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German Pages 480 [488] Year 2015
Jahrbücher Forschungsinstituts deutschen gesellschaFt Für auswärtige Politik
des der
band 30
Außenpolitik mit Autokratien Jahrbuch Internationale Politik Band 30
Herausgeber Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider Redakteur Josef Braml
Autoren Christian Achrainer, Sebastian Bersick, David Bosold, Josef Braml, Franziska Brantner, Lars Brozus, Maria Davydchyk, Claire Demesmay, Stefan Friedrich, Henner Fürtig, Sigmar Gabriel, Heinz Gärtner, Wolfgang Gehrcke, Johannes Gerschewski, Géza Andreas von Geyr, Bastian Giegerich, Katharina Gnath, Gerhard Gnauck, Susanne Gratius, Luba von Hauff, Hanns Günther Hilpert, Hubert Knirsch, Christian Koch, Tobias Koepf, Regina Krieger, Markus Löning, Hanns W. Maull, Stefan Meister, Wolfgang Merkel, Stormy-Annika Mildner, Philipp Mißfelder, Almut Möller, Rolf Mützenich, Christian Nünlist, Henning Riecke, Eberhard Sandschneider, Claudia Schmucker, Guido Steinberg, Frank-Walter Steinmeier, Willem Frederik Jochen Stöger, Oliver Thränert, Eckart von Unger, Johannes Varwick, Manuel Wäschle, Isabelle Werenfels, Gerhard Will, Heinrich August Winkler, Wolfgang Zellner
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) versteht sich als nationales Netzwerk für deutsche Außenpolitik an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Medien. Sie begleitet als unabhängiger, überparteilicher, gemeinnütziger und privater Verein mit mehr als 2600 Mitgliedern aktiv die politische Meinungsbildung zu allen relevanten außenpolitischen Themen. Ihre international besetzten Vortragsveranstaltungen, Konferenzen und Studiengruppen sind ein wichtiges Berliner Debattenforum. Im Forschungsinstitut der DGAP arbeitet ein Team von Wissenschaftlern an praxisbezogenen Analysen. Seit über 50 Jahren ist das vom Auswärtigen Amt geförderte Jahrbuch Internationale Politik in zweijährigem Turnus erschienen, nunmehr in 30 Bänden. Das neu konzipierte Standardwerk der internationalen Politik bietet systematisch vergleichende Analysen aktueller Themen; dieser Band beleuchtet die Außenpolitik mit Autokratien. Vorstand der DGAP Dr. Arend Oetker, Präsident; Dr. Harald Kindermann, Generalsekretär; Dr. Tessen von Heydebreck, Schatzmeister; Jutta Freifrau von Falkenhausen, Syndika; Dr. Michael J. Inacker; Hagen Graf Lambsdorff; Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts; Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik; Dr. Elke Dittrich, Leiterin der Bibliothek und Dokumentationsstelle und Verwaltung.
ISBN 978-3-11-034643-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034657-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039666-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Titelbild: Prof. Dr. Hans-Joachim Lauth, Universität Würzburg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Inhaltsverzeichnis Vorwort des Bundesaußenministers
1
Frank-Walter Steinmeier
Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien
8
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
I.
Grundlegende Perspektiven Macht, Moral und Menschenrechte. Über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik
21
Heinrich August Winkler
Sind Demokratien souveräner als Autokratien?
32
Lars Brozus
Stabilität autokratischer Herrschaft
43
Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel
II.
Deutschlands Beziehungen zu Autokratien Ägypten: Zurück in die Zukunft?
57
Christian Achrainer
Algerien: Enigmatischer Nachbar Europas
68
Isabelle Werenfels
Belarus: Musterbeispiel autoritärer Transformation
78
Maria Davydchyk
Volksrepublik China: Ein Erfolgsmodell?
87
Stefan Friedrich
Iran: Ein neues pragmatisches Experiment
101
Henner Fürtig
Kasachstan: Exporteur von Sicherheit und Stabilität?
112
Luba von Hauff
Russlands Aggression – ein Zeichen innerer Schwäche
125
Stefan Meister
Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl Guido Steinberg
136
VI
Vereinigte Arabische Emirate: Wirtschaftliche Vorreiter
145
Christian Koch
Vietnam: Kontinuität durch Wandel
153
Gerhard Will
III.
Umgang „westlicher“ Partner mit autokratischen Staaten Frankreichs neuer Pragmatismus
165
Claire Demesmay und Tobias Koepf
Großbritannien als Hüter der westlichen Ordnung
174
Bastian Giegerich
Italien: Kein Sonderweg mehr
183
Regina Krieger
Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
192
Hanns W. Maull
Kanadas Prinzipienfestigkeit mit Abstrichen
204
David Bosold
Die Niederlande: Handel und Menschenrechte
212
Willem Frederik Jochen Stöger
Österreichs engagiert neutraler Ansatz
221
Heinz Gärtner
Polen: Frontstaat im Osten Europas?
229
Gerhard Gnauck
Umdenken der neutralen Schweiz
246
Christian Nünlist
Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise
256
Susanne Gratius
Südkoreas Außenwirtschaftsförderung im Zielkonflikt
266
Hanns Hilpert
Amerikas Pragmatismus
275
Josef Braml
IV.
Multilaterale Foren und autokratische Regime Bewährungsprobe für das normative Projekt der EU
287
Almut Möller
Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner
293
Henning Riecke
Die OSZE als Kooperationsplattform
301
Wolfgang Zellner
Das Nukleare Nichtverbreitungsregime und Autokratien Oliver Thränert
307
VII
Die Vereinten Nationen: Keine Organisation von Demokratien
313
Johannes Varwick und Manuel Wäschle
Russland als Testfall für die G8 und G20
320
Katharina Gnath und Claudia Schmucker
Zusammenarbeit auf Abstand: Bretton-Woods-Institutionen und Autokratien
325
Hubert Knirsch
WTO: Politischer Wandel durch Welthandel?
331
Stormy-Annika Mildner und Eckart von Unger
ASEAN, APEC und China
340
Sebastian Bersick
V.
Problemwahrnehmung und Lösungsansätze der operativen Politik BMWi: Grundsätze deutscher Rüstungsexportpolitik
351
Sigmar Gabriel
Im Auftrag der Menschenrechte
372
Markus Löning
BMVg: Mit Autokratien umgehen
379
Géza von Geyr
CDU/CSU: Deutsche Außenpolitik steht weltweit für Werte!
385
Philipp Mißfelder
SPD: Mit Herz und Verstand gegen die „autoritäre Internationale“
391
Rolf Mützenich
Die Linke: Deutschland ist kein Zuchtmeister
398
Wolfgang Gehrcke
Bündnis 90/Die Grünen: In der Grauzone hilft abgestufte Konditionalität 403 Franziska Brantner
VI.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen Zum Umgang mit Autokratien
413
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
VII. Anhang Autorinnen und Autoren Fragenkataloge für die Fallstudien Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Literaturverzeichnis
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1
Vorwort von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier 1. Wir stehen inmitten einer globalen Systemdebatte. Vor 25 Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges, war die Euphorie des Aufbruchs groß. Die liberale Demokratie schien als das überlegene System gesiegt zu haben, autoritäre Systeme stellten, so glaubten viele, keine politische Alternative mehr dar. Francis Fukuyama proklamierte gar das „Ende der Geschichte“: Die Demokratie mit ihrer Trias aus Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft bilde das Ziel der historischen Systementwicklung. In der Charta von Paris entwarfen die europäischen Staaten eine von gemeinsamen liberalen Werten getragene Ordnung für ihren Kontinent; die Gräben zwischen Ost und West schienen der Vergangenheit anzugehören. Heute wissen wir, dass diese Erwartungen zu optimistisch waren. In vielen Ländern hat sich der Freiheitsdrang der Menschen nicht durchzusetzen vermocht, die beharrenden Kräfte behielten die Oberhand. Manche autoritär geführte Staaten haben seither an politischem und wirtschaftlichem Einfluss sogar gewonnen; China wird sich im nächsten Jahrzehnt zur größten Volkswirtschaft der Erde entwickeln. Die von westlichen Vorstellungen geprägte internationale Ordnung steht unter Druck, eine Vielzahl von alten und neuen Akteuren vertreten abweichende Konzepte und erheben Anspruch auf stärkere Mitgestaltung. Die Demokratien sehen sich in einer Welt, deren Rahmenbedingungen sich radikal verändert haben, mit einer globalen Systemdebatte konfrontiert. In dieser Debatte geht es auf einer ersten Ebene um die Frage, welches System heute am erfolgreichsten Wachstum und Wohlstand produziert und in der Lage ist, den inneren Zusammenhalt der Gesellschaften zu gewährleisten. Grundsätzlicher geht es aber vor allem darum, welches System flexibel und lernfähig genug ist, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Zu diesen neuen Herausforderungen gehören auch und gerade die globalen Probleme, zu deren Lösung alle Staaten, gleich wie sie verfasst sind, ihren Beitrag leisten müssen.
2
Vorwort des Bundesaußenministers
Politische Systeme müssen sich in Zeiten beispiellos beschleunigten Wandels und weltweit jederzeit verfügbarer Vergleichsmaßstäbe behaupten und bewähren. Die digitale Vernetzung und das faktische Verschwinden von Zeit und Distanz im virtuellen Raum führen zu einer Globalisierung der Erwartungen („crisis of exaggerated expectations“). Gleichzeitig wächst die Mobilisierungsfähigkeit sozialer Initiativen und Proteste. In Europa verlangt die Schulden- und Bankenkrise, kombiniert mit dem Druck der demografischen Entwicklung und der Globalisierung der Wertschöpfungsketten, den entwickelten Nationen die Aushandlung eines „neuen Gesellschaftsvertrags“ ab. Von manchen wird die Gefahr eines europäischen „Niedergangs“ an die Wand gemalt. Das Unbehagen gegenüber globalen Entwicklungen, die der Einzelne zwar medial verfolgt, die aber seinen Handlungs- und Lebensbereich weit übersteigen, das Gefühl, übermächtigen Entwicklungen schutzlos ausgeliefert zu sein, tragen zu Rückzugs- und Abschottungstendenzen bei. Autoritäre Regime können zwar oft über längere Zeit hinweg eindrucksvolles wirtschaftliches Wachstum erzeugen, sind aber mit erheblichen Verwerfungen sozialer und ökologischer Natur konfrontiert. Indem sie die freie Entfaltung ihrer Bürger behindern, lassen sie ein gewaltiges Potenzial zur Entwicklung von Staat und Gesellschaft ungenutzt. Zugleich wachsen infolge des zunehmenden Wohlstands breite Mittelschichten heran, die früher oder später Forderungen nach persönlicher Freiheit und politischer Teilhabe stellen werden. Demokratien wie autoritäre Regime sind nicht nur von den Erwartungen ihrer Bürger herausgefordert. Gleichzeitig verlangen auf internationaler Ebene die wachsenden Probleme verabredete Strategien und kollektives Handeln. Die notwendige Einbindung neuer Mächte und einer größeren Zahl von Akteuren macht dabei jeden Verhandlungs- und Entscheidungsprozess komplex und langwierig; oft kommt es über lange Zeit zu keiner zufriedenstellenden Lösung. Starke Unterschiede bei den politischen Traditionen und beim Betroffenheitsgrad erschweren zusätzlich die Verständigung auf gemeinsame Ziele und Regeln. Die multilateralen Global-Governance-Strukturen drohen teilweise zu erodieren, zum Beispiel die nukleare Nichtverbreitung, der globale Freihandel, der Klimaschutz, die internationalen Finanzinstitutionen oder die Freiheit der Meere. So wird die Brüchigkeit nationaler und internationaler Ordnung immer stärker zu einem bestimmenden Merkmal der globalen Politik. Eine der Gefahren, die daraus entsteht, ist die übermäßige Ökonomisierung der Politik. Ist die internationale Ordnung geschwächt, könnten sowohl politisch Mächtige als auch Globalisierungsverlierer bzw. -gewinner versucht sein, sich durch Rechtsbruch ökonomische Vorteile zu sichern. Die Indifferenz von Teilen der Staatenwelt gegenüber Rechtsbruch und Aggression, wie sie etwa in der Ukraine-Krise zutage trat, ist besorgniserregend. Die Kosten einer Erosion des Völkerrechts
Frank-Walter Steinmeier
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sind zwar schwer messbar, aber nicht geringer als die wirtschaftlichen Kosten von Sanktionen. Erweisen sich politische Teilhabe, gesellschaftliche Inklusivität, Transparenz, Meinungsfreiheit, Herrschaft des Rechts, demokratische Vielfalt, Aufstiegschancen und Wahlmöglichkeiten als überlegen? Ich bin überzeugt, dass sich die Demokratien in der globalisierten Welt langfristig besser behaupten werden. 2. Autoritäre Systeme sind nur scheinbar stark. Autoritäre Regime versuchen, den Erwartungen ihrer Bürger allein oder vornehmlich auf der Effizienzebene zu begegnen. Politisches Stillhalten soll durch das Versprechen wachsenden Wohlstands erkauft werden. Das kann lange Zeit gut funktionieren, weswegen autoritäre Länder von manchen als erfolgreich bewertet werden. Selbst innerhalb der Europäischen Union gibt es Kräfte, die mit dem Abgesang auf die vermeintlich schwerfällige Demokratie auf Stimmenfang gehen. In der Tat können autoritäre Staaten zwar oft flexibler und schneller auf nationale und internationale Krisen reagieren. Über einen längeren Zeitraum hinweg erweisen sich diese schnellen Entscheidungen jedoch oft als brüchig, weil sie nicht mit den Betroffenen austariert wurden und mögliche Alternativen unberücksichtigt blieben. Sie sind fragil, wenn sie Interessen großer Teile der Bevölkerung ignorieren. Die massiven Umweltprobleme in autoritär regierten Ländern sind hierfür ein Beispiel. Weitere Schwächen, die sich langfristig auswirken, sind häufig Korruption, ein ineffizientes Gesundheits- und Bildungssystem, Raubbau an nationalen Ressourcen sowie eine wenig diversifizierte Wirtschaft. Es mangelt am Korrektiv der freien Presse, an einer wirksamen, mit fairen Chancen ausgestatteten Opposition und einer politisch aktiven Zivilgesellschaft. Die Folge sind verkrustete Strukturen, die das politische System schwächen und anfällig machen für innenpolitische Krisen. Dieses Risiko ist den Machthabern wohlbewusst. Das politische Erwachen der eigenen Bevölkerung nehmen sie mit Misstrauen zur Kenntnis. Sie beobachten ihre gut vernetzten, leistungsfähigen Mittelschichten, die deutlich wachsen und zunehmend politische Teilhabe und Planungssicherheit durch Rechtsstaatlichkeit einfordern. Und sie ahnen, dass diese Bevölkerung sich immer schwerer steuern lassen wird. Umso stärker wächst die Furcht vor „Infektionen“ mit vor allem westlich geprägten politisch-gesellschaftlichen Ideen und Maßstäben. Die Antwort auf diese Herausforderung der eigenen Legitimität und realer Machtstrukturen besteht vielfach in verschärften Kontrollmechanismen, Zensur, aber auch in einer Re-Ideologisierung, die auf bewusste Abgrenzung zum Westen setzt. Die vermeintlich selbstbewusste Artikulation eigener Maßstäbe und Werte, der Versuch, eine national definierte „Kultur“ als Abschottungsmechanismus zu fördern, ist häufig Ausdruck innerer
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Vorwort des Bundesaußenministers
Schwäche und der Furcht vor Instabilität. Bei alldem kann die Ablehnung des Westens so groß nicht sein – schicken doch die Eliten eben dieser Länder ihr Geld und ihre Kinder nach wie vor in den Westen. 3. Demokratien haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, verfügen aber über das Instrumentarium, ihrer Herr zu werden. In Europa sehen sich die politischen Systeme vor allem der Herausforderung gegenüber, dort zu „liefern“, wo sie hinter den Erfolgen früherer Jahrzehnte und den daraus abgeleiteten hohen Erwartungen an den Sozialstaat und an eine bessere Zukunft zurückbleiben. Arbeitsplätze, Wachstum, Wohlstand, soziale Sicherheit, aber auch eine erfolgreiche Bekämpfung der Schere zwischen Arm und Reich sind die entscheidenden Maßstäbe. Bleibt die Effizienz hinter den Erwartungen zurück, droht auch die Legitimität der demokratischen politischen Systeme zu leiden. Hinzu kommt eine Gefahr, die uns erst in jüngster Zeit besonders bewusst geworden ist: Das Grundvertrauen in den Staat gerät unter Druck, wenn der Bürger sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass seine verbrieften Persönlichkeitsrechte im Cyber-Zeitalter geschützt werden. Wir müssen diese Herausforderungen ernst nehmen und nach überzeugenden Lösungen suchen; dann haben wir keinen Grund, in Selbstzweifel zu verfallen oder gar unseren eigenen Wertekanon in Frage zu stellen. Die Anziehungskraft des Systems von liberalen Demokratien ist ungebrochen: Gemäß „Map of Freedom 2013“ von Freedom House waren 1975 nur ca. 25 Prozent der Länder freie Demokratien, inzwischen sind es bereits 50 Prozent. Nicht nur der Fall der Ukraine zeigt, dass sich Menschen nach europäischen Freiheitsrechten sehnen. Dies erlegt uns die Verantwortung auf, bei diesen schwierigen Prozessen konstruktiv und fair mitzuwirken. Die europäischen Völker haben im letzten Jahrhundert Diktatur, Krieg und Barbarei erlebt – die Europäische Union, ihre Demokratien und ihr komplexes Entscheidungssystem sind aus dieser leidvollen Erfahrung heraus entstanden. Die Kombination aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aus sozialer Marktwirtschaft und der freien Entfaltung eines jeden Einzelnen ist nach wie vor die attraktivste und leistungsfähigste Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Eine offene Gesellschaft, die konstruktiver Kritik zugänglich ist, sie aufnimmt und zu Neuem verarbeitet, entwickelt die besten Lösungen. Die langwierige Suche nach Kompromissen mit allen betroffenen Parteien, national wie international, ist zwar ein mühsamer Weg; doch die gefundenen Lösungen sind nachhaltig und werden von einer Vielzahl mitgetragen und verteidigt. Diese Diskussions- und Abwägungsprozesse fördern den inneren Zusammenhalt und die Chancengerechtigkeit unserer Gesellschaften. Die Möglichkeit politischer Teilhabe stärkt das Selbstwertgefühl der Bürger. Innerer Zusammenhalt und Chancengerechtigkeit sind ebenso wichtig wie die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Beide Prinzipien gemeinsam – ökonomische
