, 1880/85 Erbrecht), letztendlich nur in kleineren Bereichen des Familienrechts erfolgreich gewesen ist (1877 Vormundschaftsrecht, 1894 Eherecht)531, konzentrieren sich die Kodifikationsbemühungen seit 1895 auf Gesamtentwürfe zu einem BGB; in den folgenden zwei Jahrzehnten lagen bis 1916 insgesamt fünf Fassungen vor; sie waren vor allem vom deutschen BGB und den schweizerischen Privatrechtskodifikationen, zum Teil aber auch vom österreichischen ABGB und den hierzu von 1914 – 1916 erlassenen Teilnovellen beeinflusst. Die Arbeiten sind jedoch während des Weltkrieges im Parlament nicht mehr zu Ende geführt worden. Ähnliches ist auch für Kroatien zu konstatieren. Hier setzten um 1900 Initiativen zu einer Modernisierung der Privatrechtsordnung ein; sie knüpften hier aber – anders als in Ungarn – an das ABGB an; zuletzt 1917 in Anlehnung an die österreichischen Teilnovellen; die kurz vor dem Abschluss stehende Revision des kroatischen ABGB scheiterte aber am Ausgang des Weltkrieges532. Der gesamte Komplex der ungarischen Länder war also schon ab 1861 – rechtsgeographisch besehen – in mehrere Privatrechtsgebiete zerfallen. Das weitere Schicksal des ABGB in den ungarischen Ländern gestaltete sich in der Folge auch
gierungssystem in Ungarn. Studien zur Parlamentsgeschichte, Budapest-Graz 2001, 28 f.; Szalma, Parlament und Zivilgesetzgebung, ebda. 140 f. 529 Hofmann, wie Fn. 458, 127. 530 Zum Folgenden Putz, wie Fn. 18, 51; Szladits, wie Fn. 36, 317, 326; Almsi, wie Fn. 18, 19 f.; Schlegelberger, wie Fn. 18, 277; Zehntbauer, wie Fn. 17, 23 f.; Mdl, in: Csizmdia/ Kovcs, wie Fn. 10, 105; Böszörmnyi-Nagy, ebda. 417; Barany, wie Fn. 2, 472; Zlinsky, in: Coing III/2, 2142 f., 2153. 531 Zlinsky, in: Coing III/2 2163, wie Fn. 3, 2164 ff.; Mthe, wie Fn. 528, 34 ff.; Szalma, ebda. 139 f. 532 Hamza, in: Hamza, wie Fn. 6, 7 ff.; Homoki Nagy, wie Fn. 6, 9 f.
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sehr unterschiedlich533. Außer im Königreich Ungarn selbst galt die Fassung von 1853 in den Nebenländern weiter. Seine Fortbildung lag aber unabhängig von der österreichischen Privatrechtsentwicklung in der Hand der jeweiligen Landtage, sodass sich für diese Länder allmählich unterschiedliche Textschichten des ABGB ausbildeten. 2. In den Nachfolgestaaten der ungarischen Monarchie nach 1918 Nach Ende des Ersten Weltkrieges wurden – definitiv aufgrund der Verträge von Paris 1919/20 – alle Geltungsgebiete des ABGB im Verband des ehemaligen ungarischen Gesamtstaates an die Nachfolgestaaten der Gesamtmonarchie abgetreten: Siebenbürgen fiel an Rumänien; Kroatien-Slawonien und die Woiwodina sowie die dem Banat nach 1867 inkorporierten Teile der Militärgrenze und Bosnien-Herzegowina wurden an Jugoslawien abgetreten; Fiume wurde Italien zugesprochen. Es blieb in allen von Ungarn abgetretenen Gebieten das ABGB nach dem jeweiligen Stand der Gesetzgebung vom 1. November 1918 in Geltung. Die faktisch seit 1861 offene Kodifikationsfrage konnte nach 1918 selbst in Ungarn nicht realisiert werden534. Das ungarische Privatrecht in der Gestalt, die ihm die Judexkurialkonferenz-Beschlüsse verliehen hatte, wirkte – modifiziert durch Einzelgesetze und fortgebildete durch die Gerichtsbarkeit – nach dem Scheitern der Privatrechtskodifikation auf Grundlage eines 1928 fertig gestellten Entwurfs – sogar über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus fort.535 Erst 1959 wurde ein ungarisches Zivilgesetzbuch erlassen, allerdings ruhten seine geistigen Grundlagen im Rechtsdenken des sozialistischen Rechtskreises. Dasselbe gilt für die ehemaligen ungarischen und nach 1918 an Jugoslawien abgetretenen Gebiete; es hat insbesondere jüngst in Kroatien auch die Schaffung von neuen Teilkodifikationen des Privatrechts, etwa im Sachen- und Obligationenrecht, beeinflusst536.
Dazu grundsätzlich: H. Slapnicka, Österreichs Recht außerhalb Österreichs, 1973, sowie A. Fedynskyi, Räumlicher Geltungsbereich des ABGB im Wandel der Zeit, Diss. iur. Wien 1944; vgl. auch Brauneder, wie Fn. 8, 248. Ferner im besondern aus zeitgenössischer Sicht: N. Ujlaki, Das Schicksal des ungarischen Rechts in den Jugoslavien angeschlossenen Gebieten, in: Zeitschrift für osteuropäisches Recht, Neue Folge 1 (Berlin 1934/35), 83 ff.; ders., Die rechtsvereinheitlichenden Bestrebungen der Nachfolgestaaten und das ungarische Privatrecht, in: ebda 3 (1936/37), 561 ff. – Schließlich rückblickend aus jüngerer Zeit: J. Szalma, Geltung und Bedeutung der Kodifikationen Österreichs, Serbiens und Montenegros im ehemaligen Jugoslawien, in: ZNR 1994, 341 ff., sowie N. Gavella, Die Rolle des ABGB in der Rechtsordnung Kroatiens. Zum 140. Jahrestag seiner Einführung in Kroatien, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2 (1994), 603 ff. 534 Ungarn strebte nach 1920 eine Revision des Friedensvertrags von Trianon und eine Rückgliederung ehemals ungarischen Staatsgebiets an und wollte daher seine mit diesen Gebieten partiell gemeinsame Privatrechtskultur nicht von sich aus durch den Erlass einer neuen Privatrechtskodifikation verlassen. 535 Gönczi, in: Festgabe für Jnos Zlinszky, wie Fn. 6, 446 ff. 536 Ujlaki, Rechtsvereinheitlichende Bestrebungen, in: Zeitschrift für osteuropäisches Recht 3 (1936/37), 561 ff.; J. Szalma, wie Fn. 533, 341 ff.; N. Gavella, wie Fn. 533, 603 – 605. 533
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3. Im ehemals „ungarischen“ Burgenland seit 1922 a) Eingliederung des Burgenlandes in die Republik Österreich 1918 – 1921537 Mit Deklaration der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich vom 22. November 1918538 wurde – wegen der nationalen Zugehörigkeit der betreffenden Bevölkerung zu jener in Deutschösterreich – die Autonomie für den deutschsprachigen Anteil der westungarischen Komitate Preßburg (Poszony), Wieselburg (Moson), Ödenburg (Sopron) und Eisenburg (Vas) gefordert, um im Wege der Selbstbestimmung eine Angliederung dieses Gebietes an die Republik Deutschösterreich anzubahnen. Auf Grundlage der Verträge von St. Germain 1919539 und Trianon 1920 sollte dies realisiert werden. Nach der Besetzung Preßburgs durch die Tschechoslowakische Republik wurde das Gebiet der drei übrigen westungarischen Komitate unter dem Namen Burgenland als gleichberechtigtes Land in den österreichischen Bundesstaat aufgenommen. Ein besonderes Bundesverfassungsgesetz regelte bereits gegen Ende Jänner 1921 die künftige „Stellung des Burgenlandes als selbständiges und gleichberechtigtes Land im Bund“ für die Übergangszeit bis zur gemäß den Pariser Verträgen mit 27./28. August 1921 festgelegten Übergabe von Ungarn an Österreich. Die Besitzergreifung scheiterte zunächst aber an bewaffnetem Widerstand auf ungarischer Seite. Erst eine über Vermittlung von Italien zwischen Ungarn und Österreich Mitte Oktober 1921 erzielte Vereinbarung540 ermöglichte die Übernahme des Burgenlandes in die Staatsgewalt der Republik Österreich. Über die Zugehörigkeit der gedachten Landeshauptstadt Ödenburg sollte Mitte Dezember 1921 eine Volksabstimmung entscheiden. Aufgrund des vereinbarungswidrig und unkorrekt durch537 J.D. Berlin (Bearbeiter), Akten und Dokumente des Außenamtes (State Departement) der USA zur Burgenland-Anschlußfrage 1919 – 1920, Amt der Burgenländischen Landesregierung, Landesarchiv – Landesbibliothek, Eisenstadt 1977; K.R. Stadler, Die Gründung der Republik, in: E. Weinzierl/K. Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918 – 1938. Geschichte der Ersten Republik, Graz-Wien-Köln 1983, Band I, 55 ff.; K. Koch, Zwischen Staatsbankrott und Genfer Sanierung, in: K. Koch/W. Rauscher/A. Suppan (Hrsg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938 (ADÖ), Band IV 1998, 14 ff.; Ch. Neschwara, Zur Entwicklung des Verfassungsrechts nach 1918, in: H. Schambeck (Hrsg.), Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Teilband I, Berlin 1993, 83 ff.; K. Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Band I (1918 – 1933), Wien 1998, 11 – 184; H. Widder, Verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Fragen bei der Angliederung des Burgenlandes an Österreich, in: R. Kropf (Leitung), Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau. Symposium im Rahmen der „Schlaininger Gespräche“ vom 24.–29. September 1991 auf Burg Schlaining, Burgenländisches Landesmuseum, Eisenstadt 1996, 29 ff.; W. Brauneder, Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, 2000; ders., Die Provisorische und Konstituierende Nationalversammlung der Jahre 1918 bis 1920, in: E. Bruckmüller (Hrsg.), Parlamentarismus in Österreich, Wien 2001, 110 ff.; W. Brauneder, Verfassungsgeschichte, wie Fn. 331, 187 ff. 538 StGBl. Nr. 41 (Staatserklärung zum Gesetz betreffend Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes vom selben Tag: StGBl. Nr. 40). 539 StGBl. Nr. 303/1919. 540 Protokoll „betreffend die Regelung der westungarischen Frage“: BGBl. Nr. 138/1921.
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geführten Plebiszits verlor das Burgenland seine natürliche Hauptstadt. Das bei Österreich verbliebene Gebiet erhielt sodann Anfang April 1922 eine „Einstweilige Landesordnung“, welche das Burgenland mit den vom Bundes-Verfassungsgesetz vorgesehenen Organen ausstattete. b) Transformation österreichischen Rechts seit 1921541 Die verfassungsrechtliche Stellung des Burgenlandes als österreichisches Bundesland wurde – bis zu seinem endgültigen Anschluss – zunächst in einem besonderen Verfassungsgesetz vom 25. Jänner 1921542, dem so genannten (1.) „Burgenlandgesetz“, vorläufig bestimmt. Hierin543 war auch vorgesehen, das im Burgenland „bisher in Geltung gestandene (ungarische) Recht” vorerst in Wirksamkeit zu belassen. Die Rezeption des österreichischen Rechts war freilich schon von vorne herein beabsichtigt. Seine Überleitung erfolgte – um die langwierigen parlamentarischen Abläufe auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung zu umgehen und die Einordnung des Burgenlandes in den österreichischen Bundesstaat so rasch als möglich abwickeln zu können –, aufgrund einer speziellen verfassungsrechtlichen Ermächtigung der Bundesregierung, die „im Burgenland in Geltung stehenden Gesetze“ auf dem Verordnungsweg zu ändern oder aufzuheben, soweit ihr „solche Maßnahmen aus Rücksichten der Rechtsangleichung … notwendig“ erschienen. Der Angleichungsprozess wurde schrittweise, aber zügig in Gang gesetzt, er war für die meisten Gebiete der Rechtsordnung auch bereits nach kurzer Zeit abgeschlossen. Die österreichische Verfassungsordnung und Behördenorganisation konnte mit 1. Jänner 1922 zur Gänze wirksam werden, ebenso das Strafrecht und die Verfahrensordnungen sowie im Verlauf des Jahres 1923 alle weiteren Bereiche der österreichischen Rechtsordnung; es gab allerdings zwei Ausnahmen: Die österreichische Grundbuchsordnung konnte – bedingt durch den mangelhaften Zustand der ungarischen Grundbücher – erst nach erfolgter Neuanlegung der Grundbücher vollständig in Geltung treten; und das unga-
541 Zum Folgenden grundsätzlich: P. Iby, Eherecht im Burgenland (1921 – 1938), Diss. Univ. Wien 1967, 87 ff.; O. Guglia, Das Werden des Burgenlandes, Eisenstadt 1961, 1 ff.; K.R. Stadler, Das Werden des Burgenlandes – ein Teil der österreichischen Nachkriegsgeschichte, in: Burgenländische Heimatblätter 33, Eisenstadt 1971, 1 ff.; G. Schlag, Burgenland, in: Weinzierl/ Skalnik, wie Fn. 531, 747 ff.; M.F. Polaschek, Die Rezeption des österreichischen Rechtes im Burgenland, in: Geschichte und Gegenwart 10/3, Graz 1991, 229 ff.; P. Münzenrieder, Ein langer Weg. Der Anschluss des Burgenlandes an Österreich, geschichtswissenschaftliche Diplomarbeit, Wien 2001, 32 ff.; W. Dax, Rechtsüberleitung 1921-1938-1945. Besonderheiten des Burgenländischen Landesrechtes, in: W. Gürtler/G.J. Winkler (Hrsg.), Forscher – Gestalter – Vermittler. Festschrift Gerald Schlag, Eisenstadt 2001, 57 ff. 542 Bundesverfassungsgesetz „… als selbständiges und gleichberechtigtes Land im Bund und seine vorläufige Einrichtung“ vom 25. Jänner. 1921 (BGBl. Nr. 85) – im Folgenden abgekürzt: Burgenlandgesetz. 543 Nr. 2 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Österreichischen Nationalrats (StenProtNR), I. Gesetzgebungsperiode, Wien 1921, 5 f.
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rische Eherecht blieb für burgenländische Landesbürger vorläufig – bis544 zur Einführung des deutschen Eherechts nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 – in Geltung545. Hinzu kamen Rechtsgebiete, bei denen die Rechtssetzungskompetenz unter ungarischer Regierung bei den Komitaten lag; die entsprechenden Normen wurden zunächst als partikuläres Landesrecht übergeleitet und Schritt für Schritt durch neue landesrechtliche Bestimmungen ersetzt, auf dem Gebiet des Baurechts zum Beispiel erst 1926. c) Überleitung des österreichischen Privatrechts Für „privatrechtliche Verhältnisse“ wurde die Rezeption des ABGB von Seiten des Gesetzgebers als „unaufschiebbar“ erachtet546. Die Bundesregierung hat die Rechtsangleichung auch sogleich in Angriff genommen. Mit Verordnung vom 29. Mai 1922547, „womit weitere Anordnungen über das Justizwesen … auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts … getroffen werden“, erfolgte mit Wirkung vom 15. Juni 1922 das Inkrafttreten des gesamten in Österreich geltenden bürgerlichen Rechts im Burgenland548. Hierbei machte man aber eine Ausnahme insofern, als die „in Österreich geltenden Bestimmungen“549 über das Eherecht und das Eheverfahren erst mit 1. Jänner 1924550, und überdies auch nur dann in Wirksamkeit gesetzt werden sollten, wenn „der burgenländische Landtag“ nicht vorher „mit Beschluß verlangte, daß die in Geltung stehenden Bestimmungen“ des ungarischen Eherechts und Eheverfahrens „weiter aufrecht bleiben“. Die Fortgeltung des burgenländischen Sonderrechts war – nach den Intentionen der Bundesregierung – bloß als ein kurzfristiges Provisorium gedacht. Man hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass der burgenländische Landtag tatsächlich einen Be544 Landesgesetz vom 1. Mai 1926 über die Bauordnung für das Burgenland (LGBl. Nr. 37): Dax, wie Fn. 541, 59. 545 Bis 1934 waren außerdem das katholische Kultusrecht und das Volksschulwesen noch nicht vollständig den in Österreich geltenden Bestimmungen angepasst: W. Dax, Burgenländisches Landesrecht, in: 50 Jahre Burgenland (= Burgenländische Forschungen Sonderheft III), Eisenstadt 1971, 47, 58. 546 Nr. 2 der Beilagen StenProtNR, I. GP., 5. 547 BGBl. Nr. 315. 548 § 1 der zitierten Verordnung. 549 § 9 Absatz 2 der zitierten Verordnung. 550 Die Bundesregierung hatte am 25. Mai 1922 ihren Rücktritt erklärt, am 30. Mai hätte es wirksam werden sollen. In der Sitzung des Ministerrates äußerte der Bundeskanzler daher Bedenken, diese „hochpolitische Frage“ noch vor der Demission zu entscheiden. Im Einvernehmen mit den politischen Parteien des Burgenlandes wurde die Eherechtsfrage dann doch noch in der Sitzung vom 29. Mai – also einen Tag vor dem Ausscheiden der Regierung aus ihrem Amt – beschlossen. Die Sonderbestimmung über den späteren Wirksamkeitsbeginn für das ABGB-Eherecht geht auf Befürchtungen der Bundesregierung zurück, es könnte in der Bevölkerung zu Unstimmigkeiten führen, wollte man die Eherechtsfrage endgültig entscheiden: Ministerratsprotokolle Nummer 186 sowie 189 und 190, in: AVA, Ministerratsprotokolle, Karton 59.
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schluss auf Weitergeltung des ungarischen Eherechts fassen könnte. Dort war man aber von der Tatsache551 ausgegangen, „daß die Zivilehe eine im Burgenland eingebürgerte Einrichtung“ sei, „von der man umso weniger abgehen“ sollte, als „sie durch die noch nicht novellierten Bestimmungen des [österreichischen] bürgerlichen Gesetzbuches [über das Eherecht] ersetzt würde“. Außerdem wurde das ungarische Eherecht mit obligatorischer Ziviltrauung und staatlicher Matrikelführung für „eine zeitgemäßere Form“ des Eherechts angesehen als jene des ABGB mit seiner konfessionellen Orientierung. Im Übrigen wurde auch damit argumentiert, dass das ungarische „mit dem Eherecht des Deutschen Reiches fast vollständig“ übereinstimme552. Die Durchführungsverordnung des Bundesministers für Justiz vom selben Tag553 enthielt die erforderlichen Übergangsbestimmungen und die für die Anwendung des „burgenländischen“ im Verhältnis zum übrigen österreichischen Eherecht notwendigen Kollisionsnormen554. Die Frage des Eherechts war von der Landesregierung sofort nach Bekanntwerden der Verordnung der Bundesregierung vom 29. Mai 1922 auf die Tagesordnung ihrer Verhandlungen gesetzt worden. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder hatte sich eher abwartend verhalten555, die Sozialdemokraten jedoch, denen das ungarische Eherecht als „die einzig gute Sache, die die Ungarn den Burgenländern hinterlassen hatten“, galt, drängten auf eine Entscheidung. Die Großdeutschen, in der Sache zwar mit der Beibehaltung des bisherigen Eherechts einverstanden, hielten sich vorerst noch bedeckt. Die Christlichsozialen aber mussten zunächst zurückhaltend taktieren, weil sie über diese Frage innerparteilich noch keinen einhelligen Standpunkt gefun551
Stenographisches Protokoll des Burgenländischen Landtags (StenProtLT), Wien 1922,
165 ff. 552 Bestrebungen um eine Reform des österreichischen Eherechts im Sinne einer Entkonfessionalisierung durch Einführung der obligatorischen Zivilehe wie in Ungarn war bis 1918 kein Erfolg beschieden. Erst in der Republik schien die politische Zusammensetzung der 1918 zusammengetretenen Provisorischen Nationalversammlung günstigere Bedingungen für eine solche Eherechtsreform zu bieten. Initiativen von Seiten der Sozialdemokraten und der Großdeutschen fanden nach der Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung aufgrund der veränderten politischen Konstellationen keine Mehrheit mehr, nachdem die Großdeutschen seit 1920 dauernd in einer Regierungskoalition an die Christlichsozialen gebunden waren, welche vehement gegen die Einführung der Zivilehe agierten: Vgl. Ch. Neschwara, Hans Kelsen als Verfassungsrichter: Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: St. Paulson/M. Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen – Staatsrechtslehrer und Rechtsphilosoph, Tübingen 2005, 362. Vgl. dazu auch das Parteiprogramm der Sozialdemokraten: K. Berchtold (Hrsg.), Österreichische Parteiprogramme 1868 – 1966, Wien 1967, 234; ebda, 453, das „Salzburger“ Programm der Großdeutschen Volkspartei. 553 BGBl. Nr. 316. 554 Ch. Neschwara, Rezeption als Reform: Das ungarische Eherecht im österreichischen Burgenland nach 1921, in: ZNR 11. 1989, 44 ff.; ders., Überleitung ungarischen Rechts im österreichischen Burgenland nach 1921, in: J. Neckrˇ/M. Radvan/D. Sehnlek/J. Valdhans (Hrsg.), Dny prva – 2008 – Days of Law (= Acta Universitatis Brunensis Iuridica 337), Brünn 2009, 474 ff. 555 Ch. Heidrich, Burgenländische Politik in der ersten Republik, 1982, 105 f.
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den hatten. In der Landesregierung wurde die Entscheidung über die Eherechtsfrage folglich aufgeschoben. Die Sozialdemokraten wollten daher im Landtag eine Entscheidung über die Frage des „burgenländischen“ Eherechts herbeiführen. In der Zwischenzeit hatte sich dort nämlich eine weitere im Landtag vertretene Partei – der Bauernbund – für die Beibehaltung des ungarischen Eherechts ausgesprochen, und nachdem sich auch die Großdeutschen bereits damit einverstanden erklärt hatten, stellten die Sozialdemokraten am 12. Oktober 1922 – für die Christlichsozialen überraschend – im Landtag einen Dringlichkeitsantrag „betreffend das Aufrechtbleiben der Bestimmungen über das Eherecht und Eheverfahren im Burgenlande“556. In der Begründung hierzu wurde vor allem ausgeführt, dass das ungarische Eherecht zeitgemäßer sei als das reformbedürftige österreichische, vor allem aber stimme es in seinen wesentlichen Teilen mit dem reichsdeutschen Eherecht überein, dessen Übernahme anstelle des ABGB man im Kreis der Sozialdemokraten offen propagierte. In der Debatte im Landtag557 hob der sozialdemokratische Hauptredner daher nochmals hervor, dass zwar „die Rechtsvereinheitlichung bis in die äußersten Konsequenzen durchgeführt werden“ sollte, solange aber eine Reform des ABGB-Eherechts nicht absehbar sei, wäre es besser, den bestehenden Zustand zu belassen, vor allem weil auch die von Seiten der Geistlichkeit schon bei der Einführung der Zivilehe (im Jahre 1894) in Ungarn geäußerten Bedenken keineswegs eingetreten seien. Gegen die Stimmen der Christlichsozialen wurde der Dringlichkeitsantrag der Sozialdemokraten schließlich mit Unterstützung der Großdeutschen und des Bauernbundes angenommen. Der Beschluss des Landtages über die Fortgeltung des ungarischen Eherechts war zwar am 23. Oktober dem Bundeskanzleramt in Wien zugestellt worden.558, und hätte vom Bundesminister für Justiz „ungesäumt“559 im Bundesgesetzblatt kundgemacht werden sollen. Dies war jedoch vorerst unterblieben, sodass es am 2. Dezember im Nationalrat560 deswegen zu einer Anfrage von mehreren sozialdemokratischen Abgeordneten an den Bundesminister „betreffend das Eherecht im Burgenland“ kam, worin das Verhalten des Justizministers getadelt wurde. Erst am 19. Dezember hatte die Kundmachung des Landtagsbeschlusses die Zustimmung des Ministerrates gefunden561. Damit war in Österreich seit Jahresende 1922 ein Dualismus der Eherechtsordnung gesetzlich fixiert: Neben dem konfessionellen Eherecht des österreichischen ABGB im Bundesgebiet außerhalb des Burgenlandes bestanden nun im Burgenland 556 557 558 559 560 561
StenProtLT, wie Fn. 551, 157 ff. Ebda, 165 ff. AVA, Justizministerium 1918 – 1927, Karton 58, Sammelsignatur 10.039, GZ 34.470/22. Gemäß Verordnung BGBl. Nr. 315/1922. StenProtNR, I. GP., 1922, Anhang 1, 471/1. BGBl. Nr. 913/1922.
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die ungarische obligatorische Ziviltrauung und das damit verbundene staatliche Matrikelwesen als Bundes-Sonderrecht – allerdings nur bis zur Einführung des deutschen Ehegesetzes im August 1938562.
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Zu den Auswirkungen in der Praxis im Einzelnen: Neschwara, wie Fn. 554, 60 f.
Das ABGB in der Woiwodina Jzsef Szalma I. Bürgerliche Reformbewegungen in Ungarn und ihr Einfluss auf die ungarische Sondergesetzgebung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Vormärzliche Periode) herrschten in ganz Ungarn drei politische Bewegungen, welche die Umwandlung der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft betrieben: Die erste Bewegung war reformorientiert (liberal), die zweite demokratisch und die dritte konservativ1. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dominierten die gemäßigten liberalen Auffassungen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die Demokraten zum Zuge. Die beiden Anschauungen haben die Anwendung der Zivilgesetze beeinflusst. In der Periode des Ausgleichs, nach 1867, entstand stufenweise die moderne ungarische Zivilgesetzgebung (Sondergesetze und Kodifikationsentwürfe des Zivilrechts). Nach Auffassung der reformorientierten Liberalen (vertreten zuerst von Szchenyi), sollte die Erreichung der bürgerlichen Gesellschaft stufenweise, beginnend zuerst mit ökonomischen Reformen, erfolgen. Sie förderten die Entwicklung der Bauund Maschinenindustrie, Wasserwirtschaft und Handel, unterstützt durch das Banken- und Kreditsystem und die Affirmation der Wissenschaften. In der Gesetzgebung entwickelten sie die sogenannte partielle Zivilgesetzgebung (Sondergesetze), um die ungarische Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Wirtschaftsrechts (Wasserwirtschaftsrecht, Handelsgesellschaftsrecht, Konkurs, Wechselrecht, usw. – die Gesetze aus dem Jahre 1840) im Verhältnis zur österreichischen zu erweitern2. 1 Die ersten Parteien – im heutigen Sinne des Wortes – entstanden in Ungarn später. Zuerst existierte ab dem 12. November 1846 die Konservative Partei, welche gemäßigte Reformen vorschlug und ab dem 17. Juni 1847 zur Oppositionspartei wurde, und die Liberale Partei, welche tiefgreifende Reformen durchführen wollte. Diese Parteien funktionierten aber noch nicht als ständige Organisationen, sondern nach französischen Muster als Debatierklubs, welche von politischen Persönlichkeiten organisiert wurden und wo politische Programme diskutiert wurden. Nach dem Ausgleich von 1867 und in der wichtigen sogenannten Reformperiode bestanden zwei politische Bewegungen: einerseits die Liberalen, die nicht nur die bürgerliche Freiheitsidee, sondern auch in verschiedenen Abstufungen die Unabhängigkeit von Wien propagierten, andererseits die Konservativen, die auf engere Beziehungen mit Wien abzielten. Siehe näher dazu: B. Mezey (Hrsg.), Magyar Alkotmnytörtnet [Ungarische Verfassungsgeschichte], 2. Aufl., Budapest 1996, 200 – 201. 2 Siehe näher: Magyar Törvnytr 1836 – 1868. vi Törvnycikkek [Ungarische Gesetzessammlung, Die Gesetze aus den Jahren 1836 – 1868], Budapest 1896, 85 – 191; für die
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Die zweite, demokratisch orientierte Gruppe, die zuerst von Kossuth und später von Dek geführt wurde, vertrat Mitte des 19. Jahrhunderts in Opposition zur ständischen Gesellschaft die Auffassung, dass sich die bürgerliche Gesellschaft mit Priorität der gründlichen politischen Änderung widmen sollte. Sie wollten das Ende der Avizität, die Durchsetzung der bürgerlichen Gleichberechtigung und die Einführung einer Verfassung, um dadurch Machtbegrenzung und Machtverteilung, sowie die volle ungarische Gesetzgebungskompetenz zu erreichen. Dek vertrat in der reformierten Parlamentssession von 1839 – 1840 die Meinung, dass die Einführung der allgemeinen Steuerpflicht – die Stände waren bis dann im wesentlichen steuerfrei – oder die allgemeine öffentliche Lastenteilung unentbehrlich sei. Weiter strebten sie die Einführung der Meinungs- und Medienfreiheit sowie des allgemeinen Wahlrechts an. Diese Anforderungen spiegelten sich zur Gänze in den ungarischen Gesetzen aus dem Jahre 1848 wieder: den Gesetzen über das Parlament (jährliche Session, strukturiert durch ein volksvertretendes Auswahlsystem), über die Einheit mit Transsylvanien, über die Einführung der allgemeinen Besteuerung, über die Beendigung der Avizität, die Einführung der Glaubens- und Pressefreiheit, der ungarischen Universität usw.3 Nach 1861 initiierten sie die Kodifikation des ungarischen Zivilrechts, schufen aber auch die Grundlagen für die ganze ungarische bürgerliche statt der ständischen Gesetzgebung sowie für die Rechtsanwendungsautonomie durch die Annahme des Vorschlags der ungarischen Richterkonferenz (Iudex curia – Judexcurialkonferenz) über die vorläufigen Regeln für die Gesetzgebung4. Nach Wiederherstellung der ungarischen Gesetze war aber klar, dass das alte ungarische Gewohnheitsrecht und die neuesten partiellen (Sonder-)Gesetze aus den Jahren 1839/1840 nicht mehr den modernen Anforderungen entsprachen. Dies betraf allerdings nicht die erweiterten Zivilverhältnisse, die, da sie gesetzliche Regelungen benötigten, zu entsprechenden ungarischen Kodifikationen griffen, wodurch zuerst im Schuldrecht das ABGB aufgrund der vorläufigen Regeln über die Gesetzgebung
Vormärzperiode siehe W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl. 2009, 90. 3 Magyar Törvnytr 1836 – 1868, wie Fn. 2, 216 – 318; Zur Entwicklung in ganz Österreich siehe Brauneder, wie Fn. 2, 115 – 124. 4 Die Ungarische Judexcurialkonferenz hatte unter Vorsitz des Obersten Ungarischen Gerichtshofs nach dem Oktoberdiplom 1860 und nach der Entscheidung des Monarchen Franz Joseph vom 20. Jänner 1861 in der Sitzung vom 23. Jänner bis 4. März 1861 die vorläufigen Gesetzgebungsregeln vorgeschlagen, mit denen die ungarische Rechtsautonomie wiederhergestellt werden sollte. Diese Regeln enthielten acht Bereiche: I. Privatrecht (180 Paragraphen), II. Wechselrecht (6 Paragraphen), III. Strafprozessrecht (9 Paragraphen), IV. Konkursrecht (27 Paragraphen), V. Handelsrecht (4 Paragraphen), VI. Regelungen über Steuer und Polizei, VII. Bergwerkssachen (72 Paragraphen) und VIII. Verschiedene (gemischte) Regelungen. Siehe näher: B. Mezey (Hrsg.), Magyar Jogtörtnet [Ungarische Rechtsgeschichte], Budapest 1996, 117; Magyar Törvnytr 1836 – 1868, wie Fn. 2, 282 – 321; St. Malfr, Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Ungarn zur Zeit des „Provisoriums“ 1861 – 1867, in: ZNR 14, 1992, 32.
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in der Rechtsprechung zur Anwendung kam5. Seit 1848, aufgrund des GA XV, welcher die Kodifikation des ungarischen Bürgerlichen Gesetzbuches anordnete, entstanden mehrere Entwürfe für das ungarische Zivilgesetzbuch (Szalay, Teleszky und Großschmid), die aber erst bestimmte Teile des Zivilrechts enthielten (Erbrecht, Familienrecht, 1894) und später auch den ersten Entwurf für das ganze Zivilrecht (1895 – 1900)6. Neben diesen verschiedenen Entwürfen wurde 1882 ein Entwurf für das Allgemeine Bürgerliche Ungarische Gesetzbuch verfasst, der das ganze Zivilrecht erfasste und von der Literatur als der wichtigste angesehen wurde. Sowohl diese Kodifikationsentwürfe als auch die Rechtsprechung waren auf dem Gebiet des Sachen- und Schuldrechts grundlegend vom ABGB beeinflusst7. Der Kodifikationsentwurf für das ungarische Zivilgesetz aus dem Jahre 1900 nahm nicht nur auf das ABGB, sondern insbesondere im Sachenrecht auch auf das BGB Rücksicht8. Diese Entwicklung ermöglichte auch die Wiederherstellung der bürgerlichen und politischen Rechte aufgrund der Staatsgrundgesetze und des Ausgleichs aus dem Jahre 18679. Die sogenannten konservativ Orientierten vertraten gemäßigte Reformen und eine weitere enge Verbindung mit Wien, die parallele Anwendung der gemeinsamen, allSiehe § 21 der vorläufigen Regeln über die Gesetzgebung wie in Fn. 4. 1913 folgte der zweite gründlich überarbeitete Entwurf. Der fünfte Entwurf, welcher in der Literatur als der beste bezeichnet wird, entstand im Jahre 1927 unter der Leitung des Justizministers Bla Szszy. Siehe Magyar jogtörtnet, wie Fn. 4, 121 – 122. 7 Siehe E. Nizsalovszki, A zlogjogok s a telki teher nhny fökrdse [Hypothekenrecht], Budapest 1928, 34; E. Halmosy, Az ltalnos magnjogi törvnykönyvhez tervezete-dologi jog [Entwurf des ungarischen Allgemeinen BGB], Budapest 1882, 99; E. Gyo˝ri, ltalnos indokls a magyar magnjogi törvnykönyvhez [Allgemeine Begründung des ungarischen ABGB], Budapest 1880, 399; O. Szeibert, A zlogjog törtnete Magyarorszgon [Die Geschichte des Pfandrechts in Ungarn], in: A. Harmathy (Hrsg.), Jogi tanulmnyok [Rechtswissenschaftliche Studien], 1996, 171 – 172. 8 Im alten ungarischen Recht war die einheitliche Regelung des Pfandrechtes charakteristisch, ohne Rücksicht darauf, ob die verpfändete Sache beweglich oder unbeweglich war. Sowohl das ABGB als auch das BGB behandeln den ersten Fall als Pfandrecht und den zweiten Fall als Hypothekenrecht gesondert. Der Entwurf des ungarischen Zivilgesetzbuches aus dem Jahre 1900 nahm wie das ABGB und das BGB die Sonderregelung auf. Dies wurde aber auch dadurch unterstützt, dass in Ungarn die Sonderregelung des Grundbuchsystems, die die österreichische Regelung zum Vorbild hatte, schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Rechtsanwendung bestätigt wurde. Siehe: K. Szladits, Magyar magnjog V [Ungarisches Privatrecht], Budapest 1942, 682; O. Szeibert, A zlogjog törtnete Magyarorszgon [Die Geschichte des Pfandrechts in Ungarn], in: A. Harmathy (Hrsg.), Jogi Tanulmnyok [Rechtswissenschaftliche Studien], Budapest 1996, 173; J. Szalma, Hipoteka kao sredstvo obezbedjenja potrazˇivanja [Hypothek als Sicherungsmittel der schuldrechtlichen Forderungen], in: Pravo, teorija i praksa, Novi Sad, Nr. 3 – 4/1994, 38; ders., Pravni znacˇaj zemljisˇnjih knjiga i hipoteke [Rechtliche Bedeutung des Grundbuchsrechts und der Hypothek / des Pfandrechts], Zbornik radova VANU [Sammelband der Akademie der Wissenschaften der Woiwodina], VANU Novi Sad, 2007, 28 – 78; ders., Ingatlan-nyilvntarts – telekkönyvi jog s eljrs [Grundbuchsrecht in Ungarn, Österreich und in den Nachbarstaaten], ELTE llam- s Jogtudomnyi kar, Bibliotheca Iuridica, Budapest, 2005, 106 – 112. 9 Siehe Brauneder, wie Fn. 2, 155; M. Novak, Politische Grundrechte, 1988, 248 – 255, 289. 5 6
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gemeinen Rechtsnormen (zuerst auf dem Gebiet bestimmter öffentlicher Rechtsquellen) und der traditionellen ungarischen Rechtsquellen (zuerst im Bereich des Zivilgesetzes)10. In Ungarn und seinen Nebenländern unterstützte nicht nur die ungarische, sondern auch wesentlich die nichtungarische Bevölkerung die demokratischen Forderungen. Es gab aber Ausnahmen wie z. B. in Südungarn, das ab 1849 einige Jahre11 als sogenannte serbische Woiwodina bezeichnet wurde, wo neben mehrheitlich ungarischund deutschsprachigen Bürgern die in der Türkenzeit aus Serbien übersiedelte12 und vom österreichisch-ungarischen Monarchen kollektivrechtlich privilegierte serbische Minderheit lebte. Während die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung zur Zeit der ständischen Gesellschaft mit ständischen Steuern und bäuerlichen Verpflichtungen lebte, hatten die privilegierten Serben Selbstverwaltung, selbstständige Schulen, Bewegungsfreiheit, eigene Medien, Theater, Handelsfreiheit, öffentlichen Sprachgebrauch usw.13 Die serbische Minderheit fürchtete, dass sie nach der Verwirklichung der bürgerlichen Gleichberechtigungsbewegung auch ihre vorher eroberten Privilegien verlieren würde. Deswegen kämpften sie dagegen an. Sie beugten die ungarischen Gesetze, um sich auf ihrem Gebiet ausschließlich auf österreichisches Recht berufen zu können. Inzwischen wollten sie aber nicht die österreichische Gesetzgebung anwenden, sondern ihre eigene. Sie bekamen eine eigene Verfassung, territoriale Autonomie in allen Komitaten, in denen Serben lebten, unabhängig davon, ob sie örtlich in der Mehrheit oder Minderheit waren. Sie wollten ihre „serbische Woiwodschaft“14 in allen südlichen Komitaten, obwohl die Serben in diesen Gebieten weniger als 1/3 der gesamten Bevölkerung stellten15. 10 Siehe dazu, über spätere Vorschläge und Beratungen aus den Jahren 1850 – 1851: Ch. Neschwara, Die Geltung des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs in Ungarn und seinen Nebenländern von 1853 bis 1861, in: ZRG, Germ. Abt. 113 (1996), 362 – 376; Magyar jogtörtnet, wie Fn. 4, 123, das nähere ungarische Schrifttum für die Entwicklung des ungarischen Privatrechts: 207 – 214. Über die Geschichte der modernen europäischen Kodifikationen des Privatrechts siehe H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/3, München 1986. 11 Ab 4. März 1849 (aufgrund des Art. 72 der oktroierten Verfassung 1849) bis 27. Dezember 1860 (aufgrund des Aktes über die Auflösung der serbischen Woiwodschaft). 12 Siehe Z. cs, Nemzetisgek a törtnelmi Magyarorszgon [Nationalitäten im geschichtlichen Ungarn], 1986, 134 – 138; B. Hman/G. Szegfü, Magyar törtnet [Ungarische Geschichte], 1936; für die Daten im 19. und 20. Jahrhundert siehe K. Kocsis/E. Kocsisn Hodosi, Magyarok a hatrokon tffll a Krptmedencben [Ungarn außerhalb der Grenze im Karpatenraum], 1992, 21, 31, 64. 13 Siehe z. B. L. Krkljusˇ, Istorija politicˇkih i pravnih institucija Vojvodine [Politische Geschichte und Rechtsinstitutionen der Woiwodina], Novi Sad 1995, 53 f. 14 Krkljusˇ, wie Fn. 13, 59 – 73, 74 – 76. 15 Nach den Daten der Volkszählung aus den Jahren 1850 und 1857 in den südlichen ungarischen Komitaten bzw. der serbischen Woiwodina und dem Temescher Banat stellten die Serben einen Anteil von 20,4 % (mit 295.922 Einwohnern) an der Gesamtbevölkerung von 1.447.783. Die Einwohnerzahl der Deutschen betrug 354.431 (24,5 %), die der Ungarn 258.419 (17,8 %) und die der Wallachen (Rumänen) 404.909 (28,0 %). Es bestanden auch andere,
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In den Nebenländern, insbesondere in Südungarn, das ab 1849 einige Jahre als sogenannte „Woiwodina“ bekannt war, wurden die Regeln des ABGB länger angewendet, wobei sie ab 1861 parallel zu den ungarischen (Sonder-)Gesetzen galten. II. Das Gebiet Südungarns (der Woiwodina) Die südlichen österreichisch-ungarischen Komitate, die ab 1849 einige Jahre als Woiwodina (Woiwodina der Serben und Temeser Banat) bekannt waren, wurden 1861/67 zu einem Teil Ungarns und im Jahre 1918 teilweise dem ehemaligen Jugoslawien und teilweise Rumänien zugeteilt. Sie bestanden aus folgenden Komitaten: Bcs-Bodrog, Torontl, Syrmien (nach 1920 Gebiete des ehemaligen Jugoslawien) sowie Temes und Krass-Szörny (nach 1920 zu Rumänien gehörig). Sie hatten jedoch unterschiedliche administrative Organisationen, was nicht nur für die Verwaltung, sondern auch für die Gesetzesanwendung von Bedeutung war. Zwischen den Jahren 1767 – 1867 waren einige dieser Komitate unter ziviler, die anderen unter Militärgrenzverwaltung. Unter ziviler Verwaltung blieben die Komitate und die freien königlichen Städte. Die Komitate waren: das Komitat Bcs-Bodrog (Bcska), Torontl, Temes und Krass-Szörny und außerdem die privilegierten Distrikte von Theiss und von Kikinda. Die freien königlichen Städte waren: Szabadka16, Zombor17 (heute Sombor), Neoplanta/ jvidk/Neusatz18 (heute Novi Sad), die alle drei heute in Serbien liegen und Temesvr (heute Timisoara, Rumänien). In diesen Städten entstand eine örtliche Stadtverwaltung als Zivilverwaltung19. An der südlichen Grenze wurde das Militärgrenzgebiet zwischen den Jahren 1760 – 1770 unter der Verwaltung des Hofkriegsrates organisiert. Diese Gebiete waren administrativ verteilt als Territorien der Grenzregimente und zwar: das in Petrowaradein (Ost- und Südsyrmien), das deutsch-banatische Regiment (Südbanat), das Wallachische und wallachisch-illyrische-banatische Regiment (südöstlicher Banat). Diese Verwaltungseinteilung des Militärgrenzgebiets sowie die Militärgrenzkleinere Volksgruppen wie Kroaten, Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Italiener usw. Nach Konfessionen gezählt betrug die Zahl der Nichtorthodoxen (Katholiken und Reformierte wie Lutheraner, Calvinisten und Anglikaner) 50,9 % der gesamten Einwohnerzahl, wobei der Prozentsatz der Katholiken 44,45 % ausmachte, zum orthodoxen Glauben (serbische und rumänische Bevölkerung zusammen) bekannten sich 47,9 % der Bevölkerung. Siehe A. Hegedu˝s/ K. Cˇobanovic´, Demografska i agrarna statistika Vojvodine 1767 – 1867 [Demographische und argrarische Statistik der Woiwodina 1767 – 1867], Novi Sad, 1991, 113 – 115. 16 Siehe näher I. Ivnyi, Szabadka szabad kirlyi vros törtnete [Geschichte der freien königlichen Stadt Szabadka], Szabadka, 1894. 17 Ab 17. Februar 1794; siehe J. Muhi, Zombor törtnete [Geschichte der Stadt Zombor], Zombor, 1944, 107 – 119. 18 Aufgrund des Privilegia Liberae Regiaque Civitatis Neoplantiensis aus dem Jahre 1748. Siehe näher M. rdujhelyi, Ujvidk törtnete [Geschichte der Stadt Ujvidk], Rubicon 1990 (nach der ersten Auflage: Ujvidk 1894), 135 – 136. 19 Verantwortlich dem Consilium regium locumenentiale Hungaricum.
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gebiete an sich bestanden vorübergehend; in den Jahren 1873 und 1882 wurden sie – zuerst im Banat – aufgrund der GA XXII/1873 und XL/1882 nach dem Ausgleich 1867 aufgelöst. In Syrmien (Szermsg) wurde die Verwaltung, die Teil des Militärgrenzgebietes gewesen war, im Jahre 1881 an Kroatien übergeben20. Diese Verwaltungsorganisation, die zum größten Teil aus den genannten Territorien, verbunden mit zivilverwalteten Komitaten, bestand, wurde nur für die Periode der „Serbischen Woiwodina und des Temeser Banats“ in der Zeit von 1849 – 1861 aufgelöst, da in dieser Zeit die Komitate (megyk) aufgehoben und durch Bezirke als neue territoriale Organisation mit Zentren in Temesvar (heute Timisora, Rumänien), Lugas, Nagybecskerek (Großbetscherek, heute Zrenjanin, Serbien), Zombor (heute Sombor, Serbien) und jvidk/Neusatz (heute Novi Sad, Serbien) ersetzt worden waren21. Diese Änderung der Verwaltungs- und Territorialorganisation spielte eine bedeutende Rolle in der territorialen Anwendung und hinsichtlich der Quellen des bürgerlichen Rechts. III. Das ABGB, die ungarischen Sondergesetze sowie die Kodifikationsentwürfe 1. Einführung und Anwendung des ABGB Die Einführung des ABGB im ehemaligen (geschichtlichen) Ungarn fand mit dem Kais. Patent vom 29. November 1852 statt22. Das ABGB trat mit dem 1. Mai 1853 in Kraft und blieb es in den engeren ungarischen (auch südlichen) Territorien bis zur Entscheidung der ungarischen Judexcurialkonferenz über die Anwendung der ungarischen Gesetze, die sie mit 23. Juli 1861 außer Kraft setzte. Im Sinne dieser Entscheidung23 blieben die Regeln des ABGB bis zur weiteren Entscheidung des ungarischen Parlaments über die Rechtsverhältnisse, die mit den Grundbuchsnormen vom 15. Dezember 1855 verknüpft waren, insbesondere über den Erwerb des Grundeigentums, in Kraft. Das genannte Gesetz24 blieb durch die Verordnung des Justizministers über das Inkrafttreten des GA LIV/186825 in Kraft. Dies bedeutete mit der Einbeziehung Ungarns und seiner Nebenländer in den Gesamtstaat ab 1849, dass das ABGB in den Jahren 1852/53 hier in Geltung trat; wobei es in Ungarn 1861 wieder außer Kraft trat, in den Nebenländern aber in Geltung blieb26. 20 Siehe Hegedu˝s/Cˇobanovic´, wie Fn. 15, 275; A. Csizmadia/K. Kovcs/L. Asztalos, Magyar llam-s jogtörtnet, Budapest 1975, 472 – 473; A. Törtnelmi, Kartogrfiai vllalat, Budapest 1988, 34. 21 ˇ obanovic´, wie Fn. 15, 17. Siehe Hegedu˝s/C 22 RGBl. Nr. 246/1852. 23 I. R. 1861, §§ 21 und 156. 24 I. R. wie Fn. 23, § 156. 25 Magyar Törvnytr, wie Fn. 2, XIX/1869. R. t., 222. 26 Neschwara, wie Fn. 10, 376.
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Das in Durchführung des Kais. Patentes vom 9. Juni 187227, betreffend die Umwandlung des Banatischen Militärgrenzgebiets und des Titelischen Regiments in Zivilverwaltungseinheiten, erschienene Gesetz von 1873 (GA XXVII/1873) sah im Rechtspflegebereich (Justiz) die prinzipielle Weitergeltung der bisherigen Regeln vor28. Das Grundgesetz (offene Kais. Verordnung) vom 7. Mai 185029 ordnete an, dass das ABGB in den Militärgrenzgebieten in Kraft trete, so dass es auch nach der rechtlichen Neuordnung der Jahre 1872/73 in Geltung blieb, allerdings nur bis zum Inkrafttreten der von diesem Zeitpunkt an erlassenen neuen ungarischen Privatrechtsgesetze30. Die neuen ungarischen Gesetze ab 1872/73 galten auch ausnahmslos in den ehemaligen Militärgrenzgebieten und ersetzten in ihrem jeweiligen Regelungsbereich die Vorschriften des ABGB. Dementsprechend wurden in diesen Gebieten die Regeln des ABGB in der modifizierten Form der späteren Gesetze angewendet31. Aufgrund der GA XXXII/1876 und I/1877, durch die in den Jahren 1876/77 eine neue territoriale Organisation eingeführt wurde, blieb das ABGB in bestimmten Orten der ehemaligen Militärgrenzgebiete in Kraft. Dies bedeutete, dass im Gebiet der Novisader Gerichtszuständigkeit, im Bereich des Josephdorfer (Jzseffalva/Zsablya) Bezirksgerichts, auf dem ganzen Territorium des titelischen Bezirksgerichts und des Bezirksgerichts in Pantschewo (Pancsova) sowie in einigen südlichen Orten das ABGB weiter angewendet wurde32, während im restlichen Territorium der Autonomen Provinz Woiwodina die ungarischen Gesetze in Kraft waren.
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Magyar Törvnytr, wie Fn. 2, 1872, R. t. 210 l. und 1873, R. t. 484 l. I. R. wie Fn. 23, § 10. 29 RGBl. Nr. 243/1850, 981. 30 Mit Ausnahme der Militärgrenzgebiete in Südungarn traten die ungarischen Gesetze schon am 22. Juni/23. Juli 1861 aufgrund der Entscheidung des ungarischen Parlaments und des Beschlusses des Obersten Gerichtshofes (Curia) in Kraft. Siehe z. B. F. Raffay, A magyar magnjog kzikönyve [Handbuch des ungarischen Privatrechts], ltalnos rsz, szemlyjog s csaldjog I [Allgemeiner Teil, Personen- und Familienrecht], 3. Aufl., Gyo˝r 1909, 64: „In den zivilisierten Militärgrenzgebieten wurde das ABGB als Codex angewendet, welcher die Stelle der neuesten Gesetze einnahm“; Szladits, Magyar magnjog I, Budapest 1941, 88 – 92; A. Dauscher, Das ungarische Civil- und Strafrecht nach Beschlüssen der Judexcurial-Conferenz, 2. Auflage, 1862; M. Füger von Rechtborn, Das alte und neue Privatrecht in Ungarn, Hermannstadt 1858, 2. Aufl. 1865; K. Putz, System des ungarischen Privatrechts, Wien 1870. 31 Siehe näher das Vorwort von D. Mrkus zum ABGB in: Az Osztrk ltalnos Polgri Törvnykönyv mai rvnyben [Gegenwärtige Geltung des ABGB], Budapest 1907, 3 – 4. 32 Siehe Mrkus, wie Fn. 31, 10; Szladits, wie Fn. 30, 5 – 105 (über die Entwicklung des ungarischen Privatrechts), 79 – 87 (Anwendung des österreichischen Rechts), 93 (besondere Privatrechtsgebiete des geschichtlichen ungarischen Staates); B. Grosschmid (Zsögöd), Magnjogi eloadsok, I. kötet: Jogszablytan, Budapest 1905, 913 – 934. 28
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2. Ungarische Gewohnheitsregeln, Sondergesetze sowie die Kodifikationsentwürfe In der oben angeführten Weise, Umfang und Zeitraum wurden in den südlichen Komitaten neben dem ABGB auch die ungarischen Rechtsquellen zur Anwendung gebracht. Die ungarischen Rechtsquellen waren in verschiedenen Perioden zuerst (kodifizierte) Rechtsgewohnheiten (z. B. Werbo˝czys Tripartitum aus dem Jahre 151433), die stufenweise als Folge der Wirtschaftsentwicklung partiell (wie z. B. das ungarische Handelsgesetzbuch aus dem Jahre 1875) oder ganz kodifiziert wurden, dann gesetzliche Regelungen (Familiengesetz aus dem Jahre 189434) sowie die Rechtsprechung, die einerseits unmittelbar eine Rechtsquellenrolle hatte, andererseits leistete sie mit ihren Lösungen einen Beitrag zur Kodifikation des bürgerlichen Rechts, wobei partielle Kodifikationentwürfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind, und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ab 1900, entstanden vollständige Kodifikationsentwürfe des Bürgerlichen Gesetzbuches, der letzte aus dem Jahre 1928. Die ursprünglichen Quellen waren zuerst Rechtsgewohnheiten, inklusive zivilrechtlicher Normen der spätmittelalterlichen Edictum- und Gute Sitten-Kodifikationen. Die berühmteste war Werbo˝czys Tripartitum iuris consuetudinarii regni Hungariae. Diese Kodifikation entstand 1514, sie wurde erstmals 1517 in Wien in Latein veröffentlicht, in ungarischer Sprache erfolgte die erstmalige Ausgabe in Kolozsvr im Jahre 153235. Die späteren Sittenrechtskodifikationen von Jnos Zsmboki/Johannes Sambucus, aus dem Jahre 1581 und der Szentivnyis Corpus iuris seum decretum generale aus dem Jahre 1696, wurden als Affirmationsversuche des Zivilrechts bewertet36. In diese Richtung bewegten sich am Anfang des XVIII. Jahrhunderts auch die Zivilrechts-Kodifikationsversuche der Commissio Systematica und in den Jahren 1790/
33 Siehe z. B. Istvn Verbo˝czy, Tripartitum, Tka Könyvkiad, Budapest, 1990, Einleitung von Istvn Gazda, XIV-XXXII. 34 A hzassgi jogrl szl 1894. vi XXXI törvny (XXXI. Gesetz über das Eherecht aus dem Jahre 1894); A gymsgi s gondnoksgi ügyek rendezsro˝l szl 1877. vi XX. törvny (XX. Gesetz über Vormundschaft aus dem Jahre 1877); Siehe z. B. O. Csiky/E. Fil, Csaldjog I (Familienrecht), 2. Aufl., Pcs, 1999, 8; G. Jobbgyi, Timea Heinern Barz, Csaldi jog, Novotni Kiad, Miskolc, 1998, 28. 35 Siehe dazu: Werboczy Istvn Hrmaskönyve (= Corpus Iuris Hungarici. Magyar Törvnytr), Budapest 1897, XXXIII; G. Bnis, A hrmaskönyv, und I. Gazda, Szerkesztoi elo˝sz az fflj kiadshoz, Törtnszek Werbo˝czyro˝l, in: I. Werbo˝czy, Tripartitum, Budapest 1990, VII, X, XIV etc. Über den römisch-rechtlichen Einfluss auf Werbo˝czys Kodifikation siehe R. Brsz/E. Play, Rmai jog, Budapest 1976, 92 § 216. Spätere Modifikationen erschienen im XVI. Jahrhundert unter dem Titel Quadripartitum. 36 Siehe näher: Csizmadia/Kovcs/Asztalos, wie Fn. 20, 199.
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1795 das Projectum Legum Civilium und das Opinio des Parlamentsausschusses aus dem Jahre 182737. Die nächste Rechtsquellenentwicklungsstufe enthielt GA X/1791 über die Anwendung der ungarischen Gesetze und Rechtsgewohnheiten, dadurch wurden ab diesem Zeitpunkt in den ungarischen Ländern die gesetzlichen Regelungen und Sitten parallel, nach bestimmten Anwendungsbereichen, angewendet38. Die Regeln des ABGB39 bestimmten mit Recht, dass auf Gewohnheiten40 nur in den Fällen Rücksicht genommen werden kann, wenn sich ein Gesetz darauf beruft. Bezüglich der Provinzialstatuten des ABGB41 wurde weitgehend vorgeschrieben, dass nur jene Statuten der einzelnen Provinzen und Landesbezirke Gesetzeskraft haben, die nach Kundmachung dieses Gesetzes von dem Landesfürsten ausdrücklich bestätigt wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1918 entstanden einzelne für das Wirtschaftsleben wichtige Partial-Zivilrechtskodifikationen (Sondergesetze). Vor der ersten ungarischen Wechselordnungskodifikation hat der GA XVII/1792 (De qualiter effectuandis Sententiis Compsorialium Judiciorum, et Fororum Haereditarium, quibus se quis sponte subjecit) die Anwendung und Vollstreckung der Auffassungen der österreichischen Wechselgerichte angeordnet42. Der erste ungarische Kodifikationsversuch für das Wechselrecht erfolgte 1779, der zweite 1839, der dritte Entwurf aus dem Jahre 1840 erlangte dann auch Gesetzeskraft43. Die neue Fassung des ungarischen Wechselgesetzes trat aufgrund des GA XXVII vom 1. Jänner 1877 in Kraft44. Der 1847 in Leipzig u. a. von H. Thöl, K. Einert und F. Liebe mitgestaltete Entwurf einer Allgemeinen Deutschen Wechselordnung beeinflusste auch die neuesten Wechselgesetze, so z. B. das österreichische Wechselgesetz. Das neue un-
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Siehe Indokls a Polgri Törvnykönyv Tervezethez I [Begründung des UBGB], Budapest 1914, 1 – 2. 38 Ebda. 39 § 10 ABGB. 40 Die Literatur zum § 10 ABGB versteht unter Gewohnheiten einerseits den „natürlichen“ Ausdruck des im Volksbewusstsein lebenden Rechts, was in „früheren Zeiten von großer Bedeutung war und später zu einer fruchtbaren Quelle, aus der die Gesetzgebung schöpfte wurde“, andererseits wurde sie als „Ausübung“, bloßer wiederkehrender gleichförmiger Handlungen aufgefasst und diente „zur näheren Bestimmung des im Gesetze zuerkannten Rechts (§§ 501, 549, 1029 und 1109)“, weiterhin unter denen „eine lokale Sitte als Mittel der Auslegung von Verträgen“. Siehe M. v. Stubenrauch, Commentar zum bürgerlichen Gesetzbuche I, 8. Aufl., Wien 1902, 44. 41 § 11 ABGB. 42 Siehe Magyar Törvnytr 1836 – 1868, wie Fn. 2, 109. 43 Siehe den Text des Gesetzes in: Magyar Törvnytr 1836 – 1868, wie Fn. 2, 109 – 145, unter dem Titel: 1840 XV törvnycikk a vlttörvnykönyvro˝l. 44 Siehe I. Apthy, Alaki s anyagi vltjog, Budapest 1877, 38 – 50.
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garische Wechselgesetz von 1876 rezipierte mit kleinen Änderungen den deutschen Entwurf von 184745. Für die Wirtschafts- und Gesetzgebungsentwicklung Ungarns war die Kodifikation des Handelsrechts von großer Bedeutung: Das Gesetz vom 16. Mai 1875 über den Handel (GA XXXVII/1875) trat in Ungarn am 1. Jänner 1876 und in Kroatien und Slawonien am 1. Jänner 1880 in Kraft46. Die Kodifikation des Handelsrechts wurde durch die Sondergesetzgebung im Handelsrecht während der Szchnyi-Reformperiode (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) 1840 mit einer Serie von Gesetzen vorbereitet: So z. B. das schon erwähnte Wechselgesetz (GA XV), das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Betriebe (GA XVI), das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der offenen Handelsgesellschaften (GA XVII), das Gesetz über Handelskörperschaften (GA IX), das Gesetz über Transport (GA XX) und schließlich das Gesetz über Konkurs (GA XVII)47. In diesem Zeitraum wurden auf dieselbe Weise mit Sondergesetzen48 und 1885 durch Kodifikation49 auch die Wasserwirtschaftsverhältnisse kodifiziert. Der erste ungarische Handelsgesetzentwurf entstand zwischen 1779 und 1786 als Werk des Königlichen Obersten Ungarischen Gerichtshofs (Curia), doch nahm das Parlament in der Sitzungsperiode 1791/92 diesen Kodifikationsentwurf nicht an und setzte eine Kommission zur Überprüfung und Weiterentwicklung des Entwurfs ein, die sich aber für eine vorübergehende Zuständigkeit der österreichischen Handelsgerichte für ungarische Handels- und Wechselstreitigkeiten entschied50. Die Rechtsgrundlage zur Kodifikation des ungarischen bürgerlichen Rechts befindet sich im GA XV/1848. Der erste Absatz dieses Gesetzes regelte die Aufhebung (Löschung) der Avitizität, und der zweite Absatz beauftragte das ungarische Justizministerium ein Zivilgesetzbuch auszuarbeiten und diesen Entwurf der nächsten Par-
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Siehe G. Bozki, Magyar vltjog, Pcs 1929, 48. Das Gesetz wurde von Universitätsprofessor Dr. Istvn Apthy, Budapest, aufgrund des Auftrags des ungarischen Handelsministeriums in den Jahren 1872/73 vorbereitet. Siehe den Text des Gesetzes: K. Grecsk, A Kereskedelmi törvny kzikönyve (= Jogi zsebkönyvek gyu˝jtemnye XI), Budapest, ohne Jahreszahl, 2. Aufl. 1912. 47 Siehe den Text der Gesetze: Magyar Törvnytr 1836 – 1868, wie Fn. 2, 109 – 174; Über die Geschichte des ungarischen Handelsrechts siehe F. Nagy, A magyar kereskedelmi jog kzikönyve, különös tekintettel a bri gyakorlatra s a külföldi törvnyhozsra, 6. Aufl., Budapest 1904, 19 – 25. 48 Z.B. GA XVII/1807 und GA XXXVI/1836. Diese Gesetze schufen die Voraussetzung für den Hochwasserschutz und für die intensivere Bewirtschaftung der Landwirtschaft. 49 GA XXIII/1885 über Wasserrechte. Orszgos Törvnytr [Gesetzblatt Ungarns] vom 23. Juli 1885. 50 Siehe näher: T. Kun, A trsasgi jog rövid törtnete [Kurze Geschichte des Handelsrechts], in: T. Kun/T. Srközy (Hrsg.), A trsasgi törvny, magyarzatokkal s iratmintkkal, Budapest 1988, 25 – 26, 24 – 39. 46
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lamentsversammlung vorzulegen51. Infolge der Ereignisse konnte das beauftragte Justizministerium die Erwartungen nicht erfüllen. Der in den Jahren 1852/53 erlassene Befehl, die Anwendung des ABGB in Ungarn einzuführen, half einerseits, die bestehenden Rechtsunsicherheiten zu vermindern, andererseits störte das die Evolutionskontinuität zwischen der alten und der neuen Rechtsentwicklung. Als im Jahre 1861 (22. Juni/23. Juli) die Kontinuität der ungarischen Gesetzgebung wiederhergestellt wurde, und die alten ungarischen Gesetze wieder anzuwenden waren, zeigte es sich, dass die alten Gesetze, mit Ausnahme des Familien- und Erbrechts, den wirtschaftlichen Bedürfnissen, besonders auf dem Gebiete des Sachen- und Obligationenrechts, nicht mehr entsprachen. Diese Umstände verstärkten die Tendenzen zur Erweiterung der Reform des ungarischen Zivilrechts52. Die ersten Kodifikationsversuche des ungarischen Zivilrechts begannen schon 1871. Zuerst entstand der Entwurf für den Allgemeinen Teil des UABGB, dem folgte zwischen den Jahren 1880 – 1885 die Partialkodifikation, die das ganze Zivilrecht mit Ausnahme des Familienrechts umfasste. Das Familienrecht wurde im Jahre 1892 beendet und trat teilweise auch in Kraft53. Die ständige Kommission für die Kodifizierung des ungarischen Zivilrechts formierte sich im Jahre 1895, welche den schon erwähnten Entwurf für das Allgemeine Ungarische Zivilgesetzbuch im Jahr 1900 vorbereitet hatte54. Der Entwurf für das Allgemeine Ungarische Zivilgesetzbuch, entstand am Ende des 19. Jahrhunderts (um das Jahr 1900)55. Wie schon erwähnt wurde dieser Kodifikationsentwurf nicht nur durch authentische Elemente und Einflüsse des ABGB, sondern auch im Konzept und Inhalt wesentlich vom BGB 1896 beeinflusst. In der Materie des ehelichen Errungenschaftsrechts und im Eherecht dominierten die traditionellen ungarischen Rechtsregeln, aber im Obligationenrecht bemerkt man den Einfluss des BGB, des französischen Code civil vom 15. März 1803 und des Schweizer Obligationenrechts56 vom 14. Juni 188157. Seine wichtigsten Autoren waren Szszy 51 Siehe Indokls a polgri törvnykönyv törvnyjavaslathoz I [Begründung zum Entwurf des ungarischen BGB], Budapest 1914, 3. 52 Aus der Begründung des Entwurfs des UBGB von 1914: siehe Fn. 37, 3 – 4; siehe auch: K. Szladits, A magnjog fogalma, fejlo˝dse s tudomnya, in: Szladits, wie Fn. 30, 88; A. Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I/I, Wien 1925, 34/IV, 36. 53 A hzassgjogi törvny [Gesetz über Familienrechte], oder GA XXXI/1894 über die Zivilehe; die Vorarbeiten waren von Dr. Bni Grosschmid (Zsögöd). Siehe die Ausgabe: A hzassgjogi törvny, Budapest 1908, 807 – 827. 54 Ebda, 460 – 461. 55 Siehe den Text in der Ausgabe: Indokls a magyar ltalnos polgri törvnykönyv tervezethez I und IV [Begründung zum Entwurf des Ungarischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches], Budapest, 1901/1902. 56 Bundesgesetz über das Obligationenrecht (in Kraft getreten am 1. Jänner 1883). Über die Enstehung siehe Th. Guhl, Das schweizerische Obligationenrecht, 7. Auflage, (in der Bearbeitung von H. Merz/M. Kummer), Zürich 1980, 1/I; Th. Guhl, Das schweizerische Obligationenrecht, bearbeitet von Alfred Koller, Anton K. Schnyder, Jean Nicolas Druey, 9. Aufl., Zürich 2000, 1 – 6; siehe den Text: Obligationenrecht vom 30. März 1911, Bern 1984; Sˇvaj-
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und Schwarz, die das Schrifttum als Iherings Schüler bezeichnet. Die Ähnlichkeit mit den großen zeitgenössischen Kodifikationen beruhte nicht nur auf einem bloßen Einfluss, sondern war auch eine Folge der Übereinstimmung wirtschaftlicher Entwicklungsmotive mit der Tradition des Gemeinen (römischen) Rechts. Obwohl dieser Entwurf nicht in Kraft trat, beeinflusste er die Judikatur doch wesentlich. Der zweite Entwurf des ungarischen Zivilgesetzbuches entstand im Jahre 1913, die dritte Überarbeitung folgte im Jahre 1914 und die vierte im Jahre 1916. Alle Entwürfe erfolgten im Auftrag des Justizministeriums in den entsprechenden parlamentarischen Kommissionen, doch es trat keiner in Kraft. Nur die III. Version war im wesentlichen zur Gänze auch im ungarischen Parlament durchdiskutiert worden. Von den Partialgesetzesentwürfen wurde neben dem Entwurf über die Familienrechte nur noch der Erbrechtsteil58 im ungarischen Parlament erörtert. Der Entwurf versuchte die Reform des traditionellen ungarischen Erbrechtssystems, aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die ihn trotz der Modifikationen durch die vorschlagende Kommission als den allgemeinen Interessen widersprechend ansah, widerrief der Justizminister das ganze Gesetzesprojekt59. Die Literatur bewertete den unter der Leitung des Staatssekretärs Bla Szszy erschienenen Kodifikationsentwurf des ungarischen Zivilgesetzbuches aus dem Jahre 1928 als den besten. Dieser berücksichtigte neben dem bestehenden ungarischen Privatrecht auch das schweizerische ZGB. Nicht selten wandte die Rechtsprechung diesen Entwurf direkt an und berief sich auch in den Entscheidungsbegründungen auf ihn. Trotzdem war das Gesetz formell nie in Kraft getreten. Es stellt sich die Frage, warum während des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein eigenes Zivilgesetzbuch in Ungarn eingeführt wurde. In der Literatur werden folgende Ursachen erwogen: • Die Grundprinzipien des ABGB, die auch noch 1861 in der Rechtsprechung zur Anwendung kamen, bewahrten die Rechtsprechung vor großen Schwankungen. • Die (verfassungsrechtliche) Möglichkeiten für einen eigenen Zivilrechtskodex waren erst nach 1867 gegeben und eine eigene Kodifikation wäre erst am Ende des 19. Jahrhunderts, parallel mit der Kodifikation des deutschen BGB, möglich gewesen. • Die neue Generation der Juristen war an die Anwendung des ABGB gewöhnt und es setzten sich auch keine politischen Kräfte für die Einführung eines ungarischen ZGB ein. Daneben gab es die Auffassung, dass die Regeln im Privatrecht notwendigerweise konservativ und rechtshistorisch bedingt waren.
carski Zakonik o obligacijama, mit einer Einleitung von Prof. Dr. Mihailo Konstantinovic´, Beograd 1976, 4. 57 Siehe z. B. Csizmadia/Asztalos/Kovcs, wie Fn. 20, 461. 58 Als Kodifikationswerk von Teleszky aus dem Jahre 1886/87. 59 Siehe Csizmadia/Kovcs/Asztalos, wie Fn. 20, 461.
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• Nach 1920 war das alte ungarische Privatrecht in den ehemaligen ungarischen Nebenländern in Kraft geblieben und man wollte durch die Annahme des Entwurfs nicht gerade von Ungarn aus die Ursache für eine einseitige Veränderung der Rechtseinheit im Zivilrecht setzen60. Eine wichtige Rechtsquelle war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Rechtsprechung des ehemaligen Obersten Gerichtshofes Ungarns (Curia) und die gerichtliche Rechtsanwendung insgesamt. Beide dienten nicht nur dem Schutz der subjektiven Rechte, sondern haben als flexible Rechtsquelle auch wesentlich zum Ausbau der Normen des bürgerlichen Rechts nach neuen wirtschaftlichen Bedürfnissen beigetragen61. Diese Rechtsprechung war mehrmals auch von den Regeln des ABGB inspiriert62. Die Anwendung des ABGB erfolgte parallel, mit bestimmter territorialer und personaler Gültigkeit, oder suppletorisch mit den ungarischen Gesetzen. Im Zeitraum der Einbeziehung Ungarns in den Gesamtstaat 1852/53 – 1861 schloss das ABGB zwar die Rechtsgewohnheiten63 nicht mit eigenen Bestimmungen aus, jedoch galt in der Praxis das ABGB in Hinsicht auf die ungarischen Gesetze nur als eine vorübergehende lex specialis64. Zwar wurde das ABGB zuerst parallel mit den alten ungarischen Rechtsquellen angewendet, aber durch die Entscheidung des ungarischen Parlaments über die Anwendung der ungarischen Gesetze65 vom 22. Juni 1861 wurde auch die sukzessive Einführung einzelner ungarischer Zivilgesetze ermöglicht. Diese änderten sich während der folgenden Jahrzehnte in einer Weise, aus der das Streben nach einer modernen Zivilrechtskodifikation erkennbar wird. Das ABGB war zwischen den Jahren 1849/53 – 1861 in ganz Ungarn in Geltung und wurde ab 1861 in bestimmten Gebieten der südungarischen Komitate bzw. Woiwodina gemeinsam mit ungarischen Rechtsquellen als positives Recht angewendet. Damals, wie auch vorher, war die ganze heutige Woiwodina (Bcska, Bnt, Syrmien) Bestandteil des österreichisch-ungarischen Reiches bzw. des geschichtlichen Ungarns.
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Mezey, Magyar jogtörtnet, wie Fn. 4, 123. Siehe Csizmadia/Kovcs/Asztalos, wie Fn. 20, 461 unter c); Nach der Veröffentlichung des UABGB, berief sich schon die Rechtsprechung der ungarischen Curia in ihrem Spruch auf bestimmte Regeln des UABGB-Entwurfs. Siehe dazu z. B. K. Grecsk (Hrsg), Magyar Döntvnytr, Budapest 1904, 131 – 219 [Die Rechtsprechung über Obligationen]. 62 Siehe A. Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I/I, Wien 1925, 36; für die ungarische Literatur: 36, Fn. 37. 63 Wie aus dem Inhalt und Sinn des unveränderten § 10 ABGB folgt. 64 Nämlich das erwähnte Patent (wie Fn. 22). 65 Und aufgrund der Erklärung des Obersten Ungarischen Gerichtshofs vom 23. Juli 1861. Siehe: Szladits, wie Fn. 30, 88 – 89. 61
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IV. Ausgaben des ABGB Es bestanden mehrere Ausgaben des ABGB, welche in den ungarischen Nebenländern (auch in Südungarn bzw. der Woiwodina) zur Anwendung kamen. Einige waren offizielle Veröffentlichungen des ABGB, die anderen private Ausgaben, die in der landesüblichen Sprache erschienen. 1. Mehrsprachigkeit Das ABGB erfuhr verschiedene Übersetzungen, wobei die amtlichen zuerst als Territorialrecht dienten und später von der Rechtsprechung als rezipiertes Recht verwendet wurden, die anderen Übersetzungen dienten rechtsvergleichenden Studien. Diese Übersetzungen beeinflussten offensichtlich mehrmals die Gesetzgebung der „Nachfolgestaaten“. Übersetzungen des ABGB wurden nicht nur auf dem Territorium Österreichs oder seiner Länder zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Rollen veröffentlicht, sondern auch im Ausland. So entstand eine französische Ausgabe schon sehr früh im Jahre 1836 in Paris (Alexandre de Clerq, Code Civil gnral de lempire dAutriche, Pairs 1836), aber auch eine englische (Josef Maximilian Winiwarter, General civil code all the german hereditary provinces of the Austrian monarchy, Wien 1865 und 1866)66. Eine spätere französische Ausgabe (Code Civil Gnral Autrichien, Vienne 1947) wurde für Lösungen juristischer Probleme seitens des „Haut Commisariat de la Rpublique FranÅais en Autriche“ 1947 verlegt.67 Das ABGB erschien als offizielle oder private Übersetzung in fast jeder Sprache, die in der ehemaligen Österreichischen Monarchie verwendet wurde, jedoch nicht immer gleichzeitig mit dem Originaltext. So erfolgte z. B. die offizielle lateinische Übersetzung erst 1817 (Codex civilis universialis pro omnibus terris hereditariis germanicis imperii austriaci, Vienae 1817 vorgelegt von Winiwarter), die italienischen – amtlichen und privaten – Übersetzungen und Kommentare ab 1814 (Codice civile universale, Venezia 1814; die erste offizielle Ausgabe: Codice civile generale Austriaco, edizione seconda e sola ufficiala, Milano 181568; eine weitere von 1816 usw.)69. Berühmt ist die private Ausgabe von Guntramo Haemmerle (Manuale del Codice Civile Austriaco, Innsbruck 1872)70 und die Ausgabe mit demselben Titel und mit umfangreichen Erläuterungen von 1879 bis 191371. Weiters bestehen mehrere un66 Siehe W. Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, 238 – 239. 67 Ebda, 239. 68 Siehe G. Haemmerle, Manuale del Codice civile universale Austriaco I, Innsbruck 1872, 12 (Patente di Promulgatione). 69 Siehe näher Brauneder, wie Fn. 66, 236. 70 Ebda. 71 Siehe H. Klang/F. Gschnitzer, Kommentar zum ABGB I/I, Wien 1964, 22.
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garische oder ungarischsprachige Ausgaben72. Die Übersetzungen umfassten auch die slawischen Sprachen Mitteleuropas: Kroatisch, Slowenisch, Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch und Serbisch. Es gab auch jeweils eine hebräische und eine rumänisch-kyrillische Ausgabe73. Die Mehrsprachigkeit der wichtigsten Gesetze war damals ein bedeutendes positives Ereignis und eine Besonderheit des mitteleuropäischen Raums. In den einzelnen Sprachen gab es oft mehrere Ausgaben. Die offizielle Ausgabe begleiteten mehrmals die privaten, die Textkorrekturen enthielten. Häufig bestanden bei diesen Ausgaben Zweifel, welcher Art die Übersetzung war: die authentische bzw. der „Originalübersetzungstext“, d. h. die amtliche Übersetzung im Reichsgesetzblatt, und wie das Verhältnis der anderen, „privaten“ Übersetzungen zur amtlichen Übersetzung bzw. zum authentischen deutschen Text war. Dazu muss man die Geschichte der Funktion der damaligen Gesetzblätter und die Bestimmungen des ABGB über die zeitliche Geltung der Zivilgesetze erwähnen. Das älteste Gesetzblatt war die „Justizgesetzsammlung“ (1780 – 1848). Die Gesetze, die hier veröffentlicht wurden, erhielten eine allgemeine Geltung. Die politischen Verordnungen enthielt die „Politische Gesetzessammlung“ (1791 – 1848), die Provinzialgesetze hatten ihren Platz in der „Provinzialgesetzessammlung“ und enthielten verschiedene Verordnungen und Gesetze verschiedener Provinzen (1818 – 1848). Vom 2. Dezember 1848 an erschien das „Reichsgesetzblatt“ und die „Landesgesetzblätter“. Das erste enthielt die Gesetzesregeln mit allgemeiner Geltung für den ganzen Staat, das zweite nur die Gesetze, die in einzelnen Ländern Anwendung fanden. Das Reichsgesetzblatt wurde am Anfang bis zum Jahre 1853 in allen Sprachen der im Reichsrat vertretenen Nationen des Reiches veröffentlicht. Alle Textausgaben der Gesetze hatten gleichen authentischen Wert. Zwischen 1853 und 1869 erschien das Reichsgesetzblatt nur in deutscher Sprache. Das Gesetz vom 10. Juni 1869 schrieb vor, dass das Reichsgesetzblatt in allen Sprachen, die im Königreich und in den Ländern des Reichsrats verwendet wurden, herausgegeben werden sollte, wobei der deutsche Text als der authentische galt und die anderssprachigen dienten als seine amtlichen Übersetzungen. Falls Zweifel bestanden, war die deutsche Textausgabe maßgebend74.
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Siehe unten IV.2.a). Siehe näher Brauneder, wie Fn. 66, 236 – 238. 74 Siehe näher, Script: Opc´i dio austrijskog privatnog prava, izd. Drusˇtvo sveucˇilisˇnih gradjana, Zagreb 1910, 34 – 35; F. Starr, Vollständiges Sach- und Nachschlage-Register zum österreichischen Reichsgesetzblatte von dessen Beginn 1849 bis zum Schlusse des Jahres 1880 nach Materien chronologisch geordnet, 3. Aufl., 1848 – 1880; K. Merfort/M. Hofer, Alphabetisches Nachschlageregister zu den österreichischen Reichsgesetzen, Landesgesetzen und Verordnungen, 1908; J. M. R. v. Winiwarter, Handbuch der Justiz- und politischen Gesetze und Verordnungen, welche sich auf das ABGB beziehen, 3. Aufl., 1844; A. Th. Michel, Handbuch des allgemeinen Privatrechts für das Kaisertum Österreich, 2. Aufl., Wien u. a. 1856; C. Frühwald, Die österreichische Civiljustiz-Gesetzgebung in den Jahren 1870 – 1880, Wien 1880. 73
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In den verschiedenen Ländern kam das ABGB zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Geltung. In den verschiedenen Ländern galten die Übersetzungen gemäß der gesetzlichen Vorschriften der Übersetzungstexte mit dem Zeitpunkt, in dem das ABGB im jeweiligen Land als positives Recht zur Anwendung kam. In der folgenden näheren Analyse werden die ungarischen, kroatischen, serbischen und die sogenannten kroato-serbischen Übersetzungen/Ausgaben behandelt. 2. Übersetzungen und Ausgaben in den Nebenländern a) Ungarische Ausgaben und Übersetzung Obwohl die „Rechtsvereinheitlichung durch das ABGB sich (…) auf die nichtungarischen Länder des Kaisertums Österreich beschränkt“75, entstanden die ersten ungarischen Übersetzungen des ABGB (selten aber) relativ früh, zuerst in den historischen ungarischen Erbländern, wo das ABGB als rezipiertes Recht nach 1861 Fortgeltung hatte76. Diese Übersetzungen erschienen nicht als „offizielle“, dienten aber der Rechtsprechung. Offizielle ungarische Übersetzungen (im engeren Sinne des Wortes) bestehen nach der Meinung zeitgenössischer ungarischer Autoren77 nicht, weil nach ungarischen Gesetzen aus dem Jahre 188678 nur solche Gesetze das öffentliche Vertrauen 75 Brauneder, wie Fn. 66, 242, 207 (B/1); D. Heymann, Das ungarische Privatrecht und der Rechtsausgleich mit Ungarn, Tübingen 1917, 31, 51; A. Almsi, Ungarisches Privatrecht I, Berlin 1922, VIII–X; A. Tettleni/Feles, Az ausztriai ltalnos polgri törvnykönyv commentrja [Kommentar zum österreichischen ABGB], Budapest 1894, 5; Az osztrk ltalnos polgri törvnykönyv, kivlbb magyar s osztrk magnjogi irk müvei nyomn magyarz jegyzetekkel ellttk: Harmath Jeno˝, kir. jrsbr s Szo˝lo˝si Ödön, ügyvd [Das österreichische ABGB mit Kommentaren nach den berühmtesten ungarischen und österreichischen Autoren des Privatrechts mit erläuternden Bemerkungen versehen von Jeno˝ Harmath, kgl. Richter, und Ödön Szo˝lo˝si, Anwalt], Budapest 1908, 6 – 7; Az osztrk ltalnos polgri törvnykönyv mai rvnyben, jegyzetekkel s utalsokkal elltta, Dr. Mrkus Dezso˝, a M. kir. curia kisegito˝ birja [Das ABGB in heutiger Geltung, mit Kommentaren von Dr. Mrkus Dezso˝] 1 – 11; Klang/ Gschnitzer, wie Fn. 71, 14: „Von Interesse ist es, für das heutige Österreich allerdings von historischen Interesse, zu beobachten, wie das ABGB, selbst in Gebieten der Monarchie, (…) so namentlich (…) in den Ländern der Ungarischen Krone, wo es für gewisse Teile des bürgerlichen Rechts als ein ,rezipiertes Recht auch nach Judex-Curialbeschlüssen von 1861 in Geltung blieb (…).“ 76 So z. B. K. Haller, Az ltalnos polgri törvnykönyv mint az jelenleg Erdlyben rvnyes [Das ABGB, geltende Fassung in Siebenbürgen], Kolozsvr 1865; Daempf, A magnjog trgya [Der Gegenstand des Privatrechts], Pcs 1877; Osztrk polgri törvnykönyv [Das österreichische ABGB], in: Magyar Jogi Lexikon V [Lexikon des ungarischen Rechts], Budapest 1904, 739; Területi jog – az osztrk PTK hatlya Magyarorszgon [Territorialrechte – die Geltung des ABGB in Ungarn], in: Magyar Jogi Lexikon VI [Lexikon des ungarischen Rechts), Budapest 1907, 590. Nach der Entscheidung des gemeinsamen Ministerrates vom 27. Juni 1867 (R.T. 186) blieben „die bisherigen Gesetze (…) überwiegend in Kraft.“ 77 Siehe Harmath/Szo˝lo˝si, Az osztrk ltalnos polgri törvnykönyv I, Budapest 1908, 5 – 6. 78 Orszgos törvnytr 1886. vi LXVI törvnycikk [Amtsblatt Ungarns, GA LXVI/1886).
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haben, die im Amtsblatt (Orszgos Törvnytr) veröffentlicht wurden. Während der kurzen Zeit, vom 29. November 1852 bis zum 23. Juni 1861, in welcher das ABGB eine absolute Geltung in ganz Ungarn79 hatte, war eine kaiserliche Verordnung die Anwendungsrechtsgrundlage80 und nur der offizielle deutsche Text stand der Anwendung zur Verfügung. Im ungarischen Amtsblatt wurde die Übersetzung nicht veröffentlicht. Tatsächlich ist aber doch eine amtliche doppelsprachige ungarisch/deutsche Ausgabe im Jahre 1852/53 in Wien erschienen81. Andere Übersetzungen erfolgten aufgrund rechtsvergleichender Bemühungen in der ganzen Periode der Kodifikation des ungarischen Zivilrechts (1861 – 1914, 1916, 1928). Diese waren oft nicht nur bloße Übersetzungen, sondern auch bemerkenswerte rechtsvergleichende Kommentare. Die ungarische wissenschaftliche und juristische Öffentlichkeit begleitete auch die Arbeiten an den Teil-Novellierungen des ABGB ab 1904 mit wissenschaftlichen und fachlichen Diskussionen, die später sogar in Publikationsserien des Juristenbundes veröffentlicht wurden82. Somit beeinflussten die Teilnovellen mit ihren Lösungen wesentlich die weitere Kodifikationstätigkeit. Die anderen Übersetzungen des ABGB in die ungarische Sprache aus dieser Zeit waren mit der Kodifikation des ungarischen Zivilrechtes verbunden, wobei die oft erschienenen Übersetzungen und Kommentare des ABGB dieses einerseits als vergleichendes Recht und andererseits als durch curiale Rechtsprechung rezipiertes Recht analysierten. Die erschienenen Arbeiten verglichen mehrmals die Teilnovellen und die parallelen Regeln des ungarischen Zivilgesetzbuchs. Die Teilnovellen inspirierten offensichtlich die Diskussion über verschiedene Institutionen des ungarischen Zivilrechts. So bemerkte damals Prof. Szladits in seiner Vorlesung über die Teilnovellen: Es haben „(…) uns auch die Teilmodifikationen des ABGB näher interessiert als der Rest der anderen ausländischen Gesetze. Betrachtet diese Regelungen nicht nur wegen ihrer fortgesetzten Rechtskraft in besonderen Rechtsgebieten unserer Heimat und der formell in Kraft gebliebenen materiell rechtlichen Grundbuchsbestimmungen des ÖABGB, sondern weil auch das moderne ungarische Privatrecht, insbeson-
79 Geltungsbeginn in Ungarn, Kroatien, Slawonien und Südungarn (sog. Serbische Woiwodschaft und Temischer Banat) ab 1. Mai 1853 (Kais. Patent vom 29. November 1852, Nr. 246) und in Siebenbürgen (Erdly, Transylvanien) ab 1. September 1853 (Kais. Patent vom 29. Mai 1853). Siehe z. B. Haemmerle, Manuale del Codice Civile Austriaco I, wie Fn. 68, 6 (Patente di Promulgatione); Harmath/Szo˝lo˝si, Az osztrk ltalnos polgri törvnykönyv, wie Fn. 77, 6. usw. 80 Kais. Verordnung vom 28. November 1852 (Ungarn und Kroatien), vom 29. Mai 1853 (für Siebenbürgen/Erdly) und vom 9. Juni 1872 (im südlichen Ungarn für Pancsova und Karnsebes). 81 Brauneder, wie Fn. 66, 237. 82 Magyar Jogszegyleti rtekezsek [Erörterungen/Veröffentlichungen des ungarischen Juristenvereins]; siehe z. B. K. Szladits/K. Arthur, Az osztrk PTK novella-javaslatrl [Über den Novellierungsvorschlag des ABGB], Budapest 1908.
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dere im System der Gewohnheitsrechte, durch Rezeption in der Regelungswelt des ÖABGB eine wichtige Quelle findet“83. Die späteren ungarischen Textausgaben des ABGB, unter der Redaktion Tettleni/ Feles, aus dem Jahre 1894 und von Harmath/Szo˝lo˝si, aus dem Jahre 1908, enthielten in Kursivschrift Texte des ABGB, deren Platz inzwischen die neuen ungarischen Gesetze eingenommen hatten. In dem Kommentar von Tettleni/Feles sprach man mit besonderer Betonung über die Bestimmungen des ABGB über Verträge: „Unser Obligationenrecht ist das österreichische, weil die Redakteure der Judexcurialkonferenz, nach der Beendigung der Rechtskraft des österreichischen Rechts, das österreichische Obligationenrecht weiter anwandten und es wird noch heute in der Rechtsprechung angewendet“84 (Kursiv: Anm. des Verf.) Alle drei ungarischsprachigen Textausgaben des ABGB übernahmen wörtlich die Übersetzung von Haller85. Die Übersetzungen sind präzise, deutlich, nach Deutung entsprechend dem Originaltext wörtlich und noch heute verständlich, und zwar nicht nur für die Fachleute, sondern auch für juristische Laien. b) Kroatische Ausgaben und Übersetzungen Für die erste kroatische Ausgabe halten die zeitgenössischen kroatischen Autoren die offizielle Ausgabe aus dem Jahre 185386. Die zweite kroatische Ausgabe war eine Privatausgabe, welche von Adolf Rusˇnov im Jahre 1885 vorbereitet wurde und in Zagreb erschien87. Diese Ausgabe hatte oft andere Ausdrücke benutzt als die offizielle Ausgabe88. In späteren Redaktionen des ABGB bemerkten die Autoren, dass die Privatausgabe keine Ermächtigung zu solchen Änderungen hatte89. Spevec schrieb im Jahre 189790, die beiden oben erwähnten vorherigen Ausgaben „enthalten zahlreiche Fehler, die nach amtlicher Ausbesserung verlangten“. So mach83
Szladits/Arthur, wie Fn. 82, 3. Tettleni/Feles, Az OPTK commentrja [Kommentar des Österreichischen ABGB], Budapest 1894, 8. 85 Haller, wie Fn. 76. 86 Mit dem Titel: Obc´i austrianski grad¯anski zakonik proglasˇen patentom od 29. studenoga 1852 u kraljevinah Ugarskoj, Hrvatskoj i Slavoniji, srbskoj Vojvodini i tamisˇkom Banatu, Becˇ, 1853. Siehe das Vorwort von J. Spevec/A. Rusˇnov für die Auflage des ABGB aus dem Jahre 1899 in: J. Spevec/A. Rusˇnov (Hrsg.), Obc´i Austrijanski Grad¯anski zakonik proglasˇen Patentom od 29. studenoga 1852 u kraljevinama Hrvatskoj i Slavoniji s naknadnim zakonima i naredbama, trec´e popravljeno i popunjeno izdanje [Allgemeines Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch promulgiert mit dem Patent vom 29. November 1852 für das Königreich Kroatien und Slawonien, mit den späteren Gesetzen und Verordnungen], 3. Aufl., Zagreb 1899, 7. 87 Spevec/Rusˇnov, wie Fn. 86, 6. 88 Siehe das Vorwort von Spevec, in: Spevec/Rusˇnov, wie Fn. 86, 11. 89 Ebda. 90 F. J. Spevec, Mjesecˇnik pravnicˇkoga drusˇtva 3/1897 [Monatsschrift des Juristenbundes], Zagreb, 188. 84
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te dieser Autor bei der Generalversammlung des Juristenbundes am 20. Februar 1897 den Vorschlag, dass sich der Juristenbund mit der Bitte an die Regierung wende, für eine neue amtliche Ausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches, welche dem Originaltext genau entspreche und auch sprachlich korrekt wäre, zu sorgen91. Dieser Vorschlag führte aber nicht zu einer neuen amtlichen Ausgabe, so dass im Jahre 1879 die schon oben erwähnte Privatausgabe von Spevec/Rusˇnov erschien. Diese Ausgabe war bemüht, sich wieder dem offiziellen Text zu nähern, tätigte aber nötige Korrekturen, wie z. B. in der Verwendung der besseren Form bestimmter Begriffe, bei der Reihenfolge der Wörter usw92. Die wahren Verbesserungen bestanden in besonderen Bemerkungen. Diese Ausgabe enthielt noch einen selbstständigen Ergänzungsteil, in welchem die neuen rezipierten Normen sowie die Erkenntnisse der Rechtsprechung erschienen, welchen schon A. Rusˇnov für die vorherige Ausgabe vorbereitet hatte, die aber mit den notwendigen sprachlichen bzw. grammatikalischen Korrekturen versehen waren93. Über den allgemeinen Teil des ABGB enstand aus Vorlesungen eines unbekannten Autors und Kommentaren vom Verband der kroatischen Universitätsbürger eine Handschriftenausgabe, die im Jahre 1910 in Zagreb erschien94. Die Übersetzung der Teilnovellen des ABGB in die kroatische Sprache erschien in Kroatien als Ergänzung zum Lehrbuch von Ivan Cepuljic´ „System des Privatrechts“95. c) Serbische Ausgaben und Übersetzungen Es gibt drei Kategorien der serbischen Übersetzungen des ÖABGB: Die erste ist die öffentliche, welche in Wien erschien, die zweite, die wir als Serbisches Bürgerliches Gesetzbuch aus dem Jahre 1844 kennen, und die dritte, echte Übersetzung, oder Übersetzung im engeren Sinn des Wortes, eine private, welche als Korrektur der „falschen“ ersten und der zweiten Übersetzung, mit mehreren Ausgaben, diente. Die erste Ausgabe enthielt den Text aus dem Jahre 1852, promulgiert mit dem Kais. Patent Nr. 246 vom 29. November 1852 für Ungarn, Kroatien und Slawonien, serbische Woiwodschaft und den Temeser Banat (1849 – 1853), und sie erschien bei der Österreichischen Staatsdruckerei 1853 in Wien96. Diese Publikation ist mit latei91
Spevec, Vorwort, in: Spevec/Rusˇnov, wie Fn. 86, 6. Ebda, 11. 93 Ebda, 12. 94 Opc´i dio austrijskog privatnog prava [Allgemeiner Teil des Österreichischen Privatrechts), Izdalo „Drusˇtvo sveucˇ. grad¯ana …“, Handschrift, Zagreb 1910. 95 I. Crepuljic´, Sistem privatnog prava, Zagreb 1925. 96 Obc´i austrijanski gradjanski zakonik proglasˇen patentom od 29. Studenoga 1852 u kraljevinah Ugarskoj, Hrvatskoj i Slavoniji, srbskoj Vojvodini i tamisˇkom banatu, ujedno s potonjimi u dodatku sadrzˇanimi naredbami, koje se odnose na ovaj zakonik, Becˇ 1853, Iz c. kr. dvorske i drzˇavne sˇtamparie (ABGB promulgiert mit dem Patent vom 29. November 1852 im Königreich Ungarn, Kroatien und Slawonien, in der serbischen Woiwodschaft und im Temeser Banat). 92
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nischen Buchstaben, aber mit serbischer Akzentologie, gedruckt. Die spätere kroatische Ausgabe, wie schon erwähnt aus dem Jahre 1885, privat von Rusˇnov, und die weitere von Rusˇnov/Spevec aus dem Jahre 1899, begründete ihre neue Ausgabe damit, dass „unsere erste offizielle Ausgabe aus dem Jahre 1853 schon ausverkauft sei“97. Die spätere serbische Privatausgabe bezeichnete die erste offizielle Ausgabe als eine „Übersetzung in die serbische Sprache für die Dauer der serbischen Woiwodschaft“98 (Kursiv Anm. des Verf.) Die spätere kroatische Ausgabe übernahm wörtlich die erste offizielle Ausgabe, aber ohne serbische Buchstaben-Akzentologie und mit grammatikalischen und sprachlichen Veränderungen. Es besteht eine noch frühere (amtliche) serbische Übersetzung, die sicher in die erste Gruppe fällt. Diese wurde 1849 von der Staatsdruckerei mit cyrillischen Buchstaben gedruckt und in Wien veröffentlicht99. Der Titel enthält eine äußerste Wortgraduierung: „BSV_`icY 4aQsQ^b[Y 8Q[_^Y[“ [Überallgemeines Bürgerliches Gesetzbuch]. Die Ausgabe aus dem Jahre 1853 korrigierte dies, damit hier schon der Titel dem Original entspricht: „Obc´i austrianski grad¯anski zakonik“ [Allgemeines Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch]. Die amtliche Übersetzung entsprach dem Originaltext, sie war aber trotz ihrer Exaktheit weit vom heutigen Stand der kroatischen und serbischen Fachsprache entfernt, zusätzliche Verständnisschwierigkeiten brachte die Verwendung von inzwischen veralteten Ausdrücken. Das Serbische Zivilgesetzbuch aus dem Jahre 1844100 war auch nach der Meinung späterer serbischer Autoren eine schlechte Übersetzung des ABGB, da eine alte, für das Volk und Juristen häufig unverständliche Sprache verwendet wurde. Dr. Arand¯elovic´ verwies in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe seiner serbischen ABGB-Übersetzung auch auf die Mangelhaftigkeit des serbischen Zivilgesetzbuchs infolge der schlechten Übersetzung: „Unseren Juristen wurde während ihrer Studien vorgelesen, dass unser BGB (= Serbisches Bürgerliches Gesetzbuch, Anm. des Verf.) ein schlechter Auszug aus dem ABGB sei. Im ersten Buch von Herrn Dr. Andra ¯Dord¯evic´ ,System des Privatrechts des Königreichs Serbien liest der Rechtsstudent auf der Seite 40 folgende Kritik von Pavle Seroglic´ über unser BGB und von seinem Verhältnis zum ÖABGB: ,Wenn jemand das SBGB mit dem Gesetzbuch der deutschen und österreichischen Erbländer vergleicht, der könnte leicht feststellen, dass nicht nur einzelne Paragraphen, sondern auch ganze Titel aus dem ABGB übersetzt und als solche 97
Spevec/Rusˇnov, wie Fn. 86, 7 (Vorwort). So: D. Arand¯elovic´, Vorwort, in: Austrijski gradjanski zakonik, preveo Dr. Dragoljub Arand¯elovic´ [ABGB, Übersetzt von Dr. Dragoljub Arand¯elovic], Beograd 1906. Hierbei handelt es sich um die erste Ausgabe des ABGB in der serbischen, cyrillischen Übersetzung. 99 Siehe Brauneder, wie Fn. 66, 237, Abb. 8. 100 Nach der ersten amtlichen Veröffentlichung des SBGB aus dem Jahre 1844 folgten die erneuten amtlichen Ausgaben aus den Jahren: 1873, 1879, 1884, 1896, 1898 und 1907. Diesen Zyklus amtlicher Veröffentlichungen schließen zwei Privatauflagen des SBGB in Redaktion von Dr. Gojko Niketic´ ab (Belgrad 1912 und 1922). Siehe näher: M. Vukovic´, Pravila grad¯anskih zakonika, Sˇkolska knjiga, Zagreb 1961, VIII (Vorwort). 98
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im Ganzen in das SBGB übernommen worden sind. Dagegen (= Übersetzung des Verf.) kann man nicht zu streng einwenden, weil viele Gesetze bestehen, deren Bestimmung in Vernunft und Naturrecht ihre Begründung haben, und als solche Anwendung sowohl in einem, als auch in anderen Ländern finden. (…) Man könnte aber nicht verzeihen, dass die Bestimmungen des ABGB dadurch verdorben werden, dass mehrere Paragraphen in einen verknüpft werden; 1. einige, die im Originaltext als einer stehen, zerschlagen werden und in der Übersetzung in mehreren Paragraphen erscheinen; 2. einige Paragraphen sind verkürzt; 3. einige sind im Sinn verdorben; 4. einige sehr wichtige sind ausgelassen …. Wenn unser Gesetz in einem solchem Verhältnis zum ABGB steht, ist die Kenntnis seiner Quelle ABGB unentbehrlich. Ich war als gerichtlicher Dolmetscher persönlich von der Bedeutung der Kenntnis der Originaltexte in der Rechtsanwendung überzeugt. Diese Meinung teilen auch andere Juristen, die gezwungen waren, die unklaren und unpünktlichen Formulierungen unseres Gesetzbuches (Anm. des Verf.: SBGB) zu verstehen “101.
Daneben vertrat der Autor dieser Übersetzung die Meinung, dass „… Serbien ein neues Gesetzbuch benötigt, in welchem die Bestimmungen im Einklang mit den Ereignissen der modernen Rechtswissenschaft stehen sollten“102. Dieser Autor nahm auch Stellung zu den kroatischen Übersetzungen: „Es ist wahr, dass das ABGB in die kroatische Sprache übersetzt wurde, aber diese Übersetzung war für uns wegen Besonderheiten der kroatischen Rechtsterminologie schwer anwendbar, weswegen sie an vielen Stellen nicht ohne den Originaltext in den Händen zu verstehen war“103. Dann folgte seine Meinung über den „offiziellen“ Übersetzungstext: „Während der Dauer der (sogenannten, Anm. des Verf.) serbischen Woiwodschaft, in der das ABGB zur Anwendung kam, wurde das ABGB in die serbische Sprache übersetzt, aber diese Übersetzung ist heute eine solche antiquarische Rarität geworden, dass sie fast nicht verfügbar ist, und ich zweifle daran, ob sie hinsichtlich der Terminologie und des Ausdrucks besser ist als die kroatische Übersetzung“104. Die zweite Ausgabe des ABGB in der Übersetzung von Dr. Arand¯elovic´105 enthielt auch die Teilnovellen vom 12. 10. 1914, 22. 7. 1915 und 19.10.1916. Diese Übersetzung ist nach der Textausgabe des ABGB in der Redaktion von Prof. Dr. Schey erschienen106. Die zweite Ausgabe, welche im Jahre 1921 erschien, begründete Dr. Arand¯elovic´ im Vorwort mit der Notwendigkeit, die Teilnovellen kennenzulernen, „weil das ABGB im heutigen Text im größten Teil unserer (Anm. des Verf.) Heimat, in Slawonien und Dalmatien … zum geltenden Gesetz geworden ist, während in 101 D. Arand¯elovic´, Vorwort zur 1. Auflage des ABGB in serbischer Übersetzung, Belgrad 1906, zitiert nach: Austrijski grad¯anski zakonik, preveo Dr. Dragoljub Arand¯elovic´, drugo izdanje, predgovor prvom izdanju [ÖABGB, Übersetzung Dr. Dragoljub Arand¯elovic´], 2. Aufl., Beograd 1921, III–IV. 102 Ebda, V. 103 Ebda, VI. 104 Arand¯elovic´, wie Fn. 101, VI. 105 Arand¯elovic´, wie Fn. 101. 106 J. Schey, Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für das Kaisertum Österreich in der Fassung nach den drei Teilnovellen samt den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen, 20. Aufl. 1916.
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Kroatien und Slawonien noch der ursprüngliche Text gilt. Ohne Zweifel, die Juristen aus anderen Teilen unserer so ausgedehnten (Anm. des Verf.) Heimat, wo das ABGB in Kraft ist, sollen die Regeln des bürgerlichen Rechts kennenlernen. Und endlich, mit dem Beschluss von Herrn Justizminister M. Trifkovic´ wird entschieden, dass das kroatische Bürgerliche Gesetzbuch (kroatische Übersetzung des ABGB, Anm. des Verf.) als Gesetzbuch des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen mit den notwendigen Änderungen und Ergänzungen promulgiert wird. Ich hoffe, daß meine Übersetzung diesem Zweck dienen und der Kommission die Arbeit erleichtern kann, insbesondere in der Terminologie und Sprache für das neue (Anm. des Verf.) Zivilgesetzbuch“107. d) Serbo-kroatische Ausgaben und Übersetzungen Für die beiden wichtigsten Ausgaben des ABGB, die in den sechziger Jahren des XX. Jahrhunderts, in der Periode des ehemaligen (zweiten) Jugoslawien erschienen, war kennzeichnend, daß die Textausgabe des ABGB einerseits parallel bzw. mit entsprechenden Paragraphen des Serbischen Bürgerlichen Gesetzbuchs veröffentlicht wurde, andererseits sukzessiv, daß heißt, daß die Texte nacheinander im Ganzen erschienen, in der Reihenfolge: Montenegrinisches BGB, Serbisches BGB und ABGB. Die kroato-serbische Ausgabe hatte den Titel „Die Rechtsregel der Bürgerlichen Gesetzbücher“, vorgelegt von Dr. Mihajlo Vukovic´, Dr. Martin Vedrisˇ und ¯Duro Vukovic´ und erschien im Jahre 1961 in Zagreb108. Diese Ausgabe veröffentlichte parallel das ABGB mit SBGB (ohne Montenegrinisches BGB). Die Ausgabe enthielt auch die späteren, heute schon ehemalig-jugoslawischen, partiellen Vorschriften aus dem Zivilrecht (Erbrecht, Familienrecht, usw.), die neue Rechtsprechung, in der die Anwendung der ABGB-Regeln zum Ausdruck kam, sowie das entsprechende Schrifttum. In Kroatien besteht eine selbstständige Ausgabe des ABGB in kroatischer Übersetzung aus dem Jahre 1955, welche auch die Teilnovellen inkorporierte109. Die serbo-kroatische Übersetzungsausgabe erschien unter dem Titel: „Sammlung der Bürgerlichen Gesetzbücher des alten Jugoslawien“ unter der Redaktion von Prof. Dr. Mihailo S. Stupar in Titograd (heute Podgorica, Hauptstadt von Montenegro), im Jahre 1960110. Diese Ausgabe enthält das montenegrinische BGB (aus dem Jahre 107
Arandjelovic´, Vorwort zur 2. Auflage des ABGB, wie Fn. 101, VII–VIII. M. Vukovic´, Pravila grad¯anskih zakonika sa naknadnim propisima, sudskom praksom, napomenama i podacima iz literature, Prirucˇnik za praksu, nauku i zakonodavstvo jugoslavenskoga grad¯anskoga prava [Regeln der Bürgerlichen Gesetzbücher mit nachträglichen Vorschriften, Rechtsprechung, Bemerkungen und Literaturangaben; Handbuch für Praxis, Wissenschaft und Gesetzgebung des jugoslawischen bürgerlichen Rechts], Zagreb 1961. 109 Siehe M. Vukovic´, Vorwort, wie Fn. 108, IX. 110 M. Stupar (Hrsg.), Zbornik grad¯anskih zakonika stare Jugoslavije [Sammlung Bürgerlicher Gesetzbücher des alten Jugoslawien], Titograd 1960, XIX, 522. 108
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1888)111, das serbische BGB (aus dem Jahre 1844)112 und das ABGB (aus dem Jahre 1811)113 in der erwähnten Reihenfolge. 3. Auswirkungen der Ausgaben im Anwendungsund Rezeptionsraum Eine bedeutende Besonderheit des ABGB ist, dass es neben dem deutschen Originaltext, fast ab initio mehrsprachig war. Einige offizielle und private Übersetzungen erschienen fast gleichzeitig mit dem Originaltext. Weitere Ausgaben in anderen Sprachen des Staates erschienen nicht gleichzeitig mit dem deutschen Originaltext, sondern später. Die Teilnovellen, die, rasch nach dem deutschen BGB aus 1896, schon am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Modernisierung des (österreichischen) ABGB führten, spornten mit ihren Ergebnissen zu neuen, meist privaten Ausgaben an, die manchmal auch mit Kommentaren und Rechtsprechungsdarstellungen der jeweiligen Länder versehen waren. Diese Ausgaben beeinflussten insbesondere mit ihren Kommentaren und Rechtsprechungsanweisungen die Zivilrechtsgesetzgebung nachhaltig, zuerst im geschichtlichen Ungarn.
V. Die Geltung des ABGB nach 1918 Die Anwendung des ABGB und der ungarischen Sondergesetze in der Woiwodina während der jugoslawischen Periode (Erstes und Zweites Jugoslawien)114 darf man nicht nur rechtshistorisch und rechtsvergleichend betrachten, sondern auch als Fortgeltung verstehen, da für das gesamte Land kein allgemeingültiges Zivilgesetzbuch bestand, so dass diese als Rechtsregeln angewendet wurden. 1. Die Anwendung des ABGB und der ungarischen Sondergesetze während des ehemaligen Ersten Jugoslawien (1918 – 1941) Das Erste, königliche Jugoslawien kannte kein kodifiziertes Privatrecht mit einheitlicher Geltung für das ganze Land115. Das serbische BGB aus dem Jahre 1844 war in der Woiwodina nicht in Geltung, sondern die örtlichen Gerichte haben das ABGB und die ungarischen privatrechtlichen Sondergesetze angewendet. Das österreichische ABGB war schon vorher übersetzt worden. Die ungarischen Sondergeset111
Stupar, wie Fn. 110, 1 – 153. Ebda, 153 – 156. 113 Ebda, 285 – 561. 114 Erstes Jugoslawien: 1918/1920 – 1941, Zweites Jugoslawien 1945 – 1988/1991. 115 Siehe näher J. Szalma, Geltung und Bedeutung der Kodifikationen Österreichs, Serbiens und Montenegros im ehemaligen Jugoslawien, in: ZNR 16 (1994), 341. 112
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ze (Familienrecht, Kirchenrecht, Grundbuchrecht, Gesellschafts- und Konkursrecht, usw.) wurden von Dr. Glisˇa Bogdanfi und Dr. Nikola Nikolic´ in die serbische Sprache übersetzt und unter dem Titel „Allgemeines Privatrecht mit Geltung in der Woiwodina (Theorie des Privatrechts, Gesetzes- und Regelsammlung, Rechtsprechung)“ im Jahre 1925 veröffentlicht116. So berief sich das Kassationsgericht in Novi Sad im Jahre 1922 im Falle des Eigentumerwerbs auf österreichische und ungarische Rechtsregeln, indem es feststellte, dass neben dem iustus titulus beim Eigentumserwerb auch die traditio (Übergabe mit Veräußerungsabsicht) der Sache unentbehrlich sei117. Die ganze Rechtsprechung über die Verträge beruhte auf dieser Regel, ebenso das Pacht- und Kündigungsrecht118 sowie die Pachtzinsverminderung119. Beim Arbeitsvertrag über Arten (Dienst- und Arbeitsverträge) und Formerfordernisse galten die ungarischen Sondergesetze über Dienstverhältnisse (GA II/1898; GA XLI/1899; GA XXVIII/1900; GA XXXIX/1900; GA XLV/1907)120. Die Dienst- und Arbeitsverträge waren im Prinzip formlos. Eine Ausnahme waren jene Verträge, für welche die ungarischen Gesetze (Sondergesetze) die Präsumption der Entgeltlichkeit vorgesehen haben, inbesondere im Bereich der professionellen Tätigkeiten121. Bogdanfi und Nikolic´ erwähnten in ihrer Gesetzessammlung die folgenden Rechtsquellen, welche als positives Recht in der Woiwodina Geltung hatten: 1. Werbo˝czys Tripartium Regni Hungariae; 2. Die Entscheidung der ungarischen Judexcurialkonferenz und die temporären Regeln für die Gesetzgebung aus dem Jahre 1861; 3. die Artikel des ABGB, welche nach §§ 21 und 156 der temporären Gesetzgebungsregeln der Judexcurialkonferenz aus dem Jahre 1861 in Kraft geblieben waren (§§ 321, 322, 431, 432, 436, 440, 441, 443 – 446, 1443, 1446, 1467 – 1470, 1472, 1498 – 1500)122, also die Regeln über Eigentumserwerb, Eigentumsveräußerung und Grundbuchrechte. Neben diesen blieben die ungarischen Sondergesetze in Kraft (auch im Bereich des Zivilrechts), wie z. B. das Gesetz über die Volljährigkeit (GA XXIII/1874); Gesetz über die Ehe (GA XXXI/1894); Gesetz über Vormundschaft (GA XX/1877, GA 116
Siehe G. Bogdanfi/N. Nikolic´, Opsˇte privatno pravo koje vazˇi u Vojvodini, – Teorija privatnog prava, Zbirka zakona, pravnih pravila i sudske prakse, dopunjena odlukama visˇih sudova – prikupili i preveli: Bogdanfi-Glisˇic´ [Allgemeines Privatrecht, welches in der Woiwodina Geltung hat, Theorie, Gesetze, Regeln und Rechtsprechung. Redaktion und Übersetzung: Bogdanfi-Glisˇic´], Pancˇevo 1925. 117 So das Kassationsgericht in Novi Sad (Kasacioni sud u Novom Sadu), Nr. 149/1922; zit. nach L. Markovic´, Grad¯ansko pravo, Opsˇti deo i stvarno pravo [Bürgerliches Recht, Allgemeiner Teil und Sachenrecht], Beograd 1927, 294; Für den Eigentumserwerb durch occupatio siehe Markovic´, ebda, 292. 118 Kassationsgericht in Novi Sad, G. 67 – 1921: Bogdanfi/Nikolic´, wie Fn. 116, 101. 119 Appellationsgericht in Novi Sad, G. 20 – 1920: ebda, 103. 120 Siehe Bogdanfi/Nikolic´, wie Fn. 116, 104, § 159. 121 Appellationsgericht in Novi Sad, G. 21 – 1920: ebda, 105. 122 Siehe Bogdanfi/Nikolic´, wie Fn. 116, 8.
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VI/1885); Gesetz über die Religionsfreiheit (GA XXXII/1894; GA XLIII/1895; GA LIII/1864); Gesetz über die Erbrechtsprozedur (GA XVI/1894), Handelsgesetz (GA XXXVII/1883); Konkursordnung (GA XVII/1881); Wechselgesetz (GA XXVII/ 1876); Gesetz über die gesetzlichen Zinsen (GA XXX/19895)123 usw. 2. Die Anwendung des ABGB als Rechtsregel in der Rechtsprechung während des Zweiten Jugoslawien (1945 – 1991) Aufgrund der Rechtsregel, die nach dem jugoslawischen Abrogationsgesetz124 in der Woiwodina zur Anwendung gebracht wurde, galten die Vorkriegsregeln weiter, zu denen auch das ABGB und die ungarischen Rechtsquellen gehörten, für den Fall, dass keine gesetzlichen Regeln bestehen125. Nach Auffassung der zeitgenössischen Rechtsprechung, waren beispielsweise die Regeln über Verkürzung über die Hälfte (laesio enormis, oder laesio ultra dimidium pars) und über die Schenkung solche Rechtsregeln. Da bei diesen keine positiven Regeln bestanden, erlangten die oben genannten Rechtsquellen Rechtsgeltung. So wurde in der Rechtsprechung des ehemaligen OGHW die Regel des § 934 ABGB (Schadloshaltung wegen Verkürzung über die Hälfte) in mehreren Fällen angewendet126. Erst das Gesetz über Obligationsverhältnisse regelte die laesio enormis (§§ 139, 140 und 1094), auf das sich die Rechtsprechung des OGHW bei entsprechenden Streitgegenständen berief127. Beispielsweise in einer der letzten Entscheidungen des (schon ehemaligen) OGHW aus dem Jahre 1991, „es bestehen keine Anfechtungsgründe wegen übermäßiger Verkürzung (Schadloshaltung wegen Verkürzung über die Hälfte) und Irrtum bei Inflation des gerichtlichen Vergleiches“128. Bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes über Obligationenverhältnisse am 1. Oktober 1978 bestand keine gesetzliche Regelung der laesio enormis. Bezüglich des Schenkungsvertrags besteht, da das oben genannte Gesetz diesen Vertrag nicht regelte, noch heute eine Gesetzeslücke, weswegen die entsprechenden Regeln des ABGB angewendet werden. Die Rechtsregel des § 948 ABGB über Wi123
Ebda, 8 – 9. Bundesgesetzblatt des ehemaligen Jugoslawien, Nr. 86/1946. 125 Ebda, Art. 4. 126 Siehe Bilten VSV, Rev. Nr. 7/70 vom 2. Juli 1970, Zbornik sudske prakse, 2 – 3/1970, 141/Nr. 270 und noch nach der Auffassung des OGHW vom 13. Mai 1974, Bilten VSV, Nr. 5/ 1974, 14. 127 Der Oberste Gerichtshof der Woiwodina wurde nach dem Jahre 1946 als oberste Gerichtsinstanz der Woiwodina eingeführt und mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Gerichte Serbiens, Sluzˇbeni Glasnik RS, Nr. 46/1991 vom 13. Juli 1991, abgeschafft. 128 Siehe OGHW, Rev. 476/91 vom 5. VI. 1991, Bilten vsv, Nr. IV (Juli)/1991, 27 – 28, Entscheidungsnummer 8. 124
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derruf der Schenkung wegen groben Undanks wurde etwa in der Rechtsprechung des (ehemaligen) Obersten Gerichtshofs der Woiwodina ausdrücklich herangezogen129. Nach Auffassung des Gerichts galten auch die den Geschenkgeber beleidigenden Worte des Geschenknehmers als grober Undank. Eine umgekehrte Auffassung vertrat das gleiche Gericht130 ein paar Jahre vorher in einem ähnlichen Geschenkwiderrufsfall; zwar hatte der Geschenknehmer keine groben Wörter verwendet, doch wurde die Anfechtung des Geschenks aus gleichen Gründen abgewiesen. In einem Streitfall bezüglich des Widerrufs einer Schenkung wandte der OGHW die Regel des ABGB über die Bedürftigkeit des Geschenkgebers (§ 947) an, und wies die Widerrufsklage mit folgender Begründung ab: „Es besteht kein Grund für den Widerruf der Schenkung wegen Bedürftigkeit des Geschenkgebers, wenn der Geschenknehmer ihm Unterhalt leistet131. Zieht der Geschenkgeber die Widerrufklage wegen Undank zurück, kann er in einer späteren Klage die Rückerstattung des Geschenks wegen Bedürftigkeit begehren132. Entsprechend dem Sinn der Formvorschriftsregel des § 984 ABGB und der Rechtsprechung des OGHW ist die mündlich vereinbarte Schenkung gültig, wenn der Geschenkgeber den beweglichen Schenkungsgegenstand dem Geschenkgeber übergibt133. In Schenkungsfällen aber, wo der Streitgegenstand den Allgemeinen Teil des Schuldrechts berührte, wo positive Regeln bestanden, wandte der OGHW, z. B. in einem Streitfall mit Motivirrtum, die entsprechenden positiven Regeln über Irrtum an134. In dem durch einen Schenkungsvertrag mit auflösender (resolutiver) Bedingung abgedeckten Fall (Allgemeiner Teil d. Gesetzes über Obligationenverhältnisse) wandte der OGHW den § 74 Abs. 1 des Gesetzes über Obligationsverhältnisse an135. VI. Zusammenfassung Die Anwendung des ABGB, das nicht nur in jener Zeit den modernsten Kodifikationen ebenbürtig zur Seite stand136, und die ungarischen Zivilgesetze waren von großer Bedeutung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Sie trugen zur weitgehen129
Siehe OGHW, Nr. Rev. 959/87 vom 18. XI. 1978, Bilten VSV, Nr. 1/1988. Nr. 8, 21. OGHW, Rev. 832/83 vom 22. 2. 1984, Bilten VSV, Nr. 2 – 3/1984, Nr. 3, 32; und im Fall Rev. 124/85 vom 17. 7. 1985, Bilten VSV Nr. 4/1985, 43. 131 Siehe OGHW, Rev. 512/1989 vom 30. 8. 1989, Bilten VSV, Nr. 6/1989, 50. 132 Siehe OGHW, Nr. Gzˇ 1269/1957, aus dem Jahre 1957, in: M. Kosovac, Obligacioni ugovori kroz sudsku praksu [Obligationenverträge in der Rechtsprechung], Beograd 1978, 1008. 133 Siehe OGHW, Rev. I-44/79 vom 17. 05. 1979, Bilten VSV, Nr. 4/1979, Entscheidung Nr. 1, 22 – 23. 134 Siehe §§ 62, 112 des föderalen Gesetzes über Obligationenverhältnisse von 1978; Vajdasg Legfelso˝bb Birsga (OGHW), Rev. 844/1982 vom 24. 12. 1982, Bilten VSV Nr. 2 – 3/ 1983, 32; ebenso hat der OGHW in einem anderem Schenkungsirrtumsfall die §§ 117, 103 und 104 des Gesetzes über Obligationenverhältnisse angewendet, Rev. 354/90 vom 9. 5. 1990. 135 Siehe OGHW, Rev. 840/1990 vom 7. XI. 1990, Bilten VSV Nr. 6/1990, Entscheidung Nr. 5, 21. 136 Brauneder, wie Fn. 66, 250 ff. 130
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den und vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung und Emanzipation der südlichen ungarischen Provinzen bei. Obwohl das ABGB noch im Ständestaat entstand, unterschied es sich inhaltlich nicht wesentlich von (auch späteren) Kodifikationen des Zivilrechts. Diese Eigenschaft und die mehrsprachigen Ausgaben unterstützten die Rezeption. Die Einführung des ABGB in ganz Ungarn intensivierte die Kodifikationstätigkeiten des ungarischen Privatrechts. Nach der Wiederherstellung der ungarischen Gesetze aus dem Jahre 1861 in bestimmten Bereichen (Eigentumserwerb, Grundbuchsrecht, dadurch auch das Obligationenrecht) blieb das ABGB aufgrund der Entscheidung der ungarischen Judexcurialkonferenz weiter in Kraft, bis es später von ungarischen Sondergesetzen ersetzt wurde. Die ungarische Rechtsprechung erweiterte die Anwendung auch auf das Gebiet des Schuldrechts, doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders nach 1867, wich das ungarische Präzedenzrecht des ungarischen Obersten Gerichtshof (Curia) auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Haftungsrechts von den Bestimmungen des ABGB ab. Im historischen Südungarn (bzw. Woiwodina) blieb das ABGB in bestimmten Komitaten und Gerichtsangelegenheiten länger in Kraft, nämlich bis zur Auflösung der Militärgrenzgebiete. Nach 1918/1920 wurde die Woiwodina (ehemalige südliche ungarische Komitate) zwischen Jugoslawien und Rumänien aufgeteilt (Bcska, Syrmien und Westbanat kamen zu Jugoslawien, das Ostbanat zu Rumänien), wodurch diese Komitate in verschiedene Gesetzgebungsgebiete (jugoslawische und rumänische) gelangten. Im Ersten Jugoslawien existierte keine für das ganze Land allgemeingültige Zivilrechtskodifikation – anfangs fehlten auch die Zivilsondergesetze –, weswegen die allgemeinen (ungarischen und österreichischen) privatrechtlichen Rechtsregeln und Sonderregelungen – zuerst mit Anwendung für die schon jugoslawischen Territorien der Woiwodina –, solange in Kraft blieben, bis neue Gesetze mit Anwendung für den ganzen Staat entstanden. Im Zweiten Jugoslawien bekam die Woiwodina durch die von 1970 bis 1974 erfolgten Verfassungsänderungen, die die Dezentralisierung der ganzen ehemaligen jugoslawischen Föderation zum Ziele hatten, den Status einer autonomen Provinz mit eigener Verfassung und Gesetzgebung sowie mit Verfassungsgerichtshof und Obersten Gerichtshof im Rahmen der Jugoslawischen Föderation. In diesem Zeitraum waren die Landesgesetze mehrsprachig (serbisch, ungarisch, rumänisch, slowakisch und ruthenisch). In Zivilrechtsfällen, wo weder eine föderalistische, noch eine Landesgesetzgebung bestanden, wandte der Oberste Gerichtshof der Woiwodina die Regeln des ABGB aufgrund der Abrogationsgesetze aus dem Jahre 1946 an. Den Platz der ungarischen Sondergesetze nahmen die Landesgesetze (Familienrecht, Vormundschaft, Erbrecht usw.) der autonomen Provinz Woiwodina ein.
Das ABGB in Kroatien Nikola Gavella, Igor Gliha, Tatjana Josipovic´, Zlatan Stipkovic´ I. Geltung und Veränderungen des ABGB in Kroatien-Slawonien und Jugoslawien (Nikola Gavella) 1. Die Einführung des ABGB in Kroatien-Slawonien Das ABGB trat in Kroatien-Slawonien am 1. Mai 1853 in Kraft, verlautbart durch das kaiserliche Patent vom 29. November 18521. Mit Kroatien-Slawonien bezeichnet man jene Teile Kroatiens die damals dem Gesetzgebungsbereich des Sabors des Dreieinigen Königreiches Kroatien, Slawonien und Dalmatien unterlagen2. Es war dies die Zeit des Bachschen Absolutismus, in der gesamten Monarchie wurden österreichische Gesetze eingeführt, als offen deklariertes Mittel der Vereinigung aller Länder und Stämme der Monarchie zu einem großen Staatskörper3.
1 Die amtliche Übersetzung dieses Gesetzbuchs in das Kroatische wurde von der KaiserlichKöniglichen Hof- und Staatsdruckerei im Jahre 1853 in Wien unter dem Titel „Obc´i austrianski gradjanski zakonik, proglasˇen patentom od 29. Studenoga 1852 u kraljevinah Ugarskoj, Hrvatskoj i Slavoniji, serbskoj Vojvodovini i tamisˇkom Banatu“ (ohne Bekanntgabe des Übersetzers) veröffentlicht. Es ist der amtliche Text dieses Gesetzbuches und gleichzeitig auch die erste Übersetzung in das Kroatische. Später wurde es noch einige Male in Kroatien nichtamtlich übersetzt und herausgegeben, jeweils mit einer leichten Aktualisierung der Sprache, so von den Autoren Adolfo Rusˇnov 1855, Josip Spevec 1899, Stjepan Posilovic´ 1918, Mihajlo Vukovic´ 1955. 2 In den übrigen kroatischen Ländern, die zu dieser Zeit dem Habsburgerreich angehörten, war das ABGB schon früher in Kraft getreten. Zur gleichen Zeit wie in Österreich und den sog. deutschen Erbländern – d. h. am 1. Jänner 1812 – ist das ABGB auch in dem Teil der Militärgrenze in Kraft getreten, der damals unter der direkten österreichischen Verwaltung stand. In der Zeit von 1814 bis 1820 wurde es in jenen kroatischen Ländern eingeführt, die durch das Pariser Abkommen und den Wiener Kongress im Jahre 1815 unter österreichische Verwaltung kamen. In Dalmatien und den Inseln Korcˇula, Vis, Lopud, Sˇipan, Mljet und Lastovo wurde das ABGB im Jahre 1816 eingeführt und in einem Teil des Bezirkes von Karlovac, der damals zum Königreich Illyrien gehörte, im Jahre 1820. In Rijeka trat es zweimal in Kraft. Als nämlich Rijeka und jener Teil des Gebietes von Karlovac, der während der Eroberungen Napoleons zum Königreich Illyrien gehörte, neuerlich mit Kroatien und Ungarn vereint wurden, hatte das ABGB zunächst in diesen Gebieten, in denen es bereits 1815 bzw. 1820 eingeführt worden war, keine Geltung mehr; es ist aber dann am 1. Mai 1853 in diesen Gebieten und dem übrigen Kroatien, Slawonien und Ungarn neuerlich in Kraft getreten. 3 Siehe W. Ogris, Zur Geschichte und Bedeutung des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Liber Memorialis FranÅois Laurent, Brüssel 1989, 376.
