Österreichisches Jahrbuch für Politik 2020 [1 ed.] 9783205213697, 9783205212713


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Österreichisches Jahrbuch für Politik 2020 [1 ed.]
 9783205213697, 9783205212713

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Österreichisches

Jahrbuch für Politik

österreichisches jahrbuch für politik 2020

Österreichisches Jahrbuch für Politik 2020 Herausgegeben von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch und Günther Ofner

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Redaktion: Dr. Christian Moser-Sollmann Redaktionssekretariat: Dr. Saskia Dragosits Anschrift: Tivoligasse 73, 1120 Wien Tel.: 01/81420-19 E-Mail: [email protected] Eine Publikation der Politischen Akademie Umschlagentwurf: Rebecca Ruminak Satz: Böhlau Verlag, Wien Typographie: Corporate S und Bembo © Politische Akademie 2021 Alle Rechte vorbehalten Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien · Köln · Weimar ISBN 978-3-205-21369-7 ISSN: 0170-0847

Inhalt XI Vorwort der Herausgeber

wahlen 3 franz sommer: Wien-Wahl mit starker b ­ undespolitischer Komponente 15 eva zeglovits: Wien-Wahl im Corona-Modus

schwerpunkt corona-krise 27 sylvia kritzinger/fabian kalleitner/julia partheymüller:

Das Austrian Corona Panel Project (ACPP) 41 reinhard heinisch/susanne rhein: Populismus, Pandemie und

­subjektive Betroffenheit in Ö ­ sterreich. Ergebnisse einer Umfrage 57 christoph badelt: Wirtschaftliche Instrumente zur Bewältigung der

Corona-Krise. Ein Überblick 69 wolfgang mazal: Kurzarbeit als Kriseninstrument 81 andreas gnesda: Remote Office.Wie die Corona-Krise die Arbeitswelt

­verändert hat. 93 peter nindler: Ischgl hat sich und Tirol verändert 105 thomas czypionka/martin g. kocher: Volkswirtschaftliche Folgen der

Pandemie 119 maria großbauer: Folgen der Pandemie für das K ­ ulturland Österreich 133 peter bußjäger/mathias eller: Zentrale oder regionale Corona-

Bekämpfung? Eine Zeitreise durch den Verordnungs­dschungel

V

österreichisches jahrbuch für politik 2020

147 ida-maria kisler/martin themeßl-huber: 147 Der Lockdown.

159 167 177

197 211 219 231

Überlegungen zu psychosozialen Folgen politischer Maßnahmen im Kontext der COVID-19-Pandemie aus p­ sychotherapeutischer Sicht sabine seidler: „Nun muss sich alles, alles w ­ enden“? Corona als Innovationstreiber für die ö ­ sterreichische Wissenschaft fritz enzenhofer: Corona und Bildung. Digitalisierung statt Schule? caroline heinrich: Das Jahr der Verschwörungs­theorien. Die Popularität von ­Verschwörungs­theorien und das Problem ihrer Dekonstruktion thomas hofer: Land der Hemmer gregor schütze: Kommunikation in der Krise wolfgang hattmannsdorfer/anna ferihumer: Parteikommunikation in Zeiten der Corona-Krise bernhard ebner: Erfolgreiche Parteikommunikation in Zeiten der Pandemie am Beispiel der Volkspartei Niederösterreich. Was braucht es für Erfolg in der Krise

d e r u m g a n g v o n r e g i e r u n g u n d ­w i r t s c h a f t m i t d e r corona-krise 245 mario zenhäusern: Krisenmanagement schaut anders aus 2 49 andreas koller: Und jetzt: Der große Post-Corona-Österreichkonvent! 253 martina salomon: Wie die Koalition in einem Ausnahmejahr in

257 263 267 271

277

VI

die ­Doppelmühle geriet, auf welche Art sie mit den Medien ­kommunizierte, und was zu wenig besprochen wurde michael völker: Das Jahr der Zweifler antonia gössinger: Der Staat darf sich aus seiner F ­ ürsorgepflicht nicht zurückziehen meinrad knapp: Die Jahrhundert-Pandemie ist ­einfach zu groß, als dass Kurz sie alleine bewältigen kann christian nusser: Viruslast. Österreich gegen Corona: Die zehn ­g röbsten Fehler der Regierung in der Krise und was es daraus zu lernen gäbe matthias schrom: Fünf Erkenntnisse zu 2020

inhalt

p a r t e i e n / i n n e n p o l i t i k / p a r l a m e n ta r i s m u s 285 kathrin stainer-hämmerle: Aufstieg, Fall und Wiedergeburt 297 katrin praprotnik: Die Grünen. Ihr Weg von der 309 319 327 343 351 361 3 69

373 385 393 399 405

außerparlamentarischen Opposition in die Regierung bettina rausch: Das erste Jahr. Türkis-grüne Regierungsarbeit abseits von Corona doris bures: Ein Jahr Türkis-Grün. Eine erste Regierungsbilanz andreas khol: Der Ibiza-Untersuchungsausschuss auf abschüssigem Weg. Eine Zwischenbilanz karl lengheimer: Befangenheit in der Vorsitz­führung eines parlamentarischen ­Untersuchungsausschusses andrea hodoschek: Burgenländisches Pyramidenspiel johannes domsich: Hass im Netz lisa fellhofer: Der Österreichische Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischen Extremismus (Dokumentationsstelle Politischer Islam) susanne raab: 10 Jahre Integrationsarbeit in Ö ­ sterreich magnus brunner: Mit dem Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz die Energiewende schaffen doris bures: Karl Renner – der Republikgründer und die Zweifler franz schausberger: Karl Renner – auch nur ein Mensch wolfgang sobotka: Politik versus Geschichte. Renners 150. Geburtstag. Ein Anlassfall

europa 415 karoline edtstadler: EU-Wiederaufbaufonds. Schuldenunion versus

„Frugale Vier“. Eine politische Schicksalsfrage 427 walter obwexer: „EU-Wiederaufbaufonds“. Schuldenunion versus

„Frugale Fünf“. Eine politische Schicksalsfrage 445 karl jurka: Europäische Geschichte wider ­Willen. Europapolitik von

Angela Merkel und Ursula von der Leyen. Ein Vergleich

VII

österreichisches jahrbuch für politik 2020

455 faruk a jeti: Die Kosovo-Politik als Konstante der österreichischen

Außenpolitik 469 lukas mandl: Europa braucht jetzt viel Vertrauen in die eigenen

Stärken

wissenschaft 485 philip plickert: Afrikas Bevölkerungsexplosion und der zu erwartende

Migrationsdruck 503 paul m. zulehner: Plädoyer für ein „politisches C ­ hristentum“.

Die Enzyklika „Fratelli tutti“ im Spiegel einer Weltumfrage

zeitgeschichte 517 christoph grabenwarter: Die Bundesverfassung nach 100 Jahren 529 franz schausberger: 100 Jahre Bundesverfassung. Spagat zwischen

Zentralismus und F ­ öderalismus 543 hannes schönner: Sternstunden und Albtraum­momente. 75 Jahre Österreichische Volkspartei im Spiegel des Krisenmanagements 557 alexander purger: Das ABC eines unschönen Jahres 569 Biografien der Herausgeber und Autoren 577 Personenregister 579 Sachregister

VIII

leitartikel/vorwort der herausgeber

JURKA P.S.A. GmbH Political Strategic Advisors

UNSERE KOMPETENZ – IHR VORSPRUNG Als europapolitische Spezialisten agieren wir zielgerichtet und branchenübergreifend auf internationaler Ebene. Mit unseren Büros in Berlin und Wien, sowie ständiger Präsenz in Paris und Brüssel sind wir Ihre Übersetzer zwischen Wirtschaft und Politik. Aufgrund unserer jahrelangen Expertise entwickeln wir für Sie eine optimale Strategie und bringen Ihre Geschäftsinteressen auf die politische Ebene.

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Email: [email protected] www.karljurka.com

Vorwort der Herausgeber Das Vorwort unseres letzten Jahrbuchs haben wir mit folgendem Satz begonnen: „Das Jahr 2019 wurde zu einem Jahr von sich überstürzenden Überraschungen und einer neuerlichen Wende in der österreichischen Innenpolitik.“ Da wussten wir nicht, was sich an überstürzenden Überraschungen alles im heurigen Jahr ereignen würde … Das Jahr 2020 wird als das Jahr der Corona-19-Pandemie in die Geschichte eingehen. Die weltweite Seuche, ihre blitzschnelle Verbreitung über den Erdball, die unterschiedlich erfolgreichen Maßnahmen der Eindämmung und Bekämpfung, und die schnellen Entwicklungen von Impfstoffen durch Pharmabetriebe in Europa, den USA, Russland, Indien und China prägten die Weltgeschichte. Unser Jahrbuch trägt diesem Zeitabschnitt Rechnung. Die Pandemie, ihre Bekämpfung, ihr Fortschreiten, ihre kurz- und langfristigen Folgen stehen im Zentrum der über 40 Beiträge. Das Jahr 2020 war nämlich ein besonderes, und wenn überhaupt in der Dramatik und Einmaligkeit vergleichbar, dann nur mit den Jahren 1918 und 1945. Wir wollen auch heuer einen für uns wesentlichen Auftrag des Jahrbuchs erfüllen: Lesern in späteren Jahren die Dramatik in der zeitgenössischen Betrachtung des Jahres 2020 zu vermitteln. Natürlich bearbeiten wir auch jene bedeutsamen anderen Entwicklungen, die das Jahr kennzeichneten – neben der Pandemie-Bewältigung lief die Politik ja weiter: 2020 war das erste Jahr einer neuartigen Koalition; es umfasst die neue Europa- und Außenpolitik der Regierung Kurz-Kogler und die versuchte Aufarbeitung des legendären Ibiza-Interviews durch den Nationalrat. Dazu kommen noch weitere Aufreger in der politischen Diskussion: die neue Enzyklika von Papst Franziskus, „Fratelli tutti“; und die Kontroversen um den Stellenwert und das Wirken von Karl Renner (Regierungschef von 1918–1920). Die COVID-19 Krise im Jahr 2020 beleuchten wir in 18 der über 40 Beiträge. Von der Chronologie der Entwicklungen, über die Darstellung der Regierungspolitik und der sich dazu stürmisch entwickelnden Kritik, vom „nationalen Schulterschluss“ im Frühjahr bis zum „Kurz-muss-weg“ im Herbst. Wir betrachten diie Kommunikation als zentralen Punkt der Aufregung, die Analyse der getroffenen wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die

XI

österreichisches jahrbuch für politik 2020

Folgen des Lockdowns für Bildung und Kultur, und schließlich die Bewertung der Fernwirkungen der Seuche als Innovationstreiber für die Wissenschaft. In ihrem Essay kommt die Vorsitzende der Universitätskonferenz und Rektorin der Technischen Universität, Sabine Seidler, zu folgender Schlussbetrachtung: „Belegt ist, dass Wissenschaft ein entscheidender Erfolgsfaktor für Öster­reich und der Wert universitärer Forschung, Bildung und Innovationskraft entscheidend für die Zukunft eines Landes ist. Technologie und Wissen sind für die österreichische Wirtschaft bedeutender als der Tourismus, sagt eine Studie. Obwohl es in Österreich etwa gleich viele Unternehmen im Tourismus- wie im Technologiebereich gibt, beschäftigt der Technologiebereich etwa doppelt so viele Menschen und hat einen Produktionswert und eine Wertschöpfung, die etwa sieben Mal höher als jene im Tourismus ist. Und das ist unser Glück, weil darin die große Chance liegt, gestärkt aus der jetzigen Situation hervorzugehen. Eine Rückschau auf die letzten Monate zeigt: Aus digitaler Transformation wurde digitale Realität. Wir haben gelernt, mit Tools umzugehen, deren Namen wir vor wenigen Monaten noch nicht kannten. Prozesse wurden auf Knopfdruck umgestellt, deren Nachhaltigkeit es jetzt zu evaluieren gilt, wir haben die Grenzen unserer Infrastruktur kennengelernt. Aber wir sind durchgekommen und was liegt näher, als gerade diesen Schwung, den etwa die Digitalisierung mit sich brachte, mitzunehmen in die Zukunft. E-Commerce, Digitale Geschäftsmodelle sind im Moment die Schlagworte der Zukunft …“ Zeitgleich am 16. Jänner 2020 erschien im ECONOMIST, eine der weltweit angesehensten und wirkungsmächtigsten politischen Wochenschriften, ein Leitartikel der für die gesamte Weltwirtschaft zu demselben Schluss kommt: ,The roaring 20s? Pessimism about technological change is giving way to hope – much of it justified‘. Auch unsere traditionellen Kurzanalysen von führenden österreichischen Journalisten sind der Bewältigung der Seuche durch die österreichische Bundesregierung gewidmet. Eine kritische Zwischenbilanz, denn wir sind noch nicht am Ende des Wegs. Das Jahr 2020 war auch das erste Jahr der neuen Koalitionsregierung von ÖVP und den Grünen – die „türkis-grüne Regierung“, geführt von Bundeskanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Mag. Werner Kogler. Eine kurze Gesamtbilanz des ersten Jahres versuchen zwei Präsidentinnen, die zu

XII

leitartikel/vorwort

gänzlich verschiedenen Beurteilungen kommen: Die Zweite Präsidentin des Nationalrats, Doris Bures, stellt ihre und der Sozialdemokraten pauschale Ablehnung unter Beweis, die Präsidentin der Politischen Akademie, Mag. Bettina Rausch MBA, analysiert aus Sicht der ÖVP. Weitere Beiträge kreisen um einige Reformprojekte der neuen Regierung: Hass im Netz, Politischer Islam, erneuerbare Energie, Steuerreform, Integration und schließlich die gewichtige Wende in der Bildungspolitik. Als einzige der politischen Parteien werden die Grünen durch Katrin Stainer-Hämmerle und Karin Prapotnik einer näheren Betrachtung unterzogen – die anderen Parteien werden wir im nächsten Jahrbuch unter die Lupe nehmen: die in den politischen Obskurantismus versinkenden Freiheitlichen, die in der Wiener Wahl zu Regierungsehren gelangten NEOS, die türkise Regierungspartei ÖVP und schließlich die große Wahlverliererin von 2019, die SPÖ – die sich allerdings in Wien sicher behaupten konnte. Die Krise der SPÖ wird ein wenig aus den Beiträgen von Franz Sommer und Eva Zeglovits deutlich, auch wenn sie sich mit der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl befassen. Nie war der Abstand zwischen ÖVP und SPÖ so gewaltig, wie in den Nationalratswahlen 2019 und in der konstanten Sozialforschung im Jahr 2020 – stets zwischen 15 und 20 %! Auch die beiden Beiträge von Doris Bures lassen erahnen, wie die türkis-grüne Koalition von der einstigen Kanzlerpartei erlebt wird: als Usurpator, welche die einzig zum Regieren legitimierte Partei, die Sozialdemokraten, durch bis heute noch nicht verstandene „Tricks“ vom Thron gestoßen hatte. Anders ist die pauschale Ablehnung der Regierung nicht zu verstehen. Zur ebenso oberflächlichen Verherrlichung von Karl Renner finden sich ein kritischer Beitrag von Wolfgang Sobotka und ein StandardArtikel von Franz Schausberger. Ende 2020 hatte sich aber als Folge ihrer unaufgeregten, konstruktiven Mitarbeit das Ansehen der als Seuchen – Expertin erlebten Pamela Rendi-Wagner in der Öffentlichkeit gehoben, ihre Steuerung der Partei verstärkt, und es zeichnet sich eine Trendwende ab. Die Europa-Politik muss besonders hervorgehoben werden: Wolfgang Schüssel hatte als Bundeskanzler nach 2002 in der von ihm und Benita Ferrero-Waldner zusammengehaltenen Gruppe der 14 gleichgesinnten Länder in der Union großes Gewicht; zweimal hatte er es fast an die Spitze der EUKommission geschafft. Nach 2006 hingen österreichische Regierungschefs am Schürzenband der immer mächtiger werdenden deutschen Bundeskanz-