Frank-Walter Steinmeier
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Stärke und gesellschaftliche Kohäsion – begründen die Ausstrahlungskraft unseres Gesellschaftsmodells. Unsere Partner weltweit schätzen die Stärken des modernen Deutschlands – unsere Kraft als Wirtschafts- und Exportnation, unseren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere Innovationskraft und Bildungsorientierung, unser Ringen um ein Modell nachhaltigen Wachstums, und nicht zuletzt unseren aus der Aufarbeitung von begangenem Unrecht erwachsenen Einsatz für eine gerechte globale Ordnung. Deutschland hat sich viel Vertrauen erarbeitet. Auf diesem festen Fundament leistet es seinen Beitrag zu einem geeinten und wettbewerbsfähigen Europa und zu einer Weltinnenpolitik, in der es nicht nur ein guter Nachbar, sondern ein „guter internationaler Bürger“ sein will. 4. Wir müssen an uns arbeiten, um attraktiv zu bleiben. Wir haben keinen Anlass, in die „Decline“-Melodie einzustimmen, dürfen die Überlegenheit wie die Stabilität unseres Systems aber auch nicht als gegeben voraussetzen. Ob es Deutschland und Europa gelingt, erfolgreich vor allem in aufstrebenden Ländern für unser politisches System zu werben, hängt wesentlich von der Stärke unseres eigenen Beispiels ab. Wir müssen die Schwachstellen zu Hause angehen, lernfähig bleiben, die eigenen Maßstäbe ernst nehmen und bei aller notwendigen Realpolitik die eigenen Prinzipien mit Festigkeit vertreten. Deutschland und Europa müssen ihre politische Glaubwürdigkeit wahren; Völkerrecht und humanitäre Standards dürfen nicht um wirtschaftlicher oder anderer Zwecke willen geopfert werden. Wenn wir selbstkritisch auf innere Missstände reagieren, bleiben wir vital und attraktiv. Wenn der europäische Way of Life auch in Zukunft Strahlkraft behalten soll, müssen wir mit unserem Lebensmodell auch an der Spitze des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts stehen. Gelingt uns das, brauchen wir die globale Systemauseinandersetzung nicht zu fürchten. Die Durchsetzung dieses Modells ist in einer immer stärker multipolaren Welt zwar nicht einfacher geworden, aber die Digitalisierung in einer „grenzenlosen Welt“ verstärkt die Ausstrahlungskraft unseres Beispiels. Diese Wirkung sollten wir nicht unterschätzen – nicht in der Türkei, auf dem Balkan oder in der Ukraine, aber auch nicht in Russland, China und anderswo. Sie übersetzt sich nicht in schlichte Kopien unserer Gesellschaften, wohl aber in die Sehnsucht nach Zugang zu Bildung, nach den Chancen auf wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, nach Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit. In der Europapolitik ist die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit nur die Hälfte der Lösung. Wir müssen zugleich verhindern, dass, als unbeabsichtigte Folge von Maßnahmen zur Konsolidierung und Strukturreformen, eine „verlorene Generation“ entsteht. Wir müssen das europäische Modell von Chancengerechtigkeit und Solidarität lebendig erhalten. Nur auf diesen beiden Pfeilern, die beispielhaft in der Sozialen Marktwirtschaft verbunden sind, wer-
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Vorwort des Bundesaußenministers
den unsere Gesellschaftsordnungen auch in der globalisierten Welt breite öffentliche Beteiligung und Zuspruch erwarten können – und nur dadurch ist die langfristige Stabilität gewährleistet. Wir müssen die EU-Wirtschaftskraft steigern durch Verbesserung der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung sowie Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Reduzierung der Abschottung des EU-Markts ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Für deutsche Außenpolitik gilt: Deutschland muss international Verantwortung übernehmen – früher, entschiedener, substanzieller. Wir müssen auf das vermeidlich Unwahrscheinliche vorbereitet sein: die Emanzipation der Menschen in der Ukraine, in China, in Russland und anderswo. Friedliche Transformationen bedürfen der aktiven politischen Begleitung; hierfür stehen uns die Mittlerorganisationen unserer Außenkulturpolitik und die Stiftungen hilfreich zur Seite. Auch Krisenprävention ist in der fragilen Welt wichtiger denn je, sie muss langfristig und unter Einbeziehung möglichst vieler Akteure geplant werden. Zugleich sollten wir mehr anstreben, als nur Krisen zu lindern oder einzudämmen. Mit einer aktiven Diplomatie, mit intensivem politischem Dialog, mit der Identifizierung gemeinsamer Stabilitätsinteressen, mit verstärkter Rechtsstaatszusammenarbeit und Angeboten eines überzeugenden nachhaltigen Wirtschaftsmodells, können wir dazu beitragen, dass sich der Wandel evolutionär und friedlich vollzieht und nicht in gewalttätigen Ausbrüchen und Staatszerfall das gesamte internationale System in Mitleidenschaft zieht. Die Aufrüstung von Drittländern müssen wir durch Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu begrenzen suchen. Eine von westlichen Ideen geprägte, wenn auch nicht mehr allein von westlichen Akteuren dominierte globale Ordnung wird sich nur aufbauen lassen, wenn sowohl unsere traditionellen Partner als auch die aufstrebenden Länder daran konstruktiv mitarbeiten. Deutschland und Europa müssen an der Spitze der Wissenschaft und Innovation bleiben; hierfür muss die Außenwissenschaftspolitik noch weiter intensiviert werden. Unsere Gesellschaftsform ist ein guter Nährboden für Initiativfreudigkeit und Risikobereitschaft. Wir müssen aber noch stärker in innovative Konzepte investieren, die Antworten auf weltweite Probleme geben (zum Beispiel Umwelttechnologie, alternative Energiequellen, klimafreundliche Mobilität). Unsere Kultur müssen wir offen und selbstbewusst im Ausland propagieren, wir brauchen europäische Köpfe als Vordenker einer veränderten Welt. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist gerade in Zeiten der Systemkonkurrenz von größtem Wert! Die Diplomatie kann viel bewirken, sie braucht aber auch ausreichend Mittel, um kreativ und flexibel ihre Instrumente einsetzen zu können. Dabei benötigen wir den Rückhalt der Bevölkerung und Verständnis für die Praxis der Außenpolitik. Die außenpolitische Debatte in Deutschland ist heute relativ schwach ausgeprägt – anders als etwa noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Dahinter dürfte die Wahrnehmung stehen, dass Außenpolitik komplex und oft schwer verständlich ist, dass sie den Alltag des Einzelnen – scheinbar! – wenig
Frank-Walter Steinmeier
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berührt, auch dass der Einfluss Deutschlands begrenzt ist. Deshalb habe ich Anfang dieses Jahres den Prozess „Review2014 – Außenpolitik Weiter Denken“ ins Leben gerufen, um die Prioritäten künftigen internationalen Handelns Deutschlands zu überprüfen und den öffentlichen Diskurs über außenpolitische Themen zu stärken. Dieses Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik trägt in bester Tradition dazu bei, den konstruktiven Austausch zwischen der politischen Praxis und der Wissenschaft zu fördern. Ich empfehle es gerne der Lektüre.
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Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
Obschon nach dem Untergang der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ und der Siegeszug liberaler Demokratien und freier Marktwirtschaften prophezeit wurden,1 haben sich viele autokratische Regime bislang als sehr resistent erwiesen. Sie haben mehrere Demokratisierungswellen, Farbenrevolutionen (etwa die orangene in der Ukraine oder die grüne im Iran) und Jahreszeitenwechsel (Stichwort: Arabischer Frühling) überdauert. Insgesamt ist die große dritte Demokratisierungswelle des 20. Jahrhunderts, die 1974 mit dem Sturz der rechten Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien begann und im annus mirabilis von 1989 kulminierte, schon Mitte der 1990er Jahre ausgelaufen.2 Ironie, nicht Ende der Geschichte Auch robuste Bemühungen externer Demokratisierung sind gescheitert, wie die Mission der amerikanischen Regierung unter George W. Bush, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Welt des Nahen und Mittleren Ostens mit militärischen Mitteln demokratisieren zu wollen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Demokratisierungsbemühungen in Form des „Globalen Krieges gegen den Terror“ zwar keine neuen Demokratien geschaffen, wohl aber die eigene amerikanische Demokratie beschädigt haben, die seitdem illiberale Züge aufweist.3 Die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08, die von der Führungsmacht des Westens ausgelöst wurde, hat ein Übriges getan. Sie erschütterte den Glauben an die weitgehende Selbstregulierung der Märkte und 1 2 3
Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. Vgl. Wolfgang Merkel, Systemtransformation, Wiesbaden 2010, S. 491 ff. Vgl. Josef Braml und Hans-Joachim Lauth, The United States of America – A Deficient Democracy, in: Comparative Governance and Politics / Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVPSonderheft Nr. 1/2011), S. 103-132.
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
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die Kreditwürdigkeit des amerikanischen Staates. Der sogenannte Washington Konsensus, gemäß dem weltweit andere Länder ermutigt wurden, ihre politischen Systeme und Wirtschaftsordnungen nach amerikanischem Vorbild zu liberalisieren, hat an Glaubwürdigkeit verloren. Die USA selbst befinden sich in einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise. Zwar erheben die Vereinigten Staaten nach wie vor den Anspruch, eine liberale Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, doch die Endlichkeit eigener wirtschaftlicher Ressourcen und die wechselseitige Blockade von Präsident und Kongress, radikalisierten Republikanern und Demokraten, hindern sie zunehmend daran, ihre Weltordnungsfunktion wahrzunehmen, indem sie globale öffentliche Güter wie Sicherheit, freien Handel, funktionierende Finanzmärkte und eine stabile Leitwährung bereitstellen.4 Das ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass andere Länder die Vormachtstellung der USA als liberalen Hegemon akzeptieren und ihrer Führung folgen. Staatlich gelenkte Volkswirtschaften, allen voran der autoritäre Kapitalismus der Volksrepublik China, wurden zwar auch in Mitleidenschaft gezogen, konnten aber die Krise bislang besser meistern als die USA und ihre Wertegemeinde.5 Autoritäre Großmächte wie China gelten heute nicht nur in Ostasien als „ernst zu nehmende Gegenentwürfe zur liberalen Demokratie“.6 Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas wird schon mit dem Abstieg des Westens assoziiert;7 einige Experten preisen den „Peking Konsensus“ als zukunftsweisend.8 Umgang mit „schwierigen Partnern“ Ob diese Prognosen eintreten werden, bleibt offen. Zweifel sind berechtigt. Allerdings herrschen bereits heute weltweit Verhältnisse, auf die sich Demokratien einstellen müssen. Ein Viertel der Länder dieser Erde und damit etwa ein Drittel der Weltbevölkerung lebt unter autokratischer Herrschaft.9 Insbesondere Europas unmittelbare östliche und südliche Nachbarschaft wird überwiegend von Autokraten regiert (siehe Abbildung 1). Aufgrund von Sicherheits-, Wirtschafts- und moralischen Forderungen ihrer Bürger sind eu4 5 6
7 8 9
Vgl. Josef Braml, Der amerikanische Patient. Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet, München 2012. Vgl. Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider, Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise, DGAP-Jahrbuch Band 29, München 2012. Patrick Köllner, Autoritäre Regime – keine weltweit aussterbende Gattung, sondern eine wachsende Herausforderung, GIGA Focus, Nr. 6/2008, Hamburg: German Institute of Global and Area Studies, S. 1; Wolfgang Merkel, Are Dictatorships Returning? Revisiting the „Democratic Rollback“ Hypothesis, in: Contemporary Politics, 16 (2010) 1, S. 17-31. Vgl. Eberhard Sandschneider, Der erfolgreiche Abstieg Europas. Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen, München 2011. Zum Beispiel: Stefan Halper, The Beijing Consensus: How China’s Authoritarian Model Will Dominate the Twenty-first Century, New York, NY, 2010. Vgl. Köllner, Autoritäre Regime, a.a.O. (Anm. 6), S. 1.
10
Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien
ropäische Regierungen angehalten, sich auch mit diesen „schwierigen Partnern“ konstruktiv auseinanderzusetzen.
Abbildung 1: Weltweite Verteilung von Regimetypen
Quelle: Lauth 2013.10
Beziehungen mit autokratischen Staaten sind für die deutsche Politik in zweifacher Hinsicht schwierig: Einerseits gilt es für Bundesregierung und Bundestag, gemeinsame Interessen und Konflikte mit jenen Machthabern auszuloten, die nicht die gleichen demokratischen Werte teilen, ja in der Regel elementare Menschen- und Bürgerrechte ihrer „Untertanen“ missachten. Die politische, wirtschaftliche oder militärische Zusammenarbeit mit autokratischen Staaten muss aber andererseits auch nach innen, gegenüber der deutschen Bevölkerung, wie gegenüber unseren westlichen Partnern legitimiert werden. Der Umgang mit Autokratien ist problematisch, weil sich ihre (Außen-) Politiken westlichen Weltordnungsvorstellungen und Regelwerken entziehen. Gleichwohl werden aber die notwendigerweise pragmatischen Beziehungen mit ihnen von der hiesigen veröffentlichten und öffentlichen Meinung genau nach diesen Wertmaßstäben be- und verurteilt. Dabei wird häufig ein manichäischer Gegensatz zwischen „Werten“ und „Interessen“ konstruiert. Die „Guten“ verteidigen die wahren Werte gegen die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen der „Bösen“. In einer Demokratie ist aber keineswegs von vorne10 Hans-Joachim Lauth, Datensatz „Kombinierter Index der Demokratie (KID), 1996-2012“, Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Würzburg 2013, (abgerufen am 6.3.2014).
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
11
herein klar, was gut für alle ist. Vielmehr muss kontinuierlich darum gestritten werden, welche „Werte“ als normativer Maßstab dienen11 und mit welchen Inhalten die Begriffe „Gemeinwohl“ oder „nationales Interesse“ gefüllt werden können und gefüllt werden sollen. Dies gilt sowohl innerstaatlich als auch im Verhältnis der Staaten untereinander. Besonderen Spannungen sind dabei die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen demokratischen und autokratischen Regimen ausgesetzt. Das aktuelle Jahrbuch, Band 30 mit dem Titel „Außenpolitik mit Autokratien“, will einen Beitrag leisten, diese Debatte zu bereichern. Dazu sollen folgende zentralen Fragen beantwortet werden: Welche Regime sind autokratisch? Welche autokratischen Staaten sind für Deutschland von besonderem Interesse? Warum, wozu und wie soll deutsche Außenpolitik mit ihnen umgehen? Wie, aus welchen Motiven und zu welchem Ende pflegen andere westliche Regierungen und supranationale Organisationen Beziehungen mit autokratischen Staaten? Welche Problemwahrnehmungen, Prioritäten und Strategien lassen sich bei federführenden Vertretern der deutschen Politik erkennen? Was sollten Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Medien, Zivilgesellschaft daraus lernen, was sollten sie tun, was unterlassen? Wesen, Stützen und Sturz von Autokratien Die Definition „autokratischer Staaten“ ist nicht immer trennscharf. Zu ihrer Identifizierung lassen sich jedoch international etablierte Regime-Indizes verwenden.12 Um aus der Vielzahl autokratischer Staaten jene herauszufiltern, die für deutsche Belange wichtig sind, wird das „deutsche Interesse“ anhand einiger praxisorientierter Kriterien bemessen: Welche autokratischen Staaten haben eine besondere Bedeutung für die deutsche Außenpolitik – sei es aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen oder menschenrechtlichen Beweggründen (vgl. Tabelle 1). Neben den Motiven und Zielen der deutschen Außenpolitik gilt es auch, die Wirkung möglicher Mittel wie Dialog, Verhandlungen, Wirtschaftsbzw. Exportförderung, Entwicklungshilfe, Sanktionen, etc. zu bewerten. Nur so lassen sich Lernprozesse in der (Außen-)Politik installieren.