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Das Schicksal des ABGB in Kroatien war mehr als bewegt, denn in ihm spiegelt sich die stürmische Geschichte Kroatiens von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute wider. Seit das ABGB in Kroatien (im engeren Sinn) und Slawonien in Kraft trat, war seine Stellung in der Rechtsordnung infolge der Änderungen des staatsrechtlichen Status Kroatiens ständig in Frage gestellt. Es durchlief fünf verschiedene Entwicklungszeiträume, von denen jeder durch einen anderen staatsrechtlichen Zustand gekennzeichnet war. Der erste war durch die Einbindung Kroatiens in die Habsburgermonarchie gekennzeichnet, der zweite durch jene in das Königreich Jugoslawien, der dritte durch die Doppelherrschaft während der Dauer des Zweiten Weltkrieges, der vierte durch die Eingliederung in das sozialistische (kommunistische) Jugoslawien und der fünfte – gegenwärtige – ist durch die unabhängige Republik Kroatien geprägt. Jede dieser Perioden hatte eigene Merkmale, ein spezifisches Verhältnis zu diesem Gesetzbuch und auch ganz allgemein zur Rolle des Rechts in der Gesellschaft. Jede war im hohen Maße politisch geprägt, in jeder haben sich Juristen politisch entschieden und sich manchmal für Ideen und Ideologien eingesetzt, die von der Geschichte später überholt wurden. Seit das ABGB eingeführt wurde, gilt es in Kroatien ohne Unterbrechung: zuerst als österreichisches, dann als kroatisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Opc´i grad¯anski zakonik – OGZ), dann als Teil des jugoslawischen Rechtssystems und kurz nur des kroatischen, danach wieder des jugoslawischen und jetzt wiederum des kroatischen. Die Änderungen des staatsrechtlichen Status Kroatiens brachten Änderungen der Rechtsordnungen mit sich, und jede neue Staatsform übernahm dieses Gesetzbuch, versuchte aber auf ihre Art, darauf Einfluss zu nehmen. Jede ersetzte einige seiner Normen durch neue und versuchte auch, dieses Gesetzbuch durch ein völlig neues, eigenes, bürgerliches Gesetzbuch zu ersetzen – als ob sich alle bemühen würden, dieses Gesetzbuch los zu werden, ohne dass es ihnen gelingt. Aber das ABGB zeigte eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit gegenüber allen Angriffen. Es gelang ihm, eine tiefe Verwurzelung in Kroatien zu erreichen, indem es in gewisser Weise zu einer Konstante der Rechtsordnung wurde4. Die Einführung des ABGB wurde in Kroatien anfangs nicht mit Begeisterung quittiert. Kroatien bestand immer auf seine staatlichen Rechte, einschließlich der Gesetzgebungszuständigkeit des kroatischen Sabors (i. e. Parlaments). Die Einführung des ABGB unter Nichtachtung des Sabors verletzte diese grob. Zudem widersetzten sich alle jene der Einführung des ABGB in Kroatien, deren Interessen in der damaligen feudalen Ordnung begründet waren und die durch die, im Grunde genommen, liberalen und individualistisch konzipierten Normen des ABGB „erschreckt“ wurden. Auf deren Seite standen auch diejenigen, die sich aufgrund ihrer konservativen Welt4 Diese Lebenskraft zeigt, dass das ABGB als Gesetzeswerk einen wirklich tiefen inneren Wert hat. Ohne diesen hätte es sich nicht halten können. Dank seiner naturrechtlichen Herkunft, die ihm seinerzeit so sehr vorgeworfen wurde, ist sein Inhalt nicht mit Regeln überladen, die eine zu starke Bindung an eine bestimmte Zeit, Gesellschaft oder Ordnung oder einen bestimmten Ort mit sich bringen würde. Ein großer Teil seiner Normen ist noch heute geeignet, die zivilrechtlichen Beziehungen mit Erfolg zu regeln; man kann sich vorstellen, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Siehe T. Mayer-Maly, Die Lebenskraft des ABGB, in: NZ 1986, 265 – 270.
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anschauung allem Neuen widersetzten. Heftigen Widerstand gegen die Einführung des ABGB gab es seitens der Rechtsgelehrten, die im damaligen Feudalrecht ausgebildet worden waren, da ihnen die Einführung dieses Gesetzbuchs Probleme in der weiteren Ausübung ihres Fachs bereitete. In der Öffentlichkeit erzeugten sie daher ein wenig positives Echo – nimmt man die amtlichen Veröffentlichungen aus5. Trotz der in der Tat unannehmbaren Art der Einführung des ABGB spielte dieses eine außerordentlich wichtige und nützliche Rolle als Wegbereiterin eines in Kroatien ungewöhnlichen sozialen Fortschritts. Wie gut bekannt ist, beruht das ABGB durch die Anwendung des Vernunftprinzips des Naturrechts auf den Erkenntnissen der damaligen Rechtswissenschaft und brachte gleichzeitig die Anwendung individualistischer, liberaler Grundsätze mit sich. Als Grundprinzip ist die Vorstellung vom Menschen als freies, selbständiges und verantwortliches Wesen verankert. Es war vorgesehen, dass das soziale Umfeld des ABGB von den Hindernissen für einen freien Markt befreit und nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage gelenkt werden sollte6. Für die Rechtsordnung Kroatiens bedeutete dies zugleich den Bruch mit der früheren feudalen ungarischen und kroatischen Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der in ihr verwurzelten Rechtsprechung und dem aus ihr hervorgegangenen System der Rechtsnormen. Diese konnten schon lange nicht mehr den Bedürfnissen der damaligen Gesellschaft und insbesondere den Erfordernissen des Fortschritts entsprechen. Die Stellung der Rechtsprechung in der früheren Ordnung wird durch folgende Worte von Mirjana Gross plastisch veranschaulicht: „Das alte ungarische Gesetzbuch7 war unbrauchbar. Die Richter größtenteils laienhaft, schlecht bezahlt und korrupt sowie ohne Rechtsbewusstsein. Die Untertanen haben nicht einmal mehr vorausgesetzt, dass sie eine positive Entscheidung ihrer Streitigkeiten ohne Bestechung erreichen können. Gerichtsverhandlungen wurden nach Belieben der Richter anberaumt, und ein Streit dauerte oft Jahrzehnte“8. Natürlich bedurfte dies einer grundlegenden Reform, nicht nur hinsichtlich des Aufbaus der Gerichte, sondern auch hin5 Siehe I. Maurovic´, Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Kroatien, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, Wien 1911, 986 sowie die Anm. 12 – 118. 6 Über die Frage der Gleichheit oder ständischen Gebundenheit des ABGB siehe W. Brauneder, Das österreichische ABGB: Eine neuständische Kodifikation, in: G. Klingenberg/J. M. Rainer/H. Stiegler (Hrsg.), Vestigia iuris romani. Festschrift für Gunter Wesener zum 60. Geburtstag, Graz 1992, 67 – 80. 7 Die Autorin meint mit der Bezeichnung „altes ungarisches Gesetzbuch“ die Sammlung Tripartitum, die Istvan Edler v. Verbocz (Verboczy, Werbewczy, Vrabec, Verbeci, Wrböczy) 1517 in Wien veröffentlichte. Das ist eine Sammlung des in der staatlichen Gemeinschaft der Ungarn und Kroaten entstandenen Gewohnheitsrechts. Das Tripartitum wurde wie ein Gesetzbuch angewendet, obwohl es nie zum Gesetze geworden war. Siehe dazu M. Lanovic´, Stjepan Edler von Verbocz, der große Lehrer unseres alten Rechtes, Zagreb 1943; L. Margetic´/ M. Marsˇavelska Apostolova, Das kroatische mittelalterliche Recht, Zagreb 1990. 8 Siehe M. Gross, Pocˇeci moderne Hrvatske [Der Anfang des modernen Kroatien], Zagreb 1985, 100.
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sichtlich der materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Vorschriften. Eine Reform wurde auch durchgeführt, obwohl dies keineswegs leicht war9. Einer der Grundsteine bei der Errichtung einer modernen Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung war die Ablösung des überlebten Tripartitums von Werböczy und anderer Rechtsnormen des alten Feudalrechtes, für die in Kroatien nach 1848 wirklich kein Platz mehr war, durch das ABGB. Das Inkrafttreten des ABGB bedeutete die Errichtung einer Rechtsund mit ihr auch allgemein einer Gesellschaftsordnung, die sich auf die Postulate des Individualismus und Liberalismus gründete. Der Weg zur Affirmation einer bürgerlichen Klasse sowie zur Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft stand nunmehr offen, und damit ging auch Kroatien einer modernen Zeit entgegen. Die Einführung des ABGB in Kroatien begründete die Verbindung der kroatischen Rechtsordnung mit der zeitgenössischen Strömung des kontinentaleuropäischen Rechtskreises (der römisch-germanischen Rechtsfamilie), und zwar jener Untergruppe, die als mitteleuropäisches Recht bezeichnet wird. Um dieses Gesetzbuch bildeten sich eine Reihe von Gesetzen sowie Vorschriften und schufen ein Rechtssystem, das einen kontinentaleuropäischen Charakter bekam. Natürlich hatte diese Verbundenheit der kroatischen Rechtsordnung mit anderen Ordnungen dieser Untergruppe des kontinentaleuropäischen Kreises, dessen Kern die Rechtsordnungen Österreichs, Deutschlands und der Schweiz bilden, und die Zugehörigkeit zu den gleichen sozialen Verhältnissen – zahlreiche und weitreichende soziale und kulturelle Implikationen10. 2. Die Rezeption des ABGB in Kroatien-Slawonien nach der Abschaffung des Bachschen Absolutismus Der Untergang des Absolutismus im Jahre 1860 gab den Ländern der ungarischen Krone, also auch Kroatien (i. e. geschrumpftes Kroatien: nur Kroatien i. e.S. und Slawonien), ihre Verfassung zurück und mit dieser auch die Gesetzgebungszuständigkeit. In diesem Zusammenhang begann in Kroatien, wie auch in Ungarn, eine heftige Agitation gegen alle Gesetze, die während des Absolutismus als gemeinsame Gesetze für die gesamte Habsburgermonarchie eingeführt worden waren. Es wurde ihre Abschaffung sowie die Rückkehr zu dem vorher geltenden Recht verlangt. Besonders ausgeprägt war dieses Bestreben in Ungarn, während die damalige kroatische Öffentlichkeit diesbezüglich zurückhaltender war11. Die Auswirkungen auf das ABGB 9
Ebda, 100 – 115. Die Implikationen sind nicht alle eindeutig positiv zu bewerten. Das ABGB hat zweifellos zum Zerfall der Hausgenossenschaften in Kroatien beigetragen, was sowohl positiv als auch negativ bewertet wurde. Jene, die später das ABGB in Kroatien außer Kraft setzen wollten, haben regelmäßig die negativen Auswirkungen auf die Hausgenossenschaften als Argument verwendet. 11 Siehe M. Derencˇin, Tumacˇ k Obc´em Austrijskomu Grad¯anskomu Zakoniku I [Der Kommentar zum österreichischen ABGB], Zagreb 1888, 16. – Beinahe unmittelbar nach dem Ende des Bachschen Absolutismus in Kroatien begannen die Verhandlungen darüber, was man mit den oktroyierten österreichischen „Justiz-Gesetzen“ unternehmen solle. Einige setzten sich dafür ein, dass an diesen Gesetzen nichts geändert werden solle, andere hingegen insistierten 10
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waren in Kroatien anders als in Ungarn. Ungarn setzte das ABGB außer Kraft12, während es Kroatien beibehielt, aber eben als eigenes kroatisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch – Opc´i grad¯anski zakonik (OGZ). Es war dies der Punkt, an dem sich die kroatische Rechts- oder zumindest privatrechtliche Ordnung, nach einem so lange gemeinsam zurückgelegten Weg, endgültig von der ungarischen trennte und eigenständig eine andere Richtung einschlug. In Kroatien sind das ABGB und andere österreichische Vorschriften, die während des Absolutismus im Zusammenhang mit dem ABGB eingeführt worden waren, auch weiterhin als Teil des kroatischen Rechtssystems in Kraft geblieben. Die Hauptgründe für den anfänglichen Widerstand gegen das ABGB als oktroyiertes Gesetz fielen mit der Rückgabe der Gesetzgebungszuständigkeit an den kroatischen Sabor weg. In der Zwischenzeit breitete sich das Bewusstsein über den Wert dieses Gesetzbuches nicht nur in der rechtskundigen, sonder auch in der allgemeinen kroatischen Öffentlichkeit aus13. Daneben war Kroatien wirtschaftlich sehr eng mit den Nachbarländern, die unter österreichischer Krone standen und in denen das ABGB gültig war, verbunden. Dies war ein gewichtiger Grund für die Beibehaltung dieses Gesetzbuchs in darauf, das gesamte österreichische Recht zu verwerfen und das alte Recht völlig wiederherzustellen, während eine dritte Gruppe nach einer Mittellösung trachtete, indem sie eine grundlegende Überprüfung der österreichischen Gesetze und die Beibehaltung dessen, was gut an ihnen war, forderte. Dieser letzte Standpunkt fand 1861 im kroatischen Sabor die überwiegende Mehrheit. 12 Der ungarische iudex curiae eröffnete – nachdem der ungarische „Tisch der Sieben“ organisiert worden war – die sog. Judexkurialkonferenz, eine Konferenz von Richtern dieses Gerichts und anderen hervorragenden ungarischen Rechtsgelehrten, mit dem Ziel, eine selbständige ungarische Gesetzgebung wieder einzurichten. Diese beendete die Beratungen am 4. März 1861 mit dem Vorschlag, das frühere ungarische Recht wiederherzustellen, also das ABGB außer Kraft zu setzen. Das ungarische Parlament nahm die Beschlüsse der Judexkurialkonferenz an (sie wurden formal nicht als Gesetz angenommen, bekamen aber Gesetzeskraft). Damit wurde in Ungarn wiederum das frühere ungarische Recht hergestellt (mit einigen unumgänglichen Änderungen, da die völlige Rückkehr zum früheren ungarischen Feudalrecht nicht möglich war). 13 Zwanzig Jahre nach der Einführung des ABGB in Kroatien schrieb Marijan Derencˇin den ersten kroatischen Kommentator zum ABGB: „Auch in unserer Heimat wird dieses Gesetz sehr geschätzt, das nun fast zwanzig Jahre mildtätig für die Entwicklung der privatrechtlichen Beziehungen wirkt. Es stimmt allerdings, daß es, besonders im Erbrecht, Einrichtungen beinhaltete, die nicht ganz unseren Umständen entsprechen; aber im wesentlichen hält man auch bei uns dieses Gesetz für einen Segen, und niemand will auf dieses Gesetz verzichten, wenngleich uns mit diesem eine unserem nationalem Wesen unerquickliche Ära geschenkt wurde.“ Siehe Derencˇin, wie Fn. 11, 30. – Trotzdem verübelten manche auch weiterhin dem ABGB sein individualistisches und liberales Konzept und machten es für den Zusammenbruch der kroatischen Hausgenossenschaften und Familien sowie für alles Unglück, das die Umwandlung der kroatischen Gesellschaft in eine moderne begleitete, verantwortlich. Kroatien hat später (im Jahre 1899) durch ein gesondertes Gesetz das Genossenschaftsrecht geregelt, um die archaische Einrichtung der Familiengenossenschaften den zeitgemäßen Rechtsverhältnissen anzupassen; aber das hat nicht viel verbessert. Diese Genossenschaften hatten dennoch keine großen Chancen auf Fortbestand in den zeitgemäßen sozialen Beziehungen und sind notgedrungen auch untergegangen. Daher verhallte die Kritik am ABGB niemals zur Gänze, wenngleich sie allmählich nachließ.
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Kroatien. Außerdem hatten die Rechtsgelehrten der neuen Generation, besonders jene, die an österreichischen Hochschulen ausgebildet worden waren, sofort die beste Meinung über das ABGB und sprachen sich für die Beibehaltung dieses Gesetzbuchs und gegen die Rückkehr zum kroatisch-ungarischen Recht aus. Aber alle diese äußeren Gründe wären für sich genommen nicht ausreichend gewesen, um eine solch hohe Meinung über den Wert des österreichischen Privatrechts, wie sie in Kroatien vorzufinden war, zu bilden; sie war in erster Linie eine Folge seiner zweifellos großen inneren Werte14. Der kroatische Sabor hat kein Gesetz verabschiedet, durch welches ausdrücklich bestimmt worden wäre, dass das ABGB und die übrigen, zur Zeit des Absolutismus aufgezwungenen Gesetze in der kroatischen Rechtsordnung erhalten werden. Deren Beibehaltung ging daraus hervor, dass keinerlei Gesetz verabschiedet wurde, welches jene außer Kraft gesetzt hätte15. Alle neuen Bestimmungen, die nach den Prinzipien des Oktoberdiploms von 1860 ergingen und die Neuregelung der Justiz16 brachten, gingen vom Grundsatz aus, dass alle bereits eingeführten österreichischen Gesetze, aber auch andere mit ihnen im Zusammenhang ergangene Vorschriften, weiterhin im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeit des kroatischen Sabors in Kraft bleiben, bis sie ausdrücklich auf dem Verfassungswege aufgehoben oder abgeändert werden. Es war dies ein Grundsatz, der ausnahmslos beachtet wurde17. Die Situation änderte sich in dieser Hinsicht auch nach dem Kroatisch-Ungarischen Ausgleich von 1868 nicht, obwohl dieser die völlige Autonomie Kroatiens hinsichtlich Gesetzgebung und Verwaltung in allen inneren Angelegenheiten, in Kultur, Unterricht und Justiz anerkannte. So galt in Kroatien auch weiterhin das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB), aber – wie bereits erwähnt – nicht als österreichisches, sondern jetzt als eigenes kroatisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch – Opc´i grad¯anski zakonik (OGZ) aus 185218. Das OGZ hatte in Kroatien (genauer gesagt in Kroatien im e. S. und Slawonien) mit jenem Inhalt Geltung, den es hatte, als es durch das Patent 14
Siehe Maurovic´, wie Fn. 5, 699. Anfang Jänner 1861 hat die Banische Konferenz eine „Anleitung“ für die vorübergehende Regelung der Munizipien ausgearbeitet und den Beschluss gefasst, dass sich die Munizipialbehörden in ihrer Gerichtstätigkeit streng an die bestehenden, also österreichischen Gesetze und Verordnungen zu halten haben. Diese „Anleitung“ erfuhr, neben einigen Änderungen, die königliche Sanktionierung. Siehe I. Maurovic´, Nastojanja i pokusˇaji, da se reformi Opc´i grad¯anski zakonik [Bestrebungen und Versuche, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch zu reformieren], in: Ljetopis Jugoslavenske akademije znanosti i umjetnosti [Jahrbuch der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und Künste] 52 (1940), 88. 16 Welche Verordnungen erlassen wurden, siehe bei Derencˇin, wie Fn. 11, 18 f., Anm. 9. 17 Siehe Derencˇin, wie Fn. 11, 18. 18 Das ABGB (OGZ) sowie andere im Zusammenhang mit ihm erlassene Vorschriften, und jene, die in Kraft geblieben sind, waren nicht die einzige Quelle des Privatrechts in Kroatien. Daneben haben auch andere autonome kroatische Gesetze und auch einige gemeinsame ungarisch-kroatische Gesetze die einzelnen Segmente der privatrechtlichen Ordnung geregelt. Siehe dazu Derencˇin, wie Fn. 11, 22 f., Anm. 12. 15
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vom 29. November 1852 verkündet wurde – unrevidiert und ohne Novellierungen. Demgemäß hatten später erfolgte österreichische Teilnovellierungen dieses Gesetzes und auch die österreichische Gerichtspraxis keinen Einfluss auf den Inhalt des OGZ in Kroatien19. Natürlich verfolgte auch in Kroatien die Rechtswissenschaft und die Praxis mit großer Aufmerksamkeit alles, was in Österreich mit dem ABGB vor sich ging: Novellierungen, welche Probleme zur Diskussion standen und welche Standpunkte in der Praxis vertreten wurden. All das war von großem Interesse; es konnte auch der Wissenschaft, der Gesetzgebung und der Praxis in Kroatien als Wegweiser dienen, aber weder unmittelbar auf die Normen des OGZ (i. e. kroatischen ABGB) Einfluss nehmen noch auf ihre Anwendung einwirken. Es gab in Kroatien Versuche, das OGZ (ABGB) abzulösen. Man arbeitete sogar daran, es durch das ursprüngliche Kroatische Bürgerliche Gesetzbuch zu ersetzen, und es wurde nach dem Vorbild des ABGB ein „Entwurf des Kroatischen Bürgerlichen Gesetzbuches“ ausgearbeitet; Später nahm man aber von diesem „Entwurf“Abstand, und die Bemühungen einer Ablöse des OGZ (ABGB) blieben ohne Erfolg20. Diese Versuche, das OGZ (ABGB) abzulösen erfolgten in drei Wellen. Die erste war in der Zeit von 1860 bis 1870 und zeichnete sich dadurch aus, dass die Beibehaltung des OGZ (ABGB) in Kroatien ernsthaft in Frage gestellt wurde. Die zweite Welle war im Jahre 1905 und die dritte 1917. Die beiden letzteren Wellen haben nicht mehr in Frage gestellt, das ABGB (OGZ) beizubehalten oder nicht, sonder strebten nur nach einer Revision im engeren Sinn und waren das Echo gleichartiger Bestrebungen in Österreich. Die Welle von 1905 wurde durch Josef Unger ausgelöst, der sich für 19 In Dalmatien und Istrien hingegen – nämlich in jenem Teil Kroatiens, in dem damals die Gesetzgebungszuständigkeit des Sabors des Dreieinigen Königreiches Kroatien, Slawonien und Dalmatien nicht gegeben war, da sie dem österreichischen Teil Österreich-Ungarns angeschlossen waren – traten die Teilnovellen des ABGB von 1914 – 1916 in Kraft, und das novellierte OGZ bildete dort geltendes Recht. 20 Bereits 1861 gründete der Sabor den Justizausschuss, der eine Reihe von Gesetzentwürfen, unter ihnen auch den „Entwurf des kroatischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches“ ausarbeitete, die zugleich mit anderen Gesetzesvorhaben in den „Schriften des Sabor“ des Jahres 1861 festgehalten sind. Dieser „Entwurf“ wurde als Abart des ABGB (OGZ) ausgearbeitet, und daher sind größtenteils die Regeln des ABGB wörtlich übernommen worden. Nur 131 Artikel erfuhren eine mehr oder weniger umfangreiche Abänderung, 98 Artikel wurden zur Gänze weggelassen. Der „Entwurf“ kam im Plenum des Sabor aber nicht zur Diskussion, da das Parlament plötzlich aufgelöst wurde. Der Justizausschuss des neu einberufen Sabors hat im Jahre 1866 den „Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches“ so angenommen, wie er 1861 ausgearbeitet worden war, doch zog ihn das Plenum des Sabor wiederum nicht in Betracht. Die Regelung der staatsrechtlichen Beziehung von Kroatien und Ungarn stellte zu jener Zeit derart große Anforderungen, dass alle übrigen Anträge und Projekte in den Hintergrund gedrängt wurden und somit die Arbeiten an einem Kroatischen Bürgerlichen Gesetzbuch „einschliefen“. Nachdem der Kroatisch-Ungarische Ausgleich geschlossen worden war, begnügte sich der Sabor damit, einige Fragen hinsichtlich des Zivilrechts durch gesonderte Gesetze zu regeln. So endete die erste einer Reihe von erfolglosen ambitionierten Bestrebungen, das bürgerliche Recht in Kroatien eigenständig zu kodifizieren. Siehe dazu A. Rusˇnov/S. Posilovic´, Tumacˇ Obc´emu austrijskomu grad¯anskomu zakoniku I [Der Kommentar des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches], 2. Aufl., Zagreb, und Maurovic´, wie Fn. 15.
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eine Revision des ABGB aussprach21. Die Versuche aus dem Jahre 1917 waren die Folge der Teilnovellen zum österreichischen ABGB von 1914 bis 1916. Alle Bestrebungen, das OGZ (ABGB) in Kroatien zu revidieren, blieben aber letztendlich ohne Ergebnis22. 3. Die Beibehaltung des rezipierten ABGB nach der Einbindung Kroatiens in das Königreich Jugoslawien Das OGZ (ABGB) blieb in demselben Gebiet in Kraft; nachdem Kroatien nach dem Ersten Weltkrieg seine staatsrechtlichen Beziehung zu der österreichisch-ungarischen Monarchie abgebrochen hatte, wurde Kroatien, zusammen mit Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro, Teil des neugeschaffenen Königreiches Jugoslawien (es hieß zuerst Königreich SHS, dann Königreich Jugoslawien). Dieser Staat war als ein einheitlicher konzipiert und hatte die Absicht, eine eigene, für den gesamten Staat einheitliche Gesetzgebung zu errichten, doch es behielten – solange diese nicht aufgebaut war – die früheren Bürgerlichen Gesetzbücher dort weitere Gültigkeit, wo sie bis dahin Geltung hatten. Es war dies nur als vorübergehender Zustand gedacht, doch solange dieser andauerte (und er hielt sich länger als dieser Staat), blieb der Staat hinsichtlich der Geltung zivilrechtlicher Normen in verschiedene Rechtsgebiete aufgeteilt23. Sie zeugten in diesem ansonsten einheitlichen Staat von der verschiedenen Herkunft seiner einzelnen Teile. Auf jenem Gebiet Kroatiens das früher unter der Gesetzgebungsmacht des kroatischen Sabor stand und einen Teil des ungarischen Teils der Doppelmonarchie bildete (Kroatien i. e.S. und Slawonien), galt somit auch weiterhin das OGZ (ABGB, ohne Teilnovellen). Es wurde lediglich wegen des unitaristischen Charakters des jugoslawischen Staates nicht mehr „kroatisches OGZ“, sondern „OGZ aus 1852“ oder einfach OGZ genannt. In jenem Gebiete Kroatiens, das bis zum Zerfall ÖsterreichUngarns dem österreichischen Teil der Doppelmonarchie zugehörte (Dalmatien), und in dem bis dann die österreichischen Gesetze galten, galt auch weiterhin das ABGB mit seinen Teilnovellen. So galt das novellierte ABGB weiterhin auch auf dem Gebiet Sloweniens und auch in Bosnien und Herzegowina. Auf dem Gebiete Serbiens (einschließlich Mazedonien, aber ohne Woiwodina) galt das serbische Bürgerliche Gesetzbuch, das eigentlich eine Abart des österreichischen ABGB war. Nur auf
21 Siehe W. Brauneder, Josef Unger, in: ders. (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200 – 1980, Wien 1987, 177 ff. 22 Zur Geschichte dieser Bestrebungen siehe Maurovic´, wie Fn. 15, 86 – 91. 23 Es gab sechs Rechtsgebiete: 1. das kroatisch-slawonische; 2. das dalmatinische und slowenische; 3. das bosnisch-herzegowinische; 4. das serbische; 5. das montenegrinische und 6. das der Vojvodina (Woiwodina).
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dem Gebiet des ehemaligen Königreichs Montenegro wie auch der Woiwodina galten die Normen des ABGB in keiner Weise24. Sofort nach der Vereinigung mit dem jugoslawischen Staat begann man an der Rechtsvereinheitlichung zu arbeiten, selbstverständlich einschließlich des bürgerlichen Rechts25. Als Grundmodell für die Ausarbeitung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs sollte der Text des ABGB in jener Form dienen, in der er in Kroatien in Kraft gewesen war26. Es war auch eine gewisse bescheidene Revision, eine Aktualisierung seiner Bestimmungen vorgesehen27. Das führte zur Ausarbeitung einer zivilrechtlichen Ordnung, die im Wesentlichen individualistische und liberale Grundsätze hatte und überhaupt der Tradition des österreichischen ABGB folgte. Die Arbeit an diesem Gesetzesprojekt dauerte sehr lange (12 Jahre), wenn man berücksichtigt, dass die den Redaktoren gestellte Aufgabe verhältnismäßig begrenzt war, nämlich eine nur „bescheidene Revision der Normen des ABGB“ durchzuführen. Das Resultat dieser lange dauernden Arbeit war der „Vorentwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Jugoslawien“, der 1934 veröffentlicht wurde28. Doch kam es nie zu einer Verabschiedung dieses Bürgerlichen Gesetzbuchs – das Königreich Jugoslawien hörte zu bestehen auf, ohne selbst ein solches verabschiedet zu haben. Wenn eines verabschiedet worden wäre, ohne viel von dem „Vorentwurf“ abzuweichen, wäre dieses Bürgerliche Gesetzbuch eine Abart des ABGB gewesen. Aber ein jugoslawisches 24 Auf dem Gebiet des ehemaligen Königreichs Montenegro galt das eigene montenegrinische Allgemeine Vermögensgesetzbuch (Opsˇti imovinski zakonik). In der Woiwodina galt weiterhin das ungarische Recht. 25 Näheres dazu bei V. Radovcˇic´, Pokusˇaj kodifikacije grad¯anskog prava u staroj Jugoslaviji – Predosnova Grad¯anskog zakonika za Kraljevinu Jugoslaviju [Der Versuch einer Kodifizierung des bürgerlichen Rechtes im alten Jugoslawien – Vorentwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Jugoslawien], Zagreb 1977, 249 – 307. 26 Mit der Festlegung dieses Textes als Vorbild wollte man zweierlei erreichen. Zum einen war das der nächstgelegene gemeinsame Nenner für die Angleichung des Rechts auf fast allen Rechtsgebieten. Außerdem konnte man bei der Verabschiedung der übrigen Vorschriften damit rechnen, dass die zivilrechtlichen Normen ungefähr jenen Inhalt wie auch das OGZ (ABGB) haben würden. Dieses gab den Redaktoren der übrigen Gesetze die nötige Orientierung, und daher sind auch alle prozess- und grundbuchrechtlichen Vorschriften gemäß dem österreichischen Vorbild erlassen worden. So wurde die Gefahr einer Nichtübereinstimmung dieser Vorschriften mit jenen, die nach seiner Verabschiedung ein bürgerliches Gesetzbuch beinhaltet hätte, auf das kleinste Maß reduziert. Außerdem – was nicht weniger wichtig war – waren sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Gerichtspraxis über das österreichische Recht sowie seine Rechtsdogmatik und Praxis gut informiert. Das ergab eine solide Unterlage für das gute Funktionieren eines solchen zivilrechtlichen Systems und seine weitere Entwicklung. 27 Hier wurden als Vorbilder auch noch das deutsche BGB, das schweizerische ZGB und OR, das liechtensteinische Gesetzbuch, der I. und II. tschechische Entwurf des BGB und der I. und II. Entwurf des ungarischen BGB berücksichtigt. Siehe Maurovic´, wie Fn. 15, 93. 28 Über den „Vorentwurf“ wurde in wissenschaftlichen Fachkreisen des In- und Auslands viel diskutiert. Interessant ist (manche mögen auch meinen, dass dies typisch sei), dass die ausländische Kritik (etwa von Gschnitzer, Mayr und E. Swoboda) ziemlich positiv ausfiel, die heimische hingegen in ihrer Gesamtheit eher ungünstig; siehe Maurovic´, wie Fn. 15, 93. Dem „Vorentwurf“ wurde insbesondere vorgeworfen, dass er nicht genügend von der Vorlage des ABGB abwich.
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Bürgerliches Gesetzbuch wurde nie in Kraft gesetzt und der vorübergehende Zustand ging in einen dauerhaften über – das ABGB (OGZ) galt weiterhin auch im jugoslawischen Staat in den Gebieten, in denen es schon zuvor Gültigkeit hatte. 4. Das Schicksal des ABGB in Kroatien während des Zweiten Weltkriegs Bekanntlich wurde im Zweiten Weltkrieg das Königreich Jugoslawien 1941 zerschlagen und in Kroatien (einschließlich Bosnien und Herzegowina) ein eigener Staat unter dem Namen „Unabhängiger Staat Kroatien“ ausgerufen. Er wurde mit Hilfe der Achsenmächte gegründet, um ihnen ein enger Verbündeter zu sein. Sie übergaben die Herrschaft in Kroatien jenen politischen Kräften, die dieses Bündnis schon dadurch verbürgten, dass sie einer ähnlich rechten, nationalen Ideologie folgten und sich schon aus diesem Grund politisch an die Achsenmächte anlehnten („Ustaschen“). Dieser Ideologie entsprechend waren die Machthaber jener Zeit bestrebt, in Kroatien ihre Ordnung auf Grundsätze zu stellen, die zweifelsohne dem Liberalismus und Individualismus entgegengesetzt waren. Bald bekamen diese Machthaber einen gefährlichen Konkurrenten. In Kroatien brach ein Aufstand aus, der hauptsächlich von linken, kommunistischen politischen Kräften („Partisanen“) getragen wurde, welche schrittweise eine eigene Machtstruktur auf zwar anderen, aber ebenso im Gegensatz zu Liberalismus und Individualismus stehenden Grundsätzen aufbauten. So gab es zwei Machthaber in Kroatien – der Unabhängige Staat Kroatien und die „Partisanen“ –, die zueinander im Gegensatz standen und verbittert um die Vorherrschaft und die Verwirklichung eigener politischer Ziele kämpften. Im Laufe des Kriegs wurde die Herrschaft des Unabhängigen Staates Kroatien auf einige größere Städte eingeengt, während das übrige Gebiet unter die Herrschaft der Partisanen kam. Keine der antagonistischen Seiten war jenen liberalen und individualistischen Prinzipien zugeneigt, auf denen das ABGB beruhte, was sich unvermeidlich in seiner Anwendung – die natürlich nicht im gleichen Maße erfolgte – widerspiegelte. Die Gerichte des Unabhängigen Staates Kroatien wandten weiterhin das OGZ (ABGB) an, aber nur insoweit ihm nicht durch neue Vorschriften dieses Staates derogiert worden war. Die Vorschriften dieses Staates wurden in dem Bemühen verabschiedet, das gesellschaftliche System dem äußerst rechten, ultranationalistischen politischen Glauben und Richtung entsprechend auszubauen. Die Machthaber trachteten danach, den kollektiven Interessen der Nation und Familie den Vorzug vor den individuellen zu geben, was sich schwer mit dem Individualismus und Liberalismus des OGZ (ABGB) vertrug. Andererseits wurden in den unter der Herrschaft der linken Aufständischen („Partisanen“) stehenden Gebieten die Normen des OGZ überhaupt nicht angewendet. Weder die Gesetze des Unabhängigen Staates Kroatien noch die Gesetze des ehemaligen Jugoslawien wurden dort anerkannt. Die Rechtsprechung erfolgte auf die Weise, dass man sich in erster Linie auf das „Rechtsverständnis des Volkes“ oder genauer gesagt auf das „Rechtsverständnis des arbeitenden Volkes“ berief. Eigentlich
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wurden dabei politische, in der Regel ausdrücklich linke, kollektivistische Entscheidungen nachvollzogen. Das Interesse der Klasse „des Arbeitenden Volkes“ genoss Vorrang vor individuellen Rechten und Interessen. Das stand im Gegensatz zu den individualistischen und liberalen Grundsätzen, auf denen das OGZ (ABGB) aufgebaut war. Die Machthaber des Unabhängigen Staates Kroatien haben das OGZ (ABGB) nur vorübergehend als Quelle zivilrechtlicher Normen beibehalten. Nicht nur, dass vielen Normen des OGZ derogiert wurde; es war überhaupt beabsichtigt, das gesamte OGZ gegen ein neues Kroatisches Bürgerliches Gesetzbuch auszutauschen, durch das die zivilrechtlichen Verhältnisse im Einklang mit der herrschenden, extrem rechten Ideologie geregelt werden sollten. Die Arbeit an diesem Gesetzbuch verlief verhältnismäßig schnell und resultierte bereits 1943 in dem als „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzes für den Unabhängigen Staat Kroatien“ bezeichneten Text. Interessant ist, dass als Vorbild für die Ausarbeitung des neuen Gesetzbuches wiederum das OGZ (ABGB) diente, obwohl die Arbeit am Gesetzbuch gerade gegen das OGZ gerichtet war. Der „Entwurf“ hat das OGZ (ABGB) als Vorbild genommen. Diese Treue zum OGZ (ABGB) ist umso merkwürdiger, als damals im deutschen Reich die Akademie für deutsches Recht an einem neuen bürgerlichen Gesetzbuch („Volksgesetzbuch“) arbeitete, das auf nationalsozialistischen Prinzipien aufgebaut sein sollte und das deutsche BGB sowie das österreichische ABGB hätte ersetzen sollen29. Der „Entwurf“ ist vom Vorbild des OGZ (ABGB), betrachtet man den Umfang der Regulierung, den Inhalt der meisten Artikel und ihre Anzahl, nicht viel abgewichen30. Unterschiedlich ist er hingegen hinsichtlich der Grundprinzipien und natürlich auch hinsichtlich einiger Normen. In den „Entwurf“ wurden jene Grundsätze und Regeln eingebaut, die auf die damals herrschende nationalsozialistische Weltanschauung zugeschnitten waren. Sie sollten dem künftigen kroatischen bürgerlichen Gesetzbuch eine zu individualistischen und liberalen Grundprinzipien gerade entgegen gesetzte Ausrichtung geben. Trotz all dieser Eingriffe in das Wesen des OGZ (ABGB) blieb dennoch die Tatsache, dass der „Entwurf“ auf der Basis der im ABGB enthaltenen Normen aufgebaut war und der größte Teil der Normen trotzdem aus dem OGZ (ABGB) hervorging31. Der „Entwurf“ wurde nie zum kroatischen Bürgerlichen Gesetzbuch. Das OGZ (ABGB) blieb, mit Ausnahme jener Regeln, denen von den neuen Vorschriften derogiert wurde, die unmittelbare Quelle der zivilrechtlichen Normen in jenen Gebieten Kroatiens, wo es das auch früher war (nicht hingegen dort, wo die „Rechtsprechung des Volkes“ der Partisanen zum Tragen kam). 29 Das alles war auch in Kroatien wohl bekannt. Siehe N. Pavlovski, Oko nova njemacˇkog grad¯anskog zakonika [Über das neue deutsche bürgerliche Gesetzbuch], in: Mjesecˇnik 1941/ 6 – 8, 304 – 307. 30 Das OGZ (ABGB) hatte 1502, der „Vorentwurf“ 1432 und dieser „Entwurf“ 1387 Paragraphen. 31 Zu den wesentlichen inhaltlichen Unterschieden des „Entwurfs“ zu seinem Vorbild, dem OGZ bzw. dem „Vorentwurf“, siehe F. Zˇilic´, Osnova grad¯anskog zakona NDH [Entwurf eines bürgerlichen Gesetzes für den Unabhängigen Staat Kroatien], in: Mjesecˇnik 1943/4, 164 – 169.
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5. Das Schicksal des ABGB in der Republik Jugoslawien a) Die Abschaffung des ABGB Der Zweite Weltkrieg endete in Jugoslawien mit dem Sieg der „Partisanen“; der Unabhängige Staat Kroatien verschwand, und Kroatien wurde in die neue, föderal eingerichtete, Republik Jugoslawien unter kommunistischer Dominanz eingebunden. Kroatien bekam in diesem Nachkriegsjugoslawien die Stellung einer von sechs Republiken (Bundesländer) mit begrenzter Gesetzgebungszuständigkeit; gleiche verfassungsrechtliche Stellungen bekamen auch Bosnien-Herzegowina, Serbien, Slowenien, Mazedonien und Montenegro. Diese staatsrechtliche Entwicklung spiegelte sich auch im Schicksal des ABGB wider. Nachdem es lange in der Rechtsordnung gelebt hatte, wurde es abgeschafft. Die Republik Jugoslawien sah sich als neuer, durch Revolution entstandener und daher von Grund auf anderer Staat und lehnte es ab, Nachfolger des Königreichs Jugoslawien zu sein. Demgemäß wurde die Diskontinuität mit der früheren Rechtsordnung verkündet. Die früheren Gesetze einschließlich des ABGB, sowohl in der novellierten als auch in der nicht novellierten Fassung, wurden außer Kraft gesetzt32. Vor Kriegsende, aber zu einem Zeitpunkt an dem der Kriegsausgang bereits abzusehen war, wurde von dem AVNOJ (Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens), der die Absicht hatte, sowohl den politischen Körper der „Partisanenmacht“ als auch bis zur Wahl und Konstituierung eines neuen Parlaments den obersten Gesetzgebungskörper zu bilden, ein Beschluss betreffend die Geltung der früheren Rechtsordnung gefasst. Er beschloss, dass alle früheren Gesetze und Vorschriften außer Kraft gesetzt werden, „sofern sie im Widerspruch zu den Errungenschaften des Volksbefreiungskampfes sowie den Deklarationen und Beschlüssen des Antifaschistischen Rates der Volksrepublik Jugoslawiens und der Antifaschistischen Länderräte der einzelnen föderalen Einheiten und ihrer Vertretungen wie auch den Rechtsvorschriften, die vom nationalen Befreiungskomitee Jugoslawiens und seiner Kommissionen der föderalen Einheiten erlassen wurden, stehen“33. Damit wurde der erste Schritt in diese Richtung getan. Das jugoslawische Parlament, das sich nach dem Krieg konstituiert hatte, setzte sein Wirken in der gleichen Richtung fort. Es verabschiedete das Gesetz über die Ungültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während
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Dennoch hat die Republik Jugoslawien in den auswärtigen Beziehungen die Kontinuität mit dem Königreich Jugoslawien bewahrt. Sie anerkannte aber weder die auswärtige noch die innere Kontinuität mit dem Unabhängigen Staat Kroatien und negierte überhaupt dessen Existenz als eigener Staat. 33 Artikel 2 des Beschlusses über die Abschaffung und Ungültigkeit aller Rechtsvorschriften, die seitens des Okkupators und seiner Helfer während der Okkupation erlassen worden waren; über die Geltung der Beschlüsse, die während dieser Zeit ergingen; über die Abschaffung der Rechtsvorschriften, die zum Zeitpunkt der feindlichen Okkupation in Kraft waren – „Sluzˇbeni list Demokratske Federativne Jugoslavije“ [Amtsblatt der Demokratischen Föderativen Jugoslawien), Nr. 4/1945.
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der Zeit der feindlichen Okkupation ergangenen Rechtsvorschriften34. Artikel 2 dieses Gesetzes bestimmte: „Die Rechtsvorschriften (Gesetze, Verordnungen, Verfügungen, Geschäftsordnungen u. a.), die am 6. April 1941 in Kraft standen, haben ihre Rechtskraft verloren“35. Das war das Ende der Wirksamkeit des ABGB (OGZ) in Jugoslawien, aber nur in gewisser Weise. Es war dies eigentlich nur das Ende der Wirksamkeit des ABGB als Gesetz, nicht auch das vollkommene Ende seiner Geltung. Das ABGB (OGZ) verlor nämlich den Rang eines Gesetzes, doch beendete das nicht die Möglichkeit einer weiteren Anwendung seiner Normen. Diese kamen auch weiterhin als Rechtsquelle in Betracht, wenngleich nur subsidiär. b) Die Regeln des ABGB als subsidiäre Rechtsquelle Die Außerkraftsetzung aller Gesetze und anderer Vorschriften sollte den Bruch mit der alten Ordnung unterstützen; die neue Macht würde neue Gesetze bringen. Diese würden der Umgestaltung der gesamten Gesellschaft in eine sozialistische dienen und danach die Beziehungen in dieser Gesellschaft regeln. Eine neue Rechtsordnung kann aber nicht über Nacht entstehen, sie kann nur schrittweise aufgebaut werden. So sehr die Macht auch revolutionär war, war sie sich doch dessen bewusst, dass diese nicht so weit gehen durfte, eine völlige Gesetzlosigkeit im wahrsten Sinn dieses Wortes zu schaffen, indem sie alle Gesetze, die aus vorangegangenen Regimen stammten, außer Kraft setzte. Es war notwendig, irgendeine vorübergehende Rechtsordnung aufzustellen, die Wirksamkeit haben sollte, bis sie allmählich durch eine andere ausgetauscht werden würde. Deshalb wurde mit dem Gesetz über die Ungültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation ergangenen Rechtsvorschriften die Möglichkeit der Anwendung der Normen aus der Rechtsordnung der Vorkriegszeit belassen36, aber – nicht als Gesetz, sondern nur als „Rechtsregel“ und nur unter den Voraussetzungen nach Artikel 3 und 4 dieses Gesetzes. Der Inhalt der Norm wäre eine im abgeschafften Gesetz enthalten „Rechtsregel“, aber die gesetzliche Sanktion würden ihr die Bestimmungen der Artikel 3 bzw. 4 des Gesetzes über die Ungültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation ergangenen Rechtsvorschriften geben. Gemäß Artikel 3 wäre die Voraussetzung für die Anwendung dieser Gesetze eine gesonderte Bestimmung darüber, die das Präsidium der Volksversammlung erließe. Artikel 4 erlaubte mittels einer generellen Norm, dass Rechtsregeln aus den abgeschafften Gesetzen und andere 34 Sluzˇbeni list Demokratske Federativne Narodne Republike Jugoslavije [Amtsblatt der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien], Nr. 86/1946. 35 Das Datum 6. April 1941 wurde deshalb ausgewählt, da dies der Tag war, an dem in Jugoslawien der Zweite Weltkrieg begann. 36 Siehe N. Srzentic´, Povodom Zakona o nevazˇnosti pravnih propisa donetih pre 6 aprila 1941 godine i za vreme neprijateljske okupacije [Anläßlich des Gesetzes über die Gültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation erlassenen Rechtsvorschriften], in: Archiv 1946/7 – 112, 214 – 217.
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Rechtsvorschriften aus der Vorkriegszeit angewendet werden, aber nur unter den Voraussetzungen, dass eine Rechtslücke besteht, die zu schließen ist, und dass die Rechtsregel, die sie schließt, nicht mit den Vorschriften der neuen Rechtsordnung (ohne Rücksicht auf ihren Rang) kollidiert, ja nicht einmal mit den Grundsätzen, die in der Verfassungsordnung impliziert sind. Aufgrund dieser Bestimmungen des Gesetzes über die Ungültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation ergangenen Rechtsvorschriften waren die Normen des ABGB (OGZ) weiterhin gültig, aber nur als „Rechtsregeln“, also Rechtsquelle niedrigsten Ranges, schwächer als irgendeine Vorschrift. Viele Normen des ABGB (OGZ) haben ihr „Leben“ in der Rechtsordnung des Nachkriegsjugoslawien in Form einer „Rechtsregel“ fortgesetzt und subsidiär die zivilrechtlichen Beziehungen geregelt, solange nicht neue Vorschriften diese regulierten. Zwar bediente sich das Präsidium der Volksversammlung in keinem einzigen Fall seiner Bevollmächtigung, durch eine gesonderte Bestimmung die Anwendung einer Rechtsregel aus dem ABGB als verpflichtend zu verlautbaren, aber es wurde – im Gegensatz dazu – eine große Zahl von Rechtsregeln des ABGB weiterhin aufgrund der generellen Bestimmung des Artikel 4 des Gesetzes über die Ungültigkeit der vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation ergangenen Rechtsvorschriften angewendet. Die Gerichte mussten nämlich die in ihrer Zuständigkeit gelegenen Fälle abschließen und fanden bei der Beurteilung zivilrechtlicher Verhältnisse häufig eine Rechtslücke vor, weil die neuen zivilrechtlichen Regelungen erst langsam geschaffen wurden. Stellte ein Gericht bei der Verfahrensführung hinsichtlich eines zivilrechtlichen Sachverhalts fest, dass dem neuen Recht keine darauf anwendbare Norm zu entnehmen war, fand es eine Rechtslücke vor. Um diese mit einer Rechtsregel aus dem ehemaligen Recht – gewöhnlich aus dem ABGB (OGZ) – schließen zu können, musste das Gericht ermessen, ob es sich dieser Rechtsregel bedienen durfte. Obwohl es dies nur durfte, wenn diese Rechtsregel weder mit der neuen Rechtsordnung noch mit den in der bestehenden Verfassungsordnung implizierten Grundsätzen kollidierte, war das Resultat dieser Ermessensentscheidung dennoch häufig positiv. So hatten zahlreiche Normen des ABGB auch in der neuen Rechtsordnung als Rechtsregeln des ehemaligen Rechts Geltung. Die Anwendung von Rechtsregeln aus dem ehemaligen ABGB brachte große Schwierigkeiten. Die größte ergab sich freilich im Zusammenhang mit der Übung des Ermessens, ob eine Rechtsregel anwendbar wäre oder nicht. Eine weitere trat in den Fällen auf, in denen das Gericht zu dem Schluss kam, dass es eine Rechtsregel, die ansonsten in Betracht zu ziehen gewesen wäre, wegen des Gegensatzes zu der neuen Verfassungsordnung nicht anwenden könne. Worauf hier aber besonders aufmerksam gemacht werden muss, ist die Frage, ob das Gericht in einer Situation, in der eine Rechtslücke mit einer Rechtsregel aus dem ehemaligen Recht zu schließen wäre, diese Lücke durch Rechtsregeln aus gerade jenem ehemaligen Recht, das zuvor in dem betreffenden Gebiet gültig war, schließen sollte, oder ob das Gericht nicht mehr an die ehemaligen Rechtsgebiete gebunden war. Das stellte die Gerichte vor ein nicht leicht zu lösendes Problem. Zunächst war man geneigt, Rechtsregeln nur
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aus jenem ehemaligen Recht anzuwenden, das in dem betreffenden Gebiet am 6. April 1941 gültig war, aber in der Folge – unter Berufung auf die Einheit des jugoslawischen Rechtssystems – änderte sich die Gerichtspraxis, und es kamen die am ehesten geeigneten, aktuellsten Rechtsregeln ohne Rücksicht darauf, aus welchem der ehemaligen Rechtsgebiete sie hervorgegangen waren, zur Anwendung37. Das führte zu einer Ausweitung der Anwendung der Rechtsregeln des novellierten ABGB (OGZ) auch in den anderen Teilen des damaligen Jugoslawiens, wo sie nie Geltung gehabt hatten, da diese die modernsten waren. Der stufenweise Aufbau einer zivilrechtlichen Ordnung hat immer mehr die Notwendigkeit und Möglichkeit der weiteren Anwendung der Rechtsregeln aus dem ehemaligen Recht verringert, einschließlich natürlich auch jener des ABGB. Der Grund dafür lag in erster Linie in der Verringerung der Rechtslücken, doch war dies keineswegs der einzige. Die Rechtsordnung folgte nämlich mehr und mehr irgendwelchen eigentümlichen Grundsätzen, die auf der kollektivistischen, marxistischen Ideologie aufgebaut waren. Infolgedessen passten die individualistisch und liberal konzipierten Rechtsregeln des ABGB immer weniger in diese Rechtsordnung und es gab immer weniger Möglichkeiten für deren weitere Anwendung. 6. Die Rolle des ABGB in der neuen Rechtsordnung der Republik Kroatien Die Republik Kroatien löste ihre staatsrechtlichen Verbindungen mit der damaligen SFR Jugoslawien im Jahre 199138 auf, nachdem sie 199039 ihre eigene Verfassung verabschiedet hatte, durch welche die frühere Verfassung aus der kommunistischen Zeit40 ersetzt wurde. Zum Zeitpunkt ihrer Verselbständigung hatte Kroatien eine bloß unvollkommene eigene Gesetzgebung, da bis dahin die Gesetzgebungskompetenz zwischen Jugoslawien einerseits und deren Teilrepubliken bzw. Provinzen andererseits aufgeteilt worden war. So stand die Republik Kroatien vor der Aufgabe, die eigene, neue Rechtsordnung aufgrund ihrer Verfassung aus 1990 zu schaffen. Dabei war man bemüht, der kroatischen Rechtstradition aus der vorkommunistischen
37 Siehe M. Konstantinovic´, Stara „pravna pravila“ i jedinstvo prava [Die alten „Rechtsregeln“ und die Einheit des Rechts], in: Anali Pravnog fakulteta u Beogradu 1957/4, 43 ff. 38 Den Beschluss über die Auflösung der staatsrechtlichen Verbindung, aufgrund welcher Kroatien zusammen mit den übrigen Teilrepubliken und Provinzen die damalige SFR Jugoslawien bildete, fasste der Sabor der Republik Kroatien (das kroatische Parlament) am 8. Oktober 1991, unter der Maßgabe, dass dieser Beschluss zum Zeitpunkt seiner Fassung in Kraft tritt – „Narodne novine“ [Amtsblatt der Republik Kroatien], Nr. 53/91. 39 Die Verfassung der Republik Kroatien wurde am 21. Dezember 1990 verabschiedet und in Narodne novine, Nr. 56/90, veröffentlicht. 40 Die Verfassung der Sozialistischen Republik Kroatien vom 22. Februar 1974 wurde in Narodne novine, Nr. 8/74, veröffentlicht.
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Zeit Rechnung zu tragen, der das rezipierte und tief eingewurzelte österreichische ABGB zugrunde liegt, welches das kroatische Bürgerliche Gesetzbuch – OGZ war41. a) Die Rechtsregeln aus dem ehemaligen ABGB als subsidiäre Quelle des bürgerlichen Rechts Die Bestimmungen der Verfassung der Republik Kroatien aus 1990, die der gesamten kroatischen Rechtsordnung zugrunde liegen sollten, erfordern ein Rechtssystem, das sich von jenem System, welches die Republik Kroatien von dem ehemaligen SFR Jugoslawien und der SR Kroatien „geerbt“ hatte, unterschied. Doch mit dem Akt ihrer Verselbständigung hat die Republik Kroatien nicht die Kontinuität ihrer Rechtsordnung mit jener, die als Erbe aus dem ehemaligen Staat hervorging, negiert. Der Weg zu einem neuen, eigenen Rechtssystem führte über die Beibehaltung bzw. Übernahme des damaligen Systems42 und seine allmähliche Abänderung hin zum Aufbau eines neuen. Damit im Zusammenhang wurden einige, genau bestimmte Rechtsregeln des OGZ (ABGB) durch besondere Verordnungen übernommen43. Da damit ungewollt Zweifel daran hervorgerufen wurde, ob auch die übrigen Rechtsregeln aus dem OGZ (ABGB) und anderen ehemaligen Vorschriften angewendet werden können, wurde unverzüglich ein eigenes kroatisches Gesetz über die Art der Anwendung der vor dem 6. April 1941 ergangenen Rechtsvorschriften verabschiedet44. Dieses Gesetz sieht vor, dass 41
Siehe N. Gavella, Die Regelung des gesellschaftlichen Eigentums und des Sachenrechts in Kroatien, in: T. Boric´/W. Posch (Hrsg.), Privatisierung in Ungarn, Kroatien und Slowenien im Rechtsvergleich, 1993, 13 – 24; G. Kocijan, Die Entwicklung des bürgerlichen Rechts in Kroatien nach dem Zerfall des Kommunismus, in: Munuscula – Festschrift für Klaus Luig, Köln 1995, 151 – 164. 42 Gleichzeitig mit der Verkündung ihrer Unabhängigkeit übernahm die Republik Kroatien die Gesetze, die bis dahin Bundesgesetze waren, in ihre Gesetzgebung. Bei der Übernahme wurden diese Gesetze, wo es nötig war, geändert, indem die tiefgreifendsten Unvereinbarkeiten mit der neuen Verfassung der Republik Kroatien aus dem Jahre 1990 abgeschafft wurden. Später wurden weitere Anpassungen vorgenommen, jedoch blieb die Frage der nicht ausreichenden Übereinstimmung dieser Gesetze mit der Verfassung aus 1990 bestehen. 43 Anlässlich der Übernahme des jugoslawischen Gesetzes über die Schuldverhältnisse wurde ausdrücklich angeordnet: „Die Artikel des OGZ (ABGB) hinsichtlich Schenkungen und Erwerbsgesellschaften werden als Rechtsregeln angewendet, insofern sie i(m) Einklang mit der Verfassung und den Gesetzen der Republik Kroatien stehen“ (Artikel 27 des Gesetzes über die Übernahme des Gesetzes über die Schuldverhältnisse – Narodne novine, Nr. 53/1991 und 73/ 1991). Ähnlich wurde anlässlich der Übernahme des jugoslawischen Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse angeordnet: „Die Artikel des OGZ (ABGB) und andere Rechtsvorschriften (Gesetze, Verfügungen, Verordnungen, Geschäftsordnungen u. a.), die am Tag des 6. April 1941 hinsichtlich de(r) Fruchtnießung, des Gebrauchsrechtes, der Dienstbarkeit der Wohnung, der Reallasten und der Stiftungen in Kraft waren, werden als Rechtsregeln angewendet, insofern sie i(m) Einklang mit der Verfassung und den Gesetzen der Republik Kroatien stehen“ (Artikel 18 des Gesetzes über die Übernahme des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse – Narodne novine, Nr. 53/1991). 44 Narodne novine, Nr. 73/1991.
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Rechtsregeln dieser ehemaligen Gesetze, die bis dahin in Kroatien angewendet worden waren45, auch weiterhin unter den Voraussetzungen angewendet werden, dass man sie auf Verhältnisse, die nicht durch gültige Vorschriften der Republik Kroatien geregelt sind, anwendet und sie im Einklang mit der Verfassung und den Gesetzen der Republik Kroatien stehen. Damit ist die grundsätzliche Möglichkeit der Geltung von Rechtsregeln des ehemaligen OGZ (ABGB) außer Zweifel gestellt, zumindest von jenen, die in Kroatien auch bis 1991 angewendet wurden. b) Die Rolle der Tradition des ABGB beim Aufbau der neuen zivilrechtlichen Regelungen Mit dem österreichischen ABGB wurde die Rechtsordnung in Kroatien in die zeitgenössische Rechtsschicht des kontinentaleuropäischen Rechtskreises eingebunden, und zwar in jene Untergruppe, die als mitteleuropäisches Recht bezeichnet wird. Das Gesetzbuch bildete ein dauerhaftes Band der kroatischen Rechtsordnung zu diesem Rechtskreis. Dieses Band wurde zwar allmählich schwächer, aber nie gänzlich zerrissen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die Verbindung mit dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis, so sehr sie auch abgeschwächt wurde, niemals völlig verloren ging. Die tief verwurzelte Tradition des ABGB (OGZ) im kroatischen Recht ist zweifellos eine geeignete Grundlage für die Errichtung einer neuen kroatischen Privatrechtsordnung. Im Zusammenhang mit dem Bedarf nach einer neuen Privatrechtsordnung in der Republik Kroatien stellte sich dann folgende Frage: Wäre es nicht wünschenswert, neuerlich das OGZ, also das rezipierte ABGB, anzunehmen? Die Gründe dafür und dagegen wurden sorgfältig überprüft; es wurde eingewendet, dass sowohl die einen als auch die anderen gewichtig sind, aber es wurde auch bemerkt, dass sie sich gegenseitig doch nicht ausschließen. Die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten über die Art und Weise der Anpassung der bestehenden Ordnung an die neuen Bedürfnisse und Bestrebungen zeigten, dass es möglich ist, die neue kroatische zivilrechtliche Regelung auch ohne neuerliche Rezeption des ABGB aufzubauen, aber eben in der Tradition des OGZ (ABGB). Es wurde gezeigt, dass es möglich ist, das kroatische bürgerliche Recht unter Wahrung der Tradition des OGZ (ABGB) aufzubauen, aber dabei die reiche Entwicklung der europäischen zivilrechtlichen Regelungen vom Zeitraum des Inkrafttretens des ABGB bis heute keineswegs zu vernachlässigen. Das Band der zivilrechtlichen Ordnung in Kroatien mit der Tradition des ABGB, welches nie gänzlich zerrissen worden war, wurde in dieser Weise weiter erhalten als Grundlage, auf der man weiter aufbauen konnte. Bei der Abfassung jener Gesetze, die das neue kroatische Privatrecht bilden, wie zum Beispiel das Gesetz über das Eigen-
45 Sie wurden aufgrund des jugoslawischen Gesetzes über die Ungültigkeit von Rechtsvorschriften, die vor dem 6. April 1941 und während der Zeit der feindlichen Okkupation ergingen, angewendet – Sluzˇbeni list FNRJ [Amtsblatt der FNR Jugoslawien], Nr. 86/1946.
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tum und andere dingliche Rechte46 oder das Grundbuchsgesetz47, war man bemüht, der kroatischen Rechtstradition aus der vorkommunistischen Zeit Rechnung zu tragen, der das rezipierte und tief eingewurzelte österreichische ABGB zugrunde liegt, welches das kroatische Bürgerliche Gesetzbuch – OGZ war. Dabei bemühte man sich jedoch – von dieser Tradition nicht allzu sehr abweichend – die Errungenschaften der Rechtslehre sowie die seit der Verabschiedung des ABGB bis zur heutigen Zeit erlangten Erfahrungen verwandter Gesetzgebungen zu berücksichtigen. Man war bestrebt, die kroatische sachenrechtliche Regelung an die entsprechenden zeitgemäßen Einrichtungen der mitteleuropäischen Untergruppe von Rechtsordnungen des kontinentaleuropäischen Rechtskreises (Österreich, Deutschland, Schweiz) anzupassen. Dies insbesondere hinsichtlich jener Bereiche, in denen sich das kroatische Privatrecht – in der Zeit, in der das kroatische Recht in den Kreis der sozialistischen Rechtssysteme eingegliedert war – von diesen Rechtsordnungen entfernt hatte oder ihnen nicht gefolgt war.
II. Der Einfluss des ABGB auf Kodifikationen in Kroatien (Igor Gliha, Tatjana Josipovic´) 1. Einleitung Das ABGB (auf kroatisch hieß es „Opc´i grad¯anski zakonik“ – OGZ) exisitert als Rechtsquelle im Rechtsleben auf dem Gebiet der Republik Kroatien schon seit dem Jahre 181448 (also nur zwei Jahre nach dem Inkrafttreten in den österreichischen, deutschen Ländern am 1. 1. 1812) bis zur heutigen Zeit49. Schon allein dadurch hat es tiefe Spuren im kroatischen Privatrecht (Zivilrecht) hinterlassen, sogar so tiefe, 46 Narodne Novine, Nr. 91/1996, 68/1998, 137/99, 22/2000, 73/2000, 114/2001, 79/2006, 141/2006 und 146/2008. 47 Narodne Novine, Nr. 91/1996, 68/1998, 137/1999, 114/2001, 1000/2004, 107/2007 und 152/2008. 48 Es entwickelte sich über einen längeren Zeitraum – von 1812 bis 1853 – hinweg, weil es zu verschiedenen Zeiten in den einzelnen Teilen Kroatiens eingeführt wurde: in der Militärgrenze 1812, in Istrien 1815, in Dalmatien 1816 und im übrigen Teil Kroatiens 1853. Das ABGB wurde mit den Novellen aus 1914, 1915 und 1916 angewandt (die aber im kontinentalen Kroatien nie in Kraft traten, aber in der Gerichtspraxis fanden die Rechtsvorschriften des novellierten ABGB als die modernste ihre Anwendung). Siehe N. Gavella, Grad¯anskopravno ured¯enje u Hrvatsko … [Die zivilrechtliche Ordnung in Kroatien und Zugehörigkeit der Rechtsordnung zum kontinentaleuropäischen Rechtskreis], in: N. Gavella/M. Alincˇic´/P. Klaric´/ K. Sajko/T. Tumbri/Z. Stipkovic´/T. Josipovic´/I. Gliha, Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje i kontinentaleuropski pravni krug [Kroatische Zivilrechtsordnung und kontinentaleuropäischer Rechtskreis], Zagreb 1994, 11; Z. Stipkovic´, Predgovor Zakonu o osnovnim vlasnicˇkopravnim odnosima [Vorwort zum Gesetz über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse], Zagreb 1991, 5; N. Gavella, Die Rolle des ABGB in der Rechtsordnung Kroatiens, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 4 (1997), 603 ff. 49 Über die Einführung des ABGB in die kroatische Rechtsordnung und über ihre Anwendung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als es seine „Rechtskraft“ verlor, siehe ausführlicher Gavella, Grad¯anskopravno, wie Fn. 48, 10 – 34, 50 – 51.
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dass es die Juristen lange Zeit als ihr eigenes Gesetz50 empfanden. In den Gesprächen über die Reform des kroatischen Zivilrechts brachten einige Juristen ihre Meinung zum Ausdruck, dass das ABGB so rezipiert werden sollte, wie es in Kroatien51 angewandt worden war (wobei man aber außer Acht ließ, dass auch in Österreich viele Bestimmungen des ABGB geändert oder ihnen durch besondere Vorschriften derogiert wurde). Der Einfluss des ABGB hat sich jedoch der Rolle nach im Rechtssystem und im Bewusstsein der Juristen größtenteils verloren. Für das heutige kroatische Zivilrecht ist nämlich die Aufgliederung in einzelne Segmente kennzeichnend, die man als Erbe aus der Zeit betrachten kann, als die kroatische Rechtsordnung der sozialistischen Rechtsordnung angehörte. Diese Aufgliederung ist mit der Änderung der Gesellschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden, d. h. mit dem Versuch einen solchen Staat zu schaffen, der sich auf die marxistische Ideologie gründet und der Einrichtung des Zivilrechts eine Nebenrolle zuordnet. Die zivilrechtliche Ordnung Kroatiens begann sich zu segmentieren, d. h. einige Rechtsbereiche trennten sich vom Zivilrecht und entwickelten sich zu selbständigen Disziplinen, die mit besonderen Vorschriften eingerichtet wurden. So trennte sich das Familienrecht vom Zivilrechtsstamm. Das Familienrecht bestimmte in erster Linie Verhältnisse, die nicht das Vermögen betrafen, und zwar zwischen Personen, welche in einem Familienverhältnis standen. Die Bestimmungen des ABGB über das Eherecht, die Rechte zwischen Eltern und Kindern, Vormundschaft und Kuratelen kamen in der Praxis nicht mehr in Anwendung. Dadurch entstanden Rechtslücken, die die Gerichte mit eigenen Regeln52 ausfüllten. Dieser Zustand dauerte bis zur Kundmachung der besonderen Vorschriften, mit denen diese Verhältnisse53 rechtlich geregelt wurden. Hinsichtlich der bereits langjährigen Trennung des Familienrechts vom Zivilrecht kann man sagen, dass im kroatischen Recht heute die Doktrin herrscht, das Familienrecht als eigenständige Disziplin zu betrachten, die im großen Maß gegenüber dem Zivilrecht selbständig ist, mit der Tendenz zu einer noch größeren Selbständigkeit. Daher befinden sich auch im Vorschlag des neuen Gesetzes über die Familienverhältnisse besondere Bestimmungen über die Vermögensverhältnisse in der Familie. Auf ähnliche Weise wurde auch das Arbeitsrecht vom Zivilrecht getrennt.
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Ebda, 19. 1992 haben sogar drei Abgeordnete aus dem damaligen kroatischen Parlament (Sabor) vorgeschlagen, dass das Gesetz über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse, das zu der Zeit noch das Sachenrecht bestimmte, aufgehoben und dass die Bestimmungen aus dem ABGB zur Anwendung kommen sollten. Diese Idee, die Bestimmungen des ABGB in die kroatische Rechtsordnung zu rezipieren, wurde aber damals nicht akzeptiert. 52 Siehe Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 70. 53 Das war das Grundgesetz über die Ehe aus dem Jahre 1946, das Grundgesetz über die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern aus dem Jahre 1947, das Gesetz über die Annahme an Kindesstatt (Adoption) aus dem Jahre 1947 und das Grundgesetz über die Vormundschaft aus dem Jahre 1947. M. Vukovic´, Opc´i grad¯anski zakonik [Das allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch], Zagreb 1955, 30. 51
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Bis Ende des Zweiten Weltkriegs war das ABGB auf dem Gebiet der Republik Kroatien die gesetzliche Grundlage der Zivilrechtsordnung. Auch heute sind die Bestimmungen des ABGB ein Teil der kroatischen Rechtsordnung, aber mit ganz anderer Bedeutung. Die ersten Änderungen traten nach dem Zweiten Weltkrieg und während der Okkupation54 ein, als die damalige revolutionäre Macht das Gesetz über die Ungültigkeit der Rechtsvorschriften vom 6. April 1941 erließ. Grundsätzlich brachte dieses Gesetz eine Diskontinuität der Rechtsordnungen des damaligen Jugoslawiens, des kapitalistischen vor dem Zweiten Weltkrieg und des sozialistischen nach dem Zweiten Weltkrieg und des gescheiterten im Jahre 199155. Mit anderen Worten: Alle festgelegten Vorschriften bis 6. April 1941 und auch das ABGB traten mit der Kundmachung dieses neuen Gesetzes außer Kraft. Trotz des Wunsches der damaligen Macht, jede Verbindung mit dem kapitalistischen System abzubrechen, konnte dies doch nicht bis zum Ende durchgeführt werden, weil die Rechtslücken zu groß erschienen. Deshalb wurde mit Art. 4 des Gesetzes über die Ungültigkeit der Rechtsvorschriften die Anwendungsmöglichkeiten der früheren Vorschriften aufrechterhalten, aber nicht mehr im Rang eines Gesetzes, sondern nur als sog. Rechtsregeln56. In Kroatien blieb daher aufgrund dieses Art. 4 das ABGB weiterhin in Anwendung, aber nicht mehr mit Gesetzeskraft, sondern seine Bestimmungen wurden als „Rechtsregeln“ angewandt, die auf den Stufen der Rechtsquellen die niedrigste Position einnahmen. Nachdem die Republik Kroatien 1991 zum selbständigen Staat wurde, hat sie mit besonderen Gesetzen viele Normen der ehemaligen SFRJ, die die Grundlage des Zivilrechts57 waren, in ihre Rechtsordnung übernommen. Mit den Gesetzen über die Übernahme der einzelnen Vorschriften wurde ausdrücklich die Anwendung der einzelnen Bestimmungen des ABGB auf Rechtsverhältnisse verfügt, die nicht mit diesen Vorschriften58 eingerichtet waren. Dazu wurde noch das besondere Gesetz verabschiedet, das allgemein die Anwendungsmöglichkeit der vor dem 6. April 1941 erlassenen Vorschriften auf Rechtsverhältnisse bestimmt hat, die nicht durch das positive Recht geregelt waren – das Gesetz über die Anwendungsweise der vor dem 54
Amtsblatt der FNRJ Nr. 86/1946. Man war der Ansicht, dass nur eine sog. innere Diskontinuität, d. h. eine Diskontinuität zwischen den Vorschriften der einheimischen Rechte, aber im Außenverhältnis Kontinuität bestand, d. h. die internationalen Verträge, die im damaligen Königreich Jugoslawien galten, blieben auch im „ehemaligen“ Jugoslawien, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, in Kraft. 56 Die Bestimmungen des ABGB kamen als Rechtsregeln aufgrund der Art. 3 und 4 des zitierten Gesetzes zur Anwendung. Ihre Anwendung war bei Rechtsverhältnissen möglich, die nicht von positiven Vorschriften geregelt waren, d. h. dass in der damaligen positiven Gesetzgebung eine Rechtslücke bestand, die gefüllt werden musste. Aber auch dann war die Anwendung nur erlaubt, wenn die anzuwendende Rechtsvorschrift nicht in Kollision zu den Vorschriften der neuen Rechtsordnung stand. 57 Vgl. z. B. das Gesetz über die Übernahme des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse (NN Nr. 53/91) und das Gesetz über die Übernahme des Gesetzes der Obligationenverhältnisse (NN Nr. 53/91). 58 Siehe ausführlicher oben. 55
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6. April 194159 festgelegten Rechtsvorschriften. Diese Vorschriften bestimmten, unter welchen Bedingungen man die vor dem 6. April 1941 erlassenen Vorschriften als „Rechtsregeln“ anwenden konnte. Diese Voraussetzungen waren: 1. das Bestehen einer Rechtslücke; 2. die Anwendung der Bestimmung bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Anwendungsweise der festgelegten Vorschriften vom 6. April 1941; 3. Übereinstimmung der Bestimmung mit der Verfassung der Republik Kroatien. So werden auch in der positiven Rechtsordnung die Bestimmungen des ABGB hinsichtlich der Rechtsverhältnisse, die nicht durch positives Recht geregelt sind60, angewendet. Solche Rechtsverhältnisse gibt es jedoch immer weniger, weil inzwischen in der Republik Kroatien viele neue Vorschriften auf dem Gebiet des Zivilrechts erlassen wurden, die fast zur Gänze die verschiedenen Zivilrechtsverhältnisse61 regeln. 2. Der Einfluss des ABGB auf Kodifikationen des Sachenrechts Die Vorschriften des ABGB, die das Sachenrecht, seinen Inhalt, Erwerb, Änderung, Aufhebung und Schutz regeln, waren in Kroatien bis zur Kundmachung des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse in Kraft. Das ABGB war seit seiner Einführung in den einzelnen Gebieten Kroatiens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als die kroatische Rechtsordnung in den Kreis der sozialistischen Rechtsordnungen eingebunden wurde, die Hauptquelle für das kroatische Zivilrecht und somit auch für das Sachenrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ver59
NN Nr. 73/91. Bei Beginn der Anwendung der Bestimmungen des ABGB als Rechtsvorschriften stellte sich die Frage, ob das ABGB mit oder ohne Novellen anzuwenden sei. Als nämlich 1918 Kroatien die staatsrechtlichen Verbindungen mit der österreichisch-ungarischen Monarchie abgebrochen hat, blieben zwei Rechtsgebiete: eines, wo die kroatischen Länder aus dem System der Habsburgermonarchie stammten und das ABGB mit den Novellen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/1915/1916) zur Anwendung kam, und das andere mit den kroatischen Ländern, die direkt dem kroatischen Landtag unterstanden und wo das ABGB ohne die erwähnten Novellen angewendet wurde. Die Septemviraltafel, die bis zum Entstehen des zweiten Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg das Gericht der letzten Instanz darstellte, hatte zwei Sektoren: Sektor A (für den Bereich des nichtnovellierten ABGB) und Sektor B (für den Bereich des novellierten ABGB). Siehe Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 20. Die Antwort auf die Frage, ob das ABGB mit oder ohne Novellen anzuwenden sei, gab die Gerichtspraxis, wo die Ansicht vertreten wurde, dass in ganz Kroatien die Bestimmungen des novellierten ABGB, als das modernere, anzuwenden sind. 61 Z.B. hat Kroatien noch kein Bürgerliches Gesetzbuch und es bestehen keine systematisierten Bestimmungen des Allgemeinen Teils des Zivilrechtes. Ein Teil dieser Bestimmungen ist im Allgemeinen Teil des Gesetzes über die Schuldverhältnisse (= kroatische Abkürzung: ZOO) enthalten, dessen Bestimmungen als Bestimmungen des Allgemeinen Teils des Zivilrechts aufgrund des Art. 25 Abs. 3 des ZOO angewendet werden. Im ZOO ist jedoch nicht der ganze Teil des Zivilrechts geregelt. Darin gibt es keine Bestimmungen über die Anwendung der Gewohnheiten als Rechtsquellen, über das Verhältnis zwischen den neuen und alten bzw. allgemeinen und besonderen Vorschriften. In solchen Fällen kommen als Rechtsvorschriften die Paragraphen des ABGB zur Anwendung. 60
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lor das ABGB „seine Rechtskraft“ durch das Gesetz über die Ungültigkeit der Rechtsvorschriften vom 6. April 1941 und während der Okkupation. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Normen des ABGB, die sich auf das Sachenrecht bezogen, nicht mehr als Gesetz, sondern als „Rechtsvorschriften“ angewendet. Die sachenrechtlichen Verhältnisse, die nicht mit dem positiven Recht geregelt waren, wurden gemäß dem Inhalt der Normen aus dem ABGB als „Rechtsvorschriften“ geregelt, und die Bestimmungen des Gesetzes über die Ungültigkeit (Art. 3, 4.) erteilten die gesetzliche Sanktion einer solchen Anwendung der „Rechtsvorschriften“. Hinsichtlich der häufigen Änderungen des kroatischen Sachenrechts in der Zeit der Einbeziehung in den sozialistischen Rechtskreis war die Anwendung der Normen des ABGB auf das Sachenrecht, auch als Rechtsvorschrift bedeutend eingeschränkt. Das Sachenrecht hat in dieser Zeit große inhaltliche und strukturelle Änderungen erlitten, wodurch es vom kontinentaleuropäischen Standard in der Regelung der sachenrechtlichen Verhältnisse, und somit auch der Regelung dieser Verhältnisse im ABGB sehr entfernt wurde. Anstatt einer individualistischen Gestaltung des Eigentums, entsprechend dem ABGB und anderen kontinentaleuropäischen Kodifikationen des Zivilrechts, wurde eine kollektivistische Regelung des Eigentums bestimmt. Mit dem Verlassen der individualistischen Gestaltung des Eigentums wurde auch gleichzeitig der Grundsatz des freien Eigentums, die Gleichheit aller rechtlichen Subjekte sowie die Gleichbehandlung aller Eigentumsobjekte und anderer Sachenrechte verlassen62. Die sachenrechtlichen Vorschriften wurden segmentiert. Einerseits bestanden zwei ganz verschiedene sachenrechtliche Regelungen der Sachzugehörigkeit – gesellschaftliche und eigentumsrechtliche Eigentumsverhältnisse. Andererseits wurden eine Reihe von besonderen sachenrechtlichen Einrichtungen für bestimmte Arten von Objekten wie Baugrundstücke, landwirtschaftliche Grundstücke und Waldgrundstücke geschaffen.63 In einer solchen Aufgliederung der sachenrechtlichen Regelungen konnten die Normen des ABGB als Rechtsvorschriften nur in sehr engen Grenzen angewendet werden. Ihre Anwendung kam nur in den dinglichen Rechten zum Ausdruck, die zu dem sog. eigentumsrechtlichen (zivilrechtlichen) Segment gehörten, das wiederum auf einen sehr engen Kreis der Subjekte, wie Eigentum und andere Sachenrechte und nur auf Objekte wie Privateigentum beschränkt war. Aber auch dann kamen die Normen des ABGB nur zur Anwendung, wenn mit den positiven Vorschriften die Rechtsverhältnisse hinsichtlich einiger dieser Rechtssubjekte und -objekte nicht besonders bestimmt waren64. In diesen 62
Siehe N. Gavella, Stvarno pravo u doba ukljucˇenosti u socijalisticˇki pravni krug [Das Sachenrecht in der Zeit der Einschließung in den sozialistischen Rechtskreis], in: Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 88. 63 Ebda. 64 Auch in Hinsicht auf dieses Segment der Normenanwendung des ABGB als Rechtsvorschrift gab es bedeutende Einschränkungen, weil auch für diese Einrichtungen des sog. privaten (bürgerlichen) Eigentums die sog. kollektivistische Konzeption vorherrschte, die im Gegensatz zur individualistischen stand, nach der das Eigentum im ABGB eingerichtet war. Darüber ausführlich Gavella, Stvarno pravo, wie Fn. 62, 88 – 96.
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Grenzen wurde das ABGB in der Gerichtspraxis frei angewandt, wobei aber in jedem Einzelfall darauf geachtet wurde, ob die Normen mit der neuen Rechtsordnung übereinstimmen65. In diesem Sinne blieb die Anwendung der Bestimmungen des ABGB als Rechtsvorschrift bis zur Kundmachung des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse (ZOVO)66 geregelt. Das ZOVO war die Rechtsquellenbasis für das eigentumsrechtliche Segment der sozialistischen Sachenrechtsordnung auf dem Gebiet der ganzen ehemaligen SFRJ. Diese Vorschrift hat nur die Grundbestimmungen über den Besitz und einzelne Sachenrechte geregelt sowie besondere Kollisionsnormen. In der damaligen sachenrechtlichen Regelung wurde ihr nicht viel Bedeutung zugemessen. Die Bestimmungen des ZOVO fanden ihre Anwendung in sehr engen Grenzen: nur bei sachenrechtlichen Verhältnissen zwischen Rechtssubjekten, die Rechtsträger des Eigentums und anderer Sachenrechte sein konnten und das nur in Hinsicht jener Objekte, an denen eigentumsrechtliche Verhältnisse bestehen konnten. Das ZOVO war – im Einklang mit der damaligen amtlichen Doktrin, die der eigentumsrechtlichen Einrichtung eine Nebenrolle zuteilte – kollektivistisch konzipiert67. Deshalb kontrastierte es von den individualistisch und liberalistisch konzipierten Bestimmungen der sachenrechtlichen Regelungen der Bürgerlichen Gesetzbücher Kontinentaleuropas68. Über die einzelnen Sachenrechte, die von besonderer Wichtigkeit für die Marktwirtschaft und die Sicherung von Forderung im Rechtsverkehr sind, wie z. B. das Pfandrecht, enthielt das ZOVO nur sehr kurz zusammengefasste Bestimmungen69. In diesem Gesetz war der Vertrauensschutz im Liegenschaftsverkehr etwa beim Bauen auf Grundstücken im gesellschaftlichen Eigentum vollkommen vernachlässigt, auch war der Grundsatz „superficies solo cedit“ beim Erwerb des Eigentums durch Bauen auf fremden Grund verlassen70. Trotz all dieser Abwendungen von der traditionellen Regelung der sachenrechtlichen Verhältnisse wurden einzelne gesetzliche Lösungen im ZOVO unter Einfluss der Bestimmungen des ABGB verfasst. 65 Wegen der Anpassung an die neue Rechtsordnung haben sich die Auslegungen der einzelnen Normen des ABGB oft von den traditionellen Auslegungen und auch von den traditionellen Grundsätzen der sachenrechtlichen Einrichtungen abgehoben, wie der Grundsatz superficies solo cedit. Darüber ausführlicher Gavella, Stvarno pravo, wie Fn. 62, 93; T. Josipovic´, Zemljisˇnoknjizˇno pravo u doba ukljucˇenosti u socijalisticˇki krug [Grundbuchsrecht in der Zeit der Einschließung in den sozialistischen Rechtskreis], in: Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 118 – 132. 66 Amtsblatt der SFRJ Nr. 6/1980, 36/1090. 67 Siehe Gavella, Stvarno pravo, wie Fn. 62, 91, 92. 68 Ebda. 69 Im ZOVO war das Pfandrecht sogar nur teilweise, d. h. nur auf Liegenschaften (Hypotheken), geregelt, während das Pfandrecht auf bewegliche Sachen (pignus), das durch das Gesetz über die verbindlichen Verhältnisse bestimmt wurde, noch mehr an Bedeutung als Sachenrecht verlor. 70 Vgl. z. B. Art. 12, 24 – 26 ZOVO. Das alles hatte zur Folge, dass zu dieser Zeit das kroatische Grundbuchsystem in seiner Funktion fast gar nicht zur Anwendung kam. Darüber ausführlicher Josipovic´, wie Fn. 65, 118 – 132.
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Wie das ABGB, so hat auch das ZOVO die sachenrechtlichen Verhältnisse nach dem Grundsatz des einheitlichen Sachenrechts geregelt, ohne zwischen den besonderen Rechtseinrichtungen des Sachenrechts unbeweglicher und beweglicher Güter zu unterscheiden, was z. B. im Deutschen Gesetzbuch und im Schweizerischen Gesetzbuch besonders behandelt wird. Nach dem Muster des ABGB wurde im ZOVO auch der traditionelle Grundsatz über den Erwerb der Sachenrechte aufgenommen, der sonst allen mitteleuropäischen Rechtsordnungen eigen ist. Aber im Unterschied zum ABGB wurde dieser traditionelle Grundsatz nur für den Erwerb der Sachenrechte erlassen. Dabei blieb jedoch das ZOVO in der Tradition des ABGB, indem der Grundsatz der kausalen Tradition daraus übernommen wurde. Das ZOVO schrieb vor, dass für den Erwerb eines Sachenrechts aufgrund eines Rechtsgeschäfts außer dem Recht des Veräußerers eine gültige Rechtsgrundlage über den Erwerb (titulus) und eine gültige Erwerbsart (modus) notwendig ist. Beim Liegenschaftserwerb stellte dieser Modus die Eintragung ins öffentliche Buch dar, oder es wurde durch das Gesetz eine andere Art bestimmt71. Auf dem Gebiet Kroatiens war der Modus für den rechtsgeschäftlichen Erwerb von Sachenrechten an Liegenschaften die Eintragung ins Grundbuch72. Einige Erwerbsarten von Sachenrechten aufgrund des Gesetzes wurden im ZOVO auch unter dem überwiegenden Einfluss der Bestimmungen des ABGB geregelt. So wie auch im ABGB wurde im ZOVO die Möglichkeit von Eigentumserwerb an Liegenschaften durch tabulare Ersitzung nicht akzeptiert, sondern gemäß ABGB die extratabulare und kontratabulare Ersitzung behalten. Es wurden nur die Ersitzungszeiten gegenüber denen im ABGB73 verkürzt. Ebenso nahm man für die Regelung des Eigentumserwerbs vom Nichteigentümer bei beweglichen Sachen den § 367 ABGB als Muster74.
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Vgl. Art. 33, 34 ZOVO. Einer der Gründe, den traditionellen Grundsatz beizubehalten, war auf alle Fälle seine, schon seit der Einführung des ABGB bestehende, tiefe Verwurzelung in der kroatischen Rechtsordnung. 72 Die Grundbücher in den kroatischen Gebieten entwickelten sich unter dem überwiegenden Einfluss des österreichischen Grundbuchsrechts. Die erste Grundbuchsordnung wurde im Jahre 1855 erlassen. Die Anwendung dieser Ordnung dauerte bis 1930, als für das ganze Gebiet des Königreichs Jugoslawien die neuen Grundbuchsvorschriften kundgemacht wurden: das Gesetz über die Grundbücher vom 18.5.1930 (Zakon o zemljisˇnim knjigama), das Gesetz über die innere Einrichtung, Anlegung und Berichtigung der Grundbücher vom 18. 5. 1930 (Zakon o unutrasˇnjem ured¯enju, osnivanju i ispravljanju zemlisˇnih knjiga), das Gesetz über die grundbücherlichen Teilungen, Ab- und Zuschreibungen vom 31.12.1930 (Zakon o zemljisˇnoknizˇnim diobama, otpisima i pripisima), das Dienstbuch für die Führung der Grundbücher vom 17.2.1931 (Pravilnik za vod¯enje zemljisˇnih knjiga). Diese grundbuchsrechtlichen Regeln stellten nahezu gänzlich eine Rezeption des Österreichischen Grundbuchsrechts dar. Sie entsprechen beinahe wortwörtlich dem österreichischen Allgemeinen Grundbuchsgesetz vom 25.7.1871, dem Allgemeinen Grundbuchsanlegungsgesetzes (AllGAG) vom 19.12.1929, dem Liegenschaftseinteilungsgesetz vom 19.12.1929 sowie dem Dienstbuch für die Führung der öffentlichen Bücher (Grundbuchsvorschrift, GV) vom 1.3.1930. 73 Vgl. Art. 28 ZOVO. 74 Vgl. Art. 31 ZOVO.
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Andererseits wurden im ZOVO auch einige traditionelle Lösungen aus dem deutschen und schweizerischen Recht übernommen. So wurde z. B. als Unterschied zum ABGB im ZOVO der Besitz nach dem Muster der deutschen und schweizerischen objektiven Konzeption des Besitzes geregelt, nach der als Besitzer jeder betrachtet wird, der die faktische Macht über die Sache verwirklicht (Art. 70 ZOVO)75. Ein weiterer Unterschied zum ABGB war im ZOVO die Bestimmung, dass sachenrechtliche Klagen nicht verjähren. Demnach konnte die Forderung nach Schutz des Sachenrechtes gestellt werden, solange das Recht bestand, bzw. bis es durch irgendeinen gesetzlich vorgesehenen Grund aufgehoben wurde. Mit der Kundmachung des ZOVO wurde der Bedarf der Anwendungen von ABGB-Bestimmungen als Rechtsvorschriften nicht vollständig beseitigt. Das ZOVO hat auch nicht alle Sachenrechte grundlegend geregelt, die bis zu seiner Kundmachung in der kroatischen Rechtsordnung bestanden, weil sie in den Rechtsvorschriften des ABGB normiert waren. So wurde im ZOVO die persönliche Dienstbarkeit nicht geregelt, es wurde nur bestimmt, dass das Recht der Fruchtnießung, das Recht des Gebrauchs, das Recht des Wohnens und das Recht der Reallasten durch Gesetz geregelt werden76. In der sozialistischen Republik Kroatien wurde allerdings die Vorschrift, die die persönlichen Dienstbarkeiten und Reallasten bestimmen sollte, nie erlassen. Auf die Regelung der Rechtsverhältnisse bezüglich Erwerb, Änderung und Erlöschung der persönlichen Dienstbarkeiten sowie ihren Inhalt und Schutz wurden weiterhin die Bestimmungen des ABGB über die persönlichen Dienstbarkeiten angewendet. Außerdem entstand manchmal der Bedarf, die Normen des ABGB auch auf Sachenrechte, die im ZOVO zwar geregelt waren, aber doch nur ungenügend, anzuwenden. So enthielt das ZOVO z. B. keine besonderen Bestimmungen über die Eigentümerhypothek im weiteren Sinne, wie das mit der 3. Teilnovelle aus dem Jahre 1916 im ABGB geregelt wurde. Im ZOVO bestand keine Bestimmung über die Verfügung des Hypothekenranges nach der Löschung der Forderung, die mit der Hypothek besichert war (forderungsentkleidete Eigentümerhypothek, § 469 u. a. ABGB). Es bestanden auch keine Bestimmungen über die Verfügungsmöglichkeiten der Hypotheken nach Vereinigung der Rechte und Pflichten in einer Person (forderungsbekleidete Eigentümerhypothek, § 1446 ABGB). Nachdem im ZOVO die Erlöschung der Hypothek sowie auch die allgemeine Rechtseinrichtung der Hypotheken ähnlich dem österreichischen ABGB konzipiert war, konnte man diese Lücken mit der Anwendung der entsprechenden Bestimmungen des ABGB als Rechtsvorschrift füllen77.
75 Die Annahme der objektiven Besitzkonzeption im ZOVO gilt in der Literatur als ein wertvoller Beitrag zur kroatischen sachenrechtlichen Regelung. Siehe Gavella, Stvarno pravo, wie Fn. 62, 92. 76 Vgl. Art. 60 ZOVO. 77 Siehe N. Gavella, Zalozˇno pravo [Pfandrecht], Zagreb 1992, 67.
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Das ZOVO wurde in der kroatischen Gesetzgebung auch nach Eintritt der Selbständigkeit der Republik Kroatien rezipiert78. Bei dieser Gelegenheit wurde das ZOVO zwecks Anpassung an die Verfassungsbestimmungen der Republik Kroatien aus dem Jahre 1990 novelliert. Die Bestimmungen, mit denen man bis dahin auf bestimmte Weise das gesellschaftliche Eigentum favorisierte79, wurden abgeschafft; es entfielen auch die Einschränkungen, die für Bürger und bürgerliche Rechtspersonen80 vorgeschrieben waren81. Die Bestimmungen die das Sachenrecht, seine Durchführung, Inhalt, Erwerb, Änderung, Aufhebung und Schutz regelten, blieben bestehen. Weiterhin blieb nach dem Muster des ABGB der traditionelle Grundsatz des rechtsgeschäftlichen Sachenrechtserwerbs erhalten. Nun, nur mit der Änderung des ZOVO wurde die Anpassung des kroatischen Sachenrechts an die Rechtsordnungen der entwickelten Marktwirtschaften Kontinentaleuropas nicht durchgeführt. Im novellierten ZOVO waren auch nicht alle traditionellen Grundsätze der sachenrechtlichen Ordnung zu finden, die im ABGB und anderen Vorschriften bestehen und in der österreichischen Rechtsordnung wichtig für die sachenrechtliche Regelung sind (z. B. das österreichische Grundbuchsgesetz u. a.). Andererseits blieben auch weiterhin einige Sachenrechte (die persönlichen Dienstbarkeiten und Reallasten) außerhalb der positivrechtlichen Regelung. Deshalb bestand weiterhin der Bedarf, die Bestimmungen des ABGB als Rechtsvorschriften anzuwenden. Dies wurde nach Eintritt der Selbständigkeit der Republik Kroatien aufgrund des Art. 18 des Gesetzes über die Übernahme des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse82 sowie auch aufgrund des Gesetzes über die Art der Anwendung der vor dem 6. April 1941 erlassenen Rechtsvorschriften angewendet83. 78 Übernommen durch das besondere Gesetz über die Übernahme des Gesetzes über die grundlegenden eigentumsrechtlichen Verhältnisse (NN RH Nr. 53/91). 79 Z.B. die Bestimmung, dass mit der Ersitzung das Eigentum über Liegenschaften im gesellschaftlichen Eigentum nicht erworben werden kann, dass es kein Pfandrecht auf Liegenschaften im gesellschaftlichen Eigentum gibt, Bestimmungen über Dienstbarkeiten auf Liegenschaften im gesellschaftlichen Eigentum u. ä. 80 Siehe Stipkovic´, wie Fn. 48, 6. 81 Dadurch hat sich die bisherige Rolle des ZOVO als Quelle der Sachenrechtsordnung geändert. Die Vorschriften über das gesellschaftliche Eigentum wurden abgeschafft, was bereits mit der Verfassung der Republik Kroatien aus dem Jahre 1990, die Bestimmungen über das individualistisch konzipierte Eigentum und über den Grundsatz des einfachen Eigentums enthielt, geregelt wurde. Das ZOVO wurde die grundlegende Rechtsquelle der gesamten kroatischen sachenrechtlichen Ordnung. Siehe N. Gavella, Perspektiva razvoja stvarnog prava [Die Entwicklungsperspektive des Sachenrechts], in: Gavella u.a, Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 182. 82 Art. 18 des Gesetzes über die Übernahme des ZOVO bestimmt, dass die Paragraphen des ABGB und andere Rechtsvorschriften (Gesetze, Bestimmungen, Verordnungen, Dienstbücher u. a.) die ab 6. 4.1941 in Kraft stehen, hinsichtlich Fruchtnießung, Gebrauch, Wohnen, Reallasten und Stiftung als Rechtsregeln anzuwenden sind, wenn sie mit der Verfassung und den Gesetzen der Republik Kroatien übereinstimmen. 83 NN Nr. 72/1991. Aufgrund dieses Gesetzes wurden die übrigen Bestimmungen des ABGB, die nicht mit dem Art. 18 des Gesetzes über die Übernahme des ZOVO erfasst waren,
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Die gesamte Reform der Rechtsvorschriften des kroatischen Sachenrechts zwecks seiner Anpassung an die Rechtsordnungen des kontinentalen Europas erfolgte durch das Gesetz über Eigentum und andere dingliche Rechte (EDRG)84 und das Grundbuchsgesetz (GBG)85. Mit diesen Vorschriften wurde in der Republik Kroatien das Sachenrecht vollständig kodifiziert.86 Die mitteleuropäischen kontinentalen Rechtsordnungen waren dafür wegweisend. Das Eigentum ist nach der individualistischen Konzeption definiert und die moderne Lehre über die Sozialgebundenheit des Eigentums wurde angenommen. Erneut wurde der Grundsatz der Gleichartigkeit des Eigentums, der Grundsatz der Einheitlichkeit der Liegenschaft (superficies solo cedit) erlassen. Es wurde überhaupt ein solches Regelungswerk für das Sachenrecht erlassen, das eine wirkungsvolle Marktwirtschaft ermöglicht. Gerade das ABGB hatte die ausschlaggebende Bedeutung für die Kodifikation des kroatischen Sachenrechts. Man kann sagen, dass das ABGB zusammen mit einigen anderen daran geknüpften österreichischen Vorschriften (Wohnungseigentumsgesetz, Baurechtsgesetz, Grundbuchsgesetz und Grundbuchsumstellungsgesetz) die Basis für den Ausbau der neuen, modernen kroatischen Sachenrechtsordnung war. In den neuen Vorschriften über das Sachenrecht und über die Grundbücher fanden aus mehreren Gründen viele Lösungen aus dem ABGB ihre Anwendung. Damit wurde eine Kontinuität des kroatischen bürgerlichen Rechtes noch aus der Zeit aufrecht erhalten, als das ABGB die Rechtsquellenbasis des bürgerlichen Rechts in Kroatien darstellte. Die Regeln des ABGB sind in Kroatien tief verwurzelt und ihre Anwendung wurde in Kroatien zur Rechtstradition. Es wurden außerdem auch andere Gebiete der kroatischen Rechtsordnung für das sachenrechtliche Regelungswerk, das auf den Grundlagen der österreichischen Rechtsvorschriften aufbaute, wichtig. Das Grundbuchsrecht, Gerichtsverfahren, außergerichtliche Verfahren, Exekutionsverfahren, Notarämter, u. ä. wurden ebenfalls überwiegend unter dem Einfluß der österreichischen Vorschriften eingerichtet. Schließlich bestand in Kroatien schon Erfahrung mit der Anwendung des ABGB in der Gerichtspraxis sowie eine ausführliche Rechtsliteratur87. Nach dem Muster des ABGB ist im EDRG die Grundstruktur des Sachenrechts wie im ABGB enthalten. Das EDRG wie auch das ABGB behandeln nicht separat
sowie auch andere Vorschriften, wie z. B. Grundbuchsvorschriften aus dem Jahre 1930, als Rechtsregel anwendbar. 84 NN Nr. 91/96, 68/98, 137/99, 22/00, 73/00, 114/01, 79/06, 141/06, 146/08, 38/09. 85 NN Nr. 91/96, 91/96, 68/98, 137/99, 114/01, 100/04, 107/07, 152/08. 86 Daneben wurden viele andere Vorschriften von besonderer Bedeutung kundgemacht, wie z. B. das Gesetz über Ersatz für das enteignete Vermögen während der jugoslawisch kommunistischen Regierung (NN 92/1996), Wohnungsmietgesetz (NN 91/1996), Mietrechtsgesetz über Geschäftsräumlichkeiten (NN 91/1996) u. a. 87 Siehe N. Gavella, Ausbau der zivilrechtlichen Ordnung in Kroatien, mit Integration in das kontinentaleuropäische Recht aufgrund der Verfassung aus dem Jahre 1990, in: Gavella u.a, Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 176 f.
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die sachenrechtlichen Verhältnisse der beweglichen Sachen88. Die gleichen Vorschriften gelten für Liegenschaften wie für bewegliche Sachen. Ausnahmen, die sich nur auf Liegenschaften bzw. nur auf bewegliche Sachen beziehen, sind ausdrücklich geregelt. Eigentum, Miteigentum, Erwerb, Schutz und Aufhebung desselben ist durch Regeln bestimmt, die sich auf die Tradition des ABGB stützen89. Das Wohnungseigentum ist ebenfalls nach dem Muster der österreichischen Vorschriften geregelt, wobei Lösungen aus dem Wohnungseigentumsgesetz 1975 übernommen wurden90. Nach dem Muster des ABGB ist im EDRG der Erwerb des Eigentums und anderer Sachenrechte nach dem traditionellen Grundsatz aufgrund des Rechtsgeschäfts enthalten, und zwar nach dem Grundsatz der kausalen Tradition91. Der Modus des Sachenrechtserwerbs an Liegenschaften ist die Eintragung ins Grundbuch, während wie im ABGB das Sachenrecht über Liegenschaften, die nicht im Grundbuch eingetragen sind, durch Hinterlegung der Urkunde92 beim Gericht erworben werden. Gemäß dem ABGB wurde im kroatischen Recht wieder der Grundsatz übernommen, der beim Erwerb durch Bauen auf fremdem Grundstück die Regel superficies solo cedit anwendet und nur ausnahmsweise der Bauherr Eigentümer des Grundstücks wird93. Die Regeln über den Eigentumserwerb durch Ersitzung94, jedoch mit kürzeren Fristen, wurden ebenfalls aus dem ABGB übernommen. Die Bestimmungen über die Nachbarrechte, die im Unterschied zum ABGB in einem besonderen Hauptstück des EDRG gruppiert sind, entsprechen größtenteils den Vorschriften des ABGB95. Auch die übrigen Sachenrechte sind nach dem Muster des ABGB eingerichtet. Die Dienstbarkeiten sind ebenfalls, nebst geringfügigen Modernisierungen, nach dem Muster des ABGB geregelt. Aus dem ABGB wurden die Bestimmungen über die meist einzeln dargestellten Sachendienstbarkeiten übernommen. Ihr kennzeichnender Inhalt wurde nur zwecks Anpassung an den modernen Bedarf abgestimmt und erweitert96. Die persönlichen Dienstbarkeiten (Fruchtgenuß, Gebrauch und Wohnung) sind traditionell nach dem Muster des ABGB97 eingerichtet. Nach dem öster88
Siehe Einleitungsanmerkungen zur Auslegung des EDRG. Vgl. Art. 30 – 173 EDRG. 90 Vgl. Art. 66 – 99 EDRG. 91 Vgl. Art. 115 – 125, 219 – 222, 262 – 264, 287 – 288, 306 – 310, 315, 317 EDRG. 92 Dementsprechend ist das gesamte Grundbuchssystem nach dem Muster der österreichischen Vorschriften über die Grundbücher eingerichtet. Das gilt hauptsächlich für die Grundbuchsgestaltung, Grundbuchsgrundsätze, Eintragungsart, Grundbuchsverfahren und Vertrauensschutz. 93 Vgl. Art. 152 – 157 EDRG. 94 Weiterhin bleibt das Recht in der kroatischen sachenrechtlichen Ordnung aufrecht, so dass es keine tabulare Ersitzung, sondern nur die kontratabulare bzw. extratabulare Ersitzung gibt. Vgl. Art. 159, 160 EDRG. 95 Vgl. Art. 100 – 113 EDRG. 96 Vgl. Art. 190 – 198 EDRG. 97 Vgl. Art. 199 – 217 EDRG. 89
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reichischen Baurechtsgesetz aus 1912 und 1977, das konzeptionell an das ABGB anknüpft, wurde im EDRG das Baurecht eingerichtet. Der Inhalt dieses Rechts wurde etwas modifiziert, zwecks Abstimmung mit dem Inhalt der Rechte, die früher hinsichtlich der Grundstücke im gesellschaftlichen Eigentum98 bestanden. Auch das Pfandrecht ist nach den Regeln des ABGB eingerichtet, die modernisiert, ausgebaut und modifiziert wurden, damit das Pfandrecht seine Funktion99 besser erfüllen kann. Besonders wichtig ist dabei, dass das EDRG die Bestimmungen des ABGB hinsichtlich der Verfügung über nichtgelöschte Hypotheken, Anmerkungen über Rangvorbehalte, Anmerkungen über die Verpflichtung der Hypothekenlöschung, u. ä. zur Gänze übernommen hat100. Obwohl das EDRG und GBG gerade nach der Tradition des ABGB eingerichtet wurden, sind doch einige Lösungen aus anderen Rechtsordnungen des mitteleuropäischen Rechtskreises übernommen worden, weil sie als moderner und besser geeignet für die moderne Marktwirtschaft bewertet wurden. Unterschiedlich zum ABGB hat das EDRG aus dem ZOVO die damalige objektive Konzeption des Besitzes nach dem Muster des deutschen und schweizerischen Sachenrechts101 übernommen. Genauso hat das EDRG zum Unterschied vom ABGB den Vertrauensschutz beim Fahrniserwerb nach dem Muster des deutschen Rechtes erweitert, indem aus dem deutschen BGB die Vorschriften über den Erwerb vom Nichteigentümer übernommen wurden, die im Vergleich zu den Vorschriften des § 367 ABGB in Bezug auf den Vertrauensschutz bedeutend erweitert sind.102 Andererseits hat das EDRG hinsichtlich des Vertrauensschutzes im Liegenschaftsverkehr die bisherigen Vorschriften aus dem österreichischen GBG behalten. Diese Vorschriften sind jetzt nicht nur ausdrücklich im GBG (ZZK) eingerichtet, sondern vor allem auch im EDRG, wobei die Voraussetzungen für die Schutzleistungen, Fristen für die Übernahme der Löschungsklage, die Gutgläubigkeit sowie der Fall einer mehrfachen Enteignung derselben Liegenschaft ausdrücklich geregelt sind103. Einen weiteren Unterschied zum ABGB stellen die Vorschriften dar, dass eine sachenrechtliche Klage nicht verjährt104,. Die Reallasten, die im ABGB nicht ausdrücklich geregelt sind, wurden gemäß der traditionellen Konstruktion eingerichtet, deren sich die österreichische Praxis bedient. Bestimmte Lösungen wurden aber aus der deutschen Regelung übernommen105. Wenn man den Einfluss des ABGB auf die Kodifikationen der einzelnen Rechtsgebiete in Kroatien betrachtet, dann kann man daraus schließen, dass gerade auf dem 98
Vgl. Art. 280 – 296 eg. Vgl. Art. 297 – 358 EDRG. 100 Vgl. Art. 347, 348 EDRG 101 Die subjektive Konzeption des Besitzes im ABGB wurde als weniger passend beurteilt. Siehe Auslegung Art. 10 – 12 EDRG. 102 Siehe Auslegung Art. 118 EDRG. 103 Vgl. Art. 8 GBG (ZZK) Art. 122 – 125 u. a. EDRG. 104 Vgl. Art. 161/2 EDRG. 105 Vgl. Auslegung im Art. 246 – 279 EDRG. 99
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Gebiet des Sachenrechts sein Einfluss am größten war. Die gesetzliche Sachenrechtsordnung ist fast gänzlich unter dem Einfluss der sachenrechtlichen Regelungen des ABGB und anderer österreichischer Vorschriften entstanden. Zu Unterschieden in der Regelung kam es infolge Modernisierung einzelner Bestimmungen des ABGB und Anpassung der spezifischen sachenrechtlichen Verhältnisse in Kroatien, die durch die Erstellung des einartigen Eigentums und Umstellung des gesellschaftlichen in privates Eigentum entstand. 3. Der Einfluss des ABGB auf Kodifikationen des Obligationenrechts Die schuldrechtlichen Bestimmungen des ABGB fanden ebenso als „Rechtsregeln“Anwendung und waren auch nach der Einverleibung des kroatischen Rechtssystems in den sozialistischen Rechtskreis die Hauptquelle des Obligationenrechts in Kroatien. Besonders im Licht der sozialistischen Vorschriften, d. h. der Administrationswirtschaft, die sich nicht auf Marktprinzipien und den Dualismus des üblichen Sachenrechtsregimes, sondern auf ein sog. gesellschaftseigentümliches Regime gründete, verlor es infolge der erlassenen Vorschriften, mit denen einzelne Gebiete oder Institute des Obligationenrechts eingerichtet wurden, langsam an Bedeutung. Besondere Gesetze wurden verabschiedet wie das Gesetz über die Verjährung von Forderungen106, das Gesetz über die Regelung der Rechtsgeschäfte, deren Objekt Liegenschaften sind107, und das Gesetz über die vereinigte Arbeit108, mit welchen die „vermögensrechtlichen Verhältnisse, deren Basis das gesellschaftliche Eigentum ist“109, geregelt wurden. Es bestanden auch besondere Vorschriften für Wirtschaftsverträge110, in denen versucht wurde, die zivilrechtlichen Handelsgeschäfte mit dem damaligen Wirtschaftsverwaltungssystem zu harmonisieren, wobei aber in diesem Gebiet die Anwendung von ABGB-Bestimmungen nicht ganz vermieden werden konnte. Das ABGB blieb doch weiterhin die Hauptquelle für den allgemeinen Teil des Zivilrechts, für das Obligationenrecht, für zivilrechtliche Verträge und außervertragliche Verhältnisse.
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Amtsblatt der FNRJ, Nr. 40/53 und 57/54. Das Gesetz über den Verkehr mit Grundstücken und Gebäuden, Gesetz über die Geschäftsgebäude aus 1959, Gesetz über die Nutzung der landwirtschaftlichen Grundstücke aus 1959; alle wurden mehrmals geändert und ergänzt. 108 Amtsblatt der SFRJ, Nr. 53/76. 109 M. Vedrisˇ, Opc´i dio grad¯anskog prava po Zakonu o obveznim odnosima, [Der allgemeine Teil des Zivilrechts gemäß dem Gesetz über die Schuldverhältnisse], in: A. Goldsˇtajn/J. Barbic´/ M. Vedrisˇ/M. Matic´, Obvezno pravo – prva knjiga [Schuldrecht] I, 2. Aufl., Zagreb 1979, 249. 110 Das waren die Verordnungen über Vertragsabschluß in der Wirtschaft (Amtsblatt der FNRJ, Nr. 103/46) Dienstvorschrift über Vertragsabschluß für Kauf und Verkauf von Waren (Amtsblatt der FNRJ, Nr. 11/47), Allgemeine Usancen für Warenverkehr (Amtsblatt der FNRJ, Nr. 15/54); siehe A. Goldsˇtajn, Trgovacˇko ugovorno pravo [Handelsvertragsrecht], 4. Aufl., Zagreb 1991, 148 – 149. 107
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Das Obligationenrecht in Kroatien wurde hauptsächlich durch das Gesetz über die Schuldverhältnisse im Jahre 1978 kodifiziert. Das Vorbild bei der Gesetzesausarbeitung über die Obligationenverhältnisse war das schweizerische Obligationenrecht (OR), wodurch der Einfluss des ABGB auf das Obligationenrecht in Kroatien an Bedeutung verlor. Die Systematik des Gesetzes über Schuldverhältnisse (ZOO) wurde aus dem OR übernommen, sodass im Allgemeinen Teil auch außervertragliche Verhältnisse geregelt wurden und im Besonderen Teil nur Verträge111, während die Bestimmungen der einzelnen Institute auch modernere Vorbilder hatten. Mit dem neuen Gesetz über Schuldverhältnisse, welches seit 2006 in Kraft ist112, wurde die Systematik in dieser Hinsicht auf die ABGB-Tradition zurückgeführt, sodass sich die Bestimmungen über außervertragliche Verhältnisse im Besonderen Teil befinden.113 Außerdem erschienen einige Lösungen aus dem ABGB hinsichtlich der Entwicklung der modernen Gesellschaft und der unterschiedlichen Auffassungen und Ansichten bezüglich des Rechts, zum Zeitpunkt der Schaffung des ZOO78 als bereits überholt. Die Auffassung des Individualismus und Liberalismus als Grundlage der westlichen parlamentarischen Demokratie änderte bzw. lockerte sich mit der Zeit. Die individualistischen und liberalistischen Grundsätze, die dem ABGB zugrunde liegen, haben heute eine andere Bedeutung als einst. In diesem Sinne wurden im ZOO78 einige Lösungen übernommen, die den modernen Auffassungen entsprechen und auch im ZOO06 beibehalten wurden. So wurde im ZOO der Grundsatz von Treu und Glauben angenommen bzw. wird vorgeschrieben, dass die Teilnehmer an den Obligationenverhältnissen diesem Grundsatz (Art. 12 ZOO 78, Art. 4 ZOO05) zu folgen haben; es wird bestimmt, dass die clausula rebus sic stantibus zur Anwendung kommt, selbst wenn diese nicht vertraglich vereinbart wurde (Art. 133 ZOO 78, Art. 369 ZOO 05); darüber hinaus wurde die Verantwortung für einen Schaden auch ohne Verschulden (Art. 154 ZOO 78, Art. 1045 ZOO 05) akzeptiert. Das ZOO hat den Dualismus (Vertrags-)Zivilrecht – Handelsrecht, der in der österreichischen Rechtsordnung mit der Anwendung der Bestimmungen des Handelsgesetzbuches (HGB) auf die Handelsverträge bzw. des ABGB auf die zivilrechtlichen Verträge besteht, nicht übernommen. Der Dualismus der Rechtsquellen des Zivil- und Handelsrechts bestand ganz sicher bis zur Kundmachung des Gesetzes über die Ungültigkeit der Rechtsvorschriften 1941, weil bis dahin die Quelle des Handelsrechts das Handelsgesetzbuch aus dem Jahre 1875 und die Quelle des Zivilrechts das ABGB war. Danach kamen die Bestimmungen des kroatischen Handelsgesetzes aus dem Jahre 1875 auf dem Gebiet der Republik Kroatien nicht mehr zur Anwendung, nachdem im damaligen Jugoslawien hinsichtlich des Privatrechts mehrere Rechtsgebiete bestanden und durch die Versuche, eine Planwirtschaft und keine Marktwirtschaft zu 111
Mehr darüber siehe Vedrisˇ, wie Fn. 109, 264 ff. NN 35/05 und 41/08. 113 Siehe Niksˇic´, Reforma hrvatskog obveznog prava s posebnim osvrtom na odgovornost za sˇtetu [Reform des kroatischen Obligationenrechts unter besonderer Betrachtung der Schadenshaftung], in: Drugi skopsko-zagrebacˇki pravni kolokvij, Zbornik radova [Zweites RechtsKolloquium Skopje-Zagreb, Sammelwerk], Skopje 2009, 95 – 96. 112
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erstellen, eben für das ganze Gebiet des ehemaligen Staates ein einheitliches Wirtschaftssystem bestehen sollte. Trotzdem blieb der Dualismus des Zivil- und Handelsrechts aufrecht. Auf die Handelsgeschäfte wurden die Bestimmungen des Zivilrechts nicht angewendet, sondern im Einklang mit dem damaligen Wirtschaftssystem war die Hauptquelle des Wirtschaftsrechts die Entscheidung der Staatsarbitrage. Dieselbe traf ihre Entscheidungen „unter Berücksichtigung der Planrealisierung und den allgemeinen Interessen der Staatswirtschaftspolitik, ausgelegt im Kontext mit anderen Quellen d. h. mit den gesetzlichen Vorschriften, Verträgen, Handelsvorschriften und Usancen“114. 1954 erließ diese Staatsarbitrage (in dieser Zeit hatte sie die Bezeichnung „Hauptstaatsarbitrage“), die Allgemeinen Usancen für Warenverkehr, wodurch die Usancen die Hauptquelle des Handelsrechts wurden. Erst mit der Kundmachung des ZOO wurde der Dualismus endgültig verlassen, aber viele Vorschriften aus den Allgemeinen Usancen wurden in dieses Gesetz übertragen. Im ZOO wurde eine große Anzahl von neuen Verträgen eingerichtet, die – teilweise auch durch die Praxis115 kreiert – mit der Zeit typische Verträge des Handels wurden. Andererseits enthält das ZOO im Gegensatz zum ABGB, das den Verlagsvertrag als den einzigen dominanten Vertrag vorschreibt, mit dem die Verhältnisse bei der Verwendung von Urheberwerken im österreichischen Recht geregelt werden, keine Verträge, mit denen die Verhältnisse in Bezug auf Urheberwerke geregelt werden116, sondern diese sind im Gesetz über Urheberrechte und verwandte Schutzrechte geregelt117. Dennoch ist der Einfluss des ABGB auf dieses weiterhin stark, auch nachdem das Obligationsrecht in Kroatien kodifiziert wurde. Vielmehr fanden einige Bestimmungen des ABGB auch nach der Verabschiedung des ZOO Anwendung in der kroatischen Rechtsordnung wie die Bestimmungen über den Schenkungsvertrag (§§ 938 – 956 ABGB aufgrund Art. 27 des Gesetzes über die Übernahme des Gesetzes über die Schuldverhältnisse) und über den Leihvertrag (§§ 971 – 982 ABGB auf114
Goldsˇtajn, wie Fn. 110, 149. Im ZOO sind auch geregelt: Vertrag über Lizenzen (Art. 686 – 711 ZOO 78, Art. 699 – 724 ZOO 06), über die Handelsvertretungen (Art. 790 – 812 ZOO 78, Art. 804 – 834 ZOO 06), Waren- und Dienstleistungskontrolle (Art. 847 – 849 ZOO 78, Art. 869 – 880 ZOO 06), Verträge, mit denen Verhältnisse im Zusammenhang mit Reisen geregelt werden (Art. 859 – 884 ZOO 78, Art. 881 – 908 ZOO 06), Vertrag über Gastgewerbeleistungen (Art. 885 – 896 ZOO 78, Art. 909 – 920 ZOO 06) und Verträge im Zusammenhang mit dem Bankgeschäft (Art. 1035 – 1088 ZOO 78, Art. 1007 – 1044 ZOO 06). 116 NN 167/03 und 79/07. 117 Der Verlagsvertrag war im kroatischen Recht, bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Urheberrechte aus dem Jahr 1968, als Zivilgeschäft durch die Regeln des ABGB geregelt und als Handelsgeschäft durch die Regeln des Handelsgesetzes aus dem Jahr 1875 (§ 15 – 533). Seit dem Gesetz über Urheberrechte aus dem Jahr 1968 wurde der Verlagsvertrag durch Gesetze geregelt, mit denen das Urheberrecht geregelt wird. Siehe I. Gliha, Nakladnicˇki ugovor u svijetlu njegova razvoja u Hrvatskoj [Verlagsvertrag im Licht seiner Entwicklung in Kroatien], in: Zbornik Pravnog fakulteta u Zagrebu [Sammelwerk der Juristischen Fakultät in Zagreb], Vol. 45, Nr. 4 – 5/95, 485 et seq. 115
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grund des Gesetzes über die Art der Anwendung der Rechtsvorschriften, erlassen vor dem 6. April 1941, NN Nr. 73/91) sowie die Bestimmungen §§ 1175 – 1216 ABGB über die Gemeinschaft der Güter. Erstmal wurden die Bestimmungen über die Gemeinschaft der Güter mit der Verabschiedung der ZOO-Novelle aus dem Jahr 1994 nicht mehr angewandt, als das ZOO durch die Bestimmungen über Teilhaberschaften ergänzt wurde. Die Bestimmungen über die Gemeinschaft der Güter im ZOO hatten das ABGB zum Vorbild, jedoch auch das deutsche BGB sowie das schweizerische OR118. Das neue ZOO 06 enthält Bestimmungen über die Schenkung und den Verleih und durch sein Inkrafttreten wurden die Bestimmungen des ABGB zu diesen Verträgen nicht mehr angewandt. Jedoch entsprechen die Bestimmungen des ZOO über die Schenkung und den Verleih auch weiterhin inhaltlich vorwiegend den Bestimmungen des ABGB119. 4. Der Einfluss des ABGB auf Kodifikationen des Erbrechts Die Anwendung ABGB-Rechts als Rechtsregeln wurde am frühesten hinsichtlich der Regelung des Erbrechts eingestellt. Die damalige revolutionäre Macht nach dem Zweiten Weltkrieg war nämlich der Meinung, dass gerade durch die Änderung der „kapitalistischen“ Erbrechtsregelung die Ziele der sozialistischen Revolution erreicht werden könnten. In dieser Zeit richteten die Gerichte in Erbrechtssachen nach der „Volksrechtsauffassung“120, sodass in solchen Situationen die Gerichtspraxis121 die Hauptquelle des Erbrechts darstellte. Dabei war das sowjetische Recht das große Vorbild. Diese Zeit war gekennzeichnet durch eine ausgesprochene Rechtsunsicherheit mit großen Rechtslücken, die sogar während der Zeit der revolutionären Macht nicht lange dauern konnte. In diesem Zeitabschnitt bestand nun noch ein gewisser Einfluss des ABGB auf das Erbrecht auf dem Gebiet der Republik Kroatien. Um die Rechtslücken zu füllen, musste nämlich auf die Anwendung der Bestimmungen des ABGB als Rechtsregeln zurückgegriffen werden. Das Ende dieser stürmischen Zeit für das Erbrecht erfolgte 1955 mit der Kundmachung des Bundesgesetzes über die Erbschaft des damaligen Jugoslawien122. Dieses Gesetz wurde 1965 novelliert, indem der Text neu verfasst und bereinigt wurde, sodass es auch heute nebst Ergänzung mit Bestimmungen über das Testamentgesetz in Form des internationalen 118 Siehe P. Klaric´, Perspektiva razvoja obveznog prava [Die Entwicklungsperspektive des Obligationenrechts], in: Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 187 – 188. 119 Siehe T. Josipovic´/S. Niksˇic´, Novi Zakon o obveznim odnosima i hrvatsko obvezno pravo [Neues Gesetz über Schuldverhältnisse und das Kroatische Obligationenrecht], in: Evropski pravnik [Europäischer Jurist], 4/08, 87; P. Klaric´/M Vedrisˇ, Grad¯ansko pravo [Zivilrecht], Zagreb, 2009, 507 – 509, 534. 120 Siehe Z. Stipkovic´, Nasljedno pravo u doba ukljucˇenosti u socijalisticˇki pravni krug [Das Erbrecht in der Zeit der Einschließung in den sozialistischen Rechtskreis], in: Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 96. 121 Siehe N. Gavella, Nasljedno pravo [Erbrecht], Zagreb 1986, 22. 122 Amtsblatt der FNRJ, Nr. 10/1955.
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Testaments123 die Quelle des Erbrechts in der Republik Kroatien124 ist und bis zum Jahr 2003 in Kraft war, als ein neues Erbgesetz erlassen wurde. Dieses Gesetz wurde als erfolgreiche gesetzgeberische Arbeit125 beurteilt, die gleichzeitig nach einem kurzen „Intermezzo“ die Rückkehr der Erbrechtsordnung in den kontinentaleuropäischen Rechtskreis bedeutete. Durch das Inkrafttreten des Erbschaftsgesetzes wurde der Einfluss des ABGB auf erbrechtliche Einrichtungen noch mehr abgeschwächt. Die Bestimmungen für das materielle Recht in diesem Gesetz sind nach dem Muster des schweizerischen Rechts verfasst, sodass der Erbschaftserwerb ipso iure eintritt (Art. 128 Gesetz über die Erbschaft) im Gegensatz zum Annahmesystem (Akquisition-Erwerb) des § 547 ABGB. Die langjährige Anwendung des ABGB hat jedoch ihre Spuren im Gesetz über die Erbschaft in den Bestimmungen über das Erbschaftsverfahren hinterlassen, die offenbar das ABGB als Vorbild hatten. Das Ergebnis einer solchen Kombination war nicht gerade erfolgreich, weil die Bestimmungen, die sich auf das ipso iure-System beziehen, hinsichtlich der Akquisition126, nicht ganz abgestimmt waren. Der Einfluss des ABGB auf die Erbrechtsordnung der Republik Kroatien hat sich nach der Verabschiedung des Erbgesetzes aus dem Jahr 2003127 weiterhin verringert. Dieses Gesetz hat die Bestimmungen aus seinem Vorgänger128 in großem Maße übernommen, jedoch wurden unter anderem die materiellrechtlichen Bestimmungen und die Bestimmungen über das Erbschaftsverfahren angeglichen129. Nachdem die Meinung vorherrscht, dass der ipso iure-Erwerb der Erbschaft – obwohl Mängel aufwei123 Im Einklang mit dem Internationalen Abkommen über ein einheitliches Gesetz in Form eines internationalen Testaments, Washington, 1973. 124 Durch die Verfassungsamendmente von 1971 ging die Zuständigkeit der Einrichtung der Erbschaft von der damaligen Föderation auf die Republiken als Föderative Einheiten über; Kroatien hat das Bundesgesetz über die Erbschaft aus 1965 übernommen (Amtsblatt der SFRJ 42/65, 44/65 und 47/65, NN 52/71, 52/73 und 47/78), das somit das Gesetz der Republik wurde. 125 Siehe Gavella, wie Fn. 121, 24. 126 Dieser Unterschied wurde sehr bildhaft von Stipkovic´ ausgedrückt, indem er anführte, den Eindruck zu haben, dass dieses Gesetz von zwei Autoren geschrieben wurde, welche ihre Auffassungen nicht ganz abgestimmt hatten. Siehe Stipkovic´, wie Fn. 120, 97. 127 NN 48/03 und 163/03. 128 Zum neuen kroatischen Erbgesetz siehe T. Josipovic´/I. Gliha, Succession Law, in: P. Sˇarcˇevic´/T. Josipovic´/I. Gliha/N. Hlacˇa/I. Kunda, Family and Succession Law, International Encyclopaedia of Laws, Croatia, Supplement 27, ed. W. Pintens, 2005, 220 – 267; N. Gavella/ V. Belaj, [Das Erbrecht], Zagreb, 2008. 129 Andere wichtige Gründe sind, dass mit der Verfassung der Republik Kroatien aus 1990 wieder der Grundsatz über die Einartigkeit des Eigentums aufgenommen wurde, d. h. es wurde die gesellschaftliche Eigentumseinrichtung der Sachenzugehörigkeit als System parallel zur sachenrechtlichen Regelung verlassen, somit müssen die Bestimmungen des Erbschaftsgesetzes, die sich auf das gesellschaftliche Eigentum beziehen, mit diesem Verfassungsgrundsatz in Übereinstimmung gebracht werden; in Kroatien wurde das öffentliche Notariat eingeführt (Notariatsgesetz, NN 78/93, 29/94 und 16/07) und es besteht der Wunsch, dass die Notare auch einige Aufgaben aus dem Verlassenschaftsverfahren übernehmen, wodurch die Gerichte teilweise in diesem Teil des Verfahrens in erbrechtlichen Sachen entlastet werden könnten; auch sonst wäre es nützlich, einige Bestimmungen zu modernisieren.