XIII

österreichisches jahrbuch für politik 2020

lerin. Die Außen- und Europapolitik wurde profillos. Mit Sebastian Kurz als Außenminister und dann als Regierungschef gewann Öster­reichs Europapolitik wieder ein eigenständiges Profil und Einfluss. In der Migrationspolitik, in der Frage der EU-Erweiterung, in der Frage der Terror- und IslamismusBekämpfung, und zuletzt in der Finanz- und Budgetfrage brachte Österreich sein Gewicht ein. Auch ein Schulterschluss mit Emmanuel Macron und damit mit Frankreich prägte das Jahr 2020 und Österreichs aktivere Europaund Außenpolitik. Die Beiträge von Karoline Edtstadler, Walter Obwexer, Karl Jurka und Faruk Ajeti beleuchten diesen Schwerpunkt. Im Jahre 2020 konzentrierte sich die Arbeit des Parlaments neben der Pandemie-Bekämpfung auf die zahlreichen Sitzungen des Ibiza-Untersuchungsausschusses. Andreas Khol zieht nach 26 langen Sitzungen des Ausschusses eine Zwischenbilanz. In seiner Zusammenfassung kommt er zu kritischen Feststellungen: Der Ibiza-Untersuchungsausschuss (UA) gehe einen abschüssigen Weg zur Selbstbeschädigung des Parlaments. Statt die politische Verantwortung für einen bestimmbaren und abgrenzbaren Vorgang in der Vollziehung des Bundes zu untersuchen, befasse er sich mit sechs verschiedenen Vorgängen, zum Teil Behauptungen, zum Teil nicht abgeschlossene Komplexe. Es gelinge dem UA bisher nicht, Sachverhalte zu klären und Behauptungen zu Fakten zu machen. Andere Sachverhalte erwiesen sich als im Rahmen der Gesetze, die behauptete Illegalität löse sich in Luft auf. Der Ausschuss hat für 2021 noch 16 weitere Sitzungstage geplant. Dann wird Bilanz zu ziehen sein. Traditionellerweise werden alle Entwicklungen der kirchlichen Sozial­ lehre im Jahrbuch aufmerksam verfolgt und analysiert. Auch heuer stellt der Wiener Pastoraltheologe, Universitätsprofessor Paul Michael Z ­ ulehner, die neuesten Entwicklungen dar. Der Vatikan hatte am 20. 10. 2020 die neue Sozialenzyklika „Fratelli tutti – über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ von Papst Franziskus veröffentlicht. „Im dritten großen Lehrschreiben seines Pontifikats wendet sich Franziskus mit einem eindringlichen Plädoyer für Geschwisterlichkeit und Freundschaft über alle Grenzen hinweg an die Menschheit und mahnt zu einer Abkehr von Egoismus auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Nur so ließen sich die Folgen der Corona-Pandemie und globale Herausforderungen wie soziale Ungleichheit und Migra­ tion bewältigen“ (KathPress). Zulehner stellt die Enzyklika in den großen,

XIV

leitartikel/vorwort

weltweiten Zusammenhang der katholischen Soziallehre und beurteilt sie als positiven Meilenstein auf dem Weg zu weltweiter sozialer Gerechtigkeit in einem Konzept der ökosozialen Marktwirtschaft. Noch einen weiteren Schwerpunkt wollen wir im Vorwort besonders beleuchten. Es ist die Kontroverse um Staatskanzler und Bundespräsident Karl Renner: die vorbehaltlose Verherrlichung durch Sozialdemokraten – obwohl die Forschung längst darüber hinweg ist –, lässt bewusst einige Schattenseiten aus. Ein Beispiel hierfür war ein Gastbeitrag der Zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures im Standard.  Eine differenzierende „Gegenschrift“ in derselben Zeitung erfolgte durch den P ­ räsidenten des Karl-von-Vogelsang-Instituts und Historiker, Dr. Franz Schausberger, dem langjährigen Salzburger Landeshauptmann. Schausberger verweist auf ebendiese Schattenseiten Renners, ohne seine Verdienste infrage zu stellen. Sein Bild wäre unvollständig, würde man nicht seinen immer wieder hervorgekehrten Antisemitismus erwähnen, auch wenn er vielfach der Zeit geschuldet war, sowie sein „Ja“ zum Anschluss Österreichs 1938, für das er sich bei Gauleiter Bürckel sogar vordrängte, auch wenn er dies später widerrufen hat. Sein ebenfalls sehr umstrittener Brief an Stalin, in dem er Stalin handschriftlich und doppelbödig erklärte, dass „Österreich dem Sozialismus gehöre, sei fraglos“, wird von Sozialdemokraten immer wieder ausgeklammert. Natio­ nalratspräsident und Historiker Mag. Wolfgang Sobotka ordnet in seinem Beitrag den ganzen Vorgang in den laufenden politischen Prozess ein. Einen würdigen Abschluss des Jahrbuchs bilden die Beiträge zum Jubiläum der österreichischen Bundesverfassung, die vor 100 Jahren in Kraft trat: Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Dr. Christoph Grabenwarter, und Altlandeshauptmann Dr. Franz Schausberger ziehen wohlwollend Bilanz. Auch heuer ist unser Jahrbuch ein „Ziegel“ von einem Buch geworden, mit 596 Seiten wieder sehr umfangreich – aber es tut sich eben so viel in der Republik! Wien, am 25. Jänner 2021 Die Herausgeber Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch und Günther Ofner

XV

wahlen

UM POLITIK ZU VERSTEHEN, MUSS MAN DIE HINTERGRÜNDE KENNEN. www.tt.com

franz sommer

Wien-Wahl mit starker ­bundespolitischer Komponente Auch wenn Wiener Gemeinderatswahlen in erster Linie de facto Bürgermeisterwahlen sind und landespolitische Themen und Problemstellungen den Wahlkampf dominieren, hatte die Wiener Gemeinderatswahl 2020 unverkennbar auch eine starke bundespolitische Komponente. Alleine das Abschneiden der ÖVP Wien mit Gernot Blümel als Spitzenkandidaten (sie erzielte mit 20,4 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 1987) wäre ohne die seit 2017 grundlegend veränderte bundespolitische Großwetterlage kaum möglich gewesen. Und auch der Totalabsturz der FPÖ von 30,8 Prozent auf 7,1 Prozent hat mehr mit den Folgen der Ibiza-Affäre und dem Erscheinungsbild der Bundes-FPÖ im konfliktträchtigen Abnabelungsprozess von HC Strache zu tun als mit der Performance des FPÖ-Spitzenkandidaten im Wahlkampf.

3

österreichisches jahrbuch für politik 2020

So spektakulär die Gewinne und Verluste der Parteien bei der Wiener Gemeinderatswahl am 11. Oktober 2020 auch waren: Im Wesentlichen wurden die in den Wochen vor der Wahl veröffentlichten Umfrageergebnisse bestätigt, kleine Überraschungen gab es nur im Detail: • Der Totalabsturz der FPÖ Wien war noch um eine Nuance brutaler als prognostiziert: Ihr Wähleranteil fiel von 30,8 Prozent bei der GRW 2015 auf 7,1 Prozent bei der GRW 2020 zurück. Damit waren die Verluste der FPÖ bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 in Relation gesehen sogar viel stärker als die Verluste der FPK bei der vorgezogenen Kärntner Landtagswahl im März 2013: In Kärnten haben die Freiheitlichen etwas weniger als zwei Drittel ihrer 2013er Wähler verloren, in Wien sogar etwas mehr als drei Viertel – jeweils auf den Vergleich der Wähleranteile bezogen. • Nachdem die SPÖ bei der Nationalratswahl 2019 in der Bundeshauptstadt Wien ihre Position als stimmenstärkste Partei nur recht knapp verteidigen konnte (SPÖ 27,1 Prozent, ÖVP 24,5 Prozent), war lange vor der Wahl klar, dass sie bei der Gemeinderatswahl 2020 wieder mindestens 20, vielleicht sogar 25 Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei liegen wird. Aber vor dem Hintergrund beispielloser FPÖVerluste (von ihren 256.451 Stimmen bei der GRW 2015 haben die Wiener Freiheitlichen bei der GRW 2020 204.848 Stimmen verloren) ist der SPÖ-Zuwachs gegenüber der Gemeinderatswahl 2015 mit plus zwei Prozentpunkten doch recht mager ausgefallen. • Weit stärker von den extremen Stimmenverlusten der FPÖ Wien profitiert hat die ÖVP Wien, die ihren Wähleranteil mehr als verdoppeln und 11,2 Prozentpunkte zulegen konnte. Allerdings startete die ÖVP von einem extrem niedrigen Ausgangsniveau: Mit nur 9,2 Prozent der Stimmen musste sie bei der Gemeinderatswahl 2015 ihr bisher schlechtestes Ergebnis hinnehmen. Ein Großteil der ÖVP-Zuwächse bei der Gemeinderatswahl am 11. Oktober 2020 ist zweifellos vor dem Hintergrund der veränderten politischen Großwetterlage zu sehen: In der bundesweiten Wählergunst lag die ÖVP in den Monaten vor der Wahl um zehn bis zwölf Prozentpunkte besser als im gleichen Zeitraum vor der Gemeinderatswahl 2015. Dadurch ist es der ÖVP

4

franz sommer    |    wien-wahl mit starker ­b undespolitischer komponente

Wien bei Gemeinderatswahl 2020 nicht nur gelungen, verlorenes Terrain zurückzugewinnen (GRW 2010: –4,9 Prozent, GRW 2015: –4,8 Prozent), sie hat gleichzeitig den höchsten Wähleranteil bei einer Gemeinderatswahl seit 1987 erzielt. • Etwas besser abgeschnitten als erwartet haben die Grünen. Während mehrere demoskopische Indikatoren eher ein stagnierendes Ergebnis für die Grünen signalisierten, konnten sie ihren Wähleranteil im Vergleich zur Gemeinderatswahl 2015 um drei Prozentpunkte steigern. Sie liegen damit deutlich über ihrem langjährigen Durchschnitt (vgl. Tabelle 1). • Obwohl die NEOS mit einem Wähleranteil von 7,4 Prozent zwar weit unter dem Wiener Nationalratswahlergebnis 2019 in der Bundeshauptstadt landeten, zeichnete sich spätestens am Wahlabend ab, dass sie bessere Koalitionschancen haben könnten als die doppelt so starken Grünen. Da die SPÖ trotz einer kleinen Wahlrechtsänderung nach wie vor von der Wahlarithmetik begünstigt wird (sie erreichte mit 41,6 Prozent der Stimmen 46 Prozent der Mandate), resultierten aus SPÖ-Sicht zwei realistische Koalitionsvarianten.Variante 1: 46 SPÖ +16 Grüne = 62 Mandate für Rot-Grün.Variante 2: 46 SPÖ + 8 NEOS = 54 Mandate für Rot-Pink. Die theoretisch auch mögliche Variante 3 (46 SPÖ +22 ÖVP = 68 Mandate für Rot-Türkis) war dagegen von vornherein so gut wie chancenlos. • Die Wahlchancen der Liste HC Strache wurden im Vorfeld der Wahl überschätzt. Mit einem Wähleranteil von 3,3 Prozent hat diese Liste (de facto eine FPÖ-Abspaltung) die 5-Prozent-Hürde, die für den Einzug in den Gemeinderat notwendig gewesen wäre, klar verfehlt. Durchwegs über den Erwartungen lagen die Kleinparteien (Linkspartei 2,1 Prozent, Bierpartei 1,8 Prozent, SÖZ 1,2 Prozent).

5

österreichisches jahrbuch für politik 2020

Tabelle 1: Wähleranteile der Parteien/Listen bei Wiener Gemeinderatswahlen: In Prozent der gültig abgegebenen Stimmen 1991–2020 Wahljahr

SPÖ

ÖVP

FPÖ

Grüne

Sonstige

in %

in %

in %

in %

in %

Gemeinderatswahl 1991

47,7

18,1

Gemeinderatswahl 1996

39,2

15,3

Gemeinderatswahl 2001

46,9

16,4

Gemeinderatswahl 2005

49,1

18,9

Gemeinderatswahl 2010

44,3

Gemeinderatswahl 2015 Gemeinderatswahl 2020

22,6

9,1

2,5

27,9

7,9

9,7

20,3

12,5

3,9

14,8

14,6

2,6

14,0

25,8

12,6

3,3

39,6

9,2

30,8

11,8

8,6

41,6

20,4

7,1

14,8

16,1

Durchschnitt 1991–2015

44,5

15,3

23,7

11,4

5,1

Abweichung GRW 2020

–2,9

+5,1

–16,6

+3,4

+11,0

gegenüber dem Durchschnitt GRW 1991–GRW 2015 Sonstige = Liberales Forum, NEOS, BZÖ, Bierpartei, Linkspartei, Liste HC Strache Quelle: Amtliche Wahlergebnisse

Neben den zum Teil extremen Verschiebungen in den Stärkeverhältnissen der fünf Rathausfraktionen unterscheidet sich die Wiener Gemeinderatswahl 2020 noch in zwei anderen Punkten grundlegend von der Gemeinderatswahl 2015: Erstens ist die Wahlbeteiligung von 74,8 Prozent auf 65,3 Prozent zurückgegangen, zweitens hat sich der Anteil der Briefwahl-Wähler von 18,9 Prozent auf absolut rekordverdächtige 43,8 Prozent erhöht. Wie hoch der Einfluss der Corona-Pandemie auf die signifikant gesunkene Wahlbeteiligung und auf die dramatische Zunahme der Briefwahl-Wähler war, lässt sich nachträglich schwer abschätzen. Aber dass sich das Verhältnis zwischen Briefwahl-Stimmen und Urnenwahlstimmen im Vergleich zur Gemeinderatswahl 2015 so stark verschoben hat, ist in erster Linie auf die Corona-Pandemie zurückzuführen. Beim Rückgang der Wahlbeteiligung ist der Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nicht so eindeutig.

6

franz sommer    |    wien-wahl mit starker ­b undespolitischer komponente

Tabelle 2: G emeinderatswahlen Wien 2020 – Gemeinderatswahlen Wien 2015: Veränderte Relationen zwischen Urnenwahl- und Briefwahlstimmen Urnenwahl/Briefwahl

GRW 2020

GRW 2015

Gültige Stimmen absolut

Gültige Stimmen absolut

URNENWAHL

407.725

675.965

BRIEFWAHL

317.776

157.022

Ergebnis insgesamt

725.501

832.987

Urnenwahl/Briefwahl

GRW 2020

GRW 2015

Wähleranteile

Wähleranteile

in Prozent

in Prozent

Urnenwahl

 56,2

 81.1

Briefwahl

 43,8

 18,9

Ergebnis insgesamt

100,0

100,0

Dass sich Briefwahl-Wähler und Urnenwahl-Wähler in ihrem Wahlverhalten unterscheiden, ist bekannt. Auch wenn sich mit dem starken Anstieg der Briefwahl-Wähler auch die Struktur der Briefwahl-Wähler verändert: Bestimmte Muster sind bei jeder Wahl zu sehen: Der Anteil an grünen Stimmen ist bei Briefwahl-Wählern signifikant höher als bei Urnenwahl-Wählern. Bei FPÖ-Wählern ist es genau umgekehrt. Die Annahme, dass es durch die starke Zunahme an Briefwahl-Wählern zu einer Nivellierung der Abweichungen kommen wird, hat sich bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 nicht einmal im Ansatz bestätigt. Ganz im Gegenteil: Die Unterschiede im Wahlverhalten der Briefwahl-Wähler und der Urnenwahl-Wähler waren noch stärker ausgeprägt als vor fünf Jahren: Die in den Tabellen 3a und 3b dokumentierten Ergebnisse zeigen, wie sich die Abweichungen im Wahlverhalten sowohl bei den Grünen als auch bei den Freiheitlichen im Detail verstärkt haben. • Bei der Gemeinderatswahl 2015 wählten 32,2 Prozent der UrnenwahlWähler FPÖ, aber nur 24,5 Prozent der Briefwahl-Wähler (Index Briefwahl/Urnenwahl 76,4). Bei der Gemeinderatswahl 2020 haben 8,9 Prozent der Urnenwahl-Wähler ihre Stimme der FPÖ gegeben, bei den Briefwahl-Wählern waren es dagegen nur 4,8 Prozent (Index Briefwahl/Urnenwahl 53,9).