11 Geht es dabei „nur“ um persönliche Freiheits- und Schutzrechte, zudem um politische Partizipationsrechte oder auch um soziale und kulturelle Menschenrechte? 12 Unter anderem Freedom House, Polity IV, Bertelsmann Transformation Index, Governance Indicators der Weltbank; vgl. Lauth, Datensatz, a.a.O. (Anm. 10).
12
Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien
Tabelle 1: Deutschlands wichtigste 50 Handelspartner 2013
Rang
Handelspartner
Umsatz in TSD Euro
Regimetyp (nach KID)
(Einfuhren + Ausfuhren) 01
Frankreich
163 998 178
Demokratie
02
Niederlande
159 649 857
Demokratie
03
Volksrepublik China
141 455 973
Autokratie
04
Vereinigte Staaten
137 929 762
Demokratie
05
Vereinigtes Königreich
118 001 686
Demokratie
06
Italien
100 177 232
Demokratie
07
Österreich
93 068 992
Demokratie
08
Schweiz
85 245 572
Demokratie
09
Belgien
81 432 475
Demokratie
10
Polen
78 485 636
Demokratie
11
Russische Föderation
77 036 055
Autokratie
12
Tschechische Republik
64 083 662
Demokratie
13
Spanien
54 988 288
Demokratie
14
Ungarn
36 995 581
Demokratie
15
Japan
36 567 521
Demokratie
16
Schweden
34 608 033
Demokratie
17
Türkei
33 670 423
Defekte Demokratie
18
Norwegen
30 317 254
Demokratie
19
Dänemark
27 424 334
Demokratie
20
Slowakei
22 890 334
Demokratie
21
Republik Korea
22 495 588
Demokratie
22
Brasilien
20 172 506
Defekte Demokratie
23
Rumänien
18 807 473
Defekte Demokratie
24
Indien
16 114 812
Defekte Demokratie
25
Irland
14 241 899
Demokratie
26
Finnland
14 223 651
Demokratie
27
Südafrika
13 295 064
Defekte Demokratie
28
Kanada
13 254 600
Demokratie
29
Mexiko
12 862 405
Defekte Demokratie
30
Taiwan
12 355 970
Demokratie
31
Portugal
11 471 192
Demokratie
32
Singapur
11 115 515
Autokratie
33
Australien
11 111 688
Demokratie
34
Saudi-Arabien
10 899 660
Autokratie
35
Ver. Arabische Emirate
10 699 205
Autokratie
36
Malaysia
10 385 426
Hybrides Regime
37
Slowenien
8 684 816
Demokratie
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
13
38
Luxemburg
8 580 217
Demokratie
39
Thailand
8 208 370
Autokratie
40
Vietnam
7 458 640
Autokratie
41
Hongkong
7 167 571
--
42
Ukraine
6 943 319
Autokratie
43
Kasachstan
6 749 529
Autokratie
44
Indonesien
6 702 307
Defekte Demokratie
45
Griechenland
6 514 353
Demokratie
46
Libyen
5 594 414
Prekärer Staat
47
Nigeria
5 457 700
Autokratie
48
Bulgarien
5 373 276
Defekte Demokratie
49
Israel
5 252 670
Defekte Demokratie
50
Argentinien
4 505 637
Defekte Demokratie
Quellen: Statistisches Bundesamt 2013 ; Lauth 2013 13
14
.
Der Begriff Autokratien umfasst nichtdemokratische autoritäre und totalitäre Herrschaftsformen.15 Die Messung basiert auf zwei unterschiedlichen Verständnissen von Demokratie.16 Dennoch lassen sich grundlegende Elemente erkennen. Die meisten Forscher verstehen Demokratie mehrdimensional. Abstrahiert man von den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, so bilden politische Freiheit und politische Gleichheit die beiden zentralen Dimensionen – mit stärkerer Betonung der politischen Freiheit. Der Aspekt der rechtsstaatlichen Kontrolle wird nur von wenigen, aber in allen komplexen Konzepten beleuchtet.17 Indem die gängigen Indizes – die Datenreihen von Freedom House, Polity und die Governance Indicators der Weltbank – zu einem Metaindex kombiniert werden, können die Schwächen der einzelnen Maßstäbe ausgeglichen werden, die jeweils auf nur bestimmte Dimensionen demokratischer Regime fokussiert 13 Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland 2013, Wiesbaden 2014, (abgerufen am 2.12.2014). 14 Lauth, Datensatz, a.a.O. (Anm. 10). 15 Ausführlicher zur Definition siehe Hannah Arendt, The Origins of Totalitarism, New York 1951; Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeszinski, Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge, Mass.,1956; Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. Greenstein und Nelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook on Political Science, Bd. 3: Macropolitical Theory, Reading, Mass., 1975, S. 175-411; Merkel, Systemtransformation, a.a.O. (Anm. 2), S. 40ff. 16 Der eine Teil der Politikwissenschaftler folgt mehr oder weniger explizit dem Dahl’schen PolyarchieKonzept. Während einige das Konzept um eine weitere Dimension – Gewaltenteilung oder bürgerliche Rechte – erweitern, reduzieren es andere auf eine Dimension, und wieder andere behalten beide Dimensionen – Partizipation und Wettbewerb – von Robert Dahl bei. Der andere Teil der Autoren entwickelt eigene Demokratiemodelle. Dabei werden vor allem die Aspekte der Gleichheit und – etwas seltener – der Kontrolle betont, die bei Dahl kaum eine Rolle spielen. 17 Vgl. u.a. Hans-Joachim Lauth, Demokratie und Demokratiemessung. Eine konzeptionelle Grundlegung für den interkulturellen Vergleich, Wiesbaden 2004; Merkel, Systemtransformation, a.a.O. (Anm. 2).
14
Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien
sind. Dieser von dem Politikwissenschaftler Hans-Joachim Lauth Kombinierte Index der Demokratie (KID) umfasst die demokratischen Grunddimensionen Freiheit, Gleichheit, der politischen und rechtlichen Kontrolle und berücksichtigt auch den Faktor Staatlichkeit. Denn dieser letzte Aspekt ist grundlegend, weil Herrschaft erst durch ein funktionsfähiges Gewaltmonopol ermöglicht wird, im Weber’schen Sinne die „Chance“ eröffnet, „für einen Befehl […] Gehorsam zu finden“,18 sprich politische Entscheidungen durchzusetzen und dafür Folgebereitschaft von den Entscheidungsadressaten zu bekommen. Anders als in Demokratien ist in Autokratien der Zugang zur politischen Macht geschlossen; Machtwechsel werden nicht durch allgemeine, freie und gleiche Wahlen herbeigeführt; die Macht der Exekutive wird, wenn überhaupt, nur lückenhaft kontrolliert; Freiheitsrechte werden eingeschränkt, rechtsstaatliche Verfahren werden durch Willkür oder einen autokratischen Legalstaat ersetzt. Gleichwohl können auch autokratische Führungen ihre Herrschaft keineswegs allein auf Repression und Willkür gründen. Vielmehr müssen sie auf die Forderungen ihrer „Untertanen“, konkurriende Eliten und Widersacher eingehen, um ihr politisches Überleben zu sichern. Es sind vor allem drei Säulen, auf die sich autokratische Herrschaft gründet: Legitimation, Kooptation und Repression.19 Erstens hängt die Regimestabilität davon ab, ob es den Despoten gelingt, durch Ideologien, Religion oder Nationalismus, Führerkulte oder Bereitstellung öffentlicher Güter (Sicherheit und Wohlstand) der Bevölkerung den Glauben zu vermitteln, dass ihre Herrschaft rechtens ist, damit sie diese unterstützen oder zumindest tolerieren (Legitimation). Legitimation hat also eine normative (Ideologie) wie eine materielle Dimension (Performanz). Zweitens müssen wichtige Eliten, etwa das Militär, die Industrie oder Klans, über Einheitsparteien, Pseudoparlamente oder semikompetitive Wahlen eingebunden, ihre Wirtschafts- und Machtinteressen befriedigt werden (Kooptation). Die Diktaturen des 21. Jahrhunderts werden stärker von solchen fassadendemokratischen Elementen gekennzeichnet sein (electoral authoritarianism) als von großen Ideologien und harter Repression, wie dies viel stärker bei den Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu beobachten war. Um sicherzugehen, werden drittens oppositionelle Gruppen überwacht, schikaniert, verfolgt, inhaftiert, gefoltert oder getötet; damit werden auch mögliche weitere Dissidenten eingeschüchtert und vom offenen Widerstand abgeschreckt (Repression). Dabei ist zwischen harter Repression (Exekution, Mord, Folter, Gefängnis) und weicher Repression (Einschränkung von Meinungsfreiheit, Berufs- und politischen Rechten) zu unterscheiden. 18 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1921), 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 28. 19 Vgl. Johannes Gerschewski, Wolfgang Merkel, Alexander Schmotz, Christoph H. Stefes und Dag Tanneberg, Warum überleben Diktaturen? In: Steffen Kailitz und Patrick Köllner (Hrsg.), Autokratien im Vergleich, Politische Vierteljahresschrift (PVS), Sonderheft 47, Baden-Baden 2013, S. 106-204, hier S. 120.
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
15
Tabelle 2: Stabilisierung und Destabilisierung autokratische Regime tragender Säulen Legitimation
Repression
Kooptation
Regimeelite und Bevölkerung
Sicherheitsapparat und Dissidenten
Regimeelite und ressourcenreiche gesellschaftliche Eliten
Unterstützungsmotiv
Rechtmäßigkeitsglaube
Angst
Kosten-Nutzen-Kalkül
Reproduktionsmechanismus
Legitimation
Macht
Utilitarismus
Erosion durch Werte- und Normenwandel, Schwund der normativen Basis, Performanzeinbruch
Mobilisierung von Protest, Gegenmacht, Anstieg der Repressionskosten, Schwächung der Elite
Veränderung des KostenNutzen-Kalküls durch Lerneffekte, Änderung der Wettbewerbssituation, Erhöhung von Transaktionskosten
Offene Nachfolgefrage, Ideologiekrise, Wirtschaftskrise, Preisverfall, Staatlichkeitsdefizite
Abspaltungen im Sicherheitsapparat, internationale Delegitimierung von Repression, externe Unterstützung der Opposition
Verlust von ökonomischen und politischen Renten, Erosion der Loyalitätsbeziehungen, Brüche in klientelistischen und Klanstrukturen
Akteure
Destabilisierungspotenzial
Auslöser
Quelle: Gerschewski, Merkel, Schmotz, Stefes und Tanneberg 2013.20
Legitimation, Kooptation und Repression sind die drei Säulen, die autokratische Regime stützen – aber auch stürzen können (vgl. Tabelle 2): Schwächen in einer oder mehreren der tragenden Säulen können zwar kurzfristig von den anderen aufgefangen werden. Auf längere Sicht gefährden sie aber die Regimestabilität. Größere und nachhaltige Defizite in zwei oder allen drei Bereichen eröffnen die Möglichkeit des Regimesturzes. Diese Entwicklung ist jedoch nicht zwangsläufig. Ob die Gunst der Stunde, die sogenannte critical juncture, genutzt wird, hängt von der Situation ab, insbesondere dem mehr oder weniger geschickten oder glücklichen Handeln der Führer, ihrer Unterstützer oder Herausforderer. Statistische Studien, die eine Vielzahl von Diktaturen (136) über einen langen Zeitraum (1946 bis 2008) untersuchten, zeigen, dass vor allem die weiche Repression die Überlebensfähigkeit von autokratischen Regimen erhöhte, während Kooptation nur mäßig wirkte und die harte Repression sogar nicht beabsichtigte Destabilisierungsgefahren für die Diktaturen barg.21 Ebenso können externe Schocks, hervorgerufen durch Umweltkatastrophen, Kriege, den Zusammenbruch oder die Schwäche anderer (autokratischer) Staaten, die das Regime sicherheitspolitisch oder wirtschaftlich unterstützt hatten, kritische Momente herbeiführen. Externe Faktoren, insbesondere die 20 Vgl. ebd. 21 Gerschewski, Merkel et al., Why Do Dictatorships Survive, Berlin 2015 (i. E.)
16
Einleitung: Internationale Beziehungen mit Autokratien
Beziehungen mit anderen (autokratischen wie demokratischen) Staaten spielen auch bei der Stabilisierung von Autokratien eine wichtige Rolle. Die Verbindung der internationalen Beziehungen autokratischer Staaten mit ihrer Regimestabilität ist aber bislang wenig erforscht worden.22 Die in der akademischen Welt voneinander getrennten Disziplinen der Regime- bzw. Transformationsforschung und der Internationalen Beziehungen (IB) im Rahmen dieses Jahrbuchs zusammenzudenken soll helfen, eine Forschungslücke zu schließen und außenpolitischen Entscheidungsträgern in Deutschland und Europa Erkenntnisse und Empfehlungen an die Hand geben. Beratung für Politik und Öffentlichkeit Indem sich das Erkenntnisinteresse des Jahrbuchs von der bisherigen historischen Dokumentierung des weltweiten Geschehens hin zu einer systematischthemenfokussierten Analyse innen- und außenpolitischer Herausforderungen verschiebt, kann die DGAP einen Beitrag leisten, der auch der praktischen Politikgestaltung dient. Seit der Veröffentlichung der neu konzipierten Jahrbücher23 werden verstärkt Entscheidungsträger aus der aktiven Politik und Wirtschaft, Meinungsführer in den Medien und nicht zuletzt auch die praxisorientierte Wissenschaft angesprochen. Auch dieser aktuelle Band 30 soll einen für die deutsche Politik und Öffentlichkeit relevanten Themenkomplex behandeln: den Umgang mit autokratischen Staaten von deutschem Interesse. In einer grundlegenden Einführung werden dafür erstens die Ideengeschichte des „Westens“ und das Spannungsfeld deutscher Außenpolitik zwischen ihren Werten und Interessen skizziert. Zweitens werden die „Souveränität“ und die Fähigkeiten demokratischer und autokratischer Staaten, sich an Umweltveränderungen anzupassen, gegenübergestellt. Drittens werden die Voraussetzungen für die Stabilität von Autokratien vorgestellt. Diese „Säulen der Stabilität autokratischer Herrschaft“ sind grundlegend für die Strukturierung der Fallstudien: Im zweiten Hauptkapitel analysieren Länderexperten nach einem vorgegebenen Fragenkatalog die Beziehungen der deutschen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit zehn wichtigen autokratischen Staaten; dabei identifizieren sie deren Problemfelder und Entwicklungspotenziale. Im dritten Hauptkapitel untersuchen Länderexperten nach einem analog standardisierten Fragenkatalog, welchen Umgang ein Dutzend uns nahestehender Demokratien mit autokratischen Staaten pflegen. Im vierten Hauptkapitel werden die Interaktionen autokratischer Staaten mit zwölf inter- bzw. supranationalen Foren und Organisationen überwiegend westlicher Prägung beleuchtet. 22 Für Denkanstöße vgl. Marianne Kneuer, Die Suche nach Legitimität. Außenpolitik als Legitimationsstrategie autokratischer Regime, in: Köllner, Autoritäre Regime, a.a.O. (Anm. 6), S. 205-236. 23 Band 27: „Weltverträgliche Energiesicherheitspolitik“ (2008), Band 28: „Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ (2010) sowie Band 29: „Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise“ (2012).
Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider
17
Diese systematische Vorgehensweise bietet den Herausgebern im Schlusskapitel die Möglichkeit, die Muster deutscher Außenpolitik gegenüber relevanten autokratischen Staaten besser zu erkennen, zu bewerten und mit den Umgangsformen unserer westlichen Partner sowie supranationaler Foren zu vergleichen. Durch den Vergleich können neue Erkenntnisse, nämlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, deutlich gemacht werden. Das ist nur durch eine Gesamtschau möglich, wie sie das neu konzipierte Jahrbuch, das heißt die darin gebündelte Fachkompetenz, zu leisten imstande ist. Neben den wissenschaftlichen Experten wurde maßgeblichen Repräsentanten der Politik, namentlich des Bundeskanzleramts, der Bundesministerien und des Bundestags, die Möglichkeit geboten, ihre Problemwahrnehmung und Lösungsansätze darzulegen. Damit können nicht nur Politik und Wissenschaft in einen konstruktiven Dialog gebracht werden, sondern – in Zusammenarbeit mit den Medien und anderen Multiplikatoren bei der Vermarktung – auch gesellschaftliches Verständnis und Unterstützung für die gewachsene Verantwortung und Rolle Deutschlands generiert werden. Neben der wechselseitigen Politikberatung zwischen Politik und Wissenschaft ist diese zweite Funktion der Öffentlichkeitsberatung nicht minder wichtig. Mit Blick auf die gestiegenen Anforderungen an die deutsche Außenpolitik wird es immer wichtiger, dass politische Entscheidungen nicht nur informiert getroffen werden können, sondern für die gewachsene Verantwortung und Rolle Deutschlands auch gesellschaftliches Verständnis und Unterstützung geschaffen werden. Mit dem aktuellen Jahrbuch „Außenpolitik mit Autokratien“ will die DGAP einmal mehr einen Beitrag leisten. Ohne finanzielle und intellektuelle Unterstützung wäre dieses Unternehmen nicht möglich. Wir danken dem Auswärtigen Amt, insbesondere dem Planungsstab, für seine mittlerweile über 50 Jahre währende Grundfinanzierung. Ebenso danken wir dem Daimler-Fonds und der Klöckner-Stiftung, dass sie nun schon mehrere Jahre unsere Aktivitäten bei der Vermarktung des Jahrbuchs finanziell unterstützen. Die Herausgeber danken insbesondere den 48 Kolleginnen und Kollegen, die trotz ihrer ohnehin hohen Arbeitsbelastung ihre fachkundigen Jahrbuchartikel innerhalb einer im Vergleich zu anderen Sammelbänden sehr knappen Frist beigetragen haben. Wir danken Verena Schrader von der Bibliothek und Dokumentationsstelle der DGAP für die Erstellung des Literaturverzeichnisses und Charlotte Merkl sowie Thorsten Kirchhoff für die Gestaltung der Tabellen, Grafiken und des Gesamtlayouts. Besonderer Dank gilt einmal mehr Uta Kuhlmann-Awad für ihre professionelle Lektoratsarbeit. Berlin, im Dezember 2014
Die Herausgeber
I.
Grundlegende Perspektiven
21
Macht, Moral und Menschenrechte: Über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik Heinrich August Winkler1
Die ZEIT hat einen Streit vom Zaun gebrochen: einen Streit um Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik, und, noch allgemeiner, um Macht, Moral und Menschenrechte. Diese Debatte ist überfällig. Sie zielt auf ein grundlegendes Dilemma aller westlichen Demokratien: das Spannungsverhältnis zwischen ihrem normativen Projekt – den Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 – und der politischen Praxis dieser Staaten auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen. Deutschland ist eine westliche Demokratie, aber es hatte einen langen Weg zurückzulegen, bis es zu einer solchen wurde. Eine Auseinandersetzung über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik betrifft also nichts Geringeres als das politische Selbstverständnis einer, historisch gesehen, immer noch jungen westlichen Demokratie. Im Kern geht es bei der aktuellen Debatte um die Frage, ob eine „zu starke Orientierung an historischer Kontinuität und einem überfrachteten Wertediskurs“ die deutsche Außenpolitik daran hindert, „schnell und effizient auf neue Herausforderungen zu reagieren“ (dies die These des Direktors des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider) oder ob die Absage an ein vermeintliches Übermaß an Moral in der Außenpolitik auf eine unwürdige und zudem zwecklose „Diktatorenknutscherei“, sei es gegenüber Russland, den zentralasiatischen Republiken oder China, hinausläuft (so der ZEIT-Redakteur Jörg Lau).2 1 2
Rede vom 17.6.2013 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin; zuerst veröffentlicht in: Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 116-127. Eine gekürzte Version dieses Beitrags erschien in: Die Zeit, 20.6.2013. Eberhard Sandschneider, Deutsche Außenpolitik. Eine Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 10/2012.
22
Macht, Moral und Menschenrechte
Sandschneider ist ein eher moderater Vertreter des außenpolitischen Neorealismus: Wenn es um das Russland Wladimir Putins geht, wird aus dem Umfeld des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft sehr viel schärfere Kritik an westlichen und vor allem deutschen Mahnungen in Sachen Menschenrechte geübt. Alexander Rahr, der Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums, warf kürzlich in einem Gespräch mit der Komsomolskaja Prawda Deutschland vor, es führe sich Russland gegenüber auf wie eine „Siegermacht im Kalten Krieg“ und versuche mit „aggressiven Methoden, liberale Werte und westliche Demokratie nach Russland zu exportieren“.3 Im Hinblick auf China ist der entschiedenste Wortführer jener Richtung, die westliche Nichteinmischung in Wertefragen für ein Gebot politischer Klugheit hält, der Mitherausgeber der ZEIT, Helmut Schmidt. „Die Menschenrechte sind ein Erzeugnis der westlichen Kultur“, so erklärte der Altbundeskanzler am 2. Mai in der Sendung „Beckmann“ im Ersten Programm des Deutschen Fernsehens. Das Beharren auf der universellen Geltung der Menschenrechte sei eine amerikanische, nicht seine Meinung. „Ich finde, dieser Drang nach Bekehrung und nach Mission ist eine sehr westliche Eigenart […] Ich bin dagegen, sich einzumischen in die Angelegenheiten Chinas oder Indiens oder des Irans. Ich bin dagegen, dass die westliche Kultur sich zum Fürsprecher macht […] für die ganze Menschheit und in Wirklichkeit noch nicht einmal im Auftrag von einem Bruchteil der Menschheit redet.“4 Das normative Projekt des Westens Die unveräußerlichen Menschenrechte sind eine Errungenschaft des transatlantischen Westens, und es ist eine Eigenart des Westens, auf der weltweiten Geltung der Menschenrechte zu bestehen: Insoweit hat Helmut Schmidt völlig Recht. Die ersten Menschenrechtserklärungen, von der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776 bis zur Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789, haben eine lange Vorgeschichte. Zu ihren Voraussetzungen gehört die Unterscheidung zwischen göttlichen und weltlichen Gesetzen: ein Spezifikum des Christentums, auf das Montesquieu, der Vater der modernen Gewaltenteilungslehre, eindringlich hingewiesen hat.5 Seiner, am Beispiel Englands ausgerichteten Unterscheidung von vollziehender, gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt gingen zwei vormoderne, mittelalterliche Gewaltenteilungen voraus: die Trennung von geistlicher und weltlicher sowie die von fürstlicher und ständischer Gewalt. Diese Gewaltenteilungen hat nur der europäische Okzident erlebt, nur das lateinische, nicht das orthodoxe 3 4 5
Interview mit Alexander Rahr, Deutschlands Ostpolitik hat die Balance verloren, in: Spiegel Online, 18.3.2013; Jörg Lau: „Siedlungsraum“ im Osten, in: Die Zeit, 14.3.2013. Helmut Schmidt bei „Beckmann“, ARD, 2.5.2013; ähnlich ders., Besuch bei einer Weltmacht, in: Die Zeit, 25.4.2013. Montesquieu, De l’esprit des lois, OEuvres complètes, Bd. II, Paris 1951, S. 716-718, hier S. 750f.
Heinrich August Winkler
23
Europa. Und nur im alten, europäischen und im neuen, nordamerikanischen Westen setzten sich, auf diesen historischen Grundlagen aufbauend, im Zeichen der Aufklärung die Ideen der Herrschaft des Rechts, des „representative government“ und der unveräußerlichen Menschenrechte durch – die Ideen, die in ihrer Summe das normative Projekt des Westens ausmachen.6 Das normative Projekt stand von Anfang an in einer scharfen Spannung zur politischen Praxis des Westens. Unter den Gründervätern der Vereinigten Staaten waren Sklavenbesitzer wie George Washington und Thomas Jefferson, die nicht daran dachten, den Grundsatz, dass alle Menschen von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig seien und gewisse angeborene Rechte besäßen, auch auf die aus Afrika stammenden Sklaven anzuwenden. Aber die ersten Menschenrechtserklärungen waren so formuliert, dass sich auch diejenigen auf sie berufen konnten, die zu den ganz oder teilweise Ausgesperrten gehörten: die Sklaven, die amerikanischen Ureinwohner und, was bestimmte Bürgerrechte wie etwa das Wahlrecht betraf, die Frauen. Das normative Projekt des Westens war also klüger als seine Urheber. Es diente als ständiges Korrektiv der politischen Praxis des Westens und entfaltete so eine konfliktreiche Dynamik, die die Geschichte der westlichen Demokratien bis heute prägt. Das normative Projekt des Westens war kein „Selbstläufer“. Viele Länder des alten Westens wehrten sich lange gegen die Übernahme vieler der neuen revolutionären Ideen. Eines dieser Länder war Deutschland. Im Ersten Weltkrieg machten führende deutsche Intellektuelle Front gegen den Universalismus der westlichen Werte. Sie stellten den Ideen von 1789, also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die „Ideen von 1914“ entgegen: die Ideen von Pflicht, Ordnung und Gerechtigkeit, die nur ein starker Staat gewährleisten könne. Ihren Gipfel erreichte die deutsche Auflehnung gegen die normativen Ideen des Westens, gegen Individualismus, Liberalismus und Demokratie, in der Zeit des Nationalsozialismus. Es bedurfte der Erfahrung der bedingungslosen Kapitulation, der Konsequenz der deutschen Katastrophe, um eine Umkehr zu bewirken. Doch nur im freien, dem westlichen Teil Deutschlands konnte sich jener Prozess vollziehen, den Jürgen Habermas 1986 als die „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“ beschrieb und als die intellektuelle Leistung der westdeutschen Nachkriegszeit würdigte, auf die gerade seine Generation stolz sein könne.7 Der Untergang der kommunistischen Herrschaft in Europa in den Jahren 1989 bis 1991 bedeutete nicht, wie Francis Fukuyama meinte, das Ende der
6 7
Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2012³, bes. S. 52ff.; ders., Was heißt westliche Wertegemeinschaft?, in: Internationale Politik, April 2007, S. 66-85. Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 62-76, hier S. 75.
24
Macht, Moral und Menschenrechte
Geschichte.8 Wohl aber stehen diese Epochenjahre für das Ende eines Kapitels in der Geschichte des transatlantischen Westens, das mit den atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 begonnen hatte. In diesen rund 200 Jahren war die Geschichte des Westens zu wesentlichen Teilen eine Geschichte von Normenkämpfen: von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung des normativen Projekts des Westens. Es blieben die Kämpfe um die Auslegung des Projekts im Westen, darunter transatlantische Kontroversen um die Todesstrafe, um die Rolle der Religion in der Gesellschaft und um die soziale Verantwortung des Staates. Und es blieb der Streit um die universelle Geltung der Menschenrechte. Zu der weltweiten Geltung dieser Rechte bekannte sich seit ihrer Gründung die Weltorganisation schlechthin. Die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, sieben Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa in San Francisco verabschiedet, verpflichtete die Unterzeichnerstaaten in Artikel 1 dazu, „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“.9 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 mit 48 Stimmen ohne Gegenstimmen bei acht Enthaltungen angenommen, brachte dieses Postulat in die Form eines ausgefeilten Katalogs.10 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verabschiedete die von den UN einberufene, von 171 Staaten beschickte Weltkonferenz über Menschenrechte in Wien im Juni 1993 eine Erklärung und ein Aktionsprogramm zur Durchsetzung der Menschenrechte, des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Demokratie.11 Die Charta von Paris, die am 21. November 1990 unterzeichnet wurde, erhob zwar keinen weltweiten Anspruch, verpflichtete aber alle Mitgliedstaaten der damaligen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der jetzigen OSZE, die „Demokratie als einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“ sowie die unveräußerlichen Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten.12 Der universelle Geltungsanspruch Manche neueren Einlassungen zum Thema Menschenrechte in nichtwestlichen Staaten, namentlich in Russland und China, lesen sich so, als ob die Erklärungen von 1945, 1948, 1990 oder 1993 nicht das Papier wert seien, auf dem sie gedruckt wurden. Richtig ist, dass es um die Chancen der UN und der OSZE, die Einhaltung der damals eingegangenen Verpflichtungen zu erzwingen, schlecht 8 9 10 11 12
Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. Peter Opitz (Hrsg.), Forum der Welt: 40 Jahre Vereinte Nationen, Bonn 1986, S. 318-334. Ebd., S. 335-338. Europa-Archiv, Dokumente 48 (1993), S. D 498–D 520. Europa-Archiv, Dokumente 45 (1990), S. D 656–D 664.
Heinrich August Winkler
25
bestellt ist. Aber daraus folgt noch nicht, dass die westlichen Demokratien sie als nicht verbindlich betrachten dürften. Es war ein säkularer Fortschritt, als die Vereinten Nationen den normativen Ertrag der atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 in den Rang von Menschheitsnormen erhoben. Auf diesen nachgerade revolutionären Akt können sich seitdem Menschenrechtsaktivisten in aller Welt berufen, und sie haben dies immer wieder getan: von den Verfassern der „Charta 77“, dem Manifest der tschechoslowakischen Dissidenten um Václav Havel, bis zu den Autoren der „Charta 08“, die von über 5000 chinesischen Intellektuellen und Bürgerrechtsaktivisten unterzeichnet wurde, obenan dem Hauptautor und Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Liu Xiaobo, dem das Engagement für Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie eine elfjährige Haftstrafe einbrachte.13 Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, die universelle Geltung der Menschenrechte mit dem kulturrelativistischen, besonders engagiert von Helmut Schmidt vertretenen Argument zu bestreiten, weil die Menschenrechte ein Produkt des Westens seien, hätten nur diejenigen Menschen Anspruch auf ihre Einhaltung, die in westlichen Demokratien lebten, während andere Kulturkreise, darunter der chinesische, gewissermaßen strukturell nicht auf die Menschenrechte hin angelegt seien. Der Westen hat in seiner Praxis über die Jahrhunderte hinweg immer wieder gegen die von ihm propagierten Ideen der einen Menschheit und der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, verstoßen, aber er hat sie nicht zu zerstören vermocht. Sie sind das Beste, was er je hervorgebracht hat. Der Westen verlöre seine Glaubwürdigkeit, ja er gäbe sich selbst auf, wenn er sich von dieser Selbstverpflichtung lossagen und auf den universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte verzichten würde. Die Frage ist also nicht, ob der Westen eine Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte in aller Welt trägt. Die Frage ist, wie er dieser Verantwortung gerecht werden kann. Der Weltgipfel der Vereinten Nationen hat sich im September 2005 in New York zu einer Schutzverantwortung der Völkergemeinschaft, ihrer „responsibility to protect“, in Fällen von Massenverbrechen wie vor allem Völkermord bekannt.14 Daraus folgt als Ultima Ratio die Möglichkeit einer humanitären Intervention zum Schutz der elementarsten Menschenrechte. Es versteht sich von selbst, dass jede Art von Sanktionen und erst recht ihre massivste, die bewaffnete Form, einer rigorosen Einzelfallprüfung und Folgenabwägung bedarf. Das Ergebnis wird häufig sein, dass ein Eingriff unterbleiben muss, weil er mit unkalkulierbaren Risiken verbunden wäre. Ein solcher Verzicht ist immer ein moralisches Dilemma, kann aber gleichwohl ein moralisches Gebot im Sinne der Verantwortungsethik sein. 13 Die Charta 77 u. a. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.1977, die Charta 08 ebd., 8.10.2010. 14 Alex, J. Bellamy, Responsibility to Protect. The Global Effort to End Mass Atrocities, Cambridge 2009; Matthias Wenzel, Schutzverantwortung und Völkerrecht. Zu Möglichkeiten und Grenzen der „Responsibility to Protect“-Konzeption, Hamburg 2010.