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send – doch die bessere Lösung gegenüber dem Erbschaftserwerb durch Akquisition130 ist, wurden jene Bestimmungen aus diesem Gesetz entfernt, die das ABGB in Bezug auf den Erbschaftserwerb durch Akquisition zum Vorbild haben. 5. Zusammenfassung In Anbetracht der Tatsache, dass Kroatien kein einheitliches Zivilgesetzbuch hat und auch die Gesetze, die einzelne Gebiete des Zivilrechts regeln, aus verschiedenen Zeiten stammen, die noch dazu verschiedene gesellschaftliche Systeme kennzeichneten, und weiters untereinander nicht abgestimmt sind, muss, was den Einfluss des ABGB auf die Kodifikation in Kroatien betrifft, jedes Segment separat betrachtet werden. Wenn man den Einfluss des ABGB auf die Kodifikationen der einzelnen Rechtsgebiete in Kroatien betrachtet, kann man daraus schließen, dass gerade auf dem Gebiet des Sachenrechts sein Einfluss am stärksten war. Die gesetzlichen Sachenrechtsnormen sind fast gänzlich unter dem Einfluss der sachenrechtlichen Regelungen des ABGB und anderer österreichischer Vorschriften entstanden. Unterschiede der Regelungen taten sich infolge Modernisierung einzelner Bestimmungen des ABGB und Anpassung an die spezifisch sachenrechtlichen Verhältnisse in Kroatien auf, die durch die Regelung des einartigen Eigentums und die Umstellung des gesellschaftlichen in privates Eigentum entstanden. Nunmehr steht die Kodifikation oder zumindest Modernisierung von Teilgebieten des Zivilrechtes im engeren Sinn (nebst Sachenrecht sind das Obligationen- und Erbrecht) erst bevor. Nachdem das Sachenrecht nach dem Muster des ABGB kodifiziert wurde, kann diese Tatsache darauf hinweisen, dass auch die weiteren Kodifikationen der einzelnen Teilgebiete sich in diese Richtung entwickeln werden. Die Langlebigkeit dieses grandiosen Zeiller-Werks wird man bei der Kodifikation in Kroatien berücksichtigen müssen. Doch wird auch der Modernisierungsbedarf einiger seiner Institute genauso notwendig sein wie die Anpassung an die Besonderheiten und Traditionen des kroatischen Privatrechts. Die Art, wie diese Tatsache bei der Ausarbeitung des Gesetzes über das Eigentum und andere dingliche Rechte (EDRG) beachtet wurden, scheint ein gutes Modell zu sein. III. Die Wissenschaft des ABGB im Gebiet von Kroatien-Slawonien (Zlatan Stipkovic´) Die wissenschaftliche Bearbeitung des ABGB stimmt im Großen und Ganzen mit dem Unterricht des Zivilrechts in Kroatien überein, da, mit wenigen Ausnahmen, das 130 Siehe Z. Stipkovic´, Perspektiva razvoja nasljednog prava [Die Entwicklungsperspektive des Erbrechts], in: Gavella u. a., Hrvatsko grad¯anskopravno ured¯enje, wie Fn. 48, 186.
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ganze Schrifttum von Professoren des Zivilrechts-Kollegs an der Universität Zagreb stammt. Im Jahre 1850 wurde die bisherige Königliche Akademie der Wissenschaften in Zagreb aufgelöst und aus der dortigen Juristischen Fakultät entstand eine selbständige k.u.k. Juristische Akademie, die bis zur Gründung der Universität 1874 bestand. An der Akademie dauerte das Studium zuerst drei und seit 1868 vier Jahre. Im Rahmen der sechs Lehrstühle wurden 12 Fächer unterrichtet, darunter auch das „Österreichische Zivilrecht“, und zwar zehn Stunden in der Woche. Unterrichtet wurde in kroatischer Sprache, nur zwischen 1855 und 1860 in Deutsch. Der Unterricht des ABGB hat also drei Jahre vor dessen Einführung in Kroatien-Slawonien begonnen. Von den drei Professoren des Zivilrechts in diesen 24 Jahren des Bestehens der Akademie hat nur einer, Andrija Gostisˇa131, zwei zivilrechtliche Artikel veröffentlicht und zwar in der neugegründeten Zeitschrift „Pravnik“ (Der Jurist). Es sind dies: „Ein Überblick über das ABGB“ und „Was bedeutet jetzt nach dem ABGB die nach ungarischem Gesetz versprochene Mitgift?“132. Zu dieser Zeit kann also von wissenschaftlicher Bearbeitung noch keine Rede sein; man blieb vielmehr auf dem Niveau der Information. Im Rahmen der 1874 gegründeten Universität setzte die Akademie ihre Tätigkeit als Juristische Fakultät fort. Dies ging ohne Schwierigkeiten, da sie schon vorher den österreichischen Fakultäten hinsichtlich der Organisation und des Unterrichtsplans gleichgestellt worden war. Von Bedeutung sind besonders die Änderungen von 1886 und 1906, als der Seminarunterricht eingeführt bzw. intensiviert und die Seminarbibliothek vergrößert wurde. So wurden auch die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit geschaffen. 1904 wurde durch die Ernennung eines zweiten Professors auch der zweite, 1897 gegründete Lehrstuhl für Zivilrecht besetzt. Von den zahlreichen Büchern und Artikeln, die der erste Professor des Zivilrechts an der Fakultät, Konstantin Vojnovic´133, veröffentlicht hat, sind nur wenige dem Zivilrecht gewidmet, da sein besonderes Interesse der Politik und, nach der Pensionierung, der Rechtsgeschichte von Dubrovnik galt. Es sind dies vor allem Buchbesprechungen (Werke von Derencˇin, Xanda, Pfaff – Hofmann)134 und Artikel über das Telegrafenrecht sowie eine Abhandlung über die Zinsen135.
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Andrija Gostisˇa (1821 – 1875), 1850 – 1864 Professor, danach Richter. Den ersten: Pravnik 1853, Nr. 19, 20, 21, 24, 25, 27, 28, 29. Den zweiten: Pravnik 1853, Nr. 48. Alle übrigen Aufsätze von Gostisˇa befassen sich mit dem Zivilprozess. 133 Konstantin Vojnovic´ (1832 – 1903), 1874 – 1891 Professor. Seine Antrittsvorlesung unter dem Titel (in Übersetzung) „Die Entstehung und der Vergleich des österreichischen mit dem französischen und preußischen bürgerlichen Gesetzbuch“ hielt er am 29.10.1874. 134 Z. B.: M. Derencˇin, Tumacˇ k obc´emu austrijskomu gradjanskom zakoniku. [Kommentar zum ABGB. Geschrieben von Dr. Marijan Derencˇin], in: Mjesecˇnik Pravnicˇkoga druzˇtva u Zagrebu 1879, Nr. 9; 1880, Nr. 8, 9, 10, 11; 1882, Nr. 2B, 3 A; 1883, Nr. 1, 2, 12; L. Pfaff/F. Hofmann, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche, in: Mjesecˇnik 1886, Nr. 5; A. Randa, Das Eigentumsrecht … Von Leipzig, 1884, in: Mjesecˇnik 1885, Nr. 7, 8, 9. 132
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Sein Nachfolger Franjo Josip Spevec136 ist dagegen für die Entwicklung der Zivilrechtswissenschaft von großer Bedeutung gewesen. Er war der erste, der sich nicht nur im gesellschaftlichen Leben137 und im Unterricht, sondern auch durch seine wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet hat. Wichtig ist auch sein Kampf um die Freiheit der wissenschaftlichen Arbeit und des Unterrichts gewesen. Spevec hat eine große Anzahl von Aufsätzen und Abhandlungen sowie Bücher auf verschiedenen Gebieten des Zivilrechts geschrieben138. Die meisten Artikel sind im „Mjesecˇnik Pravnicˇkog drusˇtva“ (Monatsschrift des Juristenvereins) veröffentlicht worden. Von diesen vielen, oft auch rechtsvergleichende Arbeiten muss die Vorbereitung einer neuen Ausgabe des ABGB hervorgehoben werden139. Interessant sind auch zwei größere Abhandlungen über den Besitz140. Seine Vorlesungen aus allen fünf Teilen des Kollegs
135 O dopustivosti kamata po nacˇelih pravne filosofije [Über die Billigkeit der Zinsen nach Grundsätzen der Rechtsphilosophie], in: Pravo [Das Recht] 1882, Nr. 114, 115, 116. Ferner: O nuzˇdi novoga izdanja gradj. Zakonika [Über die Notwendigkeit einer neuen Ausgabe des bürg. Gesetzbuches], in: Mjesecˇnik 1886, Nr. 6. Dem Telegrafenrecht sind mehrere Artikel gewidmet. 136 Franjo Josip Spevec (1855 – 1918), ab 1883 Professor der Rechtsgeschichte, 1892 – 1918 Professor des Zivilrechts. 137 Er war u. a. langjähriger Präsident des Juristenvereins, der unter seinem Vorsitz auflebte und gute Juristen anzog, was für die praktische Rechtsanwendung wichtig war. Er war auch Politiker, wobei er in dieser Funktion von 1894 – 1906 Vizepräsident des kroatischen Sabor [Parlament] war. 138 U.a. zˇenitbeno imovinsko pravo. Pravonopovjestna razprava [Das Ehevermögensrecht. Eine rechtsgeschichtliche Abhandlung], Teil I., Zagreb 1888; Kommentar zum Anfechtungsgesetz von 24.3.1897, Zagreb 1898; Rasprave o modernom zalozˇnom pravu. Nepokretno zalozno pravo u opc´e [Abhandlungen über das moderne Pfandrecht. Immobilienpfandrecht im allgemeinen], Zagreb 1909; Sˇvicarski gradjanski zakonik [Das schweizerische Zivilgesetzbuch], Zagreb 1909; Koji je tekst opc´ega gradjanskoga zakonika autenticˇan za Hrvatsku? [Welcher Text des ABGB ist für Kroatien authentisch?], in: Mjesecˇnik 1900, Nr. 8; Volja i ocˇitovanje volje u njemacˇkom i nasˇem gradjanskom zakoniku [Der Wille und die Willenserklärung im deutschen und unserem bürgerlichen Gesetzbuch], Zagreb 1900; Revizija opc´ega gradjanskoga zakonika [Revision des ABGB], in: Mjesecˇnik 1905, Nr. 5; usw. 139 Da die bestehende Ausgabe vergriffen war und in der amtlichen kroatischen Übersetzung von 1853 zahlreiche Fehler enthalten waren, und da die Landesregierung den Aufforderungen des Juristenvereins, eine neue fehlerfreie und sprachlich korrekte Übersetzung des ABGB zu veröffentlichen, nicht nachkam, hat Spevec für die Edition „Hrvatski zakoni“ [Kroatische Gesetze] eine neue Ausgabe vorbereitet. Er hat an den Fehlern im Text nicht gerührt, sondern diese nur bezeichnet und dann nach dem Text des jeweiligen Paragraphen verbessert. Er hat auch die neuen Vorschriften, durch die einige Bestimmungen des ABGB geändert worden waren, sowie zahlreiche, von Richter Rusˇnov gesammelte, gerichtliche Entscheidungen hinzugefügt. Damit die Übersetzung dem Original möglichst entspreche, hat er sie auch mit der tschechischen und polnischen Übersetzung verglichen. 140 Posjed stvari i prava prema svome najnovijem razvoju [Der Sach- und Rechtbesitz nach seiner neuesten Entwicklung], Zagreb 1907; Pravo posjeda. Po Austrijskom gradjanskom zakoniku s obzirom na njemacˇki i sˇvajcarski zakonik i na ugarsku osnovu [Besitzrecht. Nach ABGB unter Berücksichtigung des deutschen und schweizerischen Gesetzbuches und des ungarischen Gesetzentwurfs], Zagreb 1915.
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liegen im Autograph vor; sie wurden mehrmals, auch nach seinem Tode, vervielfältigt141. Zu seiner Zeit waren an der Fakultät auch zwei Privatdozenten tätig: Mirko Kosˇutic´ und Mihajlo Zobkow. Kosˇutic´142 ist besonders für das Grundbuchsrecht wichtig. In seinem Buch „Grundbuchsrecht“143 hat er sich ausführlich sowohl mit dem materiellen Grundbuchsrecht als auch mit dem Prozessrecht befasst. Zobkow (eigentlich: Mihailo Zobkiv)144, der auch Richter in Sarajevo war, hat viel über das bosnische Recht geschrieben, aber auch über „Die Anwendung des ABGB in Bosnien und Herzegowina“145. Es wäre falsch, zu behaupten, dass die eigentliche Wissenschaft des ABGB in Kroatien mit Spevec angefangen hat, obwohl dies in gewissem Sinne auch wahr ist. Denn schon 1880 bzw. 1883 hatte Marijan Derencˇin, Notar, Rechtsanwalt und einige Zeit auch hoher Regierungsbeamter, seinen Kommentar zum ABGB veröffentlicht146. Er war einer der Praktiker, die die Lücke in der zivilrechtlichen Literatur, die die Professoren gelassen haben, zu füllen versuchten. In der Praxis bestand nämlich ein großes Bedürfnis nach Kommentaren des ABGB und systematischen Werken über das Zivilrecht in kroatischer Sprache. Die Professoren haben sich in ihrer Tätigkeit an berühmte, hauptsächlich österreichische Systeme des bürgerlichen Rechts und Kommentare zu den bürgerlichen Gesetzbüchern gehalten und keine eigenen Systeme in kroatischer Sprache veröffentlicht, die auf ihren eigenen wissenschaftlichen Forschungen basiert hätten. Sie begnügten sich mit kleineren Werken, mit Aufsätzen 141 Lithographisch; es bestehen mehrere sich unterscheidende Ausgaben des Allgemeinen Teils des bürgerlichen Rechts, des Obligationenrechts – Allgemeiner Teil und Besonderer Teil, des Familienrechts, des Sachenrechts und des Erbrechts (1900 – 1925). 142 Mirko Kosˇutic´ (1869–?). Er war Richter und Rechtsanwalt. Als Privatdozent hielt er Vorlesungen meist im Kolleg „Grundbuchsrecht“, aber auch über das Obligationenrecht. Er hat eine große Anzahl Abhandlungen über verschiedene zivilrechtliche Themen veröffentlicht. Interessant ist er auch als Verfasser des Grundrisses des Zivilgesetzbuches für den unabhängigen Staat Kroatien 1943, der auf dem ABGB basierte, jedoch unter einem gewissen Einfluss nationalsozialistischer Ideen stand. 143 Gruntovno pravo, Zagreb 1910. Später hat er auch Kommentare zu den neuen Grundbuchsgesetzen veröffentlicht (Zagreb 1930 und 1931). 144 Mihailo Zobkiv war Ukrainer, Richter und später auch Präsident des Obersten Gerichtshofs in Sarajevo. Er wollte sich mit der Abhandlung „Die Teilpacht nach römischem und österreichischem Recht“, Berlin 1895, an der Universität Lemberg (Lviv) habilitieren und dort in ukrainischer Sprache vortragen. Nachdem ihm dies der dortige polnische Professor Till unmöglich gemacht hatte, konnte er sich aufgrund der positiven Rezensionen, u. a. auch von Spevec, an der Zagreber Fakultät habilitieren. Er hat meist aus dem Obligationenrecht vorgetragen. Gestorben ist er 1928 in Sarajevo. 145 In: Mjesecˇnik 1921. Er hat auch in Wien in deutscher und in Lemberg und Tschernowitz in ukrainischer Sprache veröffentlicht. 146 Tumacˇ k obc´emu austrijskomu gradjanskomu zakoniku I–II, Zagreb 1880/1883. Derencˇin (1836 – 1908) hat mehrere Gesetzesentwürfe ausgearbeitet; er befasste sich besonders mit der Reform des Strafrechts. Ein Jahr war er sogar Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Zagreb.
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in Zeitschriften, Monographien und Skripten für Studenten. In dieser Situation war der große, in vielen Einzelheiten auch sehr originelle Kommentar von Derencˇin sehr willkommen. Leider beinhaltete er nur die ABGB-Paragraphen bis § 530 und ist damit unvollendet geblieben. Später kam auch der sehr umfangreiche und gründliche Kommentar vom Richter Adolf Rusˇnov147, für die 2. Ausgabe umgearbeitet und ergänzt von Stjepan Posilovic´148 (zit. als Rusˇnov – Posilovic´), hinzu. Neben diesem, für den Praktikern unentbehrlichen Kommentar fand auch ein systematisches Werk des Zagreber Rechtsanwalts Ivan C´epulic´ viel Beachtung: „Sistem opc´eg privatnog prava“149 [Das System des allgemeinen Privatrechts]. Wie der Verfasser im Vorwort ausführte, war dieses Werk sowohl für Studenten als auch für Praktiker bestimmt, und es wurde infolge des großen Drucks, vor allem der Studenten, herausgegeben, obwohl der Verfasser mit allen Einzelheiten noch nicht zufrieden war. Er erklärte weiter, dass das Werk nur teilweise originell sei, größtenteils sei es eine Kompilation der besten deutschen Werke über das österreichische Privatrecht (Krainz – Pfaff – Ehrenzweig, Unger, Schiffner, Krasnopolski, Demelius, Anders, Hasenöhrl, Schey, Stubenrauch, Randa). Obwohl ziemlich knapp, hat dieses Buch Generationen von Juristen gute Dienste geleistet, besonders deswegen, weil es viel zugänglicher war als die Werke des langjährigen Professors Maurovic´. Ivan Maurovic´150 wurde neben Spevec 1904 der zweite Professor des Zivilrechts und blieb es bis 1946! Sein Hauptwerk „Nacrt predavanja o opcem privatnom pravu“151 [Ein Entwurf zu Vorlesungen über das allgemeine Privatrecht] besteht aus sieben sehr knappen Bänden. Er selbst äußerte sich dahingehend, dass es ohne wissenschaftlichen Anspruch geschrieben wurde, vielmehr mit dem Ziel, den Studenten das Lernen zu erleichtern. Es sei eine Kompilation aus bekannten ausländischen Systemen und Kommentaren. Die Studenten dürften es jedoch nicht leicht gehabt haben, denn der Stil von Maurovic´ war außerordentlich konfus, das Buch mit ständigen Verweisen auf den Text des ABGB durchsetzt, sodass es sich um kein bequem zu lesendes Lehrbuch handelte. Die meisten übrigen Arbeiten von Maurovic´ waren der Reform des ABGB gewidmet152. In der Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB (Wien 1911) hat er den Artikel „Das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetz147 Adolf Rusˇnov (1847 – 1914). Sein Tumacˇ obc´emu austrijskomu gradjanskomu zakoniku [Kommentar zum ABGB], Zagreb 1893, später als Rusˇnov/Posilovic´, Zagreb, war jahrelang eine Bibel für kroatische Juristen. Unter seiner Redaktion wurden in der Sammlung „Hrvatski zakoni“ [Kroatische Gesetze] 36 Bände herausgegeben. Er hat zahlreiche Artikel im Mjesecˇnik veröffentlicht. 148 Stjepan Posilovic´ (1850 – 1929), Rechtsanwalt, Richter und Präsident des Obersten Gerichts für Kroatien–Slawonien. 149 Zagreb 1925. 150 Ivan Maurovic´ (1873 – 1952) studierte auch in Wien und Leipzig. 151 Herausgegeben in Zagreb zwischen 1920 und 1938 in 7 Bänden. 152 Z.B.: Isvjesˇtaj o predosnovi gradjanskoga zakonika za Kraljevinu Jugoslaviju [Bericht über den Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Jugoslawien], Zagreb 1934. Er hat auch über die Novellierung des ABGB und über den Entwurf des tschechoslowakischen bürgerlichen Gesetzbuchs geschrieben.
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buch in Kroatien“ veröffentlicht. Er hat auch den allgemeinen Teil der Schuldverhältnisse aus dem System von Krainz – Pfaff – Ehrenzweig ins Kroatische übersetzt und mit Zusätzen versehen153. Es muss betont werden, dass er schon seit 1907/08 ein besonderes Kolleg eingeführt hatte: „Grundriß der Novelle zum ABGB“, und seit 1904/ 05 auch das Urheberrecht. Als 1918 Kroatien-Slawonien in den neuen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS), später Jugoslawien, eingegliedert wurde, kam es vom zivilrechtlichen Standpunkt aus zu keinen größeren Änderungen. Das ABGB (ohne Novellen) wurde auch weiter angewendet, da trotz diesbezüglicher Bestrebungen kein neues bürgerliches Gesetzbuch verabschiedet wurde. An der gesetzgeberischen Tätigkeit war auch Maurovic´ beteiligt, sodass er einer der Verfasser des Entwurfs des bürgerlichen Gesetzbuchs war, der im Justizministerium ausgearbeitet wurde. Dieser Entwurf wurde dann 1935 der Juristischen Fakultät Zagreb zur Begutachtung geschickt, die diese Arbeit den beiden Professoren Pliveric´ und Eisner anvertraute. Mladen Pliveric´154 wurde nach dem Tode von Spevec 1918 Professor des Zivilrechts und blieb es, genauso wie Maurovic´, bis 1946. Sein Hauptwerk ist das umfangreiche Buch „Misˇljenja o predosnovi gradjanskog zakonika za Kraljevinu Jugoslaviju“ [Gutachten über den Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Jugoslawien], das er mit Bertold Eisner verfasste155. Dieses Buch kann auch als ein Beitrag zur Wissenschaft des ABGB betrachtet werden. In ihrem Bemühen, das Privatrecht in Jugoslawien zu vereinheitlichen, hielten sich die Verfasser des Entwurfs hauptsächlich an das novellierte ABGB. Pliveric´ und Eisner bearbeiteten in ihrem Gutachten sehr ausführlich und rechtsvergleichend zahlreiche Probleme, die sich bei der Kodifikation des Privatrechts und dessen Modernisierung gezeigt hatten; gerade für die Modernisierung haben sie sich besonders eingesetzt. Nach 1945, im kommunistischen Jugoslawien, hat sich die Situation hinsichtlich des ABGB, dessen Anwendung und wissenschaftlicher Bearbeitung wesentlich geändert. Das ABGB konnte nicht mehr als Gesetz angewendet werden. Da es aber keine neuen Gesetze gab, konnten die Gerichte auch weiter nach den „Rechtsregeln“ richten. Dabei wendeten sie in ganz Kroatien (das neben dem ehemaligen KroatienSlawonien auch aus Dalmatien und Istrien bestand) die Regeln des novellierten ABGB „als moderner“ an, und zwar bis zur Verabschiedung neuer Gesetze, was im Familienrecht gleich geschah, im Erbrecht ziemlich bald, im Sachen- und Obligationenrecht jedoch erst 1980 bzw. 1978. Dazu kamen mit der Zeit auch mehrere neue Gesetze, die verschiedene spezielle Teile des Zivilrechts im neuen Geist ganz 153
Zagreb 1911. Mladen Pliveric´ (1880 – 1967). Er studierte u. a. auch bei Gierke. 155 Bertold Eisner (1875 – 1956), Professor des Internationalen Privatrechts und des Familienrechts, hat die Paragraphen bearbeitet, die sich auf das Familien- und Erbrecht beziehen, alles andere hat Pliveric´ geschrieben. Herausgegeben wurde es vom Juristenverein Zagreb 1937. Von anderen Werken Pliveric´ sei z. B. erwähnt: Das in Kroatien geltende allgemeine Privatrecht, Breslau 1942. 154
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anders regelten. Die Praktiker hatten es also nicht leicht, die Wissenschafter noch weniger. Sie mussten damals sehr vorsichtig sein, da schon der Name ihres Fachs, „Bürgerliches Recht“, den Herrschern ominös erschien und sie als Professoren vom Staat abhängig waren. Dies hatte zur Folge, dass nur in manchen der zahlreichen Aufsätze und Abhandlungen, die über einzelne zivilrechtliche Institute und Probleme von den Professoren des Zivilrechts an der Fakultät Zagreb (seit 1961 aber auch an der neugegründeten Juristischen Fakultät Split, und seit 1974 auch in Rijeka und Osijek) sowie manchen Richtern und Anwälten156 in Zeitschriften157 veröffentlicht wurden, die Behandlung des ABGB gefunden werden kann. Es können jedoch auch einige Bücher der Zagreber Professoren angeführt werden, die trotz mancher marxistischer Zitate (die in den Jahren nach 1945 obligat waren) und dem Einfluss des sozialistischen Rechts als Fortsetzung der Wissenschaft des ABGB betrachtet werden können. So hat z. B. der langjährige Professor Mihajlo Vukovic´158 viel über das Schadenersatz- und Obligationenrecht sowie den Allgemeinen Teil des Zivilrechts geschrieben, was hauptsächlich dem Geiste des ABGB159 entsprach. Besonders hervorgehoben muss aber „Stvarno pravo“ [Sachenrecht] von Cˇedo Rajacˇic´160 werden. Obwohl nie als Buch, sondern nur als Skriptum für Studenten veröffentlicht,161 hat es vielen Generationen von Studenten ermöglicht, den wahren Geist des ABGB-Zivilrechts kennenzulernen. Im Unterricht war es ähnlich: einige Lehrer sind auch weiter in ihrer ABGBWelt geblieben, ohne sich vom Einfluss des neuen sozialistischen Rechts stören zu lassen, indem sie es nur oberflächlich behandelten; bei anderen war es gerade umgeU.a. Zˇelimir Sˇmalcelj und Zlatko Majtin, die 1943 – 1945 als Dozenten für Zivilrecht an der Fakultät Zagreb tätig waren, dann von den Kommunisten entlassen wurden, und danach als Rechtsanwälte viel publizierten. Zˇ. Sˇmalcelj, Ugovori u korist trec´ega [Verträge zugunsten Dritter], Zagreb 1944; Z. Majtin, Nacˇelo upisa u hrvatskom tabularnom pravu [Der Intabulationsgrundsatz im kroatischen Grundbuchsrecht], Zagreb 1943. – Hier muss auch der Richter Boris Vizner erwähnt werden, der 1962 das Buch „Gradjansko pravo uteoriji i praksi“ [Zivilrecht in Theorie und Praxis] veröffentlicht hat. Dieses Werk, ganz im Sinne des ABGB geschrieben, war vor allem für Praktiker nützlich, da es viel Rechtsprechung und Beispiele von Schriftsätzen (Klagen) enthielt. 157 Die wichtigsten Zeitschriften in diesem Zeitraum waren „Zbornik Pravnog fakulteta u Zagrebu“ [Sammelschrift der Juristischen Fakultät Zagreb] und „Nasˇa zakonitost“ [Unsere Gesetzlichkeit]. Meist kürzere Artikel, oft auch interessant, gab es in „Odvjetnik“ [Rechtsanwalt]. Alle diese Zeitschriften erschienen in Zagreb. Später sind auch die Sammelschriften der Juristischen Fakultäten Split, Rijeka und Osijek dazu gekommen; diese erschienen jedoch viel seltener. 158 Mihajlo Vukovic´ (1893 – 1973), 1947 – 1964 Professor. 159 U.a. Opc´i dio gradjanskog prava I–II [Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts], Zagreb 1959/1960; Obvezno pravo I–II [Obligationenrecht], Zagreb 1956/1964. Besonders nützlich waren seine zwei Ausgaben des ABGB (1955 und 1961), da alte Ausgaben vergriffen waren. Er versah die Paragraphen mit kritischen Bemerkungen und fügte neuere Vorschriften hinzu, insofern sie den ABGB-Regeln derogierten. 160 ˇ Cedo Rajacˇic´ (1904 – 1985); zuerst Richter und Vizepräsident des Obersten Gerichts, seit 1952 an der Fakultät, 1961 – 1974 Professor. Er hat Sachen- und Erbrecht vorgetragen und war ein hervorragender Lehrer, publiziert hat er jedoch wenig. 161 Zagreb 1956. 156
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kehrt. Mit der Wende 1990 kehrte sowohl die Gesetzgebung162 als auch die Theorie163 in den kontinentaleuropäischen Rechtskreis zurück. Dies bedeutete jedoch nicht unbedingt eine Rückkehr zum ABGB, da sich auch der Einfluss des deutschen und schweizerischen Rechts als sehr stark erwies. Abschließend kann man sagen, dass die Wissenschaft des ABGB in Kroatien eigentlich die sog. Begriffsjurisprudenz ist und dass dort hauptsächlich die exegetische Methode angewendet wurde. Das Hauptbestreben der Autoren war darauf gerichtet, den dringendsten Bedürfnissen der Studenten und der Praktiker abzuhelfen, was ihnen größtenteils, vor allem mit den beiden umfangreichen Kommentaren, auch gelungen ist.
162 Das neue Zakon o vlasnisˇtvu i drugim stvarnim pravima [Gesetz über das Eigentum und andere Sachenrechte], Narodne novine 91/96, basiert nicht nur auf dem ABGB und neuerem österreichischen Recht (z. B. Wohnungseigentum), sondern auch auf dem BGB und ZGB (z. B. dem Besitz). 163 Vgl. Gavella/Alincˇic´/Klaric´/Sajko/Tumbri/Stipkovic´/Josipovic´/Gliha, Hrvatsko gradjanskopravno uredjenje i kontinentalneuropski pravni krug [Die kroatische zivilrechtliche Ordnung und der kontinentaleuropäische Rechtskreis], Zagreb 1994. Darin haben die Professoren und Dozenten an der Juristischen Fakultät Zagreb den jetzigen Zustand und die Perspektiven der jeweiligen Disziplin beschrieben.
Das ABGB in Polen Andrzej Dziadzio I. Die Geltung des ABGB Der unabhängige polnische Staat war nach 1918 in fünf verschiedene Zivilrechtsgebiete geteilt, nämlich in je ein österreichisches, deutsches, französisch-polnisches, russisches und ungarisches Geltungsgebiet. Auf dem Gebiet Kleinpolens, d. h. des ehemaligen Königreichs Galizien und Lodomerien mit dem Großherzogtum Krakau, wie auch auf dem Teschener Gebiet Schlesiens galt weiterhin das ABGB von 1811 mit den drei Teilnovellen. Auf den Gebieten des ehemaligen preußischen Teilungsgebiets, d. h. Großpolens, der pommerschen Woiwodschaften und eines Teils Oberschlesiens, blieb das deutsche BGB von 1896 in Kraft. Auf dem Gebiete des nach dem Wiener Kongress 1815 gebildeten Königreichs Polen galt das im Jahre 1808 im Großherzogtum Warschau eingeführte napoleonische Gesetzbuch, dessen erstes Buch (u. a. eheliches Personenrecht) wie auch die Vorschriften des ehelichen Güterrechts durch das Zivilgesetzbuch des Königreichs Polen von 1825 ersetzt wurden. Die Vorschriften des Letzteren wurden dann durch das vom Zaren Nikolaus I. in den polnischen Gebieten eingeführte „Eherecht“ von 1836 geändert. In den Ostgebieten der alten Republik, die nach dem Ende des Krieges mit Sowjetrussland in den polnischen Staat eingegliedert wurden, blieb als Privatrechtsquelle das russische Gesetzbuch bestehen, das in der russischen Sammlung der Rechte (Zwod Zakonow) 1832 als deren Band X, Teil I erschienen war. Zuletzt traten auf dem nicht sehr großen Gebiet von Zips und Arom die Vorschriften des ungarischen Gewohnheitsrechts (außer dem Ehegesetz von 1894) in Geltung. In keinem der Sukzessionsstaaten der ehemaligen österreichischen Monarchie existierte ein solches Rechtsmosaik wie in den polnischen Gebieten. Zwar gab es in Jugoslawien sechs Rechtsgebiete, aber der überwiegende Teil seines Territoriums verblieb unter dem direkten Einfluss des österreichischen ABGB. Folglich nahm der jugoslawische Entwurf des Zivilgesetzbuches von 1934 den Charakter einer Rezeption des österreichischen Privatrechts im ganzen Staatsgebiet an1. Auch in der Tschechoslowakei, wo im ehemaligen Böhmen das ABGB und in der Slowakei das ungarische Recht galt, erfolgte die Unifikation und Kodifikation des Zivilrechts unter dem Einfluss des österreichischen Rechts. Die Gerichtspraxis in der 1 St. Dnistrijanskyj, Die Rezeption des österreichischen Privatrechts in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien, in: Zeitschrift für Osteuropäisches Recht, Band 1, Jahrgang 1934/35, 479.
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Tschechoslowakei strebte konsequent nach der Eingliederung der Grundsätze und Regeln des in den tschechischen Ländern geltenden ABGB in das System des ungarischen Gewohnheitsrechts. Die Entwicklungsrichtung des Privatrechts in der Tschechoslowakei war außerordentlich sichtbar: Die Erstreckung der Bestimmungen des ABGB auf das Territorium des ganzen Staates. Als man also an die Bearbeitung des tschechoslowakischen Zivilgesetzbuches herantrat, fasste man als Ziel des Kodifikationsvorhabens eine entsprechende Revision des österreichischen Privatrechts ins Auge2. Gerade wegen der Verschiedenheit der Zivilrechtssysteme gingen die Unifikationsarbeiten in Polen einen anderen Weg. Das ABGB galt nämlich im restaurierten polnischen Staat neben anderen gleichrangigen Zivilgesetzen, die – ausgenommen das russische Recht – dem österreichischen Gesetzbuch nicht nachstanden. In polnischen Juristenkreisen war das Konzept einer Vereinheitlichung des Rechts durch die Rezeption eines der nach 1918 erhaltenen Normsysteme von marginaler Bedeutung. Vereinzelt gab es Stimmen für die Erstreckung des im ehemaligen Königreich Polen geltenden Zivilrechts auf alle Landesteile oder für die Übernahme des schweizerischen Obligationenrechts3. Aus diesem Grund wurde das ABGB in Polen, anders als in Jugoslawien und in der Tschechoslowakei, nur in einem engen Bereich rezipiert. Nichtsdestoweniger erfolgte aber auch in Polen – wenn auch in einem anderen Ausmaß als in der Tschechoslowakei – eine Erweiterung der Geltungskraft des ABGB. Durch die Verordnung des Ministerrats vom 14. September 1922 wurden die Bestimmungen des ABGB (ausgenommen das 13. und 14. Hauptstück des zweiten Teils und die Vorschriften über Witwenansprüche) auf das Gebiet von Zips und Arom, das bisher dem ungarischen Recht unterstand, erstreckt. Geltungskraft erlangten auch die sich auf das ABGB beziehenden Gesetze, ausgenommen die Bestimmungen des Gesetzes vom 25. Mai 1868, das für die Katholiken die sog. Notzivilehe einführte. Gleichzeitig hielt die erwähnte Verordnung das laizistische System des ungarischen Eherechts von 1894 mit gewissen Änderungen aufrecht.
2 S. Luby, Die Entwicklung des bürgerlichen Rechts in der Tschechoslowakei in den Jahren 1918 – 1944 bei besonderer Berücksichtigung des Vertragssystems, in: Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (1848 – 1944), Budapest 1970, 300 f. 3 Z. Radwan´ski, Kształtowanie sie˛ polskiego systemu prawnego w pierwszych latach II Rzeczypospolitej [Bildung des polnischen Rechtssystems in den ersten Jahren der II. Republik], in: Czasopismo Prawno-Historyczne (fortan zitiert: CP-H), Band XXI, Heft 1, 1969, 34 f.; Siehe auch ders., Die Entwicklung des Zivilrechts in Polen (1918 – 1965), in: Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (1848 – 1944), Budapest 1970. Im Februar 1919 unternahm die Regierung den Versuch, das moderne russische Strafgesetzbuch von 1903, das sog. Gesetzbuch von Tagancew, zu rezipieren, aber der Gesetzgebungssejm erhob dagegen Einspruch. Aus dem österreichischen Rechtssystem wollte man die Zivilprozessordnung auf polnischen Boden übertragen. Siehe zu diesem Thema: Die Rede von Prof. F. X. Fierich, Präsident der Kodifikationskommission, in den Sitzungen beim Präsidenten der Republik und beim Sejmmarschall vom 18. und 19.3.1925.
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Auf diese Weise wurde auf diesem kleinen Teil des Territoriums des polnischen Staates der Grundsatz der fakultativen Zivilehe eingeführt. Die Nupturienten hatten die Wahl zwischen der weltlichen und der konfessionellen Eheform, ihre Ehe unterlag also entweder den Vorschriften des ungarischen Rechts oder denen des ABGB. Doch galten im Bereich der Rechtsfolgen der Verlobung, des Rücktritts davon, der Rechte und Pflichten der Eheleute wie auch der Erteilung der Erlaubnis zur Eheschließung ausschließlich die Vorschriften des österreichischen Rechts. Die Erweiterung der Geltungskraft des ABGB bewirkte die Entstehung eines vierten Eherechtssystems auf polnischem Gebiet neben den bereits existierenden, wie dem laizistischen im deutschen BGB, dem gemischten im österreichischen ABGB und dem ausschließlich konfessionell bestimmten im russischen „Eherecht“ von 1836. 1. Zivilrechtsvereinheitlichung 1918 – 1939 Die Aufhebung dieses im damaligen Europa beispiellosen Rechtspartikularismus wurde zu einer der wichtigsten Aufgaben des unabhängigen polnischen Staates, weil dieser das sichtbarste Überbleibsel der Teilungszeit und der fremden Herrschaft bildete. Die Vereinheitlichung des Privatrechts wurde als Ausdruck des Strebens des polnischen Volkes nach der Aufrechterhaltung der politischen und rechtlichen Unabhängigkeit gesehen4. Eine Unmenge von Kodifikationsarbeiten erforderte die Vornahme von schnellen, auf gut konstruierter Organisationsgrundlage gestützten Handlungen. Eben aus diesen Prämissen ergab sich die Entscheidung des Gesetzgebungssejms, der 4 Monate nach der Versammlung am 3. Juni 1919 einstimmig das Gesetz über die Kodifikationskommission beschloss. Das Gesetz bestimmte zwei Tätigkeitsbereiche der Kodifikationskommission. Ihre Grundaufgabe war es, Entwürfe einer einheitlichen Gesetzgebung für den ganzen Staat im Bereich des Zivil- und Strafrechts vorzubereiten. Außerdem sollte sich die Kodifikationskommission mit der Vorbereitung anderer Gesetzesentwürfe, sei es infolge des Sejmbeschlusses, sei es im Einvernehmen mit dem Justizminister, befassen. Die von der Kommission ausgearbeiteten Gesetzesentwürfe sollte der Justizminister dem Sejm vorlegen, die Kommission besaß also keine Gesetzgebungsbefugnisse. An der Spitze der Kommission standen der Präsident und drei Vizepräsidenten, 40 Mitglieder gehörten ihr an. In der Kommission selbst fanden sich namhafte Rechtstheoretiker und -praktiker, die die drei Juristenkreise (Warschau, Krakau und Posen) vertraten. Während der zwanzigjährigen Tätigkeit waren 69 Personen Mitglieder der Kodifikationskommission. Als erster Präsident fungierte der Professor
4
Siehe die Rede des Vizepräsidenten der Kodifikationskommission I. Koschembahr-Łyskowski, in: Protokoll aus der feierlichen, der zehnjährigen Tätigkeit der Kodifikationskommission gewidmeten Veranstaltung [Protokł uroczystej akademii pos´wie˛conej 10-letniej działalnos´ci Komisji Kodyfikacyjnej], Warszawa 1929, 31 ff.
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der Jagiellonen-Universität F. K. Fierich, nach seinem Ableben folgte ihm der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs B. N. Pohorecki nach5. Nach der ersten Arbeitsordnung von 1919 teilte sich die Kodifikationskommission in zwei Abteilungen: in die Zivil- und in die Strafgesetzgebung. Die Abteilungen unterteilten sich wiederum in Sektionen. Die Zivilrechtsabteilung untergliederte sich in je eine Sektion für das Zivil-, das Handelsrechts sowie die Zivilprozessordnung. Das ursprüngliche Verfahren sah folgendermaßen aus: nach drei Lesungen des Entwurfs durch die Sektion übermittelte ihn der Sektionsvorsitzende an die übergeordnete Abteilung; der Abteilungsvorsitzende verschickte daraufhin den Entwurf an die Kommissionsmitglieder, damit diese ihre Bemerkungen anbringen konnten; hierauf nahm sich die Abteilung den Entwurf in zwei Lesungen vor und veröffentliche das Ergebnis im Druck. Dieser somit nach der zweiten Abteilungslesung gedruckte Entwurf wurde an diverse Institutionen und Ämter zur weiteren Abgabe von Stellungnahmen verschickt. Nach der Annahme des Entwurfs durch die Abteilung in der dritten Lesung legte ihn der Kommissionsvorsitzende der Hauptversammlung vor, und erst nach deren Beschluss konnte der Präsident schließlich den Entwurf dem Justizminister übergeben. Letzterer durfte aber den Entwurf abändern, ergänzen oder sogar überhaupt dessen weitere Behandlung einstellen. Der gerade skizzierte Gang der Kodifikationsarbeiten war sehr zeitraubend, wodurch sich die Zeit der Entwurfsausformulierung naturgemäß verlängerte. Um die Verschleppung zu verhindern, strebte man eine Vereinfachung der Prozedur an. Nach dem Inkrafttreten des Reglements von 1932 bildete sich ein kürzerer modus procedendi aus. Wegen der Einführung einer einheitlichen Gliederung in, aus höchstens sechs Personen bestehende, Unterkommissionen und der Verminderung des beschließenden Kollegiums der Kommission – nur der Vorsitzende und die stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission, der Vorsitzende der zuständigen Unterkommission und der Referent oder Mitreferent des zu beschließenden Entwurfs – bildete sich die folgende Verfahrensweise aus: Der vom Referenten vorbereitete Entwurf wurde nach seiner Annahme durch die Unterkommission in erster Lesung im Druck veröffentlicht und den Kommissionsmitgliedern, Gerichten und Ämtern mit der Angabe eines Termins zur Beurteilung verschickt und dann nach Berücksichtigung der zugesandten Urteile der zweiten Lesung in der Unterkommission unterzogen. Danach kam er zum beschließenden Kollegium, das den Entwurf in einer Lesung annahm oder ablehnte6. Eine so präzise bestimmte Vorgangweise der Arbeiten an der Rechtsunifikation war weder in Jugoslawien noch in der Tschechoslowakei vorgesehen gewesen. Dies ergab sich aus den Unterschieden im Herangehen an die Kodifikationsarbeiten: 5
St. Grodziski, Komisja Kodyfikacyjna Rzeczypospolitej Polskiej [Kodifikationskommission der Republik Polen], in: CP-H, Band XXXIII, Heft 1, 1981, 57 ff. 6 Regulamin Komisji Kodyfikacyjnej uchwalony 19. 3. 1932 [Das Reglement der Kodifikationskommission, beschlossen am 19. 3. 1932], in: Kwartalnik Prawa Prywatnego (Vierteljahreszeitschrift des Privatrechts, fortan zitiert: K.P.P.), Jahrbuch I, 1992, 181 ff.
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Die polnischen Kodifikatoren sprachen sich für die Vereinheitlichung des Rechtssystems auf dem Wege der Bildung von originären Rechtskomplexen und gegen die Rezeption eines der auf polnischem Gebiet geltenden Gesetzbücher aus. Schon zu Anfang ihrer Tätigkeit an einem ganz neuen Zivilgesetzbuch lehnte die Zivilrechtssektion der Kodifikationskommission das Konzept ab, ein konkretes Zivilgesetz als Grundlage der Arbeiten heranzuziehen7. Obwohl die Arbeiten an allen Rechtsbereichen des Zivilgesetzbuchs – am frühesten im Ehegüterrecht und im Obligationenrecht, am spätesten im Sachenrecht, Erbrecht und im Allgemeinen Teil – sowie in den einschlägigen Rechtsabteilungen sofort parallel aufgenommen wurden, verliefen sie nicht in dem von der Politik und der öffentlichen Meinung gewünschten Tempo. Viele meist außerhalb der Kodifikationskommission gelegene Gründe verhinderten dies. Die Mitglieder der Kommission hatten daraufhin die eingeschlagene Richtung der Kodifikationsarbeiten zu verteidigen. Die begonnenen Arbeiten am Zivilgesetzbuch mussten aber angesichts dringlicherer Aufgaben, die die Regierung der Kodifikationskommission übertragen hatte, aufgeschoben werden. Vor allem handelte es sich um die Erarbeitung von Kollisionsnormen, die es ermöglichen sollten, die Anwendung unterschiedlicher Vorschriften zwischen einzelnen Landesteilen bis zur Zeit der Bildung eines einheitlichen Rechtssystems zu entscheiden. Die in der Kommission vorbereiteten Entwürfe zu einem interlokalen und internationalen Privatrecht erhielten am 2. August 1926 Gesetzeskraft. Beide Gesetze waren in der internationalen juristischen Kritik hoch angesehen und galten als gänzlich neuartig, ohne eindeutige Spuren einer Rezeption des österreichischen oder deutschen Privatrechts8. Dringend war auch die Kodifikation jener Zivilrechtszweige, zu denen sich Polen völkerrechtlich aufgrund internationaler Abkommen verpflichtet hatte, wie das am 29. März 1926 beschlossene Urheberrecht oder das am 2. August 1926 beschlossene Gesetz über die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs. Darüber hinaus hatte die Reform des Fiskus die Notwendigkeit aufgezeigt, Entwürfe des Wechsel- und Scheckrechts zu bearbeiten, die schließlich am 14. September 1924 zu geltendem Recht wurden. Außerdem musste die gesetzgeberische Tätigkeit darauf hinzielen, zahlreiche durch den Nachkriegszustand hervorgerufene Erscheinungen der polnischen Gesellschaft zu erfassen, wie z. B. das Gesetz vom 11. April 1924 über den Schutz von Wohnungsmietern, das der Verarmung der Bevölkerung entgegenwirkte. Es enthielt Vorschriften, die von den traditionellen Begriffen des Eigentums und der Kontrahierungsfreiheit abwichen. Eine weitere wichtige Aufgabe war die Reform der gegenüber moderneren Gesetzbüchern besonders krass zu Tage tretenden Rechtsanachronismen einzelner Systeme, wie z. B. der Beschränkungen der Rechtsfähigkeit von 7
I. Koschembahr-Łyskowski, W sprawie kodyfikacji naszego prawa cywilnego [Zur Kodifikation unseres Zivilrechts], Warszawa 1925, 12. 8 Dnistranskyj, Rezeption, wie Fn. 1, 466 f.
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Frauen in den Gebieten des ehemaligen Königreichs Polen (aufgehoben durch das Gesetz vom 1. Juli 1921). Neben diesen großen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die rechtlicher Regelungen bedurften, gab es aber noch andere Gründe für die eher schwache Intensität der Arbeiten am Zivilgesetzbuch in den ersten fünf Jahren der Tätigkeit der Kodifikationskommission. Unter den meisten Mitgliedern der Kommission herrschte die Meinung vor, das neue Zivilrecht sollte sich durch eine hohe Präzision unter Auswertung der neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften auszeichnen, da es viele Jahre zu dienen haben würde. Dies bedurfte breit angelegter Vorbereitungsarbeiten, was einerseits Eile und andererseits Nachgeben gegenüber den Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen ausschloss9. Zwei Gebiete des Zivilrechts wurden ausnahmsweise und aus einer Notwendigkeit heraus, schneller zu Ende gebracht: einerseits das Obligationenrecht aufgrund eines allgemeinen wirtschaftlichen Bedürfnisses; andererseits der Bereich der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe, der die größten Unterschiede in den Gesetzgebungen der einzelnen Landesteile aufwies. Die Beschleunigung der Vereinheitlichung dieser Zweige des Zivilrechts hing aber von der Einführung eines speziellen Verfahrens zur Verabschiedung von Entwürfen der Kodifikationskommission durch den Sejm ab10. Als eine Bestätigung der Richtigkeit der Forderung nach einer Vereinfachung des Gesetzgebungsprozesses ermächtigte die nach dem Maiumsturz am 2. August 1926 angenommene Novellierung der Märzverfassung den Staatspräsidenten zum Erlass von Verordnungen mit Gesetzeskraft. Die Mehrheit der durch die Kodifikationskommission nach 1926 vorbereiteten Entwürfe trat eben in dieser Verordnungsform in Kraft. In jener Zeit erfolgte auch eine Intensivierung der Arbeiten an der Hauptaufgabe der Kodifikationskommission, die in der Vorbereitung von sechs großen Kodifikationen bestand: • Zivilgesetzbuch • Zivilverfahrensordnung • Gerichtsorganisation • Handelsgesetzbuch • Strafgesetzbuch • Strafverfahrensordnung Die intensive Arbeit der Mitglieder der Kodifikationskommission brachte bald befriedigende Ergebnisse. Als am 3. Juni 1929 der zehnte Jahrestag der Gründung der 9 Siehe den Standpunkt des Generalsekretärs der Kodifikationskommission E. St. Rappaport, in: Przegla˛d Prawa i Administracji [Rundschau des Rechts und der Verwaltung, fortan zit.: PPiA], 1924; K. Lutostan´ski, in: Gazeta Sa˛dowa Warszawska [Warschauer Gerichtszeitung, fortan zit.: GSW], Nr. 46, 1928, 717 – 719. 10 Mit einer solchen Forderung trat der Präsident der Kodifikationskommission F. X. Fierich 1925 auf, vgl. Fn. 3.
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Kodifikationskommission gefeiert wurde, konnte sich Polen der Einführung des Rechts über das System der allgemeinen Gerichte sowie einer Strafverfahrensordnung rühmen. Die Zivilverfahrensordnung, die Vollstreckungsordung und das Strafgesetzbuch befanden sich in der Endphase11. Am wenigsten weit waren damals die Arbeiten am künftigen Zivilgesetzbuch fortgeschritten. Der damalige Justizminister St. Car wies während der erwähnten feierlichen Veranstaltung auf diesen Fortschritt hin. Seinen Äußerungen war, neben der Würdigung der Arbeit der Kommission, aber auch Enttäuschung darüber zu entnehmen, dass die Arbeiten am Zivilgesetzbuch zu langsam fortschritten. Der Minister versuchte die Kommissionsmitglieder dazu zu bewegen, auf hochstrebende Vorhaben zu verzichten und suggerierte ihnen ausdrücklich, dass das Zivilrecht nicht ein Erzeugnis originellen schöpferischen Gedankenguts zu sein brauche, sondern es sich durchaus auch auf die Erfahrungen anderer Nationen stützen könne. Nach der Meinung des Ministers konnte die Adaptierung fremder Lösungen an die polnischen Bedingungen ebenso nützlich sein wie ein bahnbrechendes neues Zivilgesetzbuch. Mit der Rede des Ministers stimmte der Beitrag von F. Zoll überein, einem der hervorragendsten polnischen Zivilisten der damaligen Zeit, Schöpfer der modernen Gesetzesentwürfe des internationalen und interlokalen Privatrechts sowie des Urheberrechtsgesetzes. Er beurteilte die Kodifikation des Zivilrechts als die schwierigste und wichtigste Aufgabe, weil es ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen der polnischen Bevölkerung entsprechen sollte und es bislang ja unter dem Einfluss des Okkupationsrechts, eines so inhaltlich anderen Rechts, gestaltet worden war. Er empfahl daher, in einem Gesetz das zu kodifizieren, was bereits in den polnischen Gebieten in hohem Maße galt und inhaltlich keine wesentlichen Unterschiede aufwies; bezüglich der sich unterscheidenden Regelungen riet er dagegen zur Annahme der besten Lösung. Insbesondere empfahl er die Auswertung von Mustern des napoleonischen Gesetzbuchs und des ABGB. Er warnte zugleich vor der Aufnahme neuer liberaler und sozialer Strömungen in die zivile Gesetzgebung, indem er sich für die Kodifizierung des Bekannten und Erprobten aussprach12. Die Ansichten von Zoll stießen auf eine sofortige Replik des Vizepräsidenten der Kodifikationskommission Koschembahr-Łyskowski, der in der erwähnten Sitzung außerhalb der vorher festgesetzten Tagesordnung das Wort ergriff. Er stellte ausdrücklich fest, die Aufgabe der Kodifikationsarbeiten am Zivilgesetzbuch dürfe nicht nur eine Sammlung von Vorschriften aus den schon geltenden Gesetzbüchern und die Auswahl der besten Regelungen unter Weglassen neuerer juristischer
11 Der Entwurf des Gesetzes über die Einführung der Zivilverfahrensordnung und des Gesetzes über Gerichtskosten erhielt 1930 Gesetzeskraft. Der Entwurf des Vollstreckungsverfahrensrechts trat 1932 in Kraft. Im selben Jahr trat das Gesetz über das Rechtsanwaltsverfahren und ein Jahr später das Notariatsgesetz in Kraft. Das Strafgesetzbuch wurde 1932 herausgegeben. 12 Protokł uroczystej akademii, wie Fn. 4.
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Ideen sein. Ein solches Zivilgesetz wäre nämlich schon im Moment des Inkrafttretens als veraltet anzusehen. Neue Ideen, die den Bemühungen der Kodifikationskommission bei der Ausarbeitung des polnischen Zivilgesetzes vorschweben sollten, fasste K. Lutostan´ski, Vizepräsident der Kommission, 1934 in drei allgemeinen Grundsätzen zusammen: das polnische Recht sollte modern sein, gesellschaftlichen Charakter besitzen und demokratische Eigenschaften aufweisen13. Der Standpunkt von Lutostan´ski bekräftigte die Kommission darin, nicht zu einer umfangreicheren Rezeption der Gesetzgebung von Besatzungsmächten zu greifen, sondern weiterhin den schon eingeschlagenen Weg zur Bildung eines eigenen Zivilrechts zu gehen. Einer Forderung von Zoll hat man dann doch zugestimmt: er hatte die Kommission ersucht, die Möglichkeit zu erwägen, das Zivilgesetzbuch nach dem Muster der Schweiz teilweise, beginnend mit der Kodifizierung des Obligationenrechts, in Kraft zu setzen. 1929 wurde demgemäß eine spezielle Unterkommission zur Vorbereitung des Schuldrechts bestellt. Ihre Mitglieder waren: R. Longchamps de Berier als Hauptreferent, L. Doman´ski sowie I. Koschembahr-Łyskowski. Diese gingen außerordentlich energisch ans Werk. Der Grund lag auch darin, dass man ohne die Kodifikation des Schuldrechts das Handelsgesetzbuch, welches eine vorrangige Bedeutung für den wirtschaftlichen Verkehr besaß, nicht zu Ende bringen konnte. Der fertige Entwurf des Schuldrechtsbuchs erschien im Jahre 1933 im Druck. Er trat aufgrund einer Verordnung des Präsidenten der Republik Polen vom 27. Oktober 1933 samt Einführungsvorschriften, die am selben Tage erlassen worden waren, in Kraft. Beide Rechtsakte galten seit dem 1. Juli 193414. Mit dem Inkrafttreten des Schuldrechtsbuchs wurden entsprechende Vorschriften des österreichischen Zivilgesetzbuchs durch die Art. XXII und XXIII der Einführungsvorschriften aufgehoben. Man hat also die zweite Abteilung des zweiten Teils sowie die Kapitel I–III des dritten Teils des ABGB, d. h. die §§ 859 – 1450 (mit Ausnahme der §§ 951, 952, 956, 1024, 1217 – 1266, 1278 – 1283, 1288 – 1292, 1368 – 1374, 1382, 1443, 1446, die weiterhin in Kraft blieben) gemäß Art. XXII § 2 aufgehoben. Aus der ersten Abteilung des zweiten Teils hob man die §§ 343 und 471 (Art. XXII § 1) auf. Auch wurden den §§ 131, 151 und 187 der III. Teilnovelle sowie alle sich auf die aufgehobenen Normen des ABGB beziehenden Vorschriften dieser Novelle derogiert. Darüber hinaus wurden die Vorschriften des IV. Kapitels des dritten Teils des ABGB über Verjährung und Ersitzung in Anwendung auf Schulden (Art. XXIII) außer Kraft gesetzt.
13 K. Lutostan´ski, Kodyfikacja prawa cywilnego [Kodifikation des Zivilrechts], in: Przegla˛d Notarialny [Notarielle Rundschau], Nr. 23, 1934, 2 f. 14 Am selben Tag wie das Schuldrechtsbuch wurden das Handelsgesetzbuch und dessen Einführungsvorschriften (in Kraft ab 1. 7. 1934) bekanntgegeben. Den Vorsitz in der Unterkommission für Handelsrecht führte St. Wrblewski von der Jagiellonen-Universität, das Hauptreferat des Entwurfs wurde Dziurzyn´ski aus Krakau übertragen.
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Auch die Arbeiten an den übrigen Teilen des Zivilgesetzbuchs waren schon weit fortgeschritten. Aber außer dem Schuldrecht wurde kein weiterer Zweig des Zivilrechts vor dem Kriegsausbruch 1939 in Geltung gesetzt. Die Arbeiten am Entwurf des Eherechts wurden zwar abgeschlossen und 1929 dem Justizminister zur weiteren Veranlassung vorgelegt, doch wagte es die Regierung nicht, den Entwurf dem Parlament vorzulegen oder ihn durch Verordnung des Präsidenten zu verkünden. Der Entwurf war in der Kommission von K. Lutostan´ski vorbereitet worden. Damit blieb die Kodifikation dieses Teils des Zivilrechts stecken, weil der Entwurf formell nicht abgelehnt wurde und die Regierung auch die Erstellung eines neuen Entwurfs nicht anforderte. Letztlich war dies das Resultat jener Kritik, auf die der Entwurf von Seiten der Geistlichkeit verschiedener Konfessionen, besonders aber der katholischen Kreise, gestoßen war. Außer der Aufnahme der fakultativen Möglichkeit einer zivilen oder konfessionellen Form der Eheschließung hatte nämlich der Eherechtsentwurf einen ganz laizistischen Charakter, was etwa die konfessionsunabhängige Möglichkeit der Scheidung am besten zum Ausdruck bringt. Nach dem Aufschub der Kodifikation des Eherechts stellte man für einige Zeit die Arbeiten am Ehegüterrecht ein. Erst im Jahre 1934 erschien der von K. Lutostan´ski bearbeitete Vorentwurf im Druck. Drei Jahre danach wurde der neue Entwurf des ehelichen Güterrechts in der ersten Lesung angenommen, man konnte ihn aber vor dem Kriegsausbruch nicht mehr beenden. 1934 veröffentlichte die Kommission den von St. Goła˛b von der Jagiellonen-Universität Krakau bearbeiteten Vorentwurf der Vorschriften über die Rechtsbeziehungen der Eltern und der Kinder zueinander, und im Jahre 1938 den Entwurf des Vormundschaftsrechts, die beide ebenfalls nicht vollendet wurden. Vor 1939 befanden sich die Kodifikationsarbeiten am Sachenrecht im Endstadium. Der diesbezügliche Entwurf, in der zweiten Lesung angenommen, erreichte nicht das Stadium der Beratungen durch das Beschlusskollegium. 1938 nahm die Unterkommission in erster Lesung den Entwurf des Erbrechts, der von St. Wrblewski vorbereitet worden war, an. Darüber hinaus erschien er in den Jahren 1928 – 1932 im Druck zusammen mit dem Entwurf zu einem Allgemeinen Teil des Zivilrechts einschließlich Begründung, der von I. Koschembahr-Łyskowski erarbeitet worden war; weitere Arbeiten daran wurden aber bis zum Abschluss des Besonderen Teils des Zivilgesetzbuchs eingestellt. Gegen Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts befanden sich die Arbeiten an der Kodifikation des Zivilrechts im vollem Gang. Sie wurden durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterbrochen. Der Ertrag der Kodifikationskommission ging aber nicht verloren. Er wurde in der Nachkriegszeit bei der Vereinheitlichung des Privatrechts voll genutzt. Die Bilanz ihrer Leistungen war beträchtlich, obwohl sie die 1919 gestellte Aufgabe nicht ganz erfüllte: ein Zeitraum von zwanzig Jahren erwies sich als zu kurz für einen in jenen Zeiten beispiellosen vollständigen rechtlichen Umbau des unabhängigen Staates und der politische Wille der damals regieren-
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den Kreise zu einer vollständigen Änderung des Zivilrechtssystems schwächte sich immer mehr ab. 2. Zivilrechtsvereinheitlichung 1945/46 Die Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen erreichten schon in den ersten Nachkriegsmonaten ihren vollen Schwung. Am 12. Juni 1945 beschloss die Provisorische Regierung, die eine Fortsetzung des im Juli 1944 in Moskau entstandenen Komitees der Nationalen Befreiung darstellte, dass eine vollständige Vereinheitlichung des Zivilrechts spätestens bis zum 1. April 1946 erfolgen sollte. Erst nach der Beendigung der Unifikation der einzelnen Rechtsgebiete wollte man an die Kodifizierung des bereits unifizierten Rechts in Form eines Zivilrechtskodex herantreten. Die Gründe für die so beschleunigte Unifizierung des Privatrechts waren verschieden. Mit Sicherheit erforderte die Lage, in der sich die polnische Gesellschaft damals befand, einen gesetzgeberischen Eingriff. Als Ergebnis der Beschlüsse von Jalta entstand ein einheitlicher polnischer Staat, dessen Grenzen bedeutend verändert wurden, was freiwillige und erzwungene Migration ganzer Volksmassen bewirkte. Diese Bevölkerung, die gezwungen war, auf die bisherige Umgebung, in der sie gelebt hatte, auf Arbeitsplätze, oft sogar auf die eigene Familie zu verzichten, musste in ihr gänzlich unbekannte Gebiete ziehen, auch im Hinblick auf das dort geltende Recht. Traditionelle Eigentums-, familiäre und obligationenrechtliche Verhältnisse wurden erschüttert, ja sogar vernichtet15. Einheitliches Recht konnte hier die rechtliche Ausformung neuer Gebiete wesentlich erleichtern. Andererseits schuf die soziale Destabilisierung günstige Bedingungen zur Favorisierung von Vereinheitlichungsaktionen, die von der neuen Staatsgewalt als ein wichtiger „Faktor zur Bindung der Gesellschaft an die Zentralorgane des Staates“ angesehen wurden. Die Vereinheitlichungstendenzen stärkten Funktion und Handlungsweise der neuen Staatsorgane. Die Aufgabe der Rechtsvereinheitlichung wurde dem Gesetzgebungsdepartement im Justizministerium anvertraut. Den in der Zwischenkriegszeit ausgearbeiteten Organisationsmustern folgte man allerdings nicht mehr. Die durch das Departement ausgearbeiteten Entwürfe wurden der Juristischen Kommission, die aus hervorragenden Juristen, unter anderem auch früheren Mitgliedern der Kodifikationskommission, bestand, zur Beurteilung vorgelegt und dann dem Landesnationalrat unterbreitet. Dieser verabschiedete die Entwürfe üblicherweise ohne Diskussion in Form von Dekreten. Auf diese Weise wurde in Polen zu Anfang des Jahres 1947 ein neues, ganz einheitliches, materielles Zivilrecht eingeführt. Eine so schnelle Beendigung der Rechtsvereinheitlichung war auch durch die konkrete Beauftragung bestimmter Personen durch das Ministerium ermöglicht worden, die existierenden Entwürfe der Kodifikations-
15 St. Grodziski, Z dziejw unifikacji polskiego prawa cywilnego [Aus der Geschichte der Unifikation des polnischen Zivilrechts], in: CP-H, Band XXXVII, Heft 2, 1985, 191 ff.
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kommission aus der Vorkriegszeit den neuen Bedingungen, die sich in Polen nach 1945 ausgebildet hatten, anzupassen16. Durch das erste am 29. August 1945 erlassene Dekret wurde das Personenrecht, das die Rechtsfähigkeit und die Geschäftsfähigkeit natürlicher (man erwarb diese mit Beendigung des 18. Lebensjahres) und juristischer Personen regelte, sowie das Institut der Todeserklärung und der Schutz des Namens eingeführt. Das Dekret trat am 1. Januar 1946 in Kraft und derogierte einschlägigen Vorschriften des ABGB (§§ 15 – 39, 43, 151, 173 – 175, 244, 246 – 248, 252, 260, 273, 277 – 278 und 310) oder änderte diese ab (§§ 152, 172, 251, 270, 283, 569). Ein zweites Dekret vom 25. September 1945 über das Eherecht führte die obligatorische Zivilehe ein, womit die Ehe einen weltlichen Charakter annahm. Es trat am 1. Januar 1946 in Kraft. Die Derogationsklausel der Einführungsvorschriften setzte mit diesem Tage die §§ 44 – 136, 142, 153, 160, 245, 1263 – 1266 und 1382 ABGB außer Kraft, die durch das Schuldenrechtsbuch eingeführten Vorschriften wurden aufrechterhalten. Das dritte Dekret vom 22. Januar 1946 über das Familienrecht verbesserte unter anderem auf eine moderne und liberale Weise ganz wesentlich die Rechtsstellung außerehelicher Kinder. Das Dekret trat am 1. Juli 1946 in Kraft und hob folgende Paragraphen des ABGB auf: §§ 40 – 42, 137 – 186, 211 Abs. 1 Pkt. 1 und 4, 752 – 756, 1220 – 1223, 1231 letzter Satz und 1458, wie auch entsprechende Vorschriften der I. Teilnovelle von 1914. Das vierte Dekret vom 14. Mai 1946 führte Vorschriften aus dem Bereich des Vormundschaftsrechts ein, die das Institut der Vormundschaft und der Pflegschaft regelten. Es trat am 1. Juli 1946 in Kraft und hob die §§ 187 – 284 ABGB wie auch die Vorschriften der §§ 30 – 54 der I. Teilnovelle von 1914 auf. Das fünfte Dekret vom 29. Mai 1946 brachte die Kodifikation des ehelichen Güterrechts. Es führte als gesetzliches Gütersystem die bisher auf polnischen Gebieten unbekannte und an den Entwurf von 1937 anknüpfende Errungenschaftsgemeinschaft ein. Dieses ahmte wiederum das schwedische Gesetz von 1920 nach. Das Dekret galt seit dem 1. Oktober 1946, die einschlägigen Vorschriften des ABGB (§§ 1217 – 1247, 1255 – 1262) wurden aufgehoben. Das sechste Dekret war jenes über das Erbrecht vom 8. Oktober 1946, das unter anderem nach dem Vorbild des napoleonischen Gesetzbuchs das System von gesetzlichen Erbenklassen und aus dem ABGB das Institut des Pflichtteils übernahm. Es galt seit dem 1. Januar 1947, an diesem Tag traten die Vorschriften des ABGB 16 S. Grzybowski, Projekt prawa rzeczowego przygotowany przez Komisje˛ Kodyfikacyjna [Der Entwurf des Sachenrechts, vorbereitet durch die Kodifikationskommission 1939], in: KPP Jahrgang II, Heft 4, 1993, 517. Siehe auch K. Przybyłowski, Polskie miedzywojenne prace kodyfikacyjne w dziedzinie prawa spadkowego [Polnische Kodifikationsarbeiten im Bereich des Erbrechts in der Zwischenkriegszeit], in: Ksie˛ga pamia˛tkowa ku czci Kamila Stefki [Gedenkbuch zu Ehren von Kamil Stefko], Warszawa-Wrocław 1967, 269.
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(§§ 531 – 824, 951, 952, 956, 1248 – 1254, 1278 – 1283 sowie die §§ 74 und 75 der III. Teilnovelle von 1916) außer Kraft. Das siebente Dekret vom 11. Oktober 1946 brachte die Vereinheitlichung des Sachenrechts, das an vielen Stellen, unter anderem im Bereich der Festsetzung des Inhalts und der Ausübung des Eigentums, den Entwurf von 1939 nachahmte. Das Dekret trat am 1. Januar 1947 in Kraft und hob die einschlägigen Vorschriften des ABGB auf: aus dem zweiten Teil des Gesetzbuchs die §§ 285, 530 und 825 – 858, aus dem dritten Teil die §§ 1368 – 1374, 1443, 1446, 1466, 1468, 1470 – 1477, 1483, 1498 und 1500. Das letzte Dekret vom 12. November 1946 führte allgemeine Vorschriften des Zivilrechts ein, wodurch die bislang nicht aufgehobenen Vorschriften des ABGB ab 1. Januar 1947 außer Kraft traten. Mit Hilfe dieser acht in den Jahren 1945 – 1946 erlassenen Dekrete wurde in Polen die gesamte Vereinheitlichung des Zivilrechts vollzogen. Die Systematisierung und Vereinheitlichung des Privatrechts brachte vor allem der Gesellschaft Nutzen, auch wenn sie den Interessen der neuen kommunistischen Gewalt diente, die vom Anfang an auf die Zentralisation des Staates bedacht war. Statt eines verwirrenden Partikularismus war das neue einheitliche Recht ein Faktor, der eine Anpassung an die durch den Krieg veränderten Lebensverhältnisse erleichterte. In jener Zeit der Massenmigration ganzer Bevölkerungsteile ermöglichte die Unifikation ein freies Bewegen auf dem ganzen Staatsgebiet. Ein Fortbestehen verschiedener Vorschriften des Familien-, Erb- und Sachenrechts hätte diese Freiheit bedeutend beschränkt. Im Allgemeinen wirkte sich die Unifikation in den schweren Nachkriegsjahren stabilisierend auf die Lage des Staates aus. II. Die Veränderungen des ABGB Während der Geltungszeit des ABGB in den polnischen Gebieten in den Jahren 1918 – 1946 erfolgten verhältnismäßig geringe Änderungen, sieht man einmal von der Tatsache ab, dass ein ganzer Komplex von Normen wegen des Inkrafttretens des Schuldrechtsbuchs am 1. Juli 1934 aufgehoben worden war. Das österreichische Zivilgesetzbuch erfuhr hauptsächlich aus zwei Gründen keine größeren Änderungen: Einerseits sollten die Gesetze der Teilungsmächte, darunter das ABGB, bloß vorläufig gelten; andererseits galt ja das ABGB damals als eines der besten Zivilgesetzbücher17. Wenn der polnische Gesetzgeber also die Novellierung eines nur provisorisch aufrechterhaltenen fremden Gesetzes vornahm, so tat er dies in der Absicht, veraltete, den Anforderungen eines modernen Staates krass widersprechende Normen zu beseitigen. Aus diesem Grund richtete sich auch die gesetzgeberische Tätigkeit hauptsäch-
17 J. Basseches/I. Korkis (Hrsg.), Kodeks cywilny z 1811 obowia˛zuja˛cy w Małopolsce i na Sla˛sku Cieszyn´skim [Das Zivilgesetzbuch von 1811 in Kleinpolen und im Teschener Schlesien], przedmowa M. Allerhand, Lww 1936.
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lich gegen das russische und französisch-polnische Recht, das viele anachronistische Lösungen enthielt, insbesondere im Personenrecht und im ehelichen Güterrecht. Die einzige unmittelbare Novellierung des ABGB enthielt das Gesetz vom 21. Oktober 1919 „Über das Volljährigsalter im ehemaligen österreichischen Teilungsgebiet“. Das Gesetz setzte die Volljährigkeit mit dem 21. Lebensjahr fest und stellte auch fest, dass der Minderjährige nach Beendigung von 18 Jahren für mündig erklärt werden konnte. Gemäß diesen Bestimmungen wurden die entsprechenden Paragraphen des ABGB (§§ 21, 174, 247 und 252) neu gefasst. Die übrigen Novellierungen ergaben sich entweder aus der Veränderung von rechtsstaatlichen (§ 289) oder finanziellen Verhältnissen (§§ 389 – 391). Einige Abänderungen führte die seit dem 1. Oktober 1933 geltende Zivilverfahrensordnung vor allem in der Zuständigkeit von Gerichten und bei Beweismitteln ein (vgl. §§ 97, 99 ABGB aus Art. 13 § 2 Pkt. 1 und Art. 43 der Zivilverfahrensordnung und Art. X § 4 und 5 der Einführungsbestimmungen). Einige Bestimmungen des ABGB betrafen das Notariatsgesetz von 1933. Nach Art. 141 dieses Gesetzes hatten letztwillige Verfügungen, die mündlich vor zwei Notaren oder vor einem Notar und zwei Zeugen erklärt und schriftlich aufgenommen wurden, die Kraft einer gerichtlichen letztwilligen Verfügung, wenn sie unter Einhaltung der allgemeinen Vorschriften über Handlungen der Notare und der Vorschriften der §§ 569, 587 – 592 und 594 – 596 ABGB angefertigt wurden. Dann hob der Art. 142 des Notariatsgesetzes die Zuständigkeit der Gerichte zur Vollziehung der Handlungen auf, die der Notar anfertigen konnte und insbesondere hörte das Recht der Gerichte zur Aufnahme letztwilliger Verfügungen auf; in diesem Bereich wurden entsprechende Vorschriften des ABGB abgeändert (u. a. §§ 551, 557, 587). Darüber hinaus novellierte der Art. 82 den § 432 ABGB, weil er für Verträge betreffend Eigentumsübertragungen an Liegenschaften ausschließlich die Form des Notariatsakts unter Androhung der Nichtigkeit des abgeschlossenen Rechtsgeschäfts vorsah. Die in den §§ 34 – 37 ABGB geregelten Rechte der Ausländer wurden durch das Gesetz über das internationale Privatrecht von 1926 aufgehoben. Dann derogierte das Gesetz über die Staatsbürgerschaft von 1920 den §§ 28 Satz 2 und 29 – 32. Auch die durch das Gesetz von 1928 eingeführten Änderungen des Gerichtssystems blieben nicht ohne Einfluss auf das Zivilrecht. Die früheren Kreis-, Bezirks- und Landesgerichte hörten auf zu existieren, und an deren Stelle traten Burg-, Kreis- und Appellationsgerichte. Auch die Änderungen im Bereich der Verfassung und der Zuständigkeit der Staatsorgane beeinflussten einige Vorschriften des ABGB (vgl. die Verordnung des Präsidenten der Republik Polen vom 28. Dezember 1934, GBl. RP, Nr. 110 Pos. 976 aus § 165 Abs. 2 ABGB). Es gab auch eine Gruppe von Gesetzen, die Bestimmungen des ABGB ergänzten. Dazu ist vor allem das Gesetz über das gerichtliche Vollstreckungsverfahren von 1932 zu zählen, das die §§ 841 – 853 vervollständigte. Zu nennen sind auch die Verordnungen des Präsidenten der Republik Polen über das Eigentum an Räumen, betreffend den § 308 ABGB, oder die Verordnung von 1934 über Enteignungsverfahren als Er-
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gänzung des § 365 ABGB. All diese bis 1939 erfolgenden ABGB-Änderungen sowie die Aufhebung einiger Bestimmungen durch das polnische Schuldrechtsbuch verletzten weder die Konstruktion noch die wesentlichen Grundsätze dieses Zivilgesetzbuchs. III. Der Einfluss des ABGB auf die Gesetzgebungsarbeiten Der Einfluss des österreichischen Rechts wie übrigens auch anderer fremder Rechte auf die Ausbildung des Rechtssystems der II. Republik Polen ergab sich aus einem wesentlichen Grund: Der restituierte polnische Staat konnte nach einer jahrhundertlangen Sklaverei nicht an seine eigenen Rechtsinstitute und -lösungen anknüpfen. Er musste vor allem die Errungenschaften der damaligen Rechtskultur, darunter der österreichischen, in Anspruch nehmen. Die österreichische Rechtskultur hatte auf die polnische besonders durch die an den beiden Universitäten von Krakau und Lemberg vertretene Rechtslehre Einfluss. Die Zeit der galizischen Autonomie innerhalb der Habsburgermonarchie bewirkte, dass das österreichische Recht für viele Kreise der damals regierenden Eliten zum „eigenen“ Recht wurde. Ein bedeutender Teil der polnischen Parlamentarier erwarb seine politischen Erfahrungen im galizischen Landtag und im Wiener Reichsrat. Zahlreiche Mitglieder der Kodifikationskommission waren im österreichischen Rechtssystem ausgebildete Juristen. In den polnischen zentralen Verwaltungs- und Gerichtsinstitutionen waren Personen tätig, die bis 1918 Funktionen in der österreichischen Monarchie ausgeübt hatten. All das schuf günstige Voraussetzungen für die Rezeption des österreichischen Rechts sowohl im Bereich des öffentlichen wie auch des zivilen Rechts. Die Übernahme österreichischer Muster konnte einen systematischen oder einen mehr selektiven Charakter aufweisen. Das spektakulärste Beispiel einer treuen Nachbildung des alten österreichischen Rechtssystems war die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit im unabhängigen Polen. Das polnische Gesetz vom 3. August 1922 über den Obersten Verwaltungsgerichtshof war im Prinzip eine Übernahme des überarbeiteten Texts des österreichischen Gesetzes vom 22. Oktober 1875, das den Verwaltungsgerichtshof ins Leben gerufen hatte18. Im Bereich des Gerichtsrechts zeugt von der Rezeption des österreichischen Rechts die Nachahmung der Organisa18 A. Dziadzio, Uwarunkowania polityczne austriackiego (1875) i polskiego (1922) modelu sa˛downictwa administracyjnego [Politische Bedingungen des österreichischen und des polnischen Modells der Verwaltungsgerichtsbarkeit], in: Studia Historyczne ofiarowane prof. Wacławowi Felczakowi [Historische Studien zu Ehren von Prof. W. Felczak], Krakw 1993, 102. Die Rezeption betraf auch in hohem Maße die Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs zu den Bestimmungen, die in der Zwischenkriegszeit nicht unifiziert wurden, wie z. B. interkonfessionelle Beziehungen der Bürger. Die Staatsverwaltung stützte sich diesbezüglich beim Erlass von Entscheidungen auf die Auslegung der Vorschriften durch den alten österreichischen Gerichtshof. Zu diesem Thema siehe: A. Dziadzio, Religionszwang ohne gesetzliche Grundlage? Interkonfessionelle Verhältnisse der Rechtsprechung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes 1876 – 1918, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1997, 64 ff.
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tion der Schwurgerichte sowie der Einfluss, den das österreichische Prozessrecht auf die polnische Zivilprozessordnung ausgeübt hatte19. Dagegen kam es zu einer mehr selektiven Rezeption des österreichischen Rechts in Bezug auf das Zivilrecht. Das ABGB hatte zwar als eines von vielen Rechtssystemen eine Quelle von Lösungen für das polnische Zivilgesetzbuch zu bieten, man griff aber in der Mehrzahl der Fälle für die kodifizierten Teile zu weit abgesteckten Vergleichsanalysen. Man interessierte sich auch für die schweizerische, französische, spanische, skandinavische, serbische, rumänische und selbst japanische Gesetzgebung. Darüber hinaus schwebte der Kodifikationskommission die Idee vor, ein Gesetzbuch voll moderner juristischer Ideen zu schaffen, das einen Zivilisationsfortschritt darstellen sollte. Nicht immer konnte das ABGB, obwohl im Zeitgeist novelliert, den hochfliegenden Plänen der polnischen Kodifikatoren genügen. Dies beschränkte somit den Einfluss des österreichischen Rechts auf die Gesetzgebungsarbeiten am polnischen Zivilgesetzbuch. 1. Der Einfluss des ABGB auf das Obligationenrecht Es ist vor allem der Rezeptionsbereich des österreichischen Rechts im polnischen Schuldrechtsbuch darzustellen. Dieses Gesetzbuch ist ein ausdrücklicher Beweis dafür, dass es den polnischen Schöpfern um die Schaffung eines Schuldrechtssystems ging, das ein autonomes und originäres Gebilde sein sollte, obwohl es sich auf Vorbilder europäischer Gesetzbücher stützen würde. Die Hauptreferenten des Gesetzbuchentwurfs, E. Till und dann R. Longschamps de Berier, die das österreichische Recht als Professoren der Lemberger Universität besonders gut kannten, waren weit davon entfernt, ihre Arbeiten auf das österreichische Schuldrecht zu stützen. In einigen Vorschriften des polnischen Schuldrechtsbuchs kam es aber dennoch zu Entlehnungen aus dem österreichischen Zivilgesetzbuch, obwohl das meiste aus dem schweizerischen, deutschen und französischen Recht übernommen worden war. Das polnische Schuldrechtsbuch stand auf einem hohen legistischen Niveau. Es war aller Kasuistik enthoben, deren Beispiele im ABGB zu finden waren (vgl. Art. 56 des polnischen Gesetzbuchs mit § 879 ABGB)20. In bedeutendem Maße operierte das polnische Gesetzbuch mit „Generalklauseln“, die dem Richter große Freiheit in der Beurteilung der Schuldrechtsverhältnisse gewährten. Die Blankettnormen, die sich in vielen Fällen auf die Grundsätze „guten Glaubens“, „gute Sitten“ und „Billigkeit“ beriefen, ermöglichten dem Richter die Gestaltung des Schuldrechtsinhalts, und in Ausnahmefällen ermächtigten sie ihn, den Vertrag aufzulösen (Art. 269, 490
19 St. Goła˛b, Polski kodeks poste˛powania cywilnego a procedura cywilna austriacka [Polnische Zivilverfahrensordnung und der österreichische Zivilprozess], in: Odbitka z Ruchu Prawniczego i Ekonomicznego [Abdruck aus der Rechtlichen und Ökonomischen Bewegung], Krakow 1934. 20 I. Rosenblüth, Kodeks zobowia˛zan´. Komentarz [Schuldrechtsbuch. Kommentar], Opracowali Jan Korzonek, Krakw 1934.
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§ 2, 601)21. Die Schöpfer des polnischen Gesetzbuchs ersetzten die alte, traditionelle, individualistische Kontrahierungsfreiheit durch eine gesellschaftlich zulässige Freiheit. Darin steckte die allgemeine Idee des Rechtsmissbrauchsverbots, demzufolge man fremde Unerfahrenheit oder Notlage nicht ausnutzen und sich keine extrem hohe Leistung im Verhältnis zur Gegenleistung verschaffen durfte. Der Richter sollte also Überwacher der materiellen und nicht der formalen Gleichheit der Parteien sein. Das vorliegende schuldrechtliche Leitmotiv fand seine praktische Anwendung in einer so breiten Auffassung zum ersten Mal im polnischen Rechtsverkehr. Das polnische Schuldrechtsbuch knüpfte sowohl bei den allgemeine Vorschriften wie auch im Besonderen Teil mehr an das deutsche BGB als an das ABGB an, aber es fehlte auch nicht an Entlehnungen aus dem österreichischen Gesetzbuch, besonders aus den Vorschriften der III. Teilnovelle zum ABGB. Aus dem BGB übernahm das polnische Gesetzbuch die Kriterien bezüglich der Auslegung von Willenserklärungen und der Ausübung der obligationenrechtlichen Grundsätze von „Treu und Glauben“ und der „Sitten des redlichen Verkehrs“. In der letzteren Formulierung ist auch eine Anknüpfung an das ABGB zu sehen (vgl. § 914 im Wortlaut der III. Teilnovelle mit Art. 107 und 108 des polnischen Gesetzbuchs, wie auch § 157 und 942 BGB)22. Das polnische Schuldrechtsbuch folgte dem BGB vollkommen in der Frage der Kriterienbestimmung des Grades der Diligenz und der Sorgfaltserwägungen, die derjenige in Betracht zu ziehen hat, der eine Handlung, die einen Schaden bringen könnte, zu setzten hat, um zivilrechtliche Verantwortlichkeit zu vermeiden. Anders als das ABGB, welches „die Sorgfalt eines Durchschnittsmenschen mit normaler Fähigkeit“ annahm, rekurrierte das BGB auf das Maß „der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“. Nach dem Vorbild dieser Bestimmung benutzte das polnische Gesetzbuch den Begriff „mit gehöriger Sorgfalt“ (vgl. § 1297 ABGB und § 276 BGB mit Art. 115, 208 des polnischen Gesetzbuches)23. Dagegen stützten sich die Vorschriften des polnischen Gesetzbuchs über die Auslobung wie auch über die Haftung für die durch Tiere angerichteten Schäden auf die Regelungen der III. Teilnovelle zum ABGB24. Unter dem ausdrücklichen Einfluss der Novelle zum ABGB standen im polnischen Gesetzbuch die Vorschriften über den Arbeitsvertrag, obwohl es auch Lösungen brachte, die dem österreichischen Recht unbekannt waren. Dem ABGB wurde auch die Konstruktion des Anweisungsvertrags entnommen (vgl. Art. 613 des polnischen Gesetzbuches und § 1400 ABGB im Ebda. In eine ähnliche Richtung gingen die in den Entwurf des ungarischen Zivilgesetzbuchs von 1928 aufgenommenen Lösungen. Dieses zeichnete sich ebenfalls durch die Aufnahme von Generalklauseln aus, die eine elastische Rechtsprechung ermöglichten. Siehe E. Weiss, Die Entwicklung des Vertragsrechts im Lichte der ungarischen zivilrechtlichen Kodifikationsarbeiten, in: Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (1848 – 1944), Budapest 1970. 22 Projekt prawa o zobowia˛zaniach. Objas´nienia, prof. E. Till [Der Entwurf des Schuldrechtsbuches. Erklärungen], in: PPiA 1923, Heft 10 – 12, 297. 23 Ebda, 342. 24 Ebda, 364. 21
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neuen Wortlaut)25. Der Einfluss des österreichischen Rechts ist auch in der allgemeinen Bestimmung der Gewährleistung für Werkmängel zu sehen. Einige Elemente des novellierten ABGB finden sich auch in den Regelungen bezüglich der Schuldübernahme und des Erlöschens von Schuldverhältnissen (siehe Art. 182, 254 § 1 und 2 des polnischen Schuldrechtsbuchs)26. Dagegen traten bedeutende Unterschiede in den Regelungen des ABGB und des polnischen Schuldrechtsbuchs bezüglich anderer Verträge auf, wie z. B. Kaufvertrag und Altenteilvertrag (Advitalitätsrecht). Bezüglich des Kaufvertrags lag der wichtigste Unterschied in der Bestimmung des Vertragsgegenstands und des Zeitpunkts des Eigentumsübergangs: Nach dem polnischen Gesetzbuch erfolgte der Eigentumsübergang im Moment des Kaufvertragsabschlusses, im ABGB erst im Moment der Übergabe der Sache. Der Altenteilvertrag (Advitalitätsrecht) war im österreichischen Recht gar nicht gesondert geregelt. Im Zusammenhang damit wurde das Institut des Altenteilvertrags in der Fassung des polnischen Schuldrechtsbuchs breiter umrissen als dies im österreichischen Recht der Fall war. Zu bemerken ist, dass der Altenteil (Advitalitätsrecht) das einzige Rechtsinstitut war, das aus dem alten polnischen Privatrecht in das ABGB übernommen worden war. 2. Der Einfluss des ABGB auf das Ehe- und Ehegüterrecht Die polnischen Kodifikatoren bezweckten die Schaffung eines modernen, demokratisch durchdrungenen Zivilrechts. Dieses Ziel wollten sie insbesondere in den Vorschriften des neuen Ehe- und Familienrechts erreichen. Von den drei auf polnischen Gebieten geltenden Systemen des Eherechts besaß das konfessionelle System, das in Zentralpolen aufgrund des Gesetzes von 1836 galt, die wenigsten Anhänger. Seine Anwendung bedeutete geradezu den Zustand einer Rechtsanarchie mit für die gesellschaftliche Ordnung bedrohlichen Erscheinungen wie dem Aufkommen einer legalen Bigamie27. Das Konzept eines ganz weltlichen Charakters des Eherechts mit einer Abweichung zugunsten des konfessionellen Modells war bestimmender: Es wurde eine fakultative Form der Eheschließung entweder auf dem Wege einer zivilen oder einer kirchlichen Heirat angenommen. Nach dem Kodifikationskommissionsentwurf des 25
Siehe Fn. 20, 1225. Siehe Fn. 20, 398 i 555. 27 Nach dem „Eherecht“ von 1836 fiel die Rechtsprechung in Ehesachen in die ausschließliche Kompetenz der kirchlichen Gerichte. Die staatlichen Gerichte konnten in der Zwischenkriegszeit nur über die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte in Ehesachen urteilen. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass in Österreich die Anwendung des Systems des konfessionellen Eherechts nach 1918 auch Verwirrung hervorrief, dies deshalb, weil die Verwaltungsbehörden den Katholiken Dispens von dem in § 83 ABGB bestimmten Ehehindernis des bestehenden Ehebandes erteilten (sog. Sever-Ehen). Siehe B. Primetshofer, Ehe und Konkordat, Wien 1960, 18 f.; A. Lenhoff, Auflösung der Ehe und Wiederverehelichung. Beitrag zum österreichischen Eherecht, Wien 1926. 26
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Eherechts von 1929 war die Ehe eine Angelegenheit des ausschließlich staatlichen Zivilrechts. Unabhängig von der durch die Nupturienten angenommenen Form der Eheschließung stand ihnen also das Recht zu, die Separation und dann die Scheidung zu fordern, die durch weltliche Gerichte ausgesprochen werden sollte. Die vorgeschlagenen Lösungen stimmten mit den Tendenzen in der Gesetzgebung der Nachbarländer überein, die fakultative Eheschließung wurde dem tschechischen und lettischen Vorbild nachgebildet. Im Lichte des polnischen Entwurfs konnte die Heirat – in der weltlichen oder kirchlichen Form – erst nach der Vorlage der Bescheinigung des zuständigen Beamten des Standesamts über das Fehlen von Ehehindernissen geschlossen werden. Der Geistliche war verpflichtet, das Protokoll über die Heiratszeremonie anzufertigen, worauf das örtliche Standesamt eine Heiratsurkunde, die den ausschließlichen Beweis der Eheschließung bildete, auszustellen hatte28. Unter den Hindernissen der Eheschließung sah der Entwurf von manchen ab, die dem österreichischen ABGB bekannt waren: z. B. dem Religionsunterschied der Nupturienten oder dem Ehebruch, den sie zur Zeit einer vorher bestehenden Ehe miteinander begangen hatten (§§ 64 und 67 ABGB). Dagegen kann man im Katalog der Rechtfertigungsgründe für Trennung und Scheidung Ähnlichkeiten mit den Scheidungsgründen für Nichtkatholiken im § 115 ABGB finden. Die Neuheit des polnischen Entwurfs war die Einführung der obligatorischen Separation, die der Erhebung der Klage auf die Auflösung der Ehe durch die Scheidung vorangehen musste. Die Separation und die Scheidung konnten erst dann ausgesprochen werden, wenn das Gericht anerkannte, dass die vorliegenden Gründe der Eheseparation zu deren dauerhafter Zerrüttung geführt hatten. In diesem Punkte kam der Einfluss des schweizerischen Rechts zum Vorschein. Als ein gewisses novum führte der Entwurf als Voraussetzung des Scheidungsspruchs auch das Fehlen der Kollision zwischen der Ehescheidung und dem Wohl der Kinder ein: Das Gericht konnte die Scheidung verweigern, wenn dies dem Wohl der minderjährigen Kinder zuwiderlief (Art. 77 des Entwurfs). Die Mitglieder der Unterkommission für Eherecht stimmten im Prinzip mit der Forderung nach Einführung der fakultativen Form der Eheschließung überein. Nur W. Abraham sprach sich für das konfessionelle System des Eherechts in einer solchen Form aus, wie es im österreichischen ABGB enthalten war, abgesehen vom Institut der Notzivilehe29. Eine Kompromissformel des Eherechts, die die Kritik der katholischen Kreise abschwächen und daher die Wahrscheinlichkeit des Inkrafttretens des Entwurfs vergrößern sollte, legte St. Goła˛b vor. Sein Konzept zielte auf die Einführung einer vollen Fakultativität ab, die darin zum Ausdruck kam, dass den Katholiken das Recht überlassen wurde, neben der Heirat vor dem Geistlichen auch die vor dem Beamten des Standesamts oder umgekehrt, nur innerhalb einer bestimmten Frist, zu 28 K. Lutostan´ski, Zasady projektu prawa małz˙en´skiego [Die Grundsätze des Entwurfs des Eherechts], in: G.S.W., Nr. 47 – 52, Jahrgang 1931. 29 W. Abraham, Zagadnienie kodyfikacji prawa małz˙en´skiego [Die Frage der Kodifikation des Eherechts], Lublin 1929, 12.
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schließen. Mit einem Wort, katholische Nupturienten, die die konfessionelle Form der Eheschließung wählten, würden sich damit den Weg einer Scheidung versperren. Dieser Antrag wurde aber nahezu einstimmig abgelehnt30. Die Einführung des laizistischen Eherechts im Zwischenkriegspolen scheiterte: Für die vorgeschlagenen Lösungen wurden aber keine Alternativen gefunden. Die Tendenz zur Abwendung vom konfessionellen Charakter der Ehe wurde nämlich in Europa immer stärker und Polen war nicht das einzige Land, das bei der Kodifikation des fortschrittlichen Eherechts auf Schwierigkeiten stieß31. Fortschrittliche Ideen fanden sich auch in den Arbeiten zum ehelichen Güterrecht. Alle drei diesbezüglichen Entwürfe von 1920, 1934 und 1937 waren bestrebt, den Grundsatz der Gleichheit der Eheleute durchzusetzen. Der Entwurf von W. L. Jaworski von 1920 erklärte in § 1, dass die Frau wegen der Eheschließung keinen Beschränkungen in ihren Privatrechten unterliege; sie kann ohne Erlaubnis des Mannes über ihr Vermögen verfügen und vor Gericht erscheinen wie auch den selbst gewählten Beruf ausüben. Als gesetzlicher Güterstand war die Gütertrennung vorgesehen, was zweifelsohne dem österreichischen ABGB folgte, das die Vermögenslage einer verheirateten Frau von allen Zivilgesetzen am günstigsten bestimmte. Dem Entwurf wurde aber vorgeworfen, er erschüttere das traditionelle Familienmodell, indem er der Frau zu große Freiheit einräumte. Der Entwurf von K. Lutostan´ski von 1934 nahm als gesetzliches Gütersystem eine Errungenschaftsgemeinschaft an. Jeder der Ehegatten hatte das Recht, über sein gesondertes Gut selbständig zu verfügen; die Frau konnte aber ihr Gut dem Mann zur Verfügung stellen, oder umgekehrt, das Verfügungsrecht konnte der Frau zustehen. Dagegen sollten die Ehegatten über gemeinschaftliches Eigentum aus gleichen Rechten verfügen. Die Gleichheit in der Verfügung war eine Abkehr von den bisher geltenden Regelungen, die Verfügung und Nutznießung der Güter ex lege dem Mann überließen. Der neue Entwurf des ehelichen Güterrechts von 1937 machte Konzessionen zugunsten des Gütertrennungsgrundsatzes, dessen Einführung die Kritiker des früheren Entwurfs gefordert hatten, indem sie hervorhoben, dass dieses System das einfachste und für Frauen günstigste sei. Der Entwurf nahm also als gesetzlichen Güterstand ein auf polnischem Gebiet unbekanntes, an skandinavische Lösungen anknüpfendes Er30 St. Goła˛b, Polskie prawo małz˙en´skie w kodyfikacji [Das polnische Eherecht in der Kodifikation], Warszawa 1932, 113 f. 31 Als Beispiel kann eben Österreich genannt werden, wo sich die Nationalversammlung 1919 gegen die Reform des Eherechts aussprach. Aber 10 Jahre später forderte das Parlament in einem übrigens nur mit geringer Stimmenmehrheit getroffenen Beschluss eine Reform nach dem Vorbild des deutschen laizistischen Systems. Diesem Beschluss zum Trotz stimmte die Regierung beim Abschluss des Konkordats 1933 der Übertragung der Rechtsprechung für Katholiken in Ehesachen an kirchliche Gerichte zu. Erst nach dem nationalsozialistischen Umsturz erfolgten tiefe Wandlungen: Das Gesetz vom 6. 7. 1938 führte die obligatorische Zivilehe und das Scheidungsrecht ein. Siehe F. Gschnitzer, Österreichisches Familienrecht, Wien 1979, 10.
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rungenschaftsgemeinschaftssystem an. Gemäß Art. 2 § 1 des Entwurfs behielt jeder Ehegatte das Eigentum und die Verfügungsmacht nicht nur über seine persönlichen Güter, sondern auch über die während der Ehe erworbenen Güter mit dem Vorbehalt, dass dieses Erwerbsgut zum gemeinschaftlichen Eigentum der Ehegatten in gleichen Teilen wurde. Die Ehegatten sollten sich vor der Vollstreckung wichtigerer Verfügungshandlungen verständigen und zu bestimmten Verfügungshandlungen eines Ehegatten, wie z. B. zur Veräußerung und Belastung einer Liegenschaft, zur Vornahme von Schenkungen und ähnlichem, war die schriftliche Zustimmung des Ehepartners erforderlich. Der neue Entwurf rief weniger kritische Einwendungen hervor, die Stimmen für die Festsetzung einer völligen Gütertrennung der Ehegatten überwogen aber weiterhin32. 3. Der Einfluss des ABGB auf das Kindschaftsrecht Die Kodifikationskommission wollte auch die Rechtsverhältnisse zwischen Eltern und Kinder auf fortschrittliche und demokratische Grundsätze stützen. Der von St. Goła˛b 1934 diesbezüglich bearbeitete Entwurf brachte viele neuartige Lösungen. Zu solchen ist die Bestimmung des Art. 16 zu rechnen, wonach die Kindesmutter das Recht hätte, vor einem Standesbeamten oder vor einem zuständigen Geistlichen eine Willenserklärung über den Vater ihres Kindes abzulegen; der so Benannte konnte die Rechtskraft dieser Erklärung nur verhindern, indem er binnen drei Monaten nach Zustellung der Erklärung Klage auf Unwahrheit erhob. Der Entwurf zielte also ausdrücklich auf eine Verbesserung der Rechtsstellung unehelicher Kinder ab, was in Gestalt des allgemeinen Grundsatzes des Art. 3 Ausdruck fand. Danach wurden die außerhalb der Ehe geborenen Kinder rechtlich mit ehelichen Kindern gleichgesetzt33. Gemäß der solcherart erklärten Gleichheit der unehelichen Kinder mit den aus einer Ehe stammenden Kindern wurde in den Entwurf die Bestimmung aufgenommen, dass dem außerehelichen Kind die Rechte, sich aus der Verwandtschaft zur Mutter und deren Familie ergeben, auch im Verhältnis zum Vater und dessen Familie zukommen sollten (vorausgesetzt wurden die Anerkennung des Kindes durch den Vater oder die rechtskräftige Vaterschaftserklärung). Keine der in den polnischen Gebieten geltenden Gesetze, darunter auch das ABGB nach der Novellierung, besaßen eine für uneheliche Kinder so günstige Regelung. Doch im Entwurf des neuen Rechts über die Verwandtschaftsverhältnisse und über die Vormundschaft von 1938 wurden diese Bestimmungen unter dem Einfluss einer starken Kritik an den vorgeschlagenen Lösungen teilweise beseitigt, teilweise modi-
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J. Balin´ski/S. Holewin´ski/K. Rakowiecki, Nowy projekt małz˙en´skiego prawa ma˛ja˛tkowego [Der neue Entwurf des ehelichen Güterrechts], Warszawa 1938, 53. 33 St. Goła˛b, Dwa zagadnienia z dziedziny prawa rodzinnego [Zwei Probleme aus dem Bereich des Familienrechts], in: Odbitka z Gtosu Prawa [Abdruck aus der Stimme des Rechts], Nr. 3 – 4, 1938.
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fiziert: das uneheliche Kind sollte nun die Rechte nur im Verhältnis zum Vater selbst, nicht aber zu dessen Familie erwerben. Dagegen wurde im Entwurf von 1938 eine Vorschrift aufrechterhalten, deren Inhalt dem österreichischen Zivilgesetzbuch entnommen wurde. Nach Art. 30 des Entwurfs von 1934 konnte die staatliche Vormundschaftsbehörde schon vor der Geburt des Kindes verfügen, dass der Vater sofort nach dessen Geburt zu Handen der Mutter oder des Vormunds die Erhaltungskosten für das Kind für die ersten drei Monate zahlen solle. Die Kritiker dieser Vorschrift forderten, die Zahlung zu begrenzen, wie es § 168 ABGB getan hatte34. 4. Der Einfluss des ABGB auf das Sachenund Erbrecht Der Entwurf des Sachenrechts von 1939 zeichnete sich durch viele neuartige Lösungen aus. Dazu ist die Konstruktion eines zeitlich begrenzten Eigentums zu zählen, die in der Übertragung des Eigentums an einer Liegenschaft durch den Fiskus oder einen territorialen Selbstverwaltungsverband unter dem Vorbehalt erfolgte, dass nach Ablauf einer bestimmten Frist (30 – 100 Jahre) das Eigentum an der Liegenschaft an den Verkäufer zurückfiele. Sonst regelte der Entwurf zumeist klassische Institute des Sachenrechts auf eine mit der zivilistischen Tradition übereinstimmende Weise, was insbesondere die Redaktion der Vorschriften über den Inhalt und die Ausübung des Eigentums sichtbar macht. Daher kann man Ähnlichkeiten mit Vorschriften im österreichischen Zivilgesetzbuch finden (vgl. Art. 25 des Entwurfs mit § 364 ABGB im neuen Wortlaut)35. Der von St. Wrblewski vorbereitete Grundriss des Erbrechts wies in einigen Punkten eine Konvergenz mit den Lösungen des österreichischen Rechts auf. Davon zeugte die vorgeschlagene Systematik der Vorschriften, die darin bestand, dass die Testamentsbestimmungen vor die Regelungen der gesetzlichen Erbfolge gesetzt wurden. Die Mehrheit der Mitglieder der Unterkommission trat aber entschieden gegen eine solche Fassung auf. Die Gründe der Erbunwürdigkeit im Entwurf deckten sich mit denen im ABGB (vgl. Art. 17 und 18 des Entwurfs mit §§ 540 – 542 ABGB). Man bildete das österreichische Recht nach, indem man Klassen der gesetzlichen Erben bildete. Dazu wurden gerechnet: 1. die Nachkommen des Erblassers, 2. dessen Eltern und Geschwister, 3. die Großeltern des Erblassers. Die Unterkommission beschloss, die dritte Klasse durch die Eingliederung der Nachkommen der Großeltern zu ergänzen, die an ihre Stelle nach Art und Weise des ABGB eintreten sollten36. 34 J. Balin´ski/S. Holewin´ski/K. Rakowiecki, Nowy projekt prawa ostosunkach z pokrewien´stwa i opiece [Der neue Entwurf des Rechts über Vormundschaftsverhältnisse und Vormundschaft], Warszwa 1939, 35 f. 35 Grzybowski, Projekt, wie Fn. 16. 36 Przybłowski, Polskie, wie Fn. 16.
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IV. Zusammenfassung Die Geltungszeit des österreichischen Zivilgesetzbuchs in polnischen Gebieten in den Jahren 1918 – 1946 ist gleichzeitig die Geschichte des schwierigen Wegs des polnischen Staates zur Vereinheitlichung des eigenen Zivilrechts. Eine über ein Jahrhundert dauernde Anwendung seiner Bestimmungen beeinflusste die Ausbildung einer zivilistischen Tradition in der polnischen Gesellschaft, auf die man sich in den Unifikationsarbeiten nach dem Kriege berief. Als Beispiele mögen das System der Gütertrennung im ehelichen Güterrecht oder der Schuldgrundsatz im Scheidungsrecht wie auch der Pflichtteil im Erbrecht dienen. Darüber hinaus bewirkte die Übernahme vieler Lösungen des ABGB in die Kodifikationsarbeiten, dass die Ideen dieses Gesetzbuchs die Gestalt der polnischen Rechtskultur beeinflussten.
Das ABGB in der Tschechoslowakei Werner Schubert, Jarmila Pokorna, Josef Fiala, Hans-Christian Krasa
I. Das ABGB und Entwürfe zur Neukodifikation (Werner Schubert) 1. Geltung Das ABGB, das am 1. 1. 1812 in Böhmen und Mähren in Kraft getreten war1, blieb entsprechend dem Gesetz über die Gründung des Tschechoslowakischen Staates weiterhin mit den Änderungen, insbesondere den österreichischen Novellen von 1914, 1915 und 1916, in Kraft2, denn nach Art. 2 dieses Gesetzes sollten „sämtliche bisherigen Landes- und Reichsgesetze und Verordnungen vorläufig in Geltung bleiben“. Als dieses Rezeptionsgesetz erging, war die einzige authentische Gesetzessprache das Tschechische. Eine amtliche tschechische Übersetzung des ABGB ist jedoch niemals erschienen – die vorliegenden Übersetzungen waren als solche nicht zu betrachten. Bis 1918 dürften vier verschiedene Übersetzungen3 und bis 1948 noch einmal mindestens drei weitere Übersetzungen4 in mehreren Auflagen erschienen sein5. Knapp hat aus der Gesetzeslage gefolgert: Obwohl nur eine tschechische Fassung 1 Hierzu V. Knapp, in: F. Mutscher/I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Europa im Aufbruch, Festschrift für Fritz Schwind, 1993, 173 ff. 2 Sammlung der Gesetze und Verordnungen des tschechoslowakischen Staates, Nr. 11/ 1918. 3 Die Übersetzungen stammen von Vesely´ und J. Nejedly´, Kniha wsseobecny´ch zkomu mestsky´ch pro wssecky nemeck dedicn zeme Mocnrstwj Rakauskho, 1812; von V. Sembera, Obecny´ zkonnk obcansky´ csarstv rakouskhe, 1862 (mit weiteren Aufl. und Bearb., u. a. 1872, 1874, 1885, 1887, 1888, 1898, 1903); von Preisslera/Houdek, Obecny´ obcansky´ zkonnk rakousky´, 1904, und von Fr. Joklk, 1917 (weitere Aufl. 1920 und 1922). Über die Verf. der Ausgaben von 1812 und 1862 vgl. E. Tilsch, Prvo obcansk, Cst vseobecn, 1925, 21. 4 Die Übersetzungen stammen von: Fr. Roucek, Ceskoslovensky´ obecny´ zkonik obcansky´ a obcansk prvo platn na Slovensku a v Podkarpatsk Rusi, 1926 (weitere Aufl. u. a. 1930, 1932); K. Novak/A. Svehly/J. Basche/J. Edelstein, Obecny´ obcansky´ zkonik platny´ v cechch, na Morave a ve Slezsku se zkony doplnujicmi, 1926 (weitere Aufl. u. a. 1930, 1947), und von V. Vesely´/J. Kavlr/M. Pivonkov, Obecny´ obcansky´ zkonik a souvisl zkony, 1947 (weitere Aufl. 1948). 5 Zu den Übersetzungen Knapp, wie Fn. 1, 176; vgl. auch Tilsch, wie Fn. 3, 21. – Der Verf. dankt der Prager Nationalbibliothek für den Nachweis der meisten der in den Fn. 3 und 4 genannten Ausgaben. Die Übersetzung von 1812 ist dort nicht vorhanden.
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des ABGB authentisch war, habe es eine solche nicht gegeben: „Das ABGB hat als tschechoslowakisches Gesetz mehr als dreißig Jahre gegolten, ohne eine authentische Fassung gehabt zu haben.“6 Das ABGB ist entsprechend einem Gesetz vom 30. Januar 1920 durch eine Verordnung auch im Hultschiner Kreis eingeführt worden7: „Mit demselben Tage, an welchem diese Verordnung in Kraft tritt, wird auf die übernommenen Gebiete die Wirksamkeit aller bisher für den Bereich von Böhmen, Mähren und Schlesien geltenden Gesetze und Verordnungen, durch die das materielle Recht und das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen und Strafsachen (wie z. B. das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch vom 1. Juni 1811 …) … mit allen Vorschriften, welche durch die betreffenden Gesetze aufrechterhalten oder auf Grund derselben oder zu deren Durchführung erlassen wurden, und mit allen an ihnen bis zu diesem Tage durchgeführten Änderungen ausgedehnt.“ Von größter Bedeutung für die Gesetzgebungspolitik der Tschechoslowakei war die Gliederung des neuen Staates in das ehemalige österreichische Rechtsgebiet (Böhmen, Mähren und Schlesien) und das ehemalige ungarische Rechtsgebiet (Slowakei und Karpatho-Ukraine)8. In Ungarn hatte das ABGB von 1852 an nur knapp neun Jahre gegolten und war bereits 1861 nach den Beschlüssen der sog. Judexkurialkonferenz außer Kraft gesetzt worden. Zu einer Kodifizierung des bürgerlichen Rechts war es bis 1918 in Ungarn nicht mehr gekommen. Für die Vereinheitlichung des Rechts in den beiden Landesteilen besaß das sog. Unifizierungsministerium der tschechoslowakischen Regierung besondere Zuständigkeiten. Insbesondere sollte das ABGB ebenso wie das ungarische bürgerliche Recht in nicht allzu langer Zeit durch eine neue Kodifikation ersetzt werden. Da die Arbeiten jedoch bis 1938 nicht abgeschlossen waren, galt das ABGB zunächst über 1945 hinaus9. Am 7. Dezember 1949 erschien ein neues Familiengesetz, mit dem die §§ 44 – 284 ABGB außer Kraft gesetzt wurden, soweit dies nicht schon durch die Ehegesetzgebung der alten Tschechoslowakei vor 1938 geschehen war. Erst das Zivilgesetzbuch vom 25. Oktober 1950 hob das ABGB bis auf die §§ 1156 – 1164 auf. 2. Veränderungen Da mit einer baldigen Ersetzung des ABGB durch eine neue Zivilrechtskodifikation gerechnet wurde, waren die Abänderungen der Kodifikation10 gering. Aus dem 6
Knapp, wie Fn. 1, 177. Sammlung der Gesetze 1919, 405 (Nr. 152), § 2. 8 Zur gesetzgeberischen Situation des „Tschechischen Staates“ vgl. E. Weiss, in: Rechtsvergleichendes Handwörterbuch, Bd. 1, 1929, 265 (mit Literatur); Zur Rechtsentwicklung in Ungarn J. Zlinsky, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II 2, 1982, 2141 ff. 9 Hierzu und zum folgenden Knapp, wie Fn. 1, 178 f. 10 Die tschechoslowakische (ohne die deutschsprachige) Literatur zum ABGB und dessen Reform ist für 1918 – 1927 nachgewiesen bei F. Cda, Ceskoslovensk literatura prvnick a 7
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Bereich des Personen- und Familienrechts ist zunächst das Gesetz vom 22. Mai 191911, betr. Abänderungen der Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes über die Förmlichkeiten des Ehevertrages, die Ehetrennung und die Ehehindernisse zu nennen. Durch dieses Gesetz wurden die §§ 63, 64, 66, 67, 94, 111, 115, 119, 125, 133 – 136 aufgehoben sowie § 543 modifiziert. Die bei der Scheidung (§§ 104, 107 ABGB) vorgeschriebenen Versöhnungsversuche sollten ausschließlich vor Gericht vorgenommen werden (§ 27 des Gesetzes). Die wichtigsten Neuerungen gegenüber dem ABGB waren die Einführung eines interkonfessionellen Eherechts, die fakultative Eheschließung12 und die Möglichkeit der Scheidung. Das Gesetz ließ im Anschluss an § 142 des schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) eine Ehescheidung auch bei unverschuldeter Zerrüttung der Ehe zu. Darüber hinaus war auch noch eine Ehescheidung wegen unwiderstehlicher Abneigung der Ehegatten möglich. In diesem Fall „musste“ die Scheidung, der der andere Ehegatte zustimmen musste, nicht sofort bewilligt werden, sondern es konnte zunächst auf Trennung von Tisch und Bett erkannt werden.13 Waren drei Jahre seit der Trennung verflossen, so war die behauptete unwiderstehliche Abneigung als bewiesen anzusehen, sofern dem nicht die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung widersprachen. sttovedekc vydan …, Bd. 1 und 2, 1926, 1928; die deutsche und tschechische Literatur von 1925 – 1931 in: Annuario di Diritto comparato e di studi legislativi, vol. XI 1, 1940, 160 ff (leider unvollständig für die Gesetzestextausgaben), für 1932 in: Bibliografia giuridica internazionale, vol. 1, Anno 1932, 1937, 429 ff; die deutsche Buchliteratur ist nachgewiesen in: Deutsche Bibliographie. Veröffentlichungen in den Sudetenländern, 1932 – 1938. Vgl. ferner die tschechische Bibliographie (ab 1889): Cesky´ Katalog Bibliograficky´, Prag. 11 Deutscher Text bei F. Kafka/P. Gaus, Privatrechtliche Gesetze mit oberstrichterlichen Entscheidungen, Bd. 1, 1925, 48 ff.; vgl. auch E. Svoboda, Probleme des tschechoslowakischen Eherechts, in: Zeitschrift für Ostrecht, 1927, 59 ff. 12 § 12 Abs. 1 lautet: Den bereits bürgerlich getrauten Parteien bleibt es überlassen, ob sie sich auch den kirchlichen Förmlichkeiten unterziehen wollen. Falls die Verlobten bloß die kirchliche Trauung wünschen, finden das Aufgebot und die Trauung beim zuständigen Seelsorger statt. Bei gemischtem Religionsbekenntnis der Verlobten findet das Aufgebot bei beiden Seelsorgern, die Trauung nach dem Willen der Verlobten bei einem der beiden oder bei beiden statt. 13 Die §§ 13 Abs. 1 lit. i, 15 und 18 lauten: Auf Trennung jeder Ehe kann geklagt werden: … i) wegen unüberwindlicher Abneigung. Der Klage kann nur dann stattgegeben werden, wenn sich dem Ansuchen um Trennung auch der zweite Ehegatte, sei es auch nachträglich, anschließt. In diesem Falle muß aber die Trennung nicht sofort bewilligt werden, sondern es kann zunächst auf Scheidung von Tisch und Bett, und zwar eventuell auch mehrere Male, erkannt werden“ (§ 13 Abs. 1 lit. i). – „Wurde die Ehe gerichtlich geschieden, so kann jeder Ehegatte, wenn er nicht aus einem anderen im § 13 angeführten Grunde auf Trennung klagen will, um Trennung wegen unüberwindlicher Abneigung nachsuchen. Dieses Gesuch kann erst dann eingebracht werden, wenn seit der Durchführung der gerichtlichen Scheidung mindestens ein Jahr verstrichen ist und die Ehegatten die eheliche Gemeinschaft nicht wieder aufgenommen haben …“ (§ 15). – „In Prozessen über die Ehetrennung wegen unüberwindlicher Abneigung entfällt die vorhergehende Scheidung nach § 13 Abs. i dieses Gesetzes, wenn die Ehegatten bereits gerichtlich geschieden sind und seither ein Jahr verflossen ist, ohne daß sie die eheliche Gemeinschaft wieder aufgenommen haben; sind drei Jahre seit der Durchführung der gerichtlichen Scheidung verflossen, so ist die behauptete unüberwindliche Abneigung als bewiesen anzusehen, sofern die Ergebnisse der mündlichen Verhandlung dem nicht widersprechen“ (§ 18).
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Das dem österreichischen Gesetz vom 6. Februar 1919 sehr ähnliche Gesetz vom 23. Juli 1919 betr. das Volljährigkeitsalter14 setzte die Volljährigkeit mit der Vollendung des 21. Lebensjahres fest und änderte damit die §§ 21 und 275 ABGB ab. Nach § 2 des Gesetzes konnten Minderjährige, die das 18. Lebensjahr überschritten hatten, mit ihrer Zustimmung und mit Genehmigung der Behörde vom Vater ausdrücklich aus der väterlichen Gewalt entlassen werden (Abänderung des § 154 ABGB). Durch § 4 „Falls sich ein Minderjähriger nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre bei einem Geschäfte für großjährig ausgab und der andere Teil vor Abschließung des Geschäftes keine Auskünfte über den wahren Stand erlangen konnte, ist der Minderjährige für allen Schaden verantwortlich.“ wurde § 248 ABGB abgeändert. Eine Volljährigkeitserklärung war in Abänderung des § 252 ABGB mit der Vollendung des 18. Lebensjahres möglich. – Mittelbar wurden für eine Reihe materiellrechtlicher Regelungen des Personen- und Familienrechts des ABGB die entsprechenden österreichischen Verfahrensbestimmungen teilweise abgeändert15. Durch das Gesetz vom 3. Juli 1924 über die Aufhebung der Fideikommisse16 wurden die §§ 618, 645 ABGB außer Kraft gesetzt. Nach § 1 dieses Gesetzes wurden Fideikommisse (auch Familienfideikommisse) aller Art aufgehoben; neue Fideikommisse konnten nicht errichtet werden. Mit dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes traten grundsätzlich die Bestimmungen über die Errichtungsurkunden, die Familienbeschlüsse und andere Verfügungen über die Fideikommisse außer Kraft. Insbesondere erloschen ohne Entschädigung auch die in der Errichtungsurkunde für den Wegfall der Anwärter festgesetzten Substitutionsansprüche und grundsätzlich auch alle anderen Ansprüche. Den Fideikommissbesitzern, den Anwärtern und dem Posteritätskurator wurde es in erster Linie überlassen, durch Übereinkommen die Verhältnisse des freigewordenen Fideikommissvermögens zu regeln. Durch Gesetze von 192117 wurde § 1154 b ABGB (Fassung von 1916 über die Lohnfortzahlung) abgeändert und die Berechtigungen des Dienstmannes nach den §§ 1154 Abs. 3, 1154 b, 1156 – 1159 b, 1160 a, 1162 – 1163 für zwingend erklärt. – Durch das Gesetz vom 26. März 1925 über den Schutz der Mieter18 wurden die §§ 1019 ff. ABGB wesentlich modifiziert. Das Kaufrecht des ABGB war bereits durch das österreichische Ratengesetz von 1896 geändert worden; es wurde 1935 durch ein tschechoslowakisches Ratenkaufgesetz19 ersetzt. Nach § 2 dieses Gesetzes durfte sich der Verkäufer das Eigentum an der verkauften Sache bis zur vollständigen Zahlung des Kaufpreises, den Rücktritt vom Vertrag und den Terminverlust vorbehalten. Die Vereinbarungen mussten schriftlich geschehen; eine „Bestätigung“ war dem 14
Sammlung der Gesetze 1919, 753 (Nr. 447). Nachweise bei Kafka/Gaus, wie Fn. 11, 37 ff. 16 Sammlung der Gesetze 1924, 1141 (Nr. 179). 17 Gesetze vom 1.4. und 21. 12. 1921 (Sammlung der Gesetze 1924, 366 und 2038 = Nr. 155 und 497). 18 Sammlung der Gesetze 1925, 393 (Nr. 48). 19 Sammlung der Gesetze von 1935, 173 ff (21 Best.). 15
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Käufer auszuhändigen. Nach § 10 konnte der Käufer Gewährleistung wegen Mängel der Sache durch Klage bis zur Fälligkeit der letzten Rate des Kaufpreises verlangen. Insgesamt war das klar formulierte Gesetz ein gutes Beispiel für den hohen Standard der Gesetzgebungstechnik der damaligen Tschechoslowakei. – Mit dem Gesetz über den Verlagsvertrag von 192320 wurden die §§ 1172 – 1173 ABGB außer Kraft gesetzt21. – Insgesamt hatte der tschechoslowakische Gesetzgeber im Hinblick auf die Neukodifikation des bürgerlichen Rechts und die damit verbundene Rechtsvereinheitlichung das ABGB sowie das ungarisch-slowakische bürgerliche Recht nahezu unverändert gelassen. 3. Einfluss auf die Gesetzgebungsarbeiten (Entwürfe zu einem Bürgerlichen Gesetzbuch für die tschechoslowakische Republik von 1924, 1931 und 1937) Bereits 192022 hatte sich das tschechoslowakische Justizministerium auf den Rat der Professoren Jan Krcˇmrˇ und Svoboda entschieden23, ein neues bürgerliches Gesetzbuch ausarbeiten zu lassen. Die vom Ministerium eingesetzte Kommission aus Ministerialbeamten, Professoren, Richtern, Advokaten und Notaren24 fasste Mitte 1920 den Beschluss, es sei ein neues Bürgerliches Gesetzbuch nicht von Grund auf neu zu schaffen, sondern als Grundlage der Verhandlung habe das ABGB zu dienen25 : „Aus seinem Texte sollten alle veralteten und unpraktischen Bestimmungen ausgelassen, die der gegenwärtigen Zeit und der übrigen Rechtsordnung der tschechoslowakischen Republik nicht entsprechenden Bestimmungen sollten angemessen geändert und das Gesetz einerseits durch Vorschriften, die bisher, obwohl sie eng mit ihnen zusammenhängen, aus verschiedenen Gründen nicht in seinen Text aufgenommen waren, andererseits durch Vorschriften, die neue Änderungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens regeln, ergänzt werden. Die Änderungen sollten auf das nötigste Maß beschränkt werden und wiederholt wurde ausgesprochen, daß es sich nur um eine vorsichtige Revision des bisherigen Gesetzes handeln kann …“. Mithin 20
Sammlung der Gesetze 1923, 481 (Nr. 106). Die Gesetze, durch die das ABGB und andere österreichische Gesetze abgeändert wurden, sind enthalten in der Gesetzessammlung von Kafka/Gaus, wie Fn. 11. 22 Zum folgenden ausführlicher bei W. Schubert, in: ZRG Germ. Abt. 112 (1995), 271 ff.; E. Weiss, Die geistigen Grundlagen und der äußere Hergang bei der Entstehung des Entwurfes, in: Die Reform des bürgerlichen Gesetzbuches. Fünf Vorträge, gehalten im Frühjahr 1937 in der Deutschen juristischen Gesellschaft in Prag, 1937, 5 f.; H. Slapnicka, Österreichisches Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraums, 1973, 18 f., 23 f., 34 f. 23 Motivenbericht zum Regierungs-Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches, deutsch von R. Seifert, 1937, 4. – Der Entwurf ist in der Drucksache Nr. 844 der Prager Nationalversammlung auch in deutscher Sprache enthalten (keine separate Buchhandelsausgabe). 24 Die Protokolle dieser Sitzungen und diejenigen der Beratungen der Subkomitees befinden sich im tschechischen staatlichen Zentralarchiv in Prag (Sttni fflstredni Archiv Praze), Unifikationsministerium III 317/3, Karton, Nr. 49 und 50. 25 Motivenbericht, 4, wie Fn. 23. 21
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war eine unmodifizierte Übernahme des ABGB aus innenpolitischen Gründen ausgeschlossen. Judikatur und Literatur zum ABGB sollten berücksichtigt werden, wobei die Gesamtrevision den Erlass von vordringlichen Einzelgesetzen nicht ausschließen sollte. In den Beratungen vom 16. Juni und 15. November 1920 wurde beschlossen, die Revisionsarbeiten auf fünf Subkomitees bzw. Subkommissionen wie folgt zu verteilen26: Subkommission I: einleitende Bestimmungen, erstes Hauptstück des ersten Teils des ABGB, vom zweiten Teil den allgemeinen Teil des Obligationsrechtes, vom besonderen Teil die Hauptstücke 18 – 22, Referent: Krcˇmrˇ. – Subkommission II: übrige Teile des Obligationenrechts (Hauptstücke 23 – 27, 29), Hauptstück über den Schadensersatz, Referent: Weiß. – Subkommission III: Familienrecht (Hauptstücke 2 – 4 des ersten Teils des ABGB, Bestimmungen über die Ehepakte), Referent: Kafka. – Subkommission IV: Sachenrecht, Referent: Stieber. – Subkommission V: Erbrecht, Referent: E. Swoboda. – Die Öffentlichkeit wurde aufgefordert, der Kommission Anregungen und Anträge auf Abänderung und Ergänzung des geltenden Rechts vorzulegen. Die für die Umarbeitung des ABGB maßgebenden Juristen auf tschechischer Seite27 waren der Sektionschef des Prager Justizministeriums Antonin Hartmann (1864 – 1947) und dessen Vertreter Jaroslav Voska (1879 – 1936). Die wissenschaftlich bedeutsamsten Beiträge kamen von Jan Krcˇmrˇ (1877 – 1950)28, der nach Absolvierung des Rechtsstudiums an der Universität Prag (bis 1901) dort 1902 eine Privatdozentur für österreichisches Privatrecht erlangt hatte. 1904 Direktor der Universitätskanzlei, wurde er 1907 zum ao., 1911 zum ordentlichen Professor ernannt (1916 – 1917 Dekan der juristischen Fakultät). 1919 war er Rechtsberater der tschechoslowakischen Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz, seit 1922 Mitglied der Völkerrechtsdelegation. 1926 und von 1934 bis 1936 leitete er das Ministerium für Schulwesen, wobei er gleichzeitig außer an den Arbeiten zur Revision des ABGB auch an den tschechischen Bodenreformgesetzen maßgeblich beteiligt war. Seine Hauptwerke befassen sich mit dem Internationalen Privatrecht und der Agrarreform. 1929 veröffentlichte er ein Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, gleichzeitig kam 1929/30 (1934 ff. in 2. Aufl.) ein fünfbändiges Werk über das Zivilrecht heraus. Weiter waren an den Arbeiten die tschechischen Professoren Miloslav Stieber (geb. 1865 in Schlan; gest. 1934 in Prag) und Emil Svoboda (geb. 1878 in Prag; gest. 1948 in Böhmisch Brod) und nach dem Tode des ersteren auch der Brünner Gelehrte Jaromir Sedlcek (geb. 1885 in Austerlitz; gest. 1945 in Brünn) beteiligt. Von der deutschen Universität Prag nahmen an den Kodifikationsarbeiten zunächst Bruno Alexander Kafka und Egon Weiß und nach dem Tod des ersteren
26 Motivenbericht, 6 f., wie Fn. 23; Entwurf 1924, 3 f. (hier auch die Namen der weiteren Mitglieder der Subkomitees aus den Ministerien und der Praxis). 27 Die Lebensdaten der tschechischen Juristen stammen vom Collegium Carolinum in München, dem der Verf. für die Auskunft bestens dankt. 28 Biographisches Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder, Bd. 2, 1983, 194.