7

österreichisches jahrbuch für politik 2020



18,1 Prozent der Briefwahl-Wähler, aber nur 12,2 Prozent der Urnenwahl-Wähler gaben ihre Stimme bei der Gemeinderatswahl 2020 den Grünen (Index Briefwahl/Urnenwahl 148,4). Bei der Gemeinderatswahl 2015 waren die Abweichungen noch geringer: Grüne-Wähleranteil bei den Briefwahl-Wählern 14,8 Prozent, Grüne-Wähleranteil bei den Urnenwahl-Wählern 11,2 Prozent (Index Briefwahl/Urnenwahl 132,1).

Tabelle 3a: G emeinderatswahl 11.10. 2020 – Ergebnisvergleich Briefwahl – Urnenwahl

Parteien/Listen

Briefwahl GRW 2020

Urnenwahl GRW 2020 in

Index Briefwahl/

in Prozent

Prozent

Urnenwahl

SPÖ

39,7

43,1

92,1

FPÖ

4,8

8,9

53,9

Grüne

18,1

12,2

148,4

ÖVP

22,9

18,5

123,8

NEOS

8,2

6,9

118,8

Liste Strache

1,9

4,3

44,2

Sonstige

4,4

6,1

72,1

Tabelle 3b: Gemeinderatswahl 11.10. 2015 – Ergebnisvergleich Briefwahl – Urnenwahl Parteien/Listen

Briefwahl GRW 2015

Urnenwahl GRW 2015

Index Briefwahl/

in Prozent

in Prozent

Urnenwahl

SPÖ

40,3

39,4

FPÖ

24,6

32,2

76,4

Grüne

14,8

11,2

132,1

ÖVP

11,5

8,7

132,2

NEOS

7,0

6,0

116,7

Sonstige

1,8

2,5

72,0

Quelle: Amtliche Wahlergebnisse, ARGE WAHLEN

8

102,3

franz sommer    |    wien-wahl mit starker ­b undespolitischer komponente

Wie stark sich die Wählerschaft der beiden Traditionsparteien SPÖ und ÖVP in den letzten 1½ Jahrzehnten verändert hat, zeigt ein Vergleich der Gewinne/Verluste in den „bürgerlichen“ Wahlkreisen Zentrum, InnenWest, Währing, Döbling und in den stark SPÖ/FPÖ-dominierten Wahlkreisen Favoriten, Simmering, Floridsdorf, Donaustadt: • Während die SPÖ in ihren Hochburgen Favoriten, Simmering, Floridsdorf und Donaustadt bei den Gemeinderatswahlen 2010 und 2015 im Schnitt 17,8 Prozent eingebüßt hat, konnte sie in den „bürgerlichen“ Wahlkreisen Zentrum, Innen-West, Währing und Döbling sogar leicht zulegen (+1,2 Prozent). Bei der Gemeinderatswahl 2020 war dann wieder eine moderate Trendumkehr zu beobachten: In ihren Hochburgen konnte die SPÖ rund ein Drittel ihrer Verluste aus den Jahren 2010 und 2015 wieder wettmachen (+6,8 Prozent), in den „bürgerlichen“ Wahlkreisen musste sie dagegen leichte Verluste hinnehmen. • Bei der ÖVP sind die Unterschiede sogar noch etwas stärker ausgeprägt: Sie verliert in den „bürgerlichen“ Wahlkreisen 2010 und 2015 insgesamt 13,8 Prozentpunkte, gewinnt bei der Gemeinderatswahl 2020 in den Wahlkreisen Zentrum, Innen-West, Währing und Döbling im Schnitt zwar wieder acht Prozentpunkte, kann aber die 2010 und 2015 erlittenen Verluste bei weitem nicht ausgleichen. In den SPÖ/ FPÖ-Hochburgen fällt der Saldo aus Verlusten und Gewinnen für die ÖVP Wien dagegen sehr positiv aus: Ähnlich wie schon bei der Nationalratswahl 2019 legt die ÖVP in den Wahlkreisen Favoriten, Simmering, Floridsdorf und Donaustadt mit +13,4 Prozent überdurchschnittlich stark zu. Die ÖVP-Gewinne bei der Gemeinderatswahl 2020 sind damit mehr als doppelt so hoch wie die 2010 und 2015 kumulierten Verluste (-6,1 Prozent).

9

österreichisches jahrbuch für politik 2020

Tabelle 4a: G ewinne/Verluste der Parteien in den Wahlkreisen ZENTRUM, INNEN-WEST, WÄHRING und DÖBLING (Ergebnisse kumuliert) Gültige Stimmen GRW 2020: 154.500, GRW 2015: 171.000 Parteien

Gewinne/Verluste GRW 2020–2015

Gewinne/Verluste GRW 2015–2005

+– Prozent

+– Prozent

SPÖ

– 2,3

+1,2

ÖVP

+8,0

– 13,8

Grüne

+3,6

– 4,9

– 16,1

+10,1

+1,3

+9,1

FPÖ NEOS

Tabelle 4b: Gewinne/Verluste der Parteien in den Wahlkreisen FAVORITEN, SIMMERING, FLORIDSDORF und DONAUSTADT (Ergebnisse kumuliert) Gültige Stimmen GRW 2020: 243.000, GRW 2015: 287.000 Parteien

Gewinne/Verluste GRW 2020–2015

Gewinne/Verluste GRW 2015–2005

+– Prozent

+– Prozent

SPÖ

+6,8

–17,8

ÖVP

+13,4

– 6,1

Grüne FPÖ NEOS

+1,8

– 2,4

– 29,8

+22,1

+1,0

+4,2

Quelle: Amtliche Wahlergebnisse, ARGE WAHLEN

Die Wählerstromanalyse weist auf der Grundlage empirisch gestützter Annahmen und wahlstatistischer Wahrscheinlichkeitsberechnungen die Zuund Abwanderer zwischen den einzelnen Parteien und die Abwanderer zu den Nichtwählern aus. Aufgrund des Wahlergebnisses stehen zwei Fragen im Vordergrund: 1. In welchem Verhältnis verteilen sich die FPÖ-Verluste auf die anderen Parteien? 2. Welche Parteien haben am stärksten an die Nichtwähler verloren?

10

franz sommer    |    wien-wahl mit starker ­b undespolitischer komponente

Die ÖVP hat bei der Wiener Gemeinderatswahl 2020 am stärksten von den massiven FPÖ-Verlusten profitiert: Nach der vorliegenden Wählerstromanalyse sind 62.500 FPÖ-Wähler zur ÖVP gewandert. Anders als bei der Nationalratswahl 2019 gab es bei der Gemeinderatswahl 2020 auch eine Wählerwanderung von Blau zu Rot. Allerdings ist nur ein relativ kleiner Teil der 2010 und 2015 zur FPÖ abgewanderten SPÖ-Wähler wieder zur SPÖ zurückgekehrt. Tabelle 5: Wählerstromanalyse GRW Wien 2015 – GRW Wien 2020: Reihung der wichtigsten Wanderungssalden Wählerwanderungen

Stimmen absolut

In Prozent der Wahlberechtigten

ÖVP gewinnt von der FPÖ

62.500

5,5

FPÖ verliert an die Nichtwähler

59.900

5,3

SPÖ gewinnt von der FPÖ

33.400

2,9

SPÖ verliert an die Nichtwähler

24.900

2,2

Liste HC Strache gewinnt von der FPÖ

18.600

1,6

Grüne gewinnen von der SPÖ

13.900

0,7

7.700

0,7

ÖVP gewinnt von der SPÖ

7.100

0,6

NEOS gewinnen von der FPÖ

6.900

0,6

Bierpartei gewinnt von der FPÖ

6.700

0,6

SÖZ gewinnt von der FPÖ

5.800

0,5

NEOS verlieren an die Nichtwähler

5.600

0,5

NEOS gewinnen von der SPÖ

5.300

0,5

Grüne gewinnen von der FPÖ

3.200

0,5

Liste LINKS gewinnt von der SPÖ

3.100

0,5

ÖVP gewinnt von den NEOS

2.400

0,3

ÖVP gewinnt von den Grünen

1.800

0,2

Liste HC Strache gewinnt von der SPÖ

1.800

0,2

Grüne verlieren an die Nichtwähler

Quelle: Institut für Wahl-, Sozial- und Methodenforschung

Die FPÖ verliert bei der Gemeinderatswahl 2020 in alle Richtungen: An die ÖVP, an die Nichtwähler, an die SPÖ und auch an die Liste HC Strache, die de facto eine FPÖ-Abspaltung war. Auch die Kleinparteien (Bier-

11

österreichisches jahrbuch für politik 2020

partei, SÖZ) waren im Einsammeln früherer FPÖ-Wähler erfolgreich: Die Bierpartei gewinnt knapp 7.000 und die Liste SÖZ knapp 6.000 Stimmen von der FPÖ. Die Wanderungssalden der SPÖ erklären auch, warum die SPÖ trotz substanzieller Zugewinne von der FPÖ im Gesamtergebnis nur moderat zulegen konnte. Am meisten verloren hat die SPÖ an die Nichtwähler (rund 25.000), an die Grünen (rund 14.000) und an die ÖVP (rund 7.000). Auch an Kleinparteien hat die SPÖ Stimmen verloren: An die Liste LINKS 3.100 Stimmen, an die Liste HC Strache 1.800 Stimmen. Ohne die Möglichkeit, den Bürgermeister in einer Direktwahl zu bestimmen, wird jede Gemeinderatswahl automatisch auch zu einer Bürgermeisterwahl. Der Bürgermeisterbonus, der aus Imagemerkmalen wie Sympathie, Vertrauen und Kompetenz resultiert, ist bei Kommunalwahlen oft der wichtigste Einflussfaktor, der wegen der kontinuierlich schwächer werdenden Parteibindungen noch zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Dass Bürgermeister Michael Ludwig auch abseits „seiner“ SPÖWähler über einen beachtlichen Bürgermeisterbonus verfügt, zeigen die in den Wochen vor der Wahl in Umfragen erhobenen Bürgermeisterdirektwahl-Präferenzen. Tabelle 8: Bürgermeisterdirektwahl-Präferenzen vor der Wiener Gemeinderatswahl 2020 „Angenommen Sie könnten den Wiener Bürgermeister direkt wählen wie den Bundespräsidenten. Für wen würden Sie sich entscheiden? Wer kämme für Siepersönlich am ehesten in Frage?“ Antwortvorgaben

55

Gernot Blümel (ÖVP)

11

Birgit Hebein (Grüne)

7

Dominik Nepp (FPÖ)

4

Christoph Wiederkehr (NEOS)

3

Heinz-Christian Strache (Team HC Strache)

4

Weiß nicht, keine Angaben Quelle: Demox Research, Onlineumfrage vor der GRW Wien 2020, Erhebungszeitraum: 8.9. – 18.9. 2020, 1.100 Interviews

12

In Prozent der Befragten

Michael Ludwig (SPÖ)

15

franz sommer    |    wien-wahl mit starker ­b undespolitischer komponente

Tabelle 9: Koalitionspräferenzen vor der Wiener Gemeinderatswahl 2020 „Angenommen die SPÖ erreicht bei der Wiener Gemeinderatswahl am 11. Oktober nicht die absolute Mehrheit der insgesamt 100 Gemeinderatsmandate. Welche der folgenden Koalitionen wäre Ihrer Meinung nach die beste für Wien?“ Antwortvorgaben

In Prozent der Befragten

Die bestehende Koalition aus SPÖ und Grünen

36

Eine Koalition aus SPÖ und ÖVP

18

Eine Koalition aus SPÖ und NEOS

13

Eine Koalition aus ÖVP, Grünen und NEOS

9

Eine Koalition aus SPÖ und FPÖ

6

Keine der genannten Koalitionen wäre gut für Wien

11

Weiß nicht, keine Angaben

5

Quelle: Demox Research, Onlineumfrage vor der GRW Wien 2020, Erhebungszeitraum: 8.9.–18.9. 2020, 1.100 Interviews

Tabelle 10: Einfluss der Bundespolitik auf die Wahlentscheidung der Befragten „Wird die Arbeit der Bundesregierung (Koalition aus ÖVP+Grüne) unter Bundeskanzler Sebastian Kurz auf Ihre Wahlentscheidung bei der Gemeinderatswahl am 11. Oktober einen starken Einfluss haben, nur einen geringen Einfluss haben, überhaupt keinen Einfluss haben?“ Wahlabsichten GRW Wien 2020

Wird einen starken Einfluss haben

Wird nur einen geringen/überhaupt

in Prozent

keinenEinfluss haben in Prozent

Befragte insgesamt

26

69

SPÖ-Präferenten

19

74

ÖVP-Präferenten

47

51

Grüne Präferenten

19

76

NEOS-Präferenten

20

71

FPÖ-Präferenten

28

68

Präferenten Liste HC

12

83

Präferenten andere Listen

27

66

Quelle: Demox Research, Onlineumfrage vor der GRW Wien 2020, Erhebungszeitraum: 8.9.–18.9. 2020, 1.100 Interviews

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Im Unterschied zu anderen Wählergruppen sehen viele ÖVP-Wähler für die Wiener Gemeinderatswahl 2020 einen starken starken bundespolitischen Einfluss Nahezu jeder zweite Befragte mit Wahlabsicht ÖVP gab in Umfragen vor der Gemeinderatswahl an, dass die Arbeit der Bundesregierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz für die Wahlentscheidung einen starken Einfluss haben wird. Nach der Wiener Gemeinderatswahl die Koalition SPÖ/Grüne fortsetzen – das war in den Wochen vor der Wahl die einzige Koalitionspräferenz der grünen Wähler. Auch SPÖ-Wähler bevorzugten zu diesem Zeitpunkt mehrheitlich noch diese Koalitionsvariante, aber eine gar nicht so kleine Minderheit liebäugelte schon mit anderen Koalitionsoptionen, insbesondere mit der Variante Rot-Pink. Ein wenig nach dem Motto: Je „billiger“ der Partner desto besser.

14

e va z e g l ov i t s

Wien-Wahl im Corona-Modus Die Wiener Gemeinderatswahl 2020 fand mitten in der Pandemie statt und stand unter völlig anderen Vorzeichen als die Wahl 2015. Nach fünf turbulenten Jahren in der Bundespolitik und einer personellen Neuausrichtung aller fünf im Gemeinderat vertretenen Parteien gab es statt eines Duells um Wien ein Duell Wien versus Bund in der Corona-Politik. Das endete mit einem Desaster für die FPÖ, einem zweistelligen Plus für die ÖVP, Gewinnen für SPÖ und Grüne – letztlich eine Bestätigung der beiden Stadtregierungsparteien – sowie einem Plus für die NEOS, was die Möglichkeit für neue Koalitionsvarianten eröffnete. Als Gegenstück zur ebenfalls neuen türkis-grünen Koalition im Bund regiert in Wien nach dieser Gemeinderatswahl erstmals eine rot-pinke Mehrheit. Michael Ludwig hat das geschafft, was ihm viele nicht zugetraut hätten: Er ging in seiner ersten Wahl nach der Amtsübernahme von Michael Häupl nach einem Wahlkampf, der ganz auf ihn und die Kernkompetenzen der SPÖ ausgerichtet war, als Sieger vom Platz. Die Verschiebung der Themenlage weg von Zuwanderung und Klimaschutz hin zu Gesundheit, Wirtschaft und Arbeitsplätzen war der Pandemie geschuldet. Das katastrophale Abschneiden und auch das Scheitern von Heinz-Christian Strache in seinem Versuch, doch wieder in die Politik zurückzukehren, wurzelte im Ibiza-Skandal. Trotzdem ist das Wahlergebnis hausgemacht und nicht allein den äußeren Umständen zuzuschreiben. Nicht nur der Umgang der Wiener mit dieser Neuausrichtung der Themenlage war sehr unterschiedlich. ÖVP und Grüne konnten im Corona-Streit zwischen Wien und dem Bund keine kantigen Positionen gegen ihre eigenen Bundesparteien beziehen. Mit der neuen Koalition im Rathaus kann davon ausgegangen werden, dass sich mit der Konstellation Türkis-Grün im Bund versus Rot-Pink in der Stadt auch in Zukunft zahlreiche Möglichkeiten bieten werden, wechselseitig aufzuzeigen, wo die Unterschiede zwischen dem Bund und Wien liegen.