26
Macht, Moral und Menschenrechte
Im Alltag der Menschenrechtspolitik spielen Sanktionen freilich nur eine geringe Rolle. Im Mittelpunkt der aktuellen Debatte über Werte und Interessen in der deutschen Außenpolitik steht die Frage, welche praktischen Folgerungen sich daraus ergeben, dass Staaten, mit denen die Bundesrepublik gute Beziehungen unterhält oder unterhalten möchte, auf dem Gebiet der Menschenrechte mehr oder minder weit hinter den Vorgaben der Völkergemeinschaft zurückbleiben. In der so genannten „realistischen“ Schule empfinden es manche bereits als störend, dass das Thema Menschenrechte überhaupt öffentlich thematisiert wird, und das vor allem dann, wenn es um Russland unter Wladimir Putin geht. Die gemäßigten Vertreter dieser Schule empfehlen eine Arbeitsteilung: Die Zivilgesellschaft könne sich durchaus kritisch zur Lage der Menschenrechte in Russland, China oder, beispielsweise, in den zentralasiatischen Republiken äußern, die Bundesregierung sei aber gut beraten, sich mit öffentlichen Bewertungen zurückzuhalten, weil ansonsten übergeordnete wirtschaftliche oder strategische Interessen Deutschlands Schaden nehmen könnten. Intellektuelle, Publizisten und Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International können und müssen in der Tat bei der Kritik an Menschenrechtsdefiziten weiter gehen als die amtlichen Vertreter westlicher Staaten. Aber in demokratisch verfassten Gesellschaften können sich Regierungen nicht sehr weit von der Zivilgesellschaft entfernen, ohne ihre Legitimität zu beschädigen. Demokratische Regierungen müssen versuchen, den allgemeinen Willen zu artikulieren, der sich durchaus nicht immer mit dem besonderen Interesse dieses oder jenes großen Industriekonzerns decken muss. Und sie tun gut daran, die Warnung Eberhard Sandschneiders vor einer doppelbödigen Politik zu beherzigen: „Wer den Eindruck vermittelt, Werte zwar zu propagieren, sie aber bei Bedarf gegen ‚wichtigere‘ Interessen zurückzustellen, schadet eben diesen Werten – und der eigenen Glaubwürdigkeit – mehr, als er nützt.“15 Doch den mühsamen Ausgleich zwischen den materiellen und den immateriellen Interessen ihres Landes nimmt demokratischen Regierungen niemand ab. Der Einsatz für Menschenrechte in autoritär regierten Staaten dürfte stets ein diplomatischer Balanceakt sein: der Versuch, den besonderen Umständen vor Ort umfassend und taktvoll Rechnung zu tragen und gleichzeitig das höchste allgemeine Anliegen der Völkergemeinschaft, den Schutz der Menschenrechte, zur Geltung zu bringen. Käme das letztere zu kurz, hieße das, das normative Licht der Ideen von 1776 und 1789 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 unter den Scheffel zu stellen. Die deutsche Kritik am amerikanischen Missionsdrang auf dem Feld der westlichen Werte im Allgemeinen und der Menschenrechte im Besonderen entbehrt nicht einer gewissen Berechtigung. Unter der Präsidentschaft Jimmy Carters trug eine Menschenrechtsoffensive der USA dazu bei, die Spannungen 15 Sandschneider, a.a.O. (Anm. 2), S. 8.
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zwischen West und Ost wieder zu verschärfen: eine Entwicklung, die im geteilten Deutschland besondere Besorgnisse auslöste. Unter George W. Bush überhöhten die USA ihre stark von strategischen Interessen bestimmte Politik des „regime change“ im Irak mit einer Strategie der Demokratisierung, die, nahezu im Wortsinn, auf Sand gebaut war: Es fehlten die zivilgesellschaftlichen Traditionen, die notwendig gewesen wären, um aus freien Wahlen und Mehrheitsherrschaft mehr hervorgehen zu lassen als nur eine Karikatur von formaler Demokratie. Wenn die Erfahrungen mit dem Irak nach dem Sturz Saddam Husseins etwas Positives bewirkt haben, dann ist es die anhaltende amerikanische Skepsis gegenüber dem Versuch, ein nichtwestliches Land mit militärischen Mitteln in eine Demokratie zu verwandeln. Deutsche Realpolitik Die deutschen Vorbehalte gegenüber dem normativen Universalismus amerikanischer Prägung haben jedoch noch andere Ursachen. Bis heute wirkt nach, dass Deutschland nie eine erfolgreiche bürgerliche Revolution erlebt hat. Das Scheitern der Revolution von 1848/49 fand einige Jahre später, 1853, seinen theoretischen Niederschlag in einer Schrift mit dem programmatischen Titel „Grundsätze der Realpolitik“: einer Selbstkritik des liberalen Idealismus aus der Feder eines ehemaligen radikalen Burschenschafters, August Ludwig von Rochau. Der Kernsatz lautete: „Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Geschichte.“16 Bekanntlich hat der Begriff „Realpolitik“ international Karriere gemacht. Er wurde zu einem deutschen Exportartikel, ähnlich wie „Kindergarten“, „Rucksack“, „Weltanschauung“ und „Götterdämmerung“. Benutzt wurde der Begriff gemeinhin im Sinne einer Abgrenzung von idealistischem Wunschdenken, und insofern hat er eine kritische Dimension. Doch Rochaus Reduktion von Politik auf Macht war nicht dagegen gefeit, als Rechtfertigung einer Machtpolitik ohne Wenn und Aber verstanden zu werden, wie sie in der nächsten Generation der Historiker Heinrich von Treitschke vertrat.17 In diesem Sinn hat das Buch von 1853 das deutsche politische Denken im 19. und im frühen 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst. Heute ist das Werk weithin vergessen. Dennoch stellt sich die Frage, ob manche neueren deutschen 16 Ludwig August (richtig August Ludwig) von Rochau: Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands [1853¹], herausgegeben und eingeleitet von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt 1972, S. 25 f. 17 Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, 2 Bde., Leipzig 1899/1900.
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Aufrufe zum „realpolitischen“ Denken völlig frei sind von der Gefahr, der der deutsche Liberale Rochau vor 160 Jahren erlegen ist: der Unterschätzung der Wirksamkeit von Ideen und der einseitigen Fixierung auf den Faktor Macht. Der „Realpolitik“ immanent ist die Versuchung, längerfristige Interessen hinter kurzfristigen zurückzustellen oder aus dem Blickfeld zu verbannen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist eine folgenschwere Entscheidung der deutschen Reichsleitung im Ersten Weltkrieg: der Beschluss vom Frühjahr 1917, Lenin aus dem Schweizer Exil im legendären, angeblich „plombierten“ Wagen über Deutschland, Schweden und Finnland nach Russland reisen zu lassen. Der erhoffte Erfolg stellte sich rasch ein: Die Bolschewiki ergriffen die Macht, beendeten den Krieg im Osten und befreiten Deutschland aus der Not des Zweifrontenkriegs. Die Langzeitfolgen des Coups hatte Berlin nicht einkalkuliert: Die deutsche und die Weltgeschichte wären, um das Mindeste zu sagen, anders verlaufen, wenn die Reichsleitung nicht ein nur vermeintlich „realistisches“ Vabanque-Spiel mit der roten Revolution betrieben hätte. Ein zweites, jüngeres Beispiel einer verkürzten Perspektive von „Realpolitik“ stammt aus den achtziger Jahren. Als im Sommer 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ in Polen die Entwicklung begann, die schließlich in die friedlichen Revolutionen von 1989 mündete, sahen führende deutsche Sozialdemokraten Gefahren für den Frieden in Europa aufziehen. In der so genannten „zweiten Phase der Ostpolitik“ drängte das Interesse an der dauerhaften Sicherung der innerdeutschen Entspannung den Wunsch nach evolutionärer Veränderung im Ostblock völlig in den Hintergrund, sodass aus der berühmten, für die erste Phase der Ostpolitik grundlegenden Formel Egon Bahrs von 1963 „Wandel durch Annäherung“ das Ziel des Wandels weithin entschwand. Im Zeichen der neu propagierten „Sicherheitspartnerschaft“ wurde Stabilität in Mitteleuropa zum alles beherrschenden Imperativ. Das Nachsehen hatten die Bürgerrechtler, die sich als Störfaktoren ausgegrenzt fühlten. Die Ironie dieser Entwicklung lag darin, dass die Dissidenten Ostmitteleuropas durch den krönenden Abschluss der ersten Phase der Ostpolitik, die Helsinki-Schlussakte der KSZE von 1975, dank der darin enthaltenen Aussagen zu den Menschenrechten starken Auftrieb erhalten hatten. Auf diese Passagen konnte sich berufen, wer von den kommunistischen Regimen mehr Freiheit forderte. So gesehen, war es ein Erfolg der Ostpolitik, der zur etatistischen Verkürzung des ursprünglichen Konzepts führte. Die Stabilität, auf die Brandt, Bahr und andere setzten, erwies sich jedoch als brüchig. Die Bürgerrechtsbewegungen des östlichen Mitteleuropa, die Nutznießer der ersten Phase der Ostpolitik, brachten am Ende einen viel gründlicheren Wandel hervor, als die Erfinder dieser Politik in den 1980er Jahren erwartet oder für wünschbar gehalten hatten. Die westlichen Freiheitsideen entwickelten eine Dynamik, die der sozialdemokratischen Variante von „Realpolitik“ den Boden entzog. Am Ende hatten sich, um Timothy Garton Ash zu zitieren, „die selbst-
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erklärten Realisten als unrealistisch erwiesen, und die Idealisten standen als die besseren Realisten da“.18 Stabilität hat im Denken der Realpolitiker, der Theoretiker ebenso wie der Praktiker, immer einen hohen Stellenwert: Das ist in Deutschland nicht anders als in den Vereinigten Staaten, wo die „realpolitische“ Denkrichtung freilich sehr stark von deutschen Emigranten, von Hans Morgenthau bis Henry Kissinger, geprägt ist.19 Mehr noch: Stabilität tendiert, aus „realpolitischem“ Blickwinkel betrachtet, leicht dahin, den Rang des höchsten Gutes einzunehmen. Die Frage, wie die Ordnung beschaffen ist, die da stabil gehalten werden soll, tritt demgegenüber zurück. Die einseitige, um nicht zu sagen: monomane, Ausrichtung auf Stabilität ist immer in der Gefahr, in Zynismus umzuschlagen. Die Folge ist dann die Missachtung von Kräften, die die bestehenden Machtverhältnisse in autoritären Regimen im Zeichen westlicher Werte in Frage stellen und darum westliche Sympathie und Solidarität verdient hätten. Zum normativen Defizit der „Realpolitik“ tritt ein empirisches hinzu: Die Stärke der Kräfte, die auf Veränderung drängen, wird regelmäßig unterschätzt, die Stabilität autoritärer Regime überschätzt. Das war in den 1980er Jahren so, als in Polen „Solidarnosc“ das Kriegsrecht überlebte und schließlich aus dem Machtkampf mit dem kommunistischen Regime als Sieger hervorging. Und es spricht manches dafür, dass auch in Russland und China die Machtverhältnisse weniger festgefügt sind, als viele „Realpolitiker“ meinen. Wenn das zutrifft, gibt es einen weiteren Grund, am Realismus der „Realpolitiker“ zu zweifeln. Der Wirklichkeitssinn hat, wie Robert Musil bemerkt, sein notwendiges Gegenstück im Möglichkeitssinn.20 Wo dieser Sinn fehlt, kann die vermeintliche „Realpolitik“ in eine Utopie umschlagen: den Traum von einer regimeneutralen, immerwährenden Stabilität, deren Stützen zu einem guten Teil Diktaturen oder Halbdiktaturen sind. Ein unverkürzter Realismus schließt einen normativen Ansatz nicht nur nicht aus, er erfordert ihn. Es ist ein geradezu sittliches Gebot aller Politik, der Wirklichkeit, so gut es geht, ins Auge zu sehen und sich sowohl von voluntaristischem Wunschdenken als auch von resignativem Fatalismus freizuhalten. Ein normativ aufgeklärter Realismus fragt nach Handlungsspielräumen und Alternativen der Politik. Er ist auf eine unvoreingenommene Analyse der Motive anderer Akteure und der jeweiligen Kräfteverhältnisse ebenso angewiesen wie auf Offenheit gegenüber dem, was der Historiker Johann Gustav Droysen in 18 Timothy Garton Ash, Lässt sich europäische Macht moralisch begründen?, in: ders.: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010, München 2010, S. 119-136, hier S. 135. 19 Hans Morgenthau, Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963; Henry A. Kissinger: Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf 1962. 20 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Hamburg 1952, S. 16. Das Zitat lautet: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand bezweifelt, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“
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den 1850er Jahren den „ethischen Horizont“ genannt hat: eine „Interpretation nach den sittlichen Mächten und Ideen“, deren Werden und Wachsen für diesen Hegelianer die Bewegung und das Leben der Geschichte ausmachten.21 Theorie und Praxis Das Ergebnis solcher Abwägungen kann keine „moralische Politik“ sein, denn die gibt es nicht, wohl aber eine Politik, die danach strebt, bei allem notwendigen Pragmatismus möglichst nahe an den normativen Vorgaben zu bleiben, auf die sich die Völkergemeinschaft festgelegt hat. Für das Verhältnis von Theorie und Praxis folgt daraus, was Kant im Anhang zu seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 feststellt: „Ich kann mir nun zwar einen moralischen Politiker, d.i. einen, der die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können, aber nicht einen politischen Moralisten denken, der sich seine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmannes sich zuträglich findet.“22 Deutsche Kritik an Verletzungen von Menschenrechten in anderen Ländern stößt in Deutschland selbst immer wieder auf den Einwand, angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus müssten sich gerade die Deutschen in dieser Hinsicht besondere Zurückhaltung auferlegen. Im Hinblick auf Russland hat Erhard Eppler so argumentiert. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung sprach er im November 2012 Wladimir Putin seinen Dank dafür aus, dass dieser es sich verkniffen habe, deutsche Kritik an Maßnahmen russischer Behörden mit der Frage zu kontern: „Seid ausgerechnet ihr Deutschen dazu berufen, uns Demokratie und Menschenrechte beizubringen?“23 Die Mahnung zu deutscher Bescheidenheit ist nur allzu oft gerechtfertigt. Aber das Argument, die Jahrhundertverbrechen des Nationalsozialismus verpflichteten die Deutschen, im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen anderer Nationen lieber zu schweigen, ist höchst anfechtbar. Zu Ende gedacht, läuft es darauf hinaus, Deutschland ein Recht auf Wegsehen zu bescheinigen, das andere westliche Demokratien nicht für sich in Anspruch nehmen können. Der Holocaust würde dann die widerspruchslose Hinnahme von ethnischen Säuberungen und Völkermorden zur Folge haben, was genauso abwegig wäre wie der seinerzeitige Versuch deutscher Politiker, Parallelen zu ziehen zwischen der Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg und serbischen Massakern im Kosovo.24
21 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 1964, S. 184. 22 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: ders., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, Hamburg 1959, S. 115-169, hier S. 153. 23 Erhard Eppler, Bescheidenheit könnte uns nicht schaden, in: Süddeutsche Zeitung, 26.11.2012. 24 Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998-2005, München 2013, S. 76ff.
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Würde die nationalsozialistische Vergangenheit die Deutschen veranlassen, gegenüber Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart besonders großzügig zu sein, wäre dies das Resultat eines pathologischen Lernprozesses. Deutschland würde mit Recht Zweifel an seinem Selbstverständnis als westliche Demokratie hervorrufen, wenn es auf dem Gebiet der Menschenrechte und des Menschenrechtsschutzes eine grundsätzlich andere Politik betriebe als seine westlichen Verbündeten, also einen neuen Sonderweg einschlüge. Tagespolitisch motivierte Bezugnahmen auf die Vernichtung der europäischen Juden sind heute nicht mehr so häufig wie in den 1990er Jahren, und das ist ein Fortschritt. Denn jede Instrumentalisierung des Holocaust bedeutet seine Banalisierung. Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen sollten politische Entscheidungen nicht dadurch überhöht werden, dass man sie als die jeweils einzig richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt. Das gilt auch dann, wenn es um das Thema Deutschland und den Schutz der Menschenrechte geht.
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Sind Demokratien souveräner als Autokratien? Lars Brozus Staatliche Souveränität ist zweifellos ein zentrales Konzept internationaler Politik.1 Im Kern besagt der Begriff, dass Staaten zum einen die oberste politische Autorität innerhalb eines Herrschaftsverbands verkörpern. Zum anderen verkehren sie auf internationaler Ebene von Gleich zu Gleich miteinander. Entsprechend etabliert die Charta der Vereinten Nationen (UN) – quasi die Spitzenorganisation der Staatengemeinschaft – den „Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder“.2 Souveräne Gleichheit bzw. Unverletzlichkeit der Staaten war indes in rechtlicher Hinsicht bis ins 20. Jahrhundert und ist in empirischer Hinsicht bis heute eine Fiktion.3 Mächtige Staaten üben von jeher größeren Einfluss auf die internationale Politik wie auch auf die Angelegenheiten schwacher Staaten aus. Aber können verschiedene Grade der Souveränität gemessen werden? Die den politischen Konventionen der Staatengemeinschaft entsprechende Definition von Souveränität kennt nur zwei Ausprägungen: Souveränität liegt entweder vor, oder eben nicht.4 Folgt man dieser Dichotomie, ist die Antwort einfach: Autokratien und Demokratien unterscheiden sich nicht voneinander, sofern sie als souveräne Mitglieder der Staatengemeinschaft anerkannt sind. Die konkrete Ausgestaltung der Herrschaftsordnung im Inneren spielt für den Status als souveräner Staat in der internationalen Politik keine Rolle.