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Ernst Swoboda teil. Kafka (1881 – 1931)29 war Sohn eines Rechtsanwalts und Vetter von Franz Kafka. Nach dem Rechtsstudium in Wien, Heidelberg, Leipzig und Prag habilitierte er sich 1907 an der deutschen Universität in Prag für bürgerliches Recht. 1917 erhielt er eine ao., 1919 die ordentliche Professur für bürgerliches Recht (zugleich Vizepräses der juristischen Staatsprüfungskommission; 1931 – 1932 Rektor der Universität). 1916 übernahm er den geschäftsführenden Vorsitz in der Fortschrittspartei und war anschließend Begründer der deutschen demokratischen Fortschrittspartei sowie deren Abgeordneter im Prager Parlament von 1920 – 1925. Außer einem Werk über die eheliche Gütergemeinschaft ist Kafka durch ein Lehrbuch des allgemeinen österreichischen Privatrechts (1910 ff., aus dem Nachlass seines Lehrers) und als Herausgeber der Zeitschrift „Bohemia“ hervorgetreten. – Wissenschaftlich bedeutsamer war Egon Weiß (geb. 1880 zu Brünn; gest. 1953 in Innsbruck)30 mit folgender Universitätslaufbahn: 1910 Privatdozent (Schüler von Ludwig Mitteis), 1919 ao., 1924 besoldeter ao. Prof., 1933 ordentlicher Professor für römisches Recht, bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Papyrusforschung. 1938 wurde er aus rassischen Gründen seines Lehramts enthoben. Nach 1945 wurde er Honorardozent, anschließend Honorarprofessor an der Universität Innsbruck. Aus seiner Feder stammen außer einer Vielzahl von Aufsätzen und Broschüren (u. a. Erinnerungen an Ludwig Mitteis): Das Grundbuchrecht (1933), Das Handelsrecht (1925, 2. Aufl. 1935), Werke zum Konkurs-, Zivilprozessrecht und sonstigem Verfahrensrecht, Werke zum bürgerlichen Recht sowie zum römischen Recht (insbesondere Institutionen des römischen Privatrechts, 2. Aufl. 1949) und zum griechischen Recht (Griechisches Privatrecht, 1923). Weiß arbeitete an der deutschen Übersetzung des Entwurfs von 1924 mit; die Übersetzung des Entwurfs von 1937 dürfte im Wesentlichen von ihm stammen – In der Endphase war Ernst Swoboda31 maßgebend an der Umarbeitung des Entwurfs von 1931 beteiligt, dessen vielfache Rückkehr zum ABGB im Wesentlichen auf ihn zurückgehen dürfte. Swoboda stammte aus Tachau im Egerland (1879 – 1950). Nach dem Studium der Rechte in Prag und Innsbruck hatte er 1910 die Richteramtsprüfung abgelegt. Als Bezirksrichter im Justizdienst wurde er 1912 promoviert; 1919 erfolgte in Innsbruck die Habilitation, wo er 1929 den Titel eines ao. Professors erlangte. 1933 erhielt er die Professur für bürgerliches Recht an der deutschen Universität in Prag; zum 1. September 1939 wechselte er an die Universität Wien, wo er das Institut für Rechtsvereinheitlichung begründete und bis Kriegsende leitete. In seinen zahlreichen Werken und Beiträgen befasste sich Swoboda mit den ideengeschichtlichen Grundlagen des ABGB und verteidigte dieses ge-
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Ebda, 81. Über Weiß u. a. v. Bolla, in: ZRG Rom. Abt. 90 (1953), 518 ff.; W. Doskocil, in: BohemiaJahrbuch 1970, 418 ff., hier auch Bibliographie. 31 Über Swoboda m.w.N. und (unvollständiger) Bibliographie W. Schubert, in: Akademie für Deutsches Recht 1933 – 1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. II, 1986, XXVI; Bd. III 3, 1990, 80 f. 30
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genüber den neueren Kodifikationen, insbesondere gegenüber dem BGB32. Den tschechoslowakischen Entwurf stellte er als Muster einer traditionsbewussten und zugleich fortschrittlichen Kodifikation im Geiste der neueren sozialpolitischen Entwicklungen dar. Zu den „Ewigkeitswerten“ des Rechts gehörten nach Swoboda33 „der Gerechtigkeitsgedanke, der Gedanke der durch die Gesellschaft, die Allgemeinheit eingeschränkten Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetze“. Zu diesen drei Grundgedanken trete, sie ergänzend und vollendend, der Gedanke der „Harmonie der Gesetzgebung“, die nach Swoboda im ABGB vor allem durch dessen § 7 ermöglicht wurde. In Weiterführung der Postulate Kants und Zeillers forderte Swoboda in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Spengler34 dynamische Rechtsbegriffe, die das Gerüst des modernen Zivilrechts zu bilden hätten. Die Arbeiten standen unter der Leitung des Sektionschefs des Justizministeriums Hartmann (teilweise vertreten durch Ministerialrat Voska). Für das Unifizierungsministerium, das für die Schaffung der Rechtseinheit zwischen den einzelnen tschechischen Landesteilen besondere Zuständigkeiten besaß, nahmen weitere Beamte an den Beratungen teil. Gleichzeitig wurde von einer Kommission in Bratislava das Vorgehen in Prag gebilligt. 1921 waren die Teilentwürfe der 1. und 5. Subkommission fertig, während die drei anderen Entwürfe erst 1923 abgeschlossen werden konnten. Die Vorlagen einschließlich der Motivenberichte wurden zwischen 1922 und 1924 herausgegeben. 1925 veröffentlichte das Justizministerium eine von Weiß, R. Docekal und K. Jadrnicek angefertigte Übertragung35, die die fünf Teilentwürfe zum Zwecke einer besseren Orientierung in die Systematik des ABGB brachte. Von dieser formellen Abänderung sind keinerlei Veränderungen an den Entwürfen vorgenommen worden, so dass auch die Widersprüche zwischen den Teilentwürfen der einzelnen Subkommissionen sichtbar blieben36. Ausführlichere Beratungen über diese Entwürfe, die das in der Slowakei geltende bürgerliche Recht nur unzureichend berücksichtigt hatten, fanden in Bratislava in einer Kommission unter dem Vorsitz des Präsidenten der dortigen Gerichtstafel Faynor statt. Die Arbeitsergebnisse gab das Unifizierungsministerium 1923/ 24 unter dem Titel heraus: „Revision des Bürgerlichen Gesetzes, Protokolle der Be-
32 Grundlegend hierfür sein Werk von 1926: Das ABGB im Lichte der Lehren Kants; zum heutigen Stand vgl. W. Selb/H. Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751 – 1828), Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, 1980. 33 Das folgende nach Swoboda, Das Privatrecht der Zukunft, 1932, 479. 34 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 2, 1924, 69 ff., 78. 35 Das Bürgerliche Gesetzbuch für die Cechoslosvakische Republik, Übersetzung des Entwurfes der Kommission für die Revision des ABGB, hrsg. vom Justizministerium der Cechoslovakischen Republik, 1925. 36 Hierzu ausführlich O. Reißmann, in: Prager JZ 1925, 136 ff.; ferner ders., in: Prager JZ 1927, 161 ff.
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ratungen der Slowakischen Kommission für den Bereich des Rechtes in Bratislava“ (hrsg. von Frantisek Roucek)37. Anfang 1926 wurde eine Superrevisionskommission eingesetzt (Vorsitzender: Hartmann, Vertreter: Voska), die vom 25. Juni 1926 bis zum 4. November 1931 den Entwurf (einschließlich der Einführungsbestimmungen) in 321 Sitzungen einer detaillierten Revision unterzog38. Referenten waren erneut die Professoren Kafka, Stieber, Svoboda und Krcˇmrˇ. In Abweichung von der Referatsverteilung übernahm Krcˇmrˇ auch die Vorbereitung des Motivenberichts zu den Hauptstücken über die Arbeitsverträge; das Referat über das Familienrecht wurde zwischen Krcˇmrˇ, Svoboda und Srb aufgeteilt. Der einleitende Teil des Motivenberichts war ebenfalls von Krcˇmrˇ bearbeitet. Die Ergebnisse der Prager Kommission wurden sukzessive auch von einer slowakischen Kommission erörtert, deren Beschlüsse bei der Schlussredaktion des Entwurfs berücksichtigt wurden. Anfang 1932 erschien der neue Entwurf der Superrevisionskommission (SR-Komm.) einschließlich der Motivenberichte. Der Entwurf umfasst 1353 Bestimmungen und 76 Einführungsartikel39. Die Vorlage von 1931 wurde zwischen dem 18. Juni 1934 und dem 24. Juli 1935 in 32 Sitzungen in zwischenministeriellen Beratungen behandelt und im Herbst der Superrevisionskommission (SRK) vorgelegt, die den Entwurf und Änderungsvorschläge zwischen dem 4. Dezember 1935 und dem 18. März 1936 in 30 Sitzungen beriet: „Hauptaufgabe dieser Redaktion“ waren, so der Motivenbericht,40 „die Bewertung und Verarbeitung der Ergebnisse des zwischenministeriellen Verfahrens (insbesondere soweit in diesem Verfahren einige Fragen der Kommission ausdrücklich vorbehalten wurden), die Formulierung der hier beschlossenen Änderungen und die Aussprachen über die Frage, die als grundsätzlich strittig vorläufig vorbehalten worden waren. Bei der redaktionellen Arbeit wurden aber auch die eigenen Anregungen der Kommissionsmitglieder berücksichtigt und gehörige Beachtung den Stimmen geschenkt, die die Novelle der SR-Komm. von 1931 in der Öffentlichkeit und vor allem in der Fachpresse ausgelöst hatte.“ Den Platz der inzwischen verstorbenen Professoren Kafka und Stieber nahmen die Professoren Sedlcek (Brünn) und Swoboda (Prag) ein. Der Vorsitz wurde Krcˇmrˇ übertragen, nachdem Hartmann in den Ruhestand getreten war. Die Schlussredaktion des Entwurfstextes und des Motivenberichts erfolgte durch das Kommissionssekretariat unter Leitung von Krcˇmrˇ. Der neue Entwurf (1347 Bestimmungen, 70 Einführungsartikel) wurde am 22. März 1937 nach der Genehmigung durch die Regierung am 4. März 1937 in der Nationalversammlung der 37 Nachgewiesen in Motivenbericht, 9 f. Frantisek Rofflcek (geb. 1891 in Neustraschitz/ Schlau, gest. 1967 in Addis Abeba). 38 Motivenbericht, 10 ff., wie Fn. 37. – Die Protokolle der Superrevisionskommission konnten im Prager Zentralarchiv nicht aufgefunden werden. 39 In tschechischer Sprache, Prag 1932, Bd. 1 (Entwurf), 306 S.; Bd. 2 (Motivenbericht), 392 S. Deutsche Übersetzung von E. Weiss (hektographiert). Überblick über den Inhalt des Entwurfs u. a. bei E. Weiss, in: RabelsZ 1933, 526 – 545; R. Mayr, in: Prager JZ 1932, 211 ff. St. Dnistrjanskij, in: Zentralblatt für die Juristische Praxis 1932, 729 ff., 809 ff. 40 Zum folgenden Motivenbericht, 12 ff., wie Fn. 37.
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tschechoslowakischen Republik eingebracht. Gleichzeitig erschien eine deutsche Übersetzung des Entwurfs41. Am 12. März 1937 war ein Gesetz verabschiedet worden, das gemeinsame Beratungen in den Ausschüssen des Abgeordnetenhauses und des Senats ermöglichen sollte. Ziel der Regierung war, das neue Gesetz bis zum 28. Oktober 1938, dem 20. Jahrestag des Bestehens der Republik, zu verabschieden. Der Entwurf wurde in Teilkommissionen und in einer gemeinsamen Subkommission des Ausschusses für Recht und Verfassung (hier in insgesamt 45 Sitzungen vom 29. September 1937 bis zum 14. Juli 1938) beraten42, ohne dass bisher über das Beratungsergebnis etwas bekanntgeworden ist. Nach dem Münchener Abkommen (29. September 1938) und der Föderalisierung der Tschechoslowakei (November 1938), der Unabhängigkeitserklärung der Slowakei (15. März 1939) und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren (16. März 1939) wurden die Kodifikationspläne nicht mehr weiter verfolgt. 4. Zum Inhalt der Entwürfe43 a) Einleitungsvorschriften Nach Meinung der SR-Komm. sollten die Auslegungsregeln der §§ 6 – 8 ABGB weggelassen werden44, weil ihr Text „allzu getränkt“ sei vom Geist des 18. Jahrhunderts. Von einer Neuredaktion sah man ab45: „Die Frage nach der wissenschaftlichen Auslegung der Rechtsvorschriften ist sehr verwickelt und die Ansichten, wie das Gesetz auszulegen und wie es analog anzuwenden ist, ändern sich, soweit es sich nicht um ganz selbstverständliche Sachen handelt, im Laufe der Zeiten. Es kommt der Wahrheit nahe, daß die, die zur Anwendung der Gesetze berufen sind, nicht nur solche Vorschriften nicht brauchen, sondern vielmehr, daß irgendeine solche nicht genügend sorgfältig formulierte Vorschrift ihnen hinderlich ist.“ Trotzdem sollte mit der Streichung des § 7 keineswegs gesagt werden, „daß der Grundsatz verlassen werden sollte, nach welchem jeder Dienst am Rechte in den Diensten der Idee der Gerechtigkeit stehen soll. Die Beibehaltung des allein übrigen § 8, der übrigens zum großen Teil selbstverständlich ist, schien überflüssig.“ Die §§ 6 – 8 ABGB wurden wohl auf Antrag von Swoboda in den 3. Entwurf in modernisierter Fassung wieder aufgenommen: § 2. Bei der Anwendung eines Geset41 Drucksache Nr. 844 der Prager Nationalversammlung mit dem Einf. Gesetz (keine Buchhandelsausgabe). Der Entwurf erschien auch in einer franz. Übersetzung. Literatur: E. Weiss, in: Österr. Anwalts-Zeitung 1937, 24 ff.; E. Swoboda, in: Zeitschrift für Osteuropäisches Recht 1936/37, 7 ff.; ders., in: Juristen-Zeitung 1936, 105 ff. 42 Die Materialien über die Beratungen befinden sich im Archiv des Parlaments der Tschechischen Republik in Prag. 43 Zitiert wird die deutsche Übersetzung des Entwurfs und des Motivenberichts, wie Fn. 23. Die kritische Literatur zu den Entwürfen ist in den Bibliographien in Fn. 10 nachgewiesen. 44 Motivenbericht, 33. 45 Motivenbericht, 34; hieraus auch die folgenden Zitate.
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zes ist vor allem auf den Sinn der Worte in ihrem Zusammenhange mit Rücksicht auf die übrigen Rechtsvorschriften Bedacht zu nehmen. Es ist auch die Grundlage, auf welcher das Gesetz entstanden ist, nicht außer Betracht zu lassen. – § 3. Ist über irgend einen Fall nichts bestimmt, besteht aber eine rechtliche Bestimmung über einen verwandten Fall, so ist nach eingehender Prüfung zu entscheiden, ob jener rechtlichen Bestimmung eher die Beurteilung nach der Analogie oder aus dem Gegenteile entspricht. – § 4. Kann auch auf diese Weise keine Entscheidung erzielt werden, so bilden die Richtlinie der Entscheidung die in der Verfassungsurkunde enthaltenen Grundgedanken der Gerechtigkeit, der durch die Rechtsordnung bestimmten Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetze. – Im § 2 waren die Auslegungsmethoden in der Weise geordnet, „daß in erster Stelle die philologische Auslegung und mit ihr im Zusammenhange die Rücksicht auf den übrigen Teil der Rechtsordnung (systematische Auslegung) angeführt wird“. In einem selbständigen Satz, werde als „Hilfsinterpretationsmethode“ angeführt, was an der historischen Methode richtig und wesentlich sei. In der Bestimmung über die Analogie und deren Ablehnung wurde der Richter zu genauer Prüfung ermahnt. § 4 sollte den § 7 ABGB auf die „heutige Denkweise“ übertragen: „Alle Mitglieder der SR-Komm. waren darin einig, daß die ultima ratio bei der Entscheidung der Grundsatz der Gerechtigkeit sein soll oder, wie einige wollten, der Grundsatz der Gehörigkeit (Äquität). Die Bedeutung der jetzigen Redaktion besteht darin, daß die Grundsätze, auf die sich § 4 beruft, in das Gesetzbuch nicht aus einem fremden Normenkomplex, sondern aus der Verfassungsurkunde der Tschechoslowakischen Republik kommen. Genau ausgedrückt, ist der neue § 4 nicht vielleicht eine Durchführungsvorschrift zur Verfassungsurkunde, aber die Rücksichtnahme auf die darin angeführten Grundsätze ist diktiert von den Ideen, auf denen die Verfassungsurkunde beruht.“ Nach dem Motivenbericht mischt sich in die Entscheidung, die §§ 6 – 8 ABGB zu übernehmen, „ein wenig Sentimentalität“. Die Entscheidung in der Kommission war einstimmig gefallen, nachdem Stieber, ein scharfer Gegner solcher allgemeiner Bestimmungen, Anfang 1934 verstorben war. – In den Beschreibungen des Entwurfs stellte Swoboda die §§ 2 bis 4 als die bedeutsamsten Bestimmungen der Vorlage überhaupt heraus46 und wies darauf hin, dass § 4 die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ im Sinne der tschechoslowakischen Verfassung konkretisiert habe. b) Personen- und Familienrecht Die §§ 61 ff. des Entwurfs beruhen im Wesentlichen auf den §§ 16 ff. ABGB über die Rechtspersönlichkeit des Menschen, seine Rechtsfähigkeit und den Rechtsschutz. Die §§ 61 und 62 lauten: „Jeder Mensch ist eine Person im Rechtssinne und kann auf 46 E. Swoboda, Die Reform des bürgerlichen Rechts in der Tschechoslowakei, in: Annuario di diritto comparato e di studi legislativi, Bd. XIII, 1938, 22; vgl. auch ders., Richter und Gesetz in dem neuesten tschechoslowakischen Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Deutsche Rechtspflege 1936, 435 ff.; ders., in: Juristenzeitung für das Gebiet der Tschechoslowakischen Republik 1935, 1 ff., 21 ff., 29 ff.; St. Dnistrjanskij, in: Zentralblatt für die Juristische Praxis, Bd. 50 (1932), 729 ff., 736 ff.; ders., in: Zeitschrift für Osteuropäisches Recht 1934/35, 483 f.
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diesen rechtlichen Charakter nicht verzichten. – Die Person im Rechtssinne ist fähig, innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung Rechte und Pflichten zu haben, und sie hat die Freiheit des Handelns, sofern die Handlung nicht durch die Rechtsordnung verboten ist.“ Swoboda interpretierte diese Bestimmungen dahin47, dass ein „Diktat der Rechtlosigkeit des einzelnen oder einer ganzen Gruppe von ihnen“ eine „Verneinung des Rechtsgedankens“ sei, „der das Gebäude der Rechtsordnung tragen muß, eine Verkehrung des Rechts ins Unrecht“. Einen „rechtlosen Menschen“ könne es „im Sinne der Kulturauffassung unserer Zeit nicht geben, und nur im Sinne der Kulturauffassung der Gegenwart darf der Personenbegriff des geltenden Rechts festgelegt werden“. Allerdings wies Swoboda zugleich darauf hin, dass die freie Betätigung des einzelnen auf dem Gebiete des Rechts eingeschränkt werde durch die Pflichten der Gesamtheit, in deren Interessen er eingegliedert sei. Im 3. Entwurf waren fast alle personenrechtlichen und familienrechtlichen Bestimmungen des ABGB nicht mehr enthalten, nachdem man sich sowohl in der SR-Komm. als auch in der Justizministerialkonferenz wie auch im Ministerrat über die Eheschließungsformen nicht einigen hatte können. Der damalige Justizminister Drer entschloss sich deshalb, das Familienrecht von der Neuregelung zunächst vollständig auszuschließen und es bei der bisherigen Rechtslage zu belassen. Der Entwurf von 1924 hatte im Wesentlichen das Eherecht des Gesetzes von 1919 übernommen, verzichtete jedoch darauf, die Ehescheidungsgründe erschöpfend aufzuzählen. Als einziger Trennungsgrund war vielmehr die Zerrüttung der Ehe anerkannt (§ 137 Abs. 1). Im folgenden Absatz 2 sind dann sieben Tatbestände aufgezählt, bei denen eine solche Zerrüttung „bereits angenommen“ werden konnte. Nach Abs. 3 konnte außerdem „auf Scheidung wegen unüberwindlicher Abneigung“ geklagt werden, wobei die Vermutung der 3-Jahresfrist aus dem Gesetz von 1919 übernommen wurde. Der Entwurf von 1931 beließ es bei der generalklauselartigen Lösung des Entwurfs. Entsprechend dem Gesetz von 1919 sah der 1. Entwurf für die Eheschließung die fakultative Zivilehe vor, wobei bemerkenswert erscheint, dass die Erklärung der Einwilligung zur Ehe auch durch einen Stellvertreter möglich sein sollte. Demgegenüber schlug der SR-Komm.-Entwurf von 1931 in den §§ 35 ff. die obligatorische Zivilehe vor48. Jedoch setzte die Minderheit durch, auch Bestimmungen über die Beibehaltung der fakultativen Zivilehe vorzuschlagen. In den Beratungen von 1935/36 standen sich die beiden Systeme der Eheschließung erneut schroff gegenüber. Die Minderheit, die für die fakultative Zivilehe eintrat, machte vier Gründe geltend49: Der erste Grund war der des Liberalismus, „wonach niemand ohne unerläßlichen Grund zu einer bestimmten Handlungsweise gezwungen werden soll“; der zweite ergab sich aus der ungeheu47 E. Swoboda, Die Reform des bürgerl. Gesetzbuchs, Fünf Vorträge, 1937, 21; ders., Das Recht der Persönlichkeit im künftigen bürgerlichen Gesetzbuch, in: Richterzeitung (Eger) 1935, 1 ff. 48 Weiss, in: RabelsZ 1933, 542. 49 Zum folgenden Weiss, in: Vorträge, 11 f.; hieraus die folgenden Zitate; ders., in: Österr. Anwalts-Zeitung 1937, 27 f.
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ren praktischen Erschwerung der Eheschließung. Aus sprachlichen Gründen konnte man die dann immer tschechisch vorzunehmende Eheschließung vor dem Gemeindevertreter nicht zulassen. Hätte man die Bezirkshauptmannschaften für die Eheschließung vorgesehen, hätten die Eheleute besonders in der Slowakei und in der Karpatho-Ukraine sehr lange Wege zurücklegen müssen. Drittens ging es um die Aufrechterhaltung der ländlichen Seelsorgestellen, die auf die Einnahmen aus den Eheschließungsgebühren angewiesen waren. Der vierte Grund war nach Weiß ein nationaler, da die politischen Behörden grundsätzlich verpflichtet waren, das Sprachengesetz anzuwenden, während auf der anderen Seite die tschechischen Staatsbürger in Religionsangelegenheiten das Recht hatten, ihre Sprache frei zu gebrauchen. Dies bedeutete, dass eine kirchliche Trauung in lateinischer, tschechischer, slowakischer, ungarischer oder deutscher Sprache hätte zugelassen werden müssen. Die Schwierigkeiten waren in den der Verabschiedung des Entwurfs durch die Regierung vorausgehenden Beratungen unüberbrückbar, so dass es der Justizminister für angebracht hielt, von einer Aufnahme des Familienrechts in die neue Kodifikation ganz abzusehen. Die Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern schlossen sich im 1. Entwurf noch sehr eng dem ABGB an. Erst der SR-Komm.-Entwurf von 1931 brachte einige „bemerkenswerte“ Neuerungen, die Weiß wie folgt umschreibt50: „An die Stelle der väterlichen Gewalt tritt die elterliche Gewalt (§§ 99 ff. E.). Ebenso wie bisher (§ 144 ABGB) wird den Eltern das Recht zugeschrieben, einverständlich die Handlungen der Kinder zu leiten (§ 101 E.). Einigen sich indes die Eltern nicht, so hat das Gericht zu entscheiden. Diese elterliche Gewalt steht, falls der Vater oder die Mutter entfällt, dem hinterbliebenen Elternteil zu § 102 E.). Neben dieser elterlichen Gewalt steht die väterliche Gewalt (§§ 105 ff. E.). Sie umfaßt die Berufswahl, die gerichtliche Vertretung und die Vermögensverwaltung. Ist die Mutter mit dem vom Vater für das Kind bestimmten Berufe nicht einverstanden, so entscheidet das Gericht (§ 105 E.). Entfällt der Vater durch Tod oder Entziehung der väterlichen Gewalt, so verleiht das Gericht der Mutter die mütterliche Gewalt, welche mit der väterlichen Gewalt gleichen Inhaltes ist, jedoch unter der Voraussetzung, daß das Gericht zu der Überzeugung von ihrer vollkommenen Eignung, selbständig die Interessen des Kindes wahrzunehmen, gelangt (§ 112 E.). Während also dem Vater die väterliche Gewalt schon vermöge der Natur der Sache zusteht und ihm nur bei vorliegenden besonderen Umständen, wie Mißbrauch oder Entmündigung, entzogen werden darf, muß die gleichzeitige mütterliche Gewalt der Mutter nach einer Eignungsprüfung durch das Gericht besonders verliehen werden (§ 112 E.); sonst ist eine Vormundschaft einzurichten.“ Dies entspreche zwar, so Weiß, der Natur der Sache, sei aber mit dem Grundsatz der neueren Verfassungen, etwa mit § 106 der tschechischen Verfassung, über den Ausschluss von Vorrechten des Geschlechts doch wohl schwer in Einklang zu bringen.
50 Weiss, in: RabelsZ 1933, 542; allgemein zum Familienrecht Dnistrjanskij, in: Zentralblatt 1932, 817 ff.
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Was das Nichtehelichenrecht anging, so befasste sich die 1. Kommission ausführlich mit den Reformen des skandinavischen Rechts von 1908 – 1917, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen, die Regelung des ABGB aufzugeben. Hiernach trat die Vermutung der unehelichen Vaterschaft schon dann ein, wenn feststand, dass der als Vater in Anspruch genommene Mann der Mutter während der Empfängniszeit beigewohnt hatte. Die Einrede des Mehrverkehrs war dabei ausgeschlossen. Maßgebend für die Entscheidung der Kommission, es hierbei zu belassen, waren folgende Erwägungen51: „Die Verhältnisse in mehr Agrikulturstaaten mit einer Bevölkerung, welche in geschlossenen Bezirken fest ansässig ist“, könnten nicht mit den Verhältnissen „bei uns verglichen werden, wo sich die Bevölkerung in ihrer Mehrzahl der Industrie widmet und daher in ständiger Fluktuation ist“. Die Feststellung, dass jemand tatsächlich der Vater des Kindes sei, werde immer sehr schwer sein, und es würden kaum alle Zweifel jemals mit Sicherheit beseitigt werden können. Mehrere Männer als „Kindesväter“ anzusehen (in Wirklichkeit hätten sie nur zum Unterhalt des Kindes beizutragen), hieße das ganze System des bisherigen Rechtes zerstören. Erst der Entwurf von 1931 löste sich von dem überkommenen Recht wenigstens teilweise52. Hiernach konnte einer der möglichen Väter zur Zahlvaterschaft herangezogen werden; subsidiär konnten bei Nichterfüllung der Unterhaltsverpflichtungen die weiteren möglichen Väter in Anspruch genommen werden. Von der Zahlvaterschaft war das für ehelich erklärte uneheliche Kind zu unterscheiden. Das eheliche Güterrecht, das in den beiden ersten Entwürfen in das Familienrecht übertragen worden war, war im Entwurf von 1937 wieder im schuldrechtlichen Teil der Kodifikation enthalten. Wie im ABGB verblieb es beim gesetzlichen Güterstand der Gütertrennung. Die von den Frauenorganisationen geforderte Gütergemeinschaft war nach Meinung der Kommission53 „der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht erwünscht, denn es eignet sich nicht gut für die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der gegenwärtigen Zeit. Allzuweit entfernt es sich von den eingelebten und bewährten Grundsätzen, zu denen die bisherige Rechtsentwicklung gelangt ist und würde unzweifelhaft auch in der Praxis nicht geringe Komplikationen herbeiführen“. Von der Slowakei war die Einführung der Errungenschaftsgemeinschaft vorgeschlagen worden. Die SR-Komm. lehnte dies ab, führte jedoch ein System ein, das der Errungenschaftsgemeinschaft nahekam. Erreicht wurde dies durch die Streichung des § 1237 Abs. 2 ABGB, wonach im Zweifel vermutet wurde, dass der während der Ehe gemachte Erwerb vom Manne herrührte. Stattdessen stellte § 1063 des Entwurfs 1937 die Vermutung auf „hinsichtlich dessen, was während der Dauer der ehelichen Gemeinschaft erworben wurde, daß es beide Ehegatten gemeinsam zu gleichen Teilen erworben haben.“ Wurde behauptet, dass dieses Vermögen den Ehegatten in 51 Vgl. auch Swoboda, in: Deutsche Rechtspflege 1936, 62 ff.; Entwurf 1924, 419; und für die gleichzeitigen deutschen Reformbestrebungen in der Weimarer Zeit W. Schubert, Die Projekte der Weimarer Zeit zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, 1986, 54 ff. 52 Zum folgenden Weiss, in: RabelsZ 1933, 542 f. 53 Motivenbericht, 185.
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einem anderen Verhältnis gehöre, so hatte der Richter das Maß dieses Verhältnisses nach freiem Ermessen unter Berücksichtigung der vorgebrachten Umstände sowie der Interessen der Ehegatten und der Kinder zu beurteilen. Im Übrigen sollte, soweit die Ehegattin nicht widersprochen hatte, die Vermutung gelten, „daß die Ehegattin die Verwaltung ihres Vermögens dem Ehegatten als ihrem Vertreter anvertraut habe“ (§ 1065). Die Unterschiede zwischen dem Heiratsgut und der Aussteuer, insbesondere auch der Anspruch der Töchter (Enkelinnen) auf eine entsprechende Aussteuer, wurden beibehalten. Die Kommission beharrte trotz zahlreicher Einwendungen auf den Grundsätzen des bisherigen Rechts in der Meinung54, es solle „sicher die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundlage der Ehe“ nicht unterschätzt werden und es könne von der Rücksicht nicht abgesehen werden, dass viele Frauen, „wenn sie sich verheiraten, auf ihre Erwerbstätigkeit verzichten und manchmal direkt verzichten müssen“. c) Sachenrecht Entgegen den Vorentwürfen lehnte es der Entwurf von 1937 ab, den Eigentumsbegriff ausdrücklich auf körperliche Sachen zu beschränken. Das Eigentum war, wie § 136 zu entnehmen ist, pflichtgebunden: „Der Eigentümer darf über die Sache, wenn er dadurch die Rechtsordnung nicht verletzt und namentlich Rechte anderer Personen nicht beeinträchtigt, frei verfügen, sie jedem, der sie in seiner Macht hat, abfordern und sich einem unberechtigten Eingriffe widersetzen.“ Darüber hinaus kannte der Entwurf die Gebrauchsrechte an einer fremden Sache als eingeschränktes, minderes Eigentum an: „Analogie der Eigentumsklagen. Gebrauchsrechte an einer fremden Sache genießen, sofern im Gesetze keine besonderen Bestimmungen vorhanden sind, hinsichtlich dieser Sache vom Beginne des Gebrauches an den Schutz nach Analogie der Eigentumsklagen“ (§ 155). Damit sei, so Swoboda55, der „Gedanke der ,Zugehörigkeit , der dem weiten Eigentumsbegriff des alten deutschen Rechtes eigentümlich war und den schon § 353 ABGB, wenn auch in ungenügender Verschwommenheit, im Auge hatte, in zeitgemäßer Beschränkung verwertet worden“. Es sei ein „allgemeines, den Römern seinem Wesen nach völlig unbekanntes, aber für den modernen Rechtsverkehr und für die Begründung eines wirksamen Rechtsschutzes notwendiges Rechtsinstitut, das neben dem überlieferten römischen Eigentumsbegriff seine Anerkennung erzwungen hat“56. – Dem Entwurf lag in § 101: „Besitzer wird, wer ein Recht für sich ausübt“ ein weiter Besitzbegriff zugrunde, so dass nunmehr auch der Rechtsbesitz anerkannt war. Die folgenden Bestimmungen waren jedoch auf den Eigentumsbesitz beschränkt, wodurch der weitere Besitzbegriff des deutschen BGB zurückgewiesen wurde. Besitzerwerb durch Vertreter war insbesondere in § 111 anerkannt. Der Vermieter einer Sache war als Eigenbesitzer anzusehen, der seinen Besitz durch den Mieter ausübte; der Mieter war dagegen lediglich Besit54
Motivenbericht, 288. Swoboda, wie Fn. 46, 25; allgemein zum Sachenrecht Dnistrjanskij, in: Zentralblatt 1932, 825 ff. 56 Swoboda, wie Fn. 46, 26. 55
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zer seines Mietrechts. Wie bisher sollte der Grundsatz „Kauf bricht Miete“ gelten, der nur ausgeschlossen war, wenn das Mietrecht in öffentliche Bücher eingetragen worden war (§ 957 des Entwurfs, § 1120 ABGB). Für die Eigentumsübertragung an beweglichen Sachen wies die SR-Komm. den dinglichen Vertrag des BGB, aber auch das Konsensprinzip des französischen Rechts zurück; sie hielt vielmehr am Traditionsgrundsatz des ABGB fest: § 187. „Zur Übertragung des Eigentums durch den Eigentümer ist ein Rechtstitel und eine Handlung erforderlich, durch welche die Übertragung vollzogen wird.“ – § 188. „Die Übertragung des Eigentums an beweglichen Sachen wird durch die Übertragung des Besitzes vollzogen.“ Im § 187 hatte die SR-Komm. das weggelassen57, „was darin aus der verfehlten Formulierung über titulus und modus acquirendi enthalten war“. Die Übertragung des Eigentums an unbeweglichen Sachen wurde „durch die Einverleibung der Übertragung in den öffentlichen Büchern oder durch eine zu rechtfertigende Vormerkung vollzogen“ (§ 189). Zeitweilige Bauten auf fremden Grundstücken konnten nach § 192 (entsprechend der Novelle 1916) dadurch übertragen werden, dass beim Gericht eine dahingehende Urkunde hinterlegt wurde. Eine staatliche Genehmigung war hierzu nicht mehr, wie noch der Entwurf von 1931 vorgesehen hatte, erforderlich58. Der Eigentumsvorbehalt59 wurde in § 915 ausdrücklich zugelassen: „Behält sich der Käufer das Eigentum an einer verkauften beweglichen Sache bis zur Bezahlung des Kaufpreises vor, so erwirbt der Käufer das Eigentum an der übergebenen Sache erst mit der vollen Bezahlung des Kaufpreises. Ergibt sich aus dem Vertrage nichts anderes, so geht die Gefahr des zufälligen Verderbens und einer zufälligen Verschlechterung mit der Übergabe der Sache über (§ 894).“ Die Vereinbarung sollte nur wirksam sein, wenn der Vorbehalt schriftlich erfolgte und in der Urkunde kalendermäßig bestimmt worden war, wann der Kaufpreis bezahlt werden sollte (§ 916). Unter Eigentumsvorbehalt gelieferte Maschinen, die in ein Gebäude eingefügt waren, wurden dann nicht wesentliche Grundstücksbestandteile, wenn „hinsichtlich ihrer mit Zustimmung des Eigentümers der Liegenschaft in den öffentlichen Büchern der Vorbehalt einverleibt wurde, daß sie nicht sein Eigentum sind“ (§ 88). Dieser Vorbehalt sollte nur zehn Jahre gelten. – Ausführlich befasste sich die Kommission mit dem Sicherungseigentum. Im Entwurf von 1924 war in § 1263 vorgeschlagen: „Eine Forderung kann auch in der Weise gesichert werden, daß der Gläubiger auf seinen Schuldner einige Stücke seines Vermögens überführt. Ob eine solche Sicherungshandlung gültig und wie sie auszulegen ist, ist mit Rücksicht auf die übrigen gesetzlichen Bestimmungen in der Weise zu entscheiden, daß die Parteien durch eine solche Sicherungshandlung nicht die gesetzlichen Bestimmungen über die anderen Siche57
Motivenbericht, 70. Abgelehnt wurde die Aufnahme eines Wohnungsrechts (Wohnungseigentums entspr. dem franz. Recht), Motivenbericht, 73; dagegen wurde nach dem Muster des österreichischen Gesetzes von 1912 (RGBl. 1912, Nr. 86: 19 Bestimmungen) das Baurecht (Erbbaurecht) in den Entwurf eingearbeitet (§§ 241 – 259). 59 Hierzu Motivenbericht, 243. 58
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rungshandlungen umgehen. – Darin, daß der Gläubiger durch eine Sicherungsübereignung die Möglichkeit gewinnt, seine Forderung leichter als im Falle der Errichtung eines Pfandrechtes zu befriedigen, darf noch keine Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen über die Ausübung des Pfandrechtes mit Hilfe der Behörden (§ 519) gesehen werden“ (Abs. 1 u. 3). Der Bericht des Referenten weist u. a. darauf hin60, dass Anträge auf Einschreibung der Sicherungsübereignung hinsichtlich der Objekte, der Formen oder auf bestimmte Gläubiger abgelehnt worden seien. Die zitierte Regelung war in den folgenden Entwürfen nicht mehr enthalten61. Vielmehr sollte nach dem Motivenbericht die Sicherungsübereignung an beweglichen Sachen verboten sein62. Damit, dass der Sicherungszweck als iusta causa cessionis nicht anerkannt werde, sollte zum Ausdruck gebracht sein, dass er keine iusta causa transferendi dominii sei. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob ein völliges Verbot angesichts der bisherigen Zulässigkeit der Sicherungsübereignung entsprechend §§ 452, 427 ABGB (vgl. §§ 331, 105 des Entwurfs; Besitzübertragung durch Zeichen) sich durchgesetzt hätte63. Das Faustpfand war im Wesentlichen wie im ABGB geregelt. Gleiches gilt für das Grundpfandrecht64, bei dem man wie das österreichische Recht auf die Grundschuld verzichtete. Entsprechend der 3. Teilnovelle hielt der Entwurf an dem Verfügungsrecht fest, gestaltete es aber in den Details nicht unerheblich um. Neu eingeschaltet wurden die Bestimmungen über Reallasten (§§ 372 – 376 des Entwurfs). – Die beiden ersten Entwürfe sahen ferner ein Registerpfandrecht65 an Gesamtsachen, Erwerbsund anderen Unternehmungen vor (§ 507 des 1. Entwurfs, § 462 des 2. Entwurfs). Vorbild hierfür war die Unternehmensverpfändung nach den französischen Gesetzen von 1898/1909. Die Vorschläge der Entwürfe stießen in der Wirtschaft auf erhebliche Kritik. Insbesondere bestanden Zweifel darüber66, ob der „lebendige Organismus der Unternehmung, deren Gedeihen und damit deren Wert soviel von den wirtschaftlichen Verhältnissen abhängt, tatsächlich dem Gläubiger eine solche Sicherheit sein wird, dass der mit dem Registerpfandrecht fundierte Kredit für die Schuldner wesentlich günstiger sein könnte als der Personalkredit, und es wurden auch Befürchtungen geäußert, dass die Bedingungen des Personalkredites, der auch nach Einführung des 60
Entwurf 1924, 758. Der DJT in der Tschechoslowakei befasste sich 1927, 1935 und 1937 ausführlich mit dem Sicherungseigentum (Verh. 1927, 81 ff., Gutachten 1927, 1 ff. (Oertmann); Verh. 1935, 64 ff., Gutachten, 307 ff. (Klausing); Verh. 1937, 55 ff., Gutachten 1937, 33 ff. – Eine große Rolle spielte auch der Vorschlag von R. Seidl (Polaun), sog. Evidenzbücher (öffentliche Schuldbücher) einzuführen (hierzu Laufke, in: Prager JZ 1935, 363 ff.). 62 Motivenbericht, 344. 63 Hierzu u. a. Hochberger, in: Prager JZ 1937, 315 ff. 64 Auf eine detaillierte Darstellung des Hypothekenrechts der Entwürfe muss hier verzichtet werden (vgl. Motivenbericht, 93 ff.). 65 Zu den zeitgenössischen Vorbildern vgl. W. Schubert, in: ZRG Germ. Abt., Bd. 107 (1990), 166 ff. 66 Motivenbericht, 92; das folgende Zitat 93. 61
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Registerpfandrechtes für die Unternehmer in der Regel notwendig sein wird, sich nur erschweren oder verschlechtern würden.“ Bereits im zwischenministeriellen Verfahren wurde die Streichung der Bestimmung verlangt, der dann auch die Regierung zustimmte. Damit sollte nach den Motiven nicht gesagt sein, dass die Frage der Verpfändung der Unternehmungen oder Betriebe durch eine besondere zu treffende Form ganz und gar „als begraben“ gelten müsse. Aus den Kreisen einiger Unternehmer, insbesondere landwirtschaftlicher Pächter, werde nach ähnlicher Form ständig gerufen. Die Kommission hielt es jedoch für zweckmäßiger, diese Frage in einem eventuellen Sondergesetz zu regeln. d) Erbrecht Für das Erbrecht war im Wesentlichen die Regelung des ABGB in der Fassung der Novellen von 1914 und 1916 maßgebend. Insgesamt sollten die überlieferten „Grundsätze“ des Erbrechts unberührt bleiben67, „weil sie sich einerseits durch hundertjährigen Bestand eingelebt haben, andererseits weil sie im ganzen, insbesondere wenn noch gewisse Widersprüche beseitigt werden, in wissenschaftlicher und praktischer Beziehung entsprechen und nicht abzusehen ist, ob eine engische Einführung von Neuerungen, die in die Tiefe greifen, schließlich und endlich ein Fortschritt im guten Sinne des Wortes wären“. Das gesetzliche Erbrecht des überlebenden Ehegatten (1/4 des Nachlasses neben Kindern) wurde in den § 568 des Entwurfs von 1937 übernommen. Statt der Pflicht zur Anrechnung des vertraglich Hinterlassenen sollte der Ehegatte nach § 569 die Wahl haben zwischen dem, was ihm aus diesen Verträgen, und dem, was ihm nach dem Gesetz zufällt, zu wählen. Man wollte damit die Schwierigkeiten der Verrechnung umgehen. Die Regelung des Voraus in § 571 ging bereits auf die Novelle von 1914 zurück (§ 758 ABGB). Die Frage, inwieweit dem überlebenden Ehegatten ein Pflichtteil zustehen sollte, war höchst umstritten. In Abänderung des ABGB schlug der Entwurf von 1924 vor, der hinterbliebenen Witwe einen Pflichtteil (§ 722) und gegebenenfalls auch einen Anspruch auf den notdürftigen Unterhalt zuzugestehen, während der Witwer lediglich einen Anspruch auf lebenslänglichen „anständigen“ Unterhalt haben sollte (§ 755). Die Pflichtteilsregelung wurde vornehmlich mit Rücksicht auf die Slowakei vorgeschlagen. Die Vorschläge des Entwurfs wurden jedoch bereits vom 2. Deutschen Juristentag 1925 abgelehnt68. Sie sollten durch folgende, die Witwe eher besser stellende Regelung ersetzt werden69 : „Ein Pflichtteilsrecht der Ehegatten ist nicht anzuerkennen. Der Witwe ist als Ersatz ein primärer Unterhaltsanspruch gegen den Nachlaß einzuräumen. Den Erben ist das Recht einzuräumen, denselben durch Gewährung einer Leibrente abzulösen. Der getrennte oder geschiedene Gattenteil hat die gleichen Rechte auf Unterhalt wie bei Lebzeiten des anderen.“ Im Übrigen sollte 67
Motivenbericht, 124 f.; allgemein zum Erbrecht Dnistrjanskij, in: Zentralblatt 1932, 831 ff. 68 Vgl. Verh. des 2. DJT in der Tschechoslowakei, 1925, 52 ff. 69 Verhandlungsband des 2. DJT 1925, 64.
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dem überlebenden Ehegatten, solange er sich nicht wieder verheiratete, das Gebrauchsrecht an allen zum Haushalt gehörenden Sachen zustehen, soweit sie für den eigenen Bedarf notwendig waren. Die SR-Komm. folgte dem Votum des Juristentages, so dass sich im Entwurf von 1937 die Regelung des § 796 ABGB in § 609 in neuer Redaktion wiederfindet: „Dem hinterbliebenen Ehegatten gebührt einerseits das lebenslängliche Gebrauchsrecht an den beweglichen Sachen, die ihm als Eigentum zufallen würden, wenn er nach dem Gesetze erben würde, andererseits für die Zeit der Witwenschaft die seiner bisherigen Lebenshaltung entsprechende Versorgung (§ 488), sofern er sie nicht anderweitig erhält.“ In § 612 war die „Versorgung anderer Personen“ geregelt: „Den Personen, die bis zum Tode des Erblassers unentgeltliche Versorgung in seinem Haushalte genossen haben, gebührt die gleiche Versorgung noch durch drei Wochen.“ Er ging auf den vom DJT 1925 angenommenen Antrag des Referenten Reißmann zurück70. Der Entwurf von 1924 entschied sich zwar für die Beibehaltung der Testamentsformen, verschärfte diese aber im Anschluss an das ungarische Recht der Slowakei. Nach § 585 musste die Niederschrift auch eine Datums- und Ortsangabe enthalten. Bestand die Anordnung aus mehreren Blättern, mussten sie „entweder so verbunden sein, daß keine Gefahr einer Unterschiebung besteht, oder muß jedes Blatt besonders unterschrieben sein“. Diese Vorschläge wurden von der Kritik weitgehend abgelehnt, so dass die beiden folgenden Entwürfe die genannten Erfordernisse zu Sollbestimmungen herabstuften.71 Der Grund hierfür war, „einerseits daß die Schäden aus einer Lockerung der Formen niemals so groß sein können, wie die Schäden, die aus ihrer Verschärfung entstehen (eine Menge ungültiger Testamente), andererseits, daß die Lockerung der Testamentsformen auch dem kulturellen Aufstiege der Bevölkerung entspricht, schließlich auch der, daß alle wissenschaftlichen Autoritäten – auch die ausländischen –, die sich mit dem Entwurfe des Subkomitees beschäftigten, sich gegen eine Verschärfung der Testamentsformen ausgesprochen haben“. Für das nicht eigenhändige Dreizeugentestament enthielt § 590 des E. 1924 (gegenüber § 585 ABGB) ebenfalls einige Erschwerungen: „Wer privat mündlich verfügt, muß vor drei fähigen Zeugen, welche zugleich gegenwärtig und zu bestätigen fähig sind, daß in der Person des Erblassers kein Betrug oder Irrtum unterlaufen sei, ernstlich seinen letzten Willen erklären.“ Diese Verschärfungen wurden in den folgenden Entwürfen wieder rückgängig gemacht: „Eine letztwillige Verfügung, die der Erblasser nicht eigenhändig niedergeschrieben hat, muß er eigenhändig unterschreiben und er muß vor drei Zeugen, wovon wenigstens zwei zugleich gegenwärtig sein müssen, ausdrücklich erklären, daß das Schriftstück seine letztwillige Verfügung enthalte …“ (§ 416 des Entw. 1937). Weiterhin sollten Erbverträge nur zwischen Ehegatten (nach dem Entwurf von 1924 auch zwischen Verlobten) zulässig sein (im Entwurf von 1924 im Anhang ge-
70 71
Gutachtenband des 2. DJT 1925, 39 ff. Motivenbericht, 80.
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regelt)72. Durch den Erbvertrag konnte über ein Viertel des Nachlasses nicht wirksam verfügt werden: Wollte der „Erblasser den Vertragserben auch dieses Viertel hinterlassen, so kann er dies nur durch eine besondere letztwillige Verfügung tun“ (§ 447 des Entwurfs von 1937/§ 1253 ABGB). Das auf Ehegatten beschränkte wechselseitige Testament wurde nicht übernommen. Wer entmündigt war, sollte nach § 407 des Entwurfs von 1937 nicht wirksam testieren können, es sei denn, dass er gesund geworden war; dies bedeutete gegenüber dem ABGB eine Erleichterung, da eine Aufhebung der Entmündigung zur Wiederherstellung der Testierfähigkeit nicht notwendig war. Im § 579 des Entwurfs von 1937 wurde die Anfechtbarkeit letztwilliger Verfügungen erweitert; das ABGB kannte in § 570 nur den wesentlichen Identitätsirrtum. – Zu Beginn der Verhandlungen war über die Einführung des Vindikationsvermächtnisses gesprochen worden. Die SR-Komm. beschloss jedoch73, „nach Erwägung aller Umstände, insbesondere auch der Psychologie der Laienerblasser, die den Unterschied des Damnations- und Vindikationsvermächtnisses nicht verstehen würden, wie auch mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten, die aus dem Vindikationsvermächtnisse bei der Verlassenschaftsabhandlung entstehen würden“, beim bisherigen Recht zu bleiben. Es wurde darauf hingewiesen, dass das ABGB insoweit nach mehr als hundertjähriger Wirksamkeit keinen Anlass zu großen Beschwerden gegeben habe. § 540 ABGB wurde gegenüber § 550 des Entwurfs von 1922/24 wiederhergestellt (auf Antrag des Juristentags)74. e) Recht der Schuldverhältnisse aa) Allgemeine Fragen Die Fähigkeit, Verträge zu schließen, ist in den §§ 696 bis 699 des Entwurfs 1937 geregelt. Die Bestimmungen schlossen sich in leichter Modifizierung den durch die Novelle von 1914 geänderten Bestimmungen des ABGB zum Teil an. Beibehalten wurde insbesondere § 866 ABGB als § 700: „Wer vorgibt, daß er Verträge zu schließen fähig sei, und dadurch einen anderen hintergeht, der sich davon nicht leicht überzeugen konnte, bevor das Geschäft abgeschlossen war, ist zum Schadensersatze verpflichtet.“ Der Abschnitt über den Abschluss der Verträge (§§ 690 – 693, 695) beruht auf den §§ 862 – 864 ABGB in der Fassung der Novelle von 1916 in einer detaillierteren und präziseren Fassung. Diese Bestimmungen gingen im Wesentlichen auf das ADHGB und BGB zurück. Dem § 242 BGB dürfte § 694 entsprechen: „In Bezug auf die Bedeutung und die Folgen von Handlungen und Unterlassungen ist auf die Gewohnheiten des redlichen Verkehrs Rücksicht zu nehmen.“ (Vgl. § 863 Abs. 2 72
Entwurf 1924, 336 f. Motivenbericht, 124 f. 74 § 550 des Entwurfs von 1924 lautet: „Wer gegen den Erblasser ein Verbrechen begangen hat, ist solange des Erbrechtes unwürdig, als sich nicht aus den Umständen entnehmen läßt, daß ihm der Erblasser vergeben habe“ (hierzu § 386 des Entwurfs 1937 und Mot.-Ber., 107). Dagegen verblieb es im Wesentlichen bei der Regelung des § 552 des Entwurfs 1924 (§ 388 des Entwurfs 1937). 73
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ABGB in der Fassung der Novelle von 1916). § 709 des Entwurfs von 1937 entsprach dem durch die Novelle neu gefassten § 878 ABGB, der wiederum Anleihen bei den §§ 306 und 308 BGB machte. Ein Vertrag, der gegen die guten Sitten verstieß, sollte nach § 710 „ungültig“ sein, während die Novelle von 1916 den Ausdruck „nichtig“ verwendete. Hierdurch wollte die SR-Komm. dokumentieren75, dass der „Begriff der Ungültigkeit eines Vertrages seine verschiedenen Mängel deckt, aber ein relativer Begriff ist, dessen Inhalt durch sorgfältige Zerlegung der Bestimmungen ermittelt werden muß, die über die oder jene Ungültigkeit gegeben sind“. Die Beispiele, die das ABGB und die Novellenfassung für die Unwirksamkeit von Verträgen enthielt, ließ der Entwurf wegen der „erstaunlichen Unsymmetrie“76, die „gegen alle Forderungen der juristischen Eleganz“ verstoße, weg. Zugleich stellte der Motivenbericht klar, dass ein Vertrag über die Zahlung eines Ehemaklerlohns nicht ohne weiteres (wie bisher) unwirksam sein sollte77. Der der Kommission vorliegende Antrag, einen Vertrag für ungültig zu erklären, durch den sich jemand Leistungen für die Erreichung der Auflösung einer Ehe bedungen hatte78, wurde nicht übernommen. Der Wuchertatbestand, der in der Novelle in § 879 Abs. 1 Ziff. 4 ABGB nach dem Vorbild des BGB enthalten war, bildete in § 781 des Entwurfs von 1937 eine separate Vorschrift. Daneben wurde die Bestimmung des ABGB über die laesio enormis (Schadloshaltung wegen Verkürzung über die Hälfte) in § 779 beibehalten. – Das Ergebnis langwieriger Verhandlungen insbesondere mit Ministerialbeamten und Vertretern des tschechischen Banken- und Industriellenverbandes waren die drei neuen Bestimmungen über das Differenzspiel (nicht „Differenzgeschäft“ wie 1931). Gegenüber dem Entwurf von 1931 wurde im endgültigen Entwurf die Unklagbarkeit einer Forderung aus einem Differenzspiel noch mehr eingeschränkt, hauptsächlich zu dem Zweck79, damit sie „nur ein Mittel der Abwehr finanziell schwächerer und in wirtschaftlichen Dingen minder erfahrener Personen sei und damit sie nicht Personen ausnützen können, für deren Schutz keine besondere Fürsorge notwendig ist, schließlich auch nicht kaufmännisch geriebene Personen, die von der Spekulation leben und andere zur Spekulation verleiten“. Auch der Entwurf von 1937 hielt wie bereits die Novelle von 1916 am überkommenen Irrtumsrecht fest (§§ 701 ff. gegenüber §§ 870 ff. ABGB). Im § 702 (entsprechend § 870 ABGB) ist neben der Drohung auch die „List“ (arglistige Täuschung) eingefügt. Im Übrigen war nur ein Irrtum über die Hauptsache oder über wesentliche Eigenschaften sowie der Irrtum in der Person, und auch das nur unter engeren Voraussetzungen als im deutschen Recht, beachtlich. Neu war lediglich die im § 703 75 Motivenbericht, 172; allgemein zum Obligationenrecht, Dnistrajanski, in: Zeitschrift für österr. Recht, 1934/35, 572 ff. (allgem. Teil), 618 ff. (einzelne Schuldverhältnisse). 76 Motivenbericht, 176. 77 Motivenbericht, 176 f. 78 Motivenbericht, 177. 79 Motivenbericht, 305; vgl. auch U. Wolter, Termingeschäftsfähigkeit kraft Information, 1991; W. Schulz, Die Entstehungsgeschichte und Auswirkungen des Börsengesetzes am Ende des 19. Jahrhunderts, 1994.
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Satz 3 übernommene Regelung des § 120 BGB. Der auf einem Willensmangel beruhende Vertrag war nicht nur anfechtbar, sondern der hiervon Betroffene war „an den Vertrag nicht gebunden“. Der Grundsatz der Formfreiheit des ABGB (§§ 883 ff.) wurde in dem § 719 beibehalten. Die Bestimmung über die Auslegung: „Bei Auslegung von Verträgen ist die Absicht der Parteien zu erforschen und nicht am Wortlaut zu haften. Im Zweifel ist der Vertrag so zu verstehen, wie es die Übung des redlichen Verkehrs erheischt“ (§ 757) entstammt dem § 914 der Novelle von 1916 und stellt somit eine Nachbildung des § 133 BGB unter Berücksichtigung des § 157 BGB dar. Die Bestimmungen über die Verträge zu Gunsten Dritter80 sind gegenüber der ursprünglichen Fassung des ABGB verändert und entsprechen der Novelle von 1916 mit ihren Anleihen aus dem deutschen Recht. In Erweiterung des ABGB enthielt der Entwurf von 1937 über die abstrakten Verträge folgende Regelung in § 712: „Wenn gesetzliche Vorschriften nicht etwas anderes bestimmen, so ändert sich die Stellung der Parteien dadurch nicht, daß sie die Vereinbarung von dem übrigen Vertragsinhalte (dem Rechtsgrunde) absondern.“ Damit sollte klargestellt sein, dass es sich nicht empfiehlt81, „einer solchen Trennung des Konsenses von der Causa, außerhalb jener abstrakten Konsense, die besonders geregelt sind (wie beispielsweise im Handels-, Wechsel- und Scheck-Rechte), rechtliche Bedeutung zuzusprechen“. Der Text der Kommission, insbesondere in der zuletzt beschlossenen Fassung, sollte nichts anderes besagen, „als daß sich mit dem Abschluß eines abstrakten Konsenses, bzw. mit seiner Abtrennung vom übrigen Vertragsinhalte nichts an den Rechten und Pflichten der Parteien ändert. Wenn also der ganze Vertragsinhalt Pflichten nicht begründet (z. B. wegen Formmangels), legt solche Pflichten auch nicht die Formulierung eines abstrakten Konsenses auf, und dem, der die Erfüllung der auf einen abstrakten Konsens gestützten Verpflichtung begehrt, obliegt es, auch den übrigen Vertragsinhalt anzuführen und zu beweisen.“ Über die §§ 918 – 921 ABGB in der Fassung von 1916, die das Leistungsstörungsrecht der neueren Kodifikationen in teilweise modifizierter Form rezipiert hatten, fanden in den Kommissionen sehr detaillierte Auseinandersetzungen statt. Von besonderem Interesse sind die §§ 760, 763 und 764 des Entwurfs: „Erfüllt ein Teil entweder überhaupt nicht oder nicht zur gehörigen Zeit, am gehörigen Orte oder auf die bedungene Weise, so kann der andere Teil entweder Erfüllung und Ersatz des Schadens verlangen, der dadurch entstanden ist, daß der Schuldner nicht nach der übernommenen Verpflichtung gehandelt hat, oder er kann unter Festsetzung einer angemessenen Frist zur Erfüllung erklären, daß er sonst vom Vertrage zurücktrete. Die Bestimmung einer Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn der Schuldner schon früher eine Erklärung abgegeben hat, aus welcher hervorgeht, daß er die Erfüllung ablehnt“ (§ 760). – „Wird die Erfüllung durch einen Umstand vereitelt, für den der Schuldner verantwortlich ist, so kann der andere Teil Schadensersatz wegen Nichterfüllung fordern oder vom Ver80 81
Vgl. §§ 714 ff. des Entwurfs. Motivenbericht, 178.
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trage zurücktreten. Bei teilweiser Vereitelung der Erfüllung kann der andere Teil zurücktreten, wenn die Natur des Geschäftes oder der dem Schuldner bekannte Zweck der Leistung entnehmen läßt, daß die teilweise Erfüllung für ihn kein Interesse hat“ (§ 763). – „Hinsichtlich der in diesen Bestimmungen auferlegten Verpflichtung zum Schadensersatze gelten die allgemeinen Vorschriften. Der Rücktritt vom Vertrage läßt den Anspruch auf Schadensersatz unberührt. Das bereits empfangene Entgelt ist auf eine solche Art zurückzustellen oder zu vergüten, daß kein Teil aus dem Schaden des anderen Gewinn zieht“ (§ 764). Neu gegenüber dem österreichischen Recht von 1916 war die Wiedereinführung der Worte „entweder überhaupt nicht“ in § 760. Die Passage über die Entbehrlichkeit der Fristsetzung in § 760 S. 2 war wohl eine Anlehnung an die Judikatur zum HGB und zum deutschen BGB. Neu gegenüber dem altösterreichischen Recht war die Gewährung eines Rücktrittsrechts, wobei aber ausdrücklich klargestellt wurde, dass der Rücktritt den Anspruch auf Schadensersatz unberührt lassen sollte. Neu gegenüber der Novelle war der mittelbare Hinweis in § 764 des Entwurfs, dass eine Schadensersatzverpflichtung grundsätzlich Verschulden voraussetze. Die Bestimmungen des ABGB über die Forderungszession (§§ 1292 ff.), die durch die Novellen nicht verändert wurden, sind der Sache nach ebenfalls in leicht modifizierter Fassung in den §§ 1233 ff. des Entwurfs von 1937 enthalten. Neu gegenüber dem ABGB war, dass in § 1234 (§ 1393 ABGB) die Typen der unveräußerlichen Forderungen nach dem Muster der §§ 399 und 400 BGB exemplifiziert wurden. Anders als nach deutschem Recht haftete der Veräußerer einer Forderung dem Zessionar auch für die „Einträglichkeit“ der Forderung zum Zeitpunkt der Abtretung. In § 1210 war die Sicherungsübertragung von Forderungen anerkannt. Diese sei, so die Begründung82, „eine eingelebte und im ganzen gute Sache. Die Sicherungsübertragung von Forderungen erzwang sich das wirtschaftliche Leben und wie es scheint, wäre der Versuch, sie abzulehnen, zum Mißerfolg verurteilt“. Mittelbar sollte durch die ausdrückliche Zulassung der Sicherungszession zugleich gesagt werden, dass die Sicherungsübereignung beweglicher Sachen unzulässig war. Das Ersitzungs- und Verjährungsrecht endlich wurde leicht modernisiert, wobei die allerdings nicht sehr tiefgreifenden Änderungen der Novelle von 1916 mitübernommen wurden. Für eine Reihe von Forderungen wurde in § 1348 entsprechend den Entwicklungen im 19. Jahrhundert eine kurze Verjährung, und zwar von drei Jahren, eingeführt. Im Übrigen wurde die dreißigjährige Verjährungsfrist beibehalten, für die besonders begünstigten Personen (darunter auch den Staat) sogar die vierzigjährige Verjährungsfrist (§ 1346). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass für alle Schadensersatzansprüche, und zwar auch die vertraglichen, grundsätzlich die dreijährige Frist gelten sollte, und zwar von der Kenntnis des Schadens und der dafür haftenden Personen an (§ 1353).
82
Motivenbericht, 344.
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bb) Besonderes Schuldrecht Für das Kauf- und Tauschrecht übernahm der Entwurf von 1937 im Wesentlichen die Bestimmungen des ABGB, insbesondere die allgemeine Regelung des Gewährleistungsrechts (§ 765 des Entwurfs von 1937). Neu war der die Garantien betreffende § 772, wonach vereinbart werden konnte, „daß der Veräußerer für Mängel haftet, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkte hervorgekommen“. Zur Gültigkeit der Vereinbarung war die schriftliche Abgabe einer Haftungserklärung des Veräußerers erforderlich. Die Gewährleistungsfristen wurden für bewegliche Sachen – bisher sechs Monate seit der Übergabe – nicht verlängert, sondern sogar noch mittelbar verschärft. Denn nach § 910 hatte der Erwerber einer beweglichen Sache diese „binnen gehöriger Frist und in gehöriger Weise, wie es einer ordentlichen Wirtschaftsführung entspricht“, zu untersuchen, und, wenn er einen Mangel entdeckte, ihn dem Verkäufer „ohne unnötigen Aufschub“ anzuzeigen. Unterließ er dies, so verlor er den Gewährleistungsanspruch wegen der Mängel, die er derart erkannte oder hätte erkennen können. Man hatte diese Regelung dem Handelsrecht (Art. 347 ABGB) entnommen. Bereits nach Meinung des Subkomitees83 konnte die Ausdehnung dieser Sorgfaltspflicht bis zu einem gewissen Maße erzieherisch wirken. Außerdem sei die Bevölkerung für die allgemeine Auferlegung dieser Sorgfaltspflicht „ihrem kulturellen Stande nach reif“. – Für das Schenkungsrecht wurde die Streitfrage, ob auch die Annahme des Schenkungsversprechens der notariellen Form bedurfte, positiv entschieden (§ 791 des Entwurfs von 1937). Der Ausdruck „Bestandsvertrag“ wurde durch „Miete und Pacht“ ersetzt, denn der bisherige Ausdruck, der auch in der deutschen Sprache außerhalb des Gebietes der Geltung des ABGB unbekannt sei, hatte auch in der tschechischen Sprache keine Analogie84. Im Übrigen übernahm der Entwurf von 1937 das ABGB mit einigen Änderungen, während das Mietnotrecht der Nachkriegszeit85 separat geregelt blieb. In Übereinstimmung mit § 137 der Novelle von 1916 wurde im § 951 die Untervermietung freigegeben, außer wenn „es dem Vermieter zum Nachteile gereichte oder wenn es durch den Vertrag untersagt ist“. In Abweichung vom Original war der Mietzins bei unbeweglichen Sachen entsprechend dem „tatsächlichen Zustande“ und in Übereinstimmung mit den Vorschlägen von 1924 im Vorhinein zu bezahlen (§ 951 des Entwurfs). Eine Ermäßigung des Pachtzinses sollte nicht nur, wie nach ABGB bei einjähriger, sondern auch bei bis zu sechsjähriger Pacht eintreten. Der Motivenbericht erinnerte an katastrophale Missernten und die sog. Elementarkatastrophe von 193486. Nicht voll übernommen wurde der nach dem ABGB nur eingeschränkt geltende Grundsatz: „Kauf bricht nicht Miete“ nach dem Muster des BGB. Vielmehr war der Mieter bei Grundstücksveräußerung nur geschützt, wenn das Mietrecht in die öffentlichen Bücher eingetragen war. Andernfalls konnten beide Teile kündigen, wobei 83 84 85 86
Entwurf von 1924, 643. Motivenbericht, 250. Vgl. die Mieterschutzgesetze bei Kafka/Gaus, wie Fn. 11, Bd. 1, 539 ff. Motivenbericht, 255 f und § 957.
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– insofern neu – die Kündigung zum nächstmöglichen Termin erfolgen musste. Die Regelung des § 1116 a (Novelle von 1916), wonach durch den Tod des Mieters der Mietvertrag nicht erlosch, wurde dahin präzisiert, dass die Erben bzw. die Hausgenossen des Erblassers in den Vertrag eintraten (§§ 978, 979). Dieser Vertrag war entgegen dem österreichischen Recht durch den Vermieter nur aus wichtigem Grund kündbar. Eine dem Beamtenprivileg entsprechende Regelung des § 570 BGB war in Art. 1116 b des Entwurfs von 1924 enthalten. Die SR-Komm. lehnte ein solches privilegium odiosum ab87: „Kaum wäre ein Vermieter bereit, einen Mietvertrag auf bestimmte Zeit mit einer Person abzuschließen, die nach einer ähnlichen Bestimmung zur Aufhebung des Mietvertrages bei ihrer Versetzung berechtigt wäre.“ Das Darlehensrecht wurde durchgehend modernisiert und terminologisch verbessert, die meisten Schutzbestimmungen jedoch beibehalten, so die §§ 990, 991 ABGB über das Gelddarlehen in Wertpapieren (§§ 842, 843 des Entwurfs von 1937). Dagegen konnten die Bestimmungen über die Bürgschaft (§§ 1185 ff.) weitgehend übernommen werden; die Regelung der §§ 767 und 771 BGB wurden ausdrücklich nicht rezipiert88. Im ABGB waren der Werk- und der Dienstvertrag einheitlich als Vertrag über Dienstleistungen in § 1151 ABGB geregelt, wenn auch der Sache nach unterschieden. Eine separate ausführliche Neuregelung brachte bereits die Novelle von 1916, deren Bestimmungen für das Werkvertragsrecht mit kleinen Erweiterungen übernommen wurde. Beachtenswert ist, dass die Bestimmung über die arbeitsvertragliche Fürsorgepflicht wie bereits nach der Novelle von 1916 entsprechend anwendbar sein sollte89. Der Motivenbericht stellte zum Dienstvertragsrecht fest90, kein geringerer als Karl Marx habe schon darauf hingewiesen, dass es sich bei den Dienstverträgen um zwei Kategorien handle, die in ihren typischen Erscheinungen eine ganz verschiedene Regelung erheischten. Während die Novelle von 1916 und der Entwurf von 1924 noch vom Dienstvertrag sprachen, gebrauchte der Entwurf von 1931 erstmals den Ausdruck „Arbeitsvertrag“. Der Sache nach wurde jedoch die Regelung der Novelle von 1916 und der tschechischen Novellen von 1921 (Nr. 155 und 497 der Sammlung der Gesetze) übernommen, die in erweiterter Form das Dienstvertragsrecht des BGB rezipierten. Dagegen lehnte man es ab, das Arbeitsrecht insgesamt in die Kodifikation einzuarbeiten, das zum Teil Verwaltungsrecht sei91. Während die Bestimmungen über den Verlagsvertrag (§§ 1172 – 1173 ABGB) gestrichen wurden, da dieser bereits in einem Gesetz vom 11. Mai 192392 geregelt war, 87 88 89 90 91 92
Motivenbericht, 262. Motivenbericht, 336 ff. Motivenbericht, 275 ff. Motivenbericht, 263; hieraus auch die folgenden Zitate. Hinzuweisen ist auf die §§ 981, 982 über den sog. Kollektivvertrag. Sammlung 1923, Nr. 106.
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nahm bereits der Entwurf von 1924 Bestimmungen über den Maklervertrag neu auf (§§ 1130 – 1135). Als Vorbild dienten die §§ 652 ff. BGB, wobei § 1030 so allgemein gefasst war, dass darunter auch die Ehe- und Adoptionsvermittlung fiel. Die Schriftform wurde im Gegensatz zu Anträgen in der Kommission nicht verlangt. Die Überarbeitung des 22. Abschnitts des ABGB über den Bevollmächtigungsvertrag erscheint besonders gelungen. Der Entwurf von 1931 sprach nicht mehr von einem solchen Vertrag, sondern von einem Vertrag „über die Besorgung von Angelegenheiten“, wie auch die Vertragsparteien nicht mehr Vollmachtgeber und Bevollmächtigte, sondern „Auftraggeber“ und „Besorger“ genannt wurden93. Die Bestimmungen über das (Innen-)Verhältnis zwischen den Vertragsparteien trennte die Kommission von den Bestimmungen über die Bevollmächtigung und über die Vertretungsmacht überhaupt. In der Schlussredaktion des Entwurfs wurde der Vertrag über die Besorgung fremder Angelegenheiten nicht mehr Mandat, sondern Auftragsvertrag und die Parteien nicht mehr Auftraggeber und Besorger, sondern „Auftraggeber (Mandant)“ und „Beauftragter (Mandatar)“ genannt. Sachliche Änderungen enthielten die §§ 850 und 851 des Entwurfs von 1937, die im Motivenbericht dahin umschrieben sind94 : „Der Begriff des Vertrages ist so bestimmt, daß ihm einerseits die Verträge über die Besorgung von Angelegenheiten (administratio ad bonorum oder unius rei), andererseits die Verträge über die Ausführung einer anderen Tätigkeit entsprechen, sofern es sich nicht in beiden Fällen um einen Vertrag handelt, welcher sich nach anderen Bestimmungen richtet. Sofort hinter diese Bestimmung ist dann § 1004 ABGB über das Entgelt eingeschoben, und zwar so, daß für die Besorgung fremder Angelegenheiten ein Entgelt vereinbart werden kann und daß das Entgelt auch dann gebührt, wenn dies den Usancen oder dem Berufe des Beauftragten entspricht.“ Das Ergebnis war also: „Der Vertrag über die Besorgung von Angelegenheiten wird in der Regel unter das dreißigste Hauptstück fallen, mag ein Entgelt bedungen sein oder nicht (mag es gebühren oder nicht).“ Aber § 850 gebe die Möglichkeit, den Vertrag anderen Bestimmungen zu unterwerfen, insbesondere den Bestimmungen des 34., 35., eventuell des 36. Hauptstückes. Die Bevollmächtigung wurde dann separat in den §§ 864 ff. geregelt: „Eine Bevollmächtigung kann derart erfolgen, daß die Vollmacht entweder schriftlich (durch Ausfolgung der Vollmachtsurkunde) oder in einer anderen Weise erteilt wird, in welcher Erklärungen abgegeben werden können. Nimmt der Bevollmächtigte die Bevollmächtigung an, so entsteht ein Bevollmächtigungsvertrag. Verpflichtet sich der Bevollmächtigte, das Geschäft durchzuführen, zu dem er bevollmächtigt wurde, so ist er zur Durchführung in der Regel nach den Bestimmungen über den Auftrag verpflichtet“ (§ 864 des Entwurfs von 1937; Hinweis auf § 850). Die Rechtsfolgen der Vollmacht waren in § 868 dahin umschrieben: „Nach dem Inhalte der Vollmacht kann der Bevollmächtigte für den Machtgeber Rechte erwerben und ihm Verbindlichkeiten auferlegen. Geht er also in den Grenzen seiner Vollmacht mit einem 93 94
Motivenbericht, 226. Motivenbericht, 226 f.
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Dritten irgendeinen Vertrag ein, so erwachsen die Rechte und Pflichten dem Machtgeber und dem Dritten, nicht aber dem Bevollmächtigten. Die dem Bevollmächtigten erteilten Weisungen, die aus der Vollmacht nicht ersichtlich sind, haben auf die Rechte und Pflichten des Dritten keinen Einfluß.“ Swoboda, auf den die Neufassung dieser Bestimmungen im wesentlichen zurückgehen dürfte, umschrieb die Änderungen gegenüber dem ABGB dahin95 : „Der neue Entwurf unterscheidet nunmehr scharf zwischen Auftrag und Vollmacht, verschließt sich aber nicht der Erkenntnis, daß diese beiden Begriffe zur Beherrschung der auf dem Gebiete der befugten Geschäftsführung für andere auftauchenden Erscheinungen des Rechtslebens noch keineswegs ausreichen. Er spricht daher in seinem § 864 klar aus, daß es zunächst eine einseitige Willenserklärung der Vollmacht gebe, daß aber auch eine Annahme der Vollmacht erfolgen und damit ein Vollmachtsvertrag entstehen könne, daß überdies, wie es § 1002 ABGB vor Augen hat, zugleich die Übernahme der Verpflichtung zur Besorgung des Geschäftes hinzutreten kann und damit der weitergehende Vertrag des § 1002 zustande kommt, der die im praktischen Leben häufigste Erscheinung auf diesem Gebiete darstellt, aber in der bloß abstrakten Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen Auftrag und Vollmacht meist unbeachtet geblieben ist.“ Zweck der Neuordnung sei es aber keineswegs gewesen, die bisherigen durchaus selbständigen, aber aus dem Leben angepassten Auffassungen des ABGB zu verwerfen. cc) Gesetzliche Schuldverhältnisse Nur leicht modifiziert wurden die Bestimmungen über die Geschäftsführung ohne Auftrag, die Anspruchsnorm wegen der in rem versio wurde beibehalten: „Wird ohne die Absicht, eine fremde Angelegenheit zu besorgen, eine Sache zum Vorteile eines anderen verwendet, so kann der Eigentümer diese Sache, oder wenn dies nicht tunlich ist, den Wert verlangen, den sie zur Zeit ihrer Verwendung gehabt hat, und zwar auch dann, wenn der Vorteil in der Folge vereitelt worden ist“ (§ 886 des Entwurfs 1937). – § 887. „Wer für einen anderen einen Aufwand macht, den dieser selbst zu machen verpflichtet ist, hat das Recht, Ersatz zu fordern.“ In dem Motivenbericht ist zu lesen96 : Die Bestimmungen über die versio in rem hätten eine ganze Literatur hervorgerufen. Keine der gegebenen Auslegungen sei aber so überzeugend, dass ihnen das ABGB textlich anzupassen wäre: „Andererseits aber sind die Bestimmungen im Gesetzbuch nicht ohne Nutzen. Die richterlichen Entscheidungen berufen sich auf sie sehr oft und, wenn dies auch nicht immer ganz mit Grund geschieht, so beweist die Judikatur sicher, daß durch die Weglassung jener Paragraphen im Gesetz eine Lücke entstände, denn sie bleiben immer ein elastischer und hinreichend weiter Rahmen, wenn Vermögensverschiebungen eingetreten sind und andere Bestimmungen
95 Swoboda, Vorträge, 28 f.; vgl. ferner die Beiträge Swobodas im Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht bei W. Schubert, Protokolle der Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht, Bd. III 5, 1993 (Nachweise im Personenregister) zum Auftrags- und Vollmachtsrecht. 96 Motivenbericht, 234.
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keine zureichende Korrektur gewähren und nicht ausreichen, einen gerechten Ausgleich herzustellen.“ Auch für das Bereicherungsrecht erfolgte keine vollständige Anpassung an das BGB. Das ABGB, so der Motivenbericht97, führe den Begriff der Bereicherung nicht an und kenne auch keine allgemeine Klage aus der Bereicherung. Trotzdem urteile die herrschende Meinung, dass die Kodifikation einige Klagen aus grundloser Bereicherung kenne, „d. h. Klagen, deren leitender Grundsatz das Bestreben ist, die Bereicherung des einen auf Kosten des anderen zu verhindern, und daß sedes materiae hier die im Register unter den Schlagworten der romanistischen Condictionen angeführten §§ 1431 ff. ABGB sind“. Mit Rücksicht darauf, dass der Kodifikation der Grundsatz der grundlosen Bereicherung bekannt sei und weil es sich um einen Grundsatz handle, der in jeder Weise Aufmerksamkeit verdiene, hatte sich bereits das Subkomitee dahin entschieden, an der bisherigen Meinung festzuhalten, es jedoch abgelehnt, eine allgemeine Bereicherungsklage zu schaffen. Im Hinblick auf § 4 ABGB sei es nicht notwendig hervorzuheben, dass die getroffenen Bestimmungen Ausdruck des „allgemeinen Grundsatzes“ seien, „daß sich niemand unberechtigter Weise zum Schaden eines anderen bereichern“ solle98. Man könne völlig darauf vertrauen, dass die Praxis mit Rücksicht auf § 3 des Entwurfs den richtigen Weg auch zur Entscheidung der Fälle finden werde, „die sich zwar nicht unmittelbar unter die getroffene Regelung einzwängen“ ließen, wo es aber nicht gerechtfertigt wäre, jemand den Ersatz zu versagen, wenn sich zu seinem Nachteil ein anderer bereichert hätte. Die Regelung der Kondiktionen erfolgte wie bisher im Abschnitt über die Erfüllung in zwei Tatbeständen: Zahlung einer Nichtschuld in §§ 1293 ff.: „Wenn jemand einem anderen aus einem Irrtum, wäre es auch ein Rechtsirrtum, etwas leistet, was er ihm nicht schuldig ist, kann er die Zurückstellung des Geleisteten fordern“ (§ 1293). Der zweite Tatbestand betraf sonstige Leistungen ohne Rechtsgrund: „Ist zu einem möglichen und erlaubten Zwecke geleistet worden, ohne daß er durch Zufall oder nach dem Willen der einen oder der anderen Partei erreicht worden wäre, so gelten in Ermangelung abweichender Bestimmungen entsprechend die Bestimmungen der §§ 1293 bis 1300“ (§ 1301). – „Die Vorschriften der §§ 1293 – 1300 sind auch dann entsprechend anzuwenden, wenn der rechtliche Grund, die Sache zu behalten, aufgehört hat“ (§ 1305). Nach dem Motivenbericht bewegte sich die gesetzliche Regelung dieser Bestimmungen in der Richtung99, dass die neuen Texte „schärfer als die bisherigen aussprechen, dass der Klagegrund die Bereicherung einer Person zum Schaden einer anderen ohne Rechtsgrund“ war. Hinsichtlich des Begriffes der Bereicherung gingen die Texte davon aus, „daß die Bereicherung, für die eine Bestimmung getroffen ist, einen Vor97 98 99
Motivenbericht, 362. Motivenbericht, 362 f. Motivenbericht, 363.
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teil auf der einen Seite voraussetzt, der durch einen Schaden auf der anderen Seite erkauft ist“, so dass die Summe, die im Prozesswege erlangt werden könne, niemals größer sein werde als jener Vorteil oder jener Schaden. Neu war die Bestimmung über die condictio ob causam datorum. Die Klagebedingungen waren nach dem Schlagwort praestare ob causam futuram non inhonestam, „wenn die causa data non est secuta festgesetzt“100. Mit der herrschenden Meinung wurde ausgesprochen, dass es nicht darauf ankomme, ob die causa durch Zufall oder mit Willen der einen oder anderen Partei nicht eingetreten sei. Nicht übernommen wurde die vom Subkommitee für den Fall vorgeschlagene Regelung, dass bei der condictio sine causa eine Sache bei einem anderen von Anfang an ohne Rechtsgrund war101: „Für einige derartige Fälle sind besondere Bestimmungen an anderen Stellen des Gesetzbuchs gegeben und ihr Verhältnis zu jener Ergänzung wäre sehr unklar.“ Soweit besondere Bestimmungen fehlten, werde man mit den allgemeinen Auslegungsregeln auskommen und es empfehle sich deshalb nicht, „einen weiten Grundsatz zu formulieren, bei dessen Anwendung man ebenfalls zu jenen Auslegungsvorschriften seine Zuflucht nehmen müßte“. Im Ganzen macht die im Geist des ABGB getroffene Normierung den Eindruck einer sehr flexiblen Regelung, die derjenigen des BGB zumindest ebenbürtig sein dürfte. Unerlaubte Handlungen: Der Abschnitt über das Deliktsrecht war mit „Schadensersatz“ umschrieben, um jeden Anklang an das Schuldprinzip zu vermeiden. „Der Schaden“, so § 1121, „für den jemand haftet, entsteht entweder aus seinem Verhalten, das ihm als Verschulden zugerechnet werden kann (Handlung oder Unterlassung), oder ohne sein Verschulden.“ Im Entwurf von 1931 konnte man kurz danach noch lesen102 : „Für einen Schaden, den jemand ohne seine Schuld verursacht, haftet er nur, wo das Gesetz es besonders bestimmt.“ Daraus war zu ersehen, daß die Haftung für schuldlos verursachten Schaden nur als Ausnahme gelten sollte. Mit der späteren Streichung dieser Bestimmung sollte ausgedrückt werden, daß die Haftung für den verschuldeten Schaden und die Haftung für den unverschuldeten Schaden nicht als „zwei gegenseitig scharf abgetrennte Kategorien in Gegensatz gestellt“ werden sollten. Die Neufassung ging auf Swobodas Forderung auf dem Kongress für Rechtsvergleichung 1932 und dem 6. Deutschen Juristentag in der Tschechoslowakei 1933 zurück103. Ein Rechtsgebiet, so Swoboda über den Entwurf von 1937104, auf dem so bedeutende, widerstreitende Interessen aufeinanderstießen, lasse sich „keinem durchaus einheitlichen Prinzip“ unterwerfen: „Es handelt sich um die gerechte Lösung vielseitiger Probleme. Die verschiedenen, einander vielfach entgegengesetzten Prinzipi100
Motivenbericht, 365. Motivenbericht, 366. 102 Zitiert nach Swoboda, in: Verh. des 6. DJT in der Tschechoslowakei 1933, Gutachtenband, 48. 103 Vgl. Swoboda, ebda, 45 ff. 104 Swoboda, Vorträge, 28; hieraus auch die folgenden Zitate; vgl. ders., in: DJZ 1936, 983 ff. (zum Schadensersatzrecht des Entwurfs); ferner die Rezension der deutschen Reformbestrebungen in: ZHR, Bd. 109 (1942), 269 ff. 101
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en, die für das Gebiet des Schadensersatzrechts gelehrt werden, und die in den beiden Extremen: der Schuldhaftung einerseits, der Erfolgshaftung andererseits gipfeln, haben daher die Aufgabe, regulierend aufeinander zu wirken, denn erst durch dieses Zusammenwirken werden sie wahrhaft brauchbar für die Zwecke des Lebens mit seiner unendlichen Mannigfaltigkeit. Nur in ihrem Zusammenwirken gewinnen sie jene Beweglichkeit, die nach den Bedürfnissen der jeweiligen Kulturepoche das eine oder das andere Prinzip stärker hervortreten läßt, wobei die Einzelbestimmungen es verhindern, daß die Eigenschaft der ,Beständigkeit , die für den Rechtsbegriff unentbehrlich ist, allzu sehr zurückgedrängt werde.“ Die Regelung des Entwurfs ermögliche es, die beiden Formen der Haftung im Sinne „der neuen Gedankenwelt unserer Zeit zu verfeinern und zu vertiefen, die das soziale Gewissen der Gegenwart in uns erstehen ließ“. Für den durch Zufall verursachten Schaden war die Haftung in § 1132 des Entwurfs (vgl. § 1311 ABGB) geregelt: „Wurde der Schaden durch Zufall verursacht, so ist derjenige zum Ersatze verpflichtet, der eine Vorschrift oder eine Einrichtung, die zufälligen Schäden vorbeugen sollen, verletzt oder den Zufall durch sein Verschulden veranlaßt hat.“ Neu waren die auch gegenüber der Novelle von 1916 erweiterten Abschnitte über die Haftung für einen in der Abwehr oder in Notstand verursachten Schaden (§§ 1133 – 1138 des Entwurfs von 1937). § 1140 des Entwurfs entspricht dem § 1310 ABGB: „Auch von den Unmündigen, den Geisteskranken oder Geistesschwachen, ferner von den zeitweilig unzurechnungsfähigen Personen selbst, kann der Ersatz des von ihnen verursachten Schadens, und zwar ganz oder mit einem angemessenen Teile namentlich dann verlangt werden, wenn der Beschädiger eben doch die Folgen seiner Handlung vorausgesehen hat, wenn sich der Beschädigte aus Schonung des Beschädigers nicht gewehrt hat oder wenn es mit Rücksicht auf die Vermögensverhältnisse des Beschädigers und des Beschädigten gerecht ist.“ Erweiternd gegenüber dem geltenden Recht war der Anspruch nicht mehr subsidiär ausgestaltet. Differenzierter als im ABGB war die Haftung für Hilfspersonen geregelt. § 1145 (§ 1313 a der Novelle von 1916) entsprach im wesentlichen § 278 BGB. Ganz neu war § 1146: „Der Unternehmer haftet für den durch die Arbeitnehmer seines Unternehmens in der ihnen anvertrauten Stellung verursachten Schaden.“ Diese bereits auf den Entwurf von 1924 zurückgehende Bestimmung wurde mit den Bedürfnissen des gegenwärtigen Wirtschaftslebens unter Berufung auf eine österreichische Entscheidung begründet105, in der es hieß, dass sonst „der durch das Verschulden eines Gehilfen dritten Personen zugefügte Schaden in Anbetracht der untergeordneten Stellung und der Vermögensverhältnisse dieses Gehilfen meist unersetzt bleiben müßte“ und dass „gerade in einem Großbetriebe, in welchem der Unternehmer selbst nach außen ganz zurücktritt und dem Publikum beinahe ausschließlich durch seine Angestellten gegenübersteht, die Möglichkeit einer Schädigung des Publikums durch die Bestellten sich mit deren Zahl, das ist mit dem gesteigerten Umfang des Betriebes, multipliziert, 105
Entwurf 1924, 728.
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während die Haftung des Unternehmers selbst bei der hier bekämpften Rechtsansicht kaum jemals in Anspruch genommen werden könnte“. – § 1150 lehnte wie das ABGB eine reine Tierhaltererfolgshaftung ab: „Verursacht ein Tier einen Schaden, so haftet derjenige dafür, der es dazu angetrieben, gereizt oder zu verwahren unterlassen hat.“ Der Entwurf von 1931 wollte eine Erfolgshaftung bei gefährlichen Tieren eintreten lassen106, wenn dem Halter die Gefährlichkeit bekannt war oder bekannt sein musste. Diese Haftung wurde auf Grund der Kritik insbesondere Swobodas in eine Verschuldenshaftung abgemildert (Aufsichts- und Verwahrungsverschulden). 5. Allgemeine Kennzeichnung des Entwurfs von 1937 und Zusammenfassung Es war nicht Ziel der Kodifikationsarbeiten107, ein neues Gesetzbuch zu schaffen, sondern den Text des ABGB „zu berichtigen bzw. zu modernisieren und mit der mit dem Ehegesetz von 1919 begonnenen Arbeit fortzufahren“. Nach Weiß war der Gedankengang etwa der gewesen108, „daß man sich sagte, wir wollen das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch zum Ausgangspunkt nehmen, aber es verbessern. Wir wollen es den geänderten sozialen Verhältnissen anpassen, wir wollen ferner eine Reihe von neuen Institutionen hineinbringen, die das Gesetzbuch bisher vermissen ließ, wie über Ausgedinge oder Differenzgeschäfte. Wir wollen ferner das Gesetzbuch auch in seinem Aufbau verbessern, und zwar dadurch, daß man die alten Hofdekrete zum ABGB, insoweit sie heute noch fortgelten, und den Inhalt der Nachtragsgesetzgebung in den Text verarbeiten. Mit einem Worte: wir wollen zwar im bürgerlichen Recht den geistigen Zusammenhang mit der Vergangenheit aufrechterhalten, aber wir wollen doch ein Gesetzbuch schaffen, das nicht mehr aus dem Jahre 1811, sondern aus dem Jahre 1936 oder 1938 stammt. Der Plan läßt also ein Janusgesicht vor uns erscheinen; auf der einen Seite soll dasjenige, was aus der Vergangenheit erhaltenswert ist, erhalten bleiben, auf der anderen Seite aber doch etwas Neues geschaffen werden.“ Als hiermit nicht unvereinbar hielt die Kommission das Bemühen109, auch „den ästhetischen Anforderungen zu entsprechen, indem sie den der gegenwärtigen Zeit widersprechenden, veralteten Text beseitigte, die systematischen Mängel durch Abweichungen im Plane der Kapitel oder durch Umstellung einzelner Bestimmungen größerer Partien oder auch ganzer Kapitel … milderte oder indem sie durch genauere Formulierung den latenten Inhalt alter Bestimmungen frei machte“. Selbst bei größeren Eingriffen handelte es sich nach Meinung der Kommission nur um die „Entwicklung, Ergänzung und Korrektur von Bestimmungen der Novellen, die in einigen Be106
Vgl. Motivenbericht, 323. Motivenbericht, 14; kritisch hierzu Dnistrjanskij, in: Zentralblatt 1932, 743 ff., 748 ff., 754 ff., und ders., in: Zeitschrift für osteuropäisches Recht 1934/35, 484 ff., nach dessen Ansicht der Entwurf zu wenig Reformen enthält und sich im formalen Bereich teilweise zu eng an das deutsche BGB anlehnt. 108 Weiss, Vorträge, 8. 109 Motivenbericht, 14. 107
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ziehungen ein Sprung ins Dunkle bedeuteten“110. Was die wenigen Änderungen von grundsätzlicher Bedeutung anging (Eherecht, Stellung der unehelichen Kinder, Registerpfandrecht, Kollektivverträge), so meinte die Kommission, dass sie die „schreienden Mängel und die Lücken der bisherigen Rechtsordnung, die durch keine gewalttätige Auslegung beseitigt werden konnten“, nicht hätte unberücksichtigt lassen können. Demgegenüber hatte sich die Kommission nicht dazu entschließen können111, „das bisherige System durch ein neues System zu ersetzen“. Hätte sie dies getan, so hätte sie notwendigerweise ein neues Gesetzbuch geschaffen und wäre „offenkundig von der ihr gestellten Aufgabe“ abgewichen. Im übrigen kehrte der Entwurf zur Redaktionsmethode Zeillers zurück, die erst durch den Eingriff der drei Teilnovellen von 1914 – 1916 „zum Nachteile der Übersichtlichkeit, Verständlichkeit und der praktischen Anwendbarkeit, aber auch auf Kosten der Eleganz des Gesetzbuchs“ verletzt worden sei.112 Diese „Art der Textierung“ hatte zur Zerlegung vieler Paragraphen des Entwurfs von 1931 in mehrere Bestimmungen genötigt113. Vermieden worden war die Aufnahme von Begriffsbestimmungen (Definitionen) möglichst „mit Rücksicht auf die moderne gesetzgeberische Technik, die, wie es scheint, mit Recht Begriffsbestimmungen aus dem Gesetz ausschließt“114. Ferner wies der Motivenbericht darauf hin, dass die von der Öffentlichkeit, den Ministerien und den Interessenverbänden vorgelegte Kritik am ABGB nur wenig Änderungen verlangt hätten,115 die „tiefer in das Leben der einzelnen oder ganzer Klassen eingriffen“. Im Ganzen sei die Kritik konservativer als die Gesetzkommission selbst gewesen. Dies könne, so der Mot.-Bericht weiter, überraschen, wenn man erwäge, „daß die Revision eines Gesetzbuches durchgeführt wurde, das nach einer beinahe sechzigjährigen Arbeit vor 120 Jahren in einem absolutistischen und bürokratischen Staate vollendet worden ist, und daß dieses Gesetzbuch selbst in überwiegendem Maße, und zwar in den Grundsätzen und in den Einzelheiten, nur eine Transkription der im Altertume und im Mittelalter in einem ganz vom Milieu der gegenwärtigen Zeit verschiedenen sozialen Milieu redigierten Normen war.“ Vielleicht gehe „man110
Motivenbericht, 15; hieraus auch das folgende Zitat. Motivenbericht, 15. 112 Motivenbericht, 19. 113 Gleichwohl umfasste der Entwurf nur 1369 Bestimmungen (im Vergleich zu den über 1.500 Bestimmungen des durch die Novellen geänderten ABGB), wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass die Bestimmungen des Familienrechts fehlen. 114 Motivenbericht, 22. Die tschechische Fassung des Entwurfs, deren Rechtsterminologie in der deutschen Fassung des Motivenberichts generell mitaufgeführt wird, ist sehr genau durchgearbeitet. Insgesamt war man bemüht, „einen von Fremdwörtern befreiten, klaren und juristisch präzisen Wortlaut herzustellen“, wozu sich die Kommission der Mitarbeit eines erfahrenen tschechischen Sprachkenners versichert hatte (und zwar Haller, verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Nase rec; Motivenbericht, 11); das Zitat bei Mayer, in: Prager JZ 1932, 215. 115 Motivenbericht, 16; hieraus auch die folgenden Zitate. 111
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ches aus dem bezeichneten Quietismus auf Rechnung irgend welchen Strebens nach Stabilität der Rechtsordnung, das vielen eigen ist, die sich mit dem Rechte befassen, doch drängt sich mehr die Überzeugung auf, daß der Bau selbst, der geändert wird, sehr solid ist, daß andererseits das Rechtsgefühl in dem Bereiche, den wir bürgerliches Recht nennen, in der historischen Zeit sich nur sehr wenig ändert, wobei es allerdings unzweifelhaft erscheint, daß schon die unter dem Namen der Redaktion der Novellen bekannte Redaktion die wichtigsten Widersprüche zwischen der in der Vergangenheit entstandenen Rechtsordnung und dem sozialen Leben der Gegenwart, wie insbesondere im Arbeitsrechte, überbrückt hat.“ Das zusammenfassende Urteil von Swoboda, der als Mitautor die Schlussfassung des Entwurfs mitbestimmt hat, dürfte im Wesentlichen auch heute noch zutreffend sein116 : In den wichtigsten Regelungen des Entwurfs habe sich das Bestreben offenbart, „das Gesetzbuch harmonisch und organisch an das alte Recht anzuschließen, zugleich aber den Bedürfnissen der Gegenwart und Zukunft zu entsprechen. In der Tat gibt es kaum einen Paragraphen, der nicht eine Änderung erfahren hätte. Und doch waltet über dem neuen Gesetzgebungswerk der gleiche Geist, der das alte Gesetzbuch befruchtete, der in die Zukunft blickt und durch eine freiere Stellung des Richters gegenüber dem Gesetz eine Vollständigkeit des Rechts im höheren Sinne begründet, durch jenes kritische Selbstdenken, das Kant von seinen Schülern gefordert hat und das es verhindern muß, daß wir zum Gipsabdruck der Vergangenheit und ihrer Lehren werden, das uns aber instand setzt, die von den großen Meistern der früheren Zeit geschaffenen Werke zu erhalten und sie in veränderter Gestalt einzugliedern in das lebendige Geschehen der Gegenwart und der Zukunft, immer aber die Bestimmungen des Gesetzes anzupassen an die Bedürfnisse unseres Staates und seiner verschiedenen Staatsvölker. Alle großen Grundbegriffe unseres bürgerlichen Rechtes, die oft so vorteilhaft von den römischen Rechtsanschauungen abweichen, sind dadurch entstanden, daß Zeiller die Anregungen in Kants Philosophie verwertete und praktisch brauchbar gestaltete. Darin liegt zum großen Teil das Geheimnis der Lebenskraft dieses Gesetzbuches, die dem Zusammenwirken der beiden großen Söhne des deutschen Nordens und des deutschen Südens, des größten deutschen Philosophen und des größten praktischen und theoretischen Juristen des alten Österreichs zu danken war.“ Ergänzend wäre hier noch auf den Beitrag der tschechischen Juristen hinzuweisen, die ohne jede nationale Engstirnigkeit den Geist des Zeillerschen Werkes nahezu unbeschädigt in das neue tschechische Original hinübergerettet haben. Insoweit wurde das ABGB zumindest in der Tschechoslowakei, ähnlich wie im 19. Jahrhundert das französische Recht im Rheinland, als eine Art übernationales Recht angesehen. Die aufgezeigten Vorzüge des ABGB habe der Entwurf, so Swoboda abschließend, „durchaus nicht aufgeben (wollen), er will sie nur noch klarer herausarbeiten, die Unsicherheiten beseitigen, die naturgemäß dieser durchaus eigenartigen Schöpfung anhaften mußten, und durch Verwertung der Erfahrungen eines Jahrhunderts und des geistigen Umbruchs unserer eigenen Zeit zum Wohle unserer Be116
Swoboda, Vorträge, 29 f.
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völkerung ohne Unterschied des Standes und ohne Unterschied der Nation die Grundbegriffe möglichst klar und praktisch wertvoll gestalten“. Der Entwurf von 1937 stellt eine eigenständige Leistung der tschechoslowakischen Jurisprudenz der Zwischenkriegszeit dar und ist dem Geist der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts verpflichtet. Gleichzeitig ist er als eine originelle Weiterentwicklung des ABGB anzusehen, dessen Einfluss, wäre er Gesetz geworden, auf den mittelost- und südeuropäischen Raum damit erheblich gefestigt und verstärkt worden wäre117. II. Die Wissenschaft vom ABGB (Jarmila Pokorna, Josef Fiala) 1. Einleitung Das erste Gesetz des nach der Beendigung des Ersten Weltkriegs entstandenen tschechoslowakischen Staates war die sog. Rezeptionsnorm (Gesetz Nr. 11/1918 Slg. vom 28. Oktober 1918), durch die alle Rechtsvorschriften von Österreich-Ungarn übernommen wurden. Auf dem Gebiet des Eigentumsrechts hatte dies die Übernahme des österreichischen bürgerlichen Rechts (vor allem des ABGB vom Jahre 1811 im Wortlaut der späteren Vorschriften) für Böhmen und Mähren sowie des ungarischen Gewohnheitsrechts für die Slowakei und das karpatische Russland (wenn wir die nicht lange anhaltende Ausnahme von Hlucˇnsko im Nordmähren übergehen) zur Folge. Es trat dadurch ein in einem unitarischen Staat spezifischer Zustand ein, ein sog. rechtlicher Dualismus und das daraus hervorgehende grundsätzliche Problem 117 Es sei noch darauf hingewiesen, dass 1937 auch der Entwurf eines Handelsgesetzbuches, Erstes und Zweites Buch, vorlag (ins Deutsche übersetzt u. a. von Josef Smitek, 1938). Dem Entwurf von 1937 liegt nach dem Motivenbericht der Grundsatz einer konservativen Reform zugrunde. Die Arbeit in der Kommission hatte sich darauf beschränkt, die Bestimmungen des geltenden Handelsrechts zu vertiefen und zu vollenden, gegebenenfalls zu modifizieren. Hierbei wurden keineswegs sämtliche Neuerungen des deutschen Handelsgesetzbuchs von 1897 übernommen. Eine Modernisierungsdiskussion, wie sie dann ab 1938 im Handelsrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht stattgefunden hat (hierzu W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Protokolle der Ausschüsse, Handelsrechtsausschuß, 1997, m.w.N.), ist, soweit feststellbar, in der Prager Kommission nicht geführt worden. Von der äußeren Form her ist der Entwurf überaus ansprechend. Anders als das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch und das Handelsgesetzbuch erschließt sich der Entwurf nicht zuletzt durch seine größere Ausführlichkeit auch dem juristisch nicht vorgebildeten Leser, ohne dass man sagen kann, dass hierunter die juristische Genauigkeit gelitten hätte. Hinzuweisen ist auch auf den außerordentlich sorgfältig abgefassten Motivenbericht. Dieser kennzeichnet zwar die Änderungen gegenüber dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch hinreichend genau, verschweigt aber die Vorbilder für die vorgeschlagenen Änderungen, die nicht selten dem deutschen Recht, aber auch anderen ausländischen Handelsrechten und Entwürfen entnommen wurden. Von dieser Sicht aus ist der Entwurf von 1937 ein weiteres herausragendes Beispiel der hohen Gesetzgebungskultur in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit und ein wichtiger Beitrag zur europäischen Rechtskultur (ausführlich zum HGB-Entwurf von 1937: W. Schubert, in: G. Köbler/H. Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell, 1997, 1183 ff.).
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der damaligen Rechtspolitik – die Vereinheitlichung der Rechtsordnung. Das Problem blieb während der ganzen Zeit der Ersten Republik ungelöst. Im Rahmen des bürgerlichen Rechts kamen zwei Tendenzen zum Ausdruck, die die verlangte Unifikation und dadurch auch die Konsolidierung der Rechtsordnung sichern sollten. Beide zeigten sich gleich in den ersten Jahren nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik. Die erste Tendenz liegt in den nach dem 28. Oktober 1918 verwirklichten Teiländerungen der zivilrechtlichen Vorschriften: a) Die zivilrechtlichen Verhältnisse wurden auch durch verschiedenste Gesetze der anderen Rechtszweige reguliert. Unter ihnen waren die Gesetze über die Bodenreform von größter Bedeutung (Gesetz Nr. 215/1919 Slg. über Besetzung des großen Grundbesitzes – Beschlagnahmegesetz, Gesetz Nr. 81/1920 Slg. über Zuteilung des besetzten Bodens – Zuteilungsgesetz, Gesetz Nr. 329/1920 Slg. über Übernahme und Ersatz für das besetzte Bodenvermögen – Ersatzgesetz) und weiter die Gesetze über den Schutz der kleinen Pächter und die Gesetze über die Sozialversicherung. b) Es gab Vorschriften, die ihre bisherige zivilrechtliche Regulierung bewahrten (das galt vor allem für das ABGB), aber für bestimmte Rechtsverhältnisse, die sich bis jetzt nach zivilrechtlichen Regulierungen richteten, wurden neuen Bestimmungen verankert. Als Beispiele können das Gesetz Nr. 29/1920 Slg. über die Regulierung der Arbeits- und Lohnverhältnisse der Heimarbeit und viele Vorschriften über Enteignung (z. B. Gesetz Nr. 438/1919 Slg. über Elektrifizierung) dienen. c) Eine spezielle Gruppe dieser Richtung der Konsolidierung der zivilrechtlichen Vorschriften bilden diejenigen, derer Zweck in der Aufhebung mancher Bestimmungen des ABGB bestand, oder die diese Bestimmungen ersetzten. Zu diesen Vorschriften gehören vor allem die sog. Ehenovellierung (Gesetz Nr. 320/1919 Slg. durch das die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes über Förmlichkeit des Ehevertrages, über Ehetrennung und über Ehehindernisse geändert werden) und das Gesetz Nr. 447/1919 Slg. über die Verminderung des Minderjährigkeitssalters. Die zweite grundlegende Richtung bestand in dem Bemühen, das bürgerliche Gesetzbuch im Rahmen der Einigung des in Böhmen und Mähren geltenden Rechts und des in der Slowakei und im karpatischen Russland geltenden Rechts zu unifizieren oder zu kodifizieren. Im Laufe der Arbeiten entstanden mit verschiedener Intensität sechs unterschiedliche Ideen, wie die Konsolidierung der Rechtsordnung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts zu verwirklichen sei: • Neuveröffentlichung des österreichischen ABGB in tschechischer Sprache und Erweiterung seiner Gültigkeit auf das ganze Staatsgebiet; • eine kleine Revision des österreichischen ABGB und seine Erweiterung – im revidierten Wortlaut – auf das ganze Staatsgebiet;
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• eine partielle Unifikation des in Böhmen und Mähren, in der Slowakei und der karpatischen Ukraine geltenden bürgerlichen Rechts, wobei die Partikularität der Regelung zum Teil bewahrt werden sollte; • eine vollständige Unifikation des tschechischen und slowakischen Rechts ohne bedeutsamere Modernisierung; • eine vollständige Unifikation mit kleiner Modernisierung der Rechtsordnung oder • die Entwicklung eines völlig neuen und den damaligen Bedingungen entsprechenden einheitlichen bürgerlichen Gesetzbuchs. Bei der Bewertung dieser verschiedenartigen Vorschläge kamen die damalige ökonomische und soziale Situation und ihre Entwicklung zum Ausdruck. Dank der Beiträge vieler Persönlichkeiten aus der juristischen Lehre und Praxis, die in den Fachzeitschriften in den ersten Monaten nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik veröffentlicht wurden, überwogen die Stimmen zur Schaffung eines eigenen tschechoslowakischen bürgerlichen Kodex. Aber schon bei der organisatorischen Vorbereitung zur Konsolidierung der Rechtsordnung wurde es offensichtlich, dass die damals herrschenden politischen Parteien keine umfangreichen Kodifikationsarbeiten wollten, da aufgrund der Revolutionssituation nach dem Krieg die Aufnahme radikaler Ideen befürchtet wurde. Aus diesem Grunde wurden schrittweise die Ideen zur Einigung der Rechtsordnung ohne durchgreifende Reformen realisiert. Interessant ist auch die Tatsache, dass nicht einmal die Verfassung der Tschechoslowakischen Republik aus dem Jahre 1920 die Vereinheitlichung der zivilrechtlichen Regelungen brachte. Die Verankerung des Grundsatzes, dass die Richter nur an das Gesetz gebunden sind, bedeutete, dass in der Slowakei weiterhin das ungarische Gewohnheitsrecht galt, aber nur dasjenige, das vor der Veröffentlichung der Verfassung entstanden war. Nach der Veröffentlichung der Verfassung hatten die neuen Gewohnheiten nicht mehr die Kraft von Rechtsquellen. Dadurch trug auch die Verfassung zur faktischen Erweiterung der ABGB-Normen auf das ganze Staatsgebiet bei. Ein weiterer zur Applikation des ABGB in der Slowakei beitragender Faktor waren die Richter mit tschechischer Nationalität. Diese in der Slowakei (und im karpatischen Russland) wirkenden Richter kannten in vielen Fällen die Grundsätze des ungarischen Gewohnheitsrechts nicht und benutzten deshalb die in Böhmen und Mähren geltenden Vorschriften. Was die Organisation der Vereinheitlichung betraf, war das Ministerium für Unifikationen zuständig, aber für die Vereinheitlichung des Privatrechts als solches war das Justizministerium zuständig. Als Nachweis der Bemühungen, keine tiefen Änderungen durchzuführen, kann auch die vom Justizministerium ausgearbeitete Übersetzung des ABGB (ergänzt um weitere zivilrechtliche Vorschriften einschließlich der nach dem Jahre 1920 veröffentlichten Vorschriften) dienen. Das Ministerium schlug vor, dass diese Übersetzung als ein neues tschechoslowakisches bürgerliches Gesetzbuch verabschiedet werde. Diese Absicht wurde aber nicht verwirklicht, da die zur
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Übersetzung von bedeutenden Theoretikern erbetenen Gutachten für eine durchgreifende Revision eintraten (z. B. Jan Krcˇmrˇ). Auf Grund dieser Schlussfolgerungen führte das Justizministerium eine Umfrage unter Sachverständigen durch, in der zwischen der Bildung eines neuen Kodex und der Revision des ABGB mit Veröffentlichung des Textes in nationaler Sprache entschieden werden sollte. Die Idee der kleinen Revision des ABGB und Erweiterung seiner Gültigkeit auf die Slowakei und das karpatische Russland wurde vor allem von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität in Prag unterstützt. Schließlich wurde entschieden, dass die kleine Revision verwirklicht wird. Die Entscheidung entsprach den damals überwiegenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen der Tschechoslowakischen Republik Zur Verwirklichung der Revision wurden im Jahre 1920 fünf Subkommissionen geschaffen, die unter Teilnahme von Theoretikern und Praktikern die Vorschläge für die einzelnen Teile des bürgerlichen Kodex vorbereiten sollten. An der Spitze der Subkommissionen standen die folgenden Hauptreferenten: für den allgemeinen Teil Egon Weiss; für Familien- und Eherecht Bruno Kafka; für Sachenrecht Miloslav Stieber; für Erbrecht Emil Svoboda; für Schuldrecht Jan Krcˇmrˇ. Im Laufe der Jahre 1921 – 1923 bearbeiteten die Subkommissionen die Vorschläge, deren Ergebnis in einem Gesetzentwurf mit 1395 Paragraphen vorlag. Dieser Gesetzentwurf wurde veröffentlicht und führte in den folgenden Jahren zu einer regen wissenschaftliche Diskussion. Der Entwurf wurde vom Ministerium für Unifikationen unter dem Gesichtspunkt der Vereinheitlichung mit dem rechtlichen Zustand in der Slowakei behandelt. Am Anfang des Jahres 1926 wurde beim Justizministerium eine Kommission für die Superrevision des Gesetzentwurfs des tschechoslowakischen bürgerlichen Gesetzes eingerichtet. Ihre Hauptaufgaben waren die Vereinheitlichung der unterschiedlichen Arbeitsergebnisse der Subkommissionen sowie die Bearbeitung der Erinnerungen. Die Arbeit der Kommission zog sich in die Länge, weshalb am Ende der 1920er Jahre wieder eine Diskussion über Art und Ziele der Kodifikation entstand. Die Ansichten waren erneut unterschiedlich. Eine der Richtungen neigte zu der Ansicht, dass die Reform des bürgerlichen Gesetzes mehr als 100 Jahre an Arbeit in Anspruch genommen hätte und erst vor dem Ersten Weltkrieg unter Teilnahme der besten tschechischen Juristen beendet worden war. Das bedeutete, dass die Tschechoslowakei von Österreich-Ungarn schon ein modernes bürgerliches Recht übernommen hatte. An die weiteren Umwandlungen wäre deshalb mit großer Vorsicht heranzugehen. Die offizielle Ansicht, die auch die weiteren legislativen Arbeiten beeinflusste, ging von der Überzeugung aus, dass die kleine Revision des bürgerlichen Rechts sowieso nötig sei und dass das österreichische ABGB auch auf die Slowakei erweitert werden sollte. Die gerichtliche Praxis erweiterte außerdem in der Slowakei und im karpatischen Russland das ABGB faktisch durch ihre Entscheidungstätigkeit.
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Im Laufe der ersten zehn Jahre nach der Entstehung der selbständigen Tschechoslowakischen Republik wurde über Unifikation und Novellierung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts mehr diskutiert als gearbeitet, weshalb die Ergebnisse der legislativen Arbeiten nur unbedeutend waren. Die Arbeiten wurden erst am Anfang der dreißiger Jahre intensiviert. Das Justizministerium konzentrierte sich gemeinsam mit dem Ministerium für Unifikationen auf die Superrevision des bearbeiteten partiellen Gesetzentwurfs, mit dem Ziel, die Unifikation des bürgerlichen Rechts zu erreichen. Auf dieser Weise entstand der Entwurf für das Gesetzbuch und dessen Motivenbericht, den das Justizministerium im Jahre 1931 im Druck unter dem Titel „Gesetz, durch das das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch veröffentlicht wird, Teil I – Text des Gesetzes, Teil II – Motivenbericht“ erscheinen ließ. Die Kommission für Superrevision selbst hielt den Entwurf nur für eine Modernisierung des ABGB-Textes mit Ergänzung der nach 1914 verabschiedeten Novellierungen und erachtete es nicht für notwendig, an größere Änderungen heranzutreten. Der vorgelegte Gesetzentwurf wurde von der Fachwelt heftig kritisiert und als Misserfolg bewertet. Die folgenden Jahre brachten auch kein Ergebnis, obwohl eine Beschleunigung der Arbeiten verlangt wurde. Als Beispiel dafür kann das Memorandum der Rechtwissenschaftlichen Fakultät der Komensky-Universität in Bratislava aus dem Jahre 1935 angeführt werden, das in politischen und juristischen Kreisen einen breiten Widerhall fand, zur Beschleunigung der Arbeiten aber keinen Beitrag leistete. Auf dem Unifikationskongress, der 1937 in Bratislava stattfand, wurde mitgeteilt, dass ein neues bürgerliches Gesetzbuch gemeinsam mit einigen weiteren Gesetzen (vor allem Zivilprozessordnung, Strafgesetz und Strafprozessordnung) zum zwanzigsten Jahrestag der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik veröffentlicht werden. Zu dieser Zeit begann sich bereits Nervosität über die zugespitzte politische Situation bemerkbar zu machen. Die Tschechoslowakische Regierung legte dem Abgeordnetenhaus der Nationalversammlung einen Gesetzentwurf unter dem Titel „Regierungsgesetzentwurf, durch den das bürgerliche Gesetzbuch veröffentlicht wird (Prag 1937)“ vor. Der Entwurf wurde einer komplexen Bewertung unterzogen und es überwogen wieder die kritischen Stimmen. An dem Entwurf wurde vor allem ausgesetzt, dass er keine Regulierung des Familienrechts beinhaltete. Die Verhandlungen in den Ausschüssen der Nationalversammlung begannen ins Stocken zu geraten. Es folgte das Jahr 1938 und damit das Münchener Abkommen, die Gebietseinschränkung der Tschechoslowakischen Republik und in der Folge die staatsrechtlichen Änderungen während der sog. Zweiten Republik, die überhaupt keine Unifikation des Rechts ermöglichten. Weitere Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des materiellen Zivilrechts wurden dadurch für diesen Zeitraum endgültig beendet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs knüpfte die befreite Tschechoslowakei auf dem Gebiet der Rechtsordnung an die Vorkriegsrepublik an, also an den Zustand
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vor dem Münchener Abkommen. Es galt deshalb weiterhin das novellierte österreichische ABGB, die Rechtsordnung begann aber bedeutende Änderungen zu verzeichnen, durch die das ursprüngliche Wesen des bürgerlichen Rechts tief berührt wurde. Es waren dies hauptsächlich die Präsidentendekrete über die Nationalverwaltung (Nr. 5/1945 Slg.), über die Bodenkonfiskation (Nr. 12/1945 Slg.), über die Konfiskation des Feindesvermögens (Nr. 108/1945 Slg.) sowie manche ähnliche Verordnungen des Slowakischen Nationalrats, aber besonders die nationalisierenden Dekrete. Die Bildung des umfangreichen staatlichen Eigentums und die Anfänge der wirtschaftlichen Planung veränderten wesentlich die ganze Struktur der zivilrechtlichen Verhältnisse. 1946, nach dem Sieg der Kommunisten bei den Parlamentswahlen, erschien in ihrem Regierungsprogramm der Anspruch auf Verabschiedung einer neuen tschechoslowakischen Verfassung. Der Umsturz im Februar 1948, die Machtübernahme durch eine politische Partei, die Verkündigung der neuen Verfassung und weitere Nationalisierungen übten Druck auf die Änderungen des bürgerlichen Rechts aus. Diese Entwicklung erreichte den Gipfel mit der Verabschiedung des bürgerlichen Gesetzes am 25. Oktober 1950 mit Wirksamkeit ab dem 1. Januar 1951. Aus der angeführten Übersicht geht hervor, dass auf dem Staatsgebiet der heutigen Tschechischen Republik bis zum Ende des Jahres 1950 für die zivilrechtlichen Verhältnisse das ABGB mit kleinen Modifikationen und Novellierungen galt. Der Misserfolg der Rekodifikations- und Unifikationsarbeiten führte paradoxerweise zu einer großen Anzahl sehr gelungener wissenschaftlicher Werke, Kommentare und Lehrbücher. Die Lehre des bürgerlichen Rechts entwickelte sich den ganzen Zeitraum hindurch auf der Grundlage des ABGB. 2. Übersicht der bedeutendsten Werke In dem von uns betrachteten Zeitabschnitt ist das bekannteste Werk „Komentrˇ k e˘eskoslovenskmu obecnmu zkonku obe˘anskmu a obe˘ansk prvo platn na Slovensku a v Podkarpatsk Rusi“ [Kommentar zum tschechoslowakischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch und das in der Slowakei und im Karpatischen Rußland geltende bürgerliche Recht], Band I–VI, 1935 – 1937, das von einem Autorenkollektiv unter Führung von Frantisˇek Roucˇek und Jaromr Sedlcˇek bearbeitet wurde. Das Werk ist unter den anderen Werken das bedeutendste und dank seiner enzyklopädischen Breite wurde es immer dann benutzt, wenn es um grundlegende Probleme des Zivilrechts ging und wenn eine klare und verständliche Auslegung der verwandten Institute geboten werden sollte. Die Bedeutung des Werks stieg in den letzten Jahren im Zusammenhang mit den großen Änderungen, zu denen es in der Tschechischen Republik kam. Das Werk wird als Schlüssel zum Verständnis der Grundlagen des Privatrechts und seiner Wichtigkeit für den demokratischen Staat angesehen. Diese Tatsache bestätigt auch die vor mehr als sechzig Jahren verfasste Vorrede, die frei übersetzt folgende Gedanken zum Ausdruck bringt: „Die Aufgabe des Ziviljuristen in dieser Zeit ist über alle Maßen schwierig. Auf (der) einen Seite darf er nicht den alltäglichen Losungen unterliegen, die in den Zeiten
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der sozialen Revolutionen mit größerer oder minderer Intensität erscheinen, auf der anderen Seite darf er nicht daran festhalten, was unwiederbringlich schwindet. Er darf nicht vergessen, (was an) Grundsätzen des Verhältnisses des Individuums zu dem Individuum und des Individuums zu der Gesellschaft besteht, die drei tausend Jahre lang, die ganze Zeit hindurch, in der unsere europäische Kultur dauert, unabänderlich bleiben. Diese Grundsätze darf dann der gute und gerechte Richter nicht übertreten, wenn er nicht Böses antun will. Es geziemt sich die Sachen auseinanderhalten, die beständig und die vorübergehend sind.“ Weitere Werke, die bis zur Aufhebung des ABGB herausgegeben wurden: X Frantisˇek Bauer, O povinnosti k nhrade˘ neprˇm sˇkody podle obcˇanskho zkonka [Pflicht zum Ersatz des indirekten Schaden nach dem bürgerlichen Gesetzbuch], 1945 Frantisˇek Bilovsky´, vod do nauky o prvnch fflkonech bezfflcˇinny´ch [Einführung in die Lehre über wirkungslose Rechtshandlungen], 1936 Antonn Hartmann, Posledn porˇzen [Die letztwillige Verfügung], 1935 Jan Heller, O verˇejnmu prˇislben, s fflvodem o perfekci smluv [Die öffentliche Zusage, mit einer Einführung über Vollkommenheit der Verträge], 1916 Bruno Kafka, Prvo rodinn (nvrh subkomittu pro revisi obcˇanskho zkonku pro Cˇeskoslovenskou republiku) [Familienrecht – Der Vorschlag der Subkommission für die Revision des bürgerlichen Gesetzbuches für die Tschechoslowakische Republik], 1924 Jan Krcˇmrˇ, Obligace ze smluv a prˇbuzny´ch skutecˇnost [Die Obligationen aus den Verträgen und verwandten Tatsachen], 1917 – Prvo obligacˇn [Obligationsrecht], 1920 – Prvo rodinn [Familienrecht], 1920 – Prvo knihovn [Grundbuchrecht], 1923 – Prvo zstavn [Pfandrecht], 1924 – Prvo de˘dick [Erbrecht], 1924 – Zklady prˇednsˇek o prvu obcˇanskm, I.–V. dl [Die Grundlagen der Vorträge über Zivilrecht, Teil I.–V.], 1924 – 1928 – Prvo obcˇansk, I.–V. dl (ucˇebnice), [Zivilrecht, Teil I.–V., Lehrbuch], 1928 – 1936 Vladimr Kubesˇ, Prˇspe˘vek k nauce o zˇalobch z bezdu˚vodnho obohacen [Beitrag zur Lehre über Klagen auf unbegründete Bereicherung], 1931 – Smlouvy proti dobry´m mravu˚m [Die Verträge gegen gute Sitten], 1933 – Nemozˇnost plne˘n a prvn norma [Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm], 1938 Robert Mayr, Soustava obcˇanskho prva, 4 svazky (1. Nauky obecn, 2. Prva veˇcn, 3. Prvo obligacˇn, 4. Prvo rodinn a deˇdick) [System des Zivilrechts, 4 Bände – 1. Die allgemeine Lehre, 2. Sachrechte, 3. Obligationsrecht, 4. Familien- und Erbrecht], 1926 – 1929
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Adolf Prochzka, Zklady prva intertemporlnho, se zvlsˇtnm zrˇetelem k § 5 obcˇ. zk. [Die Grundlagen des intertemporalen Rechts, mit einer besonderen Rücksicht auf § 5 des bürgerlichen Gesetzbuches], 1928 Jaromr Sedlcˇek, Vlastnictv a vlastnick prvo [Eigentum und Eigentumsrecht], 1919 – Obligacˇn prvo. Obecn nauky o prvnch jednnch obligacˇnch a o spleˇn zvazku˚ [Obligationsrecht. Die allgemeine Lehre über Obligationsrechtshandlungen und über Leistung der Verpflichtungen], 1924 – Obcˇansk prvo cˇeskoslovensk, Vsˇeobecn nauky [Das tschechoslowakische Zivilrecht, die allgemeine Lehre], 1931 – Prˇspeˇvek ku prvu prˇedkupnmu [Beitrag zum Vorkaufsrecht], 1931 – Neprav jednatelstv a versio in rem [Die unechte Geschäftsführung und versio in rem], 1933 – Rodinn prvo [Familienrecht], 1934 – Vlastnick prvo [Eigentumsrecht], 1935 – Hospodrˇstv a novy´ obcˇansky´ zkonk [Die Wirtschaft und das neue bürgerliche Gesetzbuch], 1937 – Reforma manzˇelskho prva [Die Reform des Eherechts], 1938 – Vy´znam kodifikace soukromho prva [Die Bedeutung der Kodifikation des Privatrechts], 1939 Miloslav Stieber, Veˇcn prvo (nvrh subkomittu pro revisi obcˇanskho zkonku pro Cˇeskoslovenskou republiku) [Sachrecht – Der Vorschlag der Subkommission für die Revision des bürgerlichen Gesetzbuches für die Tschechoslowakische Republik], 1923 Emil Svoboda, Ve˘cn prva uzˇvac [Die sachlichen Benutzungsrechte], 1923 ˇ eskoslovenskou re– De˘dick prvo (nvrh subkomittu pro revisi obcˇanskho zkonku pro C publiku) [Erbrecht – Der Vorschlag der Subkommission für die Revision des bürgerlichen Gesetzbuches für die Tschechoslowakische Republik], 1924 – O ve˘cny´ch prvech k ve˘ci ciz [Die sachlichen Rechte zu den Fremdsachen], 1925 – Prvo obcˇansk, prvo knihovn [Zivilrecht, Grundbuchsrecht], 1947 – Prvo zstavn [Pfandrecht], 1925 Egon Weiss, Obligacˇn prvo a nhrada sˇkody (nvrh subkomittu pro revisi obcˇanskho zkonku pro Cˇeskoslovenskou republiku) [Obligationsrecht und Schadenersatz – Der Vorschlag der Subkommission für die Revision des bürgerlichen Gesetzbuches für die Tschechoslowakische Republik], 1924
3. Kurze Charakteristik der bekanntesten Autoren a) Jan Krcˇmrˇ (1877 – 1950) Jan Krcˇmrˇ, geb. am 27. Juli 1877 in Prag, gehört zur der Generation von Juristen, die noch in der Zeit Österreich-Ungarns heranwuchsen. Seine Persönlichkeit stellt deshalb die Kontinuität in der Lehre des österreichischen und tschechischen Zivil-
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rechts dar. 1901 beendete er das Studium der Rechtswissenschaften an der Karls-Universität in Prag, kurz danach wurde er für Privatrecht habilitiert und schon 1911 wurde er ordentlicher Professor. Nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik nahm er an der Rekodifikation teil, er war Mitglied und Hauptreferent der Kommission für die Kodifikation des Zivilrechts beim Justizministerium. Krcˇmrˇ war auch in der Politik tätig: 1919 war er Mitglied der tschechoslowakischen Friedensdelegation in Paris, in den Jahren 1922 – 1927 war er ständiges Mitglied der tschechoslowakischen Delegation beim Völkerbund in Genf und er wirkte auch als Mitglied des ständigen Schiedsgerichtshofs in Haag. Zwischen den beiden Weltkriegen war er Minister für Schulwesen und Volkskultur. Die Publikationstätigkeit von Krcˇmrˇ umfasst eine ganze Reihe von bedeutsamen Titeln, vor allem aus dem Bereich des Zivilrechts, bekannt sind auch seine Arbeiten zum internationalen Privatrecht sowie seine politologischen Publikationen. Seine wissenschaftlichen Gedanken wurden vom römischen Recht beeinflusst (z. B. beim Lohnvertrag). Zu seinen bekanntesten Monographien gehören folgende Titel: Drzˇen [Der Besitz], 1911; Obligace ze smluv a prˇbuzny´ch skutecˇnost [Die Obligationen aus den Verträgen und verwandten Tatsachen], 1917. Weiters verfasste er folgende Lehrbücher: Prvo obligacˇn [Obligationsrecht], 1920; Prvo rodinn [Familienrecht], 1920; Prvo knihovn [Grundbuchrecht], 1923; Prvo zstavn [Pfandrecht], 1924; Prvo de˘dick [Erbrecht], 1924; Zklady prˇednsˇek o prvu obcˇanskm, I.–V. dl [Die Grundlagen der Vorträge über Zivilrecht, Teil I–V], 1924 – 1928, und in einer kurzen Zeit nacheinander in drei Ausgaben Prvo obcˇansk, I.–V. dl, ucˇebnice [Zivilrecht, Teil I–V, Lehrbuch], 1928 – 1936. b) Jaromr Sedlcˇek (1885 – 1945) Jaromr Sedlcˇek, geb. am 2. September 1885 in Austerlitz bei Brünn, studierte Rechtswissenschaften zuerst in Wien, wo er die rechtshistorische Prüfung ablegte, dann setzte er sein Studium an der tschechischen Universität in Prag fort, wo er nach Ablegung der übrigen Staatsprüfungen und Rigorosen im Jahre 1909 die akademische Würde eines Doktors der Rechtswissenschaft erwarb. Er wollte sein Studium fortsetzen und nahm deshalb an dem berühmten, von Josef Kohler geleiteten Seminar in Berlin teil. Auf dessen Veranlassung hin begann er sich mit den Fragen der rechtshistorischen Entwicklung des Versicherungsrechts zu befassen. Dieses wissenschaftliche Interesse wurde erst mit seiner ersten theoretischen Arbeit „O materilne˘-prvn funkci pojistky“ [Über die material-rechtliche Funktion der Versicherung], 1912, beendet. Nach einer kurzen Advokatur- und Gerichtspraxis arbeitete er als Bankbeamter und war auch bei einer Versicherungsanstalt beschäftigt. Sein Interesse an der wissenschaftlichen Arbeit führte 1917 zu seiner Habilitation, 1920 folgte seine Ernennung zum außenordentlichen Professor der Rechtswissenschaften. Seiner Ernennung gingen die folgenden Monographien voraus: Vlastnictv a vlastnick prvo [Eigentum und Eigentumsrecht], 1919 (er befasste sich hier mit den Fragen des subjektiven
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Rechts, vor allem mit den Theorien von Windschein und Thon), und: Zrusˇen obecnho statku [Aufhebung des Gemeindegutes], 1919. 1925 wurde er ordentlicher Professor für Zivilrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn. Das akademische Milieu bot ihm die geeignete Grundlage für seine wissenschaftlichen Arbeiten. Zuerst interessierte er sich für privatrechtliche Bestimmungen bei der Agrarreform: Pozemkov reforma [Agrarreform], 1922. 1924 begann seine intensivste wissenschaftliche Periode, die ihm die Position eines der bedeutendsten Ziviljuristen und Rechtsphilosophen in Europa einbrachte. Der Zeitabschnitt begann mit einer schrittweise herausgegebenen Monographie „Systm obligacˇnho prva“ [System des Obligationsrechts] in drei Bänden und kulminierte in der Ausgabe der Monographie „Obcˇansk prvo cˇeskoslovensk, Vsˇeobecn nauky“ [Das tschechoslowakische Zivilrecht, die allgemeine Lehre] im Jahre 1931. Das Werk bildete den Grundstein für seine weitere Forschungsarbeit. Zu den ausgereiften Werken, die sein rechtliches, aber auch philosophisches und soziologisches Denken dokumentieren, gehört „Rodinn prvo“ [Familienrecht], 1934, das evident unter Einfluss der französischen zivilrechtlichen Lehre geschrieben wurde. An das Werk knüpfte Sedlcˇek einige Jahre später mit dem Buch „Reforma manzˇelskho prva“ [Die Reform des Eherechts], 1938, an, in dem er mit der KantDefinition der Ehe polemisierte. In diesen Zeitabschnitt seines Schaffens fällt auch das Werk „Neprav jednatelstv a versio in rem“ [Die unechte Geschäftsführung und versio in rem] aus 1933, in dem er an sein früheres Interesse an den strittigen §§ 1035 – 1044 ABGB anknüpfte. In den Jahren 1934 – 1938 entstand das Werk „Prvo vlastnick“ [Eigentumsrecht], Kommentar zum § 351 und § 356 ABGB. In diesen Jahren gründete Jaromr Sedlcˇek gemeinsam mit Frantisˇek Roucˇek ein umfangreiches Autorenkollektiv, in dem alle bedeutsamen Persönlichkeiten der damaligen zivilistischen Rechtslehre vertreten waren, zum Zwecke der Ausarbeitung und Herausgabe eines Kommentars zum bürgerlichen Gesetzbuch. Die heutige juristische Öffentlichkeit kennt den Namen Sedlcˇek insbesonder im Zusammenhang mit diesem bis heute nicht überholten Kommentar zum damals geltenden bürgerlichen Gesetzbuch. Sedlcˇek selbst bearbeitete im Kommentar einen großen Teil der Einführung und des Abschnitts über die sich auf die persönlichen Eigenschaften und Verhältnisse beziehenden Rechte, weiters das Familienrecht, den überwiegenden Teil des Obligationenrechts und vieles aus dem Abschnitt über Gewährleistung, Änderung und Auflösung der Rechte und Pflichten. Bedeutsam ist auch seine Redakteurstätigkeit. Vom Jahre 1926 an wirkte er an der französisch-deutschen Zeitschrift „Revue internationale de la thorie du droit“ mit, deren Gründer Weyr, Kelsen und Duguit waren. Die Zeitschrift wurde von der internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit als eines der besten Rechtsperiodika bewertet. In der Zeitschrift gelang es Sedlcˇek, die von der Verallgemeinerung der zivilrechtlichen Institute ausgehenden rechtstheoretischen Studien zu veröffentlichen.