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

1. Ausgangslage & Kontext Die Wiener Gemeinderatswahl 2020 war eine Ausnahmewahl in vieler Hinsicht und stand unter völlig anderen Vorzeichen als die Wahl 2015. War die Wien-Wahl 2015 noch geprägt vom inszenierten rot-blauen Kampf um Wien und dem von damals noch recht neuen Thema Flüchtlinge (vgl. Ulram & Sommer 2016), so war 2020 fast alles anders, und das nicht nur wegen der Corona-Krise. Zwischen 2015 und 2020 gab es vier Bundeskanzlerwechsel (Faymann, Kern, Kurz, Bierlein und wieder Kurz), eine völlige Neuaufstellung der ÖVP, symbolisiert durch Türkis statt Schwarz, zwei Wechsel an der SPÖ-Parteispitze (Faymann, Kern, Rendi-Wagner), eine schier endlos dauernde Bundespräsidentenwahl, zwei Nationalratswahlen, den Ibiza-Skandal, eine neue Koalitionsform im Bund (Türkis-Grün) und schließlich eine Pandemie. Zudem traten alle im Gemeinderat vertretenen Wiener Stadtparteien mit anderen SpitzenkandidatInnen an als 2015: Michael Ludwig hatte im Jahr 2018 zunächst den Parteivorsitz der SPÖ Wien und dann das Bürgermeisteramt von Michael Häupl übernommen, der diese Ämter zuvor beinahe 25 Jahre lang innehatte. Bei den Grünen übernahm Birgit Hebein von Maria Vassilakou. In der FPÖ Wien blieb nach Ibiza kein Stein auf dem anderen; sowohl Heinz-Christian Strache als auch Johann Gudenus, die beiden Protagonisten des Skandals, hatten bis dahin den Ton in der FPÖ Wien angegeben – Dominik Nepp wurde schließlich zum Parteiobmann in einer denkbar schwierigen Ausgangslage. Manfred Juraczka hatte nach dem schlechten Abschneiden der ÖVP Wien bei der Wahl 2015 auf eine Wiederkandidatur als Parteiobmann verzichtetet – Gernot Blümel folgte ihm in dieser Funktion nach und führte den Wahlkampf als ÖVP-Wien-Spitzenkandidat und Finanzminister der Republik. Bei NEOS folgte 2018 Christoph Wiederkehr auf Beate Meinl-Reisinger, die in den Bund wechselte. Die Karten waren also bei allen fünf Parteien personell neu gemischt. Dass Heinz-Christian Strache in Wien einen Comeback-Versuch nach Ibiza startete, erhielt zwar medial viel Aufmerksamkeit, sollte sich im Ergebnis aber kaum niederschlagen, wenngleich sein Antreten es für die FPÖ Wien nicht unbedingt leichter machte. Die Corona-Krise verschob österreichweit die thematische Ausgangslage. Im Gegensatz zu den Jahren davor standen nicht mehr Zuwanderung

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eva zeglovits    |    wien-wahl im corona-modus

und Klimakrise ganz oben auf der Agenda der Wahlberechtigten, sondern Gesundheitspolitik und zunehmend auch Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesregierung, die österreichweit im ersten Lockdown im März und April sensationell hohe Zustimmung genoss, geriet im Laufe des Jahres zunehmend in die Kritik. Im Oktober, als in Wien gewählt wurde, gab es bundesweit schon mehr „sehr Unzufriedene“ (17 %) als „sehr Zufriedene“ (8 %) (vgl. Kowarz & Kritzinger 2020). Der Konflikt Wien versus Bund bezüglich der Pandemiebekämpfung sollte – im Gegensatz zum „Duell um Wien“ zwischen Rot und Blau im Jahr 2015 – der wichtigste Konflikt im Wahlkampf werden. Durch die Pandemie erlebte die Briefwahl einen Höhenflug, auch die Wahlkämpfe mussten anders als sonst gestaltet werden: Durch den Wegfall vieler bewährter und bei den Parteien beliebter Wahlkampfformate wie Großveranstaltungen, Straßenwahlkampf, Hausbesuche etc. verschob sich der Schwerpunkt des Wahlkampfes in die Medien. Es gab eine bislang nicht dagewesene Anzahl an Fernsehsendungen im öffentlich-rechtlichen und im privaten Fernsehen. Statt eines groß inszenierten Wahlkampfauftaktes veranstaltete die ÖVP Wien etwa ein Zoom-Event, die SPÖ Wien setzte u. a. auf neue Audio- und Video-Formate. Lediglich bei der FPÖ blieb man beim Bewährten, was auch in Anbetracht der Corona-Regeln für viel Kritik sorgte.

2. Themen im Wahlkampf: Die Pandemie verschiebt die Aufmerksamkeit Die Pandemie und ihre sozialen und ökonomischen Folgen führten dazu, dass das Thema Wirtschaft und Arbeitsplätze die in den letzten Jahren so relevanten Themen Zuwanderung und Klima (vgl. etwa Plasser & Sommer 2020) bei den Wählerinnen und Wählern ablöste. Die Auseinandersetzung wurde trotzdem nicht nur auf der – den Menschen nun wichtigeren – ökonomischen Ebene geführt. Wie man in Tabelle 1 sieht, war das Thema Wirtschaft und Arbeitsplätze bei den Wahlberechtigten insgesamt mit Abstand das wichtigste, insbesondere bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten von SPÖ

17

österreichisches jahrbuch für politik 2020

und NEOS. Für potenzielle Wählerinnen und Wähler der ÖVP lag dieses Thema etwa gleichauf mit Zuwanderung, die wiederum bei den möglichen Wählerinnen und Wählern der FPÖ ganz traditionell das wichtigste Thema darstellte. Die den Grünen Nahestehenden waren die einzige Gruppe, in der es zwei Themen vor Wirtschaft und Arbeitsplätze schafften, nämlich Klima- und Umweltschutz sowie Bildung. Die inhaltliche Ausrichtung der Parteien bot wenige Überraschungen: Die SPÖ setzte ganz auf ihre Kernthemen in Wien: Arbeit, Gesundheit, Bildung und Wohnen. Die Fokussierung der ÖVP auf Leistung und Zuwanderung machte strategisch Sinn, nicht nur weil das genau die Themen waren, die ihren eigenen Wählerinnen und Wählern (auch) sehr am Herzen lagen, sondern auch, weil die ÖVP seit 2017 besonders erfolgreich mit einem „Re-Framing“ von „Themen- und Kompetenzfeldern, die bislang überwiegend von der FPÖ besetzt waren“ Stimmen von der FPÖ gewinnen konnte (vgl. etwa Plasser & Sommer 2018, S. 91). Doch erstaunlich waren allerdings einzelne Wordings der ÖVP Wien, die nicht mehr als „ReFraming“ interpretiert werden können: „Ohne Deutsch keine Wohnung im Gemeindebau“ war eine der Forderungen der ÖVP Wien, die zuvor wortgleich u. a. von der FPÖ Niederösterreich (Udo Landbauer) und der FPÖ Wien (Dominik Nepp) gestellt wurde, und etwa schon 2014 zwischen Heinz-Christian Strache (damals FPÖ Wien) und Michael Ludwig (damals Wohnbaustadtrat in Wien) Gesprächsthema in einem Doppelinterview war (vgl. Die Presse, 19. 12. 2014). Bei den Grünen wurde der Klimaschutz mit anderen Themen kombiniert, auf einem Plakat waren Gesundheitsminister Rudolf Anschober und Spitzenkandidatin Birgit Hebein vor dem Wording „gesundes Klima“ zu sehen, ein anderes versprach „Klimajobs“. NEOS plakatierte u. a. Sujets zu den Themen Bildung und Wirtschaft, aber auch zu Flüchtlingen und Weltoffenheit. Die FPÖ blieb ihrer Tradition treu und setzte wie bei jeder Wahl auf das Thema Zuwanderung, in diesem Fall mit einem deutlichen „Wir“ (Einheimische) gegen „die Anderen“ (Muslime). Das im Ranking der Wählerinnen und Wähler recht abgeschlagene Thema Verkehr, das in Wien – leicht überspitzt ausgedrückt – manchmal einem Duell Auto gegen Rad gleichkommt, eignete sich gut, um zu polarisieren und damit zu mobilisieren. Denn mit exponierten Positionen, wie bspw. Pop-up-Radwegen oder der Verhinderung des Lobau-Tunnels, kön-

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eva zeglovits    |    wien-wahl im corona-modus

nen große Emotionen geschaffen werden, was gerade den kleineren Parteien, die diese Positionen vertreten, hilft. Das Verkehrsthema war jedenfalls eines, das dazu genutzt wurde, die Unterschiede zwischen den Regierungsparteien SPÖ und Grüne sichtbar zu machen. Tabelle 1: Themenwichtigkeit Wählerinnen und Wähler von …  

alle

SPÖ

FPÖ

Grüne

ÖVP

NEOS

Wirtschaft und Arbeitsplätze

49

61

48

36

52

49

Gesundheit und Pflege

33

34

20

27

29

35

Bildung

27

28

9

40

23

29

Zuwanderung

27

17

62

7

50

19

Klima- und Umweltschutz

25

24

7

44

16

37

Wohnen

18

23

33

20

14

11

Verkehr

14

12

21

22

11

17

Datenquelle: IFES, Oktober 2020, n=800, repräsentativ für Wahlberechtigte zur Wiener GRW 2020, Methodenmix CATI/ CAWI Fragestellung im Wortlaut: „Was sind Ihrer Meinung nach jetzt in Wien die zwei wichtigsten Themen, um die sich die Stadtpolitik kümmern soll?“ [Angaben in Prozent, zwei Nennungen möglich, die Themen wurden vorgelesen, Reihenfolge randomisiert]

Überhaupt entstand oft der Eindruck, dass es Wien-spezifisch keine großen Aufreger-Themen abseits der Verkehrsthematik gab. Es fehlte ein inhaltliches Duell, das mit einer wirklichen Relevanz aufseiten der Wählerschaft verbunden gewesen wäre. Umso sichtbarer wurde der gelebte Konflikt zwischen der Stadt Wien und der Bundesregierung in Fragen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung: Schon seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 gab es spürbare Verwerfungen zwischen dem Bund und der Stadt Wien. Die Schließung der Bundesgärten im ersten Lockdown führte zu einem Konflikt zwischen der zuständigen Ministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) und Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) sowie Umweltstadträtin Ulli Sima (SPÖ), in dem auch Worte wie „kindisch“ und „fahrlässig“ fielen (z. B.

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Kurier, 1. 4. 2020). Im Mai konnte man etwa in der Wiener Zeitung lesen: „Der Innenminister befürchtet eine neue Infektionswelle, die von Wien ausgeht“ (Wiener Zeitung, 18.5.2020). Wenige Tage vor der Wahl drohte Wien mit dem Ausstieg aus dem Corona-Krisenstab des Bundes, der letztlich nicht stattfand, aber den Konflikt noch einmal anschaulich zeigte (z. B. Kurier 8. 10. 2020). Die Wiener Grünen, die auf ihren Plakaten den (zum dem Zeitpunkt) ausgesprochen beliebten Gesundheitsminister Anschober zeigten, konnten nicht offensiv gegen die Bundesregierung auftreten; die ÖVP schon gar nicht, da ihr Spitzenkandidat Gernot Blümel als Finanzminister Teil der Bundesregierung war. Für SPÖ, FPÖ und NEOS war es da einfacher, Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung zu üben. Die Mehrheit der Wienerinnen und Wiener nahm dies aber gelassen. Im September sahen nur 10 % die Schuld für die damals im Vergleich hoher Corona-Inzidenz in Wien bei der Corona-Politik der Wiener Stadtregierung, 14 % bei der Corona-Politik der Bundesregierung und die große Mehrheit, nämlich 65 % waren der Meinung, dass niemand Schuld habe (Datenquelle: IFES, n=800 Befragte, September 2020, Rest auf 100 %: weiß nicht, keine Angabe). Da die überwiegende Mehrheit der Wienerinnen und Wiener eine positive Entwicklung Wiens wahrnahm und mit der Stadtregierung, insbesondere mit dem Bürgermeister zufrieden war, fruchteten Vorwürfe gegen die Corona-Politik von Wien kaum.

3. Personen im Wahlkampf – auf die Spitzen kommt es an Die Spitzenkandidaten und die Spitzenkandidatin standen im Wahlkampf besonders im Rampenlicht, nicht zuletzt, weil pandemiebedingt der Wahlkampf noch stärker als sonst medial und weniger auf der Straße ausgetragen wurde. Da alle fünf Rathausparteien mit neuen Spitzenkandidaten in die Wahl gingen, lohnt sich ein kurzer Blick auf deren Bekanntheit (Tabelle 2). Während Bürgermeister Michael Ludwig und der langjährige Politiker Heinz-Christian Strache von Beginn an den meisten Wienerinnen und Wienern bekannt waren, starteten Birgit Hebein als Stadträtin und Vizebür-

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eva zeglovits    |    wien-wahl im corona-modus

germeisterin bzw. Dominik Nepp als nicht amtsführender Stadtrat in den Wahlkampf mit einem Bekanntheitsgrad von rund drei Viertel im Mai 2020 und konnten diesen bis zur Wahl noch steigern. Gernot Blümel, amtierender Finanzminister, hatte diesbezüglich einen leichten Vorteil mit einer Bekanntheit von fast 90 %. Lediglich Christoph Wiederkehr, Spitzenkandidat von NEOS, war nur einer Minderheit namentlich bekannt. Er schaffte es erst in den letzten Wochen vor der Wahl, seine Bekanntheit deutlich zu steigern. Hier ist davon auszugehen, dass gerade die vielen Auftritte in den verschiedenen Fernsehformaten diesbezüglich hilfreich waren. Tabelle 2: Bekanntheit der Spitzenkandidaten und der Spitzenkandidatin in Prozent der Wahlberechtigten Ludwig

Nepp

Hebein

Blümel

Wiederkehr

Strache

Mai. 20

94

73

73

88

29

97

Jul. 20

93

76

78

87

35

93

Aug. 20

96

78

81

88

42

98

Sep. 20

96

89

85

92

60

98

Okt. 20

97

91

87

92

69

97

Datenquelle: IFES, jeweils n=800, repräsentativ für Wahlberechtigte zur Wiener GRW 2020, Methodenmix CATI/CAWI Fragestellung im Wortlaut, nach Nennung von Vor- und Nachnamen: „Ist Ihnen diese Person zumindest namentlich bekannt?“ [Angaben in Prozent, Reihenfolge randomisiert]

Wichtiger als der Bekanntheitsgrad ist natürlich das Image. In Tabelle 3 ist dargestellt, welcher Anteil der Wählerinnen und Wähler ein positives Image von den einzelnen Personen hatte. Michael Ludwig konnte, ausgehend von einem ohnehin schon sehr guten Wert im Mai, sein Image bis zur Wahl noch weiter verbessern. Im Oktober gaben 72 % der Wahlberechtigten an, eine sehr günstige oder günstige Meinung von ihm zu haben. Es war Michael Ludwig also gelungen, nach fast einem Vierteljahrhundert mit Bürgermeister Michael Häupl selbst die Wienerinnen und Wiener von sich zu überzeugen. Dominik Nepp pendelte um die 15 %, Heinz-Christian Strache um die 8 %. Interessant ist, dass sowohl Birgit Hebein als auch Gernot Blümel ihr Image zwischen Mai und Oktober nicht verbessern konnten, sondern

21

österreichisches jahrbuch für politik 2020

sogar etwas verloren. Bei Birgit Hebein kann das mit dem polarisierenden Thema Verkehr (Stichwort Radwege) zusammenhängen, bei Gernot Blümel kommt hinzu, dass ihm in dem Zeitraum seine Rolle als Finanzminister nicht hilfreich war: Zuerst gab es eine mediale Aufregung über eine Panne im Budget, später musste er im Ibiza-Untersuchungsausschuss aussagen. Die meisten Wienerinnen und Wiener waren zudem der Meinung, dass er ohnehin Finanzminister bleiben und nicht in die Wiener Stadtpolitik wechseln würde. Sowohl Hebein als auch Blümel hatten im Oktober bei mehr als einem Drittel der Wahlberechtigten ein positives Image. Aus der Reihe fällt hier wieder Christoph Wiederkehr, der nicht nur seine Bekanntheit, sondern auch sein Image stark verbessern konnte. Er steigerte den Anteil der positiven Nennungen von 27 % auf 43 % und war im Oktober nach dem Bürgermeister auf Rang zwei im Ranking der Spitzenkandidaten. Tabelle 3: Positives Image der SpitzenkandidatInnen Ludwig