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Die Literatur zu Souveränität in der internationalen Politik ist praktisch unübersehbar. Vgl. nur Andreas von Arnauld et al., Souveränität im Wandel, in: Die Friedens-Warte, Heft 1, 2009; Robert Jackson, Sovereignty. Evolution of an Idea, Cambridge 2007; Hent Kalmo und Quentin Skinner (Hrsg.), Sovereignty in Fragments. The Past, Present and Future of a Contested Concept, Cambridge 2010; Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Princeton 1999. Vgl. Charta der Vereinten Nationen, Art. 2, Nr. 1, in: Peter J. Opitz, Die Vereinten Nationen. Geschichte, Struktur, Perspektiven, München 2002, S. 283. Vgl. Frithjof Ehm, Das völkerrechtliche Demokratiegebot. Eine Untersuchung zur schwindenden Wertneutralität des Völkerrechts gegenüber den staatlichen Binnenstrukturen, Tübingen 2013. Vgl. Jackson, Sovereignty, a.a.O. (Anm. 1), S. 16: „Souveränität ist keine Frage des Grades. Wie gezeigt, ist sie kategorial: entweder/oder“ (Übers. d. Verf.).
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Die in der konventionellen Definition von Souveränität angelegte dichotomische Betrachtung trägt dazu bei, die Fiktion der Gleichheit der Staaten konzeptionell am Leben zu erhalten.5 Die realen Unterschiede zwischen Staaten spiegeln sich jedoch in einer wissenschaftlichen Kontroverse über die Bedeutung von Souveränität.6 Neben die dichotomische Auffassung tritt eine dynamischere Interpretation, die Souveränität nicht kategorial definiert, sondern mit konzeptionellen Abstufungen arbeitet. Souveränität lässt sich demnach in vier Bestandteile ausdifferenzieren:7 - Innere Souveränität: Damit ist die autonome und effektive Regelsetzung und Regeldurchsetzung eines Staates auf seinem Territorium gemeint. - Interdependenz-Souveränität: Dies bezieht sich auf die effektive Kontrolle über grenzüberschreitende Austauschprozesse. - Internationale rechtliche Souveränität: Hierunter wird die wechselseitige rechtliche Anerkennung als souveräner Staat verstanden. - Äußere oder Westfälische Souveränität:8 Hier geht es um die Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer souveräner Staaten. Wird Souveränität in diese vier Dimensionen ausdifferenziert und so operationalisiert, dass sie gemessen werden kann, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Demokratien und Autokratien. Es spricht viel dafür, dass Demokratien über mehr Souveränität als Autokratien verfügen. Souveränität als statisches oder dynamisches Konzept Rekonstruktionen der politischen, rechtlichen und ethischen Deutungen von Souveränität zeigen, dass der Begriff in historischer Perspektive nicht als statisches, sondern als dynamisches Konzept interpretiert werden sollte.9 Deutlich wird dies anhand der Debatte über das Nichteinmischungsgebot, das als Kern der äußeren oder Westfälischen Souveränität gilt. Geradezu in Umkehrung des jetzigen Begriffsgehalts propagierten sowohl politische wie auch recht5 6 7 8
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Dafür mag es durchaus gute Gründe geben, vgl. Bardo Fassbender, Die souveräne Gleichheit der Staaten – ein angefochtenes Grundprinzip des Völkerrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 43, 2004, S. 7-13. Vgl. Jackson, Sovereignty, a.a.O. (Anm. 1), S. 14-19, der das Souveränitätsverständnis von Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, a.a.O. (Anm. 1), kritisiert. Vgl. Stephen D. Krasner, Abiding Sovereignty, in: International Political Science Review, Nr. 3, 2001, S. 229-251. Westfälische Souveränität geht zurück auf den Friedensschluss in Münster und Osnabrück, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete. Gemäß der konventionellen Definition von Souveränität beginnt damit das Zeitalter souveräner Staaten, die sich nicht in die Belange anderer Staaten einmischen. Vgl. Pärtel Piirimäe, The Westphalian Myth and the Idea of External Sovereignty, in: Kalmo, Skinner (Hrsg.), Sovereignty in Fragments, a.a.O. (Anm. 1), S. 64-80. Zuletzt Luke Glanville, The Myth of “Traditional” Sovereignty, in: International Studies Quaterly, Nr. 1, 2013, S. 79-90; Andreas Osiander, Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Organization, Nr. 2, 2001, S. 251-287; vgl. zudem die Beiträge in Kalmo, Skinner, Sovereignty in Fragments, a.a.O. (Anm. 1).
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liche Theoretiker bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Einmischungsgebot in die Angelegenheiten anderer Herrschaftsverbände. Das galt etwa mit Bezug auf Maßnahmen, die auf die Bekämpfung von Inhumanität und Tyrannei zielten, oder um gegen Gräueltaten vorzugehen. Auch Krieg konnte gemäß dieses Souveränitätsverständnisses als legitimes Mittel internationaler Politik verteidigt werden, sofern er als gerecht deklariert wurde („Just war“-Doktrin). In der politischen Praxis des 19. Jahrhunderts beanspruchten verschiedene europäische Staaten eine Art Schutzverantwortung für christliche Minderheiten im Osmanischen Reich. Daraus leiteten sie die Befugnis ab, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen, ohne dazu von der Hohen Pforte eingeladen worden zu sein.10 Auch das so festgefügt erscheinende konventionelle Souveränitätskonzept, das nach 1945 in der Charta der UN Ausdruck fand, weist Ambivalenzen auf. So war etwa die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 aufgrund von Kontrollrechten der Alliierten nicht nur faktisch, sondern formal eingeschränkt.11 Die Praxis internationaler Politik kennt zudem bis heute humanitäre Interventionen, also den Einsatz militärischer Gewalt durch einen Staat oder ein Staatenbündnis zum Schutz von Menschenrechten in einem anderen Staat ohne dessen Zustimmung bzw. der Zustimmung des Sicherheitsrats der UN. Eine solche Intervention verletzt das Nichteinmischungsgebot, eine der konzeptionellen Säulen der konventionellen Souveränität.12 Der Politikwissenschaftler Stephen D. Krasner spricht in diesem Zusammenhang von „organisierter Heuchelei“.13 Damit beschreibt er die Differenz zwischen der von der Staatengemeinschaft propagierten handlungsleitenden Norm Nichtintervention und dem faktischen Handeln ihrer Mitglieder. Wie andere Organisationen auch verstoßen Staaten in ihrem Handeln gelegentlich gegen Normen, die dieses Handeln anleiten sollen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde das konventionelle Souveränitätsverständnis der internationalen Politik daher durch einen dynamischeren Zugang ergänzt. Selbst prinzipielle Befürworter einer kategorialen Definition von Souveränität 10 Vgl. Luke Glanville, Myth of “Traditional” Sovereignty, a.a.O. (Anm. 9), S. 83-85. 11 Vgl. Stephen D. Krasner, Sharing Sovereignty. New Institutions for Collapsed and Failing States, in: International Security, Nr. 2, 2004, S. 110-111. 12 Allerdings kann das konventionelle Souveränitätskonzept konzeptionell weiterentwickelt werden, wenn sich die Staatengemeinschaft darauf verständigt. Das verdeutlicht die internationale Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P). Sie besagt, dass Staaten dafür verantwortlich sind, ihre Bevölkerung vor bestimmten Massenverbrechen wie Völkermord zu schützen. Kommt ein Staat dieser Verantwortung nicht nach, fällt sie der Staatengemeinschaft zu. Diese kann den Schutz der bedrohten Bevölkerung ggf. auch mit militärischen Mitteln gegen den versagenden Staat durchsetzen. Vgl. Lars Brozus und Christian Schaller, Über die Responsibility to Protect zum Regimewechsel (SWP-Studie S13), Berlin 2013. 13 So lautet der Titel seines 1999 erschienenen Werkes „Sovereignty: Organized Hypocrisy“, a.a.O. (Anm. 1); vgl. auch Stephen D. Krasner, The Durability of Organized Hypocrisy, in: Kalmo, Skinner (Hrsg.), Sovereignty in Fragments, a.a.O. (Anm. 1), S. 96-113.
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gestehen zu, dass der Begriff politisch über die Entweder/Oder-Dichotomie hinausweist.14 Gerade in analytischer Hinsicht kann es fruchtbar sein, Souveränität als ein dynamisches Konzept zu betrachten, das aus mehreren Komponenten besteht. Erst die Disaggregation ermöglicht es, der empirischen Realität unterschiedlicher Ausprägungen von Staatlichkeit auch konzeptionell gerecht zu werden. Das wiederum erlaubt die Konstruktion spezifischer Modelle oder Theorien, die sich mit unterschiedlichen Aspekten defizitärer oder begrenzter Staatlichkeit befassen, die sich etwa in fragilen Staaten finden lassen. Damit können Ideen für die praktische Politik entwickelt werden, um diese Defizite – etwa durch spezifische Institutionen – zu bearbeiten.15 Dementsprechend argumentiert der Politikwissenschaftler Robert Keohane: „Sobald Souveränität in ihre Komponenten zerlegt worden ist, und diese Komponenten getrennt ausgewertet wurden, kann die Politik innovativer hinsichtlich von institutionellen Arrangements sein.“16 Operationalisierung der Souveränitäts-Dimensionen Idealerweise sollten alle vier Dimensionen der Souveränität gleichermaßen operationalisier- und messbar sein.17 Das ist aufgrund fehlender Daten und einer unterschiedlichen Skalierbarkeit der Dimensionen allerdings nicht vollständig möglich. Die Auswertung der verfügbaren Daten ergibt dennoch ein – bei aller gebotenen Vorsicht – recht eindeutiges Bild. Tabelle 3: Dimensionen der Souveränität und ihre Operationalisierung Dimension
Merkmale
Referenzwerte
Innere Souveränität
1. Grad der Staatlichkeit 2. Governance-Leistungen
1. Stateness Index 2. Human Development Index
Interdependenz-Souveränität
1. Grad der Globalisierung 2. Kontrolle über Grenzen
1. KOF Index of Globalization 2. Stateness Index
Internationale rechtliche Souveränität
Wechselseitige Anerkennung als souveräner Staat
Kriterien für die Anerkennung
Äußere oder Westfälische Souveränität
Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten
Stateness Index
14 Vgl. Jackson, Sovereignty, a.a.O. (Anm. 1), S. 22: „Souveränität kann auch eingesetzt werden, um verschiedene – manchmal sehr verschiedene – politische Dinge zu tun“ (Übers. d. Verf.). 15 Vgl. Oisín Tansey, Does Democracy Need Sovereignty?, in: Review of International Studies, Nr. 4, 2011, S. 1515-1536; Nina Caspersen, Unrecognized States. The Struggle for Sovereignty in the Modern International System, Cambridge 2012, S. 13-16. 16 Übers. d. Verf., vgl. Robert O. Keohane, Political Authority After Intervention: Gradations in Sovereignty, in: J.L. Holzgrefe, Robert O. Keohane (Hrsg.), Humanitarian Intervention. Ethical, Legal, and Political Dilemmas, Cambridge 2003, S. 276-277. 17 Für eine detaillierte Diskussion der einzelnen Bestandteile von Souveränität vgl. Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, a.a.O. (Anm. 1), S. 11-25.
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Innere Souveränität
Unter innerer Souveränität wird die Fähigkeit des Staates verstanden, Regeln effektiv zu setzen und ebenso effektiv durchzusetzen. Das kann über Indikatoren gemessen werden, die Aussagen über die Wirksamkeit der Gebietsherrschaft machen. Der 2009 veröffentlichte Stateness Index des Teams um Andrei Melville vom Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) ist für diesen Zweck geeignet.18 Er erfasst politische und ökonomische Indikatoren, die die Fähigkeit eines Staates zur effektiven und autonomen Regelsetzung und Regeldurchsetzung auf seinem Territorium messen. Schwerpunkt ist dabei zum einen die Konkurrenz um das Gewaltmonopol auf einem Territorium, gemessen u.a. am Vorliegen und ggf. der Intensität interner Konflikte oder der Stationierung fremder Truppen auf diesem Territorium, und zum anderen die tatsächliche Unabhängigkeit von externem Einfluss, gemessen etwa am Ausmaß der Außenverschuldung oder an externen Beiträgen zum nationalen Haushalt (vgl. Tabelle 4).19 Damit wird gleichwohl nur eine Komponente des Regierens erfasst. Neben der effektiven Gebietsherrschaft, die sich auf Durchsetzungsfähigkeit und Autonomie des Staates bezieht, hat Regieren einen qualitativen Aspekt. Dieser zielt auf die Bereitstellung gesellschaftlich nachgefragter Güter oder Governance-Leistungen. Abgesehen von Sicherheit, die oft als wichtigste Herrschaftsleistung angesehen wird, gehören dazu Wohlfahrt, Bildung oder Gesundheit. Diese Faktoren lassen sich unter dem Begriff der menschlichen Entwicklung zusammenfassen. Der Human Development Index (HDI) der UN erfasst diesen Aspekt staatlicher Herrschaft. Um innere Souveränität nicht nur formal durch effektives Regieren, sondern auch funktional im Sinne guten Regierens zu messen, wird daher der HDI als zweiter Maßstab für die Messung dieses Souveränitätsgrads herangezogen. Dabei wird auf die aktuellsten verfügbaren Daten von 2013 zurückgegriffen (vgl. Tabelle 5).20 Interdependenz-Souveränität
Diese Dimension bezieht sich auf die Fähigkeit des Staates zur effektiven Kontrolle über seine Grenzen. Angesichts zunehmender grenzüberschreitender Austauschprozesse gewinnt dieser Faktor an Bedeutung für den jeweiligen 18 Vgl. Andrei Melville (Hrsg.), Political Atlas of the Modern World. An Experiment in Multidimensional Statistical Analysis of the Political Systems of Modern States, Moskau 2009, insb. S. 50-65. 19 Wie alle Versuche, souveräne Staatlichkeit in aggregierter Form abzubilden, weist auch der Stateness Index Schwächen auf. Andere Indizes wie die Worldwide-Governance-Indikatoren der Weltbank (Indikatorengruppe „Government Effectiveness“) oder die Daten der Economist Intelligence Unit (Indikatorengruppe „Functioning of Government“) sind allerdings noch weniger aussagekräftig im Hinblick auf die beiden hier interessierenden Kategorien effektive Gebietsherrschaft und faktische Autonomie. 20 Vgl. Human Development Report 2014, Sustaining Human Progress. Reducing Vulnerabilities and Building Resilience, New York 2014.
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Souveränitätsgrad. Allerdings sind Staaten unterschiedlich stark globalisiert. Dabei kann vermutet werden, dass eine effektive Grenzkontrolle für stärker globalisierte Staaten aufwendiger sein dürfte als für weniger globalisierte. Zu messen sind hier also zwei Aspekte: zum einen das Ausmaß der Globalisierung, zum anderen die effektive Kontrolle der Staatsgrenzen. Der nach der Konjunkturforschungsstelle (KOF) an der ETH Zürich benannte KOF Index of Globalization ist ein Maß für die Messung des Globalisierungsgrads eines Staates. Er aggregiert Daten aus drei Kategorien (politische, ökonomische und soziale Globalisierung). Für jede Kategorie wird eine Rangliste erstellt, darüber hinaus präsentiert der Index eine Gesamtrangliste, die zuletzt 2014 erschien (vgl. Tabelle 6).21 Für den zweiten Aspekt, die effektive Kontrolle von Staatsgrenzen, liegen soweit ersichtlich keine international flächendeckend vergleichbaren Daten vor. Daher muss auf eine Hilfskonstruktion zurückgegriffen werden, um diesen Faktor messbar zu machen. Der oben bereits eingeführte Stateness Index beansprucht, effektive Territorialkontrolle abzubilden. Es erscheint hinreichend plausibel, ihn als Referenzindex für Grenzkontrolle heranzuziehen. Internationale rechtliche Souveränität
Die internationale Anerkennung eines Staates scheint auf den ersten Blick – und im Unterschied zu anderen Dimensionen der Souveränität – nicht skalierbar, sondern nur dichotom messbar zu sein. Insofern entzieht sich diese Dimension der Darstellung in einer Rangliste. Bei näherer Betrachtung fällt indes auf, dass demokratische Standards – wie eine Verfassung, die freie und faire Wahlen vorsieht, Minderheitenrechte oder politische und bürgerliche Freiheitsrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit – seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einem wichtigen Element geworden sind, wenn es um die Anerkennung neuer Staaten geht. Das galt für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens wie auch für Eritrea oder Südsudan.22 Dass Demokratie faktisch zu einem notwendigen (wenn auch nicht hinreichenden) Kriterium für internationale Anerkennung geworden ist, kann die demokratiepolitischen Bemühungen in danach strebenden Quasi-Staaten wie Somaliland stabilisieren.23 Das bedeutet jedoch nicht, dass Staaten, die die Anerkennungshürde genommen haben, tatsächlich dauerhaft demokratisch 21 Vgl. Detailed Index Information (2014), Detailed Ranking, (abgerufen am 10.9.2014), auf der Grundlage von Axel Dreher, Does Globalization Affect Growth? Evidence From a New Index of Globalization, in: Applied Economics, Nr. 10, 2006, S. 1091-1110. 22 Vgl. Ehm, Demokratiegebot, a.a.O. (Anm. 3), S. 117-127. 23 Vgl. Tansey, Does Democracy Need Sovereignty?, a.a.O. (Anm. 15). Caspersen, Unrecognized States, a.a.O. (Anm. 15), S. 68-74, zeigt jedoch, dass manche Regime demokratische Standards eher als Hürde auf dem Weg zur internationalen Anerkennung wahrnehmen.