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Zur Problematik des Eigentums kehrte Sedlcˇek in der Zeit der Okkupation wieder zurück, als er nach der Schließung der Hochschulen die juristische Fakultät verlassen musste. Unter schwierigen Bedingungen bereitete er sein Werk „O vlastnictv“ [Über Eigentum] in der Form des platonischen Dialogs vor. Dessen Erscheinen erlebte er aber nicht mehr – er kam bei dem Luftangriff auf Brünn knapp vor dem Ende des Krieges (am 12. April 1945) ums Leben.
c) Frantisˇek Roucˇek (1891–unbek.) Frantisˇek Roucˇek wurde am 25. April 1891 in Nov Strasˇec geboren. Er studierte an der rechtswissenschaftlichen Fakultät in Prag und dann in Wien an der rechtswissenschaftlichen und philosophischen Fakultät. 1918 erlangte er die akademische Würde eines Doktors der Rechtswissenschaft an der tschechischen Universität in Prag, später arbeitete er als Oberkommissar am Ministerium für Unifikationen. Im Jahre 1925 habilitierte er sich an der Komensky-Universität in Bratislava für Zivilrecht. 1927 wurde er hier zum außerordentlichen Professor ernannt, 1931 zum ordentlichen Professor für tschechoslowakisches Zivilrecht und 1932 wurde er ordentlicher Professor des Zivil- und Wechselrechts an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn. In dieser Zeit wurde er bekannt als Schöpfer der sog. Jurilogie und Gegner der normativen Theorie. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er ordentlicher Professor an der politischen und sozialen Hochschule in Prag im Bereich der privatrechtlichen Politik, des internationalen Rechts und der Grundlagen der Rechtslehre. Seine ersten Publikationen befassten sich mit dem Problem der Verwaltung und schon damals zeigte Roucˇek die Fähigkeit zur formellen Auffassung des Rechts. Spätere Arbeiten hängen mit seiner legislativen Tätigkeit am Ministerium für Kodifikationen zusammen. Hier befasste er sich mit Problemen der Unifikation des in der damaligen Tschechoslowakischen Republik geltenden Zivilrechts. Er war der Autor des Gesetzentwurfs des vereinigten tschechoslowakischen Wechselgesetzes. Zu seinen Hauptwerken zählt vor allem „Obecn cˇst vodu do studia prva soukromho“ [Der allgemeine Teil der Einführung ins Studium des Zivilrechts], wo er sich von der traditionellen Weise der Auslegung abwendet und neue Wege zu den noetischen und methodologischen Richtungen sucht. Obwohl es ihm noch nicht gelang, den Widerspruch zwischen der traditionellen Auffassung des Zivilrechts und den neuen Gedanken völlig zu überwinden, wurde es von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wegen seiner ehrlichen Bemühung um wahrhafte wissenschaftliche Erkenntnisse geschätzt. Seine zweite Arbeit, „Systm sme˘necˇnho prva“ [System des Wechselrechts], hatte einen großen Einfluss auf die Benützung des neuen Wechselgesetzes. Daneben beschäftigte sich Roucˇek mit der Herausgabe von Gesetzen samt Kommentaren. Neben dem unvergesslichen Kommentar zum ABGB waren es noch die Kommentare zum Wechselgesetz und zum Gesetz betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
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Nach dem Jahre 1948 verließ er die Tschechoslowakische Republik, sein weiteres Schicksal ist unbekannt. d) Adolf Prochzka (1900 – 1970) Adolf Prochzka wurde am 5. August 1900 in Napajedla na Moraveˇ geboren. Er studierte bis 1924 an der rechtwissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn. Er arbeitete zunächst als Rechtsanwalt, fand darin aber keine Befriedigung. Bald ging er zur theoretischen Arbeit über und dachte an eine pädagogische Tätigkeit. Zu seinen ersten Arbeiten gehören der Beitrag „Obchzen zkona a interpretace“ [Umgehung des Gesetzes und Interpretation], die Studie „Zklady prva intertemporlnho, se zvlsˇtnm zrˇetelem k § 5 obcˇ. zk.“ [Die Grundlagen des intertemporalen Rechts, mit einer besonderen Rücksicht auf § 5 des bürgerlichen Gesetzbuches], 1928, und „Prˇspeˇvek k problmu subjektivnho prva“ [Beitrag zum Problem des subjektiven Rechts], 1928. 1928 habilitierte er sich an der rechtwissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn, 1934 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs ging er in die Illegalität, emigrierte und arbeitete später in Paris und London als Rechtsberater des Ministerpräsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung. Nach dem Ende des Krieges wurde er zum ordentlichen Professor ernannt, kehrte aber nicht mehr zur pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit zurück, sondern widmete sich seiner politischen Karriere und wurde wiederholt zum Minister ernannt. Nach dem Februar 1948 flüchtete er ins Ausland. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt, er starb 1970 in den USA. e) Vladimr Kubesˇ (1908 – 1988) Von der folgenden Juristengeneration ist an Vladimr Kubesˇ zu erinnern, der sich vom Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit an mit dem Zivilrecht befasste. Vladimr Kubesˇ wurde am 19. Juli 1908 in Brünn geboren. Von 1926 – 1930 studierte er an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität. Diese Fakultät bewertete er an der Neige seines Lebens mit folgenden Worten: „Unter den drei damaligen rechtswissenschaftlichen Fakultäten in der Tschechoslowakei (Prag, Brünn, Bratislava) war in der Zeit meines Studiums, d.i. in den Jahren 1926 – 1930, und auch früher und später, von der wissenschaftlichen Rücksicht her ohne Zweifel die Fakultät in Brünn an der Spitze. Hier blühten die Brünner rechtliche Schule (sog. reine Rechtslehre – anders gesagt normative Theorie) und die Brünner volkswirtschaftliche (teleologische) Schule, die von aufrichtigen Wissenschaftlern und hinreißenden Pädagogen, vor allem von Frantisˇek Weyr, ihrem ersten Dekan, von Karel Englisˇ, dem ersten Rektor der Masaryk-Universität, von Jaroslav Sedlcˇek, einem tief philosophisch denkenden ausgezeichneten Ziviljuristen, und von anderen Professoren geleitet wurde.“ Diese Bewertung der Qualität der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Masaryk-Universität erklärt, warum die meisten bekannten Zivil-
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juristen in unserer Übersicht mit ihr pädagogisch und wissenschaftlich verbunden waren. Sein erstes Buch „Prˇspeˇvek k nauce o zˇalobch z bezdu˚vodnho obohacen“ [Beitrag zur Lehre über Klagen auf unbegründete Bereicherung] publizierte Kubesˇ 1931. Die Arbeit ist philosophisch fundiert und steht am Anfang der Überwindung der Grenzen der reinen Rechtslehre. Des Autor löst hier mit Originalität die schwierige Problematik der actionis de in rem versio in der Beziehung zu den Kondiktionen mit Hilfe des § 7 ABGB über die naturrechtlichen Grundprinzipien. Im Jahre 1933 erschien sein zweites, sehr umfassendes Buch „Smlouvy proti dobry´m mravu˚m“ [Die Verträge gegen gute Sitten], das nicht nur den zivilrechtlichen, sondern auch den logischen und rechtlich-noetischen Bereich berührt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile, einen allgemeinen und einen speziellen. Besonders in dem speziellen Teil denkt der Autor über die Genesis des § 879 ABGB nach, widmet weiter dem Begriff „gute Sitten“ Aufmerksamkeit, überlegt die Folgen des Vertrages contra bonos mores und analysiert die kausale und abstrakte Rechtshandlung in Beziehung zu den guten Sitten. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre befasste er sich in seinen Publikationen und in den Vorlesungen auch mit den Fragen der Norm in der Rechtslehre, die philosophische Grundlage des bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jahre 1811, die philosophische Grundlage für das neue tschechoslowakische bürgerliche Gesetzbuch, den Kaufvertrag, Schadenersatz und die Kondiktionen. Am Anfang des Jahres 1938 publizierte er das Werk „Nemozˇnost plneˇn a prvn norma“ [Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm], das teilweise zivilistisch und teilweise rechtstheoretisch ausgerichtet war und in dem er die schwierigsten Fragen des Einflusses der Unmöglichkeit der Leistung auf die Existenz der rechtlichen Verpflichtung löste. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte Kubesˇ seine wissenschaftliche und pädagogische Arbeit fort und veröffentlichte Lehrtexte zum Zivilrecht, vor allem zum Sachenrecht. Sein Leben wurde von den Ereignissen im Februar 1948 tief beeinflusst: er wurde suspendiert und es wurde ihm verboten, Vorlesungen zu halten und zu prüfen. In einem konstruierten Prozess wurde er zu 13 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Nach sechs Jahren wurde er freigelassen, aber seine völlige Rehabilitierung erreichte er erst 1968. Im Herbst 1969 begann er an der erneuerten rechtswissenschaftlichen Fakultät in Brünn wieder zu lehren. Seine Tätigkeit hier dauerte aber nicht lange – dank der sog. Normalisation musste er die Fakultät verlassen. Trotz der Einschränkung der demokratischen Rechte engagierte er sich im Ausland und hielt regelmäßig Vorlesungen, vor allem an den Universitäten in Graz und in Wien. Im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit standen zu dieser Zeit Fragen der Rechtstheorie.
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III. Die Wahrnehmung des tschechoslowakischen ABGB und seiner Wissenschaft in Österreich (Hans-Christian Krasa) 1. Einleitung118 Mit der Konstituierung des tschechoslowakischen Staates am 28. Oktober 1918 durch den Prager Nationalausschuss fiel nicht nur ein bedeutender Teil der bisher zum Staatsgebiet der Habsburgermonarchie gehörenden Länder weg, es wurde auch ein seit mehr als einem Jahrhundert bestehender einheitlicher Rechtsraum aufgelöst. Die neuerstandene Republik war nun bestrebt, neben der Verfassungsordnung auch andere Rechtsgebiete, insbesondere das Zivilrecht, neu zu gestalten. Doch die zunächst nur als Provisorium von der Habsburgermonarchie übernommene Zivilrechtsordnung mit dem ABGB als ihrem Hauptgesetz überdauerte – mit geringfügigen Modifikationen – den neuerstandenen Staat119. Trotz der Trennung verfolgte man in Österreich weiterhin die Veränderungen des tschechoslowakischen Rechts. Dies zeigt sich nicht nur auf dem Gebiet des Zivilrechts, sondern in nahezu allen Bereichen des Rechts. Der umfangreiche Bestand an Werken zum tschechoslowakischen Verfassungs-, Verwaltungs-, Straf-, Strafprozess-, Zivilprozess- und Handelsrecht sowie der „Sammlung der Gesetze und Verordnungen des cechoslowakischen Staates“120 und entsprechender Gesetzesausgaben – vor allem in deutscher, teilweise in tschechischer Sprache – in österreichischen Bibliotheken (insbesondere in rechtswissenschaftlichen Fakultätsbibliotheken, Universitätsbibliotheken sowie der Nationalbibliothek in Wien) legen davon Zeugnis ab. In den österreichischen juristischen Zeitschriften wurde ebenfalls mit großem Interesse die Rechtsentwicklung im nördlichen Nachbarstaat wissenschaftlich behandelt, Neuerscheinungen am Buchsektor besprochen und Entscheidungen der tschechoslowakischen obersten Gerichte veröffentlicht121. 118
Paragraphen ohne weitere Angaben sind solche des ABGB. Zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik und ihrer Entwicklung in der Zwischenkriegszeit vgl. V. S. Mamatey/R. Luza (Hrsg.), Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1938, 1980; J. K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918 – 1978, 2. Aufl. 1978; Zur Weitergeltung des österreichischen Rechts in den Nachfolgestaaten der Monarchie, insbesondere in der Tschechoslowakei, vgl. H. Slapnicka, Österreichs Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraumes, 1973, insb. 11 ff., 18 ff., 23 f., 29 ff., 38 ff., 71 ff.; ders., Recht und Verfassung der Tschechoslowakei 1918 – 1938, in: K. Bosl (Hrsg.), Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik, 1969, 104 ff.; Weiters – leider ohne Hinweise auf weiterführende Literatur – E. Nowotny (Hrsg.), Österreichisches Recht in seinen Nachbarstaaten. Tschechien – Slowakei – Ungarn, 1997, insb. 77 ff., 83 ff. 120 Hrsg. von der Staatsdruckerei, Prag 1918 – 1944. 121 Vgl. dazu die Nachweise bei den einzelnen Zeitschriften unter Punkt 3. Einige Aussagen zu tschechoslowakischen Arbeiten, die sich nicht mit dem ABGB befassen, seien hier dennoch erwähnt, um zu zeigen, wie intensiv man sich in Österreich mit dieser „fremden“ Rechtsordnung befasste. So wird in der Besprechung der dritten Auflage des von H. Roppert/G. Weis 119
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Im Folgenden soll zunächst an Hand ausgewählter tschechoslowakischer Druckwerke, der österreichischen Fachzeitschriften sowie der österreichischen „Standardliteratur“ zum ABGB gezeigt werden, wie einheitlich die Zivilrechtswissenschaft auch noch nach 1918 war. Daran anschließend sollen die Auswirkungen der wissenschaftlichen Behandlung des tschechoslowakischen ABGB auf Österreich an Hand einiger ausgewählter Beispiele dargestellt werden. Zunächst sei aber noch auf ein sehr wichtiges Bindeglied zwischen Österreichern und Tschechoslowaken hingewiesen, dem „heute zweifellos eine besondere und bedeutende Stellung für den Bereich der deutschen Rechtskultur zukommt“122. Es war dies der seit 1923 regelmäßig abgehaltene „Deutsche Juristentag in der Tschechoslowakei“. Dem seit 1860 bestehenden „Deutschen Juristentag“ nachgebildet, diente er als länderübergreifendes Forum für deutschsprachige Juristen. 1933 wurde die Bitte geäußert, zur „Bekundung und Stärkung des regen Zusammenhanges zwischen der österr. und sudetendeutschen Juristenschaft [wäre] eine möglichst zahlreiche Beteiligung österreichischer Juristen an dieser Tagung wünschenswert“123. Doch schon seit bearbeiteten „Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“, Brünn 1933, die Entscheidung des OG Brünn vom 7. 4. 1933 zitiert, in der es heißt: „Der Unterlassungsanspruch setzt die Gefahr der Wiederholung nicht voraus.“ Und der Rezensent endet: „Vielleicht schließt sich auch der Oberste Gerichtshof dieser dem Gesetze und Gebote der Rechtssicherheit entsprechenden Ansicht einmal klar und unzweideutig an.“ (JBl 1934, 112). F. Kollross schreibt in seinem 1935 in Wien erschienen Werk „Die Exekution auf Vermögensrechte und Unternehmungen“ im Vorwort: „Da die Bestimmungen des den Gegenstand der Abhandlung bildenden §§ 330 – 344 EO. … auch in der Tschechoslowakei Geltung haben, konnte auch die tschechoslowakische Rechtsprechung berücksichtigt werden; sie steht durchaus im Einklang mit der Rechtsprechung der österreichischen Gerichte.“ Daher verweist der Autor öfters auch auf Entscheidungen des OG Brünn (vgl. 20 Fn. 6a, 29 ff., 35 Fn. 1, 39 Fn. 2a, 96 Fn. 1). Von den in einem Anhang im Volltext abgedruckten sechs Entscheidungen stammt immerhin eine vom OG Brünn (Nr. 5, 209 ff.: Plenarbeschluss vom 24. 6.1924, Präs. 15/24). Kollross verweist dabei ausdrücklich auf die Nr. 32 der Entscheidungssammlung von Schüller (siehe dazu unten 3.), der die Entscheidung entnommen ist. „Die tschechoslowakischen Gesetze sind „dem Österreicher größtenteils bekannt …, da die Gesetzgebung in der Tschechoslowakei auf diesem Gebiet [dh dem Zivilprozeßrecht] entschieden konservativer ist als die unsrige“. GerZ 1929, 335, in der Rezension der von E. Weiss herausgegebenen Gesetzesausgabe „Das Verfahrensrecht. III. Teil: Verfahrensrecht“, Prag 1929. Vgl. zum schonenden Umgang mit dem übernommenen Normenbestand auch Slapnicka, wie Fn. 119, 42; K. Gatter, in: GerZ 1928, 371. Fehlt es an einem österreichischen Gesetz für ein bestimmtes Rechtsgebiet, dann wird mitunter auf entsprechende Gesetze der Tschechoslowakei verwiesen. So empfiehlt z. B. O. Zimbler die vom Leitmeritzer Anwalt G. Weis mit Erläuterungen versehene Ausgabe des tschechoslowakischen Kartellgesetzes, in dem aber auch das „österreichische Schrifttum … und die österreichische Rechtsprechung“ benützt werden. „Der Wert der Arbeit für den österreichischen Juristen muß nach dem Gesagten nicht noch besonders betont werden. Haben wir auch kein besonderes Kartellgesetz, so haben wir doch kartellrechtliche Probleme … Hiebei kann das Buch von Weis gewiß gute Dienste leisten.“ (JBl 1936, 439). 122 O. Zimbler zum achten Deutschen Juristentag in der Tschechoslowakei, in: JBl 1937, 251. 123 So eine Aufforderung der Wiener Juristischen Gesellschaft, der Vereinigung österreichischer Richter, der Rechtsanwaltskammer in Wien und des Österreichischen Notarvereins in: JBl 1933, 220. Vgl. auch NZ 1933, 117, wo „Im besonderen … auch die Herren Notare und
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den zwanziger Jahren hatten Österreichs Juristen durch ihre rege Teilnahme dem entsprochen. Daher trügt die Bezeichnung des Juristentages, die bei oberflächlicher Betrachtung an eine Versammlung von bloß regionaler Bedeutung denken lässt. Auch von tschechoslowakischer Seite wurde die grenzübergreifende Zusammenarbeit begrüßt124. Österreichs Juristen nahmen nicht nur in großer Zahl125 als Gäste an den Veranstaltungen teil, sie wirkten auch durch die Erstellung von Gutachten und Referaten126, in ihrer Funktion als Leiter in den Abteilungen127 und in der Organisation128 aktiv mit. Zu Recht konnte daher festgestellt werden, dass an der „bedeutende[n] wissenschaftliche[n] Arbeit … die österreichischen Juristen … einen nicht unbedeutenden Anteil“129 hatten. Die Verhandlungen und Ergebnisse dieser Veranstaltungen wurden sowohl in Form der von der ständigen Vertretung des Deutschen Juristentages herausgegebenen Publikationen, getrennt in „Verhandlungen“ und „Gutachten“, als auch durch Zeitschriftenbeiträge130 einer breiten juristischen Öffentlichkeit in Österreich zugänglich gemacht131.
Notariatskandidaten gebeten [werden, …] an dieser Tagung teilzunehmen …. Die seit jeher bestandenen nahen Beziehungen zwischen den deutschen Kollegen in der Tschechoslowakei und den österreichischen Kollegen sollen dadurch befestigt und vertieft werden.“ 124 Vgl. JBl 1937, 248. 125 Z. B. in Brünn 1937, wo „mit außerordentlicher Befriedigung … von allen Rednern das Erscheinen einer großen Zahl von österreichischen Juristen auf dem [achten] Juristentag“ begrüßt worden war: JBl 1937, 248. 126 Z. B. für den sechsten Juristentag 1933 E. Swoboda, damals noch Universitätsprofessor und Oberlandesgerichtsrat in Graz, zum Thema „Abgrenzung zwischen Verschuldens- und Erfolgshaftung im Schadenersatzrecht unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes zum ABGB“, und Oberlandesgerichtsrat K. Wahle aus Wien zum Thema „Welche währungsrechtlichen Bestimmungen empfehlen sich auf dem Gebiete des Privatrechtes“: JBl 1933, 274 f. 127 Z. B. 1935 H. Klang auf dem siebenten Juristentag in Gablonz: JBl 1935, 296. 128 Z. B. als Stellvertreter des Vorsitzenden der „Ständigen Vertretung des Deutschen Juristentages“ der Bundesminister a.D. Generalprokurator Winterstein aus Wien: JBl 1937, 248. 129 So die Auffassung von Zimbler zu den Ergebnissen des achten Juristentages: JBl 1937, 251. 130 Vgl. z. B. in: GerZ 1926, 127; JBl 1927, 193 ff.; JBl 1929, 245 ff.; JBl 1931, 273 ff.; JBl 1933, 274 ff.; JBl 1935, 296 ff.; JBl 1937, 248 ff. 131 Für das Weiterbestehen einer Verbindung zwischen österreichischen und tschechoslowakischen Juristen soll schließlich noch ein allgemeines Beispiel angeführt werden. Das von der Prager JZ finanzierte Preisausschreiben, das dem Bearbeiter des Themas „Die Unterschiede des tschechoslowakischen Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb von dem des Deutschen Reiches und Oesterreichs“ 2.500 Kc in Aussicht stellt, wird auch in Österreich bekannt gemacht. Vgl. JBl 1928, 356; RZ 1928, Nr. 7/8, 126; AnwZ 1928, 275. Gewinner dieses Preisausschreibens war der Wiener Hofrat M. Weiser, seine preisgekrönte Arbeit wurde in: Prager JZ 1929, 65 ff., veröffentlicht.
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2. Tschechoslowakische Literatur zum ABGB Auf Grund der jahrzehntelangen einheitlichen rechtswissenschaftlichen Behandlung des ABGB erscheint die Kenntnis der außerhalb des heutigen österreichischen Staatsgebiets erschienenen rechtswissenschaftlichen Publikationen geradezu als Selbstverständlichkeit. Von den nach 1918 in der tschechoslowakischen Republik erschienenen Werken zum ABGB bzw. zu seiner Entwicklung seien die folgenden, auch für den österreichischen Juristen interessanten hervorgehoben. Besondere Aufmerksamkeit verdient das von Robert Mayr verfasste „Lehrbuch des bürgerlichen Rechts“, dessen erster Band 1922 (1. Buch: Allgemeine Lehren; 2. Buch: Sachenrecht) und dessen zweiter Band 1923 (3. Buch: Recht der Schuldverhältnisse; 4. Buch: Familienrecht; 5. Buch: Erbrecht) in Reichenberg erschien. Der Professor der deutschen Universität Prag schloss damit einerseits die durch Fehlen eines Lehrbuchs speziell für den Studienanfänger entstandene Lücke, andererseits beschränkte sich Mayr nicht auf die Darstellung „seiner“ – das heißt der tschechoslowakischen – Privatrechtsordnung, er behandelte vielmehr sowohl österreichisches wie tschechoslowakisches Recht, und zwar in der geltenden Fassung, d. h. nach den Änderungen durch die drei Teilnovellen sowie den nach 1918 ergangenen nationalstaatlichen Sondergesetzen. Die Bedeutung dieses Lehrbuchs würdigten schon Zeitgenossen, denn die „Kenntnis fremden Rechts, insbesondere verwandten Rechts, wirkt ungemein befruchtend und befördernd für die Handhabung und Ausbildung des eigenen Rechts“132. Egon Weiß, Professor der Rechte an der deutschen Universität in Prag, gab 1925 die erste Auflage der Gesetzessammlung „Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch“133 mit ausgewählten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Wien (OGH), aber vor allem der Judikatur des Obersten Gerichtes (OG) Brünn, heraus. Dabei erschien schon dem Autor manches „aus der erwähnten Spruchpraxis […] von allgemeiner, über die Grenzen dieses Staates hinausgehender rechtswissenschaftlicher Bedeutung“134. Die Darstellung des geltenden tschechoslowakischen ABGB, das „eine, für uns insbesondere, beachtenswerte Fortentwicklung zeigt“, wurde auch in Österreich begrüßt und wurde „jedem österreichischen Juristen […] aufs nachdrücklichste empfohlen“135. 132
Vgl. die Rezensionen von Hellmer, in: GerZ 1922, 63 f., und ebda 1923, 71 f. Das bürgerliche Recht. I. Teil. Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (= Prager Archiv für Gesetzgebung und Rechtsprechung. Gesetzesausgaben VI), Prag 1925. Schon 1927 erschien die zweite, 1933 die dritte Auflage. Der II. Teil. Die bürgerlich-rechtlichen Gesetze außerhalb des Allgemeinen Gesetzbuches mit ausgewählten Entscheidungen, ebenfalls hrsg. von Weiß, erschien 1927 in Prag. Vgl. dazu die Rezension von Klang, in: JBl 1927, 237. 134 Weiß im Vorwort zur ersten Auflage. 135 So A. Lenhoff in seiner Rezension in: GerZ 1925, 95. In der Rezension der zweiten Auflage (in: GerZ 1928, 110) schreibt er in ähnlicher Weise: „Bei den engen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Österreich kann auch der österreichische Jurist dem Verfasser für seine mühevolle Leistung nicht genug Lob spenden. Die Anschaffung des Buches, das für den österreichischen Leser immer unentbehrlicher wird, muß also nicht erst empfohlen 133
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1928 erschien in Brünn und in Wien die von Hans Melzer bearbeitete Gesetzesausgabe „Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die Cechoslovakische Republik“. Ausdrücklich wird die von Josef Schey bearbeitete (österreichische) Ausgabe als Grundlage genannt, in die relevante Entscheidungen des OG Brünn und einschlägige tschechoslowakische Gesetzesänderungen eingearbeitet wurden. Aufgehobene Paragraphen des ABGB wurden in Klammern weiterhin abgedruckt, sodass der Leser einen guten Überblick über die Entwicklung des ABGB erhält136. Durch die von Paul Gans und Paul Kafka bearbeitete „Sammlung von Entscheidungen des Obersten Gerichtes in Zivilsachen“, erschienen 1924 in Reichenberg, wurde die tschechoslowakische oberstgerichtliche Rechtsprechung dem österreichischen Juristen zur „nützliche[n] Verwendung“ zugänglich gemacht. Dabei zeigt sich, dass „die Lektüre … selbst auf Gebieten, auf welchen … keine volle Übereinstimmung der geltenden Gesetze mehr besteht, für den österreichischen Juristen nicht zwecklos ist“137. Von denselben Autoren existiert in der Reihe „Stiepels GesetzSammlung des Tschecho-slowakischen Staates“ als Folge 40 die Sammlung „Privatrechtliche Gesetze mit oberstgerichtlichen Entscheidungen“. Deren erster Band erschien 1924, der zweite Band 1928 in Reichenberg. Auch die von Gerhard Schüller, Sekretär des OG Brünn, zusammengestellten und übersetzten „Plenarbeschlüsse des Obersten Gerichtes in Brünn aus den Jahren 1918 – 1930“, erschienen 1931 in Brünn, können „auf das Interesse des österreichischen Juristen Anspruch erheben“. Auffallend an den 59 Entscheidungen in Zivilsachen und 11 in Strafsachen ist, dass sie im „Ergebnisse … vielfach mit der österreichischen Übung überein[stimmen]“138. Schüller war auch Bearbeiter der seit 1921 in Brünn erschienenen „Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in Brünn“. Georg Husserl bearbeitete die 1934 in Reichenberg erschienene Sammlung „Die oberstgerichtliche Judikatur zum bürgerlichen Recht“, die sowohl österreichische wie tschechoslowakische Gerichtsentscheidungen enthält. In Bezug auf letztere kann die Sammlung „mit Rücksicht auf die noch vorhandene weitgehende Rechtsgleichheit auch von österreichischen Juristen mit Nutzen gebraucht werden“139.
werden.“ Ebenso E. Bettelheim in seiner Rezension der zweiten Auflage, in: JBl 1928, 184: „Solange das Geltungsgebiet des Gesetzes gemeinsam bleibt, sollen die geistigen Strömungen jedes der beiden Staaten für den anderen nicht ungenützt bleiben.“ Vgl. auch die Rezension in: AnwZ 1924, 42 f. 136 Vgl. Vorwort, III ff. Siehe dazu auch die Rezensionen in: ZBl 1929, 916 f.; GerZ 1928, 371. 137 JBl 1925, 37. 138 H. Klang in seiner Besprechung in: JBl 1931, 403 f. Vgl. auch die Rezensionen in: ZBl 1931, 370; AnwZ 1931, 225. 139 So in der mit D. S. unterzeichneten Rezension in JBl 1934, 440. Vgl auch die Rezension von H. Spitzer, in: AnwZ 1934, 362 f.
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1937 aktualisierte der „Ergänzungsband zur Oberstgerichtlichen Judikatur zum bürgerlichen Rechte“ die Entscheidungssammlung140. Von den in der Tschechoslowakischen Republik erschienenen deutschsprachigen juristischen Zeitschriften befinden sich die „Juristen-Zeitung für das Gebiet der tschechoslowakischen Republik“ (JZ-CSR), seit 1919 erschienen in Brünn und Prag, mit der Beilage „Entscheidungen der obersten Gerichte“ (seit 1921), die „Prager Juristische Zeitschrift“ (Prager JZ), seit 1921 im Auftrag der Deutschen Juristenfakultät und der Deutschen Juristischen Gesellschaft in Prag herausgegeben, mit der Beilage „Wissenschaftliche Vierteljahresschrift“ (Prager JZ-WissVJS, bis 1928), und das „Prager Archiv für Gesetzgebung und Rechtsprechung“ (PrArch), erschienen seit 1919, in österreichischen Bibliotheken. Unter ihren Autoren finden sich auch bedeutende Vertreter der österreichischen Rechtswissenschaft, so aus dem Gebiet des Privatrechts unter anderem Armin Ehrenzweig141, Franz Gschnitzer142, Heinrich Klang143, Oskar Pisko144, Ernst Swoboda145 und Karl Wahle146. In fast allen österreichischen juristischen Zeitschriften wird regelmäßig auf den Inhalt der einzelnen Ausgaben verwiesen147. Dem österreichischen Juristen war es daher ein leichtes, sich über Änderungen des tschechoslowakischen Rechts, insbesondere des ABGB, und den aktuellen Diskussionsstand, einschließlich der neuesten Rechtsprechung, zu informieren.
140 Band 70 bzw 70a in „Stiepels Gesetz-Sammlung des tschechoslowakischen Staates“. Vgl. die Rezension von G. Wolf in: AnwZ 1938, 57 f. 141 Z. B. Die Kapital- und Gewinnbeteiligung der Arbeiter, in: Prager JZ 1921, Sp. 273 ff.; Rechtwidrige Verursachung (§ 1311 a.b.G.-B.), in: JZ-CSR 1923, 39 ff. 142 Z. B. Übergang der Gläubigerrechte auf den zahlenden Solidarschuldner, in: Prager JZ 1934, Sp. 727 ff. 143 Z. B. Pfandrechtsrefom und Rohstoffbedarf, in: JZ-CSR 1922, 2 ff.; Rechtsfragen der Gegenwart in der Rechtsprechung, in: JZ-CSR 1923, 39 ff.; Sachhaftung nach dem in den österreichischen Nachfolgestaaten geltenden Pfandrechte, in: JZ-CSR 1925, 100 ff.; Das Bestandsrecht im Revisionsentwurfe des a. b. G.-B., in: Prager JZ 1926, Sp. 131 ff.; Das Ausgedinge im Revisionsentwurfe des allg. bürgerl. Gesetzbuches, in: JZ-CSR 1926, 89 ff.; Das Baurecht im Revisionsentwurfe des a. b. G.-B., in: JZ-CSR 1927, 85 ff.; Bemerkungen zu den geldrechtliche Bestimmungen des Superrevisionsentwurfe, in: JZ-CSR 1933, 88 ff.; Das Pfandrecht am Unternehmen nach dem Superrevisionsentwurfe, in: JZ-CSR, 92 ff. 144 Z. B. Die Haftung der Eisenbahn für nichtdeklarierte Kostbarkeiten, in: JZ-CSR 1923, 149 ff. 145 Z. B. Die Entwicklung des modernen Miteigentumsbegriffes, in: Prager JZ-WissVJS 1923, Sp. 72 ff.; Die bücherliche Behandlung einer Familienservitut, in: Prager JZ 1924, Sp. 39 ff.; Die Bedeutung der Entstehungsgeschichte des § 1174 A.B.G.-B. für die Beurteilung seines Inhalts, in: Prager JZ 1929, Sp. 610 ff.; Die rechtliche Natur des bücherlich eingetragenen Bestandrechtes und ihre praktischen Folgen, in: JZ-CSR 1929, 7 ff. 146 Z. B.: Zur Frage der Rechtsvergleichung, in: JZ-CSR 1925, 135 ff. 147 Vgl. nur als Bsp. für viele: AnwZ 1929, 98 f., 310 f.; GerZ 1929 237; RZ 1925, Nr. 1, 12, Nr. 5, 8 und Nr. 7/8, 11 f.
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3. Österreichische Zeitschriften An erster Stelle sind hier die „Juristische[n] Blätter“ (JBl) zu nennen. In diesen finden sich regelmäßig – auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg – Beiträge zur tschechoslowakischen Gesetzgebung, „die in manchen Dingen … vor der österreichischen den Vorzug verdient“148. Von den Aufsätzen zum bürgerlichen Recht der Tschechoslowakei ist vor allem auf diejenigen zur allgemeinen Rechtsentwicklung hinzuweisen149. Zahlreicher sind die teilweise auch rechtsvergleichenden Aspekte beinhaltenden Arbeiten zu anderen Teilgebieten der Rechtsordnung150. Zahlreiche Bücher zum tschechoslowakischen Recht, darunter viele zum ABGB, wurden rezensiert, wobei diese „auch den österreichischen Juristen bestens empfohlen werden, nicht nur, weil sie den Stand des bürgerlichen Rechtes im Nachbarstaat kennen sollen, sondern auch … weil die Kenntnis der Judikatur der dortigen Gerichte geeignet ist, die heimische Rechtsprechung mit neuen Ideen zu erfüllen und zu beleben.“151 Von den veröffentlichten oberstgerichtlichen Entscheidungen beziehungsweise Rechtssätzen befassen sich rund fünfzig Prozent mit Paragraphen des ABGB152. Die Aktivitäten des „Deutschen Juristentages in der Tschechoslowakei“ werden regelmäßig angekündigt, seit 1927 werden sogar die Verhandlungen in gekürzter Fassung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Darüber hinaus ist auf die Mitarbeit tschechoslowakischer Juristen hinzuweisen153, sowie auf das 1948 erstellte Verzeichnis der neuen ausländischen Rechtsnormen“, wobei der „Bedeutung für die 148 E. Lohsing in seiner Besprechung „Die strafgesetzlichen und strafprozessualen Bestimmungen der tschechoslovakischen Republik. Sammlung sämmtlicher Gesetze und Verordnungen …“, in: JBl 1924, 89. Er schließt mit den Worten: „Für den österreichischen Kriminalisten regt das Buch zu Vergleichungen über die Dinge hüben und drüben an und deshalb möge es auch bei uns nicht unbeachtet bleiben.“ 149 Z. B. H. Fleischmann, Scheidung und Trennung der Ehen nach dem tschechoslowakischen Ehegesetze, in: JBl 1924, 162 f.; E. Weiß, Das neue tschechoslowakische Ratengesetz, in: JBl 1935, 317 ff.; H. Klang, Die Haftpflichtvorschriften der neuen tschechoslowakischen Kraftfahrzeuggesetzgebung, in: JBl 1935, 367 ff.; H. Charmatz, Die Haftpflichtbestimmungen des neuen tschechoslowakischen Eisenbahngesetzes, in: JBl 1938, 50 ff.; Weiß, Die Rechtsentwicklung in der Cechoslowakei, in: JBl 1946, 317 ff.; JBl 1947, 256 ff. 150 Z. B. E. Weiß, Kodifikationspläne auf dem Gebiete des Handelsrechtes in der Tschechoslowakei, in: JBl 1927, 215 f.; P. Abel, Die Urheberrechtsreform in der tschechoslowakischen Republik, in: JBl 1927, 22 ff.; E. Weiß, Vereinheitlichungen des außerstreitigen Verfahrens in der Tschechoslowakei, in: JBl 1929, 434 ff.; H. Koranyi, Der Entwurf eines tschechoslowakischen Kartellgesetzes, in: JBl 1932, 288 ff.; M. Weiser, Neues Insolvenzrecht. (Die tschechoslowakische Ausgleichsnovelle 1931 und der österreichische Ausgleichsentwurf 1930), in: JBl 1932, 310 ff.; A. Körner, Das tschechoslowakische Gesetz über das Oberste Verwaltungsgericht, in: JBl 1937, 485 ff. 151 E. Bettelheim in seiner Rezension der zweiten Auflage der von E. Weiss hrsg. ABGBAusgabe (siehe oben 2.) in: JBl 1928, 184. 152 Vgl. z. B. Entscheidung des OG Brünn v. 11. 4. 1922, R I 414/22, in: JBl 1922, 108 ff. (§ 1154). 153 Z. B. R. Neuner (Prag), Theorie und Praxis im Recht, in: JBl 1936, 89 ff.
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österreichischen Interessen entsprechend … Rechtsnormen [der CSR] zuerst zum Abdruck [gelangen]“. Die bis 1931 erschienene, dann mit den JBl vereinigte, „Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung“ (GerZ) beinhaltet ebenfalls zahlreiche Beiträge, Rezensionen und Zeitungshinweise zum tschechoslowakischen Recht154, denn die „Schriftleitung beabsichtigt, die Leser der Gerichts-Zeitung über die grundlegenden Gesetze des tschecho-slowakischen … Staates zu unterrichten, deren Kenntnis für den praktischen Juristen von Bedeutung ist …“155. Von diesen Aufsätzen sind insbesondere jene zur allgemeinen Rechtsentwicklung156, zum Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches157 und zum Ehe- und Familienrecht158 hervorzuheben. Die „Österreichische Richterzeitung“ (RZ) informiert über die Rechtsentwicklung des nördlichen Nachbarstaates in Form von Aufsätzen und Rezensionen. Besonders erwähnenswert sind auch hier die Beiträge zur Diskussion über den Entwurf eines neuen bürgerlichen Gesetzbuches159 und die Entwicklung des tschechoslowakischen Ehe- und Familienrechtes160. Weiters wird auf die Aktivitäten des Juristentages161 und der Vereinigung der deutschen Richter und Staatsanwälte in der Tschechoslowakischen Republik162 hingewiesen. 154 Vgl. z. B. R. Ball, Zwei Plenarentscheidungen des Obersten Gerichtes in Brünn in Kostenfragen, in: GerZ 1931, 234 ff.; E. Höpler, Der tschechoslowakische Strafgesetzentwurf, in: GerZ 1922, 113 ff. 155 GerZ 1919, 42, in der Anm. 156 Kunze, Die Rechtsentwicklung im tschecho-slowakischen Staate, in: GerZ 1919, 42 ff.; E. Weiß, Der Rechtszustand in den ehemals österreichischen Teilen der tschechoslowakischen Republik, in: GerZ 1926, 322 ff.; ders., Die Rechtsentwicklung auf dem Gebiete der Tschechoslowakischen Republik im Bürgerlichen-, Handels- und Zivilprozeßrecht während des zweiten Halbjahres 1927, in: GerZ 1928, 117 ff.; ders., Die Rechtsentwicklung in der tschechoslowakischen Republik auf dem Gebiete des Bürgerlichen-, Handels- und Zivilprozeßrechtes im Jahre 1928, in: GerZ 1929, 103 ff; ders., Die Rechtsentwicklung auf dem Gebiet der tschechoslowakischen Republik im bürgerlichen und Prozeßrecht während des Jahres 1930, in: GerZ 1931, 8 ff. 157 Vgl. den Bericht über den von R. Mayr-Harting in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag „Das künftige bürgerliche Gesetzbuch für die Tschechoslowakei“, in: GerZ 1926, 91 f. 158 R. Neumann-Ettenreich, Das neue tschechoslowakische Eherecht. Ein Vorwort zur Reform in Deutschösterreich, in: GerZ 1919, 257 ff.; B. Kafka, Das tschechoslowakische Ehescheidungs- und Ehetrennungsrecht, in: GerZ 1925, 1 ff.; L. Heller, Das neue tschechoslowakische Unterhaltsschutzgesetz, in: GerZ 1931, 232 ff. 159 Z. B. E. Prochaska, Das Familienrecht nach dem Entwurfe eines tschechoslowakischen bürgerlichen Gesetzbuches, in: RZ 1925, Nr. 6, 154 und Nr. 7/8, 184 ff. 160 Z. B. E. Prochaska, Die tschechoslowakische Ehereformgesetzgebung, in: RZ 1926, Nr. 1, 9 und Nr. 2, 33 ff.; Ders., Über den Einfluß des tschechoslowakischen Ehetrennungsgesetzes auf das Ehescheidungsrecht, in: RZ 1928, Nr. 4, 59 ff.; Ders., Das tschechoslowakische Gesetz über den Adoptionsvertrag, in: RZ 1929, Nr. 2, 41 ff.; Ders., Ehescheidung und Ehetrennung von Ausländern durch tschechoslowakische Gerichte, in: RZ 1929, Nr. 10, 192 ff. 161 So z. B. in RZ 1925, Nr. 2/3, 7 f., Nr. 5, 8 und Nr. 7/8, 1 f.; RZ 1929 Nr. 4, 102 f.; RZ 1931, Nr. 4, 69 f.; RZ 1935, Nr. 4, 69 f.
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Das „Zentralblatt für die juristische Praxis“ (ZBl) enthält einige Aufsätze zum tschechoslowakischen ABGB.163 Die Zahl der rezensierten tschechoslowakischen Bücher ist deutlich geringer als in den bisher genannten Zeitschriften. Viel bedeutender hingegen ist, dass ab dem Jahrgang 1926 regelmäßig ausgewählte Entscheidungen des OG Brünn, fallweise auch des Oberlandesgerichtes Brünn und des Kreisgerichtes Olmütz, abgedruckt und teilweise kommentiert wurden. Der Großteil der 78 Entscheidungen behandelt Fragen des Prozessrechts (ca. 60 %), doch nehmen rund ein Drittel der Urteile auf Paragraphen des ABGB164 Bezug. In der „Österreichischen Anwalts-Zeitung“ (AnwZ) wird der meiste Raum Berichten über den Juristentag in der Tschechoslowakei gewährt. Dieser „ist ein wichtiges Organ für den Ausbau der geistigen Zusammengehörigkeit … und schafft auch reichen Stoff zur Bildung gemeinsamen Rechts“165. Die Entwicklung des bürgerlichen Rechts wird unregelmäßig verfolgt166. Weiters sind einige Aufsätze167 sowie re-
162 So z. B. auf den zweiten Deutschen Richtertag 1930 in Karlsbad, in: RZ 1930, Nr. 6, 132, und Nr. 11, 219 ff. Dort hielt Swoboda einen Vortrag zum Thema „Demokratie und Richter“. 163 Z. B. K. Wahle, Das cechoslovakische Eherecht, in: ZBl 1924, 79 ff.; H. Klang, Die Sicherungsübereignung im cecholovaksichen Revisionsentwurfe des BGB, in: ZBl 1925, 22 ff.; St. Dnistrianskyi, Bemerkungen zum neuen Entwurf eines cechoslovakischen bürgerlichen Gesetzbuches, in: ZBl 1932, 729 ff.; J. Krcmar, Glossen zur neuesten Bearbeitung des Rechtes des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in: ZBl 1932, 81 ff., 505 ff, ZBl 1933, 17 ff., ZBl 1934, 161 ff. (Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Besprechung des von H. Klang herausgegebenen Kommentars zum ABGB, wobei fallweise auch die tschechoslowakische Rechtslage besprochen wird); St. Dnistrianskyi, Der cechoslovakische Entwurf und der polnische Kodex des Obligationenrechts, in: ZBl 1934, 169 ff. und 241 ff. 164 Folgende Entscheidungen behandeln Paragraphen des ABGB: ZBl 1926: Nr. 31, 118 f. (§§ 934, 935); Nr. 48, 144 f. (§ 1063); Nr. 79, 223 f. (§§ 1438, 1441 ff.); Nr. 298, 846 (§ 579); ZBl 1927: Nr. 26, 70 (§ 819); Nr. 104, 286 (§§ 1295, 1327); Nr. 142, 369 (§ 484); Nr. 143, 370 (§ 932); Nr. 174, 447 (§ 471); Nr. 201, 588 ff. (§§ 4, 37); Nr. 302, 796 (§§ 1376, 1379); Nr. 304, 800 ff. (§ 1056); ZBl 1928: Nr. 43, 138 (§ 830); Nr. 236, 941 f. (§§ 1334, 1425); ZBl 1929: Nr. 174, 479 (§ 1151); Nr. 190, 562 (§ 26); ZBl 1930: Nr. 60, 141 f. (§ 157); Nr. 208, 580 (§ 879); Nr. 350, 928 f. (§ 879); ZBl 1931: Nr. 244, 689 f. (§§ 1299, 1300, 1324); ZBl 1934: Nr. 162, 386 f. (§§ 1396, 1497); Nr. 304, 797 (§ 509); ZBl 1935: Nr. 444, 895 f. (§§ 1041, 1435); ZBl 1936: Nr. 334, 653 f. (§ 1234). 165 H. Spitzer, Dem Brünner Deutschen Juristentage zum Gruß!, in: AnwZ 1925, 141. Weiters seine Berichte in: AnwZ 1925, 162 ff.; AnwZ 1927, 231 ff.; AnwZ 1931, 181 ff., 229 ff.; AnwZ 1933, 201 ff., 245 ff.; AnwZ 1935, 241 ff.; AnwZ 1937, 201 ff. Am 1. 6. 1935 erschien Heft 11/12 als „Festschrift aus Anlaß des Siebenten deutschen Juristentages in der Tschechoslowakei“. Ebenso am 12. 5. 1937 Heft 9/10 als Festschrift zum achten Juristentag. 166 Z. B. R. Mayr-Harting, Das künftige bürgerliche Gesetzbuch der Tschechoslowakei, in: AnwZ 1926, 149 f.; E. Weiß, Der Entwurf des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die Tschechoslowakei, in: AnwZ 1937, 24 ff. 167 Z. B. R. Fialla, Justizbericht aus der tschechoslowakischen Republik, in: AnwZ 1927, 309 ff.; P. Abel, Die Gesetzgebung gegen den unlauteren Wettbewerb in der tschechoslowakischen Republik, in: AnwZ 1928, 17 ff.; E. Lohsing, Zur Anwendung der St.P.O. in der Tschechoslowakei, in: AnwZ 1935, 417 ff.
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gelmäßig Rezensionen und eine Zeitschriftenschau zum tschechoslowakischen Recht enthalten. Vereinzelt sind sogar Entscheidungen des OG Brünn abgedruckt168. Wenig ergiebig hingegen ist die „Notariats-Zeitung“ (NZ). Seit 1920 als Nachfolgerin der „Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Oesterreich“ erschienen, im Jahre 1919 unter dem Namen „Deutschösterreichische Notariats-Zeitung“ herausgegeben, wollte sie mit den „Deutschen des Sudetenlandes … doch jene geistigen Ideale, welche sich aus der Pflege der Rechtswissenschaft und unserem Berufe … ergeben, in gemeinsamer Arbeit und einträchtigem Wirken pflegen.“ Zu diesem Zweck waren daher der „Österreichische Notarverein und der Verein der deutschen Notare für die tschecho-slowakische Republik … übereingekommen, für die nächste Zeit die „Notariats-Zeitung“ als ein gemeinsames Organ beider Regierungen zu führen.“169 Somit verwundert es nicht, dass in diesem Jahrgang viele Aufsätze und Ankündigungen mit Bezug zur Tschechoslowakei erschienen sind. Weil aber tschechoslowakische Behörden und andere Standesvertretungen auf den ausländischen Charakter der Zeitung hinwiesen und „Aufsätze und Mitteilungen lediglich als kritische Notizen des Auslandes gewertet wurden“, zudem die Postverbindung nach Wien nicht problemlos funktionierte, sodass es immer wieder zu Unregelmäßigkeiten bei der Drucklegung, aber auch beim Abonnementbezug kam, sah sich der „Verein der deutschen Notare für die tschecho-slowakische Republik“ gezwungen, seine bis dahin unregelmäßig veröffentlichten Mitteilungen ab dem Jänner 1921 als selbständige „Notariats-Zeitung“ für die Tschechoslowakei herauszugeben. Wenngleich dieser Schritt von österreichischer Seite Bedauern auslöste und trotzdem „nicht hindern [sollte], in Angelegenheiten der Rechtswissenschaft und unseres Standes Kameradschaft zu pflegen und innige Beziehungen aufrecht zu erhalten“170, so ist davon in den folgenden Ausgaben kaum etwas zu bemerken. Nur wenige Beiträge weisen einen Bezug zur tschechoslowakischen Rechtswissenschaft auf, einzig dem „Deutschen Juristentag in der Tschechoslowakei“ wird etwas mehr Platz eingeräumt171. 4. Österreichische Literatur zum ABGB An erster Stelle ist hier das von Armin Ehrenzweig erstellte zweibändige, 1923 bis 1928 erschienene, „System des österreichischen allgemeinen Privatrechts“, das die sechste Auflage des von Leopold Pfaff aus dem Nachlass von Josef Krainz herausgegeben Werkes mit demselben Titel darstellt. Dabei verarbeitete Ehrenzweig in umfangreicher Weise auch die ausländische Rechtsprechung und ausländisches 168
Z. B. AnwZ 1924, 28; AnwZ 1928, 222 f. NZ 1920, 1 f. 170 NZ 1920, 111 f., 113. 171 So z. B. A. Kos, Die Alimentation der unehelichen Kinder nach dem Entwurfe zum tschechoslowakischen bürgerlichen Gesetzbuche, in: NZ 1934, 185 f. Zum Juristentag vgl. die Berichte in: NZ 1925, 10, 37 und 85; NZ 1931, 81; NZ 1933, 117; NZ 1935, 83; NZ 1937, 50 und 67. Diese Mitteilungen sind deutlich kürzer als vergleichbare Tagungsberichte, z. B. in den JBl. 169
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Recht. Zur Auslegung des ABGB wurde daher „… neben der Rechtsprechung unseres Obersten Gerichtshofes selbstverständlich auch die des Obersten Gerichtes in Brünn“ verwendet. Die Ergebnisse ausländischer Gerichte ließen sich „öfter als man zu glauben geneigt ist, für uns unmittelbar verwerten …. Dabei kommt vor allem – aber keineswegs ausschließlich – die reichsdeutsche und die bereits sehr reichhaltige tschechoslowakische Rechtsprechung in Betracht.“ Die umfangreiche Zitierung des tschechoslowakischen Schrifttums verwundert daher nicht172. Sein Sohn Adolf Ehrenzweig, Bearbeiteter der zweiten Auflagen des Familienund Erbrechtes (Wien 1937), schrieb im Vorwort: „Unter den ausländischen Rechten wandte ich dem tschechoslowakischen besonderes Augenmerk zu.“173 Sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, wenn auch spärlich, in der ebenfalls von Adolf Ehrenzweig bearbeiteten siebenten Auflage der beiden Hälften des ersten Bandes die Judikatur des OG Brünn herangezogen sowie im Kapitel „Schrifttum des österreichischen allgemeinen Privatrechtes“ auf tschechoslowakische Literatur verwiesen174. Albert Ehrenzweig, Richter und Privatdozent in Wien, hatte schon in seiner Untersuchung „Die Schuldhaftung im Schadenersatzrecht“ unter anderem auf den tschechoslowakischen Revisionsentwurf zum ABGB Bezug genommen175. Darauf aufbauend setzte er sich mit diesem Entwurf sowie mit vorhergehenden in einer speziellen Arbeit mit dem Titel „Zur Erneuerung des Schadenersatzrechtes“ auseinander. Selbstverständlich trat dabei „das tschechoslowakische Schrifttum … in den Vordergrund“176. Einer eingehenden Kritik der tschechoslowakischen Entwürfe ließ er einen umfangreichen Gegenentwurf folgen. Der in den Jahren 1930 bis 1935 von Heinrich Klang herausgegebene, vierbändige „Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch“177, wurde als großartige Leistung der „altösterreichischen“ Zivilrechtswissenschaft angesehen. Auch wenn 172 Alle Bände sind in Wien erschienen, und zwar 1925 der Erste Band / Erste Hälfte: Allgemeiner Teil; 1923 Erster Band / Zweite Hälfte: Das Sachenrecht; 1928 Zweiter Band / Erste Hälfte: Das Recht der Schuldverhältnisse; 1924 Zweiter Band / Zweite Hälfte: Familienund Erbrecht. Vgl. auch die Rezensionen von E. Weiß, in: ZBl 1926, 28 ff., und ZBl 1928, 516 f., der die Heranziehung der tschechoslowakischen Rechtsprechung und den Entwurf eines ABGB sehr begrüßt. Vgl. auch die Rezensionen von Hellmer, in: GerZ 1923, 30 f.; GerZ 1924, LVI; E. Bum, in: JBl 1926, 73 ff.; H. Spitzer, in: AnwZ 1929, 76. 173 Vgl. auch die Rezension von E. Weiß, in: ZBl 1938, 26 f. 174 Vgl. Erster Band / Erste Hälfte: Allgemeiner Teil (Wien 1951): Vorwort, 44 f., 138 Fn. 11, 222 Fn. 25. Erster Band / Zweite Hälfte: Das Sachenrecht (Wien 1957), 482 f. Fn. 16. 175 A. Ehrenzweig, Die Schuldhaftung im Schadenersatzrecht, Wien 1936, 79 f. 176 A. Ehrenzweig, Zur Erneuerung des Schadenersatzrechtes. Bemerkungen zum tschechoslowakischen Entwurf eines BGB. (Regierungsvorlage 1937) samt Gegenentwurf, Wien 1937, Vorwort. 177 H. Klang (Hrsg.), Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch (alle Wien): I. Bd. / 1. HalbBd.: §§ 1 bis 352 (1933) , I. Bd. / 2. HalbBd.: §§ 353 bis 530 (1930) , II. Bd. / 1. HalbBd.: §§ 531 bis 858 (1935), II. Bd. / 2. HalbBd.: §§ 859 bis 1089 (1934), III. Bd.: §§ 1090 bis 1292 (1932), IV. Bd: §§ 1293 bis 1502 (1935).
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Franz Gschnitzer meinte, er „festigt die geistige Vormachtstellung Wiens“178, so darf doch nicht der Einfluss der tschechoslowakischen Jurisprudenz, die in zahlreichen Hinweisen zur Rechtsprechung des OG Brünn und zur Novellierung des tschechoslowakischen ABGB Eingang in dieses herausragende Werk gefunden hat, übersehen werden. Unter anderem zählte zu den Mitarbeitern der Prager Professor Egon Weiß. Bemerkenswert ist weiters, dass ein von Egon Weiß bearbeiteter, fast dreihundert Seiten starken Anhang im vierten Band die „Abweichungen des tschechoslowakischen Rechtes“ behandelte. In diesem wurden, entsprechend der Gliederung des Gesamtwerkes, Gesetzesänderungen, Rechtsprechung und Meinungsstand dargestellt, wobei das Hauptaugenmerk auf den von der österreichischen Lehre abweichenden Standpunkten lag. Bei Übereinstimmung wurde auf den entsprechenden Abschnitt des Hauptwerkes verwiesen. Von 1950 bis 1978 erschien die sechsbändige, überarbeitete zweite Auflage des Kommentars, die nach dem Tod Klangs von Franz Gschnitzer herausgegeben wurde. In ihr fehlten die meisten Hinweise auf tschechoslowakische Entscheidungen, ebenso der von Weiß verfasste Anhang179. Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch auf zwei weitere Arbeiten hingewiesen. Der „Grundriß des Österreichischen bürgerlichen Rechts“ von Karl Wolff, erschienen 1923 in Wien und Leipzig, soll, so der Autor im Vorwort, „dem Prüfungsstudium dienen und ist nur von diesem Gesichtspunkt aus geschrieben“. Von dieser Zielsetzung her ist das Fehlen von Hinweisen auf die tschechoslowakische Rechtsentwicklung zu erklären, da auch sonst kaum Anmerkungen enthalten sind180. Sodann ist die geplante kommentierte Gesetzesausgabe des ABGB von Karl Wahle zu erwähnen. Diese 1927 vorbereitete Arbeit sollte als zweiter Band in der Reihe „Die Zivilgesetze der Gegenwart“ erscheinen, und eine Darstellung des ABGB im gesamten Gebiet seiner damaligen Geltung sein. Eine Realisierung des Projekts erfolgte allerdings aus verlegerischen Gründen, wie Helmut Slapnicka annimmt, nicht.181
178 JBl 1946, 63. Vgl. auch die Rezension von S. Brassloff, in: GerZ 1930, 301 ff.; außerdem H. Melzer, Beiträge zur Auslegung und Würdigung des allg. bürgerl. Gesetzbuches, in: JZ-CSR 1930, 1 ff., 17 ff., 29 ff.; JZ-CSR 1931, 188 ff. 179 H. Klang/F. Gschnitzer (Hrsg.), Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, (2. Aufl., alle Wien) I. Bd. / 1. HalbBd.: §§ 1 bis 136, EheGes. §§ 1 bis 131 (1964), I. Bd. / 2. HalbBd.: §§ 137 bis 284 (1962), II. Bd.: §§ 285 bis 530 (1950), III. Bd.: §§ 531 bis 858 (1952), IV. Bd. / 1. HalbBd.: §§ 859 bis 1044 (1968), IV. Bd. / 2. HalbBd.: §§ 1045 bis 1089 (1978), V. Bd. §§ 1090 bis 1292 (1954), VI. Bd.: §§ 1293 bis 1502 (1951). 1977 erschien ein von H. Köhler bearbeiteter Ergänzungsband (Vom AdoptionsGes. zum KindschaftsGes.). 180 Vgl. auch die Rezension von Ratzenhofer, in: GerZ 1923, 104. 181 Vgl. Slapnicka, wie Fn. 119, 39 f.
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5. Beispiele für die Wahrnehmung und Wirkung des tschechoslowakischen ABGB Wie bereits erwähnt, wurde vor allem die Weiterentwicklung des tschechoslowakischen Eherechts in Österreich mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Teile des Eherechts im ABGB blieben aber unverändert, sodass in diesen Fällen tschechoslowakische Entscheidungen für österreichische Juristen von Nutzen sein konnten. So etwa zwei Plenarbeschlüsse des OG Brünn aus dem Jahr 1927 zur „Scheidung von Tisch und Bett“. Das OG Brünn entschied am 14. Dezember 1927, dass die tatsächliche Wiedervereinigung geschiedener Ehegatten die Scheidung von Tisch und Bett aufhebt. Die in § 110 geforderte Anzeige an das Gericht sei eine bloße Ordnungsvorschrift. Seine Ansicht begründete das OG Brünn vor allem damit, dass die Wiedervereinigung eine Verzeihung der Eheverfehlungen bedeute und die Gatten sich der Bestimmung des § 110 oft gar nicht bewusst seien182. In Österreich hatte der OGH in seiner Judiaktur schon bisher die Wirkung der Wiedervereinigung unterschiedlich beurteilt. Die Lehre nahm ebenfalls unterschiedliche Positionen ein. Ernst Klar beurteilte den Plenarbeschluss positiv: „Vielleicht könnte sich [der OGH] endgültig zu der Ansicht bekennen, daß im Einzelfalle die von den Parteien beabsichtigte Wirkung … entscheidend sein soll“183. Adolf Ehrenzweig stellt nur den Meinungsstand dar, ohne sich selbst für eine Ansicht zu entscheiden. Er billigt diese Ansicht aber wohl für den Fall, dass die Wiedervereinigung bis zum Tod eines der Ehepartner gedauert hat184. Ablehnend hingegen äußert sich Arthur Lenhoff, der unter anderem die Ehepartner vor den Folgen einer unüberlegten Wiedervereinigung schützen möchte185. Ebenfalls strittig war die Frage der Wirkung der Scheidung von Tisch und Bett. Das OG Brünn stellte dazu fest, durch die Scheidung würde die Ehe nicht aufgelöst, sondern dauere fort. Es würden nur solche Pflichten erlöschen, die Folgen der ehelichen Gemeinschaft sind, wie der gemeinsame Wohnsitz, keinesfalls aber etwa die Pflicht zur ehelichen Treue. Deshalb begehe ein geschiedener Ehegatte durch Geschlechtsverkehr mit einer dritten Person Ehebruch.186 Noch 1919 hatte das Gericht, wohl unter dem Einfluss der jüngsten tschechoslowakischen Eherechtsgesetzgebung, in einem Erbschaftsstreit, in dem der Beklagten vorgeworfen worden war, sie hätte 182 Plenarbeschluss d OG Brünn, Präs. 719/27, in: Schüller (siehe oben 2), Nr. 52, 227 ff.; Zitat: 232 f. Ablehnend dazu J. Eckstein, Bemerkungen zur Plenarentscheidung des Obersten Gerichtes vom 14. Dezember 1927 über die Wiedervereinigung geschiedener Ehegatten, in: Prager JZ 1928, Sp. 351 ff. 183 GerZ 1928, 335. 184 Ehrenzweig, II/22 (siehe oben 4), § 432, Abschnitt V. Ebenso schon Mayr, IV (siehe oben 2), § 463, 59. 185 Lehnhoff, § 110, in: Klang, I/1 (wie Fn. 177), 729 ff. 186 Plenarbeschluss des OG Brünn vom 29. 3. 1927, Präs. 649/26, in: Schüller (siehe oben 2.), Nr. 47, 200 ff.
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mit dem Erblasser nach dessen Scheidung Ehebruch begangen und wäre daher erbunwürdig, die gegenteilige Ansicht vertreten187. Für ein Weiterbestehen der Pflicht zur Treue traten auch Robert Mayr und Armin und Adolf Ehrenzweig ein.188 Hingegen lehnte Arthur Lehnhoff ein Weiterbestehen der Treuepflicht ab, unter anderem weil durch die gegenteilige Ansicht die „Scheidung … nicht nur den Zölibat, sondern … auch die Wirkung des feierlichen Gelübdes der Keuschheit“ begründe189. Auf die beiden erwähnten Plenarbeschlüsse hatte schon Heinrich Klang in seiner Rezension der Sammlung von Schüller (siehe oben 2.) aufmerksam gemacht. Eine eigene Stellungnahme gab er allerdings dazu nicht ab, er beschränkte sich darauf, auf die unterschiedlichen Meinungen in der österreichischen Judikatur und Lehre hinzuweisen190. Den Miteigentümern einer Sache stehen gemäß § 830 mehrere Ansprüche zu, nämlich auf Rechnungslegung, auf Verteilung des Ertrages und auf Aufhebung der Gemeinschaft. Dieser Bestimmung kam insbesondere in den unsicheren Wirtschaftsverhältnissen der Nachkriegszeit verstärkte Bedeutung zu. Die oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Teilungsklage bot aber, so Klang, „ein geradezu chaotisches Bild“.191 Im Folgenden sollen der erste und dritte Anspruch näher betrachtet werden. Jeder Miteigentümer kann verlangen, dass Rechnung über eine Verwaltungsperiode gelegt wird (§ 830, 1. Satz). Dieser Anspruch ist gemäß einer Entscheidung des OG Brünn aus dem Jahre 1927 nicht im Außerstreitverfahren, sondern im ordentlichen Rechtsweg durchzusetzen192. Schon Klang folgt dieser Ansicht unter Berufung auf die erwähnte Entscheidung193. Auch in der aktuellen Literatur zum ABGB findet sich diese Meinung, wenn auch nicht immer unter (ausdrücklicher) Berufung auf das OG Brünn. In der Gesetzesausgabe von Robert Dittrich und Heinrich Tades wird auf die Entscheidung verwiesen – allerdings wird fälschlicherweise das Oberlandesgericht Brünn als urteilendes Gericht genannt194. Helmut Gamerith verweist nur auf die Fundstelle ohne Angabe des Gerichtes195.
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Entscheidung vom 8. 4. 1919, Rv. I 164/19, in: JBl 1919, 301 f. Mayr, IV (siehe oben 2.), § 466; Ehrenzweig, II/2 bzw. II/22 (siehe oben 4.), § 432, bei Fn. 205. 189 Lehnhoff, § 93, in: Klang, I/1 (wie Fn. 177), 617. 190 Klang, wie Fn. 138, 404. 191 H. Klang, Die Voraussetzungen des Anspruches auf Aufhebung des Miteigentums (§ 830 ABGB.), in: JBl 1932, 257. 192 Entscheidung des OG Brünn vom 3. 11. 1927, R II 348, in: ZBl 1928, Nr. 43, 138. 193 H. Klang, § 830, in: Klang II/1 (wie Fn. 177), Fn. 1. 194 R. Dittrich/H. Tades, Das ABGB … (= Manzsche Ausgabe d Österr Gesetze, Große Ausgabe Bd 2), 34. Aufl. Wien 1994, § 830, E 2. 195 H. Gamerith, § 830, Rz 1, in: P. Rummel (Hrsg.), Kommentar zum ABGB, Bd. I (2. Aufl. Wien 1990). Hingegen verweisen H. Hofmeister/B. Egglmeier, § 830, Rz 9, in: M. Schwimann (Hrsg.), Praxiskommentar zum ABGB samt Nebengesetzen, Bd III (2. Aufl. Wien 1997), bloß auf eine frühere Entscheidung des OGH (21. 9. 1920, R III 187/20, in: SZ 2/97). In dieser wird 188
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Der Einwand eines Miteigentümers, dass das Teilungsbegehren zur Unzeit gestellt wird, kann „nur mit Umständen vorübergehender Art, keineswegs aber mit dauernden oder solchen Verhältnissen begründet werden, deren Änderung oder Ende in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.“196 In diesem Sinne legt auch die herrschende Lehre den Begriff „Unzeit“ aus, zum Beispiel Ehrenzweig und Klang197. Anders hingegen entschied der OGH in manchen Fällen, dass ein dauerndes Hindernis die Teilungsklage verhindern kann198. Der durch die dritte Teilnovelle 1916 neu formulierte § 1409 normiert die Haftung des Übernehmers eines Vermögens oder Geschäftes gegenüber den Gläubigern für die Schulden, die er bei Übergabe kannte oder kennen musste. Diese Haftung besteht neben der Haftung des Veräusserers und ist bis zum Wert des übernommenen Vermögens beschränkt (pro viribus). Dass man mit dieser Form des gesetzlichen Schuldbeitritts somit juristisches Neuland betrat, verwundert es nicht, wenn österreichische Juristen für die Interpretation auch die tschechoslowakische Judiaktur heranzogen199. Einer Erklärung bedarf zunächst der in der österreichischen Rechtsordnung nicht einheitlich verwendete Begriff „Unternehmen“. Schon Klang zitiert für seine Definition den OG Brünn: „Unternehmen ist die Organisation der Erwerbstätigkeit einer bestimmten Person. … Dagegen bildet es keine Voraussetzung … für das Vorliegen eines Unternehmens, daß dieses in eigenen Räumen mit der eigenen Einrichtung des Unternehmers und … auf dessen eigene Konzession betrieben wird.“200 Für die Haftungsbegründung genügt die Übertragung eines Teils des Unternehmens, sofern dieser im Wesentlichen die Betriebsgrundlage darstellen. So nennt Klang, unter ausdrücklichem Hinweis auf zwei Urteile des OG Brünn, als Beispiele die Veräußerung des Geschäftes mit einem Großteil des Warenlagers, dem Lokal und dem Personal, wenn auch unter einer anderen Firma, sowie die Übernahme der Betriebslokalitäten mit dem wesentlichen Inventar und dem Kundenstock201. Diese Beispiele verwendet
aber der Anspruch auf Rechnungslegung gegenüber einem Verwalter des Miteigentums (§ 837) als im ordentlichen Rechtsweg durchsetzbar erklärt. 196 Entscheidung des OG Brünn vom 20. 9. 1921, Rv I 336/21, in: JBl 1922, 189 f. 197 Ehrenzweig, II/1, wie Fn. 172, § 412, bei Fn. 8a. Anscheinend ist dies die erste Entscheidung zu dieser Frage; Klang, § 830, in: Klang, II/1, wie Fn. 177, bei Fn. 32. 198 OGH vom 24. 5. 1922, Ob III 939/22, in: JBl 1922, 142. Interessant ist, dass Klang, wie Fn. 177, nur diese Entscheidung, nicht aber die im selben Jahrgang veröffentlichte Entscheidung des OG Brünn (siehe Fn. 196) zitiert. Dies verwundert umso mehr, da Klang ansonsten sehr wohl tschechoslowakische Urteile verarbeitet. 199 Zur Entstehungsgeschichte vgl. A. Steinwenter, Vermögensübernahme und Vertragsübernahme, in: ZBl 1934, 401 ff.; H. Klang, § 1409 in der Rechtsübung, in: JBl 1948, 437; A. Riedler, Der Vermögens- und Unternehmensbegriff des § 1409 ABGB, in: JBl 1992, 564 f. § 1409, Abs 1 und 2 (jetzt 3) gilt noch heute in Österreich. 200 Klang, wie Fn. 199, 438, bei Fn. 12. Diese Entscheidung des OG Brünn vom 4. 2. 1937 ist anscheinend die erste zu dieser Frage. 201 Klang, wie Fn. 199, 438, bei Fn. 15 f.
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noch 1992 Riedler. Er verweist auf die entsprechende Stelle bei Klang, ohne aber auf die tschechoslowakische Rechtsprechung hinzuweisen202. Klang verwendet auch an anderen Stellen seiner Arbeit Erkenntnisse des OG Brünn. Diese werden zum einen zur Unterstützung einer Ansicht neben Entscheidungen des OGH in Wien zitiert, etwa die Frage, ob unter „Vermögen“ eine Zusammenfassung von Sachen und Rechten zu verstehen ist, oder eine einzelne, besonders wertvolle Sache genügt. Beide Gerichte haben sich für erstere Ansicht ausgesprochen203. Weiters werden auch Judikaturdifferenzen behandelt, so bei der Übernahme von Sondervermögen. Fraglich hierbei ist, ob der Erwerber für die gesamten Schulden haftet (OG Brünn), oder ob er nur anteilig für die Schulden einstehen muss, die dem Verhältnis Sondervermögen zum Wert des beim Veräusserer verbleibenden Vermögensteiles entsprechen (OGH)204. Für die Entscheidung mancher Fragen schließlich scheint Klang sich nur auf die tschechoslowakische Judikatur berufen zu können, beispielsweise beim Ersatz von Bergbauschäden205. Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich die mehrmals erwähnte Entscheidung des OG Brünn vom 4. 2. 1937. Das Gericht nahm zu der Frage Stellung, ob für die Haftungsbegründung eine rechtsgeschäftliche Übertragung nötig ist, oder ob – wie nach der von Klang kritisierten älteren Judikatur – schon derjenige haftbar wird, der bloß den äußeren Tatbestand einer Unternehmensübernahme setzt. Der OG Brünn hatte, so Klang, „treffend ausgeführt: ,Zur Übertragung eines Unternehmens ist nicht erforderlich, daß ausdrücklich das Unternehmen … übertragen [wird]; es genügt …, daß auf eine Übertragung des Unternehmens in einer alle Zweifel ausschließenden Weise aus den Umständen des Falles und aus dem Inhalt des zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Unternehmer abgeschlossenen Vertrages geschlossen werden kann.“206 Mehr als 25 Jahre später entschied der österreichische OGH, mittlerweile der (neuen) herrschenden Lehre folgend, daß „die Haftung gemäß § 1409 … eine rechtsgeschäftliche Übertragung“ voraussetzt. Der bloße äußere Tatbestand begründet keine Haftung. „Freilich erfordert die rechtsgeschäftliche Übertragung keine ausdrückliche Willenserklärung. Es genügt, daß nach den Umständen des Falles auf die Übertragung des Unternehmens in einer alle Zweifel ausschließenden
202
Riedler, wie Fn. 199, 630, bei Fn. 223. Klang,wie Fn. 199, 437, bei Fn. 9. Ebenso 441, bei Fn. 48, wo die Meinung vertreten wird, daß der Erwerb einer neuen gewerberechtlichen Konzession die Identität des Unternehmens nicht ausschließt. 204 Klang, wie Fn. 199, 444, bei Fn. 84 ff. Vgl. weiters 442, Fn. 61 f.; 444, Fn. 82 f. 205 Klang, wie Fn. 199, 442, bei Fn. 63 f. Vgl. auch 438, bei Fn. 15 f. 206 Zitiert nach Klang, siehe Fn. 82, 439. Zur älteren Judikatur und Lehre vgl. ebda, 438, Fn. 23; K. Wolff, § 1409, in: Klang, IV, siehe Fn. 177, 360. Kritisch dazu schon Steinwenter, siehe Fn. 199, 404; H. Wellacher, Die Schuldenhaftung des Unternehmers beim Übergange vom Vermögen und Unternehmungen, in: JBl 1950, 391 f. In der zweiten Auflage hat K. Wolff seine Ansicht geändert: Klang, VI 2. Aufl., siehe Fn. 177, 356. 203
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Weise geschlossen werden kann.“207 Da diese die noch heute herrschende Ansicht der Rechtsprechung und Lehre ist, hat auch hier das OG Brünn – wenn auch nur durch ein übernommenes Zitat – die österreichische Jurisprudenz beeinflusst208. 6. Ergebnisse Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie blieben die Beziehungen des (alt)österreichischen Juristenstandes, auch auf dem Gebiet des Zivilrechts, weiter bestehen. Die Einheit der Rechtsordnung, gesichert durch die Weitergeltung des ABGB, war so selbstverständlich, dass automatisch bei den Angaben zur Literatur des österreichischen Zivilrechts auch auf die tschechoslowakischen Arbeiten verwiesen wurde. Die Frage, ob Arbeiten und Entscheidungen zu einer formal und teilweise auch materiell fremden Rechtsordnung wie dem tschechoslowakischen ABGB ohne weiteres auch für den österreichischen Rechtsraum Relevanz besitzen, wurde nicht problematisiert. So darf es nicht verwundern, dass die Jurisprudenz des nördlichen Nachbarstaates auch Auswirkungen auf das österreichische ABGB hatte, die teilweise noch bis in die Gegenwart, wenn auch versteckt, zu bemerken sind. Gleichzeitig nahmen österreichischen Juristen regen Anteil an der Entwicklung des tschechoslowakischen Zivilrechtes, ja sie versuchten sogar durch kritische Mitarbeit ihren Beitrag im Gesetzgebungsverfahren zu leisten. Diese grenzübergreifenden wissenschaftliche Beziehungen überdauerten die Zeit des Zweiten Weltkrieges, und sie waren auch danach noch so stark, dass Franz Gschnitzer in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des österreichischen Privatrechtes“ (1946) bedauerte, dass „… wir doch auch künftig die deutschen Juristen der Tschechoslowakei schmerzlich entbehren [werden]. Sie festigten die Verbindung zwischen dem Recht unserer beider Länder, die wir auch weiter zu pflegen unserer beste Kraft aufwenden müssen. Das wertvolle Mittel des Deutschen Juristentages in der Tschechoslowakei ist uns dazu verlorengegangen. Ein österreichischer Juristentag sollte ihn ablösen, … und es ist ein selbstverständliches Gebot, die Juristen der Nachfolgestaaten hiezu als Gutachter, Berichterstatter und Gäste einzuladen. Es wäre ein wichtiges Mittel, um die Einheit oder doch Ähnlichkeit des Rechtes, vor allem des Privatrechtes, im südosteuropäischen Lebensraum zu erhalten… Nichts wäre jedoch kurzsichtiger als den nationalen Stolz darein zu setzen, das territoriale Privatrecht möglichst selbständig auszubauen. … So wie das ABGB. … der Mutterboden vieler Rechtseinrichtungen ist, die sich losgelöst und verselbständigt haben, ihm aber doch den respectus parentelae bewahren; könnte das ABGB auch der Mutterboden zahlreicher nationaler Rechtsordnungen sein, die – untereinander 207
OGH vom 3. 12. 1975, 1 Ob 121/75, in: JBl 1977, 97. Der OGH beruft sich ausdrücklich auf Klang, siehe Fn. 199, 438 f, erwähnt die zitierte Entscheidung des OG Brünn aber nicht. 208 Zur herrschenden Ansicht vgl. z. B. H. Honsell/A. Heidinger, § 1409, Rz 6, in: Schwimann, wie Fn. 195, VII2 (Wien 1997); G. Ertl, § 1409, Rz 3, in: Rummel (wie Fn. 195), Bd II2 (Wien 1992); Dittrich/Tades (wie Fn. 194), § 1409, E 6, E 7.
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geschwisterlich ähnlich – nicht vergessen, daß sie von einem Vaterhause ausgegangen sind. Dieses Vaterhause ist auf den ältesten Bruder übergegangen und die Geschwister versammeln sich von Zeit zu Zeit, ihres Familienbandes eingedenk, bei ihm, der durch das Ansehen des Vaterhauses primus inter pares ist. Aus solchen Zusammenkünften, die sich zunächst mit der Fortbildung des ABGB. befassen, könnte aber auch in gemeinsamer Kommissionsarbeit, ein Neues erwachsen; die Vorbereitung eines gemeinsamen modernen Vermögensrechtes, beginnend mit dem Recht des Vermögensverkehrs.“209 Dieser optimistischen Vision einer weiterhin die Staatsgrenzen überschreitenden „(alt)österreichischen Zivilrechtswissenschaft“ blieb allerdings durch die Erlassung des, der kommunistischen Ideologie verpflichteten, tschechoslowakischen Zivilgesetzbuches vom 25. 10. 1950 die Realisation versagt, obgleich auch noch in diesem Einflüsse des ABGB auszumachen sind. Selbst im nachfolgenden Zivilgesetzbuch vom 26. Februar 1964 finden sich, so Knapp, „stilprägende“ Elemente des ABGB. Auf Grund der langjährigen Tradition eines einheitlichen Rechtsraums wurde noch nach den Ereignissen des Jahre 1989 in den Diskussionen um eine Reform des tschechischen Zivilrechtes der – später jedoch abgelehnte – Vorschlag gemacht, auf das ABGB zurückzugreifen210.
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JBl 1946, 64. Vgl. dazu V. Knapp, Das ABGB in Böhmen: Eine rechtshistorische und rechtsvergleichende Abhandlung, in: F. Matscher/I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Europa im Aufbruch. Festschrift für F. Schwind zum 80. Geburtstag, 1993, 178 f. Zur tschechoslowakischen Gesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg auch Slapnicka, wie Fn. 119, 74 f.; ders., Die Erneuerung der Rechtsordnung in der Tschechoslowakei, in: JBl 1951, 435 ff. 210
Das ABGB in Italien Maria Rosa Di Simone I. Einführung und Anwendung Im Gefolge der Wiedererlangung der italienischen Gebiete nach dem Fall Napoleons war – trotz der nicht viel weniger wichtigen Reorganisation der zentralen und peripheren Verwaltung – eines der größten Anliegen der habsburgischen Regierung, den französischen Code Civil durch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch zu ersetzen, da dieses damals als Grundinstrument zur Wiederherstellung und Verfestigung der Überlegenheit Wiens erschien, nicht zuletzt, um dadurch die durch Napoleon inspirierten Freiheitsansätze im Keim zu ersticken1. Das ABGB – mit Stolz verstanden als unverzichtbarer, charakteristischer und lebendiger Teil des österreichischen Rechtssystems, als Meilenstein, in dem viele Hoffnungen und Sehnsüchte des Aufklärungszeitalters Gestalt angenommen hatten, gleichsam als Klammer, in der die Untertanen des Vielvölkerreiches eine gemeinsame Identität erkennen konnten – schien dabei eines der wirkungsvollsten Mittel zu sein, um die italienischen Gebiete in den habsburgischen Einflussbereich zurückzuführen. Darauf Bezug nehmend publizierte der Jurist Carl Joseph Pratobevera 1816 einen Artikel, dem zu entnehmen ist, dass das Inkrafttreten des ABGB auf der Halbinsel nicht allzu viel Widerstand erzeugt hätte, da die Bevölkerung von Mailand und Venedig – durch gravierende Fehler der französischen Gesetzgebung bereits in Missstimmung versetzt – mit den österreichischen Gesetzen bereits vertraut war, da das gemeine Recht, das die italienische Rechtspraxis in Jahrhunderten geformt hatte, auch die Grundlage des ABGB darstellte – ein Umstand, der eine solide Basis für einen reichen juristischen Gedankenaustausch bilden sollte2. 1
Zum ABGB in Italien vgl. C. A. Cannata, Das ABGB in der Lombardei, in: W. Selb/H. Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751 – 1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien-Graz-Köln 1980, 45 ff; F. Ranieri, Einführung und Geltung des österreichischen ABGB in das Regno Lombardo-Veneto (1815 – 1859), in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/I, München 1982, 226 ff.; M. R. Di Simone, Lintroduzione del codice civile austriaco in Italia. Aspetti e momenti, in: dies, Percorsi del diritto tra Austria e Italia (secoli XVIIXX), Milano 2006, 159 ff.; P. Caroni/E. Dezza (Hrsg.), LABGB e la codificazione asburgica in Italia e in Europa, Padova 2006. 2 V. H., Nachrichten über die neueste Gesetzgebung und Rechtspflege in den österreichischen Staaten, in: C. J. Pratobevera (Hrsg.), Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege in den österreichischen Staaten II, 1816, 292 ff.; Über Pratobevera vgl. C. von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich XXIII, Wien 1872, 210 ff.; H. Baltl, Carl
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Dennoch brachte der Autor einige Zweifel über die Zweckmäßigkeit der Anwendung des Gesetzeswerks in seiner Gesamtheit auf die lombardo-venetianischen Untertanen zum Ausdruck, zumal ein paar seiner Charakteristika – so z. B. die umfassende Formfreiheit bei Verträgen und Testamenten, der große Raum, den man dem Willen der Vertragspartner bei Abschluss von Rechtsgeschäften einräumte sowie die Gleichsetzung der Geschlechter – sich sehr schlecht mit dem Temperament und den örtlichen Gepflogenheiten der Italiener vereinbaren ließen. Seiner Meinung nach rieten die feinen Unterschiede zwischen Kultur, Mentalität und Lebensbedingung der Bevölkerung der Halbinsel und jener der Deutschen zu mehr Behutsamkeit. Anknüpfend an einen Gedanken Montesquieus gab er zu bedenken, dass Gesetze eines Landes sehr schwer auf ein anderes übertragen werden könnten, und zeigte deshalb große Wertschätzung für die Initiative der Regierung, zwei Kommissionen mit Sitz in Mailand und Venedig zu bilden, um über mögliche Änderungen am österreichischen Gesetzeswerk vor dessen Einführung auf der Halbinsel zu diskutieren. Ähnliche Überlegungen waren die Kerngedanken eines anonymen Berichts, den man Giuseppe Sardagna3 zuschrieb, in dem weitschweifig ausgeführt wurde, wie heikel und gefährlich es sei, einem Land ein neues Normensystem aufzuzwingen, in dem die alten juristischen Institutionen von der Volksseele und den Intellektuellen gleichermaßen als fundamentaler Bestandteil der nationalen Identität angesehen würden. In allen Ordnungen stoße das Problem der Änderung von Gesetzen und der Justizverwaltung auf großes Interesse und Mitbeteiligung, in Italien aber, so die Meinung des Autors, führe die reiche Tradition in Theorie und Praxis des Rechts die öffentliche Meinung zu besonderer Abneigung und Misstrauen gegenüber Änderungen. Der Verfechter dieses Gedankens schien im Gegensatz zu der typisch rationalen und philosophisch geprägten Anschauung des Rechts, die die österreichische Lehrmeinung in diesem Zeitalter dominierte, eher eine historische Position zu vertreten, als er die Wichtigkeit der Sitten, des Klimas, der Mentalität, der Ereignisse und der Religion als wichtige Faktoren für die Entstehung der Gesetze in den Vordergrund stellte. Beispiele aus dem römischen Recht und verschiedenen europäischen Ländern zitierend behauptete er, dass ein Rechtssystem sich mit der Zeit schichtenweise aus konkreten Fällen und deren fortschreitender Anpassung an die kulturelle Evolution der Völker zusammensetze.
Joseph von Pratobevera und die Frage der Gewaltentrennung im Vormärz, in: Festschrift Berthold Sutter, Graz 1983, 17 ff.; ders., Carl Joseph Freiherr Pratobevera von Wiesborn, in: W. Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200 – 1980, Wien 1987, 119 ff.; C. Neschwara, Über Carl Joseph von Pratobevera. Ein Beitrag zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte des österreichischen Rechtes im Vormärz, in: W. Ingenhaeff/R. Staudinger/K. Ebert (Hrsg.), FS für Robert Palme zum 60. Geburtstag, Innsbruck 2002, 369 ff. 3 Pro memoria über die Einführung des Österreichischen Zivil- und Criminal Gesetzbuches in Italien, Manuskript, in: HHStA, Staatskanzlei – Provinzen Lombardo Venetien, Karton 33, Blätter 801 ff.; über Sardagna vgl. Wurzbach, Lexikon, wie Fn. 2, XXVIII, Wien 1874, 244 – 245; A. G. Haas, Metternich, reorganisation and nationality, 1813 – 1818. A story of foresight and frustration in the rebuilding of the Austrian empire, Wiesbaden 1963, 190.
Das ABGB in Italien
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Im Hinblick darauf wurde die Einführung des napoleonischen Kodex – der für Frankreich entworfen worden war – in den deutschen Ländern, in Spanien und in Italien als Ausdruck von schlimmstem Despotismus angekündigt, nämlich als „eine der härtesten moralischen Torturen …, die die unterjochten Völker von dieser mächtigen eisernen Hand zu erleiden hatten“4. Im Gegensatz zur Härte der französischen Politik pries der Autor die väterliche Haltung des Kaisers, der sicher nicht erlaubt hätte, die italienischen Provinzen wie von primitiven Völkern bewohnte Kolonien zu behandeln. Vielmehr hätte er sich dafür eingesetzt, am österreichischen Zivil- und Strafrecht die notwendigen Änderungen vorzunehmen, um es an die Bedürfnisse einer alten Zivilisation anzupassen5. Vor allem war es notwendig, die Form der Texte ein weiteres Mal durchzusehen, da die über einen sehr lebendigen Geist verfügenden und üblicherweise praxisnäher als die Deutschen orientierten Italiener nicht für philosophische und abstrakte Spekulationen geeignet waren, so dass es wichtig schien, die verschiedenen Paragraphen einerseits detaillierter und andererseits inhaltlich beweglicher zu gestalten. Die Darlegungen der Prinzipien, die in den Paragraphen enthalten waren, hätten ausgereicht, um für den österreichischen Richter eine Leitlinie abzugeben, während der italienische sich einerseits in Schwierigkeiten befunden hätte, weil er nicht – wie gewohnt – an konkrete Fälle anknüpfen konnte, und andererseits sein Bewegungsspielraum zu groß gewesen wäre6. Aber neben dieser allgemeinen Maßnahme bedurfte es auch der Modifikation einiger inhaltlicher Bestimmungen. Da etwa das österreichische Strafrecht für den Autor zu mild erschien, um der Ausbreitung der Kriminalität in den italienischen Provinzen entgegenzuwirken, plädierte er für eine Beibehaltung des noch strengeren französischen Kodex in bestimmten Fällen7, und auch für das Privatrecht erschien es ihm manchmal ratsam, einige der geltenden Normen weiterhin in Kraft zu belassen. So wie bei den Verträgen wäre es ein großer Fehler gewesen, den Formalismus und die komplexe notarielle Praxis – ein Damm gegen die verbreitete Arglist der Parteien in Italien – abzuschaffen, um die österreichische, auf einfache Aktenunterzeichnung gestützte Methode einzuführen, während die Beibehaltung der alten lombardischen Vermögensnormen verhindert hatte, dass diese Materie in eine gefährliche Unsicherheit schlitterte.8 Sehr negativ wurde auch die Abschaffung des napoleonischen Handelsrechts beurteilt; einige seiner Bestimmungen hätten auch in das österreichische Recht eingebaut werden können. Und auch die französische Strafprozessordnung, die die atavistische Neigung der Italiener, Prozesse durch Arglist zu verkomplizieren, blockiert hätte, erschien für die Bedürfnisse einer korrekten Justizverwaltung besser geeignet als die österreichische, die sich sogar für die disziplinierte deutsche Bevöl4 5 6 7 8
Pro Memoria, wie Fn. 3, Blatt 805r. Ebda, Blatt 805v. Ebda, Blätter 805v–806r. Ebda, Blätter 806r ff. Ebda, Blätter 807v ff.
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kerung als unbrauchbar erwiesen hatte9. Der Autor bestand auf der Warnung, dass nur eine aufmerksame Beachtung der kulturellen und historischen Eigenschaften der Provinzen Lombardei und Venetien die Einstellung kindlichen Vertrauens gegenüber der regierenden Dynastie, die in einer gemischten (Vielvölker-)Ordnung wie der der Habsburger immer das stärkste Verbindungselement gebildet hatte, garantiert hätte, und unterstrich, dass die Erhebung gegen die seinerzeit von den Franzosen durchgeführte eiserne Nivellierungspolitik den besten Beweis dafür geliefert hätte, wie notwendig es wäre, den Respekt vor lokaler Tradition zu bewahren. Auch in diesem Bericht erwähnte man die in Mailand und Venedig gebildeten Kommissionen, die Vorschläge zur Anpassung des ABGB an die italienischen Verhältnisse vorzubereiten hatten. Das Fehlen von Dokumenten hat es bis jetzt aber nicht erlaubt, unser Wissen über die Aktivität dieser Organe zu vertiefen, deren Resultate übrigens kaum von nachhaltiger Wirkung gewesen waren. In der Tat drängten die habsburgischen Autoritäten darauf, eine rasche Ausbreitung des österreichischen bürgerlichen Rechts in den wiedererlangten Regionen zu erreichen: bereits Anfang Jänner 1815 ordnete eine Reihe von kaiserlichen Patenten die Einführung des bürgerlichen Rechts in verschiedenen Zonen an, auch wenn, vor allem wegen Verzögerungen bei der Übersetzung in die italienische Sprache, die allgemeine Anwendung erst 1816 abgeschlossen werden konnte10. Einzelne Bestimmungen des Kodex waren schon früher in Kraft getreten. Im Besonderen fixierten zwei im März und Juni 1814 ergangene Verordnungen einige Maßnahmen, die im Bereich des Eherechts sehr wichtig schienen. Diese schrieben die Anbringung des Aufgebots nicht nur im Rathaus, sondern auch in der Kirche vor. Außerdem wurde die Gültigkeit der Ehe nur nach Abschluss des religiösen Ritus anerkannt und den Gerichten verboten, Anträgen auf Scheidung zwischen Katholiken stattzugeben. Der Scheidung wurde damit der Stellenwert einer einfachen persönlichen Trennung gegeben11. Diese Normen waren die Vorboten der Patente des 2. Jänner 1815, mit denen das gesamte österreichische Eherecht in der Lombardei, in Venetien und in Dalmatien eingeführt wurde – gleichsam in umfassender Vorwegnahme der restlichen Normen des Gesetzeswerks12. Im ersten Moment erzeugten diese Normen Zweifel und Widerstand bei den Bürgern und den Juristen. Besonders auf dem Feld des Ehe- und des Erbrechts versuchte die Bevölkerung, die Systeme der Vergangenheit entgegen den neuen Richtlinien beizubehalten. Eine Quelle von Problemen war zum Beispiel der lebhafte Widerstand 9
Ebda, Blätter 809v ff. F. Menestrina, Nel centenario del codice civile generale austriaco, in: Rivista di diritto civile III, 1911, 808 ff.; A. Fedynskyi, Räumliche Geltung des ABGB im Wandel der Zeit, iur. Diss. Wien 1944, 33 ff.; Ranieri, Einführung und Geltung, wie Fn. 1. Eine Anzahl von Dokumenten über die Übersetzung des ABGB in italienischer Sprache und über Druck und Verteilung des Textes befindet sich in: ASM, Giustizia civile, parte moderna, b. 25. 11 Zum Text der Ordnungen vgl. A. Th. Michel, Beiträge zur Geschichte des österreichischen Eherechtes, 2 Bände, Graz 1870 – 1871, I, 89 ff.; Atti del governo, Milano 1814, 65 ff. 12 Michel, wie Fn. 11, I, 48 – 49. 10
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des venetianischen Klerus gegen die Normen des Eherechts, die so eng mit denen des kanonischen Rechts zusammenhingen, dass sie in Werken, in denen die zivilen und religiösen Aspekte zusammen dargestellt waren13, illustriert werden konnten, obwohl sie sich nicht ganz mit der kirchlichen Tradition deckten. In Wirklichkeit waren es nicht so sehr die wenigen Meinungsverschiedenheiten im Bereich von Verhinderung oder Vereinigung von Nichtkatholischen, die eine Reaktion der Pfarrer provozierten, sondern vielmehr deren Einbindung in Form von Staatsbeamten – eine Funktion, die vorher alleiniges Recht der Kirche gewesen war und jetzt von der weltlichen Autorität abhing. Gegenüber dem, was als intolerante Einmischung des Staates gesehen wurde, erschien selbst das napoleonische System besser, das die Kleriker in ihrer Gesamtheit von den Eheangelegenheiten ausschloss, da es die Ehe auf einen einfachen zivilen Ritus beschränkt hatte, so dass die Kleriker nicht mehr zur Mitarbeit verpflichtet gewesen waren. Die Proteste waren so stark, dass nur die offiziellen Deklarationen des Kaisers, in welchen er versicherte, die volle Autonomie der religiösen Autoritäten in Dispens- und in Sakramentsangelegenheiten anzuerkennen, die Situation beruhigen konnten14. Widerstand gab es auch gegenüber den Mitgiftsbestimmungen, die die traditionellen Kautelen, die vom gemeinen Recht vorgeschrieben und in die Statuten der Stadt Mailand wiederaufgenommen worden waren, entfernten, ohne die Zeit der Verfassung des Statuts zu berücksichtigen. Ein Gesuch, das man dem Kaiser übermittelte, machte darauf aufmerksam, dass dieses System in Kontrast zu den alten Gesetzen der venetianischen Republik stand, und bat, aus dieser neuen Disziplin zumindest die Mitgiftsangelegenheiten vor Inkrafttreten des neuen ABGB15 herauszunehmen. Diese Bitten wurden aber zurückgewiesen, und ein Rundschreiben bestätigte endgültig die Verpflichtung, sich an dem bürgerlichen Gesetzeswerk zu orientieren – und zwar ohne Rücksicht auf das Datum der Eheschließung16. Ein paar Anwendungsprobleme gab es auch bei den Bestimmungen über die Testamente, wie ein Rundschreiben von 1816 zeigt, in dem sie in einer autonomen Form zum Zweck der leichteren Verbreitung publiziert wurden mit der Empfehlung, sich an „die Personen, die für das Gesetz fachkundig sind“, zu wenden, um die teilweise Nichtigkeit zu vermeiden, weil das Nichtwissen der geltenden Norm nicht in allen
13
P. Speranza, Manuale del diritto di matrimonio austriaco civile ecclesiastico, Vienna
1817. 14
Betreffend des Widerstands des venetianischen Klerus vgl. J. A. von Helfert, Kaiser Franz I. von Österreich und die Stiftung des lombardo-venetianischen Königreiches, Innsbruck 1901, 230 ff., 569 – 570; A. Sandon , Il Regno Lombardo Veneto 1814 – 1859. La costituzione e lamministrazione. Studi di storia e di diritto; con la scorta degli atti ufficiali dei dicasteri centrali di Vienna, Milano 1912, 131 f. 15 ASM, Giustizia civile, moderner Teil, b. 31, fasc. 8. 16 Vgl. Rundschreiben vom 18.2.1818, in: Raccolta degli atti di governo e delle disposizioni generali emanate dalle diverse autorit in oggetti s amministrativi che giudiziarj, Milano 1818, I, II, 154 f.
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Fällen eine Entschuldigung für die Verletzung der Form sein konnte17. Ein anderes Rundschreiben, das im Jahre 1817 ausgesandt wurde, machte darauf aufmerksam, dass – besonders am Land und aus Anlass des Abschlusses eines Ehevertrags – Erbverträge geschlossen wurden, wobei im Irrglauben, dass es nicht notwendig wäre, zusätzliche Äußerungen des letzten Willens zu machen, bei diesen bloß die Vertrags-, nicht aber die Testamentsform beachtet wurde. Zur Eindämmung der Vielzahl von Fällen teilweiser Nichtigkeit wurden bei dieser Gelegenheit die diesbezüglichen Vorschriften des Gesetzbuches separat abgedruckt, um auf die Wichtigkeit hinzuweisen, sich von Experten unterstützen zu lassen18. Einige Normen des ABGB konnten aber nicht in Kraft treten. So konnten im Jahre 1819 diejenigen Paragraphen, die die Vormundschaft und die Kuratel im Bereich des Bauernstandes zu einer besonderen Disziplin machten sowie auch den Verkauf und die Nachfolge von Bauerngut, das der feudalen Herrschaft unterstellt war (§§ 284, 433, 761), regelten, in Lombardo-Venetien nicht angewendet werden, weil sie eine Gruppe von Angelegenheiten betrafen, die es in diesen Provinzen nicht gab19. Noch problematischer war zweifellos der Fall der wichtigen Materie der Hypotheken. In dieser Disziplin war der österreichische Kodex sehr fortschrittlich, da er schon moderne Prinzipien der Publizität und der Spezialität mit größerer Strenge als der französische Code civil realisierte, obwohl Bonaparte schon seinerzeit interveniert hatte, um eine Wende der französischen Gesetzgebung in diesem Bereich zu erwirken. Während der französischen Besatzung Italiens wurde in der Tat die gesetzmäßige stillschweigende und die Generalhypothek für bestimmte Personenkategorien beibehalten, mit all den Nachteilen für Dritte, die solchen alten Instituten innewohnen20. In den slawischen und deutschen Provinzen des Habsburgerreichs wurde schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein effizientes System der Publizität des Liegenschaftsverkehrs durch die Einführung zweier Register gestartet, deren Aufgabe es war, die Tabularinskription und die dazugehörenden begründenden Dokumente einzutragen. Ebenso hatte in den Grafschaften Görz und Gradisca sowie in Triest die Organisation solcher Instrumente in der Zeit der Restauration einen höheren Grad von Vollkommenheit erreicht und damit die Durchführung eines guten Mechanismus von
17 Rundschreiben der Regierung des Litorale vom 30.11.1816, in: AST, I.R. Luogotenenza del Litorale. Atti Generali, b. 3444. 18 Rundschreiben vom 4.11.1814, in: Racccolta degli atti di governo, wie Fn. 16, Milano 1817, II, 318 ff. 19 Bekanntgabe vom 29.11.1919, in: ebda, 1819, II, 191 f. 20 Über die französische Gesetzgebung und deren Anwendung in Italien vgl. A. Carabelli, Il diritto ipotecario vigente nel Regno Lombardo-Veneto trattato in relazione alluniversale giurisprudenza I, Milano 1856, 42 ff.; Manuale del Codice Civile Generale austriaco, Milano 1842, Anhang 4 – 5; E. Genta, Ricerche sulla storia dellipoteca in Piemonte, Milano 1978, 15 ff.
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hypothekarischer Publizität erlaubt, der ein paar Jahre später noch verfeinert werden sollte21. In Lombardo-Venetien dagegen fanden die österreichischen Normen, die die Einschreibung aller mit Immobilien verbundenen Sachenrechte vorsahen, nicht zu überbrückende Hindernisse aufgrund des Fehlens von öffentlichen Registern vor, so dass es notwendig wurde, eine Vorschrift zu erlassen, die provisorisch die alte Gesetzgebung in Kraft beließ22. So musste man, was die Formalitäten der hypothekarischen Einschreibung betraf, immer noch auf das Reglement vom 19. April 1806 zurückverweisen, und sich hinsichtlich der Verwaltungsorganisation auf das Dekret vom 8. Juni 1805 stützen. Aber das, was nur eine momentane Lösung in Erwartung der Schaffung neuer Instrumente hätte sein sollen, die notwendig gewesen wären, um die österreichischen Normen in Kraft treten zu lassen, verfestigte sich derart, dass sich von der Substanz her nicht mehr viel änderte. Ein langer und komplexer Bericht, der im Jahre 1825 vom lombardo-venetianischen Senat23 verfertigt wurde, erinnerte daran, dass die zwei oben erwähnten und zwischen 1850 und 1860 in Mailand und Venedig tätigen Kommissionen, die den österreichischen Kodex an die italienischen Provinzen angleichen sollten, sich positiv zur Einführung des Tabularsystems geäußert hatten. Besonders die venetianische Kommission propagierte die Schaffung von Registern, die sich auf Eigentumserklärungen stützen und die (gleichzeitig) unter die Kontrolle einer zuständigen Organisation gestellt werden sollten. Aufgrund des starken Widerstandes der Lombarden, die befürchteten, durch die Reform ihre steuerlichen Privilegien zu verlieren, wurde nichts daraus. Sie glaubten, dass die Steuern steigen würden „und dieser fehlerhafte Glaube war der wahre und wichtige Grund dafür, daß das unter seiner Majestät Josef II. erfundene Tabularsystem so viel Widerstand fand, so daß man die zuständigen Prüfungen vom Jahr 1816 bis zum Jahr 1823 verschob, und daß die sogenannte gemischte Kommission von Mailand die Einführung eines solchen Systems nicht für zweckmäßig befunden hatte“. Um aus der Patt-Stellung herauszukommen, in die man sich durch diese Probleme hineinmanövriert hatte, schlugen die Verfasser die Bildung einer zuständigen Kommission vor, die – abgesehen von drei Hofräten – aus zwei Beisitzern bestehen sollte, die besondere Experten in dieser Materie waren: Ferdinando Dordi, Regierungsrat zu Mailand, und Giuseppe Peroch, Konservator der Hypotheken in Udine. Diese Organisation hätte dem Präsidenten des lombardo-venetianischen Senats unterstellt und mit großer organisatorischer Macht ausgestattet werden sollen. Der kaiserliche Erlass war günstig und auch andere Berichte und Vorschläge von verschiedener Seite zeig21 Carabelli, Il diritto ipotecario, wie Fn. 20, I, 62 ff.; Manuale del Codice Civile, wie Fn. 20, 5 ff.; P. Dorsi, La prima fase di funzionamento del sistema tavolare a Trieste: il lento cammino duna riforma, in: Rivista di diritto tavolare, II, 1983, 45 ff. 22 Notifizierung vom 16.3.1816, in: Raccolta degli atti, wie Fn. 16, Milano 1816, I, 220 ff. 23 Der Bericht ist aufbewahrt im HHStA, Abt. Allg. Verwaltungsarchiv, Oberste Justizstelle, Lombard.-Venetian. Senat, C 1 Codex Civilis, Karton 13.
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ten, wie dieses Problem die lokalen Autoritäten in den ersten zehn Jahren der österreichischen Restauration beschäftigte24. In dieser Zeitspanne war die einzig brauchbare Maßnahme das Reglement vom 27. Oktober 182025, das die Einschreibung der gesetzmäßigen stillschweigenden Hypothek im Falle eines gerichtlich angeordneten Verkaufs der Güter erzwang, und erst das Patent vom 19. Juni 1826 führte anscheinend zu einem an das ABGB angepassten System26. Nachdem man das Beharren auf den alten hypothekarischen Formen, die die Vertragsverhandlungen blockierten, in Lombardo-Venetien bedauert hatte, beschloss man in diesem die allgemeine Eintragungspflicht bis höchstens 1827 für die gesetzlichen stillschweigenden Hypotheken und für alle anderen, die vor Einführung des ABGB in den Ämtern der zuständigen Kreisverwaltung gelegen waren. Der Richter hatte die Möglichkeit, die Beteiligten zu zwingen, sich an das Gesetz zu halten, und nach Ablauf der Frist wurde ex officio die Einschreibung durchgeführt, nach Ablauf von zehn Jahren musste jede Hypothek erneuert werden – verbunden mit der Umwandlung der allgemeinen in spezielle – bei ihrer sonstigen strafweisen Ungültigkeit. Wie aus den Dokumenten dieser Epoche hervorgeht, stieß die Durchsetzung dieser Befehle auf viele praktische Schwierigkeiten. Um die durch Arbeit überlastete Verwaltung zu unterstützen, wurde die Erlassung einer Reihe zusätzlicher Instruktionen notwendig, die die Modalitäten der Ausfüllung der Register, Zertifikate und anderer Akten erläuterten27. Trotz fortgesetzter Bemühungen musste der Termin zuerst auf Juni 1828 und dann auf Dezember 182928 verschoben werden. Noch im Jahre 1831 übte ein Bericht des Gerichts von Venedig an diesem neuen System viel Kritik und verwies auf die Gesetze der Republik Venedig, die noch aus dem Jahr 1526 stammten29. Für manche Leute bedeutete die Verordnung von 1826, die die Prinzipien der Publizität und der Spezialität30 stark verankert hatte, eine Zäsur; in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es aber auch Personen, die das geltende System als unbrauchbaren Kompromiss für eine moderne Regelung der Materie kritisierten. Alessandro Carabelli beobachtete in einem sehr verdichteten Aufsatz zum Thema, dass die österreichischen Normen nicht angewandt worden wären, sich die französischen Formulierungen dagegen in der Praxis erhalten, und die Koexistenz der zwei Gesetzgebungen viele Probleme geschaffen hätten, während das Fehlen von Tabularregis-
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Vgl. die betreffenden Dokumente in: HHStA, wie Fn. 23. Raccolta degli atti, wie Fn. 16, Milano 1820, II, 88 ff. 26 Ebda, 1826, II, I, 77 ff. 27 Eine Vielzahl von Instruktionen dieser Art liegen im HHStA, wie Fn. 23. 28 Notifizierung vom 20.12.1827, in: Raccolta degli atti, wie Fn. 16, Milano 1827, II, I, 101 f.; Notifizierung vom 28.12.1828, in: ebda, 1828, II, I, 127. 29 Der Bericht befindet sich im HHStA, wie Fn. 23. 30 Manuale del Codice Civile, wie Fn. 20, Anhang, 5. 25
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tern eine echte Publizität verhindert hatte31. Die Hauptverantwortung für diese Lage wurde von diesem Schriftsteller den Juristen zugewiesen, die sich den Versuchen der Regierung immer entgegengestellt hätten, und – die praktischen Schwierigkeiten übertreibend – so getan hätten, als ob der Grundbesitz der Provinzen Lombardo-Venetiens besondere und im Vergleich zu anderen Gebieten abweichende Probleme dargestellt hätte. Obwohl seit kurzem im Bereich der Verbücherung von Sachenrechten Reformen durchgeführt worden waren, schien die Einführung eines echten Tabularsystems noch in weiter Ferne zu liegen. Von ein paar Ausnahmen abgesehen verwurzelten sich Mitte des 19. Jahrhunderts die Normen des ABGB in der österreichischen Verwaltungszone stark in der italienischen Gesellschaft; die meisten Schwierigkeiten wurden durch die Praxis endgültig beseitigt. II. Die Rechtswissenschaft Noch vor seiner Inkraftsetzung war das ABGB bereits Gegenstand aufmerksamer Analysen jener Rechtsgelehrten, die rechtzeitig angefangen hatten, die allgemeinen Charakteristika und die einzelnen Institute jenes Gesetzbuches zu studieren, indem sie diese mit den lokalen und den französischen Gesetzen verglichen. Eines der ersten Werke, die aus dem Bedürfnis heraus entstanden, sich die Funktionsweisen dieses neuen Textes anzueignen, war das des Juristenberaters Vicenza Giovanni Maria Negri32. Er erklärte im Vorwort seines Werkes, dass er seit ein paar Jahren angefangen habe, über den französischen Kodex nachzudenken, und ein paar Randnotizen über die Aspekte, die sowohl ihm als auch anderen Kollegen schlechter erschienen, angemerkt hatte. Als die Restauration der habsburgischen Regierung ihm die Möglichkeit eingeräumt hatte, stellte er die unterschiedlichen Formulierungen des ABGB fest und wusste dessen Lösungen, die in vielen Fällen klarer, rationaler und gerechter waren als die des napoleonischen Gesetzbuches, zu würdigen. In dieser Schrift spiegeln sich deutlich das Misstrauen und die Verwirrung wider, die die typisch laizistische Spur des französischen Code civil in einem Milieu wie dem Venetiens, das stark von katholischer Kultur geprägt war, hervorgerufen hatte. Der Autor bemerkte, dass der Gegensatz zwischen den Lehren der Kirche und den geltenden Gesetzen mit einer besonderen Deutlichkeit im Bereich des Eherechts auftauchte, wo der religiöse Ritus auf eine rein formale Zeremonie reduziert wurde, wo man darüber hinaus nur dem zivilen Teil den Wert eines konstitutiven Aktes zugestand und wo die Scheidung unvermeidlich der christlichen Tradition entgegenstand, indem sie die
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Carabelli, Il diritto ipotecario, wie Fn. 20, I, 6 – 7. G. M. Negri, Dei difetti del codice civile italico che porta il titolo di Codice Napoleone e dei pregj del codice civile austriaco, Vicenza 1815; über Negri vgl. J.-L. Halprin, Une critique italienne du Code Napolon en 1815, in: A. Padoa Schioppa/G. Di Renzo Villata/G.P. Massetto (Hrsg.), Amicitiae pignus. Studi in ricordo di Adriano Cavanna, II, Milano 2003, 1231 ff. 32
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Grundlagen des Volksglaubens erschütterte und faktisch schwere „Skandale, Verwirrungen, Unannehmlichkeiten und Risse“ erzeugte33. Wenn Negri der Scheidung, die Wichtigkeit und zentrale Rolle des Problems unterstreichend, ein langes und ausdifferenziertes Kapitel widmete, so vergaß er auch nicht die Aufmerksamkeit auf die negativen Aspekte des napoleonischen Gesetzbuches zurückzulenken. So finden sich z. B. folgende Probleme nicht behandelt: die Ehe „in articulo mortis“, mit der es zuvor noch möglich gewesen war, irreguläre Situationen zu sanieren und die unehelichen Kinder zu legitimieren; die Eheverbote für die Kleriker; Normen, die das Ehebündnis annullieren, welches ohne die Erlaubnis der Eltern von Söhnen bzw. Töchtern, die jünger als 25 bzw. 21 Jahre alt waren, geschlossen wurden; die Wiederverheiratung der Witwe vor Ablauf der Zehnmonatsfrist seit dem Tode ihres Gatten; sowie Verurteilungen, die den zivilen Tod mit sich brachten. In all diesen Fällen respektierte das ABGB – in Verfolgung kirchlicher Vorschriften – strenger das Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe (§§ 49, 63, 86, 111, 121) und vermied so, Konflikte zwischen dem Gewissen der Bürger und dem Gesetzesgehorsam zu schaffen, indem es harmonisierend zwischen kultureller und lokaler juristischer Tradition wirkte34. Auf der gleichen Linie standen die österreichischen Normen, die – im Gegensatz zu den französischen – die männliche Zeugungsunfähigkeit als Ursache für die Annullierung der Ehe (§§ 60, 100, 101) vorsahen35. Auch bezüglich der Regelung der Eigentumsverhältnisse zwischen den Eheleuten machte Negri auf Unzulänglichkeiten in der napoleonischen Gesetzgebung aufmerksam36. Der italienischen Tradition fremd war seiner Meinung nach der gesetzliche Güterstand der Gütergemeinschaft, den er für die Ehefrau für gefährlich hielt, zumal sie Gefahr liefe, ihre eigene Vermögenssubstanz zu verlieren, die aber vorher durch das Band der Unveräußerlichkeit garantiert gewesen war. Und während das Heiratsgabensystem durch einen speziellen Vertrag noch erlaubt war, schien ihm das Verbot der Erhöhung der Mitgift nach der Ehe ungerecht, zumal der Ehegatte bevollmächtigt war, die Frau zwar gegen die Betrügereien Fremder, nicht aber vor der eigenen Begierde zu schützen. So gesehen ermöglichte das ABGB, das die Bildung von gemeinsamen Gütern an die Abfassung eines besonderen Vertrages (§§ 1233 ff.) koppelte, die Widerlegung des Heiratsguts (§ 1230), sah also kein Verwaltungsrecht des Mannes vor, und wäre daher, so Negri, nicht so weit von den Bedürfnissen der venetianischen Bevölkerung entfernt. Im Bereich des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern befand Negri die Lösung des österreichischen Gesetzbuches für gut, weil sie ausgewogener und gerechter war und der in Italien tief verwurzelten romanistischen Tradition näherstand. Einerseits hatte der napoleonische Kodex die schwierige Lage der unehelichen Kinder ver33 34 35 36
Negri, wie Fn. 32, 14. Ebda, 16 ff. Ebda, 34 f., 39 ff. Ebda, 147 ff.
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nachlässigt, indem er die Erforschung der Vaterschaft verbot und keine Alimentationsverpflichtung ihnen gegenüber vorsah, andererseits hatte er die Autorität des Familienoberhauptes gegenüber den legitimen Kindern durch eine massive Eingrenzung der väterlichen Gewalt stark unterminiert. So legte er die Volljährigkeit auf 21 Jahre fest und entzog dem Vater die Nutzungsrechte an den Gütern des Sohnes nach Erreichen des 18. Lebensjahres. Das ABGB war bemüht, den unehelichen aber anerkannten Kindern das Recht auf Unterhalt (§§ 166 ff.) zuzuerkennen und erlaubte im Rahmen bestimmter Grenzen die Erforschung der Vaterschaft (§ 133), während es die Abhängigkeit von der Autorität des Vaters bis zur Erreichung des 24. Lebensjahres (auch nach Befragung des Gerichts) verlängerte und dem Vater die Verwaltung der Güter des Sohnes bis zur Erreichung der Volljährigkeit anvertraute (§§ 149 – 150, 172 – 173)37. Bezüglich der Töchter behielten die österreichischen Normen die Verpflichtung der Aszendenten an der Bestellung des Heiratsguts bei (§ 1220), die aus dem französischen Kodex verschwunden waren und damit einen schlimmen Bruch mit den alten auf römischem Recht gründenden italienischen Bräuchen erzeugt hatten38. Die Interessen der unter Kuratel gestellten Personen waren sehr gut durch das ABGB abgesichert, so etwa durch die Verpflichtung des Kurators, einen jährlichen Rechenschaftsbericht über seine Tätigkeit zu verfassen (§ 239), anstatt nur eines zusammenfassenden Berichtes am Ende seiner Funktion, wie der napoleonische Kodex es bestimmt und damit den Weg für viele Missbräuche freigemacht hatte. Auch für die Entmündigten erschienen die österreichischen Normen – in Abweichung von den französischen – vorsichtiger und klüger, da sie um vieles restriktiver waren. Sie erschwerten Verschwendern die Verfügung über Güter durch Zuteilung eines Kurators (§§ 270, 273, 568), anerkannten aber die Gültigkeit der Testamente, die von Verrückten während ihrer lichten Momente (lucida intervalla) (§§ 566 – 567) gemacht worden waren39. Im Bereich der Sachenrechte sind die Kritiken an dem französischen System geringer und treffen nur bestimmte Teile40. Ohne viel Zeit zu verlieren und sich zu sehr in die Unterschiedlichkeiten der beiden Kodizes im Bereich des Eigentums zu vertiefen, beschränkte sich Negri darauf, zu beweisen, dass im österreichischen Gesetzeswerk Argumente behandelt wurden, die im anderen nicht enthalten waren, wie das Nutzungseigentum, beispielsweise Erbpacht oder Erbzinsrecht (§§ 359, 360, 363, 1127 ff.).41 Außerdem bemerkte Negri die große Unparteilichkeit des ABGB, das der römischen Regel treu geblieben war, während sie der napoleonische Kodex aufgegeben hatte, so indem der Fruchtgenuss für die angebrachten Verbesserungen am Grundstück entschädigt wurde (§§ 331, 332, 517) oder in den den Schatzfund betref37 38 39 40 41
Ebda, 47 ff. Ebda, 25 f. Ebda, 58 ff. Ebda, 63 ff. Ebda, 208.
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fenden Normen, die klar das Teilen der kostbaren Sache zwischen dem Staat, dem Finder und dem Grundbesitzer (§ 399) bestimmte, statt sie nur den letzten zwei zuzuteilen, wie es der französische Kodex vorgesehen hatte. Im Gleichklang mit der lokalen Tradition erschienen Negri die österreichischen Servitutsregeln (§§ 472 ff., 1477, 1484, 1488), während das französische Gesetzbuch streng die Erzeugung schriftlicher Titel erzwang, obwohl in der Region Venetien diese üblicherweise auf stille Übereinkunft und unvordenklichen Besitz gestützt waren42. Die französische Erbfolgegesetzgebung wurde von Negri generell abgelehnt, da sie sich von vielen Aspekten der italienischen statuarischen Tradition entfernt hatte43. Im besonderen erschien ihm die gesetzliche Erbfolge in der Gleichsetzung von Mann und Frau und in der Neigung, die Güter des Verstorbenen zwischen mehreren Erben aufzuteilen, nicht passend, da dies fatale Konsequenzen für die Wirtschaft und für das Ansehen der Familie hätte. In der gewillkürten Erbfolge erschien Negri das Verbot von Fideikommissen und der Substitution sowie das Verbot, die Kinder zu enterben, als nicht opportun und zu stark an den Willen des Erblassers gebunden. Auch hier unterstrich der Autor, dass das ABGB nicht nur klarer sei, sondern auch gerechtere Anordnungen als der napoleonische Text enthalte. Unter anderem enthielt das ABGB eine Liste von erbunwürdigen Personen (§§ 540 ff.), es sorgte sich um die Lage des überlebenden Ehegatten (der napoleonische Kodex negierte jedes Anrecht des Ehegatten auf die Güter des Verstorbenen), indem es ihm einen Teil des Erbes, der je nach Anzahl der Kinder und anderer Familienangehörigen variierte, zukommen ließ (§§ 757 ff.), behielt teilweise die Nacherbschaft vor (§§ 609 ff.) und zeigte Respekt vor dem Willen des Vaters, die Kinder auch zu enterben (§ 768). Was die testamentarischen Formen betraf, so hatte Negri einige Zweifel über ihre Anwendbarkeit in Italien, da sie sehr weit von den geltenden Sitten abwichen44. Auch was den Bereich der Schenkungen unter Lebenden anging, erschien ihm das ABGB besser, weil es einerseits – im Gegensatz zu den französischen Normen – die Widerrufung bei Undankbarkeit erlaubte (§§ 948 – 949), andererseits nicht – wie vom napoleonischen Kodex deutlich bestimmt – die automatische Widerrufung für den Fall, dass die Söhne den Schenkenden überlebten45. Nachdem Negri das weite Feld des Schuldrechts unter die Lupe genommen hatte, ohne es sich zum Ziel zu setzen, eine komplette und systematische Behandlung vorzunehmen, zeigte der Vergleich der beiden Normenmodelle mehr Diskontinuität als anderswo. Es scheint, dass der Autor – mittlerweile ein Experte auf dem Gebiet der französischen Institute – bei der Beurteilung des österreichischen Rechts noch nicht die gleiche Reife entwickelt hatte46. Auch hier gab es viele Anmerkungen, die darauf 42 43 44 45 46
Ebda, 71 ff. Ebda, 75 ff. Ebda, 122. Ebda, 111 ff. Ebda, 128 ff.