Nepp

Hebein

Blümel

Wiederkehr

Strache

Mai.20

65

16

41

43

27

8

Jul.20

66

20

36

37

36

9

Aug.20

69

16

30

35

31

9

Sep.20

71

13

32

34

37

7

Okt.20

72

17

35

37

43

9

Datenquelle: IFES, jeweils n=800, repräsentativ für Wahlberechtigte zur Wiener GRW 2020, Methodenmix CATI/CAWI Fragestellung im Wortlaut: „Und haben Sie von dieser Person eine sehr günstige, eher günstige, eher ungünstige oder sehr ungünstige Meinung?“ [Anteil der Personen, die angeben, eine sehr günstige oder günstige Meinung zu haben, in Prozent derjenigen, die den Kandidaten/die Kandidatin zumindest namentlich kennen; Reihenfolge randomisiert]

4. Wahlergebnis A. Wahlbeteiligung – mind the gap! Die Wahlbeteiligung lag in Wien 2020 bei 65,3 %, damit 9,5 Prozentpunkte niedriger als 2015, aber ähnlich hoch wie 2010 (67,3 %), und deutlich höher als 2005 (60,8 %). Der Kontext einer Wahl spielt hier eine wichtige Rolle:

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eva zeglovits    |    wien-wahl im corona-modus

Wenn der mögliche Wahlausgang als knapp antizipiert wird und wenn darüber hinaus die Konkurrenz als sehr unterschiedlich wahrgenommen wird, dann sind dies die besten Voraussetzungen für eine hohe Wahlbeteiligung (Franklin 2004). Die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung 2015 war u. a. auf die Konkurrenzsituation zurückzuführen, die stark kontrastierenden Angebote von SPÖ und FPÖ, wodurch Michael Häupl für die SPÖ als „AntiStrache“ (Hofer 2016, S. 30) etwa Stimmen aus dem Nichtwählerlager lukrieren konnte. Umgekehrt kann für die Wahl 2020 festgehalten werden, dass sie eigentlich alle Voraussetzungen für eine besonders niedrige Wahlbeteiligung mitbrachte: Alle publizierten Umfragen sahen die SPÖ konkurrenzlos auf Platz 1. Insofern ist die Wahlbeteiligung in Anbetracht der Umstände als relativ hoch zu bewerten. Ein möglicher Effekt der Pandemie lässt sich nicht eindeutig feststellen: Da mit der Briefwahl (per Post oder am Magistratischen Bezirksamt) eine niedrigschwellige Möglichkeit zur Distanzwahl angeboten und auch sehr stark genutzt wurde, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Angst vor einer Ansteckung die Wahlbeteiligung gesenkt hat. Der wirklich neue Aspekt an der Wahl 2020 war eben diese noch nie dagewesene hohe Anzahl an Stimmen, die per Briefwahl abgegeben wurden, nämlich über 320.000 Stimmen (Stadt Wien, 2020). Das waren mehr als doppelt so viele Briefwahlstimmen wie 2015, und rund 100.000 mehr als bei der Nationalratswahl 2019 in Wien. Die Distanzwahl erlebte als pandemiesichere Alternative zur sonst überwiegend genutzten Präsenzwahl im Wahllokal ein Hoch. Was in Wien allerdings zunehmend auseinanderdriftet, ist das Verhältnis von Wohnbevölkerung (ab 16) zu im Gemeinderat vertretenen Stimmen. Wien hatte am 1.1.2020 1,911 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, davon waren rund 300.000 unter 16 Jahre alt. Die große Diskrepanz zu den „nur“ 1,133 Millionen Wahlberechtigten zur Gemeinderatswahl entsteht durch die in Wien lebenden nicht-österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (rund 590.000 Menschen, alle Altersgruppen), die kein Wahlrecht besitzen (Statistik Wien 2020). Von den 1,133 Millionen Wahlberechtigen haben rund 740.000 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, davon wiederum haben rund 663.000 eine der Parteien gewählt, die schlussendlich die notwendige Anzahl an Stimmen erreichte, um im Wiener Gemeinderat vertreten zu sein. Nur die Stimmen dieser 663.000 Personen sind nun im

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Wiener Gemeinderat durch Abgeordnete vertreten. Dieses Phänomen des „Participation Gap“ (Dalton 2017), also der Diskrepanz zwischen jenen, die ihre Stimme in den Beteiligungsprozess erfolgreich einbringen (können), und jenen, die nicht mitbestimmen, aber von den Ergebnissen der Entscheidungsprozesse genauso betroffen sind, ist etwas, was nicht nur in Wien, sondern auch in anderen Teilen Österreichs zunimmt und daher besondere Beachtung durch die Politischen Akteurinnen und Akteure finden sollte. B. Ergebnis der Parteien Die massiven Verluste der Freiheitlichen Partei (minus 23,7 Prozentpunkte) sind jedenfalls das deutlichste und sichtbarste Ergebnis der Gemeinderatswahl. Dass durch die Kandidatur von Heinz-Christian Strache der FPÖ möglicherweise noch bis zu 3,3 Prozent der abgegebenen Stimmen verlorengegangen sind, beschönigt das Ergebnis nicht. Gebeutelt vom IbizaSkandal und thematisch bedrängt von der Neuen Volkspartei schrumpfte die FPÖ von der zweitstärksten Partei in Wien zu einer Kleinpartei und rutschte sogar noch hinter NEOS auf Platz 5. Dabei gilt es zu beachten, dass von der FPÖ Enttäuschte unter anderen Rahmenbedingungen wahrscheinlich wieder erreicht werden und aus dem Nichtwählerlager zurückgeholt werden könnten. Tabelle 4: Wahlergebnis in Prozent der gültigen Stimmen gesamt

Differenz zu 2015

SPÖ

41,6

+2,0

ÖVP

20,4

+11,2

Grüne

14,8

+3,0

NEOS

7,5

+1,3

FPÖ

7,1

–23,7

HC

3,3

n.a.

LINKS

2,1

+1,0

BIER

1,8

n.a.

andere

1,4

n.a. = nicht angetreten; Quelle: https://www.wien.gv.at/wahlergebnis/de/GR201/index.html

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Die ÖVP hingegen gewann stolze 11,2 Prozentpunkte, und konnte sich von ihrem historisch schlechtesten Ergebnis 2015 auf Platz 2 katapultieren. Die Grünen gewannen drei Prozentpunkte, und fanden sich trotzdem nach den Koalitionsverhandlungen in der Opposition wieder. Ein kleines Plus von 1,3 Prozentpunkten reichte NEOS, um die FPÖ zu überholen und um als Koalitionspartner der SPÖ in die Stadtregierung einzutreten. Die SPÖ schließlich konnte mit dem „neuen“ Bürgermeister Michael Ludwig allen Unkenrufen zum Trotz ein Plus bei der Wahl erreichen, obwohl ihr das mobilisierende Element des Duells um Platz 1 wie 2015 fehlte. Im nicht vorhandenen Kampf um Platz 1 gab es auch noch einen lachenden Dritten: Den sogenannten Kleinparteien wie Links oder der Bierpartei gelang es, deutlich mehr Stimmen zu gewinnen als 2015. Insgesamt 5,3 % aller abgegebenen gültigen Stimmen vereinten die Kleinparteien (ohne Strache) auf sich. Waren die Kleinparteien 2015 im großen Duell beinahe untergegangen, gewannen sie 2020 deutlich an Sichtbarkeit. Ob die Niederlage in Wien Heinz-Christian Strache davon abhalten wird, weitere Comeback-Versuche zu starten, ist ungewiss.

5. Literatur und Online-Quellen Dalton, R.J. (2017) The Participation Gap – Social Status and Political Equality. Oxford University Press, Oxford. Die Presse (19.12.2014) Strache vs. Ludwig „Deutschtest für den Gemeindebau“ https://www.diepresse.com/4623428/ strache-vs-ludwig-deutschtest-fur-den-gemeindebau [abgerufen am 3.1.2021] Franklin, M.N. (2004) Voter Turnout and The Dynamics of Electoral Competition in Established Democracies Since 1945. Cambridge University Press, Cambridge. Hofer, T. (2016) Unterwerfung. In: Khol, A. et al. (Hg.) Österreichisches Jahrbuch für Politik 2015. Böhlau, Wien, S. 25–42 Kurier (1.4.2020) Corona-Streit um Bundesgärten: „Köstingers Niveau ist kindisch“ https://kurier.at/chronik/wien/coronastreit-um-bundesgaerten-koestingers-niveau-ist-kindisch/400799567 [abgerufen am 3.1.2021] Kurier (8.10.2020) Schwere Krise im Corona-Krisenstab der Bundesregierung https://kurier.at/chronik/oesterreich/schwerekrise-im-corona-krisenstab-der-bundesregierung/401058891 [abgerufen am 3.1.2021] Kowarz, N. & Kritzinger, S. (2020) Nach 8 Monaten Corona-Krise: Wie sieht die Bilanz der Bundesregierung aus? Austrian Corona Panel Projekt, Vienna Center for Electoral Research, Universität Wien, https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blogbeitraege/corona-dynamiken16/ [abgerufen am 3.1.2021] Plasser, F. & Sommer, F. (2018) Wahlen im Schatten der Flüchtlingskrise. Facultas, Wien. Plasser, F. & Sommer, F. (2020) Neuwahl 2019. In: Khol, A. et al. (Hg.) Österreichisches Jahrbuch für Politik 2019. Böhlau, Wien, S. 27–51 Stadt Wien (2020) Wien Gesamtübersicht Briefwahl. https://www.wien.gv.at/wahlergebnis/de/GR201/90099.html [abgerufen am 3.1.2021] Statistik Wien (2020) Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 2020. https://www.wien.gv.at/statistik/pdf/jahrbuch-2020.pdf [abgerufen am 2.1.2021] Ulram, P. & Sommer, F. (2016) Analyse der Landtagswahlen 2015: Burgenland, Steiermark, Oberösterreich, Wien. In: Khol, A. et al. (Hg.) Österreichisches Jahrbuch für Politik 2015. Böhlau, Wien, S. 3–25

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Wiener Zeitung (18.5.2020) Nehammer im Corona-Clinch mit Wien https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/ wien/2061067-Nehammer-im-Corona-Clinch-mit-Wien.html [abgerufen am 3.1.2021]

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schwerpunkt corona-krise

s y lv i a k r i t z i n g e r 1 / f a b i a n k a l l e i t n e r / j u l i a p a r t h e y m ü l l e r

Das Austrian Corona Panel Project (ACPP) Als in Österreich im März 2020 das öffentliche Leben heruntergefahren wurde, war klar, dass das Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 für die meisten Menschen in Österreich und weltweit eine Zäsur darstellen würde. Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, das Herunterfahren der Wirtschaft, Schulschließungen und Herausforderungen der Digitalisierung sind nur einige Aspekte, die durch die neue gesundheitliche Gefahr plötzlich und unerwartet im Raum standen. Die COVID-19-Pandemie und ihre damit verbundenen Krisen nahmen ihren Anfang. Für die Wissenschaft war es ein ganz besonderer Moment, da deren Expertise für den Umgang und die Bewältigung der Corona-Krise besonders gefragt war. Während zunächst vorrangig gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen der COVID19-Pandemie diskutiert wurden, wurde schnell klar, dass auch negative soziale und psychische Auswirkungen auf die österreichische Bevölkerung zu erwarten sein würden. Zudem stellte die COVID-19-Pandemie laut der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel „eine Zumutung für die Demokratie“ dar, in der, nicht zuletzt durch eine Infodemie von Falschinformationen und Verschwörungstheorien, die Belastbarkeit des demokratischen Gemeinwesens auf die Probe gestellt wurde. Unter diesen Vorzeichen fand sich an der Universität Wien unmittelbar nach Ankündigung der ersten Maßnahmen durch die Bundesregierung eine Gruppe von Sozialwissenschafter*innen zusammen, die sich zum Ziel setzte neben den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen auch die sozialen, psychologischen und politischen Folgen der COVID-19-Pandemie auf die österreichischen Bevölkerung detailliert in regelmäßigen Abständen und über einen langfristigen Zeitraum hinweg zu untersuchen. Das Austrian Corona Panel Project (ACPP) war geboren und

1 Das ACPP-Projektteam umfasst Julian Aichholzer, Hajo Boomgaarden, Jakob-Moritz Eberl, Fabian Kalleitner, Berhard Kittel, Sylvia Kritzinger, Noelle Lebernegg, Julia Partheymüller, Carolina Plescia, Markus Pollak, Barbara Prainsack, Thomas Resch, David Schiestl und Lukas Schlögl. Projektleiter ist Bernhard Kittel.

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wurde am Vienna Center for Electoral Research (VieCER) der Universität Wien angesiedelt.2

Der technisch-methodische Aufbau von ACPP Seit Ende März 2020 wird in regelmäßigen Abständen eine Stichprobe von 1.500 Personen, die in Österreich wohnhaft und älter als 14 Jahre alt sind, zu unterschiedlichen Thematiken befragt. Die Teilnehmer*innen wurden dabei auf Basis von bevölkerungsrepräsentativen Quoten aus einem Online Access Panel (durchgeführt von Marketagent) rekrutiert. Die Thematiken der Umfrage decken eine breite Palette von Aspekten ab, die von der Pandemie beeinflusst werden könnten. ACPP stellt Fragen zum gesundheitlichen und psychologische Wohlbefinden, zur Erwerbs- und Arbeitssituation der Haushalte, zur Wohnsituation, ebenso wie zu sozialen und familiären Aspekten, wie beispielsweise zur Arbeitsteilung im Haushalt, zu Problemen bei der Kinderbetreuung oder der Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen. Weitere Fragen beziehen sich auf Akzeptanz und Einhaltung von staatlichen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung, das Vertrauen in politische Institutionen, die Mediennutzung sowie das Kommunikationsverhalten der Teilnehmer*innen. Zudem erfasst ACPP wichtige soziodemografische Merkmale der Respondent*innen. Das ACPP-Frageprogramm wird je nach Veränderung im Pandemiegeschehen laufend ergänzt, sodass aktuelle wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen berücksichtigt werden können. Vertiefende Themenmodule beschäftigten sich u. a. mit Steuern und Verteilungsgerechtigkeit, Einstellungen zu Datenschutz und staatlicher Überwachung sowie der Solidarität in der Europäischen Union. Zudem wurden auch Einstellungen zur Corona-Schutzimpfung, den Massentests und Erwartungen für das Leben nach der COVID-19-Pandemie erfasst. ACPP zeichnet sich insgesamt als eine wahrlich interdisziplinäre Studie aus, die sowohl zu gesundheitlichen und wirtschaftlichen Aspekten als auch zu den sozialen und psycho-

2 VieCER begreift sich als interdisziplinäre Forschungsinfrastruktur für die Planung und Durchführung quantitativer sozialwissenschaftlicher Forschung.