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regiert würden. In vielen der seit dem Ende des Ost-West-Konflikts neu anerkannten Staaten konnte sich eine demokratische Praxis nicht durchsetzen. Zudem mangelt es an einer kontinuierlichen Beobachtung der Regimequalität durch die Staatengemeinschaft.24 Äußere oder Westfälische Souveränität
Das Herz dieser Dimension bildet das Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Historisch betrachtet ist es ein neues Prinzip internationaler Politik, das erst mit der Dekolonisierung nach 1945 universell wurde. Für die neu entstandenen Staaten, die in vielen Fällen ihre Selbstbestimmung gewaltsam gegen die Kolonialmächte durchsetzen mussten, war dies der wichtigste Bestandteil ihrer Souveränität. In der internationalen Praxis interagieren die Staaten gleichwohl ständig miteinander. Die Intensität dieser Interaktionen hat dabei stetig zugenommen. Mit steigender globaler Interdependenz wird es sowohl konzeptionell wie auch empirisch schwieriger, an absoluter äußerer Souveränität festzuhalten. Um den Grad äußerer Souveränität messen zu können, wären zwei Datensätze notwendig: zum einen Angaben über die Anzahl der Interventionen eines Staates in die Angelegenheiten eines anderen Staates, und zum anderen Angaben über den jeweiligen Erfolg dieser Interventionen. Soweit ersichtlich, sind diese Daten nicht verfügbar. Daher wird erneut der Stateness Index als Referenz für diese Souveränitätsdimension herangezogen (vgl. Tabelle 4). Index der Regimequalität Um Unterschiede zwischen Demokratien und Autokratien feststellen zu können, ist die Klassifizierung der untersuchten Staaten anhand ihrer Regimequalität notwendig. Diese wird hier über den Kombinierten Index der Demokratie (KID) von Hans-Joachim Lauth erfasst. Der KID ist ein Meta-Index, der Indikatorengruppen aus drei bekannten Demokratieindizes miteinander kombiniert. Dabei handelt es sich um Freedom House, die Worldwide Governance Indicators der Weltbank und den Polity-Datensatz.25 Hier wird auf die aktuellsten verfügbaren Daten des KID von 2012 zurückgegriffen. Die folgenden Tabellen bilden jeweils die obersten und untersten 25 Staaten ab, für die die verwendeten Ranglisten Daten aufweisen. Nicht berücksichtigt wurden Staaten mit weniger als einer Million Einwohner, um Verzerrungseffekte zu minimieren. 24 Die EU beobachtet hingegen die demokratische Qualität ihrer Mitgliedstaaten durchaus und befasst sich ggf. mit Fehlentwicklungen. Vgl. Ehm, Demokratiegebot, a.a.O. (Anm. 3), S. 149-157. 25 Im Einzelnen handelt es sich dabei um die „Political Rights“-Daten von Freedom House, die Daten zu „Rule of Law“ aus den Worldwide Governance Indicators der Weltbank und die DEMOC-Skala aus dem Polity-Datensatz, die Freiheit und Gleichheit abbildet. Vgl. Hans-Joachim Lauth, Datensatz „Kombinierter Index der Demokratie (KID), 1996-2012“, Würzburg 2013, (abgerufen am 10.9.2014).
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Tabelle 4: Innere Souveränität: Grad der Staatlichkeit Oberste 25 Stateness Index 2009
KID 2012
Unterste 25 Stateness Index 2009
KID 2012
10,00
D 8,94
Benin
2,77
DD 6,22
Japan
9,34
D 9,21
Burkina Faso
2,77
A 3,13
Schweiz
9,17
D 9,90
Äthiopien
2,66
A 1,89
Deutschland
8,93
D 9,13
Sudan
2,53
A 0,00
Neuseeland
8,84
D 9,93
Senegal
2,51
DD 6,53
Österreich
8,68
D 9,87
Liberia
2,46
HR 5,45
Frankreich
8,55
D 8,62
Somalia
2,46
A 0,00
Südkorea
8,53
D 7,80
Ruanda
2,43
A 0,00
Brasilien
8,39
DD 6,98
Moldawien
2,37
DD 6,33
Finnland
8,27
D 9,98
Sierra Leone
2,23
DD 6,16
Schweden
8,27
D 9,71
Mazedonien
2,20
DD 6,19
China
8,24
A 0,00
Bolivien
2,02
HR 5,31
Großbritannien
8,19
D 8,68
Tadschikistan
2,01
A 1,69
Australien
8,17
D 9,44
Armenien
1,85
A 4,27
Kanada
8,12
D 9,56
Eritrea
1,78
A 0,00
Niederlande
8,08
D 9,69
Togo
1,69
A 2,26
Argentinien
8,07
DD 6,41
Mauritanien
1,50
A 0,00
Italien
8,06
D 8,01
Georgien
1,37
DD 5,73
Irland
7,99
D 9,35
Dem. Rep. Kongo
1,05
A 2,18
Uruguay
7,92
D 8,59
Guinea-Bissau
1,00
A 1,92
Chile
7,79
D 8,48
Burundi
0,90
A 3,43
Griechenland
7,78
D 7,11
Zentralafrikanische Rep.
0,81
A 1,97
Portugal
7,78
D 8,86
Timor-Leste
0,74
HR 5,10
Belgien
7,69
D 8,86
Kirgistan
0,08
A 4,10
Dänemark
7,63
D 9,37
Tschad
0,00
A 0,00
USA
Legende: Werte jeweils skaliert von Null bis Zehn. Datenquellen: Stateness Index 2009 in: Melville (Hrsg.), Political Atlas, a.a.O., S. 131-134; KID 2012 in: Datensatz KID3D/KID 1996-2012, , Regime-Klassifizierung im KID 2012: D = Demokratie, DD = defekte Demokratie, HR = hybrides Regime, A = Autokratie.26
26 Vgl. Hans-Joachim Lauth, Kombinierter Index der Demokratie (KID) 1996-2012. Erläuterungen zum Datensatz „KID3D/KID 1996-2012“, Würzburg 2014, S. 3, (abgerufen am 10.9.2014).
40
Sind Demokratien souveräner als Autokratien?
Tabelle 5: Innere Souveränität: Governance-Leistungen Oberste 25 Human Development Index 2013
KID 2012
Unterste 25 Human Development Index 2013
Norwegen
0,944
D 9,89
Simbabwe
Australien
0,933
D 9,44
Schweiz
0,917
D 9,90
Niederlande
0,915
USA
KID 2012
0,492
A 2,11
Papua Neuguinea
0,491
A 4,48
Tansania
0,488
A 3,84
D 9,69
Mauretanien
0,487
A 0,00
0,914
D 8,94
Lesotho
0,486
DD 7,17
Deutschland
0,911
D 9,13
Senegal
0,485
DD 6,53
Neuseeland
0,910
D 9,93
Uganda
0,484
A 2,51
Kanada
0,902
D 9,56
Benin
0,476
DD 6,22
Singapur
0,901
A 4,58
Sudan
0,473
A 0,00
Dänemark
0,900
D 9,37
Togo
0,473
A 2,26
Irland
0,899
D 9,35
Gambia
0,441
A 0,00
Schweden
0,898
D 9,71
Äthiopien
0,435
A 1,89
Großbritannien
0,892
D 8,68
Malawi
0,414
HR 5,85
Südkorea
0,891
D 7,80
Liberia
0,412
HR 5,45
Japan
0,890
D 9,21
Guinea-Bissau
0,396
A 1,92
Israel
0,888
D 6,24
Mosambik
0,393
A 4,72
Frankreich
0,884
D 8,62
Guinea
0,392
A 2,84
Österreich
0,881
D 9,87
Burundi
0,389
A 3,43
Belgien
0,881
D 8,86
Burkina Faso
0,388
A 3,13
Finnland
0,879
D 9,98
Eritrea
0,381
A 0,00
Slowenien
0,874
D 9,03
Sierra Leone
0,374
DD 6,16
Italien
0,872
D 8,01
Tschad
0,372
A 0,00
Spanien
0,869
D 7,88
Zentralafrikanische Rep.
0,341
A 1,97
Tschechische Rep.
0,861
D 8,57
Dem. Rep. Kongo
0,338
A 2,18
Griechenland
0,853
D 7,11
Niger
0,337
A 4,76
Legende: Werte skaliert für den HDI 2013 von Null bis Eins, für den KDI 2012 von Null bis Zehn. Datenquellen: Human Development Report 2014, a.a.O., S. 160-163; KID 2012 in: Datensatz KID3D/KID 1996-2012, http://www.politikwissenschaft.uni-wuerzburg.de/fileadmin/06060200/KID/KID3D_KID_1996_2012.xlsx; Regime-Klassifizierung im KID 2012 D = Demokratie, DD = defekte Demokratie, HR = hybrides Regime, A = Autokratie.27
27 Ebd.
Lars Brozus
41
Tabelle 6: Interdependenz-Souveränität: Grad der Globalisierung Oberste 25 KOF Index 2014
KID 2012
Unterste 25 KOF Index 2014
KID 2012
Irland
92,17
D 9,35
Burkina Faso
42,68
Belgien
91,61
A 3,13
D 8,86
Dem. Rep. Kongo
42,05
A 2,18
Niederlande
91,33
D 9,69
Benin
41,79
DD 6,22
Österreich
90,48
D 9,87
Ruanda
41,64
A 0,00
Singapur
88,63
A 4,58
Bangladesh
41,61
A 4,32
Dänemark
87,43
D 9,37
Malawi
41,39
HR 5,85
Schweden
87,39
D 9,71
Iran
41,27
A 0,00
Portugal
87,01
D 8,86
Niger
40,78
A 4,76
Ungarn
85,91
D 8,56
Usbekistan
40,10
A 0,00
Finnland
85,87
D 9,98
Madagascar
39,55
A 2,87
Schweiz
85,74
D 9,90
Nepal
38,70
A 4,12
Kanada
85,63
D 9,56
Tansania
38,39
A 3,84
Spanien
84,66
D 7,88
Turkmenistan
38,32
A 0,00
Tschechische Republik
83,97
D 8,57
Tschad
38,04
A 0,00
Großbritannien
83,72
D 8,68
Timor-Leste
37,94
HR 5,10
Slowakische Republik
83,55
D 8,71
Guinea-Bissau
37,89
A 1,92
Australien
82,93
D 9,44
Äthiopien
36,66
A 1,89
Norwegen
82,83
D 9,89
Zentralafrikanische Rep.
35,62
A 1,97
Frankreich
82,76
D 8,62
Burundi
32,12
A 3,43
Italien
80,31
D 8,01
Myanmar
32,06
A 0,00
Griechenland
80,29
D 7,11
Sudan
31,70
A 0,00
Malaysia
79,55
HR 5,86
Liberia
31,61
HR 5,45
Polen
79,52
D 8,99
Laos
27,07
A 0,00
Deutschland
79,47
D 9,13
Eritrea
27,03
A 0,00
Estland
79,38
D 8,56
Somalia
24,03
A 0,00
Legende: Werte skaliert für den KOF Index 2014 von Null bis 100, für den KID 2012 von Null bis Zehn. Datenquellen: KOF Index of Globalization 2014, a.a.O.; KID 2012 in: Datensatz KID3D/KID 1996-2012, Regime-Klassifizierung im KID 2012 D = Demokratie, DD = defekte Demokratie, HR = hybrides Regime, A = Autokratie.28
28 Ebd.
42
Sind Demokratien souveräner als Autokratien?
Diskussion: Demokratische und autokratische Souveränität In allen hier untersuchten Souveränitäts-Dimensionen schneiden Demokratien besser ab als Autokratien. Demokratien stehen bei der Staatlichkeit ebenso oben wie bei den Governance-Leistungen oder dem Grad der Globalisierung. Umgekehrt finden sich unter den Staaten, die in diesen Dimensionen besonders schlecht abschneiden, praktisch nur Autokratien, gelegentlich hybride Regime und einige defekte Demokratien. Dazu kommt die Beobachtung, dass in der Dimension Internationale rechtliche Souveränität die Anerkennung neuer Staaten zunehmend an demokratische Standards geknüpft wird, die zumindest formal vorliegen müssen. Lässt sich also konstatieren, dass Demokratien souveräner als Autokratien sind – und falls ja, was würde das bedeuten? In strikt empirischer Hinsicht muss die Frage nach unterschiedlichen Souveränitätsgraden sicherlich zugunsten der Demokratien beantwortet werden. Auch wenn die aus Platzgründen in den Tabellen nicht aufgeführten Staaten hinzugezogen werden, ändert sich das Bild nicht wesentlich. Was dieser Befund bedeutet, ist hingegen weniger eindeutig. Wie gesehen unterscheidet die konventionelle Definition von Souveränität bislang nicht nach der Regimequalität eines anerkannten Staates. Eine politisch mehrheitsfähige Weiterentwicklung dieser Definition, die demokratisches Regieren privilegieren würde, ist nicht in Sicht.29 Festzuhalten bleiben jedoch die klaren Unterschiede zwischen Demokratien und Autokratien im Hinblick auf die jeweils bestehenden Souveränitätsgrade. Daneben verdeutlicht die Untersuchung, dass es nach wie vor erhebliche Datenlücken gibt, die die Auseinandersetzung mit zentralen Konzepten internationaler Politik unter Globalisierungsbedingungen erschweren.
29 Vereinzelt finden sich in der völkerrechtlichen Literatur allerdings Studien, die ein Demokratiegebot bejahen. Sehr weit geht Ehm, der ein nach Regimequalität abgestuftes Interventionsverbot sieht: „In Hinblick auf das Interventionsverbot müssen undemokratische Staaten jedoch eine Anpassung des Völkerrechts hinnehmen. Insoweit muss fortan gelten, dass das Interventionsverbot nur noch geringeren Schutz als bisher gegenüber Einwirkungen von außen bietet. Genauer betrachtet heißt dies, dass undemokratische Staaten stärker einschneidende, auf die Förderung der Demokratie ausgerichtete Maßnahmen über sich ergehen lassen müssen. Dies betrifft jedoch nur Maßnahmen unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt.“ Vgl. Ehm, Demokratiegebot, a.a.O. (Anm. 3), S. 312.
43
Stabilität autokratischer Herrschaft Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel1
Warum stürzen manche Despoten, während sich andere an der Macht halten können? Auf welchen Säulen basiert nichtdemokratische Herrschaft? Was sind die Überlebensstrategien unterschiedlicher Autokratieformen? Dies sind die „großen Fragen“2 der Politikwissenschaft, auf die die Forschung mannigfaltige Antworten gegeben hat. Die Synthese dieser Erklärungsansätze ist Ziel unseres Beitrags. Wir stellen einen integrativen theoretischen Rahmen vor, der die vergleichende Analyse autokratischer Regime über Zeit und Raum erleichtern soll. Dieser Ansatz wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Stabilität autokratischer Regime am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) entwickelt.3 Wir präsentieren zudem die ersten empirischen Ergebnisse. Bei der Analyse wurden Daten zu allen autokratischen Regimen seit der dritten Welle der Demokratisierung in den 1970er Jahren gesammelt und statistisch ausgewertet. Bisherige Forschungsansätze Klassische Ansätze der modernen Politikwissenschaft haben sich in den 1950er und 1960er Jahren auf die faschistische und stalinistische Erfahrung konzentriert und diese – nicht unproblematisch – unter dem Begriff des Totalitarismus gefasst. Hannah Arendt hat in ihrer großen Totalitarismusstudie auf die her1
2 3
Wir präsentieren hier Ergebnisse eines von der DFG geförderten Projekts zu „Critical Junctures and Survival of Dictatorships. Explaining the Stability of Autocratic Regimes“, das seit 2010 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) angesiedelt ist. Das Projektteam besteht neben den beiden Autoren dieses Beitrags aus Christoph Stefes, Dag Tanneberg sowie Alexander Schmotz. Vgl. Barbara Geddes, Paradigms and Sand Castles. Theory Building and Research Design in Comparative Politics, Ann Arbor 2003. Vgl. Johannes Gerschewski, Wolfgang Merkel, Alexander Schmotz, Christoph Stefes, Dag Tanneberg, Warum überleben Diktaturen?, in: Steffen Kailitz, Patrick Köllner (Hrsg.), Autokratien im Vergleich, PVS Sonderheft 47, Baden-Baden 2013; Johannes Gerschewski, The Three Pillars of Stability: Legitimation, Repression, and Co-optation in Autocratic Regimes, in: Democratization, 20 (2013) 1.