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abzielten, die Überlegenheit mancher Lösungen des ABGB zu unterstreichen. Lobenswert schien ihm das im ABGB herrschende Prinzip, die Interpretation der Verträge auf den Buchstaben zu begründen und nicht auf die Untersuchung des realen Willens der Kontrahenten (§ 914), sowie die große Vorsicht in der Annullierung und Aufhebung von Abmachungen unter Minderjährigen (§ 248), die explizite Vorsicht beim Kaufvertrag, der nur auf mündlichen Vereinbarungen beruhte (§§ 861 – 862), die bessere Reglementierung der Aufhebung aufgrund von Vertragsverletzungen (§§ 934 – 935), die Annullierung von Verträgen, die zum Gegenstand Rechte hatten, die gerade in einem Verfahren verhandelt wurden (§ 879), die größere Klarheit und Genauigkeit von Anordnungen über die Verfassung von Leibrenten und deren Mandanten (§§ 1284 ff., 1002 ff.), das Publizitätssystem im Immobiliarrecht (§§ 321, 431 ff.), und die höchst rationalen Verjährungsnormen (§§ 1451 ff.). Auf den letzten Seiten des Werkes behauptete Negri, dass, sieht man von bestimmten Teilaspekten ab, manche der allgemeinen Charakteristika des österreichischen Gesetzbuches dieses empfehlenswerter machten als den napoleonischen Kodex. Der letzte der einleitenden Titel, der die Anordnungen über die Veröffentlichung, Gültigkeit und Anwendung des Gesetzes umfasste, wäre angesichts der Wichtigkeit der Materie zu knapp und lückenhaft gewesen, diese Inhalte wiederum im Anfangskapitel des ABGB besser behandelt worden. Lobenswert sei außerdem die Entscheidung des österreichischen Gesetzgebers, verschiedenen Instituten zu erlauben, sich selbst zu definieren; sie wären „alle genauer, und stammten aus den echten Quellen der zivilen Gesetze“, während „auch die im österreichischen Gesetzbuch enthaltene Einteilung, die Ordnung und die Verteilung der Gegenstände und der Titel in Wirklichkeit sehr bewundernswert wäre“47. Ohne Zweifel ist die Abhandlung Negris weder vollständig noch einheitlich und litt unter der Eile, in der man die Anmerkungen dem ABGB zuführte – verglichen mit denen zum französischen System, für die man genug Zeit zum Sammeln hatte –, aber im ganzen traf er korrekt manche charakteristischen Aspekte des habsburgischen Gesetzestextes und drückte wirkungsvoll die Hoffnung aus, dass er sich in einer weniger traumatischen Art an die lokalen Realitäten anpassen könnte. Die manifestierte Haltung dieses juristischen Beraters aus Vicenza reflektierte zuletzt ein allgemeines Wohlwollen gegenüber der habsburgischen Restauration, das sich in Venetien als Reaktion und aus Groll gegen die französische Politik verbreitet hatte. Es bezog seine Nahrung aus der lebhaften Erwartung des Friedens, der Hoffnung auf Senkung der Steuerlast sowie auf ökonomischen Aufschwung, auf die Rückkehr einer konservativen Vision wie Respekt vor der Religion48. Die unmittelbaren Mittel, sich an die neue Gesetzgebung anzunähern, waren der Kommentar und andere Werke Zeillers, von dem man rasche Übersetzungen und 47
Ebda, 207. Vgl. G. Pillinini, Il sentimento filo-asburgico nel Veneto agli inizi della seconda dominazione austriaca, in: R. Giusti (Hrsg.), Il Lombardo-Veneto (1815 – 1866) sotto il profilo politico, culturale, economico-sociale. Atti del convegno storico, Mantova 1977, 47 ff. 48
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nützliche Indizes anfertigte, die praktischen wie auch didaktischen Zwecken genügten49. Schon am 13. September 1814 erkannte der bevollmächtigte Kommissar Bellegarde die Unzweckmäßigkeit, den napoleonischen Kodex an der Juridischen Fakultät zu Pavia weiterzulehren, und beschloss für dieses akademische Jahr, ihn durch das römische Zivilrecht zu ersetzen. Am 3. Oktober 1815 befahl der Gouverneur von Mailand, Sauer, die Lehre des ABGB zusammen mit anderen österreichischen Gesetzen im juristischen Studienplan, der nach dem Wiener Modell reformiert worden war50. Viele Dokumente jener Zeiten belegen die Sorgen der habsburgischen Obrigkeiten um eine rasche Übersetzung der verschiedenen Texte, die man den Studenten zukommen lassen wollte. Unter anderem wurde 1819 aus Wien die von Egger besorgte lateinische Fassung des Bandes „Das natürliche Privatrecht“ von Zeiller übermittelt, um den italienischen Übersetzer zu unterstützen, und gleichzeitig die Schüler, während sie auf die Übersetzung warteten, nicht in Unkenntnis eines so wichtigen Textes zu lassen51. Das Studium der Rechtswissenschaft stützte sich so einerseits auf die Doktrin des Naturrechts, andererseits auf die strenge exegetische Methode, die sich schon in der französischen Zeit durchgesetzt hatte. Nach mancher Meinung hätte diese Denkrichtung einen „kritiklosen“ Unterricht erzeugt, der nur darauf gerichtet gewesen sei, treue und disziplinierte Beamte zu erzeugen52. Dennoch ist unbestritten, dass während der ersten Jahrzehnte nach Einführung des ABGB eine große Anzahl von Schriften entstand, die – obwohl sie manchmal formalistische und repetive Aspekte beinhalteten –, gleichwohl von der Vitalität der italienischen Rechtswissenschaft in den österreichischen Provinzen zeugten53. 49 F. von Zeiller, Commentario sul Codice civile universale per tutti gli Stati ereditari tedeschi della Monarchia austriaca. Prima versione italiana dellavv. Giuseppe Carozzi, 6 Bände, Milano 1815 – 1816; Commentario sopra il codice civile universale della Monarchia Austriaca di Francesco Nobile de Zeiller … versione italiana coi due testi uffiziali italiano e latino e coi passi dellopera sul Diritto naturale privato dello stesso autore riportati in questa versione per esteso (von B. Bertolini), 7 Bände, Venezia 1815; Commentario sopra il codice civile universale austriaco del Signor Francesco de Zeiller … tradotto dalla tedesca nellitaliana favella dal signor Francesco De Calderoni, 6 Bände, Trieste-Venezia 1815 – 1816; G. Carozzi, Epitome ossia indice universale ragionato di tutte le materie che si contengono nesei volumi del Commentario sul codice universale della Monarchia Austriaca del signor Francesco de Zeiller, 2 Bände, Milano 1816. 50 ASM, Studi, parte moderna, b. 988, fasc. 5 und 11. 51 ASM, Studi, parte moderna, b. 942. Die lateinische Übersetzung wurde unter dem Titel: Jus naturae privatum. Editio germanica tertia latine reddita a Francisco nobili De Egger, Wien 1816, publiziert. 52 I. Ciprandi, LUniversit di Pavia nellet della Restaurazione, in: Problemi scolastici ed educativi nella Lombardia del primo Ottocento, 2 Bände, Milano 1977 – 1978, II, 193 ff, 280. 53 Siehe das reiche Verzeichnis der allgemeinen und monographischen Werke über das ABGB, in: A. Reale, Istituzioni del diritto civile austriaco con le differenze tra questo e il diritto civile francese e colladattamento delle disposizioni posteriori alla promulgazione del codice civile generale austriaco pubblicate nel Regno Lombardo-Veneto, 4 Bände, Pavia 1829 – 1832, I, 71 ff.; G. Carozzi, Giurisprudenza del codice civile universale della Monarchia Austriaca
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Den Spuren Negris folgte bald eine Reihe von Juristen, die mit immer mehr Genauigkeit und Intensität das Studium des österreichischen Gesetzbuchs in Angriff nahmen und gleichzeitig die vergleichende Methode, die es erlaubte, die Vorzüge der habsburgischen Gesetzgebung gegenüber anderen Ländern hervorzuheben, vertieften, verbesserten und die Prinzipien und Institute, die von Wien aus den Romanisten auferlegt worden waren, wieder verbanden. So konnten die Juristen einerseits die Fertigkeiten in der Beherrschung der technischen Aspekte des neuen Kodex erwerben und konsolidieren, andererseits auf die Kontinuität einer jahrhundertealten Tradition hinweisen, die ihnen vertraut war. Das zweifache Ziel ist sehr gut im Vorwort des monumentalen Kommentars von Onofrio Taglioni zusammengefasst, der schon 181654 zu publizieren begonnen hatte. Der Autor pries dabei die Klarheit, die Systematik und andere Lösungen des ABGB, welche sehr leicht die Weisheit der Alten mit der rationalistischen Fähigkeit der Moderne und der „Loyalität der Germanen“ verbunden habe, und forderte seine Mitbürger auf, sich dem Studium der neuen Normen mit dem vollen Bewusstsein ihres großen Wertes zu widmen, ohne der vorangegangenen Gesetzgebung nachzuweinen. Auch der Band von Francesco Borella stützte sich insgesamt auf die Befassung mit dem römischen Recht – bereichert um Anmerkungen aus den Gedanken moderner Juristen wie Beccaria, Vattel, Montesquieu, Muratori, Heinecke, Bynckershöek und Bentham55. Ähnlich war das Werk von Giuseppe Antonio Castelli gelagert, das sich in seiner ersten Fassung – die romanistische Inspiration unterstreichend – auf die Erklärung der verschiedenen Prinzipien des österreichischen Kodex konzentrierte, und sich in den folgenden Auflagen in einen sorgfältigen Vergleich auch mit dem napoleonischen Kodex einließ56. In einigen Werken, wie denen von Diego Martines und Jacopo Mattei, wurde außer der französischen Gesetzgebung auch die vieler anderer europäischer Länder herangezogen, um das österreichische Recht besser zu erklären. Man ging dabei regelmäßig von der Ansicht aus, dass dieses, abgesehen von einigen aus der Lehre und Gewohnheit der Kirche entnommenen Prinzipien, auch „zusammengefaßt die Lehren der römischen Weisheit“ enthalte57.
divisa in diversi trattati esposti secondo lordine delle materie in esso contenute, 22 Bände, Milano 1818 – 1830, I, Anhang, 31 ff. 54 O. Taglioni, Commentario al codice civile generale austriaco, 10 Bände, Milano 1816 – 1825. Die letzten beiden Bände wurden von Giuseppe Carozzi realisiert. 55 F. Borella, Annotazioni al codice civile universale austriaco col confronto del diritto romano, Milano 1816. 56 G. A. Castelli, Confronto analitico del Codice Civile della Monarchia Austriaca colle Leggi Romane, Milano 1816; ders., Il codice civile generale austriaco confrontato con le leggi romane e col gi codice civile dltalia, 6 Bände, Milano 1831 – 1832. 57 D. Martinez, Al Codice Civile Austriaco lavvocato Diego Martinez spiegazioni dellintroduzione e dei capitoli I, II parte prima di detto codice, 2 Bände, Milano 1823; J. Mattei, I paraprafi del Codice civile austriaco avvicinati alle leggi romane, francesi e sarde, 5 Bände, Venezia 1852 – 1856.
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Aber neben rein exegetischen Werken fehlte es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch nicht an Werken mit theoretischen und didaktischen Absichten, wie etwa dem breit angelegten Handbuch von Agostino Reale, in welchem dem Vergleich mit anderen europäischen Kodizes breiter Raum gegeben wurde58. Weiters dem weitschweifigen Werk mit doktrinärem und philosophischem Charakter von Giuseppe Carozzi, in dem die verschiedenen Aspekte des österreichischen Zivilrechts gestützt auf beständige Hinweise aus einer großen Zahl von Quellen und Autoren aus verschiedenen Zeiten und Ländern zum Gegenstand ausführlicher theoretischer Darstellungen erhoben wurden59. In den vierziger Jahren neigten Stil und Inhalt der juristischen Literatur in den von Österreich verwalteten Provinzen zu leichterer Verständlichkeit, so dass sie zusammenfassender und einprägsamer wurde. Der minutiöse Vergleich mit den vergangenen und gegenwärtigen Gesetzgebungen sowie den abstrakten Diskussionen wurde langsam durch eine größere Aufmerksamkeit hinsichtlich der unterschiedlichen Verordnungen und Zirkulare ersetzt, die von den österreichischen Gouverneuren nach der Einführung des ABGB erlassen worden waren, und mit einer eminent praxisorientierten Optik betrachtet waren, um den Juristen ihre professionelle Arbeit zu erleichtern. Diese Entwicklung wird beispielsweise durch das Handbuch von Andrea Amati60 und besonders jenes von Gioacchino Basevi61 dokumentiert, wobei letzterer seinen Ärger über die wirren Bände, die in seiner Zeit in Verwendung standen, äußerte und einen extrem kompakten und wirkungsvollen Kommentar zum ABGB schrieb. Darin bemühte er sich durch einen Vergleich mit der ursprünglichen deutschen Version um Klärung mancher Termini, die in den italienischen Übersetzungen manchmal nicht exakt genug wiedergegeben waren und so zu Unsicherheiten führten. Allein 1848 zeigte sich, wie bemerkt wurde62, ein Rückschritt in der italienischen Rechtswissenschaft der österreichischen Provinzen, die immer mechanischer und wiederholender geworden war und so in ihrem Verkümmern einerseits das geänderte politische Klima widerspiegelte und andererseits durch eine entschlossene Verstärkung der Risorgimento-Sehnsüchte die wachsende Aversion gegen die Wiener Regierung bewirkte.
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Reale, wie Fn. 53; vgl. auch ders., Discorso dintroduzione alle lezioni di diritto civile universale austriaco colle differenze tra questo e il diritto civile francese tenuto nell I.R. Universit di Pavia per lanno scolastico 1822 – 1823, Pavia 1823, 29, wo der Autor das ABGB pries, im besonderen wegen der natürliche Ordnung, Symmetrie, der Trennung von Prozessualem und Inhaltlichem sowie der Rationalität des gesamten Systems. 59 Carozzi, wie Fn. 53. 60 A. Amati, Manuale sul codice civile generale austriaco, 3. Aufl., Milano 1844. 61 G. Basevi, Annotazioni pratiche al codice civile austriaco, Milano 1845; über Basevi vgl. F. Liotta, Besavi, Giacchino, in Dizionario Biografico degli Italiani, VII, Roma 1965, 69 f. 62 F. Menestrina, Gli Italiani nello sviluppo del diritto austriaco, in: ders., Scritti giuridici vari, Milano 1964, 295 ff.
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III. Der Einfluss auf die italienische Kodifikation Der Widerstand der lombardo-venetianischen Bevölkerung gegen die Abschaffung des österreichischen Privatrechts nach dem Anschluss an das Königreich Italien ist der beste Beweis dafür, wie fest – abgesehen von der risorgimental inspirierten Polemik – die habsburgischen Normen schon in der zivilen Gesellschaft dieser Provinzen verankert waren. Die Lombardei kam nach dem Waffenstillstand von Villafranca (11. Juli 1859) zu Piemont; ein Dekret vom 20. November desselben Jahres erlaubte die Anwendung einiger piemontesischer Gesetze in diesem Gebiet mit gleichzeitiger, wenn auch nur provisorischer Verwendung des ABGB. In Juristenkreisen stellte man – in vollem Bewusstsein ihrer Wichtigkeit – sogleich die Frage nach der Abschaffung der österreichischen Normen. Während langer und aufgeregter Gespräche stellte man die Abneigung fest, dieses bewährte Privatrecht zu verlassen. Die Debatten über dieses Thema trugen andererseits dazu bei, die breite Konfrontation mit dem Problem der Schaffung eines neuen italienischen Zivilkodex zu nähren, dessen Ausrichtung allerdings längere Zeit unsicher war. Zuallererst versuchte man bekanntlich eine Revision des piemontesischen Zivilkodex von 1837 durchzuführen, mit dem Ziel, ihn zu modernisieren und für die Lombardei anwendbar zu machen, diese Richtung spiegelte sich in dem ersten Entwurf wider, der von Minister Cassini am 19. Juni 1860 vorgestellt wurde63. In dieser Phase war die Möglichkeit, einige Lösungen des ABGB einfließen zu lassen, nicht mehr vorgesehen. Schon der liberale Jurist Oreste Regnoli, der aus der Romagna stammte, bewies im August 1859 seine ehrliche Wertschätzung für das ABGB, da „in dem allgemeinen österreichischen Kodex nicht wenige Anordnungen enthalten, die evidentermaßen besser sind als die, die man in der gleichen Materie in den französischen und italienischen Codices trifft“64. Er behauptete deshalb, dass die Italiener 63
Zu den Kodifikationsarbeiten in Italien vgl. A. Aquarone, Lunificazione legislativa e i codici del 1865, Milano 1960; P. Ungari, Let del codice civile. Lotta per la codificazione e scuole di giurisprudenza nel Risorgimento, Napoli 1967; G. Astuti, Il „code Napoleon“ in Italia e la sua influenza sui codici degli Stati italiani successori, in: Annali di Storia del diritto, XIV–XVII, 1970 – 1973, 1 ff.; C. Schwarzenberg, La formazione del Regno dltalia. Lunit amministrativa e legislativa, Milano 1975; C. Ghisalberti, La codificazione del diritto in Italia 1865/1942, Bari 1985; R. Bonini, Disegno storico del diritto privato italiano (dal Codice civile del 1865 al Codice civile del 1942), 2. Aufl., Bologna 1990; G. Alpa, La cultura delle regole. Storia del diritto civile italiano, Roma-Bari 2000, 80 ff.; A. Padoa Schioppa, Italia ed Europa nella storia del diritto, Bologna 2003, 507 ff.; S. Solimano, „Il letto di Procuste“. Diritto e politica nella formazione del codice civile unitario. I progetti Cassinis (1860 – 1861), Milano 2003; M. R. Di Simone, Istituzioni e fonti normative in Italia dallantico regime al fascismo, Tornino 2007, 287 ff; S. Caprioli, Codice civile. Struttura e vicende, Milano 2008, 104 ff. 64 O. Regnoli, Sulla formazione di un nuovo codice civile italiano e sulla convenienza di alcune leggi transitorie, Genova 1859, 6. Zu Regnoli vgl. T. Sarti, Il Parlamento subalpino e nazionale. Profili e cenni biografici di tutti i deputati e senatori eletti e creati dal 1848 al 1890 (legislature XVI), Terni 1890, 800 f.; A. Malatesta, Ministri, deputati, senatori dal 1848 al 1922, in: A. Ribera (Red.), Enciclopedia biografica e bibliografica „italiana“, Serie XLIII, Band III,
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– nicht weit entfernt von der Anerkennung der Vorzüge des habsburgischen Normtextes – das ABGB aufmerksam mit dem piemontesischen Kodex verglichen hätten, „um das beste aus den beiden zurückzuhalten“, und so einen Kodex für Oberitalien zu erreichen, der für alle Länder der Halbinsel, die man in Zukunft annektieren würde, anwendbar wäre. Insbesondere hätten nach seiner Meinung die piemontesischen Anordnungen im Bereich der Bürgerrechte durch die eher liberalen des ABGB ersetzt werden sollen. Auch die Eigentumsverhältnisse zwischen Eheleuten musste man ändern, indem man die Verwaltungsrechte des Ehemannes am Beispiel des österreichischen Kodex abschaffte, der, was die Gleichberechtigung der Geschlechter im Bereich von Vormundschaft, Zeugenaussagen und Verwaltung der Güter betraf, laut Regnoli fortschrittlich gewesen wäre, während die Lösungen zur Ehegattenerbfolge auch gerechter als die des französischen Kodex erschienen. Dass außerdem der Gedanke an eine kritiklose Verehrung und Nachahmung des napoleonischen Gesetzbuches hätte vermieden werden sollen, war schon von anderen Juristen zum Ausdruck gebracht worden, die von der Notwendigkeit überzeugt waren, eine Gesetzgebung zu schaffen, die an die eigentümlichen nationalen Bedürfnisse angepasst sein sollte. Auf der vergleichenden Methode, die in diesen Monaten ein notwendiges Instrument geworden war, um über alle möglichen Lösungen, die man für die Reform verwenden konnte, nachzudenken, basierte eine reichhaltige Produktion von juristischen Werken. Besonders signifikant erscheint dafür jene Arbeit von Gabba65, in welcher mit großer Strenge Teile des Entwurfs von Cassini durch Vergleiche mit der französischen und österreichischen Kodifikation unter die Lupe genommen wurden. Vom ABGB sollte man, so der Autor, die komplette Abschaffung des Instituts des bürgerlichen Todes, das im napoelonischen Kodex vorgesehen war, den Bereich der väterlichen Gewalt und die Normen über die Vormundschaft übernehmen. Übertrieben erschien ihm dagegen die Freiheit, die das ABGB der Untersuchung der Vaterschaft zubilligte, die seiner Meinung nach in der italienischen Gesetzgebung zu beschränken wäre. Die Einmischung der Kirche im Eherecht sah er als inakzeptabel an und schlug deshalb die völlige Laizierung vor. Der Vergleich zwischen der piemontesischen und österreichischen Gesetzgebung war eines der programmatischen Hauptziele der am 4. Jänner 1860 erschienenen ersten Ausgabe der mailändischen Zeitschrift „Monitore dei Tribunali“66. Schon in der nächsten Nummer wurde mit der Veröffentlichung einer umfassenden Schrift des Rom 1941, 51; M. R. Di Simone, Il codice civile austriaco nel dibattito per lunificazione legislative italiana, in: dies., wie Fn. 1, 223 ff.; S. Solimano, Due popoli due codici. Il dibattio sullunificazione del diritto civile tra Lombardi e Piemontesi alle soglie dellunit (1859 – 1860), in: Caroni/Dezza, wie Fn. 1, 365 ff. 65 C. F. Gabba, Studi di legislazione civile comparata in servizio della nuova codificazione italiana, Milano 1862. 66 Monitore dei Tribunali, I, 1860, 2.
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Rechtsanwalts Giovanni Carcano begonnen, der – stets auf der Basis der vergleichenden Methode – das ABGB leidenschaftlich verteidigte67. Der Autor ging von der Voraussetzung aus, dass die Abneigung des österreichischen Gesetzbuchs bis vor kurzem auf dem Widerwillen gegen die ausländische Herrschaft begründet gewesen wäre, dass dieser Kodex aber nun – da der Besatzer einmal verjagt – „nichts anderes (wäre) als ein wissenschaftliches Werk und eine Unterlage für eine freie Diskussion für die Schöpfer unseres nationalen Kodex“. Diese könnten daher mit ruhigem Gewissen und ohne Vorurteile die Überprüfung dieser Normen vornehmen, die noch die privatrechtlichen Verhältnisse sehr vieler Personen geregelt, mit ihrer Unparteilichkeit und Effizienz das Vertrauen erobert und sehr tief die Gewohnheiten der lombardischen Bevölkerung durchdrungen hätten68. Kern des österreichischen Systems war nach Meinung dieses Autors der Mensch mit seinen Rechten, die ausdrücklich im § 16 verankert waren, während der Kodex Napoleons keine Spur mehr von der feierlichen Erklärung der Menschenrechte des Jahres 1789 aufwies. Der herrschende Individualismus ließ mitunter, so Carcano, manche Verdrehungen des Familienrechts zu, wo etwa das Verlangen der Kinder nach Unabhängigkeit im Gesetz Unterstützung gefunden und die Rolle des Vaters entwürdigt worden war. Auch die Stellung der Frau schien ihm viel unabhängiger zu sein, und obwohl er die übertriebene, im französischen Kodex festgesetzte Macht des Ehemannes über die Ehefrau nicht billigte, zeigte sich der Autor dennoch von der Notwendigkeit überzeugt, die weibliche Unabhängigkeit in der italienischen Gesetzgebung zu beschränken, und drückte seine Missbilligung gegenüber eine Familienkonstruktion aus, die sich – wie die österreichische – auf die Priorität der Einzelinteressen gegenüber jenen der Gruppe stützte69. Lobenswert hingegen erschien ihm die getroffene Wahl, die den Normen eine theoretische Definition der verschiedenen Institute erlaubte, der Wortlaut der österreichischen Anordnungen erschien ihm im Vergleich zu den französischen um einiges genauer zu sein wie etwa bei vielen Beispielen im Bereich des Besitzrechts. Auch das Eigentum, das Pfandrecht und die Dienstbarkeit wurden in dogmatischer Hinsicht breit behandelt. Während die inhaltliche Substanz in den zwei Kodizes sonst im Wesentlichen analog erschien, war das geistig-theoretische Konzept aus dem österreichischen Gesetzbuch wohl rascher und mit größerer Klarheit rezipierbar.70 Trotz einiger Spuren deutschrechtlicher Einflüsse schien dem Autor das ABGB dem römischen Recht nahestehender. Besonders in den Erbfolgeregeln folgte das ABGB der romanistischen Tradition, indem es das geistige Konzept der Erbschaft beibehielt, während der französische Kodex es nur unter einer konkreten Sicht, 67 G. Carcano, Il codice civile austriaco ed i suoi caratteri. Studi ner la compilazione del codice patrio, in: Monitore dei Tribunali, I, 1860, 9 ff., 17 ff., 25 ff., 33 ff., 41 ff., 48 ff., 57 ff. 73 ff. 113 ff. 68 Ebda, 3 ff. des Auszugs. 69 Ebda, 26 ff. 70 Ebda, 61 ff.
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wie eine Art des Eigentumserwerbs, in Betracht zog. Auch das System der gesetzlichen Erbfolge erschien Carcano wegen seiner Einfachheit und Unparteilichkeit lobenswert. Aber besonders schätzenswert war die Institution der Verlassenschaftsabhandlung, die des Öfteren als typischer Ausdruck österreichischen Despotismus angesehen, in den Augen des Autors ohne Zweifel „einen Fortschritt, den man in den vaterländischen Kodex einführen sollte“, darstellte. In der Tat garantierte das gerichtliche Verfahren, das die Einantwortung der Erbschaft durch den Richter bestimmte und ferner eine willkürliche Einmischung des Staates in private Angelegenheiten zu sein schien, gleichzeitig die genaue Ausführung des Willens des Verstorbenen, um die Rechte der Erben zu wahren und die vielen Streitigkeiten, die sich im französischen System bei solchen Gelegenheiten ergeben hatten, zu vermeiden71. Im Bereich der Verträge schien ihm der napoleonische Kodex aufgrund seines großen Bewusstseins der natürlichen Gleichheit des Öfteren überlegen, aber auch der dritte Teil des ABGB, der die gemeinsamen Bestimmungen des Personen- und Sachenrechts enthielt, mutete zwar auf den ersten Blick etwa uneinheitlich und wenig logisch an, bewies aber mit seiner Kürze und Klarheit Eigenschaften, die für die Studierenden und Juristen sehr wertvoll waren72. Da diese Eigenschaften des österreichischen Textes als besonders wirkungsvolle Instrumente galten und ihn leicht anwendbar machten, war Carcano am Ende seines Werks davon überzeugt, dass das Ziel der Gesetzbücher nicht nur darin gelegen sein konnte, praktische und technische Wegweiser für Rechtsanwälte und Richter darzustellen, sondern auch und besonders in der ethischen Aufgabe, den Fortschritt und die Zivilisation der Völker zu befördern. In diesem Zusammenhang richtete er einen lebhaften Aufruf an die italienischen Gesetzgeber, die österreichischen Gesetze wohlüberlegt zu übernehmen, ohne sich – im Wissen um die wirksame Überlegenheit der philosophische Konzeption mehrerer ihrer Institute – von irrationalen Abneigungen und unbegründeten Vorurteilen abschrecken zu lassen. Diese breite und dichte Schrift reflektierte wirkungsvoll die Haltung, die viele lombardische Juristen gegenüber der savoyischen und österreichischen Gesetzgebung bezogen. Aber auch viele andere Artikel und Beiträge, die im „Il Monitore dei Tribunali“ während des Jahres 1860 publiziert worden waren, bestätigten den Widerstand gegenüber der Änderung des geltenden Privatrechts. Die Bedeutung, die man in diesen Monaten der österreichischen Gesetzgebung zumaß, fand im ersten Entwurf Cassinis ihre Bestätigung, wo einige der Neuheiten des modifizierten piemontesischen Kodex sich an das ABGB anlehnten. So griffen z. B. die Abschaffung der Stellvertretung durch den Ehemann, das Vormundschaftsrecht, die Vermutung des eigenhändigen Testaments (Art. 844 ff.) sowie die Hypothekennormen (Art. 2162 ff.) auf österreichische Formulierungen zurück. Nachdem man das Projekt einer Revision des savoyischen Gesetzbuches fallengelassen hatte, um der Forderung derer, die eine neue Fassung verlangten, zu folgen, verlor das österreichi71
G. Carcano, Sulla procedura di ventilazione ereditaria secondo la legislazione austriaca, in: Monitore dei Tribunale, I, 1860, 650 ff., 673 ff. 72 Carcano, wie Fn. 67, 118 ff.
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sche Modell dennoch zugunsten des französischen rasch an Boden. Dessen Einfluss schien seit dem zweiten Entwurf Cassinis – verstärkt durch den von Miglietti 1862 und von Pisanelli 1863 – gewachsen zu sein, wobei während der Debatte über den Entwurf Pisanellis im Senat sogar die Vormundschaft des Ehemannes wiedereingeführt wurde. Die Notwendigkeit, in bestimmten Fällen dem österreichischen Beispiel statt dem französischen zu folgen, wurde in verschiedenen Debatten von angesehenen Persönlichkeiten wie etwa Pasquale Stanislao Mancini unterstützt. Er, der z. B. die Zweideutigkeit und Unsicherheit der Handelsgesellschaftslehre im napoleonischen Kodex kritisiert hatte, stellte fest, dass das ABGB diese Materie73 in größtmöglicher Rationalität und Klarheit geregelt hatte, und kämpfte darum, die Aufnahme der Vormundschaft des Ehemannes zu vermeiden, weil sonst, so versicherte er, die lombardischen Frauen der fremden Regierung nachgeweint hätten, die in diesem Punkt liberaler und aufgeklärter gewesen wäre als die italienische74. Dennoch konnten selbst solche Interventionen nicht vermeiden, dass am Ende das österreichische Modell beiseite gelassen wurde. Ohne Zweifel spielte in diesem Fall die Feststellung eine Rolle, dass der Code civil Napoleons, wie Cassini schon 186175 beobachtet hatte, das bekannteste und vertrauteste Normmuster in vielen Teilen der Halbinsel bildete und sich so leichter als einheitliche Basis des Privatrechts des neuen Königreichs eignete. Das ABGB war in der Lombardei in der Tat stark verwurzelt und hatte auch einen gewissen Einfluss auf den Kodex von Parma76, so dass erwogen wurde, beide in einen normativen Text zusammenzufließen zu lassen, der nur in einem auf Norditalien beschränkten Staate angewendet werden konnte. Gerade diese Richtung spiegelte sich im ersten Entwurf von Cassini wider. Aber als ein paar Monate später der neue Staat sich mit den südlichen und zentralen Provinzen, die die österreichische Gesetzgebung nicht kannten, vereinigte, blieb diese Idee einer Marginalie. In der Lombardei wurde das ABGB mit dem Inkrafttreten des neuen italienischen Zivilkodex am 1. Jänner 1866 abgeschafft. Aber auch nach diesem Datum wurden einige österreichische Institute aufmerksam als Anhaltspunkte für mögliche Refor73 P. S. Mancini, Interpellanza al ministro della giustizia (Conforti) per proporre e sollecitare la unificazione legislativa dei codici dei cessati Stati italiani e la formazione di una unica codificazione nazionale. Discorso pronunziato nella Camera dei Deputati in Torino nel 13 luglio 1862, in: ders., Unificazione e riforma della legislazione civile, penale ed amministrativa nel Regno dltalia. Discorsi e relazioni parlamentari (1862 – 1876), Roma 1876, 15. 74 S. Gianzana/F. Bo/P. Tappari (Hrsg.), Codice civile collaggiunta delle leggi complementari, 9 Bände, Torino 1887 – 1899, II, Nr. 203, 188. 75 Atti Parlamentari, Camera dei Deputati, legislatura VIII, Discussioni dal 18 febbraio al 25 maggio 1861, Torino 1861, tornata del 30 aprile 1861, 767 ff. 76 Über den Kodex von Parma vgl. G. di Renzo Villata, La codificazione civile parmense. Studi, Milano 1979; S. Notari, Le carte Mistrali e i lavori preparatori dei codici parmensi, in: Clio, XXVII, 1991, 105 ff.; M. G. Di Renzo Villata, DallABGB al codice Civlie parmense. I Lavori della commissione Milanese, in: Caroni/Dezza, wie Fn. 1, 109 ff.
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men der geltenden Normen beobachtet. Daran trug unter anderem das wachsende Interesse für die Rechtsvergleichung bei, die sich in einer Reihe von Werken weiterentwickelte, von denen einige wie vergleichende Tabellen zwischen den Artikeln der verschiedenen Kodizes77 angelegt, andere in Gesprächsform redigiert und mit theoretischen Problemen befasst waren78. Alle waren aber dergestalt ausgerichtet, um – mit dem mehr oder weniger ausdrücklichen Ziel, die beste Lösung zu finden – Analogien und Uneinigkeiten der verschiedenen Institute in einem europäischen Kontext genau umreißen zu können. Der Vergleich mit den österreichischen Gesetzen wurde schließlich durch das neu gestellte Problem ihrer Abschaffung nach dem Anschluss Venetiens, der durch den Frieden von Paris am 3. Oktober 1867 sanktioniert worden war, lebendig und aktuell gehalten. Auch in diesem Fall führte die italienische Regierung rasch und entschlossen die Ausbreitung des nationalen Verwaltungssystems in den neuen Provinzen durch, beließ aber die habsburgische Kodifikation in Kraft. Die Debatte über die Einführung der italienischen Gesetzgebung wurde unter den Juristen aus Venetien sehr heiß geführt. Diese waren von einer Reform mancher Institutionen, die nicht nur unvereinbar mit der hiesigen Tradition, sondern auch als sachlich fehlerhaft angesehen wurden, vor deren Einführung notwendigerweise überzeugt79. Davon zeugen einige Artikel, die in der Zeitschrift „LEcco dei Tribunali“ publiziert wurden, von welchen die des Rechtsanwalts Emilio Valle besonders ausführlich und genau waren. Dieser verfocht im März 1867 nachdrücklich die Notwendigkeit eines ernsthaften Vergleichs zwischen dem italienischen Kodex und den Gesetzbüchern anderer europäischer Länder, wobei das ABGB als der wichtigste Kodex angesehen wurde. Das ABGB hätte in bestimmten Fällen als Modell zu dienen, weil es etwa als unzulässig schien, in Venetien manche Institutionen, wie zum Beispiel die strenge Vormundschaft über die verheiratete Frau nach französischem Muster einzuführen. Patriotische Gefühle sollten, nach Meinung des Autors, kein Grund sein, die Vorzüge der österreichischen Gesetzgebung nicht anzuerkennen und somit eine schlechtere einzuführen. Er widmete sich daher in einer Reihe von komplexen Ab77 D. Galdi, Codice civile del Regno dltalia col confronto coi codici francese, austriaco, napoletano, parmense, estense, col regolamento pontificio, leggi per la Toscana e col diritto romano … arricchito di osservazioni, note e supplementi, Napoli 1865; A. Bianchetti, Relazioni e raffronti del codice civile italiano colla legge romana e coi codici olandese, prussiano, francese, bavarese, albertino, austriaco, napoletano, parmense ed estense con richiamo alle affini disposizioni legislative vigenti nel Regno ed alle principali massime della dottrina e della giurisprudenza, Torino-Napoli 1871. 78 D. Orlando, Sullordinamento a dare al codice civile italiano, Palermo 1861; G. Astengo/ A. De Foresta/L. Gerra/O. Spanna/G. A. Vaccarone (Hrsg.), Codice civile del Regno dltalia confrontato con gli altri codici italiani ed esposto nelle fonti e nei motivi I, Florenz-Turin 1866; S. Jannuzzi, Discorso sul diritto civile confrontato nei capi principali con le leggi di diritto privato che vigevano in Italia e con i vari codici dEuropa, Firenze 1866; G. Foschini, I motivi del codice civile del Regno dltalia ordinati sotto ciascun articolo, 2. Aufl., Torino 1868. 79 M. R. Di Simone, Il diritto austriaco e la societ veneta, in: dies., Percorsi del diritto, wie Fn. 1, 243 ff.
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handlungen dem sorgfältigen Vergleich zwischen den verschiedenen europäischen Gesetzeswerken und überprüfte unter diesem Gesichtspunkt die geistigen Ergebnisse der modernen Juristen, insbesondere von Zeiller, Savigny und Unger80. Auch andere seiner Kollegen zeigten Misstrauen gegenüber der Hypothese der totalen Veränderung der geltenden Gesetzgebung und wünschten sich die Beibehaltung von Teilen derselben, die als sehr fortschrittlich anerkannt waren81. Der italienische Zivilkodex schien dem französischen Modell sehr ähnlich, so dass manche Fehler, die durch die Einführung von österreichischen Normen, deren Wirksamkeit und Überparteilichkeit in Lombardo-Venetien erprobt und geachtet waren, hätten korrigiert werden können. Ein Institut, welches von allen diesen Autoren kritisiert wurde, war die Vormundschaft des Ehemannes, die ein normatives Misstrauen in die Bildung und Sittlichkeit der Frauen belegte und sich mit den neuen, schon stark verbreiteten emanzipatorischen Ideen nicht vereinbaren ließ. Die Vormundschaft hatte sich im österreichischen System in der Garantie der Interessen der Minderjährigen und anderer Rechtsunfähiger als wirkungsvoller erwiesen. Deshalb sollte der Familienrat, ein dem französischen Kodex entstammender Rest patriarchalischer Mentalität, abgeschafft werden. Auch in den Erbfolgeregeln war das habsburgische Modell vorzuziehen. Im Besonderen hatte man gute Resultate durch die Verlassenschaftsabhandlung erzielt, die die Unsicherheiten und Missbräuche der italienischen Gesetzbücher verhinderte. Als sehr rückständig wurde die italienische Lehre über die Hypotheken angesehen, und viele Juristen sehnten sich nach der Einführung des Grundbuchsystems, das in Lombardo-Venetien noch nicht verwendet wurde, aber jetzt, im Gegensatz zu den Systemen, die aus den napoleonischen Schemen hervorgegangen waren, gepriesen wurde. Gleichgelagerte Positionen tauchten in den Protesten und Petitionen auf, die von Rechtsanwälten aus verschiedenen Provinzen Venetiens an Regierung und Parlament gesandt wurden, um auf die Fehler der italienischen Gesetzgebung und auf die Notwendigkeit, diese abzuändern, aufmerksam zu machen, bevor man zur Wiedervereinigung schritt82. Diese Initiativen und die Aktion der parlamentarischen Gruppe aus Venetien trugen zur Verhinderung und Verzögerung der Rechtsangleichung bei, aber die Unannehmlichkeiten, die aus der Erhaltung verschiedener Gesetze entstanden 80 E. Valle, Il codice italiano, in: LEco dei Tribunali, XVII, 1867, 657 ff.; ders., Lestensione delle nuove leggi civili italiane alla Venezia, in: ebda, XVIII, 1867, 89 ff; ders., Le nuove leggi da introdursi nel Veneto. I codici dorigine germanica e dorigine francese; genesi e metodo di compilazione; diverso procedimento negli studii relativi. Saggi degli studi dellUnger sul diritto civile austriaco, in: ebda, XVIII 1867, 1209 f.; XIX, 1868, 9 ff., 41 ff., 89 ff., 297 ff.; ders., Saggio di annotazioni al Codice Civile Italiano e confronti fra lo stesso, il Codice vigente in Francia, e lAustriaco, in: ebda, XIX, 1869, 969 ff., 1161 ff.; XX, 1869, 89 ff., 185 ff., 265 ff. 81 Concetto generale per la legislazione italiana, in: LEco dei Tribunali, XVII, 1867, 1025 ff.; G. Cisotti, La nostra legislazione, in: ebda, XVIII, 1868, 1169 f.; ders., Unificazione giudiziaria legislativa, in: ebda, XIX, 1869, 1105 ff.; C. Bertolino, Le nuove leggi del Veneto attinenti alla giurisdizione civile, in: ebda, XX, 1869, 25 ff. 82 Viele dieser Petitionen wurden in diesen Jahren im „LEco dei Tribunali“ abgedruckt.
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waren, führten unvermeidbar mit der Zeit zu einer Akzeptanz der italienischen Kodifikation, die endlich mit dem Gesetz vom 26. März 1871 auf Venetien ausgedehnt wurde und am 1. Oktober in Kraft trat. Die Debatte über den Wert der österreichischen Gesetzgebung und über die Notwendigkeit der Verbesserung der italienischen, indem man sich von ersterer inspirieren ließ, schlief dennoch nicht ein; sie hatte eine neue und nutzbringende Phase zu Anfang des 20. Jahrhunderts anlässlich der Novellierung des ABGB und setzte sich nach dem Anschluss Trentinos, Südtirols, Julisch-Venetiens und Triests infolge des Vertrags von St. Germain fort. Auch bei diesem Anlass wurde in den neuen Provinzen die österreichische Kodifikation, an der die Bevölkerung sehr gehangen hatte, in Kraft belassen und so zum Anhaltspunkt für die Reformdebatten über den italienischen Zivilkodex83. Schon seit geraumer Zeit waren die Normen dieses Kodex Gegenstand von Kritik seitens der Juristen, weil sie überholt schienen und nicht mehr den Bedürfnissen der Zeit entsprachen. Die während des Krieges erlassene Gesetzgebung hatte außerdem manche Institution modifiziert, was die Notwendigkeit einer Revision dringender und klarer machte. Unter diesem Gesichtspunkt erregten die österreichischen Erfahrungen, die sehr stark in diesen Provinzen verwurzelt waren, besonderes Interesse. Im Personen-, Familien-, Erb- und Sachenrecht waren anerkanntermaßen manche Lösungen des ABGB dem italienischen Kodex überlegen und bildeten Modell und Ansporn für die Erneuerung der traditionellen Muster. In der Lehre der väterlichen Gewalt, der Vormundschaft, der Adoption, der Erforschung der Vaterschaft und der unehelichen Kinder schien das österreichische Gesetzbuch befriedigendere Antworten auf die italienischen Reformbedürfnisse zu geben. Die Behandlung des überlebenden Ehegatten und die Verlassenschaftsabhandlung wurden mit großer Aufmerksamkeit betrachtet, die sachenrechtlichen Verjährungsfristen wegen ihrer Kürze bevorzugt und das Publizitätsprinzip im Immobiliarrecht wegen seiner Wirksamkeit allgemein wohlwollend beurteilt84. In einem ersten Augenblick zog man die Abänderung mancher Artikel des italienischen Zivilkodex vor seiner Anwendung in den neuen Provinzen in Betracht, aber schließlich wurde das Projekt, das allmählich zu einer Reform des gesamten Textes ausgedehnt worden war, erst 1942 zu Ende geführt. Um die meisten Schwierigkeiten, die durch die Unterschiede zwischen der Gesetzgebung der italienischen und der annektierten Gebiete verursacht worden waren, zu vermeiden, erließ man in diesen Gebieten einige für besonders wichtig erachtete italienische Verordnungen, wie jene über die Bürgerrechte, die Volljährigkeit und die Ehe, ließ aber gleichzeitig das 83 E. Capuzzo, Dal nesso asburgico alla sovranit italiana. Legislazione amministrazione a Trento e a Trieste (1919 – 1928), Milano 1992, 133 ff.; M. R. Di Simone, LABGB e il dibattito per la riforma del codice civile italiano nei primi anni del Novecento, in: dies., Percorsi del diritto, wie Fn. 1, 315 ff. 84 F. Vasalli, Problemi della unificazione legislativa, in: ders., Studi giuridici II, Milano 1960, 297 ff.
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ABGB in Kraft. Dieses wurde per Dekret vom 4. November 1928, welches die Gesetzgebung des Königreichs Italien auf die neuen Provinzen ausdehnte, abgeschafft, wobei allerdings manche der Normen beibehalten wurden, die für wertvoll und stark verankert in der hiesigen Gesellschaft erachtet wurden, wie etwa das Tabularsystem,. Auch wenn das vorrangige Modell ohne Zweifel das französische war, kann man dennoch ruhigen Gewissens behaupten, dass das ABGB immer ein Vergleichsobjekt und ein stimulierendes Element in der Entwicklung des italienischen Privatrechts gewesen ist. Anhang: Übersetzungen und Ausgaben des ABGB in italienischer Sprache Codice civile universale per tutti gli Stati ereditarj tedeschi della Monarchia Austriaca. Versione italiana, Venezia, Fracasso, 1814 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für alle deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, italienische Fassung, Venedig, Fracasso, 1814] Indice ragionato del Codice civile universale degli Stati della Monarchia Austriaca, Venezia, Parolari, 1814 [Erläuternder Index des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches für die Länder der österreichischen Monarchie, Venedig, Parolari, 1814] Codice civile universale per tutti gli Stati ereditarj tedeschi della Monarchia Austriaca. Edizione seconda della versione non officiale stampata nel 1814 riveduta e corretta, Venezia, Santini, 1815 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für alle deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, 2. Ausgabe der nicht-offiziellen Fassung, 1814 gedruckt, durchgesehen und korrigiert, Venedig, Santini, 1815] Codice civile universale austriaco, Vienna Imp. Reg. Stamperia di Corte e Stato, 1815 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, Wien, kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei, 1815] Codice civile universale austriaco. Edizione uffiziale, Venezia, Pinelli e Andreola, 1815 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, offizielle Fassung, Venedig, Pinelli & Andreola, 1815] Codice civile generale austriaco. Edizione seconda e sola ufficiale, Milano, Cesarea Regia Stamperia 1815 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, 2. und allein offizielle Fassung, Mailand, Cesarea Regia Druckerei, 1815] Codice civile universale austriaco. Versione ufficiale colle citazioni delle leggi romane, Venezia, Giovanni Parolari, 1816 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, offizielle Fassung mit Zitaten aus den römischen Gesetzen, Venedig, Giovanni Parolari, 1816] Estratto alfabetico, ossia indice ragionato del Codice civile universale austriaco, compilato sul testo ufficiale dellavv. Girolamo Perruchini, Venezia, Alvisopoli, 1816 [Alphabetischer Auszug oder erläuternder Index des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, zum offiziellen Text verfaßt von Rechtsanwalt Girolamo Perruchini, Venedig, Alvisopoli, 1816] Codice civile generale austriaco. Edizione seconda e sola ufficiale. Venezia. Andreola 1823 [Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, 2. und allein offizielle Fassung, Venedig, Andreola, 1823] I paragrafi del codice civile generale della Monarchia Austriaca messi in armonia fra loro … ossia manuale ragionato onde conoscere prontamente tutte le disposizioni di gi emanate
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… del … codice civile generale austriaco. Opera del G. C. Giuseppe Antonio Castelli, 3 voll., Milano, G. Motta, 1824 [Die Paragraphen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches der österreichischen Monarchie, untereinander harmonisiert … oder erläuterndes Handbuch, um alle Anordnungen, die erlassen worden sind, rasch zu verstehen, … des … Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches Österreichs. Werk des G. C. Giuseppe Antonio Castelli, 3. Band, Mailand, G. Motta, 1824] Codice civile austriaco esposto a metodo di pi pronta intelligenza con appendice delle risoluzioni sovrane, Milano. Silvestri, 1834 [Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch, dargebracht in einer leicht verständlichen Art mit Anhang der königlichen Resolutionen, Mailand, Silvestri, 1834] Il codice civile austriaco esposto a metodo di pi pronta intelligenza e facile ricerca delle disposizioni in esso contenute con appendice delle risoluzioni sovrane, decisioni auliche e notificazioni governative state pubblicate in oggetti di legislazione civile. Edizione seconda diligentemente riveduta e notevolmente migliorata, Milano, Giovanni Silvestri, 1839 [Das österreichische bürgerliche Recht, dargebracht in einer leicht verständlichen Art und zur leichten Auffindbarkeit der in ihm enthaltenen Anordnungen mit Anhang der königlichen Resolutionen, der höfischen Entscheidungen und Regierungsbekanntmachungen, die in der Materie der bürgerlichen Gesetzgebung gedruckt worden sind. 2. sorgfältig durchgesehene und beträchtlich verbesserte Fassung, Mailand, Giovanni Silvestri, 1839] Manuale del codice civile generale austriaco, i di cui paragrafi sono coordinati e confrontati colle leggi ed ordinanze che vi si riferiscono sieno esse penali o politiche, amministrative, commerciali o giudiziarie, emergenti dal regolamento del processo civile, dal codice di commercio, dal codice penale e delle gravi trasgressioni politiche, dalle notificazioni delle sovrane patenti, dalle risoluzioni auliche e circolari governative dei tribunali superiori, del magistrato camerale e dogni altra autorit giudiziaria; disposizioni che si pubblicarono nel Regno LombardoVeneto a tutto il 16 settembre 1839 unitevi le principali massime di diritto ritenute dai tribunali nei pi importanti loro giudicati. Nuova ed. per cura del giureconsulto G. A. Castelli. Milano, P. M. Visaj, 1839 [Handbuch des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches Österreichs, dessen Paragraphen, koordiniert und konfrontiert mit den Gesetzen und Anordnungen, die sich auf Strafrechtliches oder Politisches, Administratives, Kommerzielles oder Gerichtliches beziehen, und auftauchen aus der Strafprozeßordnung, aus dem Handelsgesetzbuch, aus dem Strafrecht und aus schweren politischen Verfehlungen, aus den Notifizierungen der königlichen Patente, den höfischen Resolutionen und Rundschreiben der Regierung über die höheren Gerichte, der Richterschaft und jeder anderen richterlichen Autorität; Anordnungen, die bis zum 16. September 1839 im Königreich Lombardo-Venetien veröffentlicht wurden, verbunden mit den obersten Grundsätzen, die von den Gerichten eingehalten, in ihre wichtigen Urteile eingeflossen sind. Neue Fassung besorgt durch den Rechtsgelehrten G. A. Castelli, Mailand, P. M. Visaj, 1839] Il Codice civile generale austriaco tascabile esattamente corretto sul testo tedesco col sunto delle leggi posteriori alla sua promulgazione e con brevi annotazioni di Jacopo Lenner, Padova, Crescini, 1853 [Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, genau nach dem deutschen Text korrigiert(e) Taschenausgabe, mit Zusammenfassung der vorher erlassenen Gesetze und mit kurzen Anmerkungen von Jacopo Lenner, Padua, Crescini, 1853] Manuale del codice civile universale austriaco corredato delle relative leggi ed ordinanze posteriori con aggiuntevi le decisioni plenarie e molte altre delli.r. Suprema Corte di giustizia succintamente annotate per Guntramo Haemmerle, Innsbruck Wagner 1872 [Handbuch
Das ABGB in Italien
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des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches samt den dazugehörigen Gesetzen und vorherigen Anordnungen mit beigelegten Plenarentscheidungen und vielen anderen vom kaiserlich-königlichen Obersten Gerichtshof, zusammenfassend notiert durch Guntramo Haemmerle, Innsbruck, Wagner, 1872] Codice civile generale austriaco. Nuova edizione ristampata e corretta secondo la edizione seconda e sola uffiziale dellanno 1815, Vienna, Manz, 1877 [Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch. Neue Ausgabe, neu aufgelegt und korrigiert nach der zweiten, allein offiziellen Ausgabe des Jahres 1815. Wien, Manz, 1877] Manuale del codice generale austriaco contenente il testo ufficiale, le leggi ed ordinanze pubblicate a completamento o modificazione di esso o riferibili a materie in esso contemplate e lindice ufficiale secondo lordine dei paragrafi, Innsbruck, Libreria Accademica Wagneriana, 1902 [Handbuch des österreichischen allgemeinen Gesetzbuches beinhaltend den offiziellen Text, die Gesetze und öffentlichen Anordnungen, die dieses komplettiert oder modifiziert haben oder sich auf in diesem enthaltene Gegenstände beziehen, und dem offiziellen Index nach der Ordnung der Paragraphen. Innsbruck, Akademische Buchhandlung Wagner, 1902] Codice civile generale austriaco vigente nelle nuove provincie modificato ed integrato dalle tre Novelle parziali, emanate mediante le ord. Imp. 12 ottobre 1914; 22 Iuglio 1915 e 19 marzo 1916 e dalle disposizioni legislative emanate dopo lannessione per cura di Filippo Del Giudice, Gorizia, G. Paternelli, 1927 [Geltendes österreichisches Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, in den neuen Provinzen durch die durch kaiserliche Anordnungen vom 12. Oktober 1914, 22. Juli 1915 und 19. März 1916 erlassene drei Teilnovellen und nach dem Anschluss erlaßene gesetzlichen Anordnungen modifiziert und integriert durch Filippo Del Giudice, Görliz, G. Paternelli, 1927]
Der Einfluss des ABGB auf die Schweiz Barbara Dölemeyer Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bemühten sich zahlreiche Schweizer Kantone um die Reform und Kodifizierung ihres Zivilrechts. Bei den ersten Versuchen in der Zeit der Helvetik und in der Mediationszeit, die über eine Neuordnung des vorhandenen Rechts hinausgriffen, fasste man zunächst den Code civil bzw. Code Napolon als Vorbild ins Auge, nach 1814 kam auch das ABGB ins Spiel1. Während in etlichen der romanischen Kantone schließlich der Code civil zum Muster genommen wurde (das erste derartige Gesetzbuch war das des Kantons Waadt 18192), wählten einige Gebiete der deutschen Schweiz das österreichische ABGB als Vorbild für die Kodifikation, so Bern und die diesem folgenden Kantone Luzern, Aargau und Solothurn, deren Gesetzbücher in dieser Beziehung als „Gruppe des Bernischen Rechts“ bezeichnet werden3. Die späteren Kodifikationen dieser Gruppe nahmen neben dem ABGB auch das Berner Gesetzbuch zum Vorbild; gemeinsam war ihnen auch das Bemühen um Verschmelzung alten kantonalen Rechtsguts mit den Elementen der modernen Kodifikation, wobei besonders in den Materien Ehegüterrecht, Erbrecht und Immobiliarsachenrecht die überkommenen Regelungen am stärksten erhalten blieben. Die Redaktoren dieser Gesetzbücher waren während ihres Studiums an deutschen Universitäten beeinflusst worden durch naturrechtliches Gedankengut, die Rechtslehre Kants, später auch die Kodifikationsidee Thibauts, und brachten diese Auffassungen in die beginnende wissenschaftliche Ausformung der schweizerischen Privatrechtswissenschaft ein. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts war die Rechtswissenschaft (zumindest in der deutschen Schweiz) wenig entwickelt; die erste Ausbildung einer Privatrechtsdoktrin lag häufig in denselben Händen wie die Redaktion der bürgerlichen Gesetzbücher (Bern: Samuel Ludwig Schnell; Zürich: Friedrich Ludwig Keller, Johann Caspar Bluntschli). Der Lückenhaftigkeit des einheimischen Rechts war man sich allgemein bewusst, ebenso der Notwendigkeit einer Revision der Gesetzgebung. 1 L. Carlen, Österreichische Einflüsse auf das Recht in der Schweiz (Vortrag gehalten beim Deutschen Rechtshistorikertag in Linz 1976), Innsbruck 1977. 2 Code civil du Canton de Vaud (1819), dition originale et officielle, Lausanne 1820, 2. Aufl. Vevey 1821. 3 Zur Gruppeneinteilung der Kantonal-Gesetzbücher vgl. P. Caroni, Privatrecht. Eine sozialhistorische Einführung, Basel 1988, 35 f.; zur Rezeption des ABGB jüngst ders., Receptio duplex vel multiplex. LABGB nel contesto svizzero, in: P. Caroni/E. Dezza (Hrsg.), LABGB e la codificazione asburgica in Italia e in Europa, Padova 2006, 497 – 524.
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Bereits in der Restaurationszeit findet sich das Bemühen, den Anschluss an die europäische wissenschaftliche Entwicklung zu erreichen. Aus dieser Zeit stammen das Berner und der erste Teil des Aargauer Gesetzbuchs. Mehr noch machte die Regeneration die Rechtsvereinheitlichung und Reform der Gesetzgebung, wie die Verbesserung des gesamten Rechtswesens zu ihrem Postulat4. Die seit den dreißiger Jahren entstandenen kantonalen Gesetzbücher Luzerns, Solothurns und die restlichen Teile des aargauischen BGB zeigen in mancher Beziehung liberalere Tendenzen und weisen auch ansonsten gewisse Unterschiede zum Berner Zivilgesetzbuch – wie auch untereinander – auf. Doch der Einfluss des österreichischen ABGB – materiell wie methodisch und sprachlich – war für die Ausformung dieser Gesetzbücher überwiegend, und dies trotz ihrer Entstehung in einer Zeit, da in Deutschland schon die Historische Schule für die Rechtswissenschaft maßgeblich war. Der Gemeinsamkeit des Kodifikationsmusters entsprach in diesen Kantonen auch das Streben nach möglichst einheitlicher Rechtsprechung5. Weniger als in den Gesetzbüchern der Berner Gruppe, doch durchaus wirksam, kamen in einigen weiteren kantonalen Kodifikationen Einflüsse des ABGB neben denen anderer Gesetzgebungen zum Tragen, so in einigen Kantonen, die im allgemeinen der Gruppe des Zürcher Rechts zugerechnet werden (Graubünden, Thurgau, Nidwalden) und auch im Codice civile ticinese (Tessin), der prinzipiell dem Modell des Code civil folgt. Kurz erwähnt seien auch die sanktgallischen Kodifikationsbemühungen, die ergebnislos blieben. I. Die Gesetzbücher der „Berner Gruppe“ 1. Das Civilgesetzbuch für die Stadt und Republik Bern Bereits während des Ancien Rgime bemühte sich die Berner Stadtregierung, das stadtbernische Recht als einheitliches Territorialrecht auch in der Landschaft Bern einzuführen, zumindest mit subsidiärer Geltung6. 1815 erwarb Bern auf dem Wiener Kongress den größten Teil des ehemaligen Fürstbistums Basel (Berner Jura, heute eigener Kanton Jura), wo seit 1804 der Code civil galt, da dieses Gebiet damals Teil des französischen Empire gewesen war7. In der Vereinigungsurkunde vom 14. 11. 18158 4
Caroni, wie Fn. 3, 35; D. Schefold, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie in der schweizerischen Regeneration 1830 – 1848, Basel/Stuttgart 1966. 5 E. Huber, System und Geschichte des Schweizerischen Privatrechts IV, Basel 1893, 193; vgl. F. Elsener, Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Privatrechts. Die kantonalen Kodifikationen bis zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, Zürich 1975, 334. 6 Elsener, wie Fn. 5, 284 ff. 7 A. Bernel, Le droit du Code civil franÅais applicable au Jura bernois, Diss. Bern, Genf 1955, 9 ff.; J. Rossel, La lgislation civile de la partie franÅaise de lancien EvÞch de Ble, Th se Berne, Lausanne 1913; C. Lerch, Gescheiterte Privatrechtseinheit im Kanton Bern im
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wurde die Aufhebung der französischen Gesetzgebung als Grundsatz angenommen, der Zeitpunkt sollte durch die Regierung bestimmt werden. Eine Kommission sollte die Sammlung der Verordnungen und Gesetze des Berner Jura veranstalten, dabei die „Us et Coutumes du Pays“ und subsidiär die bernischen Gesetze berücksichtigen9. Der Kleine Rat des Kantons Bern bestellte 1816 zu diesem Zweck die „Leberbergische“ Gesetzgebungskommission, benannt nach den Leberbergischen Ämtern, den neuerworbenen Teilen des ehemaligen Fürstbistums Basel. Da sich aber sehr schnell die große Lückenhaftigkeit auch des alten Berner Rechts herausstellte, wurde 1817 der Auftrag an die Kommission so geändert, dass diese auch die Berner Zivilgesetzgebung vervollständigen sollte. Samuel Ludwig Schnell10, 1817 in die Kommission gewählt, wurde mit einem entsprechenden Entwurf betraut. Schnell, der durch seine Tätigkeit bei Gericht wie als Rechtslehrer Theorie und Praxis verband11, sollte maßgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Gesetzbuchs erlangen. Er verglich in seinem Gutachten12 die überholten Berner Satzungen mit dem modernen Recht des Code civil und sprach sich gegen eine Ersetzung des Code durch das alte Recht aus. Die Patrizier wandten sich aber gegen die Beibehaltung des Code, im Wesentlichen wegen seines „revolutionären“ Charakters, bzw. wegen seiner Geltung aufgrund der napoleonischen Fremdherrschaft und der mangelnden Übereinstimmung mit den bernischen Institutionen und Verhältnissen. Bereits in den Vorberatungen der Vereinigungsurkunde war diese Auffassung vertreten worden, man brachte vor, der Code erinnere „beständig an die Herrschaft des französischen Kaisers“13. Eine ähnliche Argumentation wurde in einigen deutschen Bundesstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen den Code civil (und in der Folge zugunsten des ABGB) als Muster einer Zivilrechtskodifikation vorgebracht – so etwa 1816 in Hessen-Darmstadt14. Schnell, der in seiner Studienzeit in Tübingen mit der Kantischen Rechtsphilosophie in Berührung gekommen war und der sich in der Zeit der Helvetik intensiv mit 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur bernisch-jurassischen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bern 1994 (allerdings beschränkt auf die jurassische Sicht). 8 Vereinigungs-Urkunde des ehemaligen Bistums Basel mit dem Canton Bern, Art. 14; vgl. Lerch, wie Fn. 7, 23 ff. 9 Elsener, wie Fn. 5, 287 ff.; Lerch, wie Fn. 7, 26 f. 10 1775 – 1849; Notar in Bern, erwarb in Tübingen 1796 den Doktorgrad; 1798 Mitglied des Obersten Helvetischen Gerichtshofs; 1805 Professor des bernischen Zivilrechts an der neugegründeten Berner Akademie; Redaktor der Zivilprozessordnung und des ZGB des Kantons Bern; Professor an der Universität Bern 1834 – 1843; vgl. U. Th. Roth, Samuel Ludwig Schnell und das Civil-Gesetzbuch für den Canton Bern von 1824 – 1830. Ein Beitrag zur Kodifikationsgeschichte des schweizerischen Privatrechts, Diss. jur. Bern 1948; Elsener, wie Fn. 5, 278 ff.; W. Munzinger, Eine Studie über die Pflege der Jurisprudenz im alten und neuen Bern, Bern 1866, 28 ff. 11 Munzinger, wie Fn. 10, 33 ff. 12 18.11.1817, Lerch, wie Fn. 7, 41 ff. 13 Projekt-Instruktion für die Herren Kommissarien zu der Vereinigungs-Unterhandlung … (1815), Zitat bei Lerch, wie Fn. 7, 24. 14 Vgl. den Beitrag von Dölemeyer und Schubert in diesem Band.
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den Auffassungen des Naturrechts und der Französischen Revolution auseinandergesetzt hatte, war u. a. am Obersten Helvetischen Gerichtshof tätig gewesen. Nach dem Ende der Mediation hatte er sich gegen die Wiederherstellung des alten patrizischen Regiments gewandt, akzeptierte aber als Pragmatiker die politische Realität und steuerte in der Gesetzgebungsfrage auf einen Kompromiss hin. So beantragte er eine Revision und Modernisierung der bürgerlichen Gesetzgebung. Am 19. 12. 1817 beschloss der Große Rat der Stadt und Republik Bern, dem Kleinen Rat den Auftrag zur Revision der alten Berner Gerichtssatzung von 1761 zu erteilen: „Der Kleine Rath ist beauftragt von nun an und mit möglichster Beförderung eine Revision und Vervollständigung der Bernerischen Gerichtssatzung zu veranstalten, wobey jedoch die darin enthaltenen wesentlichen Grundsätze des vaterländischen Rechts genau beybehalten werden sollen.“15 Der Kleine Rat (zusammengesetzt aus Repräsentanten des wiederhergestellten patrizischen Regiments) wählte in die Kommission, die einen entsprechenden Entwurf ausarbeiten sollte, auch den als Vertreter liberaler Prinzipien bekannten Schnell. Die Aufhebung der französischen Gesetzgebung im Berner Jura wurde bis zur Vollendung der Reform suspendiert. Die eingesetzte Kommission wählte Schnell zum Redaktor; ihm ist die eigentliche Initiative zur Schaffung des Zivilgesetzbuchs zuzuschreiben, da er sich nicht mit der Ergänzung der alten Satzung zufrieden geben wollte. Dass die bernische Aristokratie ihm, der zuvor ihr entschiedener Gegner gewesen war, diesen Auftrag erteilte und ihm auch keine großen Widerstände bei der Durchführung entgegensetzte, wurde in der Literatur damit erklärt, dass einerseits Schnell von seinen sehr radikalen Vorstellungen abgekommen war, andererseits die nach 1816 in ihrer Herrschaft gefestigten Patrizier sich liberaleren Vorstellungen nicht grundsätzlich verschlossen. Es wurde allgemein akzeptiert, dass eine Vereinheitlichung und Modernisierung des Zivilrechts und damit die Herbeiführung eines gesicherten Rechtszustands den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen des 19. Jahrhunderts Rechnung tragen sollte. Nachdem Schnell zuerst den Entwurf einer Zivilprozessordnung verfasst hatte und dieser 1823 in Kraft gesetzt worden war, arbeitete er die Entwürfe für ein Zivilgesetzbuch aus. Die einzelnen Teile, I. Personenrecht und II. Sachenrecht, 1. dingliche Rechte und 2. persönliche Rechte, wurden nach und nach von der Gesetzgebungskommission beraten, dann einer Großratskommission unterbreitet, welche auch Kritiken und Anregungen aus Justiz und Verwaltung berücksichtigte, wobei vor allem das Eherecht stark diskutiert wurde. Der erste Teil, das Personenrecht, wurde 1824 gebilligt und zum 1. 4. 1826 in Kraft gesetzt, der zweite Teil zum 1. 4. 1828, der dritte Teil zum 1. 4. 183116.
15 Beschluss des Großen Rats vom 19.12.1817; Beschluss des Kleinen Rats vom 30.1.1818; Roth, wie Fn. 10, 41 ff. 16 Civil-Gesetzbuch für die Stadt und Republik Bern, I–III, Bern 1825 – 1830; Civil-Gesetzbuch für die Stadt und Republik Bern. Mit Anmerkungen von Dr. Samuel Ludwig Schnell, Erster Theil. Personenrecht, Bern 1825. Zweyter Theil. Sachenrecht I, II, Bern 1827 – 1831; 2. Aufl. 1834 – 1842. Zu den Materialien vgl. B. Dölemeyer, Kodifikation Schweiz, Bern und die
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Da Schnell von Anfang an die Ansicht vertreten hatte, eine einfache Erneuerung der alten Satzung reiche nicht aus, mussten deren Lücken durch Rückgriff auf andere Gesetzgebungen gefüllt werden. Als Vorbilder für eine moderne Kodifikation kamen die großen Gesetzbücher der Jahrhundertwende, das preußische Allgemeine Landrecht (1794), der französische Code civil (1804) und das österreichische ABGB (1811) in Frage. Das ALR lehnte Schnell mit ähnlichen Argumenten ab wie sie in den gleichzeitig in den deutschen Bundesstaaten geführten Kodifikationsdiskussionen vorgebracht wurden: es enthalte zu weitgehende Kasuistik, seine Weitschweifigkeit, Umständlichkeit etc. wurden kritisiert. Gegen den Code hatte man sich bekanntlich gerade zuvor – vorwiegend aus politischen Gründen – entschieden, man wollte ihn ja im Berner Jura durch die zu revidierende Gesetzgebung ersetzen. Das österreichische ABGB hingegen diente Schnell in weiten Teilen zum Vorbild für seinen Entwurf. Im System folgt das Berner Zivilgesetzbuch dem des ABGB, mit einigen Abänderungen. Der erste Teil, dem Institutionensystem folgend „Personenrecht“ genannt, umfasst Personen- und Familienrecht; der zweite Teil regelt in zwei Hauptstücken „Dingliche Rechte“ (Sachen- und Erbrecht) sowie „persönliche Rechte“ (Obligationenrecht). Innerhalb dieser beiden Hauptstücke des Sachenrechts nahm Schnell Modifikationen vor: er fasste verschiedene Abschnitte so zusammen, dass sich eine modernere Systematik abzeichnet, die man als vorsichtige Annäherung an ein Pandektensystem verstehen kann. Sprachlich hat Schnell auch die alten Normen dem knappen, klaren Stil des ABGB angepasst. Das Berner Gesetzbuch ist insgesamt kürzer als sein Vorbild, es umfasst nur 1077 Artikel, „Satzungen“ genannt, gegenüber 1502 Paragrafen des ABGB. Personenrecht, Sachenrecht (außer Grundpfandrecht) und Obligationenrecht sind stark vom ABGB beeinflusst, wogegen vor allem Ehegüterrecht und Erbrecht weitgehend den alten Satzungen folgen. So stehen im Civilgesetzbuch des Kantons Bern zwei unterschiedliche, z. T. rechtspolitisch widersprüchliche Rechtsmassen nebeneinander: die aus der patrimonialen Zeit herüber genommenen Bestimmungen des altbernischen Rechts (besonders im Ehe- und Familienrecht) und die – jedenfalls in ihrer Tendenz – liberaleren, auf naturrechtlichen Anschauungen beruhenden Bestimmungen der österreichischen Kodifikation17. Pio Caroni hat darauf hingewiesen, dass das Berner CGB das einzige der Schweizer Kantonsgesetzbücher (neben dem waadtländischen) ist, das noch in der Restaurationszeit und demnach von einem altständischen, patrizischen Regiment erlassen wurde und er hat seine „Janusköpfigkeit“ unterstrichen. Er wandte sich dabei gegen die zuvor in der schweizerischen Rechtsgeschichte hauptsächlich vertretene
Gruppe des bernischen Rechts, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte III/2, München 1982, 1930 ff. 17 Elsener, wie Fn. 5, 297.
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Auffassung18, das „bürgerliche“ Gesetzbuch habe den Sturz des Patriziats mit beeinflusst19. Eine „bürgerliche“ Kodifikation im modernen Sinn sei das CGB auch deshalb nicht, weil es die subsidiäre Geltung der alten Statutarrechte der Berner Landschaft nicht ausschließt und weil es die Lehns-, Zins- und Zehntrechte beibehält20. Gerade am Beispiel Bern zeigt sich m. E. die Anwendbarkeit, Übertragbarkeit des Modells ABGB auf Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen, die auf der expliziten Trennung von politischem (öffentlichem) und privatem Recht gründet. Durch die Gewährung privater Freiheit und Gleichheit ohne gleichzeitige Realisierung politischer Gleichheit und Mitwirkung war das ABGB, wie Franz Klein formulierte: „… zunächst bloß eine Antizipation, eine Gewinnsthoffnung“, „eine Vision“21 – die in der Habsburgermonarchie erst nach 1848 voll realisiert werden konnte. In Bern hingegen traten derartige politische Rahmenbedingungen bereits nach 1830, in der Zeit der Regeneration in Wirksamkeit. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass das Berner Gesetzbuch nicht das einzige Resultat kodifikatorischer Bemühungen dieser Epoche in deutschschweizer Kantonen war: Zwar wurde nicht das gesamte Aargauische Zivilgesetzbuch, aber sein erster Teil, das Personenrecht, auch bereits in der Restaurationszeit in Kraft gesetzt. 2. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für den Kanton Aargau Der Kanton Aargau war 1803 – nach dem Zusammenbruch der Helvetik – neu bzw. in anderen Grenzen wieder erstanden und aus drei verschiedenen Gebietsteilen mit unterschiedlichen Rechtsordnungen zusammengesetzt: 1. dem alten (Berner) Aargau, 2. den gemeinen Herrschaften, d. h. der ehemaligen Grafschaft Baden und den Freien Ämtern und 3. dem Fricktal (umfassend die ehemals österreichischen Herrschaften Rheinfelden und Laufenburg, die bis 1801 der vorderösterreichischen Regierung in Freiburg/Br. unterstanden). Im Fricktal galt neben lokalen Satzungen die österreichische Privatrechtsgesetzgebung, insbesondere das Josephinische Gesetzbuch (Teil-ABGB) von 178622, dessen 1787 in Freiburg i.Br. erschienene Druck18 Ausführliche Nachweise bei P. Liver, Die staatsrechtliche und politische Bedeutung der Bernischen Kodifikation des privaten Rechts (1824 – 1830), in: Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 119, 1983, 441 – 455, hier 444 ff. 19 P. Caroni, Liberale Verfassung und bürgerliches Gesetzbuch im XIX. Jahrhundert. Berner Rektoratsrede 1988, Bern 1988; in diesem Sinne schon Liver, wie Fn. 18, allerdings mit unterschiedlicher Begründung. 20 Caroni, wie Fn. 19, 19. 21 F. Klein, Die Lebenskraft des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in: FS zur Jahrhundertfeier des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs. 1. Juni 1911, Wien 1911, I, 20, 31; vgl. D. Grimm, Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller, in: W. Selb/H. Hofmeister (Hrsg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751 – 1828), Wien 1980, 94 ff. 22 J. A. Petzek, Systematisch-chronologische Sammlung aller jener Gesetze …, die von ältesten Zeiten her bis auf 1792 für die vorderösterreichischen Lande erlassen worden sind…,
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ausgabe als einzige zum besseren Gebrauch auch ein Sachregister enthält23. Durch die von der Freiburger Juristenfakultät in der zweiten Phase der Kodifikationsarbeiten erstellten Gutachten von 1792 und 1797, die in die Zeillersche Schlussredaktion eingingen, waren die vorderösterreichischen Lande auch über die Zeit ihrer Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie hinaus mit der ABGB-Tradition verbunden24. Schon seit der (Neu)Konstituierung des Kantons 180325 datieren die Bemühungen der Mediationsregierung um Schaffung einheitlichen Rechts, darunter eines Zivilgesetzbuchs. Zweimal (1810 und 1816) erging der Auftrag zur Ausarbeitung eines solchen an den Berner Samuel Ludwig Schnell26, der diesen auch beide Male annahm, beide Male aber nicht erfüllte. Rechtsvereinheitlichung für die „aargauischen Völker“27, Rechtssicherheit und Rechtsmodernisierung waren die Ziele, wobei man bald zum Entschluss kam, nicht die alten einheimischen Gesetze zu bearbeiten, sondern ein existierendes Gesetzbuch zum Muster zu nehmen. Hier sind durchaus Parallelen zu Kodifikationsbemühungen zu sehen, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in etlichen deutschen Bundesstaaten begegnen28. Auch die Restaurationsregierung sollte diese Ziele der Integration und Festigung des Staatswesens neben dem der Rechtserneuerung weiter verfolgen. 1808 fasste man den Code civil als Vorbild ins Auge, wozu man „… sowohl durch den innern Werth des napoleonschen Werkes, als durch politische Rücksichten bewogen“ sei29. 1816 beantragte die Gesetzgebungskommission, Schnell anzuweisen, er solle den Entwurf „unabhängig von den bestehenden Ordnungen nach reinen juristischen Grundsätzen“ aufbauen30. Nachdem Schnell mit der Berner Gesetzgebung betraut worden war, teilte er 1818 mit, er werde den Entwurf eines Berner Gesetzbuchs auch Aargau zur Verfügung stellen. Da er aber zuerst die Zivilprozessordnung ausarbeitete, war Aargau damit nicht gedient, wo man zuerst ein Zivilgesetzbuch in GelI–IX, Freyburg/Breisgau 1792 – 1797, I, 69 – 224; J. F. Waldmeier, Der Josephinismus im Fricktal 1780 – 1830, Diss. phil. Freiburg/Schweiz 1949; W. Gautschi, Eheschließung und Ehescheidung im Kanton Aargau von 1803 bis 1874, Reinach 1898, 8, 24 ff., 84; Carlen, wie Fn. 1, 9 f.; W. Kundert, Gesetzgebungsbibliographie Schweiz, in: Coing, wie Fn. 16, 1842 ff. 23 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, Bey Johann Andreas Satron, kaiserl. Königl. Regierungs-Kammer- und Universitätsbuchdrucker, Freyburg im Breisgau 1787; vgl. C. Schott (Hrsg.), Das Freiburger ABGB-Gutachten. Gutachten der vorderösterreichischen Juristenfakultät Freiburg im Breisgau zum „Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches“ (1797), Frankfurt u. a. 2000, Vorwort von W. Brauneder. 24 Schott, wie Fn. 23, 26. 25 Siehe oben. 26 Siehe Fn. 10. 27 Proklamation des Großen Rats, 25.4.1803, Zitat bei H. P. Geissmann, Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für den Kanton Aargau (1847 – 1855), Bern u. a. 1991, 1 [Die Arbeit basiert auf einer Berner Dissertation von 1985]. 28 Vgl. den Abschnitt I. „Das ABGB in der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches“ im Beitrag von Dölemeyer und Schubert in diesem Band. 29 Geissmann, wie Fn. 27, 32. 30 Entwurf des Briefes der Regierung an Schnell, zitiert bei Geissmann, wie Fn. 27, 61.
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tung setzen wollte. Die Kommission verlangte von der Regierung, sie solle ein auswärtiges Gesetzbuch neuerer Zeit als Muster bestimmen, „sey es das französische oder östreichische oder irgend ein anderes, welches bereits da oder dort in seiner Anwendung sich als gut bewährt hätte, und durch ausgezeichnete Staatsmänner und Rechtsgelehrte unserer Zeit als vorzüglich empfehlungswert gepriesen werde.“31 Dieses wäre dann an die aargauische Verfassung anzupassen. Die Gesetzgebungskommission sollte beraten, welches ausländische Gesetzbuch auszuwählen sei; in Frage kamen das österreichische ABGB, das Badische Landrecht, der Code civil und das nach dessen Vorbild ausgearbeitete waadtländische Gesetzbuch von 181932. Man entschied für das ABGB, „weil es musterhaft geordnet, vollständig und trefflich ausgearbeitet“ sei, „bestimmt, allgemein verständlich und in gediegenem Style abgefaßt ist, ohne an der unnöthigen Weitläufigkeit zu leiden, welche manchen andern zum Vorwurfe gereicht.“ Allerdings machte man darauf aufmerksam, dass es das Gesetzbuch einer Monarchie sei und dass es daher in bestimmten Bereichen modifiziert und mit der aargauischen Verfassung in Einklang gebracht werden müsse. Zu diesem Zweck sei das waadtländische Gesetzbuch heranzuziehen. Die aargauische Verfassung vom 4. 7. 1814 betonte die Abschaffung ständischer Ungleichheiten und leitete zu einer bürgerlichen Gesellschaft über33. Im Unterschied zu Österreich (und auch im Unterschied zum bernischen Patriziats-Regime) stimmte demnach im Aargau das politische System mit dem angestrebten privatrechtlichen überein. Für die Wahl des ABGB waren in erster Linie die rechtstechnischen Qualitäten des Gesetzbuchs maßgebend, die man mit ähnlichen Argumenten wie etwa in Bayern (Entwurf Leonrod 1832) oder in Sachsen (1839, 1845) vertrat34, um es als Muster für die eigene Kodifikation zu empfehlen. Auch hier erschien die Anpassung an ein Staatswesen mit anderer – nämlich republikanischer – Verfassung (vor allem wegen der Abstraktheit und gesellschaftspolitischen Abstinenz des ABGB) möglich. Ein einzelner Redaktor sollte die Redaktionsarbeit übernehmen, beraten von einer Kommission. Johann Jakob Rudolf Feer35 aus Aarau wurde gemäß dem Antrag der
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Brief der Kommission vom 5.7.1820, zitiert bei Geissmann, wie Fn. 27, 68. Code civil du Canton de Vaud, wie Fn. 2. 33 § 25: „Es gibt im Kanton Aargau keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Personen oder Familien“, Slg. der in Kraft bestehenden Kanton Aargauischen Gesetze und Verordnungen, Band 5, Aarau 1814, 68 ff. Diese Bestimmung ist in das Personenrecht von 1826 übernommen: „Es gibt im Kanton keine Vorrechte des Orts, der Geburt, des Standes, der Personen oder Familien. Jedermann ist gleich vor dem Gesetz, und fähig unter den, von den Gesetzen vorgeschriebenen Bedingungen Rechte zu erwerben.“ Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für den Kanton Aargau. Erster Theil, Aarau 1826, § 16. 34 Vgl. den Abschnitt I. „Das ABGB in der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches“ im Beitrag von Dölemeyer und Schubert in diesem Band. 35 1788 – 1840, studierte 1802 – 1803 in Lyon; 1806 – 1810 in Heidelberg bei Thibaut; Dr. jur., Anwalt, 1814/15 Kämpfer für die Selbständigkeit des Aargau; 1822 Mitglied des Großen Rats; Referent im Großen Rat in wichtigen Gesetzgebungsangelegenheiten; Gegner des Konkordats zwischen Hl. Stuhl und Kantonen über die Reorganisation des Bistums Basel; vgl. 32
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Kommission 1822 mit der Aufgabe betraut und nahm den Auftrag am 4. 5. 1822 an36. Er vollendete 1824 den Entwurf der Einleitung (Allgemeiner Teil) und des Personenrechts. 1826 wurde dieser vom Kleinen und vom Großen Rat des Kantons beraten und zum 1. 1. 1828 in Geltung gesetzt. Umstritten waren dabei u. a. die Bestimmungen über die Eheschließung, wobei Feer versuchte, kirchliche Ansprüche mit dem in Teilen des Kantons bereits geltenden Prinzip der bürgerlichen Eheschließung zu vereinbaren37. Das Aargauer Personenrecht wurde auch in Österreich und in Deutschland mit Interesse aufgenommen. Karl Josef Anton Mittermaier38 sowie Josef Winiwarter39 besprachen den Entwurf in ausführlichen Berichten, die sich vor allem mit den Abweichungen vom österreichischen ABGB und dem Vergleich mit dem Berner Zivilgesetzbuch sowie Schnells Kommentar befassten. Winiwarter wies u. a. darauf hin, dass durch das Inkrafttreten des Personenrechts auch das bis dahin im Fricktal geltende Josephinische Gesetzbuch von 1786 seine Geltung verliere40. Außerdem wertete er als „merkwürdig und von den bekannteren Gesetzgebungen abweichend“ den Abschnitt „Von der Verbeyständung der Weibspersonen“ und vermerkte, dass durch diese Beibehaltung der Geschlechtsvormundschaft aus dem überkommenen Recht „Frauenspersonen als immerwährende Minderjährige behandelt“ würden41. Mittermaier wies darauf hin, dass das aargauische Gesetzbuch in einigen Punkten über das österreichische hinausgehe, so in der unbedingten Abschaffung aller Statuten und Gewohnheitsrechte42. Nach der Ausarbeitung des Personenrechts folgte die des Sachenrechtsentwurfs (1828/30), dessen Beratung allerdings durch die politischen Umwälzungen unterbrochen wurde. 1830 wurde die Arbeit angesichts der bevorstehenden Verfassungsrevision, die auch Auswirkungen auf die Kodifikationsarbeiten haben musste, eingestellt. Der gemäßigte Liberale Feer wurde zwar von der neuen (radikalen) Regierung 1833 wieder aufgefordert, die Entwürfe fertigzustellen, lehnte dies aber ab.
Boner, Artikel „Feer“, in: Histor. Gesellschaft des Kantons Aargau (Argovia 68/69) (Hrsg.), Biographisches Lexikon des Kantons Aargau 1803 – 1957, Aarau 1958, 191 ff. 36 Geissmann, wie Fn. 27, 70 ff. 37 N. Halder, Die Anfänge der Vereinheitlichung von Recht und Gesetz im Kanton Aargau, in: Aargauisches Beamtenblatt 54 (1957), 103 ff., hier 112. 38 Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für den Canton Aargau. Einleitung und erster Theil, in: Schunck Jahrbücher 2 (1826), 1 – 31. 39 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für den Canton Aargau. erster Theil, Aarau 1826, in: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit 1829, Band 3, 253 – 263. 40 Winiwarter, wie Fn. 39, 254. 41 Winiwarter, wie Fn. 39, 262; ähnlich kritisch Mittermaier, wie Fn. 38, 30 f.; zur Geschlechtsvormundschaft in Bern vgl. R. Gerber Jenni, Rechtshistorische Aspekte des bernischen Emanzipationsgesetzes von 1847, in: U. Gerhard (Hrsg.) Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 480 ff. 42 Mittermaier, wie Fn. 38, 6.
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1833 wurde über die Wiederaufnahme der Kodifikationsarbeiten ausführlich im Großen Rat diskutiert; dabei kam auch die Meinung zum Ausdruck, man solle anstatt des ABGB das „volkstümlichere“ Berner Zivilgesetzbuch zugrunde legen (u. a. im Hinblick auf die Möglichkeit einer kantonsübergreifenden Rechtsvereinheitlichung)43. In der Folge verlagerte sich das Interesse aber auf die Zivilprozessordnung, so dass für die Arbeiten am Zivilgesetzbuch eine weitere Unterbrechung eintrat. 1837 wurde als Redaktor eines ZGB Kaspar Leonz Bruggisser beauftragt, er fertigte den revidierten Entwurf eines Personenrechts an. Aus verschiedenen Gründen reichte er aber 1841 seinen Rücktritt ein. Weitere Ergebnisse hatten seine Bemühungen nicht44. Erst 1844 kam neuer Schwung in die Arbeiten: Der Anwalt Franz Waller45 erhielt den Auftrag, die restlichen Teile des Gesetzbuchs zu verfassen. Der Auftrag, die Rechtsvereinheitlichung für den Kanton nun endlich zu vollenden, und dies im Sinne eines liberalen „bürgerlichen“ Gesetzbuches und der damit „zu schützenden und zu hebenden privatrechtlichen Interessen“46 stand dabei sowohl für die Regierenden als auch den Redaktor im Mittelpunkt. In kurzer Folge wurden 1847 – 1855 die vier Teile des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für den Kanton Aargau erarbeitet, beraten und verabschiedet: Das revidierte Personenrecht wurde zum 1. 1. 1848, das Sachenrecht zum 1. 5. 1850, das Obligationenrecht zum 1. 7. 1852 und das Erbrecht zum 1. 2. 1856 in Kraft gesetzt. In der Systematik verließ man die Einteilung des ABGB und ging zum moderneren Pandektensystem über. Ansonsten wurde auch für die neu bearbeiteten Teile des Gesetzbuchs in vielem das ABGB zum Vorbild genommen, daneben berücksichtigte Waller auch das Berner Gesetzbuch Schnells sowie andere aktuelle Kodifikationen wie vor allem das zürcherische Privatrechtliche Gesetzbuch Bluntschlis. 3. Das Bürgerliche Gesetzbuch des Kantons Luzern Seit 1803 bereitete die Luzerner Regierung eine „Sammlung der revidirten Gesetze und Verordnungen“ vor, die zwischen 1810 und 1818 publiziert wurde. Ziele waren einerseits die Schaffung von Rechtssicherheit durch Bereinigung des überkommenen Rechtsguts und andererseits die Materialsammlung als Vorarbeit für eine vollständige Kodifikation des bürgerlichen wie des Strafrechts. Der VII. Titel dieser bereinigten Sammlung war „Bürgerliches Gesetzbuch“ überschrieben; er trat am 1. 1. 1812 in 43
Geissmann, wie Fn. 27, 113. Ausführlich zum „Zwischenspiel Bruggisser“ Geissmann, wie Fn. 27, 111 ff. 45 1803 – 1879; studierte Jura in Freiburg i.Br. und in Jena; Tätigkeit als Anwalt; 1837 Mitglied des aargauischen Großen Rats; 1838 Mitglied des Kleinen Rats; 1841 Landammann; Nationalrat 1849 – 1866; nebenbei Tätigkeit in der Wirtschaft; vgl. Biographisches Lexikon des Kantons Aargau, 814 – 816; E. Gruner, Die Schweizerische Bundesversammlung 1848 – 1920, Bern 1966, I, 680; Geissmann, wie Fn. 27, 138 ff. 46 Brief Waller 5.2.1844 an die Regierung, Zitat bei Geissmann, wie Fn. 27, 137 f. 44
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Kraft und wurde dann in den dreißiger Jahren sukzessive durch die einzelnen Teile des Zivilgesetzbuchs ersetzt. Dieses sog. „Bürgerliche Gesetzbuch“ basierte im Wesentlichen auf dem alten Municipale von 1706, wurde aber in ein Institutionensystem gebracht; es galt subsidiär47. Auch die Restaurationsregierung bemühte sich um Verbesserung der Gesetzgebung; zur wesentlichen Aufgabe der – neuen liberalen – Regierung wurde diese aber erst in der Zeit der Regeneration erklärt, wie dies auch in der Verfassung von 1831 zum Ausdruck kommt48. Dabei wurde Rechtsvereinheitlichung auch als ein Mittel zur Stärkung des Staatswesens betrachtet. Hier wie in etlichen anderen Kantonen forderte die wirtschaftliche Entwicklung eine Modernisierung und Ergänzung der Privatrechtsgesetzgebung. 1827 verfasste Kasimir Pfyffer49, Mitglied des Großen Rats, für diesen ein Gutachten, in welchem er u. a. die Schaffung eines modernen, systematischen und vollständigen Zivilgesetzbuchs vorschlug. 1828 erhielt er den Auftrag zur Redaktion eines solchen. Den ersten Entwurf konnte er schon 1828 vorlegen, doch infolge der Verfassungsrevision von 1831 traten Verzögerungen in den Beratungen ein. Der erste Teil „Personenrecht“ (enthaltend Personen-, Ehe- und Familienrecht) trat 1832 in Kraft; es folgten als erster Abschnitt des „Sachenrechts“ 1833 die Materien Besitz, Eigentum, Dienstbarkeiten und 1838 Pfandrecht und Erbrecht; schließlich 1839 als zweiter Teil des „Sachenrechts (Persönliche Rechte)“ das Obligationenrecht. Das österreichische ABGB war teils direkt, teils über das von ihm beeinflusste, 1824 – 1830 publizierte „Civil-Gesetzbuch für den Canton Bern“ Vorbild für die Luzerner Kodifikation, da die alten einheimischen Rechtsquellen lückenhaft waren. Ähnlich wie Schnell es für das Berner Recht praktizierte, behielt Pfyffer in den Materien Ehegüterrecht, Erbrecht und Hypothekenrecht weitgehend altluzerner Rechtsgut bei. Er folgte dem ABGB in der Systematik und in den Teilen, die nicht dem altluzerner Recht verpflichtet waren, auch in der Einteilung, z. T. fast wörtlich. Aber sein Werk bedeutet auch in gewisser Beziehung eine Weiterentwicklung gegenüber dem Berner Gesetzbuch, es enthält vor allem etliche handelsrechtliche Bestimmungen, die den wirtschaftlichen Fortschritten Rechnung tragen. 47 A. Schmid, Kasimir Pfyffer und das Bürgerliche Gesetzbuch für den Kanton Luzern (1831 – 1839), Bern 1960, 54 ff.; Elsener, wie Fn. 5, 306 ff.; Sammlung der revidirten Gesetze und Regierungsverordnungen des Kantons Luzern I–V, Luzern 1810 – 1818; P. A. v. Segesser, Über das bürgerliche Gesetzbuch von 1812, in: Zs. der Juristischen Gesellschaft des Kantons Luzern 3 (1860), 25 – 38. 48 „Die ältern und neuern Gesetze und Verordnungen sollen mit möglichster Beförderung revidiert werden.“ Amtl. Sammlung der Gesetze und Verordnungen des Kantons Luzern, 1831 – 1841, Bd. 1, 27, § 58. 49 1794 – 1875; studierte in Tübingen; 1814 Regierungssekretär in Luzern; Kantonsfürsprecher; 1820 Studium in Heidelberg (Thibaut, Zachariae, Mittermaier); Dr. jur.; 1821 Vorlesungen an der Luzerner Kantonsschule; 1826 Mitglied des Großen Rats; Liberaler; Maßgeblich beteiligt an Neuorganisation des Justizwesens; 1854 Präsident des Nationalrats, Bundesrichter; vgl. Schmid, Pfyffer, wie Fn. 47, 4 ff.; Elsener, wie Fn. 5, 306 ff.
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Das Luzerner Gesetzbuch ist mit nur 807 Artikeln das kürzeste unter denen der Berner Gruppe; seine Gliederung ist übersichtlicher, sprachlich ist es noch knapper und einfacher als ABGB und Berner Gesetzbuch abgefasst. Nach Elsener, der sich auf Segesser bezieht, ist aber das Luzerner BGB nicht auf große Akzeptanz in der Bevölkerung gestoßen; es wurde nicht besonders „volkstümlich“50. Als juristisch-technische Leistung blieb das Gesetzgebungswerk Pfyffers anerkannt. 4. Das Civilgesetzbuch für den Kanton Solothurn Ähnlich wie in den benachbarten Kantonen zeigte sich in Solothurn zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer Rechtsreform51. Das „Stadtrechten von Solothurn“ von 1604 hatte in den folgenden Jahrhunderten mehrfache Ergänzungen und Abänderungen erfahren, die aber nur z. T. eingearbeitet worden waren. 1817 gab Urs J. Lüthy eine bereinigte Druckausgabe heraus, wobei er bereits auf die Mangelhaftigkeit des Rechtszustands hinwies. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, und besonders während der Regenerationszeit wurde der Wunsch nach einer neuen, umfassenden Privatrechtsgesetzgebung laut. 1837 beschloss der Große Rat des Kantons, dass die geplante Gesamtrevision der Zivilgesetzgebung über eine bereinigte Sammlung der alten Gesetze hinausgehen und durch die Schaffung eines vollständigen Bürgerlichen Gesetzbuches geschehen sollte. Die Justizkommission des Kleinen Rats stellte die Richtlinien dazu auf und beauftragte 1838 Johann Baptist Reinert52 mit der Ausarbeitung eines Entwurfs. Eine besondere Kommission, unter Hinzuziehung weiterer Rechtsgelehrter, sollte dann den von dem Einzelredaktor geschaffenen Entwurf beraten. Der Auftrag an Reinert lautete, das bestehende Recht zu ordnen, zu sichten und zu vervollständigen. Neuerungen in wesentlichen Grundsätzen waren vorher vom Großen Rat zu genehmigen. Dem Redaktor erschien die Ausarbeitung einer Zivilprozessordnung dringlicher und er konnte sich mit dieser Meinung durchsetzen. Nach der Schaffung der ZPO wandte er sich dem Zivilgesetzbuch zu. Ähnlich wie dies in den benachbarten Kantonen der „Berner Gruppe“ geschehen war, wurden auch hier nach und nach die einzelnen Teilentwürfe vorgelegt, beraten und in Kraft gesetzt: Personenrecht (1840 vorgelegt, zum 1. 4. 1842 in Kraft gesetzt), das Erbrecht zum 50
Elsener, wie Fn. 5, 321. Peter Walliser, Der Gesetzgeber Joh. Baptist Reinert und das solothurnische Zivilgesetzbuch von 1841 – 1847, unter besonderer Berücksichtigung der rechtshistorischen Entwicklung des solothurnischen Privatrechts, Olten 1948; Elsener, Rechtsschulen, wie Fn. 5, 323 ff. 52 1790 – 1853, 1809 Eintritt in den Staatsdienst in Solothurn; 1811 – 1813 Jura- und Philosophiestudium in Berlin (vor allem bei Savigny, Theodor Schmalz, Fichte); nach Regierungswechsel in Solothurn 1814 Flucht nach Aarau; 1815 bis 1831 Advokat in Solothurn; 1825 Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft; gemäßigter Liberaler; 1838 zum offiziellen Gesetzesredaktor in Solothurn bestellt; vgl. Walliser, wie Fn. 51; Elsener, Rechtsschulen, wie Fn. 5, 323 ff. 51
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1. 1. 1843, das Sachenrecht zum 1. 4. 1846, schließlich das Obligationenrecht zum 2. 3. 184753. Die Entwürfe Reinerts wurden meist ohne wesentliche Änderungen angenommen. In der Zeit seiner Advokatentätigkeit war Reinert in Kontakt mit Urs Joseph Lüthy gekommen, der sich schon seit der Helvetik mit Gesetzesredaktion befasste und er hatte z. T. bereits an dessen Arbeiten mitgewirkt. In der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, der Reinert seit 1825 angehörte, schloss er Freundschaft mit liberalen Politikern und Juristen, besonders mit den Persönlichkeiten, die in den benachbarten Kantonen mit Gesetzesredaktion befasst waren – so mit Samuel Ludwig Schnell (Bern), Kasimir Pfyffer (Luzern) und Friedrich Ludwig Keller (Zürich). Reinert verwendete neben dem alten Solothurner Recht hauptsächlich das ABGB, vor allem indirekt in der Form des Berner Gesetzbuches. Daneben entlehnte er aber auch einige Regelungen aus dem französischen Code civil54. Von den Gesetzbüchern der Berner Gruppe wird das solothurnische allgemein als die originellste Schöpfung gewertet55. II. Einflüsse des ABGB auf Kodifikationen der „Zürcher Gruppe“ und des Kantons Tessin 1. Nidwalden Im Kanton Nidwalden wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kodifikationsanstrengungen unternommen. Der erste Teil, das Personen- und Familienrecht, von einer Gesetzeskommission 1851 ausgearbeitet und zum 1. 1. 1853 in Kraft gesetzt, folgt in seiner Systematik sehr eng dem Pfyfferschen Bürgerlichen Gesetzbuch für Luzern und damit indirekt dem Berner und dem österreichischen Vorbild. Vorteilhaft sei das luzernische Gesetzbuch, so die Redaktoren, „weil es streng formal, rein deduktiv auf die concreten Tatbestände angewendet werden“ könne.56 In der Einleitung und im Abschnitt über natürliche und juristische Personen berücksichtigt Nidwalden neben diesen Gesetzbüchern auch die aargauische Variante. Materiell gesehen weichen die eherechtlichen Bestimmungen von den vorgenannten Kodifikationen etwas ab. Im Ehegüterrecht und im Vormundschaftsrecht kommen dagegen ein53 Gesetze über die Einführung und Inkrafttretung des Civilgesetzbuches, in: Civilgesetzbuch für den Kanton Solothurn, nebst Civil-Prozeßordnung, Amtl. Ausgabe, Solothurn 1855, 4 ff. 54 Civil-Gesetzbuch für den Kanton Solothurn mit Anmerkungen von Joh. Baptist Reinert, Solothurn 1842, 1858. 55 Elsener, wie Fn. 5, 330 (unter Bezug auf J. C. Bluntschli, Beobachter aus der östlichen Schweiz, Januar 1844; Abdruck in: Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich I, Zürich 1854, XXVII f.); vgl. P. C. Planta, Bündnerisches Civilgesetzbuch. Mit Erläuterungen des Gesetzesredaktors, Chur 1863, Vorwort, XI. 56 B. Zelger, Karl von Deschwanden und sein Sachenrechtsentwurf für Nidwalden, Diss. Bern, Zürich 1974, 66 ff.
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heimische Regelungen stärker zur Geltung (wobei auch das neue zürcherische Privatrechtliche Gesetzbuch berücksichtigt wird). Immerhin hat man die (in Luzern beibehaltene) Geschlechtsvormundschaft abgeschafft57. In den weiteren Entwürfen, die von Karl von Deschwanden58 ausgearbeitet wurden, verließ man diesen Weg. Deschwanden, der sich als Anhänger Savignys den Vorstellungen Kellers und Bluntschlis viel näher fand, wollte durch die Kodifikation die „organische Entwicklung“ des Rechts weiterführen. Das Erbrecht (zum 1. 4. 1859 in Kraft gesetzt) sowie der Sachenrechtsentwurf (der nicht in Kraft trat), beide unter Einfluss Deschwandens entstanden, folgen denn eher dem zürcherischen Vorbild und bewahren darüber hinaus mehr von dem überkommenen einheimischen Rechtsgut des Kantons. Hier kann man, vergleichbar etwa der Kodifikationsentwicklung in Sachsen,59 die Abkehr von der naturrechtlichen Position des ABGB und seiner Nachfolger und – unter dem Einfluss der historischen Schule – die Hinwendung zu stärkerer Berücksichtigung gewachsenen Rechts beobachten. 2. Thurgau Die thurgauische Verfassung der Regenerationszeit verlangte in § 211, dass „beförderlich“ Kodifikationsentwürfe zum Zivil-, Straf- und Prozessrecht auszuarbeiten seien60. Die daraufhin eingesetzte Gesetzesrevisionskommission gelangte im Zivilrecht zu keinem Ergebnis. Die revidierte Verfassung von 1837 schuf ein neues Staatsorgan: Die aus drei Mitgliedern bestehende Justizkommission, als ein Ausschuss des Obergerichts, der neben Johann Konrad Kern zwei weitere junge Anwälte mit Heidelberger Studienerfahrungen, Johann Melchior Gräflein und Johann Baptist von Streng, angehörten61, erhielt u. a. den Auftrag der Ausarbeitung eines „Civilkodex“. Diese Juristen verbanden aus der Zeit ihrer Studien bei Mittermaier und Thibaut „Pragmatismus und naturrechtliche Anschauungen“62 und bedienten sich in ihrer kodifikatorischen Tätigkeit vor allem auch der Rechtsvergleichung als eines Mittels der Gesetzgebung. Kern stand in ausgedehntem Briefwechsel mit Mittermaier63. 57 Zelger, wie Fn. 56, 68; vgl. E. Holthöfer, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick, in: Gerhard, wie Fn. 41, 442 ff. 58 1823 – 1889; studierte Jura in Zürich (bei Keller und Bluntschli); 1844 Advokat in Stans; Liberaler; Eintreten für eine Bundesverfassung; 1873 Auftrag zur Bearbeitung der eidgenössischen Abschiede; vgl. Zelger, wie Fn. 56, 10 – 53. 59 Vgl. den Abschnitt I. „Das ABGB in der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches“ im Beitrag von Dölemeyer und Schubert in diesem Band. 60 W. Kundert, Die Zivilgesetzgebung des Kantons Thurgau unter besonderer Berücksichtigung des Familienrechts zugleich ein Beitrag zur Kodifikationsgeschichte (1803 – 1911), Basel und Stuttgart 1973, 90 ff. 61 Kundert, wie Fn. 60, 96 ff., 119 ff. 62 Kundert, wie Fn. 60, 129. 63 Siehe Korrespondenz Mittermaier UB Heidelberg; Mikrofilme auch in MPI für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; vgl. zum Editionsprojekt B. Dölemeyer, Wissenschaftliche Kommunikation im 19. Jahrhundert: Karl Josef Anton Mittermaiers juristisch-
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Der Entwurf eines Personenrechts wurde 1842 vorgelegt. Werner Kundert hat darauf hingewiesen, dass dieser Entwurf stark vom ABGB und den Kodifikationen der „ABGB-Gruppe“ beeinflusst war (insbesondere vom solothurnischen, luzernischen und aargauischen Gesetzbuch). Diese seien als Vorbild gewählt worden, weil sie den Rechtstraditionen und den konfessionellen Verhältnissen Thurgaus am nächsten gestanden hätten64. Die Redaktoren legten dagegen weit weniger Wert auf die Erhaltung historischen einheimischen Rechtsguts. Name und Einteilung dieses ersten Teils des geplanten Gesetzbuchs65 folgten dem Institutionensystem des ABGB, in der tieferen Gliederung am ehesten dem Luzerner Bürgerlichen Gesetzbuch. Materiell sind viele Bestimmungen dem solothurnischen Gesetzbuch entnommen. Allerdings geht der Thurgauer Entwurf in der Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Bestimmungen, vor allem Verfahrensnormen und strafrechtlicher Normen, von den Vorbildern ab. Nach umfangreichen Beratungen scheiterte der Entwurf allerdings 1848. Kundert führt das Scheitern vor allem darauf zurück, dass es zu wenige Vorarbeiten gab und dass schließlich der Entwurf zu spät vorgelegt wurde, zu einer Zeit, da man schon das weitgerühmte Zürcher Modell kannte, dem gegenüber der thurgauische Versuch als misslungen erscheinen mußte66. 3. Graubünden Die Kodifikation des Zivilrechts, ein Postulat, das bereits in der Mediationszeit erhoben, in der Kantonsverfassung von 1814 ausdrücklich formuliert war, wurde nach etlichen vergeblichen Anläufen in der Regenerationszeit67, erst nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung von 1854 endgültig in Angriff genommen. Der Große Rat beschloss 1855, ein vollständiges Privatrechtsgesetzbuch – unter Benutzung der vorhandenen Kantonsgesetze – ausarbeiten zu lassen. Peter Conradin von Planta, der u. a. in Heidelberg bei Mittermaier studiert hatte68, erhielt 1856 den Auf-
politische Korrespondenz, in: Ius Commune 24 (1997), 285 – 298. Von Johann Conrad Kern (1808 – 1888), Schweizer Politiker und Diplomat, Nationalrat, Mitarbeiter der Deutschen Zeitung: 45 Briefe, Zürich, Frauenfeld, Luzern, Straßburg, Bern, Berlingen 1833 – 1856. 64 Kundert, wie Fn. 60, 105 ff. 65 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für den Kanton Thurgau. Erster Theil. Personen-Recht. Vorgeschlagen von der Justiz-Kommission, Frauenfeld, den 22. Oktober 1842; dazu Kundert, Der wiedergefundene Entwurf eines thurgauischen Zivilgesetzbuches von 1842, in: Thurgauische Beiträge zur vaterländischen Geschichte 114 (1977), 73 ff. 66 Kundert, wie Fn. 60, 149 f. 67 Details bei Planta, Bündnerisches Civilgesetzbuch, Vorwort, wie Fn. 55, III f.; M. Cavigelli, Entstehung und Bedeutung des Bündner Zivilgesetzbuches von 1861, Beitrag zur schweizerischen und bündnerischen Kodifikationsgeschichte, Freiburg/Schweiz 1994, 43 ff. 68 1815 – 1902; studierte in Leipzig, Heidelberg (bei Thibaut, Zachariae, Mittermaier); Mitglied des Großen Rats von Graubünden; 1855 – 1870 Präsident des Kantonsgerichts Graubünden; Ständerat, Nationalrat; Eintreten für Reformen, besonders die Revision der Gesetzgebung; 1841 Gründung eines Reformvereins für die Regeneration des Kantons; vgl. P. Liver, in: Schweizer Juristen der letzten hundert Jahre, Zürich 1945, 197 ff.; Elsener, wie Fn. 5,
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trag dazu. Vor allem das zürcherische PGB sollte er dabei berücksichtigen, da er es aber „sowohl mit meiner persönlichen Ehre als mit der des Kantons unvereinbar fand, nur einen Abklatsch eines andern Gesetzbuches zu geben,“69 bemühte er sich um eine freie und selbständige Bearbeitung. Neben dem Zürcher Gesetzbuch und dem kantonalen Rechtsgut verarbeitete er auch die großen europäischen Kodifikationen, darunter das ABGB, dieses sowohl in seiner Nachbildung in den Gesetzbüchern der Berner Gruppe als auch direkt. Planta bemerkte dabei, das österreichische Gesetzbuch stehe dem einheimischen Recht weit näher als der Code civil70. Der Entwurf wurde 1859 von einer Kommission beraten, dann dem Großen Rat des Kantons vorgelegt. Nach Kenntnisnahme durch die Gemeinden und Beratung durch eine weitere Kommission, beschloss der Große Rat, den Entwurf 1861 dem Volk zu unterbreiten; 1862 wurde er in einer Volksabstimmung gutgeheißen und trat am 1. 9. 1862 in Kraft. 4. Tessin In dem durch die Mediationsakte entstandenen Kanton Tessin wurde die Notwendigkeit einer Kodifikation durch die Vereinheitlichung der wichtigsten Rechtsmaterien sogleich 1803 festgestellt; man sah die Priorität aber im Straf- und im Prozessrecht71. Auch in der Kantonalverfassung von 1814 figurierte dieses Postulat. Doch erst 1827 wurden die Arbeiten an der Zivilrechtskodifikation endgültig in Angriff genommen. Eine Kommission legte 1834 den ersten Entwurf eines Codice civile vor. Das Gesetzbuch wurde zum 1. 1. 1838 in Kraft gesetzt72. Über den Anteil der einzelnen Redaktoren besteht wegen der lückenhaften Überlieferung keine Gewissheit. Die Kommission hatte wohl von Anfang an die Schaffung einer modernen Kodifikation in Stile des ABGB oder Code civil im Auge. Systematische Ähnlichkeiten mit dem ABGB und dem Codice civile Parmense73 (Parma), insbesondere in der Gliederung des Gesetzbuchs, wurden festgestellt. Aber auch der französische Code civil ist in weitem Umfang berücksichtigt, wie dies auch für den Parmenser Codice der Fall
419 ff.; Gruner, wie Fn. 45, 623 f. In der Korrespondenz Mittermaier, wie Fn. 63: 3 Briefe, Sondrio, Chur 1839 – 1862. 69 Bericht bei Einreichung des Entwurfs 1859, in: Bündnerisches Civilgesetzbuch, Vorwort, wie Fn. 55, VII. 70 Ebda, XI. 71 E. Holthöfer, Kodifikation in den romanischen Kantonen. Tessin, in: Coing, wie Fn. 16, III/2, 1915 ff., bes. 1919 f.; G. Patocchi, Gli influssi delle legislazioni straniere e degli statuti locali sul Codice Civile Ticinese del 1837, Diss. Bern, Bellinzona 1961. 72 Codice civile della Repubblica e Cantone des Ticino. Edizione originale e officiale, Bellinzona 1837. 73 Codice civile per gli Stati di Parma, Piacenze e Guastalla, Parma 1820; vgl. F. Ranieri, Kodifikation Italien, Parma und Piacenza, in: Coing, wie Fn. 16, III/1, 254 ff.; M. G. di Renzo Villata, DallABGB al codice civile parmense: I lavori della commissione Milanese, in: LABGB e la codificazione asburgica, wie Fn. 3, 109 – 187; vgl. den Beitrag von Di Simone in diesem Band.
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ist74. Für den Tessiner Codice ist – ähnlich wie für den Parmenser – das Bemühen um einen Kompromiss zwischen säkularisierenden Tendenzen und dem Festhalten am kirchlichen Einfluss (vor allem im Eherecht) festzuhalten75.
III. Kodifikationsversuch St. Gallen Im Kanton St. Gallen, der durch die Mediationsakte neu gebildet wurde, setzten die Bemühungen um Kodifikation des Privatrechts schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein (1806 – 1811), wobei man neben einem Zivilkodex auch einen „Handelskodex“ im Auge hatte76. Es war einer der ersten Versuche eines Schweizer Kantons, zu einer modernen Privatrechtsgesetzgebung zu gelangen. Karl Beda Müller-Friedberg, Sekretär der Justiz- und Polizeikommission, arbeitete den Entwurf eines Erbrechts aus, der 1808 auch angenommen wurde77. 1809 legte er einen weiteren Entwurf, den des Personen- und Familienrechts vor, der nur teilweise überliefert ist. Einen Vertragsrechtsentwurf arbeitete Konrad Meyer, Freund und Wiener Studienkollege Müller-Friedbergs, aus. Diese Arbeiten standen stark unter dem Einfluss naturrechtlicher Lehren und insbesondere Franz von Zeillers, bei dem Müller-Friedberg in Wien studiert hatte. Er hatte in seinem Studium auch Vorlesungen bei Christoph Hupka und Georg Scheidlein gehört, die auf Grundlage des Josephinischen Gesetzbuchs von 1786 gehalten wurden78. Für den Erbrechtsentwurf Müller-Friedbergs wurde aber nicht das positive österreichische Recht (Erbfolgeordnung von 178679), sondern, eher abstrakt betrachtet, die vernunftrechtliche Methode bestimmend. Man griff auf ein bereits vorliegendes Modell des im Sinne dieses Kodifikationsideals Geschaffenen zurück, es war der Code civil. Dabei wurde aber nicht so sehr dessen materielle als vielmehr strukturelle Übernahme maßgeblich. Auch der Personenrechtsentwurf folgte wohl eher dem Vorbild des Code civil. Zusätzlich waren die von dem Berner Rechtslehrer und späteren Gesetzgeber Samuel Ludwig Schnell in seinen „Abhandlungen über verschiedene wichtige Theile des bernischen Civilrechts“, hier besonders in derjenigen über den „Übergang vom von dem Natur-Rechte zu dem positiven Recht“, formulierten vernunftrechtlichen Ideen maßgeblich80. Die österreichische Privatrechtskodifikation hatte 74
Holthöfer, wie Fn. 71, 1919 f.; Patocchi, wie Fn. 71, 143 ff. Ranieri, wie Fn. 73, 257 f.; Holthöfer, wie Fn. 71, 1919. 76 F. N. Schlauri, Karl Beda Müller-Friedberg (Sohn) und die sanktgallischen Bestrebungen zur Kodifikation des Privatrechts 1806 – 1811 (mit einer Übersicht der übrigen sanktgallischen Kodifikationsversuche des 19. Jh.), St. Gallen 1975, 10. 77 Gesetz über die Erbfolge vom 9.12.1808, Gesetzes-Sammlung des Kantons St. Gallen von 1803 – 1839. Amtl. Ausgabe, St. Gallen 1842, I, 569 ff. 78 Schlauri, wie Fn. 76, 34 f. 79 Edikt Josephs II. über die gesetzliche Erbfolgeordnung vom 11.5.1786, in: Vollständige Sammlung aller seit dem glorreichen Regierungsantritt Joseph des Zweyten für die k.k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze … Band 6, Wien 1788, 179 – 188. 80 Bern 1809, dazu Schlauri, wie Fn. 76, 61 ff., hier 64. 75
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zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihre endgültige Ausformung erhalten und konnte offenbar deshalb nicht als Modell dienen. Müller-Friedbergs Biograph Schlauri sagt dazu: „Ihren Geist hatte er [Anm. des Verf.: Müller-Friedberg] zwar mitnehmen können, direkte materielle Vorbilder aber suchte er vorderhand noch anderswo.“81 Der Eherechtsentwurf von 1809 wurde von der kirchlichen Opposition scharf bekämpft und verschwand spurlos aus den Beratungsunterlagen. 1826 wurde Müller-Friedberg nochmals mit der Ausarbeitung eines Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs betraut. Materiell gesehen war der Entwurf im Wesentlichen vom österreichischen ABGB, dem Berner sowie dem Aargauer Personenrecht beeinflusst. Wäre der Entwurf realisiert worden, wäre er der Berner Gruppe zuzurechnen, wobei Müller-Friedberg dem Berner Gesetzbuch stärker als dem originären Muster folgte. Dabei spielte wohl weiterhin der Einfluss Schnells eine Rolle. Auch dieser neue Entwurf scheiterte im Kampf um die Säkularisierung des Eherechts. Ein dritter Anlauf zur Kodifikation wurde in der Regenerationszeit unternommen (ab 1831); hier überlegte man zunächst, eines der Gesetzbücher Berns, Aargaus oder Luzerns zu rezipieren; dann sollten die alten Entwürfe Müller-Friedbergs wieder hervorgeholt werden. Alle Unternehmungen verliefen im Sande, bzw. scheiterten im Endeffekt an den unterschiedlichen Auffassungen und Streitigkeiten über säkulares Eherecht82. IV. Schluss Nach dem Ende der napoleonischen Epoche war – jedenfalls in der deutschen Schweiz – für eine gewisse Zeit der Code civil nicht mehr so attraktiv als Kodifikationsmodell wie er dies unter dem Empire gewesen war. Man nahm daher, da für die Ausarbeitung eines eigenständigen Gesetzbuchs meist wissenschaftliche Vorarbeiten oder auch das Personal fehlten, das andere moderne Gesetzbuch der Zeit, das österreichische ABGB zum Vorbild, teils direkt, teils indirekt über das Berner Gesetzbuch. Es ist auch zu bemerken, dass für die jeweils späteren Zivilgesetzgebungsarbeiten die bereits geltenden Kantonsgesetzbücher zusätzlich zum originären Muster herangezogen wurden. Bis etwa zur Jahrhundertmitte konnte das ABGB als Muster sich durchaus behaupten. Mit dem Inkrafttreten des zürcherischen Privatrechtlichen Gesetzbuchs war aber – nach allgemeiner Meinung – eine andere Stufe erreicht. Die Kodifikation Bluntschlis wurde dann zum Hauptmodell, neben dem allenfalls teilweise andere Regelungen berücksichtigt wurden (Deschwanden für das Sachen- und Erbrecht für Nidwalden), bzw. dem eine eigenständige Bearbeitung entgegengesetzt wurde (P. C. Planta für Graubünden). Festzuhalten ist aber, dass das Modell ABGB nicht nur in der „Berner Gruppe“ wirksam wurde, sondern dass es in den meisten deutschschweizerischen Gesetzgebungsarbeiten immer wieder zum Vergleich herangezogen wurde, wenn man ihm auch materiell nicht mehr in allem folgte. 81 82
Schlauri, wie Fn. 76, 121. Schlauri, wie Fn. 76, 195 ff.
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Seine Problemlösungen sowie seine Form – nach Anlage und Stil – wurden in Schweizer Kantonen wie in deutschen Bundesstaaten als Anhaltspunkte für die Erarbeitung moderner bürgerlicher Kodifikationen geschätzt.
Der Einfluss des ABGB auf Deutschland Barbara Dölemeyer, Werner Schubert I. Das ABGB in der Zeit vor der Gründung des Deutschen Reiches (Barbara Dölemeyer) 1. Überblick Das ABGB hatte zwar nicht den überragenden Einfluss auf die europäische Gesetzgebungsgeschichte wie das französische Gesetzbuch, spielte aber in den deutschen Kodifikationsbemühungen des 19. Jahrhunderts eine nicht unerhebliche Rolle. Zur Zeit seines Inkrafttretens stand Europa weitgehend unter der Herrschaft Napoleons, der mit dem französischen Recht auch die Justiz- und Verwaltungsorganisation auf das von ihm abhängige Staatensystem zu übertragen suchte. Auch in vielen deutschen Gebieten galt damals der Code civil, einige waren mitten in der großen Rezeptionsdiskussion um Für und Wider einer mehr oder minder freiwilligen Einführung, manche wandten sich auch gerade wieder davon ab. Insgesamt war aber in dieser Epoche der Code civil das wichtigste und wirkmächtigste Zivilgesetzbuch Europas; das ABGB kam in der Diskussion, die vor allem in Fach- und Publikumszeitschriften geführt wurde, kaum zur Sprache. Die Veröffentlichungen, in denen sich die juristisch-politische Debatte abspielte, verglichen nur selten die beiden Gesetzbücher. In der kurzen Zeit zwischen Publikation des österreichischen Zivilgesetzbuchs und dem Wiener Kongress galten das öffentliche und auch das fachjuristische Interesse anderen Dingen. Das ABGB stand jedenfalls zunächst im Schatten des Code civil. Dennoch wurde das ABGB in den Erörterungen um eine Zivilrechtskodifikation, die in den deutschen Einzelstaaten wie auch im Rahmen des Deutschen Bundes und später des Deutschen Reichs während des ganzen 19. Jahrhunderts – mehr oder minder intensiv – geführt wurden, sei es für die technische Ausarbeitung, sei es von seiner Grundkonzeption her, immer wieder als Muster und Vorbild diskutiert. Für verschiedene Gesetzbuchentwürfe diente es als Grundlage. Wenngleich es hier – im Gegensatz zu einzelnen Schweizer Kantonsgesetzbüchern – nicht zu einer tatsächlichen Rezeption kam, hat doch das österreichische bürgerliche Gesetzbuch in vielfacher Weise als Vorbild und Gegenpol, als Ferment und Katalysator auf die Auseinandersetzung mit dem Kodifikationsgedanken gewirkt.
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2. Rezensionen des ABGB in deutschen Medien Immerhin brachte Nikolaus Thaddäus Gönner die wohl erste ausführlichere Besprechung 1812, die er im 4. Band seines „Archivs“1 erweiterte. Er nannte das ABGB „ein unzerstörbares Monument der Weisheit seines Schöpfers, ein ewiges Denkmal teutscher Kraft, wohlthätig für die Nation, deren Glück auf guten Gesetzen fest ruhet, wichtig für die Geschichte der Gesetzgebung“2. Er lobte Anlage, Inhalt, System und Sprache, wobei er sich zustimmend auf die von Zeiller formulierten Grundprinzipien einer guten Kodifikation bezog3 – Prinzipien, die auch in späteren deutschen Kodifikationsbemühungen immer wieder als vorbildlich zitiert wurden (siehe unten). Ein Auszug aus dieser Besprechung wurde auch in den österreichischen „Vaterländischen Blättern“ zur Kenntnis gebracht4, mit der Bemerkung: „Auf die freymüthigen und bescheidenen Rügen des Verfassers wird in einer andern inländischen Zeitschrift Bedacht genommen werden.“ Die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“5 brachten 1813 eine weitere Rezension, die das ABGB vor allem in Bezug auf die Systematik mit dem Code civil verglich. Die „Leipziger Literatur-Zeitung“ besprach Anfang 1813 zusammen mit dem Gesetzbuch auch den Zeillerschen Kommentar zum ABGB6. Das Interesse am ABGB verstärkte sich erst nach dem Sturz Napoleons. In den Beurteilungen, die in der Zeit der Befreiungskriege erschienen, wurden die rechtspolitischen Aspekte in den Vordergrund gestellt, das ABGB als national-deutsches dem fremden Gesetzbuch entgegengesetzt. Es helfe, „den wankenden Glauben an National-Kraft“ aufrecht zu erhalten7. Die „Heidelbergischen Jahrbücher der Litteratur“ befassten sich 1814 mit dem ABGB, das nun auch als Alternative zum Code civil gehandelt wurde: „… jetzt, wo die Freyheit wieder auf dem Gebiete der Wissenschaft wie auf dem der Politik sich emporhebt“, erschien das österreichische als das „neueste Deutsche Gesetzbuch, welches sich frey erhalten hatte von der Nachahmungssucht 1 N. T. Gönner, Über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erblande der Oesterreichischen Monarchie vom Jahre 1811, in: Archiv für die Gesetzgebung und Reforme des juristischen Studiums Band IV, 2. Heft Landshut 1812, Gesamtband mit Erscheinungsjahr 1814, 221 ff.; Einzeldruck, Landshut 1812. 2 Ebda. 3 Ebda, 229 unter Bezug auf F. v. Zeiller, Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den österr. Erbstaaten 1, 1806, 40 – 70 sowie Zeiller, Commentar (1811 – 1813). 4 Stimme des Auslandes über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, in: Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat 18. April 1812. 5 Göttingische gelehrte Anzeigen 17.–18. Stück, 30. 1. 1813, 161 – 183, insb. 165. 6 Rezension: Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie; Commentar über gedachtes Gesetzbuch von Franz Edlen von Zeiller, in: Leipziger Literatur-Zeitung 5. 1. 1813, Sp. 33 – 48; 6. 1. 1813, Sp. 49 – 54; 7. 1. 1813, Sp. 57 – 59. 7 Leipziger Literatur-Zeitung 5. 1. 1813, Sp. 33.