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kritzinger/kalleitner/partheymüller    |    das austrian corona panel project (acpp)

logischen, politischen Folgen der COVID-19-Pandemie Auskunft geben kann. Das Besondere an der ACPP-Befragung ist, dass sie als Panelstudie angelegt wurde. Dies bedeutet, dass im Ansatz dieselben Personen über die eine bestimmte Zeit hinweg befragt werden und so nachgezeichnet werden kann, ob und wenn ja, wann welche Veränderungen in den Verhaltensweisen und Einstellungen beobachtet werden können. So können wir mit den ACPP-Daten nicht nur im Aggregat, sondern auch auf individueller Ebene nachvollziehen, wann beispielsweise Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie weniger mitgetragen werden, bei welchen Gruppen mit welchen soziodemografischen Charakteristika dies der Fall ist und welche Gründe hierfür wahrscheinlich verantwortlich gemacht werden können. Panelstudien weisen sehr häufig das sogenannte Problem der Panelmoralität auf, d. h. dass Befragte, die zu einem bzw. mehreren Zeitpunkten bei der Befragung mitmachten, bei zukünftigen Befragungen aussteigen bzw. einzelne Befragungen auslassen. In ACPP wird die Panelmortalität durch die Rekrutierung neuer Teilnehmer*innen ausgeglichen, sodass die Stichprobe konstant bei 1.500 Befragten liegt. Die Daten werden zudem mit Post-Stratifikationsgewichten bereitgestellt, die es erlauben, eine zusätzliche Anpassung der Randverteilung an die Verteilungen der Zielpopulation vorzunehmen. Die Stichprobengröße erlaubt allgemeine Aussagen über die österreichische Bevölkerung. Für die Analyse kleiner Sub-Populationen wie beispielsweise Alleinerzieher*innen oder Schüler*innen wäre eine größere Stichprobe wünschenswert. Darüber hinaus steht ACPP mit der mehrere Länder vergleichenden qualitativen Studie SOLPAN – Solidarity in times of a pandemic – in engem Austausch, die einen vertiefenden Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wirft. Mittlerweile (Stand: Jänner 2021) hat ACPP 18 Befragungswellen durchgeführt und weitere sieben Wellen stehen noch aus. Während ACPP zu Beginn der Pandemie bis Anfang Juni 2020 wöchentliche Befragungen durchgeführt hat, wurde die Frequenz der Befragungswellen zunächst auf zweiwöchige Intervalle umgestellt (Anfang Juni bis Mitte Juli 2020). Seit Juli 2020 erfolgen die Befragungen im monatlichen Rhythmus. Alle Befragungen werden online durchgeführt und sind im Durchschnitt auf 20 Minuten angelegt. Detaillierte technische Details zu ACPP finden sich im be-

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gleitenden Datenpapier (Kittel et al. 2020a) sowie im Methodenbericht der Studie (https://viecer.univie.ac.at/coronapanel/austrian-corona-panel-data/ method-report/; siehe auch Kittel et al. 2020b). Eine weitere Besonderheit von ACPP ist dessen Umgang mit dem gewonnenen Datenmaterial. Die Daten werden über AUSSDA – The Austrian Social Science Data Archive übermittelt und stehen der wissenschaftlichen Gemeinschaft sehr schnell und frei für Analysen zur Verfügung. Die Daten der ersten 10 Wellen wurden mit unterschiedlichen Lizenzmodellen bereits im Juli 2020 veröffentlicht. Eine Scientific-use-Version der Wellen 1 bis 15 ist zudem seit Dezember 2020 verfügbar und weitere Daten-Veröffentlichungen befinden sich in Vorbereitung. ACPP unterstützt die European Open Science Cloud (EOSC) und kann durch die Bereitstellung der Daten einen evidenzbasierten Beitrag zur Eindämmung der Pandemie leisten. Finanziert wurde ACPP vom WWTF, der Universität Wien, dem FWF, der Arbeiterkammer, der Industriellenvereinigung und dem Sozial Survey Österreich (SSÖ). Innovativ ist zudem die schnelle Bereitstellung von Datenauswertungen für die interessierte Öffentlichkeit: ACPP publiziert regelmäßig seine Ergebnisse über einen Blog, welche auch über Twitter geteilt werden (siehe https://viecer.univie.ac.at/coronapanel/corona-blog/). Bisher sind bereits rund 100 Blog-Beiträge sowie weitere Kurzbeiträge zu aktuellen Entwicklungen im Corona-Weblog des Projekts veröffentlicht worden. Die Beiträge wurden vielfach von den Medien aufgegriffen und sind für Bürger*innen sowie politische Entscheidungsträger*innen gleichermaßen unmittelbar und kostenfrei verfügbar.

Österreich und die COVID-19-Pandemie: Erkenntnisse aus dem ACPP Die soeben dargestellte Beschreibung zeigt die Bandbreite der Themen sowie die Zeitperiode auf, für die wichtige Erkenntnisse durch ACPP gewonnen werden können. Im Folgenden fassen wir einige grundlegende Ergebnisse zur Wahrnehmung der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahren durch die Bevölkerung kurz zusammen. Um das Analysepotenzial zusätzlich zu veranschaulichen, wird der Fokus dann auf die dynamischen Entwicklungen der Einstellungen zu den Maßnahmen zur Bewältigung bzw. Eindämmung der COVID-19-Pandemie gelegt. Danach analysieren

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wir in diesem Zusammenhang zudem auch den Rückhalt der Bundesregierung in der Bevölkerung sowie die Zufriedenheit mit der österreichischen Demokratie im Verlauf der Krise. Abschließend beleuchten wir kurz die europäische Dimension der Krise.

Hintergrund: Entwicklung der Gefahrenwahrnehmung Für das Verständnis der Krisen sind die Einschätzungen der Befragten hinsichtlich der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahren, die vom Coronavirus und den Maßnahmen ausgehen, von grundlegender Bedeutung, und wir fassen die Ergebnisse zur wahrgenommenen Gefahrenlage hier kurz zusammen. In ACPP unterscheiden wir dabei zwischen der Gefahrenwahrnehmung für die Befragten selbst (=persönliche Gefahrenwahrnehmung) und der Gefahrenwahrnehmung für die österreichische Bevölkerung. Für die gesundheitliche Gefahrenwahrnehmung zeigen Aichholzer & Kalleitner (2021), dass zu Beginn der Pandemie von 58 % der Befragten die Gefahr, die vom Virus für die österreichische Bevölkerung ausgeht, als groß bzw. sehr groß eingeschätzt wurde. Diese Einschätzung sank im Laufe des Frühjahrs auf unter 20 %, bevor sie im Sommer wieder anstieg und im November mit dem Höchststand von Neuinfektionen erneut in etwa auf den Stand vom Frühjahr stieg. Im Dezember sank mit der Verbesserung der Infektionszahlen die allgemeine gesundheitliche Gefahrenwahrnehmung wieder etwas. Unterschiedlich gestaltet sich die persönliche Gefahrenwahrnehmung durch das Coronavirus. Selbst zu Beginn der Pandemie sah nur knapp ein Viertel der Befragten für sich selbst eine gesundheitliche Gefahr. Dieser Wert sank im Laufe der Pandemie auf teilweise unter 10 %, pendelte sich dann zwischen 15 und 20 % ein, bevor er im November auf 17 % anstieg. Es konnte somit beobachtet werden, dass im Durchschnitt die gesundheitliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung immer höher eingeschätzt wird als für die Befragten selbst. Ähnlich verhält es sich mit den wirtschaftlichen Gefahrenwahrnehmungen, wobei hier die persönliche Gefahr und die gesamtgesellschaftliche wirtschaftliche Gefahrenwahrnehmung noch weiter als bei der Gesundheit auseinanderklaffen. Sowohl zu Beginn als auch am Ende unserer derzeitigen Messzeitreihe (März bis Dezember 2020) schätzte eine klare Mehrheit

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

die wirtschaftliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung als hoch bzw. sehr hoch ein (März 84 %, Dezember 74 %, November 80 %). Auch zu den anderen Messzeitpunkten wurde die allgemeine wirtschaftliche Gefahr stets von einer klaren Mehrheit als hoch bzw. sehr hoch eingeschätzt. Selbst in den späten Frühjahrs- und Sommermonaten blieb die Gefahrwahrnehmung hoch. Interessanterweise zeigen unsere Daten jedoch auch, dass umgekehrt die persönliche wirtschaftliche Gefahr nur von einer Minderheit der Befragten als groß bzw. sehr groß eingeschätzt wird (36,7 % im März und 25 % im Dezember) (Kalleitner et al. 2020). Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie werden also für die ge­ samtgesellschaftliche wirtschaftliche Entwicklung in Österreich bedeutend gravierender eingeschätzt, als dies für das persönliche wirtschaftliche Wohlergehen der Fall ist. Wenn jedoch ein Viertel der Befragten seine eigene wirtschaftliche Situation als bedroht empfindet, so muss dies durchaus als Alarmzeichen gesehen werden. Dies kann langfristig auch zu einem starken wirtschaftlichen Auseinanderdriften der Gesellschaft führen. Eine Sorge, die auch von einer klaren Mehrheit der Befragten zum Ausdruck gebracht wurde: Über 80 % der Teilnehmer*innen schätzten, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Österreich durch die COVID-19-Pandemie in Zukunft größer werden würde. Die Auswirkungen dieser wirtschaftlichen und gesundheitlichen Ge­ fah­ renwahrnehmungen sind auch vor dem Hintergrund bedeutend, dass eine klare Mehrheit der Befragten nicht von einem raschen Ende der COVID-19-Pandemie und der damit zusammenhängenden Maßnahmen ausgeht. Waren zu Beginn der Pandemie noch 65,4 % der Befragten der Meinung, dass man innerhalb von sechs Monaten man wieder zu einem „normalen Leben“ in Österreich zurückkehre würde, so hat sich hier die Meinungslage mittlerweile komplett verändert: im Dezember 2020 waren nun 84 % der Befragten der Meinung, dass es noch mehr als sechs Monate dauern würde, bis wieder „Normalität“ einkehren könnte.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie Mit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden vonseiten der Bundesregierung Maßnahmen gesetzt, die die Verbreitung des Virus eindämmen, die Wirtschaft stützen und die gesundheitliche Versorgung der österreichischen

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Bevölkerung sichern sollten. Im Laufe der Pandemie wurden einige Maßnahmen teilweise wieder zurückgenommen und andere wurden wiederum eingeführt. Wie bewertete die österreichische Bevölkerung diese Maßnahmen im Paket? Abbildung 1: Angemessenheit der Maßnahmen der Bundesregierung

  Anmerkung: ACPP-Daten (Welle 1–18, gewichtet, N= ca. 1.500 pro Befragung)

Dazu hat ACPP über die gesamte COVID-19-Pandemie hinweg Daten gesammelt, deren dynamische Bewertung in Abbildung 1 dargestellt ist. Zu Beginn der COVID-19-Pandemie im März/April 2020 wurden die Maßnahmen von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung als angemessen empfunden. Dieser Wert blieb im Laufe der ersten Wochen recht stabil, ab Ende April jedoch wurden von immer mehr Befragten die Maßnahmen als zu stark bzw. als zu extrem eingeschätzt. Mit der Lockerung der Maßnahmen im Sommer gingen diese Werte etwas zurück, dafür stieg der Anteil der Personen, die die Maßnahmen als eher nicht ausreichend bewerteten. Der Konsens, der zu Beginn der Krise noch beobachtet werden konnte, schwand. Eine deutliche Polarisierung in der Bewertung der Angemessenheit der Maßnahmen war in den letzten Monaten des Jahres 2020 ersichtlich: Während die eine Gruppe die Maßnahmen als zu stark empfand, reich-

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ten sie für die andere Gruppe nicht aus. Der Anteil der Befragten, die die Maßnahmen als angemessen empfanden, ging von ca. 72 % im März/April auf knapp 40 % im Dezember 2020 zurück (siehe auch Kalleitner & Partheymüller 2020). Abbildung 2: Effektivität der Maßnahmen

  Anmerkung: ACPP-Daten (Welle 1–18, gewichtet, N= ca. 1.500 pro Befragung)

Die Bewertung der Angemessenheit der Maßnahmen ist ein Gesichtspunkt, die Bewertung der Effektivität der Maßnahmen ein anderer. Je effektiver die Maßnahmen eingeschätzt werden, desto eher ist davon auszugehen, dass sie auch mitgetragen werden. Abbildung 2 zeigt, dass zu Beginn der Pandemie die Effektivität der Maßnahmen als sehr hoch eingeschätzt wurde und diese Einschätzung über die Zeit bis Juni 2020 sehr stabil blieb. Mit August 2020 ist eine Trendwende zu beobachten: Der Anteil der Befragten, die die Maßnahmen als effektiv bzw. sehr effektiv einschätzten, sank erstmals unter 50 %, während die Anteile für die Antwortkategorien „wenig“ bzw. „gar nicht effektiv“ und „teils-teils“ zunahmen. Im Oktober 2020 überwog erstmalig seit Beginn der COVID-19-Pandemie der Anteil derer, die die Maßnahmen als „eher nicht“ oder „überhaupt nicht effektiv“ einschätzten, den Anteil jener, die sie als „eher“ oder „sehr effektiv“ bewerteten (Kalleitner &

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Partheymül­ler 2020). Die geringe Einschätzung der Effektivität verstärkte sich im November 2020 nochmals: Lediglich knapp 21 % der Befragten bewerteten die Maßnahmen noch als sehr oder eher effektiv. Im Dezember 2020 ging der Anteil jener, die die Maßnahmen für nicht effektiv hielten, zurück. Dennoch war auch im Dezember weiterhin nur eine Minderheit der österreichischen Bevölkerung (ca. 21 %) der Meinung, dass die Maßnahmen der Bundesregierung eher oder sehr effektiv sind. Der größte Anteil der Befragten (47 %) hielt die Maßnahmen für teilweise wirksam.

Die COVID-19-Pandemie und ihre politischen Folgen Welche Unterstützung erfuhr die Bundesregierung in der COVID-19-Pandemie? Und welche Auswirkungen ließen sich auf die Zufriedenheit mit der österreichischen Demokratie beobachten? Bisher konnte beobachtet werden, dass in Krisensituationen die Bürger*innen die Regierung unabhängig von deren ideologischer und parteipolitischer Ausrichtung weithin unterstützen (e.g., Mueller 1970, 1973). Dieses Phänomen wird als Rallyaround-the-flag-Effekt beschrieben (e.g. Baker and O’Neal 2001): Man versammelt sich zu einem nationalen Schulterschluss. Wie aus Abbildung 3 hervorgeht, ist es auch in Österreich zu Beginn der COVID-19-Pandemie zu einem Rally-around-the-flag-Effekt gekommen. Eine breite Mehrheit war mit der Arbeit und Leistung der Regierung sehr bzw. eher zufrieden. Wie Plescia et al. (2020) zeigen, konnte dieser Effekt auch beim Vertrauen in die Bundesregierung beobachtet werden: Bis zu 75 % der Befragten hatten zu Beginn der COVID-19-Pandemie eher bzw. großes Vertrauen in die Bundesregierung. Diese positiven Bewertungen gingen jedoch im Zeitverlauf zurück. Der Rally-around-the-flag-Effekt nahm in der Bevölkerung ebenso ab wie der nationale Schulterschluss unter den Parteien im Nationalrat. Im Dezember 2020 waren lediglich 37 % der Befragten noch mit der Arbeit und Leistung der Bundesregierung zufrieden, während der Anteil der sehr oder eher unzufriedenen Befragten auf 34 % anstieg. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch beim Vertrauen in die Bundesregierung beobachten, wo der Vertrauenswert bei der Messung im Dezember bei 44 % lag. Dies stellt einen Vertrauensverlust von über 30 Prozentpunkten seit März 2020 dar.

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Abbildung 3: Bewertung der Arbeit und Leistung der Bundesregierung

  Anmerkung: ACPP-Daten (Welle 1–18, gewichtet, N= ca. 1.500 pro Befragung)

Während die Bewertung der Arbeit der Bundesregierung die spezifische Unterstützung in der Bevölkerung aufgreift (Easton 1965), greift die Frage nach der Zufriedenheit mit der österreichischen Demokratie deren diffuse Unterstützung auf. Abbildung 4 zeigt die dynamische Entwicklung der Bewertung der österreichischen Demokratie in den Pandemie-Monaten. Auch hier sehen wir hohe Zufriedenheitswerte zu Beginn der Pandemie, was den Rally-around-the-flag-Effekt nochmals unterstreicht. Genau wie bei den anderen beiden Unterstützungsarten sehen wir aber auch bei der Frage nach der Demokratiezufriedenheit eine Abnahme über die Zeit, wenn auch etwas weniger stark als beim Vertrauen und der Regierungsbilanz (siehe Plescia et al. 2020). Der Wert für die Kategorien „sehr“ oder „eher zufrieden“ mit der Demokratie pendelte sich in den Sommermonaten bei um die 50 % ein. Seitdem sank die Demokratiezufriedenheit nur noch geringfügig weiter. Im Dezember 2020 waren rund 45 % der Bevölkerung mit der Demokratie in Österreich eher oder sehr zufrieden. Die verschiedenen Unterstützungsarten zeichnen also ein einheitliches Bild: Hohe Unterstützungswerte zu Beginn der COVID-19-Pandemie mit abnehmenden Werten über die Pandemie-

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Monate hinweg, mit einem größeren Rückgang bei der Zufriedenheit mit der Regierungsbilanz im Vergleich zur Demokratiezufriedenheit.3 Abbildung 4: Zufriedenheit mit der österreichischen Demokratie

  Anmerkung: ACPP-Daten (Welle 1–18, gewichtet, N= ca. 1.500 pro Befragung)

Die europäische Dimension der Krise Wenngleich die Nationalstaaten in der Corona-Krise als Hauptakteure agierten, hatte die COVID-19-Pandemie gleichwohl auch Auswirkungen auf das nächste EU-Budget mit Corona-Hilfen in Milliardenhöhe. ACPP hat daher auch die Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zur europäischen Krisenfinanzierung erfasst. Dies geschah unter dem Blickwinkel, dass die österreichische Bevölkerung in Bezug auf die EU-Mitgliedschaft ihres Landes eher kritisch eingestellt ist (e.g. Kritzinger et al. 2020a), die Krisenfinanzierung eine Abkehr von der bisherigen EU-Haushaltsgestaltung darstellt und somit von langwierigen politischen Diskussionen begleitet

3 Für weiterführende Analysen zum österreichischen Rally-around-the-flag-Effekt in vergleichender Perspektive zu Frankreich siehe Kritzinger et al. (2020b).