44
Stabilität autokratischer Herrschaft
vorgehobene Rolle von Ideologie und Terror hingewiesen, die den politischen Handlungsraum zerstöre. Carl Joachim Friedrich hat diese beiden Punkte in seinem makrostrukturalistischen Ansatz um einen Merkmalskatalog erweitert, der neben Terror, Massenpartei und Führerkult auch die zentrale Steuerung der Ökonomie umfasste.4 Das Totalitarismuskonzept wurde in den 1960er Jahren politisiert und verlor an wissenschaftlicher Bedeutung. Mit der Hinwendung zu außereuropäischen Diktaturen, speziell in Nordafrika und Nahost, gewann in den 1970er Jahren vor allem die These von den Rentierstaaten an Prominenz. Danach basiere autokratische Herrschaft besonders auf Einnahmen aus Öl- und Mineralressourcen. Andere konkurrierende Erklärungsansätze haben sich auf die Bürokratisierungstendenzen konzentriert, die vor allem in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen zu beobachten waren, denen die „Theorie“ politische und wirtschaftliche Modernisierungsambitionen unterstellte. Wiederum andere Ansätze betonten die stabilisierende Wirkung von informellen patrimonialen Netzwerken zur Herrschaftssicherung.5 Schließlich haben jüngere Erklärungsansätze intraelitäre Anreizstrukturen spieltheoretisch modelliert und auf das „Moral-hazard“-Problem potenziell desertierender Fraktionen innerhalb des autoritären Machtzentrums hingewiesen. Zunehmend wurden in den vergangenen Jahren ebenso die Institutionalisierungsprozesse von demokratisch anmutenden Institutionen wie Parlamenten, Wahlen und Parteien in den Blick genommen und deren Stabilisierungspotenzial für Konflikte unter den autokratischen Eliten sowie zwischen den Machthabern und ihren Untertanen erforscht.6 Die Stabilität autokratischer Herrschaft Vor dem Hintergrund der räumlich, zeitlich und epistemologisch divergierenden Erklärungsansätze identifizieren wir drei Faktoren, die allen Autokratien strukturell eigen sind. Wir argumentieren, dass autokratische Herrschaft auf drei Säulen basiert – Legitimität, Repression und Kooptation. Die Stabilität oder Instabilität dieser drei Säulen entscheidet über Sein oder Nicht-Sein, Überleben oder Kollaps von autokratischen Regimen. Sie sind untereinander verbunden, können sich stabilisieren, aber auch wechselseitig mit dem Virus der Instabilität infizieren. Bevor wir die einzelnen Bedingungen für die Stabilität autokratischer Herrschaft detaillierter ausführen, wenden wir uns in einem ersten Schritt der Frage zu, was eine stabile Autokratie eigentlich ausmacht. 4 5 6
Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München [1951] 2005; Carl Joachim Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957. Vgl. Hazem Beblawi, The Rentier State in the Arab World, in: Hazem Beblawi, Giacomo Luciani (Hrsg.), The Rentier State, Kent 1987; Guillermo O’Donnell, Modernization and Bureaucratic-Authoritarianism. Studies in South American Politics, Berkeley 1979. Vgl. Milan W. Svolik, The Politics of Authoritarian Rule, New York 2012; Jennifer Gandhi, Political Institutions under Dictatorships, Cambridge 2008.
Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel
45
Der Begriff der Stabilität erscheint intuitiv verständlich. Er umfasst jedoch zumindest zwei Dimensionen, die voneinander getrennt werden müssen. Zum einen ist zu klären, worauf sich der Begriff der Stabilität bezieht. Auf das politische System in toto, auf die autokratische Herrschaftsform als einem Set an politischen Regeln und Normen, auf die engere Herrschaftskoalition oder gar nur auf die Person des Diktators? Je nach Bezugsrahmen unterscheidet sich dabei die empirische Stabilitätsaussage. Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich vor allem auf die Regimeebene. Als empirisch gesichert gilt derzeit, dass dabei Militärregime am kurzlebigsten sind. Ihre durchschnittliche Lebensdauer beträgt für Autokratien seit 1946 lediglich 8,8 Jahre. Personalistisch ausgerichtete Diktaturen hingegen überdauern schon 15,1 Jahre, während Ein-Parteien-Regime mit 23 Jahren am längsten überleben. Erklärt wird dieser Unterschied mit unterschiedlichen Möglichkeiten zum Konfliktaustrag im Kern der Regimeeliten und damit den inneren Verletzlichkeiten gegenüber Absplitterungen vom herrschenden Regimeblock. Denn anders als in Militärjuntas oder gar Führerdiktaturen bietet ein Ein-ParteienRegime institutionalisierte Verfahren an, wie die Nachfolgefrage innerhalb der Diktatur gelöst werden kann, eine der heikelsten Momente in der Stabilisierung autokratischer Herrschaft.7 Der Begriff der Stabilität muss jedoch auch inhaltlich genauer ausdifferenziert werden. Politische Stabilität kann einerseits als Abwesenheit von Streiks, Tumulten, Unruhen oder politischer Gewalt gefasst werden. Treten diese dann doch auf, verweist dies zumeist auf eine fragile Staatlichkeit. Andererseits kann politische Stabilität die Beibehaltung eines Status quo meinen. Institutionen und Strukturen auf der Polity-Ebene verändern sich dann nicht. Wir favorisieren in diesem Beitrag die zweite Deutung und differenzieren weiter in ein statisches und dynamisches Stabilitätsverständnis. Während die oben erwähnten Ansätze Stabilität mit Dauerhaftigkeit oder Persistenz des Regimes gleichsetzen und eine stabile Autokratie sich vor allem durch Langlebigkeit auszeichnet, heben dynamischere Grundgedanken eher auf die Lern- und Adaptionsfähigkeit ab.8 Stabile Autokratien vermögen es daher, sich stets verändernden Umweltbedingungen adäquat anzupassen. Dem chinesischen „Modell“ gilt gegenwärtig sicherlich die größte wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit. Mit der gängigen Definition des Autokratiebegriffs haben die Herausgeber dieses Bandes Autokratien von Demokratien unterschieden. Die von uns verwendete Autokratiedefinition umfasst dabei auch die zunehmende Zahl von Autokratien, die mit einem Adjektiv versehen, als „weiche“, „elektorale“ oder 7 8
Vgl. Barbara Geddes, What Do We Know About Democratization After Twenty Years, in: Annual Review of Political Science, 2 (1999); Axel Hadenius, Jan Teorell, Pathways from Authoritarianism, in: Journal of Democracy, 18 (2007) 1. Vgl. Eberhard Sandschneider, Stabilität und Transformation politischer Systeme. Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Opladen 1995.
46
Stabilität autokratischer Herrschaft
„kompetitive“ Autokratien bezeichnet werden können.9 Im Folgenden versuchen wir kurz zu skizzieren, was die Teilblöcke einer eigenständigen Theorie sein könnten. Wir nähern uns einer solchen noch ausstehenden Autokratietheorie vom Fluchtpunkt autokratischer Stabilität und rekurrieren dabei auf die drei Säulen diktatorischer Herrschaft, die wir im Anschluss an Abbildung 2 näher darstellen wollen. Abbildung 2: Die drei Säulen der Stabilität autokratischer Regime
Stabilität autokratischer Regime
Legitimation
Repression
Kooptation
Rechtmäßigkeit
Furcht
Nutzen
Bevölkerung
Opposition
Eliten
Quelle: Eigene Darstellung.
Säule I: Legitimation
Für Hannah Arendt und Carl Joachim Friedrich stand die Frage der Ideologie im Vordergrund ihrer Diktaturbeschreibungen. Die heutige Forschung hat diesen Aspekt – zumeist aufgrund der komplizierten Mess- und Vergleichbarkeit – vernachlässigt. Die angelsächsische Forschung betont stärker die Stabilisierungsfunktion von Repression und Kooptation. Die Argumentation 9
Vgl. Gordon P. Means, Soft Authoritarianism in Malaysia and Singapore, in: Larry Diamond, Marc F. Plattner (Hrsg.), Democracy in East Asia, Baltimore 1998; Andreas Schedler, The Politics of Uncertainty. Sustaining and Subverting Electoral Authoritarianism, Oxford 2013; Steven Levitsky, Lucan Way, Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes after the Cold War, New York 2010.
Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel
47
dieser Forschung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Autokratien seien essenziell Regime, die auf der reinen Durchsetzung von Macht beruhen. Sie können daher entweder einer legitimatorischen Grundlage entbehren oder eine „legitimierte Autokratie“ stelle ein Oxymoron wie das berühmte „hölzerne Eisen“ dar. Wir teilen diese Kritik nicht. Stattdessen folgen wir der klassischen Weber’schen Differenzierung zwischen Macht und Herrschaft und gehen davon aus, dass Autokratien wie Demokratien eine Rechtfertigung ihrer Herrschaft ausbilden müssen, um längerfristig stabil zu sein. Der Unterschied zwischen demokratischer und autokratischer Herrschaft liegt nicht in der Differenz von Macht und Herrschaft, sondern vielmehr zwischen den unterschiedlichen Legitimationsquellen der Herrschaft. Diese Quellen unterscheiden sich und reichen für das autokratische Spektrum von elaborierten politischen Ideologien mit eschatologischen Heilsversprechen und Zukunftsentwürfen wie der MarxismusLeninismus, über politisierte Vorstellungen zu Religion, Rasse oder Ethnizität bis hin zu radikalisiertem Nationalismus und dem Versprechen von Law and Order. Diese ideellen und ideologischen Legitimationsquellen schaffen es zumindest zeitweise, normative Zustimmung unter den Herrschaftsunterworfenen zu generieren. Meist geschieht das am Anfang autokratischer Herrschaft, bis der alltägliche Vergleich der Realität mit dem Legitimationsversprechen, Letztere zu erodieren, beginnt. Waren bis zum Ende des Kalten Krieges noch faschistische und kommunistische Ideologien weltweit verbreitet, stellen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Varianten eines fundamentalistisch-radikalisierten politischen Islams sowie autokratisch-kapitalistische Modernisierungsvorstellungen, die mit großen ökonomischen Erfolgen einhergehen, die größten Legitimationsreservoirs autokratischer Herrschaft dar. Vor allem autokratische Erfolgsmodelle wie die Entwicklungsdiktaturen in Ostasien, insbesondere der Aufstieg Chinas zu einer globalen Wirtschaftsmacht, sowie die Scheichtümer der nahöstlichen Ölstaaten legen nahe, dass sich Autokratien neben einer ideellen Legitimationsbasis ebenfalls via wirtschaftlicher Leistung (China, Singapur) oder Wohlstand (Rentenökonomien in Nahost) legitimieren. In der Debatte um Rentierstaaten wurde darauf hingewiesen, dass diese vor allem „Allokationsstaaten“ und „zirkuläre Volkswirtschaften“ seien, die lediglich eine Ausgabenpolitik benötigen würden.10 Aufgrund ihrer enormen Öl- und Mineralrenten befänden sich diese Volkswirtschaften weder unter einem Produktions- und Wettbewerbsdruck, noch müssten sie ihre Bevölkerung besteuern. Der Unabhängigkeitsruf der neuenglischen Siedler dreht sich dabei um: „No representation without taxa10 Vgl. Giacomo Luciani, Allocation vs. Production States. A Theoretical Framework, in: Hazem Beblawi, Giacomo Luciani (Hrsg.), The Rentier State, Kent 1987; Michel Chatelus, Policies for Development. Attitudes Towards Industry and Services, in: Hazem Beblawi, Giacomo Luciani (Hrsg.), The Rentier State, Kent 1987.
48
Stabilität autokratischer Herrschaft
tion“. Wir besteuern euch nicht, damit habt ihr, das Volk, auch weder Recht noch Anreiz, eine demokratische Repräsentation zu verlangen. Der Nexus zwischen Performanz und Stabilität wurde aus einem anderen theoretischen Blickwinkel auch für die lateinamerikanischen Militärdiktaturen gezogen. Galt lange der Modernisierungsautomatismus, nach dem sich Länder ab dem Erreichen einer zumeist mit makroökonomischen Indikatoren gemessenen Schwelle demokratisieren, war es vor allem O’Donnell, der in seinen Arbeiten darauf verwies, dass Modernisierung auch Autokratisierung nach sich ziehen kann. Wenn eine international ausgerichtete Elite im Zuge einer Modernisierungsverlangsamung und wirtschaftlicher Krisen Chaos und politisches Missmanagement befürchte, bringe dies eine technokratisch und managementorientierte Putschkoalition hervor, die sich vor allem mit dem Versprechen nach Beibehaltung von politischer Ordnung und wirtschaftlichem Fortschritt zu legitimieren sucht.11 So unterschiedlich die beiden Ansätze der Modernisierungs- und Rententheorie in ihrer Erklärung und empirischen Ausformung sind, sie heben doch beide gemeinsam auf den herrschaftsstabilisierenden Imperativ der leistungsbezogenen Legitimation von Autokratien ab. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns angebracht, analytisch zwischen einer ideellen und einer performativen Komponente in der jeweiligen autokratischen Legitimationsformel zu unterscheiden. In beiden Fällen ist das Unterstützungsmotiv der Herrschaftsunterworfenen eine Zustimmung zum Regime – entweder aufgrund einer „diffusen“ Übereinstimmung mit den ideologischen Wertvorstellungen des Regimes oder der Erfüllung eines autokratischen Gesellschaftsvertrags, in dem das Regime „liefert“ – wirtschaftlich, sozial oder sicherheitspolitisch – und im Gegenzug dafür Zustimmung oder zumindest politische Passivität der Bürger erhält.12 Damit ist die Legitimationssäule an der Gesamtbevölkerung als Zielgruppe ausgerichtet und versucht, gesamtgesellschaftlich politische Unterstützung zu generieren. Das Destabilisierungspotenzial innerhalb dieser Säule besteht im Umkehrschluss in einem Wandel der normativen Basis, die in Form einer langanhaltenden Erosion oder einem schockartigen Absturz vonstatten gehen kann, oder aber durch entsprechende Performanzeinbußen, die den autokratischen Vertrag zwischen Herrschenden und Beherrschten untergraben und zu politischem Protest führen. Die Aufstände während des Arabischen Frühlings sind hierfür ein illustrierendes Beispiel.
11 Vgl. Guillermo O’Donnell, Modernization and Bureaucratic-Authoritarianism. Studies in South American Politics, Berkeley 1979; David Collier, Overview of the Bureaucratic-Authoritarian Model, in: David Collier (Hrsg.), The New Authoritarianism in Latin America, Princeton 1979. 12 Wir lehnen uns hier stark an das systemtheoretische Konzept der „diffusen“ und „spezifischen“ Unterstützung von Easton an: vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York 1965; David Easton, A Re-assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science, 5 (1975) 4.
Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel
49
Säule II: Repression
Zielt die Legitimation auf die Gesamtbevölkerung ab, ist der Repressionsapparat vor allem gegen die (potenzielle) Opposition gerichtet. Bevor politische Forderungen akut und in den Systemprozess eingespeist werden, sollen sie schon im Keim erstickt werden.13 Dies ist die effizienteste und geräuschloseste Art der Repression und ähnelt dem dritten Gesicht der Macht, wie sie Lukes beschrieben hat.14 Wenn eine Forderung hingegen schon politisiert wurde, dann verfügen autokratische Regime über unterschiedliche Instrumente, diese Forderung zurückzudrängen. Somit gibt es zwei Angriffspunkte im politischen System: die präventive Repression im vorpolitischen Raum und die reaktive Repression im politisierten Raum. Repression umfasst dabei nicht nur die Ausübung, sondern auch die Androhung von Gewalt. Sie ist zumeist auf das territoriale Staatsgebiet begrenzt.15 Zwei zusätzliche Einschränkungen haben wir in unserer empirischen Analyse eingeführt. Wir betrachten lediglich regierungs- und staatsnahe Akteure und beziehen nur die Verletzung der sogenannten ersten Generation der Menschenrechte in die Analyse mit ein.16 Wir unterscheiden in unserem Ansatz grundsätzlich zwischen harter und weicher Repression. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die einzelnen Rechte, die konkret verletzt werden.17 Während weiche Repression politische Teilhabe- und Bürgerrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs-, Religions- und Bewegungsfreiheit umfassen, besteht harte Repression in der Verletzung persönlicher Integritätsrechte. Indikatoren für Letzteres wären Ermordungen, „Verschwindenlassen“ von Oppositionellen, das vor allem in den argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen zu trauriger Berühmtheit gelangte, aber auch Inhaftierung und Folter. Säule III: Kooptation
Die Kooptationssäule ist die dritte stabilisierende Säule autokratischer Regime. Kooptation zielt auf strategisch wichtige Eliten ab, die an das Regime gebunden werden sollen, bevor diese ihre Macht gegen das politische Regime nut13 Systemtheoretisch gesprochen versucht die Repression zunächst, die Konversion von präpolitischen „wants“ in politisch relevante „