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angeblicher Französischer Weisheit“. Man spürte in ihm demgegenüber „Deutsche Gründlichkeit“ und „Deutsche[n] Geist“8, das Streben nach „Wahrheit und Gerechtigkeit“, es nehme mehr Rücksicht auf „Sittlichkeit“ als der Code. Zustimmend hebt der Rezensent hervor, dass das österreichische Gesetzbuch die Freiheit des Privatrechtsverkehrs möglichst wahre und nicht – wie der Code civil – für „alle Privatrechtsverhältnisse der Bürger unter scheinbar wohlthätigen Vorwänden ein Einmischen der Staatsregierungen“ ermögliche9. Gerade in der Übergangszeit 1814/1815 stellen diese Betrachtungen häufig das ABGB dem Code unter nationalen Gesichtspunkten gegenüber, sie beschränken sich aber nicht auf Polemik gegen das Gesetzbuch des Eroberers, sondern sie gehen auch genauer auf juristische, gesetzestechnische Details ein und würdigen das ABGB vom legislatorischen Standpunkt. In etlichen der Stellungnahmen um 1814 und noch später im Vormärz wird auch betont, das ABGB sei nicht seinen Vorzügen entsprechend gewürdigt worden, da es im Schatten des französischen Gesetzbuchs gestanden habe. So sagt etwa der badische Ministerialrat Anton Christ 1842: „Vom österreichischen bürgerlichen Gesetzbuche z. B. ist nirgends eine Rede und wie hoch ragt dieß über die französische Gesetzgebung hervor … Welche Einheit im Ganzen, welche Sorgfalt im Einzelnen, welche Verarbeitung der Institute“10. 3. Die Geltung des ABGB in Deutschland a) Bayern Im Gegensatz zum französischen Zivilrecht, das im Rheinland und – modifiziert – in Baden galt, gelangte das österreichische Gesetzbuch als solches kaum zu direkter Geltung in deutschen Staaten. Allerdings standen wesentliche Teile der josephinischen Reformgesetzgebung und damit auch Vorstufen des ABGB fast ein Jahrhundert lang als bayerische Partikularrechte in Kraft. Durch den Pressburger Frieden 1805 erhielt Bayern nämlich kleinere zu Vorderösterreich gehörige Territorien (Markgrafschaft Burgau), in welchen das dort geltende Recht – wie das Teil-ABGB (Josephinische Gesetzbuch) 1786 und das Erbfolgepatent 1786 – in Kraft blieb11. In einigen kleinen Gebieten, die Bayern in der napoleonischen Zeit von Österreich gewann, blieb das österreichische Zivilrecht bis zur nationalen Vereinheitlichung durch das BGB für das Deutsche Reich in Kraft, da Bayern trotz zahlreicher Versuche (siehe 8
Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 1814, Nr. 7, 97 – 139, hier 97. Ebda, 103. 10 A. Christ, Über deutsche Nationalgesetzgebung. Beitrag zur Erzielung gemeinsamer, für ganz Deutschland gültiger Gesetzbücher und zur Abschaffung des römischen und des französischen Rechts insbesondere, 2. Aufl. Karlsruhe 1842, 117 ff.; siehe auch Verhandlungen des bayerischen Landtags 1842/43, Prot. Bd. 4, 8. 11 H. Hofmeister, Kreittmayr und die österreichische Rechtsentwicklung im Naturrechtszeitalter, in: Freiherr von Kreittmayr. Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschrift zum 200. Todestag, München 1991, 212 – 236, bes. 213 f., 232 f.; P. Roth, Bayerisches Civilrecht, I, Tübingen 1871, 44 f. 9
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unten) nicht zu einer territorialen Rechtseinheit gelangte. Im Amt Markt-Redwitz in Oberfranken, das durch den Frankfurter Territorialrezess bzw. den Münchner Vertrag vom 14. April 1816 von Österreich an das Königreich Bayern abgetreten worden war, und im sog. Fraischbezirk in der Oberpfalz (an der böhmischen Grenze), der 1846 unter alleinige bayerische Hoheit kam, wurde die österreichische Gesetzgebung nicht aufgehoben, so dass das ABGB mit den jeweils bis zur Vereinigung mit Bayern erfolgten Änderungen hier weiter galt12. b) Deutschordenskommende Frankfurt am Main Aufgrund des Personalitätsprinzips galt das ABGB für „alle in wirklichen Diensten des Deutschen Ordens stehenden und zugleich in dem Ordensgebäude zu Frankfurt wohnenden Personen und ihre Angehörigen, insofern letztere nach österreichischen Gesetzen dem Gerichtsstande des Familienhauptes folgen“13. Als die Deutschordenskommende Sachsenhausen am 15. März 1881 an die katholische Kirchengemeinde Frankfurt verkauft wurde, endete damit auch die Geltung des ABGB für den betroffenen Personenkreis14. 4. Das ABGB in den deutschen einzelstaatlichen Kodifikationsdiskussionen des 19. Jahrhunderts Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und bis zur Entstehung des BGB für das Deutsche Reich unternahmen Fürsten, Regierungen und ihre Repräsentanten immer wieder den Versuch der Schaffung einheitlicher Gesetzbücher: „Ein eigenes kurzes und deutliches Gesez-Buch, wonach Obrigkeiten und Richter ohne Ungewißheit und Verirrung verfahren und sprechen und woraus alle Unterthanen sich von ihren Rechten und Schuldigkeiten zuverlässig unterrichten können, ist unstreitig für jedes Land eines der ersten und größten Beförderungs-Mittel seiner Glückseligkeit und sowohl allem Gebrauch fremder Rechte als der Anhäufung und Zusammentragung einzelner Geseze, Verordnungen und Erläuterungen unendlich vorzuziehen“, so hieß es 1763 schon in Sachsen15. Ein „sicherer und möglichst vereinfachter Rechts12 W. Wagner, Geltungsbereiche ausländischer Kodifikationen im Deutschen Reich vor Inkrafttreten des BGB, in: Ius Commune 14 (1987), 219 ff.; Roth, wie Fn. 11, 16; L. Wenger, Die Jahrhundertfeier des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Zs. für Rechtspflege in Bayern 7. Jg. (1911), Nr. 13, 273; R. v. Mayr, Das bürgerliche Gesetzbuch als Rechtsquelle. Einst und jetzt, in: FS zur Jahrhundertfeier des ABGB. 1. Juni 1911, Wien 1911, I, 379 ff., hier 383 f. 13 Justizhofdekret vom 26. 11. 1838 und vom 25. 10. 1842, Nr. 651 JGS; zitiert nach von Mayr wie Fn. 12, 383. 14 Vering, Deutsche Orden, in: Österr. Staatswörterbuch II/2, 758; vgl. Mayr, wie Fn. 12, 384 f. 15 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Locat 6525 (I-II) Acta die Verfertigung eines neuen Civilgesetzbuches betr., d. a. 1763 ff., fol 1 – 2 [Extract Vortrags der in Landesangelegenheiten verordneten Commission d. d. den 11. April 1763]. Vgl. B. Dölemeyer, Kodifika-
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zustand“16 war das Ziel, das man auch während des 19. Jahrhunderts immer weiter verfolgte. In diesen Kodifikationsbestrebungen versuchten die Regierungen in den deutschen Territorien nicht nur das eigene Rechtsmaterial zusammenzufassen, zu bereinigen und daraus einen Kodex zu machen. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert waren es vor allem die parallel laufenden Gesetzgebungsarbeiten in Preußen, Österreich und auch in Frankreich, an denen man sich orientierte. Auch als die Rechtswissenschaft in Deutschland nach dem Ausgang des „Kodifikationsstreits“ zwischen Thibaut und Savigny und unter dem Einfluss der Historischen Schule von großer „Kodifikationsskepsis“ befallen war und die Möglichkeit eines nationalen deutschen Zivilgesetzbuchs in weite Ferne gerückt schien, gingen in den einzelnen Staaten des Deutschen Bundes die Kodifikationsbemühungen nahezu unvermindert weiter bzw. wurden neu aufgenommen17. Nach der Zäsur des Reichszusammenbruchs und der napoleonischen Epoche nahm man die Kodifikationsidee – nun unter neuen Vorzeichen und mit ganz anderen politischen Inhalten gefüllt – wieder auf. Es kamen wesentliche Faktoren hinzu: Vor allem die Abgeordneten der neu entstehenden Parlamente in der Zeit eines erwachenden Frühkonstitutionalimus waren es, die Initiativen ergriffen und die Schaffung von Gesetzbüchern forderten, welche sie auch als Garanten bürgerlicher Freiheitsrechte und Marksteine auf dem Wege zur Rechtsstaatlichkeit ansahen. Andererseits wurde die Schaffung von Gesetzbüchern seitens der Regierungen auch als Mittel zur Erzielung von Rechtseinheit und damit staatlicher Einheit innerhalb des jeweiligen Bundesstaats angesehen. Dies gilt besonders für diejenigen, wie Bayern und Hessen-Darmstadt, denen die territoriale Neuordnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Gebiete mit unterschiedlichen Rechtsordnungen gebracht hatte. Diese sahen Rechtsvereinheitlichung auch als Klammer für den neu zu strukturierenden Staat. Nach 1814 war die Diskussion nicht mehr in erster Linie von der Auseinandersetzung mit dem französischen Recht bestimmt, sondern auch das ABGB wurde von deutschen Bundesstaaten für eigene Kodifikationsanstrengungen verstärkt zum Vorbild genommen und in seinen Prinzipien wie in seinem Inhalt diskutiert. Hier sollen nun einerseits die konkreten einzelstaatlichen Projekte und andererseits die partikularen und nationalen Kodifikationsdiskussionen, in denen das österreichische Gesetzbuch eine Rolle spielte, dargestellt werden.
tionspläne in deutschen Territorien des 18. Jahrhunderts, in: Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, in: B. Dölemeyer/D. Klippel (Hrsg.), Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 22, 1998, 201 – 223. 16 Einleitung zu den Motiven des 1. Entwurfs der 1. Abteilung eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Großherzogthum Hessen, Darmstadt 1842, 5. 17 C. Schöler, Deutsche Rechtseinheit. Partikulare und nationale Gesetzgebung (1780 – 1866), Köln u. a. 2004.
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a) Bayern aa) Feuerbachs Entwurf 1808/09 Im Königreich Bayern wurden zwischen 1808 und 1864 nicht weniger als sieben Anläufe zu einer Zivilrechtsvereinheitlichung unternommen, von denen immerhin fünf zu konkreten Entwürfen führten18. Der erste derartige Versuch war die – unter dem Eindruck der Pläne Napoleons unternommene – Bearbeitung des Code Napolon durch Paul Johann Anselm von Feuerbach19, die politisch die Einführung desselben in Bayern bedeutet hätte. In der Sitzung der Geheimen Staatskonferenz, die den Entwurf von 1808 beriet, wurde aber am 25. August 1808 auf Antrag Feuerbachs selbst beschlossen, das französische gesetzliche Erbrecht durch das österreichische Parentelensystem des Erbfolgepatents (Josephinische Erbfolgeordnung) 1786 zu ersetzen20, eine Regelung, die – wie erwähnt – damals in einem kleinen Gebiet Bayerns in Kraft war. Die Einführung des Code Napolon in der von Feuerbach überarbeiteten Fassung scheiterte, da die Widerstände gegen das fremde, als „revolutionär“ und „republikanisch“ angesehene, mit der bayerischen traditionalen Gesellschaftsordnung nicht vereinbare Gesetzbuch zu stark waren.
bb) Entwurf eines revidirten Codex Maximilianeus 1811 – 1814 Die Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen Zivilgesetzbuchs für Bayern, das auch wegen der schier unübersehbaren Vielfalt der Partikularrechte als vordringlich erschien21, gingen sogleich weiter. 1811 wurde die „provisorische Einführung des Codicis Maximilianei Bavarici civilis in allen Gebietstheilen des Königreichs“ beschlossen22, – allerdings nach vorheriger Revision, womit Johann Adam 18 B. Dölemeyer, Die bayerischen Kodifikationsbestrebungen, in: Ius Commune V, Frankfurt am Main 1975, 138 – 177; W. Demel/W. Schubert, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Bayern von 1811. Revidirter Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, Ebelsbach 1986. 19 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für das Königreich Baiern. Entwurf von 1808 – 1809, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von W. Schubert, Nachdruck Frankfurt am Main 1986. 20 Edikt Josephs II. über die gesetzliche Erbfolgeordnung vom 11. 5. 1786, in: Vollständige Sammlung aller seit dem glorreichen Regierungsantritt Joseph des Zweyten für die k.k. Erbländer ergangenen höchsten Verordnungen und Gesetze …, Band 6, Wien 1788, 179 – 188; vgl. Allgemeines Bürgerliches Gesezbuch, wie Fn. 19, 230 ff., Art. 726 ff.; W. Schubert, Der Entwurf von 1811 und die Tradition des bayerischen Landrechts, in: Demel/Schubert, wie Fn. 18, LXXXIV. 21 Roth, wie Fn. 11, Vorrede, III: „Bayern hat unter allen deutschen Staaten die zahlreichsten Partikularrechte …“ 22 Vortrag zum Königlichen Geheimen Rat, 14. 1. 1811, Beilage zum Protokoll der Sitzung des Geheimen Rats vom 17. 1. 1811, BHStA München, Staatsrat 207; vgl. auch B. Dölemeyer, „Nie alterndes Modell“ oder „antiquarische Rumpelkammer“? – Die Wertung der Zivilgesetzbücher Kreittmayrs in den bayerischen Kodifikationsdiskussionen des 19. Jahrhunderts, in: Hofmeister, wie Fn. 11, 329 – 352, hier 332 ff.
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von Aretin, Paul Johann Anselm von Feuerbach und Nikolaus Thaddäus Gönner beauftragt wurden. In den diesbezüglichen Beratungen schlug Montgelas vor, das österreichische persönliche Eherecht in der Fassung des für Salzburg und Berchtesgaden ergangenen Ehegesetzes vom 13. April 1808 zu übernehmen23, mit dem die §§ 44 ff. des ABGB nahezu übereinstimmen. Damit vollzog der Entwurf des revidierten Codex Maximilianeus die Emanzipation vom kanonischen Eherecht nach. Die Regelung der Ehehindernisse, der Eheverbote, der Ehescheidung etc. gemäß österreichischem Vorbild traf in der Revisionskommission nicht auf prinzipiellen Widerstand. Was die gesetzliche Erbfolge betrifft, nahm der Entwurf von 1811 die Regelung des Entwurfs von 1808/09 auf und folgt damit ebenfalls dem österreichischen Vorbild, dem Erbfolgepatent von 1786. In der Begründung des Entwurfs werden die Vor- und Nachteile der österreichischen Regelung erörtert, wobei darauf hingewiesen wird, dass „Hr. v. Zeiler, einer von Österreichs jezigen Bearbeitern der Gesezbücher versichert, daß seit der Entstehung jenes Gesezes kein Streit über die Erbfolge entstanden sey“24. Und weiter machen die Redaktoren geltend: „Schon früher erhielt die österreichische Sukzeßionsordnung den Beifall Sr. Maj. des Königs, sie hat die 25jährige Erfahrung in einem großen Staate wie Österreich, … eine Zahl von 600.000 Baierischer Unterthanen erkennt sie schon als Gesez, wir haben sie demnach unverändert und mit den Worten des Gesezes, wie wir sie in dem uns so eben zugekommenen neuen österreichischen Civilgesezbuche v. J. 1811 fanden, in Vorschlag gebracht.“25 Zwei kleinere Modifikationen wurden allerdings angeregt, sie bezogen sich auf die Besserstellung des überlebenden Ehegatten bzw. des anerkannten nichtehelichen Kindes – es waren dies beides im übrigen Punkte, die ein Jahrhundert später in der Teilnovellierung des ABGB diskutiert und schließlich durchgeführt wurden. Auch dieser Entwurf scheiterte, und zwar vorwiegend an den Interessengegensätzen zwischen grundbesitzendem Adel und Vertretern neu aufkommender bürgerlichliberaler Ideen. Doch damit war die Begegnung mit dem österreichischen Recht noch nicht beendet. cc) Entwurf Leonrod 1832 – 1834 Karl Ludwig von Leonrod wurde 1832 mit dem Entwurf für ein Zivilgesetzbuch beauftragt, nachdem auf Drängen der Ständeversammlung die Beschleunigung der Gesetzgebungsarbeiten und damit die Erfüllung des Verfassungsversprechens von 1818 – „Es soll für das ganze Königreich ein- und dasselbe bürgerliche und Strafgesetzbuch bestehen“ – wieder in Angriff genommen worden war26. 23 Ehegesetz vom 13. 4. 1808, in: Kropatschek, Sammlung der Gesetze … Franz II., Bd. 24, Wien 1808, 386 – 408; Protokoll der Sitzung vom 17. 1. 1811 (Fn. 22); vgl. Dölemeyer, wie Fn. 18, 148 ff.; Schubert, wie Fn. 20, LXXIV f. 24 Motive zum Kap. X. Von der gesetzlichen Erbfolge, Schubert, wie Fn. 20, 416 ff. 25 Ebda, 418. 26 § 7 des VIII. Titels der Konstitution vom 26. 5. 1818, Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, 101 – 140.
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Leonrod reichte 1834 einen Entwurf samt Motiven ein27, der jedoch nicht in die Beratungen der Ständeversammlung gelangte und demnach auch nicht zu praktischen Konsequenzen führte. Des Redaktors „Rechtfertigung der Wahl des Österreichischen Rechts zur Grundlage des Entwurfs“ soll dennoch etwas näher betrachtet werden, da sie für die rechtspolitische wie allgemein politische Situation der Zeit nach der Julirevolution von 1830 charakteristisch ist. In der Argumentation für das ABGB lassen sich zwei Ebenen erkennen – zum einen die äußere, politische: Das ABGB als Gesetzbuch der Habsburgermonarchie, die damals wie kaum ein anderer Deutscher Bundesstaat die Restauration verkörperte, wurde dem immer noch als „revolutionär“ angesehenen und negativ so bezeichneten Code civil gegenübergestellt. Leonrod führte aus, die Verfasser des Code hätten, anders als die des ABGB, keine Rücksicht auf bestehende Verhältnisse zu nehmen gehabt; dieses Herausstellen des Gegensatzes zwischen „revolutionärem Recht“ und „traditionaler Gesellschaft“28 ist auch aus anderen Diskussionen – sowohl in der Debatte der Rheinbundzeit um die Rezeption des Code civil wie in den Kodifikationsbemühungen der anderen deutschen Einzelstaaten – bekannt29. Dazu kam das „nationale“ Argument, „daß es in Deutschland wenig Beifall finden dürfte, wenn man die Grundlage zu einem neuen deutschen Gesetzbuch – ohne Noth – im Auslande suchen wolte“30. Der Code civil bildete außerdem einen wesentlichen Teil der von den Rheinpfälzern so heftig verteidigten „Rheinbayerischen Institutionen“ und erschien schon aus diesem Grunde den Regierenden als Vorbild für ein gesamtbayerisches Zivilgesetzbuch suspekt. Die zweite Ebene war die innere, gesetzgebungstechnische: Als wichtig wurde vermerkt, dass das ABGB viele der Bereiche, an denen sich Konflikte entzünden konnten (Lehenrecht, Fideikommisse etc.), der „politischen Gesetzgebung“ – also dem öffentlichen Recht – überlässt. Das Argument der gesellschaftspolitischen Abstinenz des österreichischen Gesetzbuchs ist ebenfalls eines, das häufig verwendet wurde, wenn man die Möglichkeit der Anpassung auf ein anderes Land, mit anderen gesellschaftlichen oder Verfassungsverhältnissen betonen wollte31. Außerdem wies Leonrod auf die technischen und sprachlichen Vorteile des Gesetzbuchs hin und un-
27 Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Bayern, eingereicht am 15. 10. 1834 (ungedruckt), BHStA München, Staatsrat 4038. Siehe dazu E. Frohnecke, Die Rolle des ABGB in Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Münster 2001, 81 ff. 28 E. Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napolon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974. 29 Zum „neuständischen“ Charakter des ABGB vgl. W. Brauneder, Das österreichische ABGB: Eine neuständische Kodifikation, in: G. Klingenberg/J. M. Rainer/H. Stiegler (Hrsg.), Vestigia Iuris Romani – Festschrift für Gunter Wesener zum 60. Geburtstag, Graz 1992, 67 – 80. 30 Motive zu dem Entwurfe eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (ungedruckt), 1834, BHStA München, Staatsrat 4038, fol. 2 ff. 31 Ähnlich in den sächsischen Kodifikationsarbeiten, siehe unten.
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terstrich, das ABGB sei „frei von Kasuistik, Spitzfindigkeit, Vormundschaft und Fiskalität“, zudem habe es sich in der Praxis bewährt. Die Einteilung des Leonrodschen Entwurfs folgte ziemlich genau der des österreichischen Vorbilds, doch machte der Bearbeiter aus dem 2. Teil zwei Teile, nämlich „dingliches Sachenrecht“ (Sachenrecht und Erbrecht) und „persönliches Sachenrecht“ (Obligationenrecht). Der Abschnitt über den Zivilstand („Von Beurkundung des bürgerlichen Standes“) nach französischem Muster wurde in das Personenrecht als Teil 2 neu eingefügt32, mit der Begründung, das Zivilstandssystem sei „in deutschen Gesetzbüchern noch wenig kultiviert“, ein modernes Gesetzbuch könne aber „diese Materie nicht mit Stillschweigen übergehen“.33 Im Sachenrecht wurde der ständisch-feudalen Ordnung Rechnung getragen und es wurden Bestimmungen über Zehent und Frohnden eingefügt34 ; für Lehen und Fideikommisse allerdings verwies Leonrod – dem österreichischen Muster des Verweises auf die „politischen Gesetze“ folgend – auf besondere Gesetze35 bzw. auf die bayerische Verfassungsurkunde von 1818.36 Im Eigentumsrecht und im Erbrecht wurden gewisse Modifikationen vorgenommen. Aber im Großen und Ganzen kann man sagen, dass sich hinsichtlich des Umfangs der Änderungen Leonrods Entwurf zum ABGB etwa so verhielt wie Feuerbachs Entwurf von 1808 zum Code civil. dd) Landtagsverhandlungen In späteren Landtagsverhandlungen, in denen die Abgeordneten der 2. Kammer immer wieder auf die Einlösung des Kodifikationsversprechens pochten, wurde auch gelegentlich das ABGB als Vorbild für ein neu zu schaffendes bayerisches Zivilgesetzbuch vorgeschlagen, so etwa durch den Abgeordneten Hagen im Jahr 184337. b) Hessen-Darmstadt Wie Bayern hatte auch Hessen-Darmstadt seit dem Ende des Alten Reichs umfangreiche Gebietsveränderungen erlebt. Wie Bayern war es in der Rheinbundzeit mit dem Code Napolon konfrontiert gewesen, über dessen Rezeption verhandelt worden war; wie in Bayern ging es nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts darum, Rechtseinheit für einen aus unterschiedlichsten Gebietsteilen mit verschiedenen Partikularrechten zusammengesetzten Staat, der zudem eine französisch-rechtliche Pro-
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Entwurf, wie Fn. 27, fol. 61 ff. Motive, wie Fn. 30, fol. 29 f. 34 Entwurf, wie Fn. 27, fol. 199 ff. (Theil II, Titel 6, 7). 35 Entwurf, wie Fn. 27, fol. 152; Motive (Fn. 30), fol. 173 f. 36 Motive, wie Fn. 30, fol. 247 f.; Verfassungsurkunde vom 26. 5. 1818, Beilage VII. Edikt über die Familienfideikommisse (GBl. 1818, 227). 37 Verhandlungen der bayerischen Kammer der Abgeordneten 1842/43, Prot. Bd. 4, 8. 33
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vinz (Rheinhessen) erhalten hatte, zu schaffen38. Sogleich nach dem Wiener Kongress wurde 1816 ein Versuch der Rechtsvereinheitlichung unternommen und es war das ABGB, das als Vorbild ins Auge gefasst wurde. Eine Verordnung vom 4. November 1816 befahl „ein neues Civilgesetzbuch für das gesammte Großherzogthum“ zu entwerfen, um „durch Gleichförmigkeit der Gesetzgebung das Band zwischen Unseren alten und neuen Unterthanen auf beiden Seiten des Rheins fester zu knüpfen“. Dabei sollte das „bürgerliche Gesetzbuch für die Erbländer der Österreichischen Monarchie zur wesentlichen und allgemeinen Grundlage angenommen werden“39. Grundlegend für die Entscheidung zugunsten des ABGB waren ein Gutachten des rheinhessischen Juristen Johann Wilhelm Wernher und ein Votum Heinrich Karl Jaups, ebenfalls Jurist und später führender Vertreter der liberalen Opposition im hessischen Vormärz40. Wernher, in der französischen Zeit Spezialrichter, dann Präfekturrat in den linksrheinischen Departements, war damals – 1816 – Kreisgerichtspräsident in Mainz. Er war der Vertreter der Provinz Rheinhessen in der Gesetzgebungskommission, welche durch diese Verordnung vom 4. November 1816 eingesetzt wurde. Wernher vertrat in seiner Denkschrift vom 28. September 1816 die Ansicht, auch ein nicht vollkommenes Gesetzbuch sei besser als ein zersplitterter Rechtszustand. Da Österreich und Preußen eigene Gesetzbücher publiziert hätten, bestünde keine Hoffnung auf ein nationales deutsches Gesetzbuch. Daher solle Hessen-Darmstadt wenigstens territoriale Rechtseinheit schaffen. Als Kenner des französischen Rechts konnte er auch die Vorund Nachteile des französischen und des österreichischen Gesetzbuchs einander gegenüberstellen; das preußische zog er wegen dessen Umständlichkeit und Weitläufigkeit kaum mehr in Betracht. Das Gutachten macht vor allem die politischen Beweggründe deutlich, die zu diesem Zeitpunkt für das ABGB und gegen den Code civil angeführt wurden. Zwar sprächen für das französische Gesetzbuch seine Präzision, sein rein privatrechtlicher Charakter und seine Geltung in dem neu erworbenen Rheinhessen, gegen ihn aber sein Zusammenhang mit der französischen Staatsverfassung und vor allem der „Makel seines Ursprungs“41. Für das ABGB spricht sich Wernher vor allem deshalb aus, weil es kurz und präzis sei; es könne mit einigen Modifikationen auf das Großherzogtum angepasst werden – das gelte selbst für Rheinhessen, da es materiell in vielen Punkten mit dem Code civil übereinstimme. Beruhte dieses Argument der Verwandtschaft des ABGB mit dem Code civil nun auf einer Erkenntnis der naturrechtlichen Grundlagen, oder wollte man dem Zwie38 B. Dölemeyer, Kodifikationen und Projekte. Hessen-Darmstadt, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/ 2, München 1982, 1518 ff. 39 Großherzoglich Hessische Zeitung Nr. 137 vom 14. 11. 1816; Verordnung abgedruckt in: M. W. A. Breidenbach, Commentar über das Großherzoglich hessische Strafgesetzbuch…, I-II, Darmstadt 1842 – 1844, I, Einleitung, 18. 40 S. Büttner, Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du-Thilsche System, Darmstadt 1969, 207 f. 41 Denkschrift vom 28. 9. 1816, abgedruckt bei E. Seitz, Die Rheinhessischen Rechtsinstitutionen in ihrem Verhältniß zur allgemeinen Codification des Großherzogthums Hessen und die vermeintlichen landesherrlichen Garantien der Ersteren, Regensburg 1847, 170 – 173.
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spalt Rechnung tragen, dass einerseits die gesetzestechnische Qualität des Code civil auch damals akzeptiert war, man aber über den „Makel des Ursprungs“ aus der Revolution nicht hinwegkommen konnte? Wie dem auch sei, es kam nicht zur Ausarbeitung eines Entwurfs, die Kommission befasste sich in erster Linie mit der Justizorganisation und erbrachte keine Ergebnisse für die Zivilrechtsvereinheitlichung; sie wurde später stillschweigend aufgelöst und so blieb die Vorbildfunktion des ABGB uneingelöst. Der „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Großherzogthum Hessen“, 1842, lehnte sich im Wesentlichen an das französische Recht an, verarbeitete aber auch die hessischen Partikularrechte. Einzelne Bestimmungen waren auch dem ABGB entnommen, dies allerdings nur in dem Umfang, in dem man zu dieser Zeit generell bei Kodifikationsarbeiten die Gesetzbücher anderer deutscher und auch ausländischer Staaten berücksichtigte42. c) Württemberg Nicht direkt als Muster, aber als allgemeines Vorbild für die Gesetzgebungstechnik bei Erarbeitung eines Kodex wurde das ABGB in den württembergischen Landtagsverhandlungen 1833 erwähnt43. Im Zusammenhang mit der Beratung des Etats für das Justizministerium wurde zum wiederholten Male der Forderung nach einer Justizreform, insbesondere der Einführung der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens und weiter der Forderung nach einer Zivilrechtskodifikation in deutscher Sprache Ausdruck gegeben. Der liberale Abgeordnete Christian Albert Schott verwies auf seinen entsprechenden Antrag auf dem Landtag von 1820/21. In derselben Diskussion machte der Abgeordnete Raidt geltend, man könne das System eines der in Europa bereits existierenden Gesetzbücher zu Grunde legen und die „brauchbaren“ württembergischen Gesetze aufnehmen. Insbesondere befand er die „Erprobungsphase“ des Teil-ABGB44 als zweckmäßig und nachahmenswert. d) Kurhessen Der kurhessische Jurist und Staatsmann Burchard Wilhelm Pfeiffer, der in der napoleonischen Zeit die offizielle Übersetzung des Code civil für das Königreich Westphalen45 verantwortet hatte und der sich auch mit der Idee des nationalen Zivilgesetzbuchs ausführlich befasste, erhielt 1831 die Chance einer Realisierung seiner Kodi42
Dölemeyer, wie Fn. 38, 1525 ff. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg 1833, 7. Bd., 41. Sitzung, 17 ff., insb. 19. 44 Dazu vgl. W. Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, 214 ff. 45 B. Dölemeyer, Cest toujours le franÅais qui fait la loi. Die Übersetzungen und Ausgaben des Code civil, in: B. Dölemeyer/H. Mohnhaupt/A. Somma (Hrsg.), Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs (Rechtsprechung 21), Frankfurt/Main 2006, 1 – 35, hier 4 f. 43
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fikations-Vorstellungen – allerdings nur auf territorialer Ebene. Er wurde, gemeinsam mit dem späteren Minister Wiederhold, zum Mitglied einer Kommission bestellt, die den Auftrag hatte, in Ausführung der Zusicherung der Staatsregierung von 183146 den Entwurf eines Zivilgesetzbuchs für Kurhessen auszuarbeiten (Commissorium 18. 4. 1831). In dieser Funktion nahm Pfeiffer seine – in den „Ideen zu einer neuen CivilGesetzgebung“ 1813 formulierten47 – Vorschläge wieder auf und regte an, das ABGB als Muster für die kurhessische Kodifikation zu wählen.48 Aus einem Bericht, den Pfeiffer bei Auflösung der Ständeversammlung von 1833 erstattete, zu einem Zeitpunkt, als die Kommissionsarbeiten weitgehend eingeschlafen waren, geht hervor, dass die Kommission sich seinen – Pfeiffers – „Ideen“ auch bezüglich der Berücksichtigung des ABGB angeschlossen hätte49. Er berichtet hier, die Kommission habe darüber beraten, „… welche der wesentlich verschiedenen Methoden, die bei den schon vorhandenen teutschen Gesetzbüchern beobachtet worden, und wovon man als die beiden Extreme, insonderheit auch rücksichtlich ihres Umfanges, das Preussische und Oesterreichische wohl bezeichnen kann, bei dem neu abzufassenden bürgerlichen Gesetzbuche zum Grunde zu legen sey; und wenngleich hiernächst ein vollständiges Einverständnis der sämmtlichen Mitglieder der Commission darüber statt fand, daß vorzugsweise die Methode des Oesterreichischen Gesetzbuches, als welches sich mit gänzlicher Ausscheidung eines bloß der Wissenschaft angehörigen Details auf die allgemeinsten und einfachsten Rechtssätze beschränkt, zu befolgen seyn werde, so unterblieb doch jeder weitere Schritt zur Realisierung dieser Ansicht, nachdem 2 Mitglieder der Commission, der damalige Obergerichtsdirector, nachherige Minister Wiederhold, und der mitunterzeichnete Oberappellationsrath Pfeiffer, in die Ständeversammlung getreten waren, und daselbst mit so vielen und dringenden Arbeiten überhäuft wurden, daß ihnen auch nicht die geringste Zeit zu noch anderer Beschäftigung übrig blieb.“ Ein weiterer Grund für das Ruhen der Arbeiten sei der, dass man ein so bedeutendes und wichtiges Werk nicht unternehmen wolle, ohne dass zuvor die Landstände, denen (zufolge des letzten Landtagsabschieds) ein solcher Entwurf vorzulegen sei, einen Beschluss über die Methode der Bearbeitung gefasst hätten. Man wollte dadurch bereits die Basis der Kodifikation „durch die Aufnahme in den Land-
46 Landtagsabschied 1831, § 7 und § 18, in: Sammlung von Gesetzen, Verordnungen … für Kurhessen VI 1831, 97, 100. 47 B. W. Pfeiffer, Ideen zu einer neuen Civil-Gesetzgebung für teutsche Staaten, Göttingen 1815, geschrieben bereits 1813; vgl. J. Nolte, Burchard Wilhelm Pfeiffer – Gedanken zur Reform des Zivilrechts. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Zivilgesetzgebung, Göttingen u. a. 1969, insb. 51 ff. 48 Pfeiffer, wie Fn. 47, 116 ff.; ders., Artikel „Hessen-Cassel, Kurfürstenthum“, in: J. Weiske (Hrsg.), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten 5, 1844, 261 f.; Der Rechtsfreund, Kassel 1832, Nr. 77 – 80; vgl. Nolte, wie Fn. 47, 169 ff. 49 Die zur Abfassung eines bürgerlichen Gesetzbuches niedergesetzte Commission berichtet über ihre bisherige Thätigkeit, 2. 7. 1833; HStA Marburg, Bestand 250, Nr. 374; vgl. ebda Bestand 73, Nr. 974 (aktuelle Signatur nach Neuverzeichnung; frdl. Mitteilung HStA Marburg); zitiert bei Nolte, wie Fn. 47, 169.
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tagsabschied zu einer bleibenden Norm“ erheben.50 Die Kommission für das bürgerliche Gesetzbuch ging dann in einer allgemeinen Gesetzgebungskommission auf, die aber keine konkreten Arbeiten dazu vorlegte, so dass das Vorhaben der Schaffung eines kurhessischen Zivilgesetzbuchs – trotz wiederholter Anmahnungen seitens der Abgeordneten51 – nicht zur Realisierung gelangte. e) Sachsen Wesentlich größere Bedeutung hatte das österreichische Vorbild für das sächsische BGB, die einzige Privatrechtskodifikation eines deutschen Bundesstaates, die in Geltung trat. Schon bei den ersten Bemühungen um die Schaffung eines bürgerlichen Gesetzbuchs, die Anfang des 19. Jahrhunderts die Kodifikationsanstrengungen des 18. Jahrhunderts wieder aufnahmen, wurde das ABGB (im Vergleich mit dem preußischen ALR) in Betracht gezogen52. Der Appellationsrat Gottfried Ernst Schumann, der 1819 mit der Kodifikationsarbeit beauftragt wurde, kam allerdings in einer programmatischen Denkschrift – nach Abwägung der Vor- und Nachteile der Kodifikationen und vor allem der daneben existierenden Gesetzgebung dieser Staaten – zu einer eher kodifikationsskeptischen Auffassung, die in gewisser Weise auf Argumente Savignys zurückgriff53. Dennoch erhielt er einen definitiven Auftrag zum Entwurf des Gesetzbuchs; eine Kommission wurde ihm zur Unterstützung beigeordnet. Man einigte sich – was die inhaltliche Seite betrifft – das ABGB als Vorbild heranzuziehen. Das berichtete der spätere Justizminister Julius Traugott von Koenneritz, der 1824 zu der Kommission stieß und bei den weiteren Arbeiten eine wichtige Rolle spielte, in den Landtagsberatungen von 1833/34 über den Hergang der Gesetzgebung54. Wenngleich die Arbeiten in den zwanziger Jahren stagnierten und Schumann keinen Entwurf vorlegte, so blieben die Forderungen nach einem Gesetzbuch auf der Tagesordnung, besonders als nach Inkrafttreten der Verfassung von 1830 die ständischen Abgeordneten die Rolle des Mahners übernahmen, wie dies ja auch aus den Kodifikationsbemühungen anderer deutscher Bundesstaaten bekannt ist. Bereits in den Landtagsverhandlungen von 1833/34 nahm Koenneritz sozusagen den Faden wieder auf und führte Folgendes aus: „Was das Civilgesetzbuch anlange, so sey vor mehreren Jahren der Entwurf desselben angeordnet worden, und man schon damals der Ansicht gewesen, das, was der Wechselwirkung unterworfen, und politisch wäre, auszuscheiden, es sey auch das Österreichische Gesetzbuch als eins der besten
50
Bericht vom 2. 7. 1833 (Fn. 49). Vgl. Pfeiffer, in: Weiske, wie Fn. 48, 262. 52 Zur sächsischen Kodifikation vgl. C. Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65 (Ius Commune Sonderheft 85), Frankfurt am Main 1996, hier 67 ff. 53 Ahcin, wie Fn. 52, 71 ff. 54 2. Kammer, Landtagsakten 1833/34, III. Abt., 1. Bd., 636. 51
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erkannt und das Princip, welches darinnen liege, zu Grundlage genommen worden, nur habe man es hin und wieder zu kurz gefunden“55. Der liberale Abgeordnete und spätere Vizepräsident der 2. Kammer Christian Gottlieb Eisenstuck brachte auf den Landtagen von 1839 und 1845 Petitionen auf Beschleunigung der Gesetzgebungsarbeiten und Ausarbeitung eines Zivilgesetzbuchs vor56. Bei der Erwägung, welches der bestehenden Gesetzbücher man der sächsischen Kodifikation zugrunde legen sollte, kam auch Eisenstuck auf die Vorzüge des ABGB zurück und schlug dieses als Muster vor. Er hatte sich 1845 anlässlich einer Reise nach Wien in Unterredungen mit österreichischen Juristen mit den dortigen Rechtszuständen vertraut gemacht. Der Kontakt war ihm durch den Heidelberger Professor Karl Josef Anton Mittermaier vermittelt worden, der auch mit österreichischen Fachvertretern – wie etwa Winiwarter, Stubenrauch, Sommaruga – in Korrespondenz stand. Winiwarter z. B. hatte Mittermaier sukzessive seine Bände der Erläuterungen zum ABGB57, die erste umfassende ABGB-Kommentierung seit Zeillers Kommentar von 1811/13, geschickt58. Eisenstuck schrieb an Mittermaier: „… es war eine meiner angenehmsten Reisen, erhielt aber den höchsten Werth durch die Bekanntschaften, die ich mittels Ihrer Empfehlungen machte, und mir so manchen tieferen Blick in Österreichs Rechtszustände verschafften, …“ und weiter: „… in den vier Männern, denen Sie mich so angelegentlich… empfohlen hatten, fand ich biedere, geistreiche, einsichtsvolle Männer von redlichen, liberalen Gesinnungen, Freunde und Förderer des besonnenen Fortschritts …“. Auf den besonderen Grund seiner Reise kommt er dann zu sprechen: „Ein hauptsächlicher Beweggrund, weshalb ich Österreich für meine vorgenommene Reise wählte, war Berichtigung meines, in unserer Kammer seidher geltend gemachten Wunsches, das österreichische Civilgesetzbuch unter den nöthigen Abänderungen in Sachsen anzunehmen, und nachdem ich mit Winiwarter darüber gesprochen, bin ich in diesem Wunsche nur noch mehr bestärkt worden.“59 Die Darlegungen Eisenstucks im sächsischen Landtag zugunsten des ABGB waren in gewisser Weise ähnlich denen Leonrods in Bezug auf den bayerischen Entwurf von 1832/34. Das österreichische Gesetzbuch „empfiehlt sich durch Deutlichkeit und Klarheit, vermeidet alles Specialisieren, scheidet aus, was dem öffentlichen 55
2. Kammer, Landtagsakten 1833/34, III. Abt., 1. Bd., 635 ff. Landtagsakten 1839/40, III. Abt., 1. Bd. (Beilagen zu den Protokollen der 2. Kammer), 170 ff.; StA Dresden, Ständeversammlung 1833 – 1918, Nr. 1745, fol. 68; Nr. 2606 – 2607, fol. 5 – 12, Petition vom 28. 12. 1845; vgl. Ahcin, wie Fn. 52, 110 ff. 57 J. Winiwarter, Das österreichische bürgerliche Recht systematisch dargestellt und erläutert, Bde 1 – 5, Wien 1831 – 1838; 2. Aufl. 1838 – 1846. 58 Briefe Winiwarters an Mittermaier, Wien 3. 11. 1835, 24. 10. 1836, 10. 3. 1838 in: Korrespondenz Mittermaier, UB Heidelberg; Mikrofilme auch in MPI für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; vgl. zum Editionsprojekt B. Dölemeyer, Wissenschaftliche Kommunikation im 19. Jahrhundert: Karl Josef Anton Mittermaiers juristisch-politische Korrespondenz, in: Ius Commune 24, 1997, 285 – 298. Zu Winiwarter vgl. H. Hofmeister, in: W. Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200 – 1980, Wien 1987, 125 ff. 59 Brief Eisenstucks an Mittermaier, Dresden 26. 7. 1845, wie Fn. 58; Brief Winiwarter, Wien 16. 9. 1845, wie Fn. 58. 56
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Recht, dem Polizeirecht, der Gerichtsordnung angehört, ist ein Gesetzbuch des Civilrechts im vollen Sinn des Wortes“60. Man war nach allem der Meinung, es sei nicht schwierig, das ABGB auf die sächsischen Verhältnisse anzupassen. Wenn Koenneritz 1839 bereits anmerkte, „es würde sich das österreichische Gesetzbuch auch für einen Staat mit ständischer Verfassung eignen, denn es enthalte nur die höher stehenden Grundsätze …“,61 so weist er auf dessen Charakter einer „neuständischen Kodifikation“ hin, wie Wilhelm Brauneder dies bezeichnet hat62. Die 3. Deputation der 2. Kammer, die Eisenstucks und andere ähnliche Petitionen 1845/46 zu beraten hatte, nahm hierzu ausführlich Stellung. Sie sprach dabei die Meinung aus – wie sie auch in einigen anderen Ständeversammlungen der Zeit laut wurde –, da ein nationales deutsches Gesetzbuch eigentlich wünschenswert, aber wegen der politischen Verhältnisse derzeit nicht möglich sei, so bestehe „nur die Möglichkeit einzelstaatlicher Gesetzgebung“63. Gegen das römische Recht gewandt, verlangte man ein in deutscher Sprache verfasstes Gesetzbuch als „Bedürfnis des Landes“. Auch die Deputation sprach sich für das ABGB als Muster aus und fügte den Argumenten Eisenstucks noch eine weitere Begründung hinzu: Wenn man das ABGB der sächsischen Kodifikation zugrunde lege, nähere man sich politisch wie wissenschaftlich einem Staat an, der durch seine Geschichte und Bedeutung auch im zukünftigen Gefüge Deutschlands einen „Schwerpunkt“ bilden werde. Diese Position ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Politisch wie wirtschaftlich spricht man sich für die Annäherung an Österreich und gegen eine preußische Dominanz aus. Wissenschaftlich ist die Idee der Hinwendung zur österreichischen Jurisprudenz, der „Rechtsentwicklung eines großen Staates“, von Interesse. Sie beweist einerseits eine Wertschätzung der österreichischen Rechtswissenschaft im Vormärz, der Exegetik, und bildet andererseits einen eklatanten Gegensatz zu der späteren „Pandektisierung“ der österreichischen Jurisprudenz durch Josef Unger. Überdies zeugt sie von dem Kodifikations-Optimismus, der als Fernziel ein gesamtdeutsches Zivilgesetzbuch unter Einschluss Österreichs für erreichbar hält und trifft sich insoweit mit den Gedanken, die Unger später in seiner Kritik des Entwurfs Held für ein sächsisches BGB 185364 und noch deutlicher in seinem „Entwicklungsgang der österreichischen Civiljurisprudenz“ 1855 formuliert65. 60
Ständeversammlung 1833 – 1918, Nr. 2606 – 2607, fol. 5 – 6. StA Dresden, Ständeversammlung 1833 – 1918, Nr. 2606 – 2607, fol. 5 ff. 62 Brauneder, wie Fn. 29; vgl. auch W. Ogris, Zur Geschichte und Bedeutung des österreichischen ABGB, in: Liber Memorialis FranÅois Laurent 1810 – 1887, Brüssel 1989, 373 ff., hier 379 f. 63 Landtagsakten 1845/46, Beil. Prot. 2. Kammer, 3. Sammlung, 385, bes. 396; vgl. Ahcin, wie Fn. 52, 112 ff. 64 J. Unger, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen mit besonderer Rücksicht auf das österreichische allgemeine bürgerliche Gesetzbuch besprochen, Wien 1853, 4. 61
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Die gesamte Argumentation wurde von Julius Traugott von Koenneritz aufgenommen, der 1846 von der Leitung des Justizministeriums entbunden und mit der Entwerfung des sächsischen BGB beauftragt wurde. In seinem Immediatvortrag vom 28. Oktober 1846 legte er den Plan für ein Zivilgesetzbuch vor, der sich in Inhalt und Methode stark an das ABGB anlehnte66. Zeillers Grundsätze: Gleichheit, Allgemeinheit, Systematik, Vollständigkeit, Anpassung an die Staatsverhältnisse und zweckmäßige Form sind dabei als nachahmenswert vorgestellt67. Weiter wird geltend gemacht, das ABGB sei nach dem ALR und dem Code civil entstanden, habe daher beide Gesetzbücher benützen können; es sei in der Praxis bewährt, die Juristen und die „Clienten“ seien damit zufrieden. Interessant ist auch der Hinweis auf den Kommentar Zeillers und die Werke Winiwarters, die die Brauchbarkeit des ABGB ergänzten, da sie den „gegenwärtigen Zustand“ des Gesetzbuchs darstellten. Gerade der Bezug auf Winiwarter erscheint interessant; seine Arbeiten zum ABGB werden in der deutschen Diskussion mehrfach erwähnt, besonders, wenn es um die Anwendbarkeit in der Praxis geht (so auch bei Anton Christ68). Koenneritz legte ausführlich dar, dass das Gesetzbuch nur Privatrecht enthalten sollte, außerdem nur allgemeine Regelungen, keine Bestimmungen mit Ausführungsoder Verordnungscharakter; d. h. beispielsweise nur Bestimmungen über Hypotheken- oder Vormundschaftsrecht, nicht aber eine Hypotheken- oder eine Vormundschaftsordnung. Das sächsische BGB sollte sich also auf Normen beschränken, „… die so fest begründet sind, daß der Wechsel der Verkehrs- und Lebensverhältnisse, der Wechsel der Sitten“ keinen Einfluss auf eine etwaige spätere Anwendbarkeit des Kodex haben werde. Hier weist Koenneritz auch darauf hin, dass die sächsische Verfassung klar zwischen Gesetz und Verordnung unterscheide, für ein Gesetz – also auch das sächsische BGB – sei die ständische (parlamentarische) Zustimmung notwendig. Insgesamt sollte also das ABGB in der Methode der Bearbeitung dem sächsischen Entwurf als Vorbild dienen, man müsse aber prüfen, inwieweit die materiellen Bestimmungen mit den sächsischen Gegebenheiten zu vereinbaren wären und demge-
65 J. Unger, Über den Entwicklungsgang der österreichischen Civiljurisprudenz seit Einführung des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in: Schletters Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft 1, 1855, 353 ff. 66 SHStA Dresden, Gesammtministerium, Locat 54, Nr. 7, fol. 1e-30. 67 Landtagsakten 1839/40, III. Abt., 1. Band, 712; Immediatvortrag des Herrn Staatsministers von Koenneritz über die hinsichtlich der ihm übertragenen Leitung zu Entwerfung eines Civilgesetzbuchs zu treffende Einrichtung und zu gewährende Beihülfe, 28. 10. 1846, SHStA Dresden, Gesammtministerium Locat 54, Nr. 7, fol. 1e-10. 68 Wie Fn. 10, 117 f. Auch Anton Christ (1800 – 1880, Badischer Ministerialrat, Hofgerichtsdirektor, Mitglied der II. Badischen Kammer, Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung) stand mit Mittermaier in – sehr freundschaftlichem – Briefverkehr. Korrespondenz Mittermaier, wie Fn. 58; vgl. Briefe von Mitgliedern der badischen Gesetzgebungskommissionen an Karl Josef Anton Mittermaier (hg. und bearb. von Dorothee Mußgnug), Frankfurt a.M. 2002, 412 ff.
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mäß Modifikationen vornehmen. Auch sollte das neue Gesetzbuch ausführlicher sein als das österreichische, an dem man seine zu große Kürze kritisierte. Vom König genehmigt, wurde der Plan Koenneritz ausschlaggebend für den von dem Ministerialrat Gustav Held erarbeiteten ersten „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen“ (1852/53). Dieser war stark an das österreichische Gesetzbuch angelehnt; manche Bestimmungen wurden fast wörtlich übernommen. Die Einteilung des Entwurfs folgt aber nicht dem ABGB, sondern dem Pandektensystem, das sich unter dem Einfluss der Historischen Schule inzwischen ganz allgemein durchgesetzt hatte. Gerade dieser Einfluss der Historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft war ein wesentlicher Grund dafür, dass der erste sächsische Entwurf nicht zum Gesetz wurde und dass die Revision sich immer weiter vom ABGB entfernte, so dass das sächsische BGB von 1863/65 schließlich von Paul Koschaker als „fast ein in Paragraphen umgegossenes Pandektenlehrbuch“69, von Franz Wieacker als „Vorläufer und Generalprobe des kommenden deutschen Gesetzbuchs“70 bezeichnet werden konnte. Maßgebend war dabei wohl die ungünstige Kritik Karl Georg von Wächters71, dessen wissenschaftliche Autorität unbestritten war. Er kritisierte den Entwurf einerseits vom Standpunkt der Pandektenwissenschaft aus: Dieser sei zwar ein Fortschritt gegenüber dem ABGB, das durch die Entwicklung ebendieser Rechtswissenschaft überholt sei, weise aber Unklarheiten, Widersprüche und Mängel in der Begriffsbildung auf. In einer Zeit, da die Wissenschaft dank Savigny so große Fortschritte gemacht habe, müsse man an ein neues Gesetzbuch strengere Maßstäbe anlegen. Andererseits waren bei der Ablehnung des Entwurfs auch rechts- und nationalpolitische Aspekte im Spiel, worauf besonders Ahcin hingewiesen hat72. Wächter trat stark für ein deutsches Nationalgesetzbuch ein, was er bereits durch seine Rechtsvereinheitlichungs-Initiative von 1847 bewiesen hatte73 ; er stand daher gegen eine partikulare Kodifikation, die seiner Ansicht nach nicht so vollkommen war, um einem eventuellen gesamtdeutschen BGB als Muster dienen zu können. Außerdem vertrat er als liberaler Politiker die kleindeutsche pro-preußische Linie, wandte sich auch daher gegen ein Zivilgesetzbuch nach österreichischem Vorbild. Unter demselben rechtswissenschaftlichen Blickwinkel, allerdings von einem ansonsten ganz anderen Standpunkt betrachtet, kam Josef Unger zu einem sehr viel 69
P. Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl., München-Berlin 1966, 258. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, 464. 71 Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, in: Zs. für Rechtspflege und Verwaltung zunächst für das Königreich Sachsen NF 12 (1854), 3 ff. 72 Ahcin, wie Fn. 52, 197 ff. 73 F. Elsener, Karl Georg von Wächter (1797 – 1880) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechtes in der Zeit des deutschen Bundes, in: FS Hermann Baltl, Innsbruck 1978, 193 ff.; B. Dölemeyer, in: Handbuch III/2 (wie Fn. 35), 1424 f.; Ahcin, wie Fn. 52, 127 f. 70
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günstigeren Urteil, das vor allem aus seiner damaligen Position und Aufgabe zu verstehen ist. Unger suchte mit seiner entsprechenden Abhandlung74 um die Zulassung als Privatdozent in Wien an, die ihm 1853 auch erteilt wurde. Kurz darauf wurde er an die Universität Prag berufen, unter der Prämisse, er solle „der historischen Behandlung des österreichischen Civilrechts“ zum Durchbruch verhelfen, und damit die seit Inkrafttreten des ABGB von der gemeinrechtlichen Wissenschaft und ihren Fortschritten isolierte österreichische Jurisprudenz wieder in Verbindung mit der deutschen Wissenschaft bringen – dies im Sinn der Thun-Hohensteinschen Neuorientierung des Rechtsunterrichts75. Zusammen mit seiner Prager Antrittsrede76 war diese Kritik Ausdruck seines wissenschaftlichen Programms. Er wandte in der Kritik des sächsischen Entwurfs – gleichzeitig Kritik des ABGB aus Sicht der Pandektistik – erstmals die Grundsätze seines Programms und damit die Prinzipien der Pandektenwissenschaft auf das österreichische Gesetzbuch an. Es war also die Beurteilung eines Gesetzbuch-Entwurfs aus der Sicht der Wissenschaft und nicht aus der Sicht der Praxis. So erschien ihm der sächsische Entwurf gegenüber dem ABGB, „dem der lebendige fördernde Zusammenhang mit dem gemeinen Rechte und der deutschen Wissenschaft gänzlich fehlte und an dem noch keine eingehende Kritik geübt war“,77 als ein Fortschritt und als Anregung für die österreichische Doktrin. Die auf den Arbeiten Ungers und seiner Schüler basierende „Pandektisierung“ der österreichischen Rechtswissenschaft haben Lentze und Ogris unter dem Stichwort „Historische Schule der österreichischen Zivilistik“ dargestellt. Die dort weitgehend übernommene negative Beurteilung der exegetischen Schule durch Detailuntersuchungen zu korrigieren, haben Kurt Ebert, Gerhard Oberkofler und Wilhelm Brauneder unternommen78.
74
Vgl. Unger, wie Fn. 64. H. Lentze, Josef Unger – Leben und Werk, in: W. Plöchl/I. Gampl (Hrsg.), Im Dienste des Rechtes in Kirche und Staat. FS Franz Arnold, Wien 1963, 219 – 232; ders., Die Eingliederung der österreichischen Zivilrechtswissenschaft in die deutsche Pandektenwissenschaft, in: A. Czismadia/K. Kovcs (Hrsg.), Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa 1848 – 1944, Budapest 1970, 59 ff.; W. Ogris, Die historische Schule der österreichischen Zivilistik, in: FS Hans Lentze, Innsbruck-München 1969, 449 ff.; Brauneder, wie Fn. 44, 197. 76 J. Unger, Über die wissenschaftliche Behandlung des österreichischen gemeinen Privatrechts. Eine Antrittsrede gehalten an der Prager Hochschule den 8. 10. 1853, Wien 1853. 77 Vorbemerkungen zur Rezension: Der revidirte Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, Leipzig 1861, 5 f. 78 W. Brauneder, Privatrechtsfortbildung durch Juristenrecht in Exegetik und Pandektistik in Österreich, in: ZNR 1983, 22 ff.; K. Ebert, Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz, Graz 1969; G. Oberkofler, Die österreichische Juristentradition des Vormärz im Widerstreit mit den Reformen des Ministers Grafen Thun, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. FS für Ernst C. Hellbling, Berlin 1981, 614 ff. 75
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5. Diskussionen um ein nationales Zivilgesetzbuch a) Im Vormärz Auch in den wissenschaftlichen und parlamentarischen Debatten um die nationale Rechtseinheit, die selbst während und trotz der Vorherrschaft der Historischen Rechtsschule Savignys geführt wurden, spielte das österreichische ABGB eine nicht unwichtige Rolle. Ebenso wie der Code civil wirkte es in der deutschen Kodifikationsdiskussion einerseits durch die bereits angesprochene praktische Musterund Vorbildfunktion, andererseits aber auch durch die bloße Tatsache seiner Existenz. Konnte die Zivilrechtseinheit in einem der großen und wichtigen Staaten des Deutschen Bundes nicht auch Ansporn zur Schaffung einer ebensolchen für die übrigen Staaten und sogar für den gesamten Deutschen Bund sein? Oder war diese – gerade angesichts der Existenz des preußischen ALR und wegen der wachsenden preußischösterreichischen Konkurrenz – im Gegenteil hinderlich? Unter diesen Aspekten sollen im Folgenden die Stimmen angeführt werden, die sich für oder gegen das ABGB als mögliches Vorbild für ein nationales deutsches Gesetzbuch aussprachen. Dabei ist nicht so sehr die bekannte Kritik Savignys in seinem „Beruf“ zu betrachten, von der Pio Caroni gezeigt hat, dass sie keine objektive Auseinandersetzung mit dem Gesetzbuch war, sondern polemisch dazu gebraucht wurde, seine antikodifikatorische Haltung zu untermauern79. In der Edition von Savignys Materialien „Politik und neuere Legislationen“ haben Akamatsu und Rückert die Exzerpte zur Kritik des ABGB zugänglich gemacht, die vor allem Notizen aus Zeillers Commentar (1811 – 1812) enthalten und deren Vergleich zu Savignys intensiver Auseinandersetzung mit dem Code civil diese Ansicht untermauern80. Zwischen Savignys Bemerkungen und den Kritiken späterer Pandektisten – Unger, Wächter, Arndts –, auf die noch zurückzukommen ist, liegt eine Epoche, in der vor allem aus den Kreisen liberaler Abgeordneter als Vertreter des süddeutschen Konstitutionalismus die von der Rechtswissenschaft desavouierten Kodifikationsversuche vorangetrieben wurden. Und gerade in diesen Bemühungen kam auch immer wieder das ABGB zur Sprache. Zunächst sei aber auf einige Stimmen im Umfeld des „Kodifikationsstreits“ eingegangen, die – wie Karl Ernst Schmid – das ABGB als „für ganz Deutschland anwendbar“ ansahen oder zumindest – wie Burchard Wilhelm Pfeiffer – als Muster für ein Zivilgesetzbuch brauchbar bezeichneten. Der thüringische Jurist, Publizist
79 P. Caroni, Der unverstandene Meister? Savignys Bemerkungen zum österreichischen ABGB, in: FS Hermann Baltl, Innsbruck 1978, 107 – 122; vgl. H. Demelius, Drei Pandektisten über das österreichische ABGB, in: Festheft Schönbauer. Estratto del terzo fasciculo di Labeo II, Neapel 1965, 8 – 22. 80 H. Akamatsu/J. Rückert (Hrsg.), Friedrich Carl von Savigny, Politik und Neuere Legislationen. Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“, Frankfurt/Main 2000, hier XIX, 81 ff.
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und Staatsmann Karl Ernst Schmid81 begründete die allgemeine Anwendbarkeit des ABGB vor allem mit dessen gesellschaftspolitischer Zurückhaltung, „… denn alles was auf besondere Staatsverhältnisse Bezug hat, z. B. Rechte des Adels, das Lehnrecht usw. sind aus seinem Plane ausgeschlossen.“82 Burchard Wilhelm Pfeiffer, der sich in der napoleonischen Epoche intensiv mit dem französischen Zivilrecht auseinandergesetzt hatte (von ihm stammt eine ausführliche Rezension der frühen CodeÜbersetzungen83) und der selbst die offizielle Übersetzung des Code Napolon für das Königreich Westphalen verantwortet hatte84, publizierte 1815 „Ideen zu einer neuen Civil-Gesetzgebung für teutsche Staaten“85, in denen nun – nach 1814 – der Code civil als Vorbild für ihn nicht mehr in Frage kam, obgleich er ihm „mancherley Vorzüge“ zubilligte. Der Code civil sei abzulehnen, da er „… sogar das Gesetzbuch derjenigen Nation ist, mit welcher Teutschland künftig nichts mehr, auch nicht das Beste, wird gemein haben wollen“86. Auch er betonte aber, dass das ABGB und der Code civil sowohl materiell als auch formell viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Falls man eines der bestehenden Gesetzbücher für ganz Deutschland einführen wolle, könne dies nur das österreichische sein87. Laut einem Brief Wilhelm Grimms an Savigny hatte Pfeiffer die schon im Sommer 1813 gedruckte Schrift, in der er vorschlägt, das ABGB als allgemeines Gesetzbuch (für Deutschland) anzunehmen, zunächst zurückgezogen88. Auch in der weiteren Korrespondenz mit Savigny wird das Thema angesprochen; in einem Brief an Jacob Grimm schreibt Savigny: „Was Sie von Pfeiffer schreiben, thut mir leid, das ist nun reine Dummheit. Übrigens würde die Ausführung seines Plans durch Unbedeutendheit und Unmerklichkeit doch noch am wenigsten schaden, so wie ich aus diesem Grunde schon und blos von dieser Seite betrachtet das Österr. Ges.buch für unschädlicher halte als den Code, und den Code für unschädlicher als das Preußische Gesetzbuch.“89 Es scheint, dass eine eingehende Auseinandersetzung mit Pfeiffers „Ideen“ – und damit auch mit dem Modell ABGB – im großen Kodifikationsstreit Savigny – Thibaut untergegangen ist.
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1774 – 1852, Richter, Prof. in Jena, an Gesetzgebungsarbeiten in den thüringischen Fürstentümern beteiligt: ADB 31, 675 f.; 33, 800. 82 K. E. Schmid, Deutschlands Wiedergeburt, Jena 1814, 134 f. 83 Rezension der Übersetzungen von Lassaulx, Spielmann, Daniels, Müller und Erhard, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1808, Band IV, Sp. 417 – 436. 84 W. Schubert, Die ersten deutschen Übersetzungen des Code civil/Code Napolon (1804 – 1814), in: J. Eckert/H. Hattenhauer (Hrsg.), Sprache – Recht – Gesellschaft, Heidelberg 1991, 133 ff. 85 Wie Fn. 47. 86 Wie Fn. 47, 109 f. 87 Wie Fn. 47, 113. 88 W. Schoof (Hrsg.), Briefe der Brüder Grimm an Savigny, Berlin-Bielefeld 1953, 155. 89 19. 5. 1815; A. Stoll, Friedrich Karl v. Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Sammlung seiner Briefe, Bd. II, Berlin 1929, 140; vgl. Nolte, wie Fn. 47, 170 ff.; vgl. auch J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, 13, 20, 165 ff.
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Als unter dem Eindruck der nationalen Einigungsbewegung der vierziger Jahre auch die nationale Kodifikationsdebatte wieder in Gang kam, geschah dies vor allem in den Ständeversammlungen der süddeutschen Staaten. Hier wurden auch wieder Stimmen laut, die ein nationales Zivilgesetzbuch reklamierten. Dabei wurde mehrfach das ABGB als wünschenswertes und mögliches Vorbild für eine gesamtdeutsche Kodifikation angesprochen. Der badische Abgeordnete Zentner sagte in der Begründung zu seinem Antrag auf die „Einleitung zur Einführung eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs in den deutschen Staaten …“ auf dem Landtag 1847 – 49, dass „das gediegene österreichische bürgerliche Gesetzbuch dabei als eine treffliche Vorarbeit benutzt werden könne, wird Jeder zugeben, der dasselbe näher kennt“90. Hier zeigt sich aber, dass die meisten anderen Abgeordneten zwar den Antrag auf ein Nationalgesetzbuch unterstützten, als Vorbild aber eher zum Code civil, der ja mit Zusätzen als Badisches Landrecht galt, tendierten. Nur der Abgeordnete Anton Christ sprach sich für das österreichische Gesetzbuch aus, das er als das „beste von Europa“ bezeichnete. So propagiert er es ja auch in seinen Publikationen, wo er etwa das ABGB als das Gesetzbuch bezeichnet, welches die „schärfste Ordnung“ aufweise, „eine Einheit in Auffassung und Durchführung“ sei; es strebe „stets nach Festsetzung der Grundsätze und logischer Entwicklung“ etc.91 Auch andere Stimmen in der politischen und juristischen Publizistik waren in diesem Sinn zu hören92. In diesen Diskussionen wurden häufig das französische und das österreichische Zivilgesetzbuch einander gegenüber gestellt, gelegentlich auch noch das preußische, und sowohl ihre gesetzestechnischen wie ihre gesellschaftspolitischen Qualitäten verglichen93. Beide Argumentationsstränge wurden – in ähnlicher Weise wie dies kurz nach 1814 der Fall war – nebeneinander weitergeführt. Es fällt jedoch auf, dass hier kaum – jedenfalls nicht expressis verbis – das österreichische Gesetzbuch als das eines Staates der Restaurationspolitik desavouiert wurde! Praktische Wirkung konnten diese Vorschläge auf nationaler Ebene nicht entfalten. b) Nach 1848: Die Möglichkeit einer „großdeutschen Lösung“ der Kodifikationsfrage unter Einbeziehung des ABGB In der Diskussion um die sächsische Kodifikation kamen bei zwei der wichtigsten Wortführer – Josef Unger und Karl Georg Wächter – neben der wissenschaftlichen 90 Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden in den Jahren 1847 bis 1849. Zweite Kammer, 6. Beilagenheft (Beil. 2 zum Prot. der Sitzung vom 20. 1. 1848), 195 ff., hier 201; 1. Protokollheft, Prot. vom 20.1.1848. 91 Christ, Über deutsche Nationalgesetzgebung (wie Fn. 10); ders., Die Verwirklichung der deutschen Nationalgesetzgebung, Stuttgart und Tübingen 1850 (Sonderdruck aus: Deutsche Vierteljahrschrift), 18 ff. 92 Vgl. O. v. Wydenbrugk, Briefe über deutsche Nationalgesetzgebung, Jena 1848, Vierter Brief, 32. 93 Christ, Verwirklichung, wie Fn. 91, 18 ff.
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Beurteilung der Gesetzgebungsarbeiten sehr stark auch rechtspolitische Gesichtspunkte zum Tragen. In die Erwägungen wurde der Aspekt einzelstaatliche Kodifikation versus gesamtdeutsche Rechtsvereinheitlichung einbezogen. Wächter war – wie erwähnt – mit Unger und auch mit Karl Ludwig Arndts von der Notwendigkeit und prinzipiellen Machbarkeit eines gesamtdeutschen Zivilgesetzbuchs überzeugt. Unger hoffte, dass sich aus der Durchdringung des Zivilrechts – auch des österreichischen – mit den Methoden der Pandektenwissenschaft eine einheitliche deutsche Wissenschaft und daraus folgend auch eine nationale Zivilrechtskodifikation schaffen ließe. In der Arbeit „Über den Entwicklungsgang der österreichischen Civiljurisprudenz“ formulierte er 1855 den Wunsch nach einer „großdeutschen“ Lösung der Kodifikationsfrage ausdrücklich und deutlich. Wenn das ABGB im Sinne der Historischen Schule revidiert sei, dürfte „wenigstens ein Teil der deutschen Staaten nicht abgeneigt sein, … sich mit Österreich zur Einführung eines gemeinsamen, den Anforderungen der Wissenschaft vollkommen entsprechenden privatrechtlichen Gesetzbuchs zu vereinigen“94. In diesen Zusammenhang fügen sich auch neuere Untersuchungen zu den Gründen der Rücknahme des ersten sächsischen Entwurfs. Die ungünstigen Kritiken – vor allem die Wächters – wurden bekanntlich von der sächsischen Regierung in ihrer offiziellen Rücknahmeerklärung als Begründung angeführt und sind auch in der rechtshistorischen Forschung als wichtige Gründe eben für die Rücknahme des Entwurfs und die folgende Revision betrachtet worden. Doch hat Ahcin in einer eingehenden Analyse durch detaillierte Auffächerung neue und z. T. überraschende Gesichtspunkte ans Licht gebracht – wie etwa das Wirken des Freiherrn von Beust, den Einfluss seiner Trias-Idee und ihrer Implikationen für Bundesreformpläne wie auch für nationale Gesetzgebungspolitik, die ihn schließlich dazu geführt hätten, auf die Rücknahme des Entwurfs hinzuarbeiten95. Was nun schließlich ausschlaggebend für die teilweise Neubearbeitung des Entwurfs war, sei dahingestellt, jedenfalls entfernte sich der revidierte Entwurf und damit das endgültige sächsische BGB weit vom österreichischen Vorbild und damit wurde gleichzeitig die Entfernung von der Idee einer auch Österreich einschließenden Zivilrechtseinheit besiegelt.
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Unger, wie Fn. 65, 359. Ahcin, wie Fn. 52, 239 ff.
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II. Das ABGB in den Gesetzgebungsarbeiten des Deutschen Reiches (1873 – 1944) (Werner Schubert) 1. Einführung und Überblick Das von den österreichischen Juristen verwirklichte Programm Ungers von 185696: „Nach allen Seiten hin müssen die Schranken aufgehoben werden, welche bisher die so überaus schädliche Abtrennung unserer Rechtswissenschaft von der gemeinschaftlichen Bearbeitung des Rechtes zur Folge hatten; die Schleusen müssen geöffnet werden, um den reichen Strom deutscher Wissenschaft auf die brach liegenden Fluren der österreichischen Jurisprudenz zu leiten und um auf allen Punkten zugleich ein neues, reiches, geistiges Leben hervorzurufen.“ hat auf deutscher Seite für die Zeit nach der Aufhebung des Deutschen Bundes kein Gegenstück gefunden. Österreichische Juristen nahmen zwar an den Diskussionen des Deutschen Juristentages über zahlreiche rechtspolitische Fragen des Zivilrechts und an der Kritik am 1. und 2. BGB-Entwurf teil, traten jedoch nur selten für eine Übertragung der Regelungen des österreichischen bürgerlichen Rechts auf das neue deutsche Recht ein. Das fehlende Interesse und die mangelnde Vertrautheit der deutschen Juristen mit dem österreichischen Recht führte dazu, dass das ABGB eine eher noch geringere Rolle – allenfalls das Erbrecht hatte einen gewissen Vorbildcharakter – als der Code civil spielte, der allerdings im linksrheinischen Deutschland und, modifiziert als „Badisches Landrecht“, in Baden galt97. Als zeittypisch kann die Kennzeichnung des ABGB durch Landsberg aus dem Jahre 1898 gelten, das kaum über das Urteil Savignys über diese Kodifikation hinauskam98. Sie entspreche dem Standpunkt des Kantschen Naturrechts, d. h. es handle sich um das Naturrecht, „welches in allen stofflich wesentlichen Punkten auf dem Standpunkte des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts verharrt“. Dagegen sei das österreichische Gesetzbuch noch unberührt von der „historischen Auffassung des neuen Jahrhunderts, wie sie die Civilistik verinnerlicht und das Römische Recht wieder in den Mittelpunkt der rechtswissenschaftlichen Studien rückt. Insofern stehen österreichisches und preußisches Recht auf demselben Standpunkte, und deshalb gehört auch jenes, trotz seines Datums, nicht an den Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern an den Schluß der Entwickelung des 18. Jahrhunderts und seiner Rechtswissenschaft.“
96 Hier zitiert nach von Call, in: DJZ 1912, 968; zur Durchführung des Programms W. Ogris, Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert (Vortrag von 1967), 1968, 12 ff.; H. Schlosser, Grundlage der Neueren Privatrechtsgeschichte, 1993, 115 f. 97 Das ABGB galt für 2.500 Bewohner in kleinen Teilen des Amtsgerichtsbezirks Waldsassen und in Markt Redwitz (bei Wunsiedel), beides in Bayern. 98 Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. III 1, 1898, 528.
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Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass das Programm, das Rudolf Leonhard in seinem Wiener Vortrag von 190199 : „Der Einfluß des Österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches auf die neue deutsche Erbfolgeordnung“ entwickelte, so gut wie unbeachtet geblieben ist. Das österreichische Recht sei, so Leonhard, eingetreten in den Quellenkreis der von ihm allerdings noch nicht so bezeichneten neueren Rechtsgeschichte, aus der „im Geist der geschichtlichen Wissenschaft das deutsche bürgerliche Recht insoweit zu entwickeln ist, als es seinen Inhalt aus diesem Werke entnommen hat“100. Die Ausführungen zur Erbfolgeordnung sollten nach Leonhard den „tiefen, inneren Zusammenhang zeigen, welchen eine wahrhaft wissenschaftliche Behandlung des deutschen und österreichischen Rechts, nicht bloß in der Pflege des römischen und des altgermanischen Rechtes, sondern auch in der Rechtsgeschichte der letztvergangenen Jahrhunderte besitzt.“101 Dieser Zusammenhang wurzle „namentlich in der modernen Entwicklung, deren Gedanken zum großen Teil über Deutschland weit hinausgreifen.“ Dass Österreich und Deutschland verschiedene Gesetzbücher hätten, „hat sie doch nur wohl so lange getrennt, als die unerträgliche Masse der deutschen Gesetzestexte eine Vergleichung der deutschen Rechtsordnung mit der österreichischen beinahe unmöglich machte“. Jetzt hätten wir im Deutschen Reiche die „legislative Kleinstaaterei“ überwunden, die Österreich schon lange hinter sich habe. „Ein großes Rechtsgebiet steht neben dem anderen. Beide tragen die Spuren gemeinsamer älterer Schicksale an sich, nicht bloß aus der grauen Ferne längstverflossener Zeiten, sondern aus einer noch frischeren Vergangenheit. Wo solche verbindenden Fäden enthüllt werden, zeigen sich die Spuren einer unsichtbaren Zusammengehörigkeit. In diesem Punkt hat die politische Trennung des deutschen Reiches von Österreich eine wissenschaftliche Annäherung nach sich gezogen.“ Nach den Arbeiten Leonhards war es erstmals Hedemann, der 1910 in seinen „Fortschritten“ die österreichische neben der deutschen, schweizerischen und französischen Rechtsentwicklung gleichberechtigt berücksichtigte102. Wie wenig aber sonst die Zusammenhänge zwischen dem österreichischen und deutschen Zivilrecht für deutsche Juristen in der Kaiserzeit von Interesse waren, zeigt allein schon die Tatsache, dass der Gedenkartikel zur 100-Jahr-Feier des ABGB in der DJZ von einem österreichischen Juristen stammte103. „Dankbar dessen gedenkend“, so heißt es in einer Vorbemerkung der Schriftleitung zu diesem Gedenkartikel, „daß aus dem ABGB auch die deutsche Rechtswissenschaft geschöpft, daß gar manche an deut99 Veröffentlicht in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 29 (1902), hrsg. von C.S. Grünhut, 229 ff. 100 Leonhard, wie Fn. 99, 230. 101 Leonhard, wie Fn. 99, 258; hieraus auch die folgenden Zitate. 102 J. W. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert. Ein Überblick über die Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz, Teil 1: Die Neuordnung des Verkehrslebens, 1910. Nicht behandelt werden hier die Einflüsse des deutschen Rechts auf das ABGB bzw. deren Abwehr (dazu W. Festl-Wietek, Die Deutschösterreichische Rechtsangleichung, Diss. iur. Hagen 1989, 37 ff.). 103 DJZ 1911, 730. Der Aufsatz stammt von H. Schauer, Sektionschef in Wien.
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schen Universitäten jetzt tätige Lehrer österreichisches Wissen aus ihm zu uns hinübergetragen hat, nimmt der deutsche Jurist auch hier in enger und getreuer Bundesbrüderschaft als Deutscher, den Juristen gegenüber als Jurist lebhaft teil an diesem für Österreich denkwürdigen Tage.“ Die Festnummer zum 31. DJT in Wien brachte zwei Aufsätze von Freiherrn v. Call und v. Schwind, die jedoch zur Frage der Rezeption österreichischer Rechtsgedanken auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts kaum etwas beitrugen. Nach Schwind spielte im sog. „ heutigen römischen Rechte wie im deutschen Privatrecht die österreichische Rechtsgestaltung die Rolle eines der hervorragendsten deutschen Partikularrechte.“104 Die breiten und zum Teil sehr weitgehenden Pläne zur Rechtsangleichung zwischen 1916 und 1932105 sind an Überlegungen zu einer Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechts weitgehend vorübergegangen. Erst mit der Wiederentdeckung der Zeit des späten Naturrechts insbesondere durch Thieme erwachte auch das deutsche Interesse an der österreichischen Kodifikation106. Hinzu kamen die auch in Deutschland verbreiteten zahlreichen Arbeiten Swobodas über die geistes- und dogmengeschichtlichen Grundlagen des ABGB,107 das eine Modernisierung in dem auch in Deutschland beachteten Entwurf zu einem bürgerlichen Gesetzbuch für die Tschechoslowakei erfuhr108. So war das Terrain vorbereitet, für die seit 1938 aktuelle Frage, inwieweit das ABGB einen Beitrag zur „Erneuerung“ des deutschen bürgerlichen Rechts – entsprechend den Planungen von 1939 nach den Vorstellungen der Akademie für Deutsches Recht in einem Volksgesetzbuch – leisten konnte und sollte. Hierzu stellte von deutscher Seite 1939 Dulckeit fest109, für das Familien- und Erbrecht könne das individualistische Naturrecht und damit auch das ABGB nicht zum Vorbild dienen110. Positiv hob Dulckeit die Ausgestaltung des Sachenrechts hervor, das auf der Vorstellung beruhe111, „daß der einzelne sein gesamtes Vermögen zu eigen hat, d. h. als Eigentum besitzt“. Alles, was Gegenstand des rechtlichen Eigenbereiches sei, „körper104 v. Schwind, in: DJZ 1912, 978 f; nun gemeinsam mit dem Aufsatz Calls in: Festl-Wietek, wie Fn. 102. 105 Hierzu W. Festl-Wietek, wie Fn. 102, 76 ff.; ferner W. R. Garscha, Die Deutsch-österreichische Arbeitsgemeinschaft. Kontinuität und Wandel deutscher Anschlußpropaganda und Angleichungsbemühungen vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, 1984; H. Molt, Wie ein Klotz inmitten Europas. Anschluß und Mitteleuropa während der Weimarer Republik 1925 – 1931, 1986, insb. 151 ff., 188 ff.; W. Brauneder (Hrsg.), Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen I, Rechtsangleichung, Frankfurt/Main 1996, 87 ff., 109 ff., 177 ff. 106 H. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in: ZRG Germ. Abt. 56 (1936), 202 ff.; 203 f.; Hinweis auf das ABGB. 107 Insbesondere E. Swoboda, Das ABGB im Lichte der Lehren Kants, 1926. Zur Überschätzung des Einflusses der Philosophie Kants auf das ABGB vgl. den Forschungsband Franz von Zeiller, hrsg. von W. Selb/H. Hofmeister, 1980. 108 Vgl. oben den Beitrag zur Tschechoslowakei (Schubert). 109 G. Dulckeit, Das Bürgerliche Recht der Ostmark und die deutsche Rechtserneuerung, Deutsche Rechtswissenschaft 1939 (Bd. 4), 352 ff. 110 Ebda, 356. 111 Ebda, 357.
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liche Dinge, Rechte, Ansprüche, ist Rechtsobjekt, oder Sache im Rechtssinne und somit ,Eigentum (§§ 285, 353). Diese Auffassung dürfte für den juristischen Laien ebenso mißverständlich sein wie für die Philosophie; in der Rechtsgeschichte hat die Spaltung zwischen dinglichen und Schuldrechten meist auch den irrtümlichen einheitlichen Begriff des Eigens zersprengt. Erst das spätere deutsche Recht und vor allem das Naturrecht hat die (höhere) Einheit des Eigens wiederhergestellt.“ Die „so geschaffene enge begriffliche Verbindung von Sachen- und Schuldrecht“ weise auch dem Vertrag die angemessene Stellung im Gesamtsystem zu:112 Er richte sich stets „auf Übertragung einer Sache“. Das ABGB habe also die „alte gemeinrechtliche Lehre von titulus und modus adquirendi übernommen, die im Ergebnis auch mit den deutschrechtlichen Grundvorstellungen einigermaßen übereinstimmt“. Die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs war nach Dulckeit in § 367 ABGB ansprechender geregelt als im BGB, das Elemente aus dem römischen Ersitzungsrecht übernommen habe113. Vorzuziehen waren nach ihm auch die Grundsätze des ABGB über die vertragliche und außervertragliche Haftung. Gleichwohl dürfe man auch die „wesentlichen Mängel des ABGB nicht außer acht lassen“. Im engeren Bereich, auf dem Gebiet des Vermögensrechts, habe der deutsche Geist jedoch auch im Naturrecht „seine Schöpferkraft bewährt“ und im Gesetzbuch der Ostmark positive Geltung gewonnen114. Es sei zu hoffen, dass „seine bleibenden Erkenntnisse und Leistungen, wie die des Preußischen Allgemeinen Landrechts, auch die ihnen gebührende grundlegende Stellung im Neubau unseres Rechts erhalten mögen“. Von österreichischer Seite traten insbesondere Ernst Swoboda und Robert Bartsch für die Übernahme von Regelungen des österreichischen bürgerlichen Rechts in das Volksgesetzbuch ein. Swoboda hatte, von der Deutschen Universität Prag kommend, 1939 in der Wiener Universität ein Institut für Rechtsvereinheitlichung eingerichtet115 und bereits in den dreißiger Jahren großen Einfluss auf den tschechischen Entwurf zu einem BGB im Sinne des ABGB genommen. „Das österreichische Gesetzbuch“, so schrieb er bereits 1940116, „gibt uns die Möglichkeit, die Prinzipien der nationalsozia112
Ebda, 358. Ebda, 359. 114 Dulckeit, wie Fn. 109, 360. 115 Über Swoboda (1879 – 1950) W. Schubert, in: Akademie für Deutsches Recht 1933–1945. Protokolle der Ausschüsse, Bd. III 3, 1990, 80 f – Weitere Einzelheiten über die Tätigkeit Swobodas in Wien und über die erst Ende 1940 erfolgte Installierung des Instituts für Rechtsvereinheitlichung in der Personalakte, den Rektoratsakten der Univ. Wien (Universitätsarchiv Wien) und den Vorlesungs-, Personal- und Vorlegungsverzeichnissen für 1940 – 1944. Verf. dankt Herrn Prof. Dr. G. Kohl für die Zurverfügungstellung der Materialien. Ein Schreiben von Hofrat Dr. Walter Swoboda vom 12. 10. 1997 an Dr. Kohl nimmt zur Tätigkeit seines Vaters für die Rechtsvereinheitlichung Stellung. Ferner hat Dr. W. Swoboda dem Verf. ein Manuskript seines Vaters aus der Zeit nach 1945 mit dem Titel zugänglich gemacht: „Die Widerstandsbewegung auf dem Gebiete des Rechts“ (hiermit ist gemeint der Kampf um die Erhaltung des guten österreichischen Rechts und damit der bewährten Grundlagen des österreichischen Rechtsstaates, insbesondere im Bereiche der Justiz). 116 Vorwort zur ersten Aufl. von E. Swoboda, Das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch. Eine systematische Darstellung für das Studium und für die Praxis, Teil 1, 2. 113
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listischen Rechtsauffassung organisch in unser bürgerliches Recht einzubauen, was bei einem positivistisch gedachten Gesetzbuch undenkbar wäre, und es ist erstaunlich, welche Ergebnisse diese Ausbaufähigkeit des ABGB schon jetzt zu liefern imstande ist“. Diese und ähnliche Passagen in seinen Publikationen zwischen 1940 und 1944 legen es in ihrer kaum zu überbietenden Aufdringlichkeit nahe, als habe sich Swoboda dem nationalsozialistischen Regime andienen wollen. In Wirklichkeit wollte er wohl mit der Verwendung der nationalsozialistischen Phraseologie die Grundgedanken des österreichischen Rechts gegenüber der von den Österreichern befürchteten Einführung des BGB bzw. eines vom reichsdeutschen Zivilrecht geprägten Volksgesetzbuchs entgegentreten. Ungeachtet dieser von Swoboda natürlich nicht offen ausgetragenen, sondern mit Nazischlagworten verdeckten Frontstellung gegenüber dem deutschen Recht sind seine Detailvorschläge zur Übernahme von Rechtsgedanken des ABGB im Rahmen der damals diskutierten deutsch-österreichischen Rechtsvereinheitlichung durchaus beachtlich und berichtenswert. Wäre es zu einem effektiveren Rechtsvergleichungsversuch gekommen, so hätte Deutschland von der österreichischen Kodifikation nur profitieren können. 2. Das ABGB bei der Ausarbeitung des BGB Im Gutachten der Vorkommission zum 1. BGB-Entwurf von 1874 ist das ABGB im Zusammenhang mit den ausländischen Kodifikationen genannt. Die Gesetzgebungskommission werde von „dem reichen Schatz gesetzgeberischer Erfahrung, welcher … in verwandten legislativen Arbeiten Österreichs, der Schweiz und anderer auswärtiger Staaten aufgehäuft ist, Nutzen ziehen“117. In dem ergänzenden Gutachten des Bundesrats ist darauf hingewiesen,118 dass „für die heutige Zeit die Grenze zwischen Gesetz und Wissenschaft klar festzuhalten und zu scheiden sei, was dem Gesetzgeber und was der Wissenschaft zukommt“. Dieser Gesichtspunkt sei schon bei Abfassung des ABGB befolgt und der Kompilationskommission 1772 die Anweisung erteilt worden: „Soll das Gesetz- und Lehrbuch nicht mit einander vermengt, mithin alles jenes, was nicht in den Mund des Gesetzgebers, sondern ad cathedram gehört, aus dem Kodex ausgelassen werden“. Ein zweites Mal wurde das ABGB im Zusammenhang des Fehlens eines Allgemeinen Teils erwähnt:119 „Das österreichische Gesetzbuch beginnt mit einer Einleitung von 14 Paragraphen über die bürgerlichen Gesetze überhaupt und behandelt dann in drei Teilen das Personenrecht, das Sachenrecht und die gemeinschaftlichen Bestimmungen des Personen- und Sachenrechts.“ Aufl. 1944, III f. (hier das Vorwort zur 1. Aufl.) – Zum folgenden die in Fn. 115 genannte Rechtfertigungsschrift, die im Wesentlichen den Tatsachen entsprechen dürfte. 117 Wiedergegeben bei W. Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB – Einführung, Biographien, Materialien, 1978, 172. – Zur Entstehung des BGB: B. Dölemeyer, in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/2, 1982, 1572 ff. 118 Bei Schubert, wie Fn. 117, 195; hieraus auch die folgenden Zitate. 119 Bei Schubert, wie Fn. 117, 192.
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Bei der Aufstellung der Vorentwürfe (1874 – 1881) durch die 5 Redaktoren spielte neben dem gemeinen Recht und den innerdeutschen Partikularrechten das ABGB rechtsvergleichend eine wichtige Rolle. In den umfangreichen Begründungen zu den Redaktorenentwürfen ist immer auf die Parallelregelung im ABGB, nicht selten unter Anführung der einschlägigen Literatur hingewiesen. Dieser Nachweis ist auch noch in den Motiven zum 1. BGB-Entwurf enthalten. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit Einzelregelungen des ABGB findet allerdings in den Begründungen nur selten statt, was nicht ausschließt, dass es bei den Vorüberlegungen der Redaktoren mitunter eine größere Rolle gespielt hat. Kaum unmittelbare Einflüsse des ABGB lassen sich für das Schuldrecht feststellen, obwohl Österreich an der Beratungsgrundlage für den größeren Teil der besonderen Schuldverhältnisse, nämlich dem Dresdener Entwurf120, beteiligt gewesen war. Wie schon beim ADHGB hatte der österreichische Vertreter auf die Beratungen nur geringen Einfluss genommen, zumal die wohl als moderner geltenden Entwürfe Bayerns und Hessens sowie das sächsische BGB der Mehrheit der Dresdener Kommission als vorzugswürdig galten. Für die Beratungen der 1. BGB-Kommission lagen die einschlägigen Protokolle der Dresdener Kommission mit oft detaillierten Hinweisen auf die österreichische Regelung vor121, während für die Materien des Allgemeinen Teils (einschl. des allgemeinen Vertragsrechts) die ABGB-Regelungen oft nur sehr knapp diskutiert wurden. Auch in der Begründung zum Sachenrechtsteilentwurf von R. Johow ist das ABGB kontinuierlich mit herangezogen, wenn man ihm auch in den grundlegenden Fragen nicht gefolgt ist. Im Überblick über die allgemeinen Bestimmungen des Grundbuchrechts ist der „österreichischen Grundbuchgesetzgebung“ ein eigener Abschnitt gewidmet. Hier heißt es122 : „Österreich befand sich bei der Reform des Immobilienrechts in einer weitaus günstigeren Lage als Preußen, da es eine solche Kluft, wie die zwischen dem gemeinen Recht und dem deutschen Ingrossationssystem bestehende, nicht vor sich hatte, sondern nur an das in seinen Erbländern geschichtlich gewordene Tabularrecht anzuknüpfen brauchte, um zu einem den modernen Verhältnissen entsprechenden Grundbuch- und Hypothekenrecht zu gelangen.“ Als Vorbild für die gesetzliche Feststellung des Grundbuch- und Hypothekenwesens in den einzelnen Provinzen Österreichs habe das böhmische und mährische Immobilienrecht, das im Anschluss an die schon im 13. Jahrhundert bestehenden „Landtafeln“ analog 120 Hierzu J. W. Hedemann, Der Dresdner Entwurf von 1866. Ein Schritt auf dem Wege zur deutschen Rechtseinheit, 1935; B. Dölemeyer, wie Fn. 117; W. Schubert (Hrsg.), Protokolle der Commission zur Ausarbeitung eines allgemeinen deutschen Obligationenrechtes, Bd. 1, 1984, XIII ff. – Die von der 1. BGB-Kommission in Aussicht genommene Beratungsgrundlage konnte, da der Redaktor v. Kübel vorzeitig verstarb, nicht rechtzeitig fertiggestellt werden. 121 Enthalten in den von W. Schubert hrsg. Bänden 2 und 3 der Vorentwürfe der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines BGB, Recht der Schuldverhältnisse, 1980. 122 Schubert (Hrsg.), Vorentwürfe, Vorlagen der Redaktoren, Sachenrecht, Teil 1, 1982, 230.
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wie in Hamburg und Lübeck sich entwickelt hatte, gedient. Im ABGB seien die Prinzipien des Grundbuch- und Hypothekenrechts „unter dem Einflusse der preußischen Kodifikationen und der gemeinrechtlichen Theorien aufgestellt, die provinziellen Gesetze über das Tabularwesen aber nicht beseitigt“ worden123 : „Den Gegensatz zwischen dem preußischen Publizitätsprinzip und dem Verschweigungsprinzip der österreichischen Landtafel- und Grundbuchspatente scheint man sich bei der Redaktion des Gesetzes ebensowenig zum deutlichen Bewußtsein gebracht zu haben, wie den Gegensatz, welcher zwischen diesen Prinzipien und den Grundsätzen des römischen Sachenrechts besteht. Denn ,nur so ist es erklärlich, wie das Gesetzbuch, wie es jetzt vor uns liegt, alle drei Systeme reproduzirt, oder richtiger, Bruchstücke aus allen Dreien enthält, ohne irgendwo klar auszusprechen, welches derselben es prinzipiell adoptirt haben will “124. In der Praxis wie in der Wissenschaft habe sich „bald das eine, bald das andere System überwiegende Anerkennung verschafft“. Von besonderer Wichtigkeit für die Fortbildung des österreichischen Immobilienrechts sei dessen Übertragung auf die Länder der „ungarischen Krone“ geworden. Im Folgenden ist auf die Reformen durch das allgemeine Grundbuchsgesetz vom 25. Juli 1871 hingewiesen, deren Charakterisierung durch Exner zitiert wurde125. Im weiteren Verlauf der Darstellung spielte die österreichische Regelung für das Grundstücksrecht trotz gelegentlicher Heranziehung insbesondere von Exner keine Rolle mehr. Insbesondere wurde das bayerische Hypothekenrecht von 1822, das auf einer Weiterentwicklung des österreichischen Rechts beruhte, nicht berücksichtigt126. Im Abschnitt der Begründung für die „Übergabe als Form des Übertragungsvertrages“ kann man lesen127, dass in Deutschland, abgesehen von den Gebietsteilen französischen Rechts „der Satz, daß zu den Erfordernissen der vertragsmäßigen Eigenthumserwerbung die Übergabe gehört, für bewegliche Sachen durchweg bestehendes Recht“ sei. Dies gelte auch für die „außerdeutschen, aber von deutscher Rechtsanschauung durchdrungenen Kodifikationen wie das ABGB und das Züricher Gesetzbuch.“ Bei der Frage, ob das System der „Verwaltungsgemeinschaft“ zur Grundlage des gesetzlichen Ehegüterrechts gemacht werden sollte, war für Planck und die 1. BGBKommission von Wichtigkeit, dass neben dem italienischen Recht insbesondere die Bestimmungen des ABGB auf dem Boden der Verwaltungsgemeinschaft standen.128 Hingegen folgte das BGB im Recht des nichtehelichen Kindes nicht dem österreichischen Recht, das die exceptio plurium ausschloss. In der Begründung zum familien-
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Schubert, wie Fn. 122, 231. Das mittelbare Zitat aus A. Exner, Das Publizitätsprinzip, 1870, 23 ff. 125 Schubert, wie Fn. 122, 232. 126 Hierzu Johow bei Schubert, Vorlagen der Redaktoren, Sachenrecht, Teil 1, 1982, 230. 127 Schubert, wie Fn. 122, 884 f. 128 Planck bei Schubert, Vorlagen der Redaktoren, Sachenrecht, Teil 2, 1982, 440 ff; vgl. §§ 1227 ff, 1237 ff ABGB. 124
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rechtlichen Teilentwurf ist zu lesen129, dass Zeiller annehme, dass nach dem ABGB „die Alimentenklage successive gegen die einzelnen Zuhälter geltend gemacht werden könne, wenn der durch Klage in Anspruch Genommene zur Erfüllung seiner Pflichten unvermögend sei“. Eine entscheidende Rolle spielte lediglich das Parentelensystem des ABGB, welches das BGB als gesetzliches Erbfolgesystem in den §§ 1924 ff. BGB übernahm. Es war bereits 1751 von dem Naturrechtler Darjes empfohlen worden, ohne dass der ALR-Gesetzgeber sich mit diesem System hatte anfreunden können130. Dagegen hatte es nach den Vorarbeiten von K.A. Martini und B. Horten bereits 1786 das österreichische Erbfolgepatent übernommen, von dem aus es unverändert in das ABGB kam (§§ 731 – 750). Das Parentelensystem galt rein nur in einigen Teilen von Schleswig-Holstein nach einer dänischen Verordnung vom 21. Mai 1845 und in zwei Schweizer Gesetzbüchern131. Mommsen hatte es für seinen Erbrechtsentwurf von 1874 vorgeschlagen132. Modifiziert war das österreichische System in den bayerischen Entwürfen von 1809, 1811, 1834 und 1856 vorgesehen und galt im Züricher Gesetzbuch und weiteren kantonalen Kodifikationen. Der Erbrechtsredaktor Schmitt schlug der 1. BGB-Kommission die unmodifizierte Übernahme des Parentelensystems vor. Ausschlaggebend hierfür waren nach der Begründung die „sachlichen Ergebnisse“ des Systems, „namentlich für die zweite Erbfolgeklasse, als die relativ billigeren und besseren“133 die „Konstruktionsfrage“ sowie die Rücksicht auf die „Einfachheit und Einheit des Gesetzes“. Das österreichische Parentelensystem biete „überdies den kürzesten Ausdruck für eine mathematisch genau erschöpfende Regelung“. Als weiterer „Vorzug“ wurde erwähnt, dass das Parentelensystem sich „an den natürlichen Bau der Familien anschließt, und diesem durch alle seine Haupt- und Nebenäste folgt; daß es dem vermuthlichen Sinne des Erblassers am nächsten komme, und so die Nothwendigkeit der Testamente verringere …; daß damit das Recht der Anwachsung von selbst geordnet sei; daß es sich in einer langen Praxis (Österreich) durch die Abschneidung von Erbschaftsprozessen bewährt; daß es ausgedehnte Nachahmung in der Gesetzgebung …, aber auch überwiegenden Beifall der neueren Wissenschaft gefunden habe …, während darin in der That die uralte deutsche Rechtsordnung, also eine deutsch-nationale Grundlage entdeckt sei.“ Für den „ge-
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Planck bei Schubert, wie Fn. 128, 678. Hierzu Mertens, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das Pflichtteilsrecht, 1970, 44 ff. Der Revisionsentwurf zum ALR von 1835 näherte sich dem österreichischen Recht (vgl. U. Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte, 6. Aufl., Wien 2008, 324 ff.; W. Schubert, bei Schubert/Regge, Quellen zur preußischen Gesetzgebung des 19. Jhdts., Gesetzrevision [1825 – 1848], II. Abt. Bd. 7, 1986, 421 f.). 131 So die Übersicht in der Begründung zum Vorentwurf, bei G. v. Schmitt, hrsg. von W. Schubert, Vorlagen der Redaktoren, Erbrecht, Teil 1, 1984, 681 ff. 132 Hierzu I. Andres, Der Erbrechtsentwurf von Friedrich Mommsen. Ein Beitrag zur Entstehung des BGB, 1996, 242 ff. 133 Schmitt bei Schubert, wie Fn. 131, 573 ff, Zitate 573. 130
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genwärtigen Entwurf“ sei dies alles jedoch nicht ausschlaggebend gewesen134: „Ihm ist nicht jeder der letzterwähnten Vorzüge unzweifelhaft; er glaubt auch nicht jenen folgen zu sollen, welche neue Dinge mit alten Namen schmücken. Klar aber ist, daß das Parentelsystem an Einfachheit und Konsequenz den Vergleich mit dem sächsischen Dreilinien-System nicht zu scheuen hat, und daß seine Ergebnisse die relativ besseren sind. Hierzu trat als entscheidend eine dritte Erwägung. Das Postulat eines deutschen Erbrechts ist einheitliche Regelung für das ganze Reich. Diesem Postulate widerstrebt der bestehende Rechtszustand. Jedes deutsche Land und Ländchen hat seine eigene und eigenthümliche Sukzessionsordnung. Schwerlich wird man behaupten können, diese Verschiedenheit beruhe weniger auf den realen Unterlagen der Individualität, des Rechtsbewußtseins, der Art des Volkslebens, als auf der Macht einer gedankenlos fortgeschleppten Gewohnheit und ererbter Überlieferung.“ Die 1. BGB-Kommission entschied sich schon 1875 grundsätzlich für das Parentelensystem, und zwar mit 8 gegen 3 Stimmen auch dafür135, in der 2. Erbfolgeklasse „mit dem Referenten die österreichische Parentelen-Erbfolge im Gesetze zur Geltung zu bringen“, so dass auch für das Eintrittsrecht keine Beschränkung bestand136. Allerdings konnte sich Schmitt mit dem Vorschlag, auch in der 3. Parentel das System rein durchzuführen, nicht durchsetzen. Mit 6 gegen 5 Stimmen sollte vielmehr für die 3. und die folgenden Klassen die Regelung des bayerischen Entwurfs von 1856 gelten, wonach innerhalb der Parentel allein die Gradesnähe über die Berufung zur Erbfolge entscheiden sollte. – Zu den Hauptberatungen im Januar 1887 lagen zwei Anträge vor, das Parentelensystem auch in der 3. Ordnung durchführen137. Nach längerer Diskussion lehnte die 1. Kommission es jedoch ab, von den Beschlüssen der Vorberatungen abzugehen. In den Schriften zum 1. BGB-Entwurf fand die Entscheidung der 1. Kommission fast allgemeinen Anklang138. Gierke wies darauf hin, dass der Entwurf eine wesentliche Vereinfachung des Rechtsstoffes bringe und es sich insoweit dabei um eine Rechtsbildung handele, die der Sippengliederung entspreche, bemängelte jedoch, dass nach den Motiven gerade dieser Gesichtspunkt nicht die ausschlaggebende Rolle gespielt habe. Kritisiert wurde wiederholt, dass der Entwurf bereits für die 3. Ordnung das reine Parentelensystem verlassen habe139. Zu den Beratungen der 2. Kommission lagen drei Anträge vor140, in der 3. Parentel das System wieder rein durchzuführen. Die Mehrheit folgte dem ohne längere Debatte, da sie die wirtschaft134
Schmitt bei Schubert, wie Fn. 131, 690. Das folgende nach dem Kommissionsprotokoll vom 22. 10. 1875 (H.H. Jakobs/W. Schubert, Beratung des BGB, Erbrecht, Berlin 2002, 23 f. 136 Hierzu das Protokoll vom 22.10.1875. 137 Vgl. Mertens, wie Fn. 130, 50. 138 O. Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889, 529 ff. 139 Vgl. Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines BGB, gefertigt im Reichs-Justizamt, Bd. V, 1890, 74 ff. 140 Prot. II, Bd. 5, 467 ff (Anträge von Börner, Rüger und v. Cuny). 135
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lichen Gefahren einer Zersplitterung für nicht übermäßig groß hielt. Daneben lehnte sie es entgegen einem Antrag ab, das Parentelensystem auch in der 4. Klasse rein durchzuführen. Die wegweisende Bedeutung für die wissenschaftliche Annäherung zwischen dem österreichischen und deutschen Recht auf dem Gebiet der gesetzlichen Erbfolge dürfte nur Leonhard damals in vollem Umfang in seinem bereits erwähnten Vortrag von 1901 erkannt haben. Zunächst setzte er sich mit dem Hinweis der Motive141 auseinander, dass sich das System in Österreich durch die Abschneidung von Erbschaftsprozessen bewährt habe, jedoch dort ausdrücklich abgelehnt worden sei, dass dieser Grund den Ausschlag für den deutschen Gesetzgeber gegeben habe. Damit sei aber nur bestritten142, „daß es gerade der erwähnte Vorteil war, der das österreichische System empfahl, nicht aber daß dieses System ein Vorbild war, dem man folgen wollte, obwohl seine Grundgedanken im Deutschen Reiche bisher nur in einem Theile Bayerns und Schleswig-Holsteins in Geltung standen“. Im Übrigen erschien es ihm aber „überaus bedenklich, in dem österreichischen und dem ihm nachgebildeten neudeutschen Rechte nur ein Abbild des altgermanischen sehen zu wollen und in seiner Aufnahme eine Reception aus der Tiefe der deutschen Vergangenheit zu erblicken“. Vielmehr stellte er als seine Meinung heraus143, dass die Erbfolgeordnung Österreichs „eine eigenartige Frucht der Naturrechtsschule ist, deren Gedanken in Anschauungen der neueren Zeit wurzeln, daß sie also nicht altgermanisch, sondern modern ist. Und eben darum, weil nicht in erster Linie die Nationalität ihre Eigenart aufgeprägt hat, sondern die Entstehungszeit, deshalb hat sie in derselben deutschen Nationalität nicht völlig Stand gehalten; denn wir finden im deutschen BGB nicht ihr getreues Abbild, sondern eine umgeänderte Nachbildung.“144 Im einzelnen stellte er die Grundlagen der österreichischen Entscheidung für das Parentelensystem anhand der Entstehungsgeschichte dieser Kodifikation detailliert heraus und kam zu dem Ergebnis, das ABGB habe den Linealgedanken zu sehr verallgemeinert, während das BGB die Rückkehr zum „Linealgradualgedanken“ nicht allgemein genug gefasst habe. An den „Schaden der Gesamtheit, an die Zersplitterung organisierter Vermögensmassen“ habe man in Österreich leider „nicht gedacht“145. Aber immerhin sei das BGB „wenigstens bei entfernteren Seitenverwandten von der Linealstammeserbfolge zur linealgradualen zurückgekehrt“146. In dieser Abweichung erblickte Leonhard „den Einfluß der letzten hundert Jahre, die Steigerung des Volkswohlstandes, eine größere Härte gegen individuelle Leiden und eine bessere Einsicht in volkswirthschaftliche Gesammtbedürfnisse“. Endlich wies Leonhard noch darauf hin, dass das deutsche Recht „in dem Rechte der sogenannten lachenden Erben“ (keine Beschrän141 142 143 144 145 146
Motive zum 2. BGB-Entwurf, 1888, Bd. 5, 356. Leonhard, wie Fn. 99, 229. Leonhard, wie Fn. 99, 235. Leonhard, wie Fn. 99, 235. Leonhard, wie Fn. 99, 256. Leonhard, wie Fn. 99, 257.
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kung der Parentelenerbfolge) vom österreichischen Vorbild abgewichen sei147. Das ABGB beschränke das Erbrecht auf eine gewisse Zahl von Parentelen, nämlich auf die 6. Parentel, die der dritten Urgroßeltern. Etwas Ähnliches habe man auch in Deutschland gewollt, allein der Reichstag habe dies nicht zugegeben. Übereinstimmung zwischen dem BGB und dem ABGB besteht auch in der Entscheidung der 1. BGB-Kommission, den Pflichtteilsanspruch als „Werterstattungsanspruch“ nur obligatorisch auszugestalten. Hier wiesen die Motive Schmitts darauf hin, dass die Auffassung des Pflichtteils als „Werthsanspruch im österreichischen Rechte“ unbestritten sei148. Dagegen sei sehr streitig, ob das preußische ALR auf demselben Boden stehe. Bei den Kommissionsberatungen spielte die österreichische Regelung, und zwar auch in den Details, jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Auch in einer dritten Hinsicht besteht eine wichtige Übereinstimmung zwischen dem ABGB und dem BGB, nämlich in der Zulassung des eigenhändigen Testaments. Schmitt wies in seiner Begründung zum Vorentwurf darauf hin, dass neben dem französischen Recht „zugleich“ das ABGB in § 578 das Privattestament „ohne Zeugenzuziehung in Urkundsform, und zwar in Holographenform“ gestatte149. Das ABGB und der Code civil verlangten „mehr nicht, als eine vom Testator eigenhändig geschriebene und unterschriebene Urkunde“. Außer der 1. BGB-Kommission lehnte auch die 2. Kommission diese Testamentsform ab150, obwohl in der Kritik zum 1. BGB-Entwurf verschiedentlich die Übernahme des eigenhändigen Testaments gefordert wurde151, und zwar auch unter Hinweis auf das österreichische Recht. Erst der Reichstag ließ das handschriftliche Testament besonders mit Rücksicht auf die französisch-rechtlichen Gebiete Deutschlands zu;152 dabei spielte auch das österreichische Recht eine gewisse Nebenrolle. Im Kommentar von Planck ist ausdrücklich auf die Geltung des eigenhändigen Testaments auch in Österreich hingewiesen153. Nur sehr geringen Einfluss auf die Endfassung des BGB hatten die österreichischen Juristen mit ihren zahlreichen Kritiken am 1. BGB-Entwurf154. Ein Großteil
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Leonhard, wie Fn. 99, 258. Schmitt bei Schubert, wie Fn. 131, 653; zum folgenden Motive zum Entwurf eines BGB, 1888, Bd. 5, 386. 149 Schmitt bei Schubert, wie Fn. 131, 517, 518. 150 Prot. II, Bd. 5, 326 ff. 151 Zusammenstellung (wie Fn. 139), 49 (u. a. Menger). 152 Kommissionsbericht, in: Sten. Berichte der Session 1894 – 97 des RT, Bd. 3 der Drucksachen, 2007 ff, 2103 f; Plenum, in: Sten. Berichte der Session 1894 – 97 des RT, Bd. 4, 3007 ff. 153 G. Planck, BGB nebst Einführungsgesetz, 3. Aufl. Bd. 5, 1908, 613. 154 Die Stellungnahme der österreichischen Juristen zum 1. BGB-Entwurf lassen sich leicht ermitteln anhand des Verzeichnisses der gutachtl. Äußerungen in Band 6 der Zusammenstellung, 675 ff, und den Nachträgen bei H.H. Jakobs/W. Schubert, Beratung des BGB, Allg. Teil, Bd. 2, 1985, 13, 88 ff. 148
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ihrer Vorschläge bezog sich nicht auf Regelungen des ABGB, vor allem nicht die sozialkritischen Schriften von Menger und Eugen Ehrlich155. In seinem Aufsatz: „Rechtsübertragung und Kausalgeschäft im Hinblick auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich“156 ging Strohal außer auf das französische und preußische Recht auch auf das ABGB ein. Nach Strohal widersprach die vollständige Unabhängigkeit des Rechtsübertragungseffektes von der Gültigkeit des Kausalgeschäfts dem deutschen Rechtsbewusstsein. Die dem § 874 E I entsprechende Bestimmung sollte vielmehr lauten:157 „Zur freiwilligen Übertragung des Eigenthumes an einer beweglichen Sache ist die auf Grund oder in Verbindung mit der Einigung über den Rechtsgrund hierzu erfolgende Besitzübergabe erforderlich.“ Daneben sollte eine ausdrückliche Abstraktion der causa unter bestimmten Voraussetzungen gestattet sein. Dagegen waren seine Vorschläge zum Besitzrecht nicht vom österreichischen Recht beeinflusst158. Österreichische Regelungen, die allerdings nicht immer ausdrücklich aufgeführt wurden, standen teilweise hinter seinen Vorschlägen zum Verschollenheitsrecht, zum Pfandrecht und zur Ersitzung159. Unger trat in seinem Aufsatz: „Die Einrede der Vorausklage und der Begriff der Bürgschaft im Deutschen Entwurfe“160 entsprechend dem Vorbild der §§ 1346, 1355 und 1356 ABGB für die Abschaffung der Einrede der Vorausklage ein. Denn nach ihm sollte der Gläubiger den Bürgen in Anspruch nehmen dürfen, wenn die Erfüllung der Hauptverbindlichkeit trotz vorgängiger Aufforderung oder Anmahnung des Schuldners durch den Gläubiger unterblieben war. Die Bürgschaft sei nach deutscher und moderner Anschauung begrifflich und von vornherein eine bedingte und subsidiäre. Der Bürge verpflichte sich nicht für den Fall, dass der Schuldner nicht leisten könne, andererseits aber müsse es feststehen, dass der Schuldner in der Tat nicht leiste. Der Gläubiger müsse daher den Schuldner zur Leistung auffordern, ehe er den Bürgen in Anspruch nehmen könne. Der Gläubiger, welcher den Bürgen belange, klage somit aus einem bedingten Leistungsversprechen; er müsse daher in der Klage behaupten und nötigenfalls beweisen, dass er den Schuldner vergeblich zur Erfüllung aufgefordert habe. Die Rechtswohltat der Vorausklage führe zu einer nicht zu rechtfertigenden Härte gegen den Gläubiger. In Österreich habe die Beseitigung der Einrede „sich anstandslos und ohne Nachtheil vollzogen“: „Insbesondere seien dort auch für solche Fälle, in welchen jemand sich aus Freundschaft, Verwandtschaft oder Gefälligkeit verbürge und es demselben peinlich sei, wenn er den Gläubiger befriedigen müßte 155 Vgl. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890; E. Ehrlich, Der Entwurf eines BGB und die sozialpolitischen Bestrebungen der Gegenwart, in: Unsere Zeit, 1890, 2. Quartal, 21 ff. 156 Strohal, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 27 (1889), hrsg. von H. v. Ihering, 335 ff. 157 Strohal, wie Fn. 156, 397. 158 Vgl. Strohal, in: Iherings Jahrbücher 29 (1890), 336 ff. 159 Strohal, in: Iherings Jahrbücher 30 (1891), 144 ff., insb. 144 ff., 164 ff. 160 Unger, in: Iherings Jahrbücher 29 (1890), 1 ff.
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und dann seinerseits die Regreßklage gegen den Schuldner anstellen sollte, Beschwerden nicht laut geworden. Einer solchen Konstellation könne der Bürge gleich dadurch ausweichen, daß er sich nur für den Fall verbürge, wenn der Gläubiger vom Schuldner Befriedigung nicht zu erlangen vermöge.“161 In der 2. BGB-Kommission stellte Jacubezky den dem österreichischen Recht entsprechenden Antrag162 : „Der Bürge ist berechtigt, die Erfüllung seiner Verbindlichkeit solange zu verweigern, bis der Gläubiger den Hauptschuldner zur Erfüllung aufgefordert hat und nach der Aufforderung eine angemessene Frist zur Bewirkung der Leistung abgelaufen ist“, der jedoch von der 2. Kommission abgelehnt wurde. In seinem Gutachten über: „Soll an Stelle der väterlichen Gewalt eine (der Mutter subsidiär zustehende) elterliche Gewalt im bürgerlichen Gesetzbuche aufgenommen werden und mit welchen Modalitäten?“163 ging Ludwig Pfaff aus Wien wiederholt auf das österreichische Recht ein. Gegenüber dem ABGB bezeichnete er die Verbindung eines elterlichen Nutznießungsrechts am Kindergut mit der elterlichen Gewalt gegenüber dem österreichischen Recht als Vorzug164. Kritisiert wurde von ihm die Fassung des § 1501 Abs. 2 E I: „Die elterliche Gewalt steht dem Vater und nach dessen Tode der Mutter zu.“ Die Fälle, in denen nach dem Entwurf die Mutter schon während bestehender Ehe neben dem Vater alle Rechte der elterlichen Gewalt auszuüben berufen sei165, seien „viel zu zahlreich und gewichtig, als daß es gerechtfertigt erscheine, die elterliche Gewalt der Mutter von vornherein, wie dies durch die Formulierung des § 1501 Abs. 2 geschehe, als etwas nur subsidiär Eintretendes hinzustellen. Eine Fassung, welche zum Ausdruck bringe, daß auch die Mutter schon während der Ehe Mitträgerin der elterlichen Gewalt sei, würde nicht allein dem Inhalte der Rechtssätze des Entwurfs besser entsprechen, sondern auch die Stellung und Autorität der Mutter gegenüber den Kindern heben, ohne andererseits die des Vaters abzuschwächen …“. Diese Wünsche stimmten im Wesentlichen mit §§ 139 ff. ABGB überein. Die Regelung des § 1538 E I wurde dagegen von ihm gebilligt166. Die Kritik Ungers an den § 98 ff. E I (grundsätzliche Nichtigkeit einer Willenserklärung nach der Willenstheorie bei einem rechtlich relevanten Irrtum)167 war vom österreichischen Recht allenfalls mittelbar beeinflusst. Dagegen kritisierte Ofner 1890 die §§ 98 ff. E I von der Sicht des österreichischen Rechts168. Die §§ 875, 876 ABGB hätten sich vollständig bewährt. Man solle sich nicht in der Überzeugung 161 So die Zusammenfassung in der „Zusammenstellung“ für die 2. BGB-Kommission, Bd. V, 366. 162 Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, Recht der Schuldverhältnisse, 492. 163 Verh. des 19. DJT von 1889, Gutachtenband 2, 1889, 153 ff. 164 Vgl. § 1649 BGB gegenüber § 149 ff ABGB. 165 So die für den deutschen Gesetzgeber bestimmte Zusammenfassung in Zusst. Bd. IV, 382. – § 1501 Abs. 2 E I ist in das BGB nicht übernommen worden (vgl. §§ 1501, 1502 BGB). 166 Diese Bestimmung (vgl. § 1687 BGB) betraf die Bestellung eines Beistandes für die Mutter durch das Vormundschaftsgericht. 167 Unger, in: Grünhuts Zeitschrift 16 (1889), 687 ff. 168 Ofner, in: Grünhuts Zeitschrift 17 (1890), 31 ff.
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beirren lassen169, dass „die Annahme der Giltigkeit des Rechtsgeschäftes eine bessere, leichtere, einfachere, der redlichen Vertragspartei vortheilhaftere Form zur Regelung des Schadensersatzes ist“. Als verfehlt bezeichnete er unter Berufung auf Zeiller die Unterscheidung zwischen grober und einfacher Fahrlässigkeit für die Frage, inwieweit eine irrtümliche Willenserklärung unwirksam oder gültig sein sollte170. Die 2. BGB-Kommission ist den Wünschen Ofners gefolgt, ohne dass allerdings seine Kritik die in erster Linie maßgebende gewesen sein dürfte171. 3. Die Rechtsvereinheitlichungsdiskussion von 1938 – 1944 im Allgemeinen Die Forderung nach einer einheitlichen Wirtschaftspolitik zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, die bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs aufkam, führte bereits im Herbst 1914 dazu, ein einheitliches Handels- und Wirtschaftsrecht zu verlangen172. Jedoch erst Anfang 1916 wurde diese Frage intensiver diskutiert, zunächst von den Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, dann von der ständigen Deputation des DJT (8. 4. 1916) und von dem Ausschuss für Recht und Rechtspflege der Reichsdeutschen Waffenbrüderlichen Vereinigung. Im Mittelpunkt der Diskussion und der gemeinsamen Arbeiten stand seit 1920 die Vereinheitlichung des Strafrechts173, des Vergleichs- und Konkursrechts sowie des Urheberrechts. Der fast gleichlautende gemeinschaftliche Entwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch von 1927 wurde zwischen 1927 und 1930 von einer deutsch-österreichischen Parlamentarierkommission beraten174. Noch am 6./7. Dezember 1932 fand eine Rechtsangleichungstagung der Rechtsausschüsse der deutsch-österreichischen und der österreichisch-deutschen Arbeitsgemeinschaft in Wien statt175 mit zahlreichen Referaten über Fragen des Verfahrensrechts, des öffentlichen und des Strafrechts. Nicht in Angriff genommen wurde in der Weimarer Zeit eine (Teil-)Vereinheitlichung des allgemeinen bürgerlichen Rechts. 169
Ofner, wie Fn. 168, 340. Im 1. BGB-Entwurf war diese Regelung in § 99 Abs. 1: „Die nach den Vorschriften des § 98 für nichtig zu erachtende Willenserklärung ist gültig, wenn dem Urheber derselben grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt“ enthalten. 171 Zu den Beratungen in der 2. BGB-Kommission Prot. II, Bd. 1, 102 ff und Jakobs/ Schubert, Beratung, Allg. Teil, 1985, 628 ff. 172 Zur Deutsch-österreichischen Rechtsangleichung allgemein vgl. die Nachweise in Fn. 102, 105. 173 Hierzu bereits Graf Gleispach, in: DStrZ 1916, 107 (über ihn W. Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, I. Abt., Bd. 2, 1, 1988, XXVII f); vgl. ferner Ebermayer, in: LZ 1916, 1393; Kahl, in: DStrZ 1916, 275 ff. 174 Prot. bei W. Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Abt. I, Bd. 3,1, 1995, 587 ff. 175 Hierzu der Tagungsband: Rechtsangleichungstagung der Rechtsausschüsse der Deutsch-Österreichischen und der Österreichisch-Deutschen Arbeitsgemeinschaft, 6. und 7. 12. 1932, Berlin (o. J.), vgl. auch Festl-Wietek, wie Fn. 102, 240 ff; Garscha, wie Fn. 105, 272 f. 170
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Mit Beginn der NS-Zeit wurden die offiziellen Kontakte der deutschen Institutionen mit den österreichischen Ministerialbeamten abgebrochen. Die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Österreich und dem nationalsozialistischen Deutschland machten eine Fortführung der bisherigen Aktivitäten unmöglich, obwohl die deutsch-österreichische Arbeitsgemeinschaft mehrmals die Initiative hierzu ergriff.176 Das Verbot der NSDAP in Österreich schloss direkte Verbindungen der Akademie für Deutsches Recht mit Österreich aus. In den Beratungen der Akademieausschüsse spielte das österreichische Recht lediglich im Rahmen der Rechtsvergleichung eine Rolle. 1937 erinnerte W. Becker (Halle) in „Deutschlands Erneuerung“ an die Rechtsangleichung in Österreich und Deutschland177. Bereits kurz nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich fand im Wiener Justizministerium am 16./17. 3. 1938 eine Konferenz Gürtners, Schlegelbergers und anderer Beamten des Reichsjustizministeriums mit den Spitzenbeamten des österreichischen Justizministeriums über Fragen der Rechtsvereinheitlichung statt178. Eine Einführung des BGB in Österreich kam schon deswegen nicht in Betracht, da nach der Heidelberger Rede von Schlegelberger179 im Reichsjustizministerium zumindest nach außen hin die Absicht bestand, das BGB durch Teilkodifikationen zu ersetzen. In der Konferenz vom 17. 3. 1938 wies das Reichsjustizministerium (RJM) darauf hin, dass vorbereitet seien ein Ehegesetz, ein Gesetz über die nichtehelichen Kinder, eine Schadensordnung und eine allgemeine Vertragsordnung180. – Während das Ehegesetz noch ohne Anhörung österreichischer Juristen zustande kam, war an den Referentenbesprechungen zum Testamentsgesetz bereits das ehemalige österreichische Justizministerium beteiligt. Das gleiche gilt für die geplanten Gesetze zur Reform des Nichtehelichenrechts und des Rechts der gesetzlichen Erbfolge. Noch im März 1938 nahm sich die Akademie für Deutsches Rechts (ADR) der Rechtsvereinheitlichung an. In einem Rundschreiben von Emge an die Ausschussvorsitzenden heißt es u. a.181, es gelte mit Hilfe der bewährten Methoden der Ausschussarbeiten mitzuwirken an der beschleunigten Angleichung des Rechtszustandes Österreichs an das nationalsozialistische deutsche Recht. Die Ausschussvorsitzenden wurden gebeten, „in der nächsten Zeit bei ihren Arbeiten die hierdurch entstehenden Probleme in den Vordergrund zu rücken und unverzüglich zu prüfen, inwieweit die Aka176
Vgl. Festl-Wietek, wie Fn. 102, 289 ff, 292 ff. Becker, in: Deutschlands Erneuerung, 1937, 289 ff. 178 Hierzu die Akte des Österr. Justizministeriums, Nr. 1817 im Österreich. Staatsarchiv Wien (Allg. Verwaltungsarchiv). 179 Veröffentlicht von F. Schlegelberger unter dem Titel: Abschied vom BGB, 1937; hierzu Hattenhauer, in: FS für R. Gmür, 1983, 266 ff. 180 Teilentwürfe zu den beiden zuletzt genannten Ordnungen sind nicht überliefert und wohl auch nicht zu den Akten des Reichsjustizministeriums genommen worden. – Zur Entstehung des im Folgenden genannten Testamentsgesetzes Gruchmann, in: ZNR 1985, 53 ff.; insb. 55 zur Kritik Hitlers an den strengen Formbestimmungen des BGB für das eigenhändige Testament. 181 Teilweise wiedergegeben in einem Ausschussprotokoll (30. 3. 1938) bei W. Schubert, wie Fn. 115, Bd. III 4, 51. Emge war zu dieser Zeit stellvertretender Präsident der ADR. 177
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demie in ihren Ausschüssen zur beschleunigen Herbeiführung der Rechtseinheit Beiträge zu leisten in der Lage sei“. Soweit österreichische Juristen zur Rechtsvereinheitlichung182 Stellung nahmen, wurde immer wieder die Berücksichtigung des österreichischen Rechts verlangt. „Die Rechtsangleichung“183, so Hueber am 1. April 1938 in der ZADR, „wird stufenweise unter Erhaltung der wertvollen Bestandteile des österreichischen Rechts durchgeführt werden. Die Rechtsvereinheitlichung kann nicht in der Weise geschehen, daß das im bisherigen Deutschen Reich geltende Recht einfach in seiner Gesamtheit für Österreich als anwendbar erklärt wird. Ein solcher Vorgang würde für das Rechtsleben im Lande Österreich zum Teil sogar einen Rückschlag bedeuten, denn das österreichische Recht hat auch in der Zeit vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus in großem Umfang den Zusammenhang mit dem Rechtsgefühl des Volkes und dem alten deutschen Recht gewahrt. Das österreichische Recht ist nicht im gleichen Maße wie das reichsdeutsche Recht der Systemzeit blutsfremden liberalistischen Einflüssen zugänglich gewesen.“ Soweit es sich um erst zu schaffendes neues Recht handle184, sei es naheliegend, „daß das deutsche Land Österreich seinen Anteil an der schöpferischen Arbeit nimmt und seine reiche Erfahrung zur Verfügung stellt. Die in gemeinsamer Arbeit entstandenen Gesetze können dann gleich für das ganze Deutsche Reich in Kraft treten.“ Auf diesen Gebieten werde daher bald zwischen dem Land Österreich und den übrigen Teilen des Reichs vollkommene Übereinstimmung herrschen und diese in dem einheitlichen Wortlaut der Gesetze Ausdruck finden. Die schon vor der Wiedervereinigung mit Österreich in Deutschland in Angriff genommene schrittweise Erneuerung des bürgerlichen Rechts gebe die Möglichkeit, „die Änderung und Angleichung der Rechtslage in Österreich so durchzuführen, daß das Rechts- und Wirtschaftsleben nicht empfindlich gestört und allen
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Hierzu allgemein S. Bielefeldt, Die deutsch-österreichische Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiete des Privatrechts von 1938 – 1945, Diss. iur. Kiel 1989, 5 ff., 145 ff.; publ. 1996 unter dem Titel: „Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen II“. 183 ZADR 1938, 220, das folgende Zitat 221. Franz Hueber war österreichischer Justizminister und wurde in das Reichsjustizministerium als Unterstaatssekretär übernommen, zugleich Mitglied der ADR. Hueber 1894 – 1981) war nach dem Ersten Weltkrieg Notar, Mitglied der Völkischen Turnerschaft, Gauführer/Landesführer der österreichischen Heimwehrbewegung. Ende 1930 und von März 1938 bis April 1939 österreichischer Justizminister, anschließend Unterstaatssekretär im Reichsjustizministerium; 1942 – 1945 Präsident des Reichsverwaltungsgerichts. 1945 – 1947 Lagerhaft, 1948 zu Kerker verurteilt, Dez. 1950 entlassen, danach als Kaufmann tätig (vgl. Michaelis/Schraepler, Ursachen und Folgen, Biographisches Register, Teil 1, [1979], 314 ff). 184 Ähnlich Hueber, in: DR (Wiener Ausgabe) 1939, 241: Das ABGB stamme zwar aus dem Jahre 1811, sei „also schon über reichlich hundert Jahre alt, ist aber ein ausgezeichnetes und nach einigen Novellen auch heute durchaus auf der Höhe der Zeit stehendes Werk. Es stammt nicht aus der liberalen Zeit und ist daher mit deren grundsätzlichen Mängeln nicht behaftet. So alt das Gesetz auch ist und so sehr die Zeit, aus der es stammt, verschieden ist von der heutigen, so trägt es doch unverkennbar das Gepräge einer autoritären Zeit, in der der Gesetzgeber von einer unbestreitbar hohen Warte die bürgerlichen Rechtsverhältnisse der Staatsbürger regelte.“
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Teilen der Bevölkerung Gelegenheit gegeben wird, sich mit der neuen Rechtsordnung vertraut zu machen.“ Schönbauer wies auf der 5. Jahrestagung der ADR vom 16.–18. 6. 1938 darauf hin185, dass das ABGB ein „ehrwürdiges Alter“ aufweise und wie das österreichische Strafgesetzbuch unter dem Einfluss naturrechtlicher Theorien entstanden sei: „Auf diese Weise fanden zahlreiche deutschrechtliche Gedanken Eingang in das Gesetzeswerk. Seine weitgehenden Generalklauseln machen es schon heute möglich, das Gesetz im nationalsozialistischen Sinne auszulegen und anzuwenden. Aber neben den aus natürlichen Rechtsgrundsätzen gewonnenen Bestimmungen stehen Vorschriften, die dringend der Abänderung bedürfen.“ Die Rede Gürtners auf dieser Jahrestagung wurde in der ZADR wie folgt zusammengefasst186 : „Dr. Gürtner behandelte die österreichische Rechtsangleichung und legte besonderen Wert darauf, seinen Hörern die Werkstatt zu zeigen, in der an der Vereinheitlichung des Rechts gearbeitet wird. Von vornherein lehnte er die Erwägung ab, das geltende Reichsrecht en bloc auf die Ostmark zu übertragen. Die alte und großenteils auch heute noch vorbildliche Rechtstradition Österreichs läßt diesen Gedanken absurd erscheinen.“ Hingegen sei die Frage, ob Teile des geltenden Reichsrechts ohne weiteres übernommen werden könnten, bejahend zu beantworten. In der DJ kann man weiter über die Rede von Gürtner lesen187: „Es sei kein ungepflügter Boden des Rechts, den wir in Österreich vorfinden. Vielmehr sei die Rechtserneuerung in Österreich das Ergebnis einer Jahrhunderte alten, höchst wertvollen Tradition. Bei seinem letzten großen Besuch in Österreich habe er selbst feststellen können, wie groß der Stolz auf die Rechtstradition dort sei. Es sei aber auch nicht nötig, daß das Recht des alten Reichs auf Österreich überführt werde. Auf manchen Gebieten sei uns das österreichische Recht Vorbild gewesen und auf manchen anderen werde es uns Vorbild werden. Der Gesetzgeber werde an der volkstümlichen Sprache der österreichischen Gesetze viel zu lernen haben. Aus dieser Erkenntnis zog der Minister die Schlußfolgerung, daß eine Übernahme etwa des gesamten geltenden Reichsrechts auf Österreich nicht in Frage komme.“ Kurze Zeit später wies Hueber in der DJ erneut darauf hin188, dass eine Übernahme des BGB in Österreich ausgeschlossen sei: Das BGB sei „nach den Worten eines bedeutenden Rechtsgelehrten“ unserer Zeit „in seiner Anlage viel römischer gedacht als das unter dem Einfluß Kants auf durchaus neuen Grundlagen aufgebaute österreichische Gesetzbuch“ und überdies reformbedürftig. Das sei im Altreich, wo mit den Reformarbeiten bereits begonnen worden sei, seit langem erkannt worden: Ein Gesetzbuch, das so sehr im Umbau begriffen sei, zu übernehmen, sei „um so weniger wünschenswert“, als wir in unserem ABGB ein Privatrecht besitzen, „das zwar im Laufe einer mehr als hundertjährigen Geltung infolge der vielfach geänderten Verhältnisse ZADR 1938, 457 f. Über Schönbauers Stellung in der Wiener jur. Fakultät vgl. Rathkolb, in: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 – 1945, 1989, 197 ff., insb. 200 ff. 186 ZADR 1938, 458. 187 DJ 1938, 1001. 188 DJ 1938, 1168 f. 185
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viel von seinem strahlenden Glanz eingebüßt hat, im großen und ganzen aber, wenn man von Teilgebieten des Eherechts absieht, noch immer ein Gesetzgebungswerk darstellt, mit dem unsere Rechtsprechung mit jener verständnisvollen Gesetzesauslegung, die sie immer ausgezeichnet hat, alle Schwierigkeiten zu meistern in der Lage ist.“ Im schuldrechtlichen Ausschuss der ADR hatte Hedemann bereits am 2. April 1938 einen Überblick über Entstehung, Gehalt und Inhalt des ABGB gegeben189. Am Anfang gestand er190, „daß dieses österreichische bürgerliche Gesetzbuch wirklich gute Qualitäten in sich trägt, namentlich der menschliche Akzent ist an vielen Stellen in so ansprechender Weise zu fühlen, daß ich immer wieder mit Liebe zu diesem Gesetzbuch gegriffen habe“. Als erstes befasste sich Hedemann mit den Einleitungsbestimmungen des ABGB, zunächst mit den §§ 2 und 9, sodann den §§ 7 und 12, welch letzterer den Präjudiziengeist ablehne, was auch „bei uns in Deutschland mindestens wellenartig eine große Rolle gespielt hat“191. Aus dem Personenrecht stellte Hedemann § 16192 heraus, bei dem der Befreiungsgeist des 18. Jahrhunderts und der natürliche Charakter spürbar seien. Dann kam er auf § 44: „Die Familienverhältnisse werden durch den Ehevertrag gegründet.“ Man habe sich nicht gescheut, hier die Formel „Vertrag“ zu wählen193. Die Männer von 1700 und 1800 hätten „eben den Vertrag ganz anders gesehen, als wir ihn jetzt schauen, wenn wir den Vertrag so kritisieren. Vertrag war das gegebene Wort beim Eheschluß: Willst du mein sein, will ich dein sein. So ist das auch hier gemeint.“ § 44 fahre dann fort: „In dem Ehevertrag erklären zwei Personen verschiedenen Geschlechtes gesetzmäßig ihren Willen, in unzertrennlicher Gemeinschaft zu leben, Kinder zu zeugen, sie zu erziehen, und sich gegenseitig Beistand zu leisten.“ „Zweifellos eine ansprechende und schöne Beschreibung des Sinnes der Ehe.“ In § 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie. In dieser Eigenschaft steht ihm vorzüglich das Recht zu, das Hauswesen zu leiten; es liegt ihm aber auch die Verbindlichkeit ob, der Ehegattin nach seinem Vermögen den anständigen Unterhalt zu verschaffen, und sie in allen Vorfällen zu vertreten.“ hatte die Sprache für Hedemann „etwas außerordentlich Gewinnendes“:194 „Sie ist so schön und volkstümlich, daß man hier eher etwas lernen kann, als daß man einen Verzicht leisten müßte.“ Als „sehr schön“ bezeichnete er die Erziehungspflicht der Eltern nach § 139195: „Die Eltern haben überhaupt die Verbindlichkeit, ihre ehelichen Kinder zu erziehen, das ist, für ihr Leben und ihre Gesundheit zu sorgen, ihnen den anständigen Unterhalt zu ver189
Wiedergegeben bei W. Schubert, Akademie, Bd. III 4, 1992, 205 ff. Schubert, wie Fn. 189, 205. 191 Schubert, wie Fn. 189, 210. 192 Diese Bestimmung lautet: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht, wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ 193 Schubert, wie Fn. 189, 211 f. 194 Ebda, 212. 195 Ebda, 213. 190
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schaffen, ihre körperlichen und Geisteskräfte zu entwickeln, und durch Unterricht in der Religion und den nützlichen Kenntnissen den Grund zu ihrer künftigen Wohlfahrt zu legen.“ Bei den unehelichen Kindern fehle die „berüchtigte“ exceptio plurium196. Auch die österreichische Lösung sei bei den Beratungen der Akademie immer wieder als eine sehr wichtige Möglichkeit herangezogen worden197. Weiter stellte Hedemann den weiten Eigentumsbegriff in § 353 ABGB heraus198, ferner § 354: „Als ein Recht betrachtet, ist Eigentum das Befugnis, mit der Substanz und den Nutzungen einer Sache nach Willkür zu schalten, und jeden Andern davon auszuschließen.“ Den Ausdruck „Willkür“ habe man offenbar in den 1. BGB-Entwurf übernommen, dann aber im Reichstag durch „nach Belieben“ ersetzt199. Ober- und Untereigentum seien im ABGB in § 357 behandelt, eine Möglichkeit, die auch in Deutschland wieder diskutiert werde. Den Grundbuchapparat bezeichnete er als „sehr sorgfältig“ ausgearbeitet200. Besonders fortschrittlich seien die Österreicher gewesen, indem sie mit Kartotheken arbeiteten, „um die Auswechselungen im Hypothekenrecht in gangbarer Form darzustellen“. Da es gelungen sei, das bayerische, sächsische und rheinische Grundbuchrecht mit dem preußischen unter einen Hut zu bringen, werde es keine Schwierigkeiten machen, den österreichischen Grundbuchapparat an den Reichsgrundbuchapparat anzuschließen. Für das Erbrecht stellte Hedemann in der „Gesamtstruktur“ keine schwerwiegenden Unterschiede fest201. In § 578 ABGB (keine zwingende Ortsangabe) sei es der „patriarchalische Geist, der uns ja auch bei vielen Bestimmungen des preußischen Landrechts entgegentritt und der hier geradezu in rührender Weise zum Ausdruck kommt. Es wird klar gesagt: Wir müssen zwischen juristischen Erfordernissen unterscheiden, wir dürfen nicht zu streng sein, aber schreibt lieber Ort und Datum mit hinzu, sonst weiß man nicht genau, wann es (das Testament) errichtet ist, welches von zweien das ältere ist usw.“ Für das Schuldrecht wies er auf die Rezeption von Regelungen des BGB durch die Novellen hin. Zum Abschluss zitierte Hedemann aus einem Brief von Schönbauer202 : „Die Rechtsangleichung verlangt viel Arbeit und behutsames Fortschreiten. Wir österreichischen Rechtslehrer bitten schon heute, Ihre gewichtige Stimme dafür zu erheben, daß kein wertvoller Teil unseres Rechts verlorengeht, sondern aus der gemeinsamen Arbeit neue schöne Gesetzeswerke entstehen.“ In Anwesenheit Franks und des RJM-Beauftragten Hueber hielt die ADR am 1. 6. 1938 eine Festveranstaltung in der Universität Wien ab. In seiner Rede hob Frank her196
Ebda, 213 (hier missverständlich formuliert). Vgl. Schubert (Hrsg.), Akademie, Bd. III 2, 1989, 621 f. – Auch in der Weimarer Zeit hat die österreichische Lösung eine gewisse Rolle gespielt (vgl. W. Schubert, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, 1986, 40 ff). 198 Schubert, wie Fn. 189, 214. 199 Ebda, 214. 200 Ebda, 215; hieraus auch die folgenden Zitate. 201 Ebda, 215 f; hieraus auch die folgenden Zitate. 202 Ebda, 219. 197
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vor,203 „daß alle Fragen der Eingliederung des bisherigen deutschen-österreichischen Rechtsstoffes in das Deutsche Reich im engsten Zusammenhang mit der Akademie für Deutsches Recht ihre Erledigung finden“ werden. Er glaube,204 „wir werden von den österreichischen Rechtswahrern die wertvollsten Anregungen und die wertvollsten Mitarbeiter gewinnen. Ich selbst habe veranlaßt, daß in sämtlichen zur Zeit tätigen 40 Ausschüssen der Akademie für Deutsches Recht für alle Gebiete des deutschen Reichsrechtes unverzüglich die geeigneten berufenen österreichischen Rechtswahrer teilnehmen, so daß von jetzt ab schon die Gemeinschaftsarbeit am deutschen Rechtsleben gewährleistet ist.“ In dem Festvortrag ging Hedemann zwar nicht auf konkrete Fragen der Rechtsvereinheitlichung näher ein, hob jedoch den naturrechtlichen, nicht rein individualistischen Charakter des ABGB besonders hervor:205 „Wenn wir daher ein gutes, gesundes, neues bürgerliches Recht im Dritten Reich erstreben, wenn wir in der Akademie daran arbeiten, wenn wir Besonnenheit wahren und so wertvolle Gesetzeswerke wie das österreichische von 1811 nicht mit einem Hieb umlegen, sondern schonend und allmählich – wenn auch bisweilen mit scharfem Einzelschnitt – das Ineinanderwachsen herbeiführen, so dienen wird im Zeichen unseres geliebten Führers und mit der Leidenschaft dem ganzen unseres herrlichen ewigen Deutschen Volkes.“ Kurz nach seiner Rückkehr aus Wien gab Hedemann am 8. Juni 1938 eine gutachterliche Stellungnahme über die Frage der „künftigen Behandlung des bürgerlichen Rechts in Österreich“ ab, die von Emge alsbald dem Reichsjustizministerium übersandt wurde. Gegen eine Einführung des BGB in Österreich sprachen nach Hedemann zwei Gesichtspunkte.206 Einmal hatten, so Hedemann die österreichischen Juristen, mit denen er gesprochen habe, „in eindrucksvoller Weise“ darum gebeten, „daß die wirklich guten und bewährten Stücke ihres Gesetzbuches nicht einfach in den Boden gestampft werden sollten“. Es müsste mit einem erheblichen Prestigeverlust gerechnet werden, wenn etwa schon in diesem oder im nächsten Jahr die österreichische Kodifikation zugunsten der reichsdeutschen kassiert würde. Weit schwerer wiege der zweite Grund, dass nämlich das reichsdeutsche BGB keineswegs in allen Partien besser sei als das österreichische. Immer wieder sei von den Österreichern unterstrichen worden, dass das ABGB „frischer, natürlicher und volkstümlicher“ sei, so dass in gewisser Weise Besseres durch Schlechteres verdrängt werden würde. In Anbetracht der Tatsache, dass die Verschiedenheiten im Bereich des Vertragsrechts am geringsten waren und Österreich bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts an der Vereinheitlichung des Schuldrechts in den Dresdener Konferenzen mitgearbeitet hatte207, schlug Hedemann vor, zumindest die Übertragung des Schuldrechts auf Österreich ins Auge zu fassen. – Hedemann unterrichtete den Schuldrechtsausschuss 203
Hedemann, Bürgerliches Recht im Deutschen Reich, 1938, 42. Ebda, 44. 205 Ebda, 108, 32. 206 Schubert, Akademie, Bd. III 4, 233 ff. 207 Hierzu Hedemann, Der Dresdner Entwurf von 1866. Ein Schritt auf dem Wege zur deutschen Rechtseinheit, 1935. 204
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über seine Vorschläge am 26. 9. 1938 und wies darauf hin208, dass seine Anregung, zur Vorbereitung der Rechtsangleichung einen Sonderausschuss einzusetzen, am Widerstand des Reichsjustizministeriums gescheitert sei. Insbesondere habe Schlegelberger darauf hingewiesen, dass alle Juristen, die er gehört habe, betont hatten, man würde es keineswegs freiwillig entgegennehmen, dass das ganze Schuldrecht nach Österreich übertragen würde. Die Stimmung sei so, dass die Österreicher es nicht ertragen würden, wenn wir sagten, man müsse sich darauf vorbereiten, dass das Schuldrecht im Ganzen hinüberkomme. Das im Mai 1939 von Frank und Heinrich Lange verkündete Projekt der ADR, eine neue Zivilrechtskodifikation, nämlich das Volksgesetzbuch zu schaffen209, rückte die Rechtsvereinheitlichung selbst auf dem Gebiet des Schuldrechts in weite Ferne, zumal auch das Reichsjustizministerium keine Alternative zu den Plänen von Frank, die man gleichwohl nicht sonderlich ernst genommen haben dürfte, entwickelte. Seitdem ging es in den Beratungen der Akademieausschüsse darum, wieweit das österreichische Recht beim Volksgesetzbuch berücksichtigt werden sollte. Allerdings hielt sich die Mitwirkung österreichischer Juristen in den bürgerlichrechtlichen Ausschüssen in engen Grenzen. Eine intensivere Mitarbeit lässt sich nur für den Unterausschuss für eheliches Güterrecht, für den Hypothekenrechtsausschuss und für den Ausschuss „Recht der Betätigungverträge (Recht der Tätigkeit für andere)“ nachweisen. Für den schadensersatzrechtlichen Ausschuss findet sich bei Swoboda in einem Aufsatz von 1942/43 folgender Vermerk210: „Oberlandesgerichtsrat Dr. Neuwirth (Wien) und ich als einzige Vertreter aus dem Geltungsgebiet des ABGB waren nur zu einer Ausschussssitzung geladen und wir haben damals auf die sorgfältige Berücksichtigung des österreichischen Gesetzbuches nachdrücklich aufmerksam gemacht. Wie das Ergebnis zeigt, ist eine solche gleichwohl unterblieben. Ständige Mitglieder des Unterausschusses waren nur Herren aus dem Altreich.“ Ob und inwieweit dieses tatsächlich zutraf, lässt sich nicht mehr feststellen, da die Generalakten der bürgerlich-rechtlichen Ausschüsse und Teile ihrer Protokolle verlorengegangen sind. Nicht selten dürfte es auch so gewesen sein, dass es dem Ausschussvorsitzenden nicht immer gelang, zu den oft kurzfristig angesetzten Sitzungen österreichische Juristen für eine Teilnahme zu gewinnen, zumal eine Reihe qualifizierter Juristen wie Antoni vom Kriegsdienst nicht immer freigestellt waren. Auf der anderen Seite dürfte es auch Swoboda nicht möglich gewesen sein, an allen Sitzungen der bürgerlich-rechtlichen Ausschüsse teilzunehmen. – An den Verhandlungen des Ausschusses für allgemeines Vertragsrecht nahmen von den österreichischen Juristen 1939 Eglseer, 1940/41 Swoboda sowie 1942 Michlmayr211 teil, jedoch soweit feststellbar nicht an allen Sitzungen. Referate wurden von diesen Juristen nicht über-
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Schubert, Akademie, Bd. III 4, 286. Hierzu Schubert, Akademie, 1988, Bd. III 1, 9 ff. Swoboda, in: ZHR Bd. 109, 273. Über Eglseer und Michlmayr: Schubert, Akademie, Bd. III 3, 61 und 71.
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nommen, wohl aber österreichische Regelungen zumindest teilweise in die Diskussion miteinbezogen. Die veröffentlichte Literatur zur Rechtsangleichung auf dem Gebiet des allgemeinen Zivilrechts ist nicht sehr groß. Sie stammt im Wesentlichen von Ernst Swoboda, der zwischen 1940 und 1943 ein knapp 1000 Seiten umfassendes Lehrbuch zum ABGB (2. Aufl. 1944; Erbrecht von Bartsch)212 sowie eine Reihe rechtspolitischer Aufsätze zu Problemen der Rechtsvereinheitlichung veröffentlicht hat. In diesen Arbeiten identifizierte sich, wie bereits erwähnt, Swoboda kritiklos mit dem rechtspolitischen Programm des Nationalsozialismus, insbesondere 1941 in seinem Aufsatz im „Deutschen Recht“ (Wiener Ausgabe)213 : „Der Beitrag der Ostmark zum Volksgesetzbuch der Zukunft“. Das VGB müsse sich „einfügen in das Aufbauwerk des Führers und in unsere nationalsozialistische Weltanschauung“. Die idealistische Grundlage des Dritten Reiches müsse „auch das Fundament seines Rechtsgebäudes werden … Damit tritt uns aber die große Aufgabe entgegen, die die Ostmark zu erfüllen hat. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, daß das bürgerliche Gesetzbuch des Altreiches gerade in der Zeit der Entartung des Liberalismus entstanden ist, daß der damals herrschende materialistische und dem Nationalsozialismus grundsätzlich feindliche Geist allen Teilen des Gesetzbuchs seinen unverkennbaren Stempel aufgedrückt hat und daß daraus seine blutleere Kunstsprache für abstrakte Konstruktionen zu erklären ist, die der Mann aus dem Volke nicht zu verstehen vermag.“ Das ABGB sei ein idealistisches Gesetzbuch, das „einzige idealistische Gesetzbuch“, das die Gegenwart kenne. Es führe daher „in eine ganz andere Welt“ als die späteren materialistischen Gesetzbücher, und „diese Welt ist jener des Nationalsozialismus eng verwandt“. § 7 ABGB, der auf die natürlichen Rechtsgrundsätze hinweise, gebe die Möglichkeit214, „daß sogar die Leitgedanken des Führers organisch eingefügt werden können in unser bürgerliches Recht und sich mit seinen Bestimmungen zu einer harmonischen Einheit verbinden.“ – Als Gerüst für diese Grundgedanken habe Zeiller die Lehren Kants verwendet, „dessen realistischen Seherblick und dessen überragende Bedeutung für unsere Zukunft Reichsleiter Rosenberg immer wieder gerühmt hat“. Gerade deshalb sei dieses Gesetzbuch geeignet, so manchen Beitrag für das nationalsozialistische Volksgesetzbuch zu liefern, das uns über alle trennenden Ländertraditionen hinweg zu der erwähnten Rechtseinheit führen solle, und damit zu einem Recht, das „im Einklang steht mit der Gedankenwelt des Führers“. Zum Abschluss seines Beitrags wies Swoboda noch einmal darauf hin215, „wie nahe das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch dem nationalsozialistischen Rechtsdenken“ stehe. Der Ostmark erwachse die Pflicht, den Juristen des Altreichs, die das Gesetzbuch regelmäßig nur in der jüdischen Verzerrung und Verfälschung kennengelernt hätten, „mit diesem kostbaren deutschen Geistesgut vertraut zu machen, damit sie erkennen, welche Titel des Werkes: „Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch. Eine systematische Darstellung für das Studium und für die Praxis“, 1. Aufl. 1940. 213 Jahrgang 1941, 113 ff.; Zitat 113. 214 Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1941, 114. 215 Ebda, 115. 212
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Werte darin für das Zustandekommen des deutschen Volksgesetzbuches enthalten sind“. Im Einzelnen müssten im VGB alle Rechtsbegriffe auf die einfachsten Formeln zurückgeführt werden. Das neue Recht müsse dynamisch gestaltet sein216 : „Es darf nicht versteinern, es muss in die Zukunft schauen. Deshalb lassen sich für dieses Gesetzbuch der Zukunft aber auch die großen Grundbegriffe verwerten, die das ABGB im Gegensatz zu dem Gesetzbuch des Altreichs nicht starr, sondern ausbaufähig gestaltet hat, so dass sie dem Leben nicht nachhinken, sondern sich mühelos mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit dem Rechtsleben der Gegenwart anschmiegen.“ Dies gelte schon von dem Personenbegriff, der auf der Grundlage „einer beschränkten Freiheit aufgebaut ist, eine Freiheit, die nach Zeillers Feststellung ,eingeschränkt wird durch die Zwecke der Gesamtheit , das ist für uns der der Volksgemeinschaft“. Der Sachbegriff sei nicht bloß körperlich aufgefasst wie im BGB. Die Aufstellung des dem Gesetzbuch des Altreichs ebenfalls unbekannten Begriffs der „Gesamtsache“ (§ 302 ABGB), „in den sich durch Verwertung des weiten Sachbegriffs auch das aus körperlichem und unkörperlichem Element zusammengesetzte ,Unternehmen einfügen läßt“, ermögliche „uns nahezu mühelos die rechtliche Beherrschung der für die Volkswirtschaft besonders wichtigen Vorgänge bei Rechtsgeschäften, die sich im wirtschaftlichen Leben immer wieder ereignen und ein Unternehmen als ,einheitliches Objekt des Rechtsverkehrs als ganzes zum Gegenstande haben.“ Dem ABGB sei die Zerreißung der Erwerbsgeschäfte des täglichen Lebens völlig unbekannt geblieben, es kenne keine abstrakten Geschäfte, auch nicht die abstrakte Grundschuld, die nach den „treffenden Feststellungen“ Wieackers „nur der kapitalistischen Umwandlung von Grund und Boden und damit des Lebensraumes unseres Volkes in Geld dienen sollte und nur den ungesunden Bodenverhältnissen des vorigen Jahrhunderts ihre Entstehung verdankt“217. Das ABGB verlange daher für die „bücherliche Einverleibung eines Rechtes im Grundbuch immer die Angabe eines gültigen Rechtsgrundes“. Im Sinne der „strengen Ehrlichkeit“ stehe auch im Gegensatz zu dem Recht des Altreichs das Grundbuch, „das uns Aufschluß zu geben hat über die Rechtslage an Grund und Boden, jedermann zur Einsicht offen“. Zum Schuldrecht brachte Swoboda nur noch einige Andeutungen und verwies in diesem Zusammenhang auf seinen Kommentar zum ABGB. 1941 setzte er sich mit der zukünftigen Stellung des nichtehelichen Kindes und 1943 mit der Neugestaltung des Liegenschaftsrechts auseinander218.
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Ebda, 114; hieraus auch die folgenden Zitate. Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1941, 115; hieraus auch die folgenden Zitate. Hierzu unten Punkt IV. 1. und 2.
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4. Einflüsse des österreichischen bürgerlichen Rechts auf die geplante Rechtsvereinheitlichung mit dem Altreich a) Familien- und Erbrecht Auf das Ehegesetz vom 6. Juli 1938219 lassen sich Einflüsse des österreichischen Rechts nicht nachweisen, wenn auch das österreichische Recht der unmittelbare Anlass für das schnelle Inkrafttreten des Ehegesetzes war. Der österreichische Justizminister Hueber trat am 1. Juni 1938 in Wien dem Wunsch des Reichsinnenministers Frick entgegen, die Eherechtsreform aufzuschieben und für Österreich nur ein Sonderüberleitungsgesetz zu erlassen, dessen Ausarbeitung noch längere Zeit erfordern würde. Vielmehr forderte er in seinem Schreiben vom 2. 6. 1938 an die Reichskanzlei im Interesse einer sofortigen Änderung des österreichischen Eherechts und der Schaffung eines befriedigenden Dauerzustandes den Erlass des fertigen Ehegesetzes220. An den Beratungen über die Reform des Eherechts nahm für Österreich Robert Bartsch221 teil, von dem mehrere Äußerungen zum österreichischen Ehegüterrecht überliefert sind. Im April 1938 stellte er fest222, „daß das System der Gütertrennung (in Österreich) gilt und eine ehemännliche Verwaltung des Frauensvermögens und die rechnungsfreie Verwendung der daraus gezogenen Nutzungen bloß auf dem widerruflichen Willen der Ehefrau beruht, wobei allerdings die Vermutung für eine solche Überlassung der Verwaltung besteht“. Die Rechtsstellung der Frau, „ihre Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit sollte jedenfalls nicht geringer sein, als sie in Österreich gegenwärtig ist und hier seit mehr als 120 Jahren besteht“. Eine gesetzliche Vermutung, wie sie § 1238 ABGB vorsah, erschien ihm „heute nicht mehr angebracht“223. Der Unterausschuss für eheliches Güterrecht der ADR schlug als gesetzlichen Güterstand Gütertrennung vor224, wobei Sonderregelungen für das sog. Hausgut vorgesehen waren, das gemeinsam verwaltet werden sollte. Bei der Auflösung war der Ehegewinn nach bestimmten Regeln zu verteilen. Für die Verwaltung des Eigenvermögens der Ehegatten (Sondergut) schloss sich der Entwurf weitgehend dem österreichischen Recht an. In Anlehnung an § 1238 wurde in § 5 Abs. 1 des Entwurfs vermutet, dass „die Ehefrau ihr Vermögen dem Manne überlassen hat, wenn sie nicht ausdrücklich widerspricht“. Ähnlich hatte Bartsch im Frühjahr 1942 vorgeschlagen225 zu bestimmen, dass der Mann verpflichtet sei, das Sondergut der Frau zu ver219
Text mit Quellen bei W. Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, 1993, 120 ff. 220 Das Schreiben ist wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 283. 221 Robert Bartsch (1874 – 1955) war bis 1939 Senatspräsident am Wiener Verwaltungsgerichtshof; zugleich 1918 Titel eines o. Prof., seit 1939 Honorarprof.; während des Krieges als Hochschullehrer tätig. Vgl. die Selbstbiographie in: Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart, hrsg. von N. Grass, 1952, 21 ff. 222 Zitiert nach W. Schubert, Akademie, Bd. III 2, 842 f; hieraus auch die folgenden Zitate. 223 Ebda, 846. 224 Letzte Fassung des Entwurfs ebda, 973 ff. 225 Ebda, 940.
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walten, wobei die Frau jederzeit die Möglichkeit haben sollte, „durch allgemeinen Widerspruch“ die Verwaltung des Mannes zu beenden. Dieser Vorschlag, wie auch der verkürzte und abgeänderte Entwurf von 1943 ging davon aus226, „daß die Verwaltung des Frauengutes durch den Mann aufrecht bleiben kann, daß aber diese Verwaltung nicht Ausübung eines nutzbaren Rechtes des Mannes, sondern Erfüllung einer Pflicht ist und daß nach dem Vorbild des österreichischen Rechtes diese Verwaltung durch einen Willensakt sowohl des Mannes wie der Frau aufgehoben werden kann. Wenn auch diese Verwaltung gesetzlich bestimmt ist, so hat sie doch das Vertrauen der Frau zur Voraussetzung und kommt einer Auftragsverwaltung nahe.“ Diese Vorschläge waren nach Bartsch mit Praktikern des österreichischen Rechts, Richtern und Anwälten besprochen worden. Die Praktiker der Ostmark hielten die widerrufliche Verwaltung des Frauengutes „durch den Mann für das Äußerste, was dem Ehemann zugestanden werden kann“. In der überwiegenden Mehrheit seien sie für vollständige Gütertrennung; nur soweit, wie die Frau dem Mann die Verwaltung überlasse, solle er wie ein gewöhnlicher Bevollmächtigter ihr Vermögen verwalten können. Der Entwurf zu einem Gesetz über die natürlichen Kinder vom Juli 1940227, der nur am Widerstand Hitlers scheiterte, folgte in den Grundsätzen den Reformvorstellungen der Weimarer Zeit, allerdings nicht ohne erhebliche Zugeständnisse an die nationalsozialistische Rassenpolitik. Österreichische Einflüsse lassen sich wenn überhaupt nur insofern nachweisen, als die exceptio plurium aufgegeben war. Allerdings wurde nicht die Regelung des § 163 ABGB übernommen, wonach einer der mehreren möglichen Väter in Anspruch genommen werden konnte, mit der Wirkung, daß dieser als der leibliche Vater des Kindes galt und jede Verbindung des Kindes zu den übrigen Männern, obwohl auch jeder von ihnen der Vater sein könnte, erlosch. Vielmehr zog der Entwurf die gesamtschuldnerische Lösung vor. Die Beratungen über das Nichtehelichenrecht waren im familienrechtlichen Akademieausschuss schon 1937 abgeschlossen228, so dass insoweit österreichische Juristen unmittelbar an der Verabschiedung der Grundsätze nicht beteiligt waren. Erst im März 1940 gab Swoboda für den NS-Rechtswahrerbund Gau Wien, dessen Geschäftsführer er war, zu dem Entwurf ein Gutachten ab229, das inhaltliche Änderungswünsche jedoch kaum enthielt. Zu § 12 merkte Swoboda an: Dass der Mutter die elterliche Gewalt vom Vormundschaftsgericht erst „verliehen“ werden müsse und dass es dazu noch umfangreicher Vernehmungen, allenfalls des Kindes selbst bedürfe, stehe im Widerspruch mit dem bewährten System des ABGB. Sie bedürfe wohl einer Bestellung, um Vormünderin zu werden, aber eine elterliche Gewalt stehe ihr ohne Verleihung zu. Zu § 13 meldete Swo226
Ebda, 939; hieraus auch das folgende Zitat. Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 509 ff. – Eine gewisse Rolle hatte das österreichische Nichtehelichenrecht in der Weimarer Zeit gespielt (vgl. W. Schubert, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, München 1986, 40 ff.). 228 Die Beratungen sind wiedergegeben bei Schubert, Akademie, Bd. III 2, 280 ff., 432 ff., 598 ff. 229 Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 664 ff. 227
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boda weitere Bedenken an: Die Verleihung der väterlichen Gewalt an den unehelichen Vater sei eine selten praktisch werdende Maßnahme. Es empfehle sich nicht, über sie so viele Bestimmungen im Gesetz zu treffen. Der Grundsatz, dass das Wohl des Kindes zu entscheiden habe, müsse für das Vormundschaftsgericht ausreichen; es solle nicht an zu viele Einzelvorschriften gebunden sein230. 1941 befasste sich Swoboda noch einmal mit der „künftigen Stellung des unehelichen Kindes“231. Es sei unerlässlich, die Besserstellung des Kindes im Geltungsgebiet des ABGB bei den Beratungen über das künftige Recht sich sorgfältig vor Augen zu halten, denn es gehe nicht an232, „im künftigen einheitlichen deutschen Recht die Besserstellung des Kindes durch eine Benachteiligung gegenüber dem geltenden Recht im Bereiche des ABGB zu erkaufen“. So sei gegenüber dem § 1708 BGB233 die Lage der unehelichen Kinder nach dem ABGB weit günstiger. Dieses habe „überhaupt kein bestimmtes Lebensalter als Grenze für den Unterhaltsanspruch festgesetzt“. In dieser Beziehung würden die ehelichen und unehelichen Kinder gleich behandelt. Deshalb ende die Unterhaltspflicht auch bei unehelichen Kindern erst mit der „Selbsterhaltungsfähigkeit“ des Kindes234. Swoboda wies weiter auf die erheblich günstigere Stellung der unehelichen Mutter nach dem ABGB hin. Mit Rücksicht auf das „aufopfernde Verhalten der unehelichen Mutter“ habe die österreichische Gesetzgebung im Weltkrieg ihre „Bestellung zur Vormünderin“ des Kindes zugelassen, „und gerade in jenen schweren Zeiten zeigte sich der Opfergeist der unehelichen Mutter im glänzendsten Licht“. Deshalb müsse ihr aber auch in der Sorge um die Erziehung und das Wohl des Kindes ein Vorzug gegenüber dem Vater eingeräumt werden.235 Nach dem ABGB hatte die uneheliche Mutter die elterliche Gewalt (tatsächliche Personensorge) auch dann, wenn sie nicht zum Vormund bestellt war, sondern ein anderer das Kind als Vormund zu vertreten hatte. Wenn die uneheliche Mutter selbst zum Vormund bestellt wurde, erhielt sie in der Regel keinen Mitvormund (§ 211 ABGB). Die rechtliche Stellung der unehelichen Mutter sei also, so Swoboda236, nach dem ABGB „entsprechend den praktischen Erfahrungen weit stärker als nach dem BGB. Es gilt nur, die Vorurteile zu besiegen, die auf diesem Gebiete im Altreich immer noch herrschend sind, und sich von der überlebten Regelung des BGB loszulösen.“
230 Die von Swoboda hauptsächlich beanstandeten Bestimmungen waren auch diejenigen, die Hitler zur Ablehnung des ganzen Entwurfs veranlassten (Schubert, wie Fn. 219, 703 f). 231 Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1941, 129 ff. 232 Ebda, 130. 233 Nach dieser Bestimmung war der Vater des unehelichen Kindes grundsätzlich nur verpflichtet, dem Kind bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren. 234 Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1941, 130. 235 Ebda, 131. 236 Ebda, 130.
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Für die Erbrechtsreform war zunächst der Erbrechtsausschuss tätig237, der noch 1942 einen leider verschollenen formulierten Entwurf vorgelegt hat. Nach der 2. Denkschrift des Ausschusses war das Parentelensystem beizubehalten238, und zwar auch für die 3. Parentel. Zwar könnte danach eine große Zersplitterung des Nachlasses erfolgen. Diese sei aber auch sowohl in der ersten Parentel wie in der zweiten zu befürchten und müsste folgerichtig zur Durchbrechung der Parentelenerbfolge bereits in diesen Parentelen führen. Das werde aber als nicht angängig anerkannt. Wollte man die unwirtschaftliche Zersplitterung überhaupt verhindern, so müsste man Bestimmungen einführen, wonach die Teilung des Nachlasses in kleinere Teile als etwa ein Zehntel unstatthaft wäre239 : „Das ist jedoch nicht möglich, weil ein Erblasser elf Kinder besitzen könne, und würde lediglich einen Sieg der mathematischen Vereinfachung über die Verwickeltheiten der Lebensverhältnisse darstellen.“ Ausführlich setzte sich der Ausschuss mit der Beschränkung der Verwandtenerbfolge auseinander. Nach den Vorschlägen der Denkschrift sollte die 4. Parentel in Übereinstimmung mit dem österreichischen Recht nicht mehr zur Erbfolge berufen sein und den Urgroßeltern lediglich ein Unterhaltsanspruch gegen den Nachlass zustehen. Das Reichsjustizministerium stellte zwischen 1938 und 1940 den Entwurf zu einem Gesetz über Erbfolge und Pflichtteilsrecht (später: Erbrechtsverordnung) auf,240 der von allen Reichsministerien und der Parteikanzlei gebilligt worden war und nur an Hitlers Widerstand scheiterte. Dieser Entwurf schloss sich in der gesetzlichen Erbfolge vollständig dem ABGB an241, und zwar in der Fassung der Novelle von 1914, der die gesetzliche Erbfolge auf den Großelternstamm beschränkt hatte. Übereinstimmend mit dem österreichischen Recht war auch die Ausgestaltung des Pflichtteils als schuldrechtlichem Anspruch242. In der Begründung zum Entwurf ist durchgängig auf die meist gleichen oder ähnlichen Regelungen des ABGB hingewiesen. Den Wünschen von Antoni243, der den Entwurf unter dem Gesichtspunkt der Anpassung an das ABGB mehrmals begutachtete244, kam das RJM (Vogels) bereitwillig entgegen. Die Erweiterungen, die die spätere Entwurfsfassung gegenüber den früheren Fassungen aufwies, bezeichnete Antoni als „für Österreich sehr erfreulich“, weil sie dazu führten, dass nunmehr ein geschlossener Abschnitt des ABGB durch das neue Gesetz ersetzt werde245.
237
Hierzu W. Schubert, Akademie, Bd. III 8, 1996, XXXII ff. H. Lange, Die Ordnung der gesetzlichen Erbfolge. 2. Denkschrift des Erbrechtsausschusses der ADR, 1938, 121 ff. 239 Lange, wie Fn. 238, 53. Hinweise auf das österreichische Pflichtteilsrecht: 208. 240 Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 397 ff. 241 Vgl. §§ 2 ff des Entwurfs (wie Fn. 240). 242 Vgl. §§ 28 ff des Entwurfs (wie Fn. 240). 243 Über Hans Antoni (geb. 1888) Schubert, Akademie, Bd. III 2, 35. 244 Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 452 ff., 493 ff. 245 Zitiert nach Schubert, wie Fn. 219, 493. 238
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Dagegen spielte bei den Beratungen des Erbrechtsausschusses der ADR zur Reform des Testamentsrechts das österreichische Recht noch keine Rolle. Die Denkschrift der ADR zur Reform dieses Rechtsgebiets erschien bereits 1937246. Die erste maßgebende Fassung des Reformentwurfs vom März 1938247 berücksichtigte jedoch das österreichische Recht. Das Gesetz brachte eine wichtige, allerdings schon vor 1938 in Aussicht genommene Angleichung an das österreichische Recht in § 21 Abs. 2, wonach es nicht notwendig, aber „rätlich“ war, „daß der Erblasser in der Erklärung angibt, zu welcher Zeit (Tag, Monat und Jahr) und an welchem Orte er sie niedergeschrieben hat.“ Dies stimmt mit § 578 S. 2 ABGB überein: „Die Beisetzung des Tages, des Jahres und des Ortes, wo der letzte Wille errichtet wird, ist zwar nicht notwendig, aber zur Vermeidung der Streitigkeiten rätlich.“ b) Sachenrecht An den Beratungen in den Ausschüssen der ADR über die Reform des Sachenrechts (Fahrnisrecht und allgemeines Grundstücksrecht)248 war das österreichische Recht nur durch Karl Tenschert249 vertreten. Nach eingehenden und wiederholten Beratungen einigten sich die Ausschüsse auf den Wegfall des Abstraktionsgrundsatzes250. Insoweit trat eine Annäherung an das österreichische Recht ein, ohne daß dieser Gesichtspunkt eine maßgebende Rolle gespielt hat. Höchst umstritten war die weitere Frage, ob auch der dingliche Vertrag aufzugeben war. Dies wurde von der Mehrheit gegen Larenz, Hermann Krause und Wieacker abgelehnt251. Die Ausschüsse sprachen insoweit von einer rechtsgrundabhängigen Einigung. Während es für das Fahrnisrecht nicht einmal zu ausformulierten Vorschlägen für das geplante Volksgesetzbuch kam, veröffentlichte Locher für das allgemeine Grundstücksrecht eine Denkschrift mit einem entsprechenden Teilentwurf252. Die Beibehaltung des dinglichen Vertrags253 wurde von österreichischer Sicht aus von Swoboda 1943 sehr scharf 246
H. Lange, Das Recht des Testamentes. 1. Denkschrift des Erbrechtsausschusses der ADR, 1937. 247 Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 219, 299 ff. 248 Protokolle und sonstige Materialien in den von W. Schubert (Hrsg.), Akademiebänden III 6 und 7, 1994, 1995. 249 Über Karl Tenschert (geb. 1882), seit 1. 4. 1939 Reichsgerichtsrat: W. Schubert, Akademie, Bd. III 6, XXVIII. 250 Hierzu Schubert, wie Fn. 249, 281 ff, 340 ff. 251 Ebda, XII ff. m.w.N. 252 E. Locher, Die Neugestaltung des Liegenschaftsrechts. Im Auftrage des Ausschusses für Bodenrecht der ADR, 1942 (auch bei Schubert, Akademie, Bd. III 7, 603 ff). 253 Die einschlägige Bestimmung § a lautet: „Zur rechtsgeschäftlichen Verfügung über ein Grundstück … ist in den Fällen der Veräußerung … ein Vertrag über den Rechtsgrund der Verfügung oder ein sonstiger gültiger Rechtsgrund, das zugleich mit dem Vertrag oder gesondert herbeigeführte Einverständnis des Verfügenden und des anderen Beteiligten über den Vollzug der Rechtsänderung (Vollzugsvereinbarung) und die Eintragung der Rechtsänderung im Grundbuch erforderlich.“ Zur „Vollzugsvereinbarung“ war angemerkt: „Der zur Verdeut-
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kritisiert254: „Wenn die causa aufrecht bleiben soll, die in dem Grundgeschäft vereinbart wurde, dann brauche ich keine zweite Einigung mehr. Die Pflicht zur Erfüllung ist beiderseits schon durch das Grundgeschäft begründet worden, und jeder Teil kann daher von dem andern die zur Durchführung erforderliche Verfügung im Rahmen der ursprünglichen Einigung begehren. Die schweren Bedenken der Rechtslehrer des Altreichs gegen die einfache Lösung unseres Rechts erklären sich nur daraus, daß sie eben seit jeher das Schuldrecht und das Sachenrecht in römischer Überspitzung als zwei völlig voneinander getrennte Welten betrachteten, und zwar im Widerspruch mit dem Leben und dem Widerspruch mit der gesunden Volksauffassung.“ In seiner „theoretischen Ängstlichkeit“ habe der Ausschuss keinen anderen Ausweg gewusst, „als wieder eine Trennung vorzunehmen. Er hält noch immer die völlige Trennung des Schuldrechts vom Sachenrecht für unentbehrlich. Er erblickt aber in dem durch die Eintragung im Grundbuch ,sich vollendenden liegenschaftlichen Geschäft seinem Wesen nach ein besonderes Verfügungsgeschäft, das zu dem ursprünglichen Verpflichtungsgeschäft hinzutritt, und er ist überzeugt, dass seine Konstruktion nicht ,eine willkürliche rechtsdogmatische Begriffsbildung bedeute, sondern ,eine aus verfeinerter Analyse des rechtsgeschäftlichen Gesamtvorganges gewonnene Erkenntnis und damit einen Fortschritt der neueren Rechtsgeschäftslehre , den niemand werde preisgeben wollen oder überhaupt werde beseitigen können.“ Kritisiert wurden auch die Vorschläge des Ausschusses zur Beibehaltung der Auflassung und der Formvorschrift für das Grundgeschäft. Allgemein wurde von Swoboda bemängelt, dass das österreichische Recht bei den Ausschussberatungen keine Rolle gespielt habe. Zurückgewiesen wurde die Meinung von Felgentraeger255, „daß das Liegenschaftsrecht des Reiches schon heute zu den ,in rechtstechnischer Hinsicht durchdachtesten und besten der Welt zähle und daß es deshalb überflüssig sei, sich näher mit den Bestimmungen des österreichischen Rechts zu befassen“. Nicht die Technik allein, so Swoboda, könne für die Güte einer gesetzlichen Regelung maßgebend sein, sondern in erster Linie die „Volksnähe des Rechts“, die wir vom Volksgesetzbuch der Zukunft verlangten. Im Einzelnen wies er auf die Vorzüge der entsprechenden Regelungen im österreichischen Recht für die Vormerkung und die Eintragung der Miete und Pacht hin. An den Beratungen des Hypothekenrechtsausschusses der ADR nahm von österreichischer Seite u. a. Heinrich Bartsch teil256, der von der Sicht des österreichischen Rechts eine Reihe von Vorschlägen unterbreitete. Ausführlich verteidigte auch Swoboda die Urkundensammlung und die Grundbuchsmappe der österreichischen
lichung verwendete Ausdruck ,Vollzugsvereinbarung statt des farblosen Ausdrucks Einigung stammt vom Verfasser und ist im Ausschuß nicht besprochen“. 254 Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1943, 71; hieraus auch die folgenden Zitate. 255 Im Vorwort zu Locher bei Schubert, wie Fn. 252, 603; Zitat von Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1943, 69; hieraus auch das folgende Zitat. 256 Hierzu die Beratungen bei Schubert, Akademie, Bd. III 8, 225 ff. Leider sind Wortprotokolle nicht überliefert.
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Grundbuchordnung257. Wenn man auf die Briefhypothek verzichten würde, bot nach Swoboda „die in der festgebundenen Urkundensammlung verwahrte Urkunde über den Erwerb und Inhalt der Hypothek“ unbedingte Sicherheit258 : „Dieses einfache System sollte daher vorbildlich werden für das künftige gemeinsame nationalsozialistische Grundbuchsrecht. Denn dieses künftige Recht soll einfach und volksnah gestaltet werden.“Aus dem deutschen Recht sollte das „Handblatt“ des Grundbuchbeamten in das neue Recht übernommen werden. Das Grundbuch sollte in Übereinstimmung mit dem österreichischen Recht uneingeschränkt öffentlich sein. Bevor auf die Vorschläge von Bartsch im Einzelnen eingegangen wird, soll über die allerdings noch nicht abschließenden Beratungsergebnisse des Ausschusses referiert werden, die nicht unbeeinflusst vom österreichischen Recht waren259: Nach den Vorstellungen der Mehrheit des Hypothekenrechtsausschusses sollte die Grundform des Grundpfandrechts die Buchsicherungshypothek bilden. Im Gegensatz zu § 1116 BGB sollte die Briefform der Einigung und Eintragung bedürfen. Die Verkehrshypothek sollte alternativ als Buch- oder Briefhypothek möglich sein, der Brief jedoch die Transportfunktion verlieren. Jede Abtretung sollte also der Eintragung bedürfen (Wegfall der §§ 1154, 1155 BGB). Nur die Legitimations- und Sperrfunktion des Briefes sollte bestehen bleiben. Die Grundschuld sollte bis auf wenige Ausnahmen in ihrer ursprünglichen und abgeleiteten Form beseitigt werden, ebenso der Rangvorbehalt nach § 881 BGB. An dessen Stelle sollte ein Grundpfandbestellungsrecht treten, wie es ähnlich das frühere bayerische260 und preußische Recht vorgesehen hatten sowie das österreichische Recht261 enthielt. Dieses Bestellungsrecht sollte entgegen dem österreichischen Recht zeitlich unbeschränkt gelten und mit dem Zuschlag der Zwangsversteigerung erlöschen. Es war grundsätzlich bei der Verteilung des Erlöses nicht zu berücksichtigen. Während des Zwangsversteigerungverfahrens sollte es nur mit Zustimmung des betreibenden Gläubigers ausgeübt werden können. Umstritten war im Ausschuss (in der letzten Sitzung mit 7 gegen 7 Stimmen), ob die forderungsbekleidete Eigentümerhypothek bestehen bleiben sollte. Es handelte sich hier um die Fälle, in denen der Hypothekengläubiger das Grundstück bei Fortbestand seiner Forderung bzw. der Eigentümer insbesondere aufgrund des § 1143 BGB die durch die Hypothek gesicherte Forderung (§ 1171 BGB) erwarb. Keine endgültige Einigung konnte darüber erzielt werden, ob ein Grundpfandbestellungsrecht auch dann entsteSwoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1943, 43 ff.; zur Entwicklung des österreichischen Grundstücksrechts: H. Hofmeister, Die Grundsätze des Liegenschaftserwerbs in der österreichischen Privatrechtsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert, 1977. 258 Swoboda, in: DR (Wiener Ausgabe) 1943, 139. 259 Hierzu die Beschlüsse des Hypopthekenrechtsausschusses bei Schubert, Akademie, Bd. III 8, 313 ff., 321 ff. 260 Das bayr. Hypothekenrecht von 1822 (Gesetzbl. 1822, 17) war nicht unbeeinflusst vom österreichischen Recht. 261 Zum bayr. Hypothekenbestellungsrecht (Vormerkung; hierzu F. Regelsberger, Das bayr. Hypothekenrecht, 1. Abth., 1874, 309 ff.) vgl. das österreichische Recht in § 469 ABGB und § 58 GBG. 257
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hen sollte, wenn die Bestellung einer in das Grundbuch eingetragenen Hypothek nichtig war. Falls man die Bestellungsbefugnis des jeweiligen Eigentümers einführte, stellte sich die Frage, inwieweit dann § 1179 BGB modifiziert werden sollte. Wiederholt befasste sich der Ausschuss mit der Frage, ob an die Stelle des Rechts auf einen bestimmten Teil des Vollstreckungserlöses ein Anspruch auf eine Zahlung des Eigentümers treten sollte. Die Mehrheit der deutschen Teilnehmer sprach sich in der Märzsitzung 1942 für die Beibehaltung der Hypothek als Verwertungsrecht und damit gegen die Einführung einer dinglichen Schuld mit beschränkter Haftung aus. Die Aufgaben der bisherigen (abstrakten) Grundschuld sollte die Höchstbetragshypothek (als Sicherungs- oder Verkehrshypothek) übernehmen, die zu diesem Zweck gläubigerfreundlicher ausgestaltet werden sollte. In einem Gutachten für den Ausschuss forderte Bartsch262 auch für das Hypothekenrecht das materielle Konsensprinzip, d. h. die Eintragung einer Hypothek sollte nur erfolgen, wenn ein gültiger Rechtsgrund in einer Urkunde nachgewiesen war. Dies liege auch im Sinne des richtig verstandenen Publizitätsprinzips. Im österreichischen Recht sei der Grundsatz der Verlässlichkeit viel besser gewahrt und es sei die Gefahr263, dass der Grundbuchinhalt mit dem wirklichen Rechtszustand nicht übereinstimme, „lange nicht so groß wie im Altreich“. Begrüßt wurde das Hauptziel des Ausschusses, das Grundpfandrecht einfacher zu gestalten264: „Wie kurz und klar sind die gesetzlichen Bestimmungen im österreichischen Recht! Es gibt keine Briefhypotheken, keine Grundschulden und nur in sehr beschränktem Umfang Eigentümerhypotheken und doch geht der Realkreditverkehr reibungslos vor sich und Änderungen, die das Hypothekenrecht komplizieren würden, sind den beteiligten Kreisen gar nicht erwünscht.“ Auch nach Bartsch war die Briefhypothek in jeder Form abzulehnen. Das Verfügungsrecht nach § 569 S. 5 ABGB behandelte Bartsch im Rahmen des abgeleiteten Eigentümergrundpfandrechts. Die ursprünglich verdeckte und offene Eigentümergrundschuld sollte seiner Meinung nach nicht beibehalten werden. Als Ersatz hierfür wurde die Anmerkung der Rangordnung nach den §§ 53 ff. des österreichischen Grundbuchgesetzes (mit zeitlicher Begrenzung) empfohlen265. § 881 BGB sollte in Übereinstimmung mit der Ausschussmehrheit entfallen. – In einer weiteren Stellungnahme zu den Beratungen im Juli 1941266 vertrat Bartsch die Ansicht, dass das Urteil gegen den Hypothekenschuldner auf Zahlung lauten sollte. § 416 BGB sollte durch den präziser gefassten § 1408 ABGB ersetzt werden. Inzwischen hatte sich der Ausschuss für das dem österreichischen Recht entnommene Grundpfandbestellungsrecht entschieden. Der Vorschlag, dass dieses Recht während der Zwangsversteigerung nur mit Genehmigung des Vollstreckungsrichters sollte ausgeübt werden dürfen, sollte wieder aufgegeben werden. Mit der Bestimmung, dass der Eigen262 263 264 265 266
Schubert, wie Fn. 259, 347 ff. Ebda, 347. Ebda, 348. Ebda, 353. Ebda, 355 ff.
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tümer sich einem nachfolgenden Gläubiger gegenüber sollte verpflichten können, das Grundpfandbestellungsrecht nicht auszuüben, war Bartsch einverstanden. Das Bestellungsrecht sollte die Tilgung einer gültigen und zur Entstehung gelangten Forderung zur Voraussetzung haben. Wenn im Rahmen des gewährten Kredits eine Forderung nicht zur Entstehung gelangt sei, sollte es kein Grundpfandbestellungsrecht geben. c) Schuldrecht An den Beratungen der schuldrechtlichen Ausschüsse der ADR nahmen österreichische Juristen nur unregelmäßig teil. Größeren Einfluss nahm nur Swoboda auf die Beratungen des Ausschusses für das Recht der Betätigungsverträge267. Nach der für das VGB vorgesehenen Systematik268 sollte zunächst in einem allgemeinen Abschnitt dieses Rechtsgebiet in den Grundzügen geregelt werden. Ein weiterer Abschnitt war für die Geschäftsbesorgung vorgesehen, für die Swoboda ein im Wortlaut leider nicht erhaltenes Referat mit Gesetzesvorschlägen einreichte269. Swoboda legte im Ausschuss zunächst die für das ABGB entwickelte Konzeption des Bevollmächtigungsvertrags dar270. Seiner Ansicht nach unterschied sich diese im ABGB grundsätzlich von der des BGB. Die geistige Einstellung des Liberalismus271 „hat es mit sich gebracht, daß beide Gesetzgebungswerke [Anm. des. Verf.: BGB und ZGB] auch auf diesem Gebiete sich von der Zerfaserungssucht der damaligen Rechtswissenschaft und nicht von dem Bestreben nach einer möglichst weitreichenden Synthese leiten ließen. … Es [Anm. des Verf: das BGB.] hat die Vollmacht in den allgemeinen Teil verlegt, den Auftrag aber nur als ,Vertrag , und zwar in weiterer, dem schweizerischen Recht fremder Überspitzung nach dem Vorbild des römischen Recht nur als ,unentgeltlichen Vertrag in den Besonderen Teil des Rechts der Schuldverhältnisse aufgenommen.“ Wenn man das Leben betrachte, so finde man, „daß die häufigste Erscheinung auf diesem Gebiete jener Vertrag ist, bei dem Übereinstimmung der Parteien sowohl den Auftrag als auch die Bevollmächtigung umschließt, also ein Vertrag, bei dem nicht bloß zu dem Auftragsvertrag die einseitige Willenserklärung der Vollmacht hinzutritt, also eine bloße Addierung dieser beiden Erscheinungen erfolgt, sondern die Willensübereinstimmung und damit der Vertrag sich auf beides erstreckt“272. Auftrag und Vollmacht müssten auch im Gesetzbuch „genauso wie im Leben nebeneinander gestellt werden“. Zur Grundlage für eine gesetzliche Regelung müsse das regelmäßige Bild des Rechtslebens genommen werden, d. h. die Übernahme eines Auftrags gegen Entgelt. Aber auch die „hochmütige Lehre der Juristen, daß der Auftrag nur in Gestalt eines Vertrags anerkannt werden dürfe, weil die Vorstellung eines einseitigen Auftrages als ,unjuristisch und ,laienhaft abgelehnt werden müsse“, sei 267 268 269 270 271 272
Hierzu die Protokolle bei Schubert, Akademie, Bd. III 5, 365 ff. Wiedergegeben bei Schubert, Akademie, Bd. III 1, 1988, 41 f. Das Referat ist in den Protokollen erwähnt und teilweise inhaltlich wiedergegeben. Referat bei Swoboda, wie Fn. 267, 365 ff. Hier zitiert nach Swoboda, wie Fn. 116, (Teil 3), 234. Ebda, 235; hier auch die folgenden Zitate.
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ein Irrtum. In Wahrheit sei auch der Auftrag entsprechend dem Sprachgebrauch „zunächst eine einseitige Willenserklärung“. Juristisch wirksam werde sie freilich in der Regel erst durch die zustimmende Haltung des anderen Teiles und dann allerdings infolge der beiderseitigen Willensübereinstimmung zum Vertrag273. Das BGB habe die Vollmacht „nur als ,einseitige Willenserklärung gelten lassen und sie deshalb in den allgemeinen Teil aufgenommen, die Möglichkeit eines Vertrages über ein Vollmachtsverhältnis aber geleugnet, obgleich täglich unzählige solcher Verträge abgeschlossen werden“: Eigentlich sei es unbegreiflich, „warum die Verfasser des BGB bei der Vollmacht den entgegengesetzten Standpunkt eingenommen haben wie beim Auftrag. Einseitig waren sie hier wie dort: beim Auftrag durch seine unbedingte Beschränkung auf die Gestalt des Vertrages und auf die Unentgeltlichkeit, bei der Vollmacht aber durch deren Beschränkung auf die Vorstufe eines Vertrages, die einseitige Willenserklärung.“ In den Ausschussberatungen trat Swoboda dafür ein, ausschließlich im Rahmen der Geschäftsbesorgung das Recht der Stellvertretung bzw. der Vollmacht zu regeln274. Die Ausschussmehrheit war jedoch allenfalls bereit, hier die Bestimmungen über die Vollmacht aufzunehmen, die unmittelbar mit dem Wesen der Geschäftsbesorgung und des Auftrags zusammenhingen. So stieß der in Anlehnung an § 1017 ABGB unterbreitete Vorschlag 3275 : „Erteilt der Geschäftsherr dem Geschäftsbesorger die Vollmacht dazu, so kann der Geschäftsbesorger das Geschäft im Namen des Geschäftsherrn abschließen. Für diesen Fall genügt die beschränkte Geschäftsfähigkeit des Geschäftsbesorgers.“ auf Widerstand, da er nichts anderes als eine Definition der Vertretungsmacht enthalte, die für jede Vertretung gelte und deshalb nicht in den Abschnitt über die Geschäftsbesorgung gehöre. Ähnliches gilt für den dem § 167 Abs. 2 BGB entsprechenden Vorschlag 4276 : „Ist für ein vom Geschäftsbesorger abzuschließendes Geschäft eine besondere Form vorgeschrieben, so gilt diese Formvorschrift auch für die Erteilung der Vollmacht, wenn dies dem Zweck der Formvorschrift entspricht.“ – Die vom Ausschuss beschlossene Regelung277: „Der Beauftragte hat dem Geschäftsherrn alles, was er aus Anlaß der Geschäftsbesorgung erlangt, herauszugeben“ bedeutete eine Annäherung an die im ABGB enthaltene Regelung. Weiter brachte Swoboda den § 1013 ABGB zur Sprache, wonach die Bestechungsgelder zur „Armenkasse“ einzuziehen waren. Nach seiner Meinung waren, wenn man nicht dem österreichischen Recht folgte, die Schmiergelder dem Geschäftsherrn herauszu273 Swoboda, wie Fn. 116, (Teil 3), 235. Dass der Auftrag nicht immer ein Vertrag sein müsse, um rechtliche Wirkungen zu äußern, zeige sich im Leben immer wieder, „so beim Dienstverhältnis einer Hausgehilfin, der täglich von ihrer Dienstherrschaft Aufträge erteilt werden, zu denen sie selbst eine Zustimmung nicht zu geben braucht, weil die Verpflichtung zur Ausführung dieser Aufträge schon im Bestande des Dienstverhältnisses begründet ist.“ Der einseitige Auftrag sei aber auch in solchen Fällen kein unjuristischer Akt. 274 Swoboda bei Schubert, wie Fn. 267, 366 ff, 400 ff. 275 Ebda, 403. 276 Ebda, 406. 277 Wiedergegeben bei Schubert, wie Fn. 268, 155.
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geben278. Längere Diskussionen riefen auch die den §§ 1014 und 1015 ABGB entsprechenden Vorschläge 9 hervor279 : „Schäden, die der Geschäftsbesorger bei der Durchführung des Geschäfts erleidet, hat der Geschäftsherr ihm zu ersetzen, wenn er mit deren möglichen Eintritt verständigerweise rechnen mußte.“ und 10: „Ob und in welchem Umfang der Geschäftsherr dem Geschäftsbesorger auch für einen bei der Durchführung des Geschäfts sonst erlittenen Schaden Ersatz zu leisten hat, ist mit sorgfältiger Berücksichtigung aller Umstände zu entscheiden. Dabei ist insbesondere Bedacht zu nehmen darauf, ob das Geschäft unentgeltlich besorgt wird, und auf die beiderseitigen Vermögensverhältnisse.“ Über diese vom Vertreter des Reichsjustizministeriums abgelehnte Regelung – die Konsequenzen einer solchen Regelung seien „ungeheuer“280 – kam eine Einigung nicht zustande. Weitere Beratungen befassten sich mit den §§ 671 – 673 BGB unter Einbeziehung der §§ 168 – 174 BGB in das Geschäftsbesorgungsrecht. Als der Vorsitzende Nikisch vorschlug zu sagen:281 „Mit dem Auftrage erlischt auch eine dem Beauftragten erteilte Vollmacht“, protestierte Swoboda mit dem Hinweis, dass man einen Einzelauftrag geben könne und eine Generalvollmacht; diese erlösche nicht mit dem Einzelauftrag. Er könne die vorgeschlagene Verbindung von Auftrag und Vollmacht nicht befürworten282 : „Wir sind gewöhnlich im Altreich als Ketzer aufgefaßt worden, weil wir gesagt haben, es gebe Bevollmächtigungsverträge. Jetzt sind Sie auf diesem Gebiet radikaler als wir; denn wir sagen, wir müssen uns dem Leben anpassen, Auftrag und Vollmacht sind eigentlich nur Elemente, aus denen sich ein Rechtsinstitut aufbaut. Im Leben kommt es selten vor, dass man einen Auftrag ohne Vollmacht erteilt. Die Regel ist der Bevollmächtigungsvertrag im Sinne des § 1002 ABGB, der beides umfasst. Aber es kommt auch die Vollmacht für sich allein vor, wenn der Bevollmächtigte nur berechtigt und nicht verpflichtet sein soll. Darum dürfen wir beides nicht unbedingt miteinander verbinden.“ Interessant ist noch der Hinweis von Swoboda, dass Vertreter ohne Vertretungsmacht, wenn sie kein Verschulden traf, nach österreichischem Recht nur nach Bereicherungsrecht hafteten283. Diese von ihm vorgeschlagene Regelung fand im Ausschuss jedoch keine Gegenliebe. 278
Schubert, wie Fn. 112, 383 f. Diese lauten: „§ 1014. Der Gewaltgeber ist verbunden, dem Gewalthaber allen zur Besorgung des Geschäftes nothwendig oder nützlich gemachten Aufwand, selbst bey fehlgeschlagenem Erfolge, zu ersetzen, und ihm auf Verlangen zur Bestreitung der baren Auslagen auch einen angemessenen Vorschuß zu leisten; er muß ferner allen durch sein Verschulden entstandenen, oder mit der Erfüllung des Auftrages verbundenen Schaden vergüten.“ und: „§ 1015. Leidet der Gewalthaber bey der Geschäftsführung nur zufälliger Weise Schaden; so kann er in dem Falle, daß er das Geschäft unentgeltlich zu besorgen übernahm, einen solchen Betrag fordern, welcher ihm bey einem entgeldlichen Vertrage zur Vergütung der Bemühungen nach dem höchsten Schätzungswerthe gebührt haben würde.“; hierzu Schubert, wie Fn. 267, 409. 280 Vogels bei Schubert, wie Fn. 267, 409. 281 Ebda, 426. 282 Ebda, 427. 283 Schubert, wie Fn. 267, 429. 279
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Ausführlich besprach Swoboda den Ausschussbericht von 1940 über die Haftung für verschuldete unerlaubte Handlungen284. Er rügte, dass nach dem Bericht immer nur eine „Revision (Verbesserung)“ der Bestimmungen des BGB in Aussicht genommen sei und deshalb stets die Paragraphen dieses Gesetzbuchs zur Grundlage der neuen Regelung gemacht würden: „Das ist ungesund und unzureichend. Ein Schadensersatzrecht, das so römisch gedacht ist, wie das des BGB, kann nicht zur Grundlage des Volksgesetzbuches gemacht werden, das die Forderung des Punktes 19 unseres Parteiprogrammes füllen soll.“ Das ganze System müsse unter Berücksichtigung und Fortentwicklung des österreichischen Rechts neu aufgebaut werden, wozu er auch auf das von ihm beeinflusste Vorbild des tschechischen BGB-Entwurfs von 1937 hinwies285. Nicht die Schuld dürfe zum Ausgangspunkt der Schadensersatzpflicht genommen werden, sondern die Schädigung. Die Haftung aus Billigkeit, wie sie § 7 des Entwurfs286 vorschlage, gehe den Kernfragen aus dem Wege und überwälze die Verantwortung auf den Richter. Ausgangspunkt der künftigen gesetzlichen Regelung müsse der Satz sein287: „Rechtswidrige Schädigung verpflichtet zum Schadensersatz.“ Innerhalb der rechtswidrigen Schädigung würden sich dann „mit naturgemäßer Folgerichtigkeit die beiden Gruppen der ,schuldhaften Schädigung und der ,Schädigung ohne Schuld ergeben: „Schon nach ihrem innersten Wesen vertragen sie nicht die gleiche rechtliche Behandlung. Schuldhafte Schädigung führt grundsätzlich zur Schadensersatzpflicht. Schuldlose Schädigung kann nicht mit gleicher Regelmäßigkeit die gleiche Pflicht erzeugen, sondern nur unter gewissen Voraussetzungen, die ihr den Stempel der ,Rechtswidrigkeit aufdrücken, aber nicht als bloße ,Ausnahmen , sondern als ,selbständiger Entstehungsgrund einer Ersatzpflicht neben der schuldhaften Schädigung.“ Nach Swoboda konnten die beiden Folgesätze etwa wie folgt lauten288 : „Rechtswidrige Schädigung kann schuldhaft und ohne Schuld eintreten. Schuldlose Schädigung begründet eine Verpflichtung zum Schadensersatz nur 284
H.C. Nipperdey, Grundfragen der Reform des Schadensersatzrechts. 1. Arbeitsbericht des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht der ADR, Unterausschuß für Schadensersatzrecht, 1940 (auch bei W. Schubert, Akademie, Bd. III 5, 605 ff). Besprochen von Swoboda, ZHR Bd. 109 (1942), 269 ff. 285 Hierzu Schubert, im vorliegenden Band. 286 § 7 lautet: „Ist das Verhalten zwar rechtswidrig, fehlt es aber an dem nach den §§ 1 und 6 für die Ersatzpflicht erforderlichen Verschulden, so ist trotzdem eine angemessene Entschädigung an den Geschädigten zu leisten, wenn nach den Umständen des Falles eine Ablehnung jeglicher Haftung gröblich gegen das gesunde Volksempfinden verstieße. Zu berücksichtigen ist es insbesondere, wenn infolge der Vermögensverhältnisse der Beteiligten die Belastung des Haftenden mit einer Entschädigungspflicht besonders geringfügig, die Belastung des Geschädigten durch die Einbuße aber außergewöhnlich schwer erscheint. – Für Schadensfolgen, die außerhalb des regelmäßig allein anzuerkennenden rechtserheblichen Zusammenhangs mit der Tat liegen, kann nach den gleichen Grundsätzen ausnahmsweise Entschädigung zu leisten sein. Die Entschädigung und ihre Höhe werden hier, abgesehen von den Vermögensverhältnissen der Beteiligten, vornehmlich durch die Art und Weise des Verhaltens des Täters bestimmt. Mutwillige oder leichtfertige Eingriffe rechtfertigen eine strengere Haftung. 287 Swoboda, wie Fn. 284, 281; hieraus auch die folgenden Zitate. 288 Ebda, 283.
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unter bestimmten Voraussetzungen.“ Schuldlose Schädigungen sollten zum Ersatz des ganzen oder eines Teiles des Schadens verpflichten289, „wenn dies mit Rücksicht auf das größere Vermögen oder die bessere wirtschaftliche Lage des Schädigers als angemessen angesehen werden kann“. Die Schuldfähigkeit sollte nicht nach starr festgesetzten Altersgrenzen festgelegt werden. – Im Einzelnen kritisierte Swoboda von der Sicht des österreichischen Rechts aus die drei Absätze des § 1, insbesondere die Herausstellung der Rechtswidrigkeit,290 die sich seiner Ansicht nach nicht positiv definieren ließ. Viel wichtiger und zutreffender sei es, sich darüber zu äußern291, „worin der Schaden bestehen kann, für den ein Ersatzanspruch gewährt wird“. Der Fahrlässigkeitsbegriff (§ 2)292 des Entwurfs war nach Swoboda schwülstig und zugleich nicht deutlich und klar, d. h. die vom Ausschuss gewollte „subjektive Ausgestaltung und Dynamik“ kam seiner Ansicht nach nicht deutlich zum Ausdruck293. Viel zu unbestimmt war nach Swoboda auch § 8 über die Einschränkung der Haftung294. Nach ihm war auf jeden Fall eine Abstufung innerhalb der Schuld zu treffen. Auch die Fähigkeiten und Kenntnisse und die Art des verletzten Rechtsguts sollten berücksichtigt werden. Statt des § 6 (Haftung für Gehilfen)295 schlug Swoboda vor zu prüfen, ob
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Ebda, 286. § 1 lautet: „Die vorsätzliche oder fahrlässige rechtswidrige Schädigung eines anderen verpflichtet zum Schadensersatz. – Rechtswidrig ist eine Handlung oder Unterlassung dann, wenn sie gegen eine von der Rechtsordnung aufgestellte Verpflichtung verstößt, die den Schutz der Persönlichkeit oder des Vermögens des Geschädigten bezweckt. – Rechtswidrig handelt immer, wer gröblich gegen anerkannte Grundsätze des völkischen Zusammenlebens verstößt.“ 291 Swoboda, wie Fn. 284, 199. 292 § 2 lautet: „Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer acht läßt, die mit Rücksicht auf die Erfordernisse eines geordneten Zusammenlebens auf dem Lebensgebiet, auf dem er tätig wird, unter den gegebenen Umständen von den Angehörigen der Berufs- oder Altersgruppe, denen er zugehört, erwartet werden muß. – Besondere Kenntnisse verpflichten zu gesteigerter Sorgfalt.“ 293 Swoboda, wie Fn. 284, 199. 294 § 8 lautet: „Ist sein Verhalten dem Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht oder nur in ganz geringem Maße vorzuwerfen, so tritt eine angemessene Minderung der Haftung ein, wenn nach den Vermögensverhältnissen der Beteiligten und den sonstigen Umständen des Falles die Belastung mit dem vollen Ersatz dem gesunden Volksempfinden gröblich widerspräche.“ 295 § 6 lautet: „Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten rechtswidrig zufügt. – Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Geschäftsherr nachweist, daß den Verrichtungsgehilfen kein Verschulden trifft. Es bleibt jedoch auch in diesem Falle bei der Ersatzpflicht des Geschäftsherrn, wenn er nicht außerdem nachweist, daß er bei der Auswahl und bei der Beaufsichtigung des Gehilfen, sowie bei der ihm etwa obliegenden Beschaffung von Gerätschaften und dergleichen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat, oder daß der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden wäre. Hat der Geschäftsherr aus zwingenden Gründen, namentlich wegen des Umfangs des Betriebes, den Gehilfen nicht selbst ausgewählt und beaufsichtigt oder die Gerätschaften nicht selbst beschafft, so befreit ihn von der Ersatzpflicht nur der Nachweis, daß die mit der Auswahl und der Beaufsichtigung oder der Beschaffung der Gerätschaften betrauten Personen hierbei die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet haben, oder daß der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden wäre. 290
Der Einfluss des ABGB auf Deutschland
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nicht § 1313 a ABGB: „Wer einen anderen zu einer Leistung verpflichtet, steht diesem auch für das Verschulden seines gesetzlichen Vertreters sowie der Person, deren er sich zur Erfüllung bedient, ein wie für sein eigenes.“ für eine anschaulichere Fassung als Vorbild dienen könne296. 5. Zusammenfassung Im Gegensatz zur deutschen Gesetzgebungsgeschichte unter dem Deutschen Bund spielte das ABGB in den Gesetzgebungsarbeiten des Deutschen Reichs während der Kaiserzeit zunächst keine irgendwie herausragende Rolle. Die Versuche Leonhards und Hedemanns, die Entwicklung des österreichischen Zivilrechts in den Gesamtzusammenhang der mitteleuropäischen Rechtsgeschichte einzuordnen, blieben vereinzelt. Erst die Arbeiten Swobodas und Thiemes über die naturrechtlichen Grundlagen des ALR und des ABGB bereiteten auch in Deutschland eine größere Wertschätzung des österreichischen Zivilrechts vor. Zwar versuchten die wenigen noch im Ministerialdienst verbliebenen und an der Universität Wien tätigen österreichischen Juristen, allen voran Swoboda, Bartsch und Kadecka mit ihrer Verteidigung des österreichischen Rechts die sofortige Einführung der Kodifikationen des Reichs zu verhindern.297 Gleichzeitig propagierten sie – nicht ohne jeden Erfolg – in den Ausschüssen der ADR die Leitgedanken und dogmatischen Grundentscheidungen des ABGB für die neue deutsche Kodifikation, das Volksgesetzbuch. Leider ist für die Kriegszeit die Überlieferung der Protokolle und sonstigen Materialien der Ausschüsse der ADR höchst unvollständig, so dass insoweit auch die Beiträge der österreichischen Juristen, deren Publikationsmöglichkeiten im Übrigen sehr beschränkt waren, nur teilweise überschaubar sind. Insgesamt ist aber das Interesse der deutschen Gesetzgebung und Jurisprudenz in der Kriegszeit am österreichischen Zivilrecht eher gering gewesen, zumal der Inhalt und die Ergebnisse der Beratungen in den zivilrechtlichen Akademieausschüssen nur selten an die Öffentlichkeit drangen. Gleichwohl wäre es hinsichtlich einiger dogmatischer Grundlagen im geplanten Volksgesetzbuch vielleicht zu einer Änderung – etwa in der teilweisen Aufgabe des Abstraktionsprinzips – und damit zugleich zu einer Annäherung des deutschen Zivilrechts an die auch von Swoboda immer wieder herausgestellte gesamteuropäische Tradition des Naturrechts gekommen.
– Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, der für den Geschäftsherrn die Besorgung eines der im Abs. 2 Satz 2 bezeichneten Geschäfte durch Vertrage übernimmt.“ 296 Wegen teilweiser Abänderungen in der 2. Lesung im Ausschuss vgl. Schubert, wie Fn. 267, 327 ff. 297 Hierzu ausführlich die in Fn. 115 nachgewiesene Rechtfertigungsschrift von Swoboda.
Der Einfluss des ABGB auf Serbien Jzsef Szalma I. Die Gründe für die Auswahl des ABGB als Vorbild und der Anwendungsbereich In Serbien gab es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, nach der Emanzipation von der mehrere Jahrhunderte dauernden türkischen Herrschaft, keine gelehrten Juristen. Flüchtete doch eine große Zahl von Serben während der Zeit von Arsenije Tscharnojevich (1690) in die südlichen ungarischen Provinzen und gründete dort bis zur Befreiung ihres Heimatlandes mit Bewilligung Kaiser Leopold I. und des ungarischen Königs Joseph I. (ab 1688) zeitweilige Siedlungsorte. Doch Serbien wurde erst mehr als ein Jahrhundert später, ab 1804, befreit. Dennoch blieb dann die Mehrzahl der Serben in Ungarn. Trotz der Erwartung, dass sie nach der Befreiung ihres Heimatlandes kollektiv zurückkehren würden, geschah dies nicht. Von ihrer Warte aus war das verständlich, denn die Serben in Ungarn hatten mehrere Privilegien, an deren Stelle das ungarische Gesetz GA IX trat, das ein Autonomiegesetz war, welches am 14. Mai 1868 in Kraft getreten ist, und das im Wesentlichen die bislang erhaltenen serbischen Privilegien bestätigte1. Die Serben aus den südlichen ungarischen Provinzen studierten oft in Wien oder in Budapest. Unter diesen Studenten war auch Jovan Hadschitsch (Jovan Hadzˇic´), der als serbischer Patriot in seine Heimat zurückkehrte und das serbische Zivilgesetzbuch allein, ohne irgendeine Hilfe, verfasst hatte2. Warum wählte er das ABGB als Vorbild? – Diese Frage stellt man in der heutigen serbischen Fachliteratur „um so mehr, weil andere zeitgenössische Autoren für die serbische Kodifikation das französische Code civil als Vorbild vorschlugen“. Heutige Kommentatoren glauben, dass die Entscheidung von Hadschitsch auch politische Gründe hatte: Die in südungarische Provinzen übergesiedelten Serben lebten schon lange nach den Regeln des ABGB; durch die Wahl des ABGB als Vorbild für sein Kodifikationswerk wollte Hadschitsch die Rechtsvereinheitlichung auf seine Landsleute in der alten Heimat ausdehnen3. Aber er verfolgte noch weitere Absichten4. 1 Siehe z. B. A. Hegedu˝s, Tragdia s szerencse, A kivltsgolt szerb nemzet a XVII–XIX szzadban Magyarorszgon [Tragödie und Glück, Die privilegierte serbische Nation in Ungarn vom XVII–XIX. Jahrhundert], in: Magyar Sz, Novi Sad, Nr. XXIX/44, vom 20. 10. 1990, 16. 2 S. Jovanovic´, Sabrana dela I–III [Gesammelte Schriften], Beograd 1990, 275. 3 Die Kodifikation des serbischen Zivilgesetzbuchs begann schon im Jahre 1829, also bevor Vuk Karadschitsch aus Wien nach Serbien zurückkehrte und dort zum Mitglied der Kodifikationskommission ernannt wurde, die den ersten Entwurf im Jahre 1831 fertigstellte. Aber bis
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Vielleicht können wir heute mit dieser Absicht die außergewöhnliche Grundsatznorm im serbischen BGB (Art. 5) erklären, welche statt der territorialen Anwendung den „übergrenzlichen“, personellen Anwendungsbereich wählte, war doch diese Bestimmung in den bisherigen Zivilgesetzgebungen weder üblich noch bekannt. Ausdrücklich wird darin normiert, dass „sich jeder serbische Bürger, unabhängig davon, ob er in Serbien oder außerhalb von Serbien lebt, nach diesem Gesetz benehmen solle“5. Dies war vielleicht eine nicht zulässige extensive Interpretation des § 4 des ABGB6, unter der Vermeidung der Regel des § 28 ABGB, m. E. nach sogar eine falsche, da im Originaltext des ABGB die „persönliche“ und „sachliche“Ausdehnung der ABGB-Normen auf Gebiete außerhalb des Staatsgebiets nur für Rechtsgeschäfte österreichischer Bürger im Sinne des internationalen Privatrechtes anwendbar war7. Die persönliche Anwendung des SBGB findet man auch an anderen Stellen des Gesetzbuchs. So steht z. B. in § 2: „Mit diesem Gesetz werden die bürgerlichen Rechte geregelt, als ständige Regelung im Ziele der Gerechtigkeit eines Serben zu dem anderen Serben als seinen Bruder, die in gemeinsamen Sonderrechten und Verpflichtungen verlangt wird“8.
März 1834 wusste man über das Schicksal diese Projekts gar nichts. Nach Bevollmächtigung seitens des Fürsten Milosˇ übernahmen Justizminister Lazar Teodorovic´ und der Sekretär der Fürstenkanzlei Dimitrije Davidovic´ die weiteren Arbeit. Wie D. Nikolic´ in der Arbeit „Rad na Grad¯anskom zakoniku u Srbiji 1829 – 1835, godine“ [Kodifikationsarbeiten am Serbischen Bürgerlichen Gesetzbuch], in: Stopedeset godina od donosˇenja Srpskog grad¯ankog zakonika (1844 – 1944) [150 Jahre des Serbischen Bürgerlichen Gesetzbuches], Nisˇ 1995, 23, schreibt, begann die Kodifikationsarbeit unter Umständen, in denen die minimale persönliche Sicherheit der Bevölkerung noch nicht gesichert war. Dies war die Folge des den freien Warenverkehr sabotierenden Absolutismus des Fürsten Milosˇ und seiner Bevollmächtigten. Unter diesen Umständen ging die Kodifikationsarbeit sehr mühsam voran, selbst Fürst Milosˇ hatte mehrere Einwände (Nikolic´, 27 f.). In seinen Memoiren (J. Hadzˇic´, Spomeni, Ogledalo sprsko I, Novi Sad 1864, 132) bemerkte Jovan Hadschitsch: „Es ist wahr, dass der Kodifikationsentwurf der Kommission eine reine Übersetzung des französischen Zivilgesetzbuches war, aber einige Paragraphen, welche diese Übersetzung ergänzten, negierten zuerst die ganzen Ereignisse auf dem Gebiet des Eigentumsrechts; bzw. diese (Ergänzungen) negierten beim Erbrecht das Eigentumsrecht und das volle Erbrecht zugunsten der Frauen.“ Hadschitsch schrieb dem Fürsten 1837, dass dieses Projekt (als eine bloße Übersetzung des französischen Code civil) auf die serbischen Verhältnisse nicht anwendbar sei. Hadschitsch schlug dem Fürsten vor, dass bei den bestehenden serbischen Gewohnheitsregeln das österreichische ABGB eher als Vorbild für das serbische BGB anwendbar wäre. Siehe A. Jovanovic´, Rad na torzˇestvenim zakonima [Kodifikationsarbeiten am SBGB], in: Arhiv knj. VIII/IX, Nr. 4, 2, Beograd 1909, 19; Nikolic´, 19. 4 P. Ivic´, Pogovor u Vukovom Srpskom rjecˇniku [Schlusswort zu Vuks serbischem Wörterbuch], Beograd 1969, 35, 36. 5 s. z. B. Grad¯anski zakonik Kraljevine Srbije [Bürgerliches Gesetzbuch des Königreichs Serbien], 2. Aufl., Beograd 1934, 8 § 5. 6 Aufgehoben durch IPRG, BGBl. 304/1978. 7 s. z. B. D. Mrkus, Osztrk polgri törvnykönyv [ABGB], Budapest 1907, 14, § 4. 8 Grad¯anski zakonik Kraljevine Srbije [Bürgerliches Gesetzbuch des Königreichs Serbien] Beograd 1934, 7, § 2. Es bestanden auch andere Paragraphen, welche ausdrücklich nur die Serben verpflichteten, z. B. § 15: Der gesetzliche Schutz im Bereich der Persönlichkeitsrechte
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Dementsprechend bestand im Anwendungsbereich zwischen den Konzeptionen des ABGB und SBGB ein großer Unterschied. Das ABGB – im Originaltext wurde der betreffende § 4 im Jahre 1978 aufgehoben – enthält grundsätzlich das in der europäischen komparativen Zivilgesetzgebung allgemein anerkannte Territorialprinzip. Das SBGB (§ 5) bestimmte eine, bis zu dieser Zeit und auch später nicht übliche, personal- und extraterritoriale Anwendungsbereich-Regel. Während § 4 des ABGB normalerweise „nur“ die Staatsangehörigen des Staates verpflichtete, wenn auch nur in den Ländern, in welchen das ABGB promulgiert war, verpflichtete § 5 des SBGB ausdrücklich alle Serben, ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit und darauf, ob sie innerhalb oder außerhalb Serbiens lebten. Den einzigartigen Kuriositätscharakter dieser SBGB-Norm im Bereich der Rechtsgeschäfte milderte die Bestimmung des § 6 SBGB, die regelte, dass auch Ausländer, falls sie mit serbischen Staatsbürgern ihre Geschäfte schlossen, oder umgekehrt, Serben mit ausländischen Partnern, ihre Rechte im SBGB suchen konnten. Ausnahmsweise kam das SBGB nicht zur Anwendung, „falls das Geschäft im Ausland entstand oder nach Geschäftswillen an fremde Gesetze geknüpft war, oder wenn die Rechte nach fremden Gesetzen zu erwarten waren“. II. Kritische Bewertungen des SBGB Das Gesetzeswerk von Jovan Hadschitsch (Jovan Hadzˇic´), der Hauptredakteur des SBGB aus dem Jahre 1844 war, wurde vom serbischen wissenschaftlichen Schrifttum teilweise positiv, teilweise aber auch sehr kritisch bewertet. Slobodan Jovanovic´ meinte, dass Jovan Hadschitsch die berühmteste Persönlichkeit der serbischen Gesetzgebung war, einerseits weil er das SBGB ohne Hilfe verfasst hatte, andererseits weil er bei der Organisation der Staatsorgane nach der Verfassung aus dem Jahre 1838 mehr teilnahm als irgend jemand anderer. Er war der Vertreter der Verfassungsverteidigungspartei, deren Mitglieder ihn als Ideologen betrachteten9. Außerdem wollte er den Standard der mitteleuropäischen Gesetzgebung in seinem Land einführen. Mit dem Zivilgesetzbuch wollte er die bürgerliche, kulturelle und wirtschaftliche Emanzipation unterstützen. Zeitgenössische Autoren (aus Montenegro) waren aber sehr kritisch eingestellt. So z. B. Valtazar Bogisˇic´, später Autor des Allgemeinen Vermögensrechtlichen Gesetzbuches für Montenegro aus 1888, der meinte, dass Jovan Hadschitsch ohne wirklichen Grund der Individualisation des Eigentums in Serbien im Wege stehe und dadurch das gewohnheitsrechtlich geschaffene (kollektive) Familieneigentum (zadruzˇna svojina = familiäres Genossenschaftseigentum) zerstöre10. Dies war eine Eigentumsform, und Eigentumsrechte gilt nur für Serben, jedoch wird im zweiten Satz bestimmt, dass diese Rechte auch für Fremde gelten. 9 Siehe Jovanovic´, wie Fn. 2, 275. 10 Siehe V. Bogisˇic´, Pravni obicˇaji u Slovena [Gewohnheitsrechte bei den Slawen], privatno pravo, Zagreb 1872, 10. Siehe auch N. Petrusˇic´, Deoba zadruzˇne svojine [Teilung des Genossenschaftseigentums], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 195. Die gleiche kritische Bewertung
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deren Titular die abstrakte Familie war, und zwar nicht nur in einer, sondern über mehrere Generationen hinweg, was bedeutete, dass man bestimmte Teile des Eigentums (Erbgut) inter vivos und mortis causa nicht veräußern konnte11. In allgemeinen Bestimmungen akzeptierte das SBGB das familiäre Genossenschaftseigentum (§ 36), aber nach den besonderen Regeln der §§ 515, 521 wurde dem Genossenschaftsmitglied für die Dauer der Familiengenossenschaft das Verfügungsrecht über seinen idealen Eigentumsanteil durch Rechtsgeschäfte inter vivos und mortis causa gewährt12. Im Verhältnis zum ABGB hat das SBGB die Besonderheit, dass es eigentumsrechtlich das kollektive (Familien-)Eigentum ermöglichte. Der Einfluss des ABGB, besonders der Bestimmungen der §§ 831, 832, bestand darin, dass ein Mitglied dieser Familiengemeinschaft in den Grenzen seines idealen Anteils dieses Genossenschaftseigentum veräußern konnte, und so nicht nur persönlich, sondern auch mit seinem Vermögensanteil aus der personellen und vermögensrechtlichen Familiengemeinschaft austreten konnte. Dadurch wurde der spätere freie Wirtschaftsverkehr sowie die wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung gefördert (anfangs war nach der Gewohnheitsregel das Veräußerungsrecht nicht gestattet). In anderen Teilen war das SBGB eine wesentlich gekürzte Übersetzung des ABGB, aber die Klarheit der Übersetzung wurde von späteren serbischen Autoren mehrmals bestritten und kritisiert. Die Absicht, eine Zivilrechtskodifikation in dem Land einzuführen, in dem inzwischen – nach der Befreiung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – eine patriarchalisch-autoritäre Staatsführung herrschte, verstärkte die Bestrebungen zur Einführung einer Verfassung und zur Begrenzung der Macht der Fürsten. Diese Bestrebung des SBGB beweist die Bestimmung des Art. 19, wo ausdrücklich festgelegt ist, dass die „Rechte der Fürsten und der Regierung, welche ihre Quellen und Regelungen in diesem Gesetzbuch haben, nach diesem Gesetzbuch beurteilt werden sollten“. Die Literatur bemerkte aber mit Recht, dass das Problem darin bestand, dass die Verfassung mit dieser Regelung nicht im Einklang stand, da sich nämlich eine Bestimmung über die Nichtverantwortlichkeit des Monarchen auch auf seine persönlichen Vermögensrechte bezog. Nur die spätere serbische Verfassung aus dem Jahre 1903 unterschied die privatrechtliche Persönlichkeit des Königs von seinem öffentlich-rechtlichen Status. Der Art. 178 dieser Verfassung schrieb vor, dass man das Staatseigentum vom königlichen Privateigentum, das dem König inter vivos und mortis causa zur
vertrat auch der serbische Schriftsteller und Sprachreformator V. Karadschitsch (siehe Petrusˇic´, 199). Spätere kritische Bewertungen: Zˇ. Peric´, Zadruzˇno pravo po Grad¯anskom zakoniku Kraljevine Srbije IV [Genossenschaftsrecht nach dem SBGB], Beograd 1920, 93 – 126, 140 – 141. 11 Peric´, wie Fn. 10, 128. 12 Siehe Petrusˇic´, wie Fn. 10, 197.
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freien Verfügung steht, nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches unterscheiden soll13. Kritische Bemerkungen gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch hinsichtlich der Systematisierung des SBGB, so etwa erstmals seitens Dragoljub Arand¯elovic´, Professor an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Belgrader Universität, der eine ganz neue Kodifikation des Zivilrechts vorschlug14. Andrija Gams, Professor für Zivilrecht an der Belgrader Universität, erwähnt in seinem Lehrbuch zum „Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts“, dass das ABGB aufgrund der seit der Kodifikation unveränderten schwachen wirtschaftlichen und kulturellen Lage in den nicht entwickelten südlichen Teilen des königlichen Jugoslawiens bzw. südlichen Teilen Serbiens nicht anwendbar war15. Einige Autoren glauben, dass diese unterschiedliche Entwicklung die Ursache war, warum die führenden Juristen im späteren königlichen Jugoslawien eine neue umfangreiche Kodifikation des Zivilrechtes wollten (1934). Wie jene glaubten, hatten die Redakteure dieser neuen Kodifikation „zahlreiche Schwierigkeiten vor sich, vor allem rechtlicher und politischer Art, die mit den großen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Teilen des Königreiches zusammenhingen. Wahrscheinlich wegen dieser Verschiedenheit nahmen [die] Kodifizierer das ABGB als Vorbild für das neue Gesetz …“16. Die wahre Ursache für die Auswahl des Vorbilds war die Tatsache, dass nicht nur im größten Teil des „königlichen Jugoslawien“ das ABGB bereits längere Zeit in Anwendung war, sondern auch, dass in vielen Gebieten des nachfolgenden Jugoslawien, die vorher unter österreichischer und ungarischer Jurisdiktion standen, bereits eine bürgerliche Entwicklung begonnen hatte, und dass eine Zerstörung der Rechtskontinuität im Bereich des bürgerlichen Rechts ein noch größeres rechtliches Chaos und Unrecht verursacht hätte, als dies im Ersten Jugoslawien sowie in seinen Nachfolgestaaten im öffentlich-rechtlichen Bereich oft geschah.
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Siehe D. Vranjanac, Jednakost pred zakonom u srpskom Grad¯anskom zakoniku i neka organicˇenja u primeni ovog nacˇela [Gleichberechtigung vor dem Gesetz im serbischen Bürgerlichen Gesetzbuch und einige Begrenzungen bei der Anwendung dieses Grundsatzes], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 55 f. 14 In D. Arand¯elovic´, Rasprave iz privatnog prava [Privatrechtliche Erörterungen], Belgrad 1913, 145, wird die Konzeption des Redakteurs (Hadschitsch) mit sehr scharfen Worten und Argumenten kritisiert: „Unser BGB ist ein erstklassiges juristisches Unikum. Es gibt selten noch so einen Kodifikations-Redakteur, der so unbegabt für die Strukturierung des Gesetzes ist, wie es unserer war. Dieses Gesetz hat keine klaren Begriffe, ist ohne Systematik, enthält zahlreiche unpräzise Ausdrücke und ist mit seiner ungenügenden Regelung der wichtigsten Rechtsinstitute unserer Gesetze eine Schande für Juristen in Serbien. (…) Wir haben für alle Sachen Zeit, nur für die Reform des Zivilgesetzbuches nicht.“ 15 A. Gams, Uvod u grad¯ansko pravo, Naucˇna knjiga, Beograd 1970, 25. 16 In: Rekonstrukcija pravnog sistema Jugoslavije [Rekonstruktion des Rechtssystems Jugoslawiens], Novi Sad 1998, 291.
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III. Systematischer Vergleich Während das ABGB 1502 Paragraphen enthält, hat das SBGB nur 950 Paragraphen. Nach dem bloßen Vergleich der Normenanzahl, aber auch nach dem Verhältnis der Inhalte, behaupten einige Autoren mit Recht, dass das SBGB eine wesentlich gekürzte Fassung des ABGB sei. Ein erfolgreicher Versuch der parallelen Veröffentlichung des ABGB und des SBGB ist Vukovic´ gelungen: Er stellte die Vorbildnormen des ABGB und die inhaltlich adäquaten Normen des SBGB nebeneinander (z. B.: § 1 ABGB – § 12 SBGB, § 2 ABGB – §14 SBGB, § 3 ABGB – § 3 SBGB, § 4 ABGB – § 5 SBGB, § 5 ABGB – § 7 SBGB usw.)17. Dies war in der Praxis für die Rechtsanwendung der Rechtsregeln (ABGB und SBGB) sehr nützlich, weil inhaltlich identische oder „ähnliche“ Normen, die einander nach der Paragraphenzahl der einzelnen Kodifikationen mehrheitlich nicht entsprachen, nebeneinander erschienen. Dies erleichterte auch den Vergleich und die Bestimmung identischer wie abweichender Normen. Im Bereich der allgemeinen Vorschriften bestanden Normen, die nur im SBGB stehen konnten (z. B. im Wesentlichen die § 1 – 5), aber nicht im ABGB, und umgekehrt (z. B. § 13 über Privilegien, § 9 über Provinzialrecht), die im SBGB fehlten. Weiterhin gab es im SBGB Normen, die in ihrer Formulierung vom ABGB-Vorbild abwichen (z. B. § 13 SBGB vom § 14 ABGB, die die Haupteinteilung des Bürgerlichen Rechts regelten). Die Bestimmung des § 14 ABGB über die Abgrenzung des Zivilrechts von anderen Rechtsgebieten (vom Standpunkt der „Zivilsachen“) regelte positiv, dass „die im bürgerlichen Gesetzbuch enthaltenen Vorschriften … das Personenrecht, das Sachenrecht und die denselben zukommenden Bestimmungen zum Gegenstande haben“. Der § 12 SBGB wandte in diesem Bereich eine negative Methode an und bestimmte, dass „die Vorschriften und Anordnungen, mit welchen die kirchlichen, polizeilichen, strafrechtlichen Sachen und andere landesöffentliche Bereiche verwaltet und verwirklicht wurden, die Normen dieses Bürgerlichen Gesetzbuches nicht betreffen können“. Einige grundlegende Normen, die im ABGB im Kapitel über Personenrechte stehen (§§ 15 – 284), haben im SBGB ihre systematische Stellung in den einleitenden Normen bekommen. So findet man z. B. die heute mit Recht als Menschenrechtsnorm zu bezeichnende Bestimmung des § 16 ABGB (aus dem Ersten Teil, Erstes Hauptstück: Von den Rechten, die sich auf persönliche Eigenschaften und Verhältnisse, Personenrechte beziehen) im SBGB in der Einleitung (Titel B: Die Eigenschaften der Gerechtigkeit in den bürgerlichen Gesetzen §§ 17 und 18). Die Bestimmung des ABGB spricht über die angeborenen Rechte der Menschen und über das Sklavereiverbot. Diese Idee wird im SBGB in zwei Normen geregelt: Der § 17 bestimmt, dass „alle Menschen als Personen betrachtet werden und dass sie natürliche Rechte haben, welche von niemanden aufgehoben werden können“; und der § 18 bestätigt, dass „in 17 Siehe M. Vukovic´ in Zusammenarbeit mit M. Vedrisˇ und D. Vukovic´, Pravila grad¯anskih zakonika [Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches], Zagreb 1961, 3 – 9.
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diesem Land keine Sklaverei besteht und niemand einen Menschen in solcher Macht haben kann, und mit ihm nach Belieben handeln und verfügen kann“. Diese systematische Anordnung im SBGB und die selbständige Normierung der grundsätzlichen Menschenrechte und des Sklavereiverbotes sind nicht zufällig. Eine bevorzugte Stellung im Gesetzestext war sicherlich nötig, da unter dem Fürsten im damaligen Serbien ein autoritäres und absolutistisches Regime herrschte und es auch Sklaverei gab. Mit dieser Systematisierung und Betonung als selbständige Norm wollte der Gesetzgeber (Hadschitsch) diese Erscheinungen zurückdrängen. Die grundlegenden Regeln über die zeitliche Geltung des Gesetzes sind wörtlich und inhaltlich fast identisch; die beiden Gesetze („und die daraus entspringenden rechtlichen Folgen“, § 3 ABGB – „und die Wirksamkeit im Volk“, § 3 SBGB) treten gleich nach der Kundmachung in Kraft. Im gleichen § 3 bestimmt das SBGB die Dauer des Gesetzes und das ist „der Zeitpunkt der Abänderung seitens des Gesetzgebers, nach der vorgeschriebenen Art“. Das Vorbild ABGB spricht im § 9 in einem besonderen Artikel nicht nur über die Abänderung, sondern auch über die Aufhebung des Gesetzes („Gesetze behalten solange ihre Kraft, bis sie von dem Gesetzgeber abgeändert oder ausdrücklich aufgehoben werden“). Das SBGB nahm wie auch das ABGB die Theorie über die zukünftige Geltung der Zivilgesetze an und Verbot die Rückwirkung. Das ABGB tut dies im § 5 mit den Worten: „Gesetze wirken nicht zurück; sie haben daher auf vorhergegangene Handlungen und auch auf vorher erworbene Rechte keinen Einfluss“, und das SBGB sagt im § 7: „Die Gesetze haben keine zurückgreifende Wirkung; sie gelten nur in der Zukunft.“ Der zweite Satz dieses Paragraphen des SBGB gestattet aber, abweichend von der Regelung des ABGB, „teilweise auch die Rückwirkung“, falls ein Streitgegenstand bis zum Inkrafttreten des Gesetzes noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, aber nur für Handlungen, für welche bis zum Inkrafttreten des Gesetzes keine gesetzlichen Regelungen bestanden. Im Auslegungsbereich des SBGB (§§ 8 – 10) werden wie in den vorbildhaften Normen des ABGB (§§ 6 – 8) auch alle klassischen Auslegungsmethoden vorgeschrieben: die sprachliche (§ 8), systematische (§ 8), authentische Interpretation (§ 9 durch den Gesetzgeber, aber – vom ABGB abweichend – auch durch den Fürsten!), sowie in Fällen von Gesetzeslücken die Analogie (§ 10). § 12 ABGB nimmt die gerichtlichen Urteile keineswegs als selbständige Auslegungsart, hier ist die Rede nur von Rechtsanwendung in einzelnen Fällen, ohne Ausdehnung oder Wirkung auf andere Rechtsstreitigkeiten („Die in einzelnen Fällen erlassenen Verfügungen und die vom Richterstuhl in besonderen Rechtsstreitigkeiten gefällten Urteile haben nie die Kraft eines Gesetzes, sie können auf andere Fälle oder auf andere Personen nicht ausgedehnt werden“). Wörtlich und auch in ihrem Sinn vom ABGB abweichend spricht aber § 11 SBGB über „ständige gerichtliche Auslegung“, worunter „mehrere Entscheidungen mit gleichen Aussprüchen über gleiche Fälle“ zu verstehen sind. Hier besteht ein Einfluss des ungarischen Rechts. Aber die weitere Verfügung des Gesetzes qualifizierte diese ständigen gerichtlichen Urteile nicht als meritorisch für weitere ähnliche Fälle – wie das beim Präzedenzsytem üblich ist –, sondern nur „als solche, und sie haben keine gesetzliche Kraft“. Daraus aber konnte man nicht ersehen, was
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die wahre Absicht des Verfassers war, welche Funktion oder praktische Rolle die „ständige gerichtliche Auslegung“ haben sollte. Die Gewohnheitsregeln kommen nach dem ABGB (§ 10), wie auch in anderen Zivilrechtsgesetzen, nur ausnahmsweise zur Anwendung: Sie werden nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz auf Bräuche beruft, berücksichtigt. Im Gegensatz dazu teilt § 10 SBGB der Anwendung der Bräuche eine wichtige Rolle zu, nämlich in allen Fällen, in welchen eine besondere (gesetzliche) Regel fehlt. Anfangs war dieser Anwendungsbereich also sehr breit, weil keine Sondergesetze bestanden. Da das SBGB selbst nicht alle Zivilrechtsverhältnisse regelte, fanden sich wahrscheinlich bei der Rechtsanwendung mehrere Gesetzeslücken. Jedoch legte die weitere Regelung des § 10 SBGB genaue Kriterien fest, unter welchen die Bräuche berücksichtigt werden konnten, diese waren: • „allgemeine Grundsätze“ (des SBGB); • die „vernünftige“ und „treue“ Anwendung der Bräuche; • Anwendung nur der Bräuche, welche „allgemein anerkannt“ waren; • Berücksichtigung der gesetzlichen Regeln, welche für „ähnliche Fälle“ bestanden (Rechtsanalogie). Die heutigen Kommentatoren glauben aber, dass diese Restriktion die Gewohnheitsregeln streng begrenzte und erklären dies damit, dass „Hadschitsch aus Novi Sad stammte, das außerhalb des serbischen Staatsgebiets lag, und wo das österreichische Recht angewandt wurde, und er deswegen meinte, dass die Bräuche auch in Serbien schon anachronistisch seien und er wollte sie zuerst im SBGB außer Acht lassen. Mehrere zeitgenössische und spätere Rechtshistoriker meinten aber, dass das SBGB zu seiner Zeit und auch später besser und näher den serbischen Menschen und der serbischen Gesellschaft dieser Zeit gewesen wäre, wenn er mehr Gewohnheitsregeln in die Kodifikation inkorporiert hätte. Auch Fürst Milosˇ Obrenovic´ bestand selbst darauf, dass bei der Kodifikation die maximale Anwendung der Gewohnheitsregeln unentbehrlich sei“18. § 10 des ABGB behält aber bei der Anwendung des Analogieprinzips die Regel aus dem § 10 des ABGB (erster Satz) nur für die klassischen Fälle der Gesetzeslücken bei19. Das SBGB enthält, wie auch das ABGB, in den Grundsatznormen kein Gesetzesumgehungsverbot (Missbrauchsverbot), weil nach den in „Zivilrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts herrschenden Auffassungen statt des Umgehungsverbots die An18
N. Vojinovic´, Srpski grad¯anski zakonik i obicˇajno pravo [Das serbische BGB und die Gewohnheitsregeln], Nisˇ 1995, 30 f. 19 So auch M. D. Simic´, Kriticˇko razmatranje Matic´evog „Objasˇnjenja“ o tumacˇenju Zakona [Kritische Bewertung der Matic´schen Auffassungen über die Auslegung in seinem Kommentar zum SBGB], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 49; Hier ist die Rede vom ersten SBGBKommentar: D. Matic´, Objasˇnjenje Srpskog grad¯anskog zakonika za Knjazˇevstvo Srbsko [Kommentar zum Serbischen bürgerlichen Gesetzbuch für das Fürstentum Serbien], Beograd 1850.
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wendung der natürlichen Rechte ein besseres Mittel gegen die Umgehung darstellt“ wie auch § 7 ABGB und § 8 SBGB. So glaubte der österreichische Jurist J. Winiwater, dass nach österreichischem Recht die Umgehung des Gesetzes deswegen verboten ist, weil dies gegen die Natur des gemeinschaftlichen Lebens ist und weil dies bei der Rechtsausübung dem einen Rechte, dem anderen Schaden verursache20. Im Bereich der Personenrechte spricht das SBGB im Wesentlichen analog zur Systematisierung des § 15 ABGB – persönliche Eigenschaften und Verhältnisse; Familienverhältnisse – über die „I. Personen und Rechte nach ihren Eigenschaften“ (§§ 36 – 59); „II. Rechte und Pflichten zwischen den Ehepartnern“ (§§ 60 – 111); „III. Rechte und Pflichten zwischen Eltern und ihren Kindern“ (§§ 112 – 155); „IV. Vormundschaft“ (Tutela) (§§ 156 – 181, an deren Stelle am 25. Oktober 1872 das (Sonder-)Gesetz über Vormundschaft getreten ist: §§ 1 – 165). Trotz der Deklaration über die bürgerliche Gleichberechtigung vor dem Gesetze gibt es beim SBGB im Grundsatzbereich (§ 19 1. Absatz: „Bei der Verwirklichung des Privatrechts sind alle vor dem Gesetz und vor dem Gericht gleich“) zahlreiche besondere Normen, aus denen diese Gleichberechtigung nur für Männer hervorgeht und nicht auch auf Frauen ausgedehnt wird. Die für Frauen nachteiligen Ausnahmen kommen besonders auf dem Gebiet der Eheverhältnisse und beim Erbrecht zum Ausdruck21. (So hatte z. B. im Eheverhältnis der Ehemann die patres potestatis §§ 109 und 110 SBGB; die verheirateten Frauen hatten nur eine begrenzte Geschäftsfähigkeit entsprechend den älteren Minderjährigen nach §§ 37, 39, 533, und 920 SBGB22 ; im „Familienrat“ waren nach §§ 101 und 102 SBGB23 nur die Männer vertreten; J. Winiwarter, Das Österreichische Bürgerliche Recht II, Wien 1832, 109; M. Vukovic´, Zloupotreba subjektivnih prava [Missbrauch der subjektiven Rechte], in: Zbornik Pravnog fakulteta u Zagrebu, Nr. 3/1953, 42; N. Peric´, Teorija Zloupotrebe prava i grad¯ansko zakonodavstvo [Theorie vom Missbrauch des Rechts und die Bürgerliche Gesetzgebung], Beograd 1912, 128 f. Doch Peric´ geht zu weit in seiner Theorie, dass „der Titular des subjektiven Rechts sich nur mit Rücksicht auf eigene Interessen benehmen kann (…) ohne Rücksicht darauf, ob wir mit unserem Verhalten anderen Schaden verursachen“ (!). Siehe Zˇ. Peric´, O obavezi zasˇtite od evikcije kod ugovora o prodaji i kupovini (Über den Rechtsschutz von Eviktion beim Kaufvertrag), Beograd 1909, 15 – 17. Siehe auch: D. Nikolic´, Srpski grad¯anski zakonik i zloupotreba prava [SBGB und der Missbrauch des Rechts], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 68 – 70. 21 Siehe A. Bozˇic´, Polozˇaj zˇene u privatnom pravu [Rechtsstand der Frauen im Privatrecht], Beograd 1939, 158; M. Jovanovic´, Status zˇene prema Grad¯anskom zakoniku za knezˇevinu Srbiju [Status der Frauen nach SBGB für das Fürstentum Serbien], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 80. 22 Siehe auch Zˇ. Peric´, Reforma poslovne sposobnosti udate zˇene po francuskom i nasˇem grad¯anskom zakoniku [Reform der Geschäftsfähigkeit der Frauen nach französischem und unserem Gesetzbuche], in: Arhiv za pravne i drusˇtvene nauke, Beograd, Bd. XXVII (XLX), Nr. 2/1934, 89 – 98; C´. M. Dusˇko, Poslovna sposobnost zˇena prema SGZ [Geschäftsfähigkeit der Frauen nach dem SBGB], in: Zbornik radova Pravnog fakulteta u Prisˇtini XI–XII (1997), 414 f. 23 Siehe Zˇ. Peric´, Zadruzˇno pravo po Grad¯anskom zakoniku Kraljevine Srbije I, 2. Aufl., Beograd 1924; ders., Zˇena u SGZ [Die Lage der Frauen nach dem SBGB], in: Arhiv za pravne i drusˇtvene nauke, Bd. XVI (XXXIII), Nr. 1/1928, 9. 20
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nach §§ 396, 402 und 308 SBGB bestand beim Erbe eine Priorität zu Gunsten der männlichen Verwandten und Nachfolger; gemäß § 130 SBGB bestand ein Verbot der Feststellung der außerehelichen Vaterschaft, im Komorientenfall wurde fingiert, dass die Frau zuerst verstarb – § 52 SBGB; die Töchter konnten nach dem Originaltext des § 529 SBGB ihren Vater nicht beerben; über die Verwaltung des Familiengemeinschaftseigentums konnten nur die volljährigen Männer – Mitglieder der Familiengemeinschaft – entscheiden § 510 SBGB; usw.) Weiterhin erwarben fremde Frauen, welche mit Serben verheiratet waren, alle bürgerlichen Rechte unter der Voraussetzung der Reziprozität, aber die mit Fremden verheirateten serbischen Frauen verloren alle ihre bürgerlichen Rechte, falls dies auch nach fremden Gesetzen in gleichen Fällen so üblich war (so § 48 SBGB). Hier steht das SBGB auch nicht im Einklang mit der entsprechenden Norm des ABGB (§ 33), welche grundsätzlich dem Fremden die gleichen bürgerlichen Rechte und Verbindlichkeiten wie auch dem Einheimischen gewährte. Der Ehemann war nach § 109 SBGB „der Vorsteher des Hauses und der Verwandten“ (bzw. der Familie), demnach ist seine Verpflichtung, die „Verwaltung des Hauses und des Vermögens, die Versorgung der Ehefrau nach seinen Möglichkeiten, sowie sie vor allen Angriffen zu verteidigen und an allen Stellen zu vertreten.“ (Unter den „Verwandten“ verstand das § 55 SBGB die ganze Familie, die Vorfahren und die Nachkommenschaft). Nach § 110 SBGB sollte die Ehefrau die Befehle ihres Ehemannes erfüllen, ihn nach seinem Belieben begleiten, mit ihm zusammenleben, den Haushalt führen, bei der Bewahrung des Vermögens Hilfe leisten, insbesondere aber die Kinder beaufsichtigen und sie nach guten Sitten und in Sauberkeit erziehen. Unter Ehe verstand das SBGB nur die Ehe (§§ 60 – 111), welche nach den konfessionellen Regeln der orthodoxen Kirche geschlossen wurde (§§ 60, 83, 90 – 92). Nichtig war die Ehe zwischen Christen und Nichtchristen (§ 79). Falls während der Abwesenheit des Ehemannes die Frau eine neue Ehe einging, konnte der Ehemann nach seiner Rückkehr nach eigenem Willen seine vorherige Ehefrau zurücknehmen (§ 97). Die Ehescheidung war im Prinzip nicht gestattet, aber die Ehe konnte wegen beiderseitigen Ehebruchs (§ 81) oder anderen festgelegten Gründen (§ 93) für nichtig erklärt werden. Ausnahmsweise war in bestimmten Fällen (§ 94) auch die Ehescheidung gestattet (bewiesener Ehebruch, gemeinsame strafbare Handlung, Vermeidung der christlichen Gesetzesregeln, fraudulöse längere Abwesenheit). Das Vorbild ABGB regelte im Gegensatz zum SBGB, (wo die religiöse Form als die pflichtmäßige vorgesehen war), bei den Familienverhältnissen nur den zivilrechtlichen Teil des Eheverhältnisses gemäß § 44: „Die Familienverhältnisse werden durch den Ehevertrag gegründet“. Nach § 37 SBGB – wie auch gem. der gleichen Regelung des Originaltextes im ABGB (§ 21 Abs. 2, später geändert) – fing die Volljährigkeit mit 21 Jahren an. Im Bereich des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern erkannten bestimmte Autoren im § 115 SBGB den Einfluss des ehemaligen ungarischen Gesetzes über die
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Vormundschaft (§ 90)24. Hier war nach SBGB die Rede von elterlichen Pflichten hinsichtlich der Erziehung. Sie hatten insbesondere die „seelischen Fähigkeiten der Kinder zu entwickeln“, „zu ihrer Schulung beizutragen“ und auch „für ihr Leben und Gesundheit Fürsorge tragen sollen“. Ähnliche Verpflichtungen enthielt auch das ABGB: „Die Eltern haben für die Erziehung ihrer minderjährigen Kinder zu sorgen und überhaupt ihr Wohl zu fördern“ (§ 137 Abs. 1). Die dinglichen (Sachen-)Rechte sind wie auch im ABGB (§§ 285 – 530) im II. Teil des SBGB (§§ 182 – 393) geregelt, wobei die Untertitel im Wesentlichen mit den entsprechenden ABGB-Normen identisch waren (I. Von den Sachen und den Rechten an den Sachen, §§182 – 197 SBGB – Von den Sachen und ihrer rechtlichen Einteilung/ dem Begriff von den Sachen im rechtlichen Sinne §§ 285 – 307 ABGB; II. Von dem Besitze und von dem Recht am Besitz, §§ 198 – 210 SBGB – Von den dinglichen Rechten, Von dem Besitze, Inhaber, Besitzer §§ 309 – 351 ABGB; III. Von dem Eigentum, §§ 211 – 224 SBGB / §§ 353 – 379 ABGB; IV. Von der Erwerbung des Eigentums [durch Zueignung], §§ 225 – 257 SBGB / §§ 380 – 403 ABGB; V. Von der Erwerbung des Eigentums durch Zuwachs, §§ 258 – 284 SBGB / §§404 – 422 ABGB; VI. Von der Erwerbung des Eigentums durch Übergabe, §§ 285 – 303 SBGB / §§ 423 – 446 ABGB; VII: von den Pfandrechten §§ 304 – 330 SBGB / §§447 – 471 ABGB; VIII. Über Dienstbarkeiten (Servitute), §§ 331 – 393 SBGB / §§ 472 – 530 des ABGB). Eine der wesentlich abweichenden Normen des SBGB vom ABGB ist die Regel vom Besitz (§ 198 SBGB und § 309 ABGB), die deswegen schon vom Anfang an Gegenstand der Diskussion in der serbischen Literatur war. Das SBGB fasste nämlich die Begriffe „Besitz/Besitzer“ und „Inhabung/Inhaber“ als identisch auf („Falls jemand eine Sache im Besitz hat, mit dem Willen, sie als seinige zu behalten und dies mit entsprechenden Zeichen zeigt, so ist er der Besitzer oder Inhaber dieser Sache“, § 198 SBGB). Deswegen bemerkte schon Gersˇic´ mit scharfer Kritik, dass „Hadschitsch den Besitz nicht gut verstanden hat und ihm der wahre Sinn des § 309 ABGB unklar war“25. Der erste Kommentator des SBGB, D. Matic´, war der Meinung, dass Besitzer und Inhaber das Gleiche sind. Doch im Kommentar zu § 309 ABGB meinte er, dass zwischen dem Inhaber und Besitzer ein Unterschied bestünde. Unter dem Inhaber verstand das ABGB seiner Meinung nach eine faktische Macht an der Sache und eine Dispositionsmöglichkeit mit der Sache, unabhängig davon, ob ein Recht besteht oder nicht. Den Besitzer charakterisiert dagegen neben der faktischen Macht an der Sache auch „der Wille, die Sache als die seinige zu behalten“. Diesen Unterschied machte das SBGB nicht, aber im § 200 anerkennt es den gerechten Besitz, wenn der Besitz auf Grund eines Rechtstitels entstanden war, 24
Kovacˇek, Roditeljsko pravo u SGZ [Elternrecht nach SBGB], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 121. 25 G. Gersˇic´, Priroda drzˇavine i osnova njene zasˇtite [Die Rechtsnatur des Besitzes und die Grundsätze für ihren rechtlichen Schutz], Beograd 1885; so auch A. ¯Dord¯evic´, Sistem privatnoga (grad¯anskoga) prava I [System des Privatrechts], Beograd 1903.
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der nach ABGB Besitz ist26. Es ist somit die Rede von rechtmäßigem und unrechtmäßigem Besitz (§ 316 ABGB), der für den Inhaber, der die faktische Macht an der Sache hat, und den Besitzer, der neben der faktischen Macht die Sache nach eigenem Willen als die seine behalten will, gemäß dem ABGB klar zu unterscheiden ist, wo dem Verteilungskriterium des Besitzes ein Rechtstitel zugrunde liegt. So konnte der Inhaber und auch der Besitzer im rechtmäßigen und unrechtmäßigen Besitz einer Sache sein, abhängig davon, ob dem Besitz oder dem Inhaberverhältnis ein rechtlich begründeter Titel zugrunde lag. Das IX. Hauptstück des SBGB (VIII. Hauptstück des ABGB), das den Eigentumserwerb weiter behandelte, regelte die Erbrechte wie sein Vorbild ABGB (§§ 394 – 530 SBGB; §§ 531 – 824 ABGB), allerdings mit abweichenden Besonderheiten bei den Regeln über das Erbrecht am Familiengemeinschaftsvermögen (§§ 507 – 530 SBGB). Die schuldrechtliche Regelung stand im SBGB (Zweite Abteilung) zwischen den §§ 532 – 921, während sie im ABGB (Zweite Abteilung, Von den persönlichen Sachenrechten) zwischen den §§ 859 – 1450 zu finden war. Die Normen über die Verjährung fand man im SBGB in den §§ 922 – 950, im ABGB in den §§ 1451 – 1502. Auf dem Gebiet des Schuldrechts bestand eine wesentliche Gleichheit in der Systematik und dem Inhalt der Regeln zwischen dem SBGB und ABGB (XVII. Hauptstück, Von Verträgen und Rechtsgeschäften überhaupt §§ 859 – 937, SBGB §§ 231 – 560 – Von Verträgen und Rechtsgeschäften überhaupt, Grund der persönlichen Sachenrechte, §§ 859 – 937 ABGB; XVIII. Hauptstück, Von Schenkungen, §§ 561 – 581 SBGB – Von Schenkungen, Schenkung §§ 938 – 956 ABGB; XIX. Hauptstück, Von dem Verwahrungsvertrag, §§ 569 – 592 SBGB – §§ 957 – 970 ABGB, ohne Novellen; XX. Hauptstück, Von dem Leihevertrage, §§ 582 – 592 SBGB – §§ 971 – 982 ABGB; XXI. Hauptstück, Von dem Darlehenvertrage §§ 593 – 608 SBGB – §§ 983 – 1001 ABGB; XXII. Hauptstück, Von der Bevollmächtigung und Geschäftsführung, §§ 609 – 631 SBGB – 1002 – 1044 ABGB; XXIII. Hauptstück von dem Tausche, §§ 632 – 640 SBGB – §§ 1045 – 1052 ABGB; XXIV. Hauptstück, Von dem Kaufvertrage, §§ 641 – 676 SBGB – §§ 1053 – 1089 ABGB; XXV. Hauptstück, Pacht, §§ 677 – 705 SBGB – Von Bestand-Erbpacht und Erbzinsverträge §§ 1090 – 1150 ABGB; XXVI. Hauptstück, Vom Dienst §§ 706 – 722 SBGB – Von Verträgen über Dienstleistungen, Dienst– und Werkvertrag §§ 1151 – 1176 ABGB; XXVI. Hauptstück, Gemeinschaft §§ 732 – 758 SBGB – Von den Verträgen über eine Gemeinschaft der Güter, §§ 1175 – 1216 ABGB; XXVIII. Hauptstück, Von den Ehepakten, §§ 759 – 788 SBGB – §§ 1217 – 1266 ABGB; XXIX. Hauptstück, Von den Glücksverträgen §§ 789 – 799 SBGB – §§ 1267 – 1341 ABGB). Danach folgte im SBGB das XXX. Hauptstück mit der Regel vom Schadenersatz (§§ 800 – 826 SBGB), welche man im ABGB unter dem gleichen Titel (Dreißigstes 26 D. Matic´, Objasˇnjenje I–II [Erklärungen], wie Fn. 19, 302; R. Kovacˇevic´ Kusˇtrimovic, Drzˇavina prema SGZ i OIZ [Der Besitz nach dem SBGB und nach dem BGB für Montenegro], in: Stopedeset godina, wie Fn. 3, 152 f.
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Hauptstück, Von dem Rechte des Schadenersatzes und der Genugtuung, §§ 1293 – 1340 ABGB) fand. Die gemeinschaftlichen Bestimmungen der Personen und Sachenrechte, insbesondere von der Festigung der Rechte wie Bürgschaft, Pfandvertrag, der Umänderung der Rechte wie Novation, Vergleich, Zession und Schuldübernahme, die Aufhebung der Rechte und Verbindlichkeiten wie Zahlung, Kompensation, Entsagung, Vereinigung, Tod und Verlauf der Zeit (aus dem dritten Teil des ABGB §§ 1342 – 1450) fand man im Wesentlichen auch im dritten Teil des SBGB (§§ 827 – 921 SBGB). Auf dem Gebiete des Schuldrechts waren die wesentlichen abweichenden Normen beispielsweise die Regel von der Schadloshaltung wegen Verkürzung über die Hälfte (§ 559 SBGB – §§ 934 – 935 ABGB), weil das SBGB die sogenannte objektive, das ABGB dagegen die subjektive Theorie von der laesio ultra dimidium pars angenommen hatte. Im SBGB wurde wegen einer Textkürzung die subjektive Voraussetzung aus dem § 935, den Irrtum über den wahren Wert im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, außer Acht gelassen. Auch die Formvorschriften des §§ 541 – 542 SBGB waren verglichen mit den Normen der §§ 883 – 886 ABGB abweichend und verkürzt. So lautete es nach SBGB: „Jemand, der nicht schreiben kann, soll seinen Namen von jemand anderen unterschreiben lassen; oder selbst ein Kreuz, oder seinen Stempel setzen, und zwei Zeugen werden dies bezeugen, sowie dass er nach eigenem Willen das Geschäft abgeschlossen und unterschrieben hat.“ Das SBGB akzeptiert – wie auch das ABGB – das Konsensualprinzip (§ 541 SBGB – §§ 883 – 884 ABGB), aber bei formellen (schriftlichen) Geschäften entstand das Geschäft mit der Unterschrift (§ 541 SBGB). IV. Statt einer Zusammenfassung Das SBGB war im Wesentlichen eine gekürzte Übersetzung des ABGB. Seine Einführung in Serbien war positiv, weil sein Verfasser Hadschitsch durch die zivilrechtliche Gleichbehandlung einen Gegensatz zur absolutistischen Macht der serbischen Fürsten bilden, den mitteleuropäischen Standard im Bereich der Zivilgesetzgebung anwenden und die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung unterstützen wollte. Hadschitschs Gegner wollten aber nur die serbischen Gewohnheitsregeln bei der Kodifikation des Zivilrechtes verwirklicht sehen, die jedoch die zivilrechtliche Gleichbehandlung in mehreren wichtigen Bereichen, (wie z. B. bei den familienrechtlichen und erbrechtlichen Verhältnissen) nicht gestatteten. Deswegen musste Hadschitsch eine Kompromisslösung wählen. Er akzeptierte zwar die Gewohnheitsregeln zuerst im Familienrecht und im Familiengemeinschaftsrecht (mit persönlicher und vermögensrechtlicher Wirkung), gleichzeitig korrigierte er diese aber, wo immer dies möglich war, durch eine grundrechtliche Regelung. Auf dem Gebiet des Schuldrechts war das SBGB in Systematik und Inhalt dem Vorbild ABGB näher. In diesem Bereich waren die Einwände über die mangelhafte Systematik des SBGB nicht vollständig begründet. Es bestanden aber auch ungewöhnliche Lösungen im Bereich der
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persönlichen Anwendung des Gesetzes außerhalb der Grenzen Serbiens, ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit oder Vertragsbestimmungen.
Autorenverzeichnis Univ.-Ass. Dr. Elisabeth Berger, Universität Wien, E-Mail: [email protected] Prof. Maria Rosa Di Simone, Universit degli Studi di Rom Tor Vergata, Rom, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Barbara Dölemeyer, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. hab. Andrzej Dziadzio, Uniwersytet Jagiellonski, Krakau, E-Mail: [email protected] Prof. JUDr. Josef Fiala, CSc., Masaryk-Universität, Brno, E-Mail: [email protected] Prof. em. Dr. Nikola Gavella, Universität Zagreb, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Igor Gliha, Universität Zagreb, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Tatjana Josipovic´, Juristische Fakultät, Universität Zagreb, E-Mail: [email protected] Mag. Hans-Christian Krasa, Fernmeldebüro für Wien/NÖ/Bgld., Wien, E-Mail: [email protected] Ao. Prof. Dr. Christian Neschwara, Universität Wien, E-Mail: [email protected] Prof. JUDr. Jarmila Pokorna, CSc., Masaryk-Universität, Brno, E-Mail: [email protected] Prof. em. Dr. Werner Schubert, Universität Kiel, E-Mail: [email protected] Ao. Prof. Dr. Zlatan Stipkovic´, Universität Zagreb, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Jzsef Szalma, Universität Novi Sad, E-Mail: [email protected]