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war. Dafür wurden vom ACPP fünf unterschiedliche Krisenfinanzierungsinstrumenten zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgefragt von (1) freiwilligen Sachspenden an Mitgliedsstaaten, hin zu (2) einem gemeinsamen Fonds zur Kreditvergabe, (3) einem freiwilligen Fonds ohne Rückzahlpflicht, (4) der gemeinsamen Aufnahme von Schulden, und (5) höheren Beiträgen an die EU durch Mitgliedsstaaten. Bobzien & Kalleitner (2020) zeigen auf, dass keines der vorgeschlagenen Krisenfinanzierungsinstrumente von einer Mehrheit der Befragten befürwortet wurde und sich diese Einstellungen auch nicht veränderten. Hinsichtlich der Befürwortung einer gemeinsamen Schuldenaufnahme ist interessant zu beobachten, dass jene Befragten, die davon ausgingen, dass eine Unterstützung anderer Länder auch Österreich nutzen würde, eine gemeinsame Schuldenaufnahme eher unterstützten. Wähler*innen der ÖVP und FPÖ lehnten eine gemeinsame Schuldenaufnahme eher ab als Wähler*innen anderer Parteien, was womöglich an der der Positionierung der beiden Parteien in dieser Frage liegen könnte.

Conclusio Seit März 2020 bestimmt die COVID-19-Pandemie das öffentliche Leben in Österreich. Die neuartige gesundheitliche Gefahr durch das Coronavirus sowie die staatlichen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung zogen vielfältige wirtschaftliche, soziale, psychologische und politische Folgen nach sich. ACPP hat sich zur Aufgabe gestellt, die Einstellungen zu diesen neuartigen Herausforderungen sowie den Umgang mit der Krise in der österreichischen Bevölkerung im Zeitverlauf zu beobachten. Dadurch können mögliche Wendepunkte in der öffentlichen Meinung während der COVID19-Pandemie erfasst und evidenzbasierte Entscheidungen darauf aufbauend getroffen werden. Die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse können zwar nur einen Bruchteil der Analysemöglichkeiten von ACPP darstellen, sie zeigen jedoch deutlich, dass sich Einstellungen zu Maßnahmen zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie verändert haben und auch die anfänglich breite Unterstützung der Regierungsarbeit nachgelassen hat. Die ersten Monate 2021 werden wohl keine Entspannung bringen. Inwiefern es zu weiteren Polarisierungen in den Einstellungen zu den Corona-Maßnahmen kommen wird, die die Regierungsarbeit zunehmend unter Druck bringen,

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kritzinger/kalleitner/partheymüller    |    das austrian corona panel project (acpp)

oder ob es gelingen kann, die Bevölkerung wieder stärker von der Effektivität und Angemessenheit der Corona-Maßnahmen überzeugen zu können, dafür werden die nächsten Monate entscheidend sein – die Daten aus dem Austrian Corona Panel Project werden diese sowie neue Entwicklungen mit monatlichen Befragungen weiterverfolgen und sie breit über regelmäßige Blog-Einträge und Twitter kommunizieren.

Bibliografie Aichholzer, Julian und Fabian Kalleitner (2021). Das Coronavirus wird weiterhin als sehr gefährlich eingeschätzt. Corona-Dynamiken – 14.01.2021, https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/corona-dynamiken17/. Baker, William D. and John R. O’Neal (2001). Patriotism or Opinion Leadership? The Nature and Origins of the “Rally ’Round the Flag” Effect. Journal of Conflict Resolution, 45: 661–687. Bobzien, Licia and Fabian Kalleitner (2020, online first). Attitudes towards European financial solidarity during the COVID-19 pandemic: evidence from a net-contributor country. European Societies. https://doi.org/10.1080/14616696.2020.1836669. Easton, David (1965). A Framework for Political Analysis. Englewood Cliffs. Kalleitner, Fabian und Julia Partheymüller (2020). Die wahrgenommene Effektivität der Maßnahmen sinkt, die Polarisierung nimmt weiter zu. Corona-Dynamiken – 28.10.2020, https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/coronadynamiken7/. Kalleitner, Fabian, Markus Pollak und Julia Partheymüller (2020). Die Gefahr wächst wieder: Zur Dynamik der wahrgenommenen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahr durch das Coronavirus. Corona-Dynamiken – 25.09.2020, https://viecer.univie. ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/corona-dynamiken/. Kittel, Bernhard, Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarden, Barbara Prainsack, Jakob-Moritz Eberl, Fabian Kalleitner, Noëlle S. Lebernegg, Julia Partheymüller, Carolina Plescia, David W. Schiestl and Lukas Schlogl (2020a, online first). The Austrian Corona Panel Project: Monitoring Individual and Societal Dynamics amidst the COVID-19 Crisis. European Political Science. https://doi. org/10.1057/s41304-020-00294-7. Kittel, Bernhard, Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarden, Barbara Prainsack, Jakob-Moritz Eberl, Fabian Kalleitner, Noëlle S. Lebernegg, Julia Partheymüller, Carolina Plescia, David W. Schiestl, and Lukas Schlogl (2020b). Austrian Corona Panel Project (SUF edition). https://doi.org/10.11587/28KQNS, AUSSDA. Kritzinger, Sylvia, Julia Partheymüller and Carolina Plescia (2020a). The 2019 EP Election in Austria: a highly salient domestic test election. In Sylvia Kritzinger, Carolina Plescia, Kolja Raube, James Wilhelm and Jan Wouters (eds.) Assessing the 2019 European Parliament Elections, London: Routledge: 99–113. Kritzinger, Sylvia, Martial Foucault, Romain Lachat, Julia Partheymüller and Carolina Plescia (2020b). Rally around the flag: The COVID-19 Crisis and Trust in the National Government. APSA-Konferenzpapier, 10–13. September 2020. Mueller, John E. (1970). Presidential popularity from Truman to Johnson. American Political Science Review, 64(1): 18–34. Mueller, John E. (1973). War, presidents, and public opinion. New York: John Wiley & Sons. Plescia, Carolina, Felix Krejca und Fabian Kalleitner (2020). Die Dynamik der Demokratiezufriedenheit und des Vertrauens in die österreichische Bundesregierung während der COVID-19-Pandemie. Corona-Dynamiken – 9. 12. 2020, https://viecer.univie. ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/corona-dynamiken13/.

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reinhard heinisch/susanne rhein

Populismus, Pandemie und ­subjektive Betroffenheit in ­Österreich Ergebnisse einer Umfrage1 Die Corona-Pandemie hat das alltägliche Leben stark beeinflusst. Das ist daran zu erkennen, dass sich viele Menschen sowohl wirtschaftlich als auch gesundheitlich durch die Ausbreitung des neuartigen Virus betroffen fühlen, unabhängig, ob sie daran erkrankt sind oder nicht. Hier setzt dieser Artikel an und untersucht die Rolle, die populistische Einstellungen für das subjektive Betroffenheitsgefühl spielen. Populistische Einstellungen können dazu führen, dass Menschen den politischen Entscheidungsfindungsprozess während der Corona-Pandemie, der vor allem durch ExpertInnenmeinungen geprägt ist, ablehnen. Der Artikel argumentiert, dass dadurch das Betroffenheitsgefühl der Personengruppe mit populistischen Orientierungen messbar steigt. Um u. a. diesen Zusammenhang empirisch zu überprüfen, wurde eine repräsentative Umfrage in Österreich im September 2020 durchgeführt. Die statistische Auswertung ihrer Ergebnisse zeigt einen signifikanten und wirksamen Zusammenhang zwischen populistischen Einstellungen und der subjektiven Betroffenheit sowohl im Bereich Gesundheit wie auch im Bereich Wirtschaft durch die gegenwärtige Krise.

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Einleitung Die Corona-Pandemie hat das Leben der ÖsterreicherInnen im Jahr 2020 stark beeinflusst. Besonders standen hier die direkten Konsequenzen einer Erkrankung mit dem neuartigen Virus und dessen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem im Fokus. Bis Ende des Jahres 2020 wurden fast 360.000 bestätigte Fälle des Virus und 6.149 Todesfälle, die mit der Erkrankung in Verbindung gebracht werden konnten, in Österreich registriert (Sozialministerium 2020a). Zudem waren in den Intensivstationen bundesweit während der zweiten Infektionswelle zeitweise über die Hälfte aller Betten mit Patienten, die an COVID-19 erkannt waren, belegt (Statista 2020). Die akuten Erkrankungen sowie eine potenzielle Überlastung des Gesundheitssystems, stellen jedoch nur einen Teil der Belastung dar, welche die Pandemie für ÖsterreicherInnen bedeutet. Unabhängig von einer COVID-19-Erkrankung fühlen sich viele Menschen wirtschaftlich oder gesundheitlich von der Corona-Krise betroffen (WHO 2020, CDC 2020, Weforum 2020). Wir befassen uns genau mit diesem subjektiven Betroffenheitsgefühl und beleuchten dieses aus einer politischen Perspektive. Bei der Eindämmung des Virus spielte die Politik eine wichtige Rolle. Die österreichische Bundesregierung war gezwungen, zahlreiche Entscheidungen zu treffen, die existenzbedrohende Folgen für die Wirtschaft haben und zu massiven Eingriffen in die individuelle Autonomie des Einzelnen führen (z. B. Sozialministerium 2020b, Nationalrat 2020). Dies verdeutlicht, dass vor allem politische Entscheidungen das Leben und somit auch das Wohlergehen der ÖsterreicherInnen während der Corona-Pandemie beeinflusst haben. Die Corona-Krise nimmt daher auch eine politische Dimension an. Dies wirft unter anderem die Frage auf, ob politische Einstellungen unsere Erfahrungen während der Krise prägen. Wir argumentieren, dass populistische Einstellungen einen Einfluss darauf haben, wie betroffen sich eine Person von der Corona-Pandemie fühlt. Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass wir den in der empirischen Politikwissenschaft weit verbreiteten Ansatz teilen, Populismus als konstru­ ierten Gegensatz zwischen einem guten, abstrakt konzipierten Volk und einer korrupten, unscharf definierten Elite zu betrachten, deren Macht es zu brechen gilt (Mudde 2004, Taggart 2004, Rooduijn 2014; Hawkins et al. 2018). Dies bedeutet auch, dass Populisten den gesunden Menschenverstand

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des Volks als Basis für gelungene politische Entscheidungen betrachten, während Experteneinschätzungen skeptisch beäugt werden (Mudde 2004, Caramani 2018, Mede und Schäfer 2020). Da sich die Politik bei der Bekämpfung des Coronavirus auf die Meinung von ExpertInnen stützt und es hierbei zu starken Einschränkungen der Bedürfnisse der DurchschnittsbürgerInnen kommt, ist davon auszugehen, dass populistische Einstellungen besonders relevant sind. Diese Abweichung zwischen der Art und Weise, wie die Politik während der Corona-Krise handelt, und der Vorstellung, wie politische Handlungen eigentlich aussehen sollten, führt dazu, dass Menschen mit populistischen Tendenzen sich eher negativ von der Corona-Krise betroffen fühlen. Hierbei muss angemerkt werden, dass diese Studie Teil einer umfangreicheren Forschung zum Nexus radikaler politischer Einstellungen mit dem subjektiven Betroffenheitsempfinden in Krisen ist. Hierbei sind autoritäre Einstellungen, Entfremdung von politischen Institutionen, Vertrauen in die Regierung und Gesellschaft ebenso Gegenstand der Untersuchung, wie die Wechselwirkungen zwischen objektiven und subjektiven Faktoren. Dazu zählt etwa der Unterschied zwischen dem tatsächlichen Einkommen und dem subjektiven Empfinden, ob das eigene Einkommen reicht, unabhängig von dessen Höhe. Insgesamt finden wir in unserer Forschung einen unerwartet starken Zusammenhang zwischen der subjektiven Dimension und dem Empfinden der Krise einerseits und den geforderten politischen Maßnahmen andererseits. Im Folgenden beschränken wir uns jedoch speziell auf die Bedeutung des Populismus in Zeiten von Corona. Im Weiteren stellen wir kurz unser theoretisches Argument vor und erläutern den kausalen Zusammenhang zwischen populistischen Einstellungen und der subjektiven Betroffenheit durch die Corona-Pandemie. Dann beschreiben wir unser methodisches Vorgehen und präsentieren erste zentrale Ergebnisse unserer Analyse. Diese basieren auf einer repräsentativen Umfrage, die in Österreich Anfang September (also noch vor der zweiten Welle) vom Market Institut in unserem Auftrag durchgeführt wurde.

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Populismus in Corona-Zeiten – die Literatur im Überblick Der Faktor Populismus hat seit Beginn der Corona-Pandemie bereits viel Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Literatur erhalten. Während die Rolle von Populismus in der Corona-Pandemie besonders aus der Perspektive von Parteien beleuchtet wurde (Gugushvili et al. 2020, McKee et al. 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020, Wondreys und Mudde 2020, Kavakil 2020, Mayer 2020), befassten sich einige Beiträge auch mit WählerInnen, die populistische Einstellungen haben (Ebler et al. 2020, Vieten 2020, Barnieri and Bonini 2020). Die Debatte fokussiert generell stark auf die politischen Reaktionen von populistischen Regierungsmitgliedern (Gugushvili et al. 2020, McKee et al. 2020, Kavakil 2020, Mayer 2020), wobei aber auch die Handlungen und Konsequenzen für populistische Akteure in der Opposition beleuchtet wurden (Wondreys und Mudde 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020). Die Beiträge, welche sich eher den in der Gesellschaft vorherrschenden populistischen Einstellungen widmen, besprechen weniger kohärente Themen, wie die Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen (Barbieri und Bonini 2020), den Glauben an Verschwörungstheorien (Eberl et al. 2020) und die mobilisierende Wirkung der Pandemie auf die populistische Grundstimmung in der Gesellschaft (Vieten 2020). In der Literatur scheint weitgehend darüber Konsens zu bestehen, dass die Corona-Pandemie nicht zu einem Ende des politischen ­Populismus in seiner gegenwärtigen Form führen wird (Gugushvili et al. 2020, McKee et al. 2020, Wondreys und Mudde 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020). Die Evaluierung der Qualität der Reaktionen populistischer Führungspersonen auf die Krise fällt jedoch unterschiedlich aus. AutorInnen, die schlussfolgern, dass populistische Regierungen bei der Bekämpfung des Virus häufiger versagen, betrachten vor allem das Handeln rechtsradikaler PopulistInnen (Gugushvili et al. 2020, McKee et al. 2020, Wilson 2020). Diese Erklärungsansätze befassen sich daher mit Nativismus, Skepsis gegenüber heimischen und internationalen Institutionen sowie mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der Wissenschaft. Systematischere Untersuchungen zum Handeln von PopulistInnen in der Corona-Krise weisen jedoch darauf hin, dass der Fokus auf rechtsradikale PopulistInnen zu beschränkt ist (Mayer 2020, Wondreys und Mudde 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020). Generell zeigt sich zwar, dass PopulistInnen langsamer auf die Bedro-

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hung durch Corona reagieren, aber Länder mit populistischen Regierungen verzeichnen trotzdem nicht mehr Fall- und Todeszahlen als andere (Kavakil 2020, Bosancianu et al. 2020, Wondreys und Mudde 2020). Da sich diese Literatur mit der Angebotsseite populistischer Politik beschäftigt, lassen sich für nachfrageseitige Untersuchungen über die Einstellungen von BürgerInnen nur bedingt Rückschlüsse ziehen. Doch es existiert auch Forschung zur Nachfrageseite populistischer Politik in Verbindung mit Corona. Auch hier gilt jedoch, dass in zwei aktuellen Studien zu populistischen Einstellungen wird beispielsweise der Begriff Populismus nicht klar von Extremismus oder auch rechtsradikalen Positionen getrennt (Barbieri und Bonini 2020, Vieten 2020). Dennoch zeigt die eine Studie mit Analysen der Corona-Demonstrationen in Deutschland auf, dass die aufgrund der Pandemie entstandene Krisensituation einen Nährstoff für rechtspopulistische Einstellungen bietet (Vieten 2020). Die Ergebnisse einer anderen Untersuchung aus Italien weisen darauf hin, dass LockdownRegeln vor allem in jenen Regionen gebrochen werden, die vermehrt populistische Akteure unterstützen (Barbieri und Bonini 2020). Die einzige Studie, welche klar zwischen populistischen Einstellungen und anderen politischen Orientierungen unterscheidet, befasst sich mit dem Zusammenhang von Populismus und dem Glauben an Verschwörungstheorien (Eberl et al. 2020). Hier zeigt sich, dass populistische Einstellungen vermehrt mit Misstrauen in politische Institutionen und Wissenschaft zusammenhängen, was dazu führt, dass populistisch orientierte Menschen eher an Verschwörungstheorien glauben. Die ideologische Gesinnung spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Somit lässt die bisherige Literatur den Schluss zu, dass Populismus während der Corona-Krise auf Parteiebene bisher eine weniger prominente Rolle einnimmt, aber populistische Einstellungen auf der Individualebene, unabhängig von dem ideologischen Hintergrund eines Menschen, einflussreich sein können (Eberl et al. 2020). Menschen können sich von der Pandemie signifikant betroffen fühlen, weil sie sich als von politischen Eliten und Experten fremdbestimmt wahrnehmen. In unserer Arbeit wollen wir uns vor allem diesem Phänomen widmen und beziehen uns auf jene theo­ retische Literatur, die Krisen in Verbindung mit empfundenen Defiziten in der demokratischen Repräsentation als messbare Ursachen für radikalpopu-

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listische Einstellungen konstatiert (vgl. bes. Hawkins et al. 2018). Eberl et al. (2020) zeigen, dass der Fokus auf Expertise in der politischen Entscheidungsfindung von Populisten als eine Krise der demokratischen Repräsentation gedeutet werden kann. Dass die Literatur insgesamt bis jetzt wenig Aufmerksamkeit auf populistische und wesensverwandte Einstellungen und deren Auswirkung in der Corona-Pandemie gerichtet hat, zeigt die Notwendigkeit für diese Untersuchungen auf.

Populistische Einstellungen und ExpertInnen-geleitete Politik – das theoretische Argument Um zu verstehen, wie populistische Einstellungen mit einer Reaktion auf die Corona-Pandemie zusammenhängen, müssen wir zunächst unseren Populismusbegriff definieren. Wir folgen hierbei dem etablierten ideellen Ansatz, der davon ausgeht, dass populistische Haltungen auch auf der Individualebene vorzufinden sind. Dem Ansatz zufolge äußern sich diese als eine programmatische Vorstellung über die Funktionsweise der Demokratie und werden durch Krisen demokratischer Repräsentation aktiviert (Hawkins et al. 2018). In der Perspektive des ideellen Ansatzes wird Populismus als eine dünne Ideologie verstanden, die sich durch den Glauben an eine antagonistische Beziehung zwischen dem guten Volk und der korrupten Elite, deren Macht gebrochen werden muss, charakterisiert (Mudde 2004, Hawkins et al. 2018, Taggart 2004, Rooduijn 2014, Mudde und Rovira Kaltwasser 2018). Somit setzt sich Populismus aus drei Elementen zusammen: Das Volk wird als zentrale Figur im politischen Entscheidungsprozess wahrgenommen, es wird eine anti-elitäre Haltung vertreten und eine manichäische oder binäre Weltsicht der absoluten Gegensätze gepflegt, die dazu führt, dass politische Gegner als ablehnungswert betrachtet werden. Da Populismus eine dünne Ideologie ist, besteht die Möglichkeit, dass diese mit anderen zentralen Vorstellungswelten verknüpft, beispielsweise mit Nativismus oder Autoritarismus. Da in der populistischen Vorstellungswelt „das Volk“ immer recht hat, bildet der gesunde Menschenverstand die Basis für alle Entscheidungen (Mudde 2004). Im Kontext der Corona-Pandemie führten Regierungen jedoch strenge Maßnahmen ein, die das Leben vieler Bürger stark ein-

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schränkten. Beispiele hierfür sind Kontaktbeschränkungen, Lockdowns mit nächtlichen Ausgangssperren oder Mund-Nasen-Schutz-Pflicht in öffentlichen Bereichen des Lebens (Sozialministerium 2020b, Nationalrat 2020). Die Entscheidungen, diese Maßnahmen einzuführen, beruhten jedoch primär nicht auf Forderungen des Volkes, sondern auf der Einschätzung der Lage durch ExpertInnen (Bruhaker 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020). Hierbei muss bedacht werden, dass die Wahrnehmung der Pandemie, ihrer Auswirkungen sowie der getroffenen Maßnahmen naturgemäß selektiv ist (Bruhaker 2020). Das bedeutet auch, dass die Gefahren und Folgen, die Corona mit sich bringt, für viele BürgerInnen zwar nicht unmittelbar sind, sie jedoch aufgrund des Diskurses, des persönlichen Umfelds und des individuellen Medienverhaltens dennoch ein subjektives Betroffenheitsempfinden auslösen können, welches durch die persönliche Situation, die eigenen Wertorientierungen und politischen Präferenzen noch vertieft werden kann. Gleichzeitig herrscht kein umfassender wissenschaftlicher Konsens über den richtigen Umgang mit dem Coronavirus (Katsambekis und Stavrakakis 2020). Speziell sind die wissenschaftliche Praxis der gegenseitigen Kritik sowie die Formulierung von Aussagen auf Basis von Wahrscheinlichkeiten und Risikoabwägungen für eine Bevölkerung mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis sehr ungewohnt. Zusätzlich ist der Zugang zu alternativen Informationen vor allem über soziale Medien sehr einfach, sodass die Vorgaben von ExpertInnen ständig hinterfragt und scheinbar leicht widerlegt werden können (Bruhaker 2020, Katsambekis und Stavrakakis 2020). ExpertInnen als zentrale Entscheidungsträger in der Corona-Pandemie werden von populistischen AkteurInnen als Teil einer Elite angesehen und somit generell skeptisch beäugt (Mede und Schäfer 2020). Hierbei kann davon ausgegangen werden, dass Personen, die Regierungen und etablierten Institutionen grundsätzlich misstrauen, sich von der Politik daher noch stärker im Stich gelassen fühlen, wenn getroffene Maßnahmen auf ExpertInnen-entscheidungen beruhen, die widerlegbar oder angreifbar scheinen. Diese Vorgehensweise der Politik widerspricht dem präferierten Demokratiemodell populistischer AkteurInnen, da die Politik zwar im Sinne des Volkes zu handeln vorgibt, aber dabei dessen Sorgen nicht unbedingt berücksichtigt (Caramani 2018). In weiterer Folge fühlen sich Menschen mit populistischen Einstellungen durch die Politik nicht ausreichend repräsentiert, und es entsteht der

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österreichisches jahrbuch für politik 2020

Eindruck, dass der politische Entscheidungsprozess nicht funktioniere. Dies wiederum erzeugt Misstrauen in die Regierungspolitik und somit letztendlich in die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Das subjektive Betroffenheitsgefühl durch Corona sollte bei Personen mit populistischen Einstellungen also höher sein, als bei Personen, die diese Haltungen nicht vertreten. Der Grund hierfür ist der fehlende Glaube an die getroffenen Gegenmaßnahmen und die dahinterstehenden Akteure in Politik und Wissenschaft. Wenn Menschen die Notwendigkeit von Beschränkungen nicht akzeptieren, so sollten sie sich stärker durch diese betroffen fühlen, denn obwohl sie die Corona-Maßnahmen als sinnlos betrachten, werden diese deren Alltag trotzdem negativ beeinflussen. Hypothese: Menschen mit populistischen Haltungen sollten sich durch die CoronaPandemie stärker betroffen fühlen als andere.

Subjektive Betroffenheit durch Corona: Diskussion der Ergebnisse einer Umfrage Um die hier aufgestellte Hypothese empirisch zu überprüfen, wurde von uns eine repräsentative Umfrage in Österreich konzipiert, die Anfang September 2020 ins Feld ging und eine Stichprobengröße von 1.200 Personen aufweist. Um einen Überblick über die Verbreitung des Betroffenheitsgefühls durch Corona und bestimmte politische Einstellungen zu geben, präsentieren wir zunächst deskriptive Statistiken. Da die Corona-Pandemie eine klare gesundheitliche und ökonomische Dimension besitzt (WHO 2020, CDC 2020, Weforum 2020), geben die Daten sowohl Auskunft über den Grad der gesundheitlichen als auch der wirtschaftlichen Betroffenheit, die in der österreichischen Gesellschaft vorherrscht. Hierbei fokussieren wir ausschließlich auf die subjektive Wahrnehmung von Menschen, somit ist die gesundheitliche Betroffenheit nicht auf eine Erkrankung mit COVID-19 beschränkt, sondern es wird Befragten und ihrer subjektiven Einschätzung überlassen, ob und wie stark sich diese betroffen fühlten. Es ist nämlich davon auszugehen, dass vor allem die subjektiven Einstellungen die entscheidende Motivation für politisches Handeln darstellen. Diese subjektive Betroffenheit wurde mit folgenden Fragen gemessen: Auf einer Skala von 0 bis

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10, wie stark fühlten Sie sich [in Ihrem gesundheitlichen Wohlbefinden] bzw. [wirtschaftlich] von der Corona-Krise negativ betroffen? Abbildung 1: Gesundheitliches und wirtschaftliches Betroffenheitsgefühl durch die Corona-Pandemie

Quelle: Eigene Umfrage v. Sept. 2020, n=1200

 

Interessanterweise zeigten sich 23,9 % der Befragten in ihrer Gesundheit und 30,5 % in wirtschaftlichen Belangen betroffen, wie Abbildung 1 zu entnehmen ist. Der hohe Wert der gesundheitlich Betroffenen war angesichts der relativ geringen Fallzahlen in der ersten Welle der Corona-Pandemie in Öster­reich eine Überraschung. Das heißt, dass viele, auch ohne direkt an COVID-­19 erkrankt zu sein, gesundheitliche Einschränkungen wahrzunehmen scheinen. Bei den politischen Faktoren, die wir abfragten, zeigen sich populistische Einstellungen, Misstrauen gegenüber der Regierung und autoritäre Tendenzen als weitverbreitet unter den ÖsterreicherInnen. Immerhin stimmen 73,92 % der Befragten der Aussage zu, dass „in unserem Land die Mächtigen viel zu wenig auf das einfache Volk hören“. Außerdem glauben etwa 32 % nicht oder nur wenig daran, dass die Regierung für das Land nur

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das Beste will, und 41,5 % geben an, dass es dem Land besser ginge, „wenn die jungen Leute zu Gehorsam und Disziplin erzogen werden würden“. Nachdem wir einen Einblick in die Verbreitung von Betroffenheitsgefühlen und politischen Einstellungen in Österreich gegeben haben, beleuchten wir den in der Hypothese aufgestellten kausalen Mechanismus zwischen populistischen Einstellungen und der subjektiven Betroffenheit durch die Corona-Krise. Diese Untersuchung führen wir mittels OLS-Regressionsmodellen durch, die es ermöglichen, neben populistischen Einstellungen vergleichend auch den möglichen Einfluss anderer Faktoren auf die subjektive Betroffenheit durch die Corona-Pandemie zu testen. Unter den erklärenden Variablen inkludieren wir sowohl soziodemografische Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildungslevel und subjektive Einschätzung des eigenen Einkommens der Befragten als auch politische Einstellungen, wie die LinksRechts Selbsteinordnung, das Vertrauen in die Regierung und die Parteipräferenz bei der letzten Nationalratswahl. Wie bereits bei den deskriptiven Statistiken beziehen sich die Erklärungsmodelle sowohl auf gesundheitliche als auch auf wirtschaftliche Betroffenheit. Die Ergebnisse der vier Regressionsmodelle, zwei mit und zwei ohne Vertrauen in die Regierung als Kontrollvariable, können der Tabelle 1 entnommen werden. Die abhängige Variable ist das subjektiv empfundene Ausmaß der Betroffenheit, und zwar gesundheitlich (mittlere Spalte) wie wirtschaftlich (rechte Spalte). Die erklärenden Variablen sind in der linken Spalte gelistet. Die Variable Populismus wurde durch die Antwort auf die Frage „In unserem Land hören die Mächtigen viel zu wenig auf das einfache Volk“ gemessen, wobei die Antwortskala von 0 (stimme überhaupt nicht zu) bis 10 (stimme sehr zu) verlief. Bei Gesundheit und Wirtschaft wurde, wie erwähnt, jeweils ein zweites Regressionsmodell gerechnet, welches auch das Vertrauen in die Regierung eines Befragten berücksichtigt. Dieses Konzept wurde gemessen, indem wir das Statement „Im Großen und Ganzen kann man darauf vertrauen, dass die Regierung für das Land nur das Beste will“ evaluierten (Antwortskala: Stimme sehr zu [0] bis Stimme überhaupt nicht zu [10]). Hierbei wollen wir testen, ob wir tatsächlich den Einfluss des Populismus feststellen können oder ob wir lediglich Oppositionshaltungen gegen die Regierung messen, da man annehmen kann, dass die Anhänger anderer Parteien und NichtwählerInnen wenig Vertrauen in die Regierung und ihre Politik besitzen.

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Tabelle 1: Regressionsmodelle zum Grad der empfundenen Betroffenheit durch COVID-19 (0 nicht betroffen, 10 sehr betroffen) gesundheitliche Betroffenheit Modell ohne Vertrauen Koef­ fizient Populist

0.51***

SE

(0.19)

Kein Vertrauen in die Regierung

wirtschaftliche Betroffenheit

Modell mit Vertrauen Koef­ fizient

SE

0.51***

(0.20)

0.02

(0.19)

Modell ohne Vertrauen Koef­ fizient 0.71***

SE

(0.20)

Modell mit Vertrauen Koef­ fizient

SE

0.61***

(0.20)

0.63***

(0.20)

Links-Rechts Selbsteinordnung

–0.00

(0.05)

–0.00

(0.05)

0.06

(0.06)

0.06

(0.06)

Weiblich

–0.20

(0.17)

–0.21

(0.17)

–0.11

(0.18)

–0.11

(0.18)

Alter

–0.01**

(0.01)

–0.01**

(0.01)

–0.04***

(0.01)

–0.04***

(0.01)

–0.02

(0.22)

–0.02

(0.23)

–0.10

(0.24)

–0.06

(0.24)

(0.29)

–0.69**

(0.29)

–0.58*

(0.30)

–0.56*

(0.30)

(0.30)

–0.28

(0.30)

–0.62**

(0.32)

–0.61*

(0.32)

(0.27)

–0.60**

(0.27)

–0.68**

(0.28)

–0.53*

(0.28)

(0.37)

–0.32

(0.37)

(0.39)

0.06

(0.39)

(0.30)

–0.70**

(0.30)

–0.65**

(0.31)

–0.61*

(0.31)

Bildungslevel (base: niedrig) mittel hoch

–0.69**

Partei (base: NichtwählerInnen) SPÖ ÖVP FPÖ Grüne

–0.28 –0.60** –0.32 –0.70**

0.13

NEOS

–0.55

(0.37)

–0.54

(0.37)

–0.60

(0.38)

–0.51

(0.38)

andere

–0.19

(0.54)

–0.19

(0.54)

0.40

(0.56)

0.25

(0.56)

Kommt nicht mit Einkommen aus

0.02***

(0.01)

0.02***

(0.01)

0.01

(0.01)

0.01*

(0.01)

Konstante

3.98***

(0.51)

3.98***

(0.52)

5.68***

(0.54)

5.42***

(0.54)

N

1,177

1,177

1,177

1,177

R-squared

0.04

0.04

0.09

0.10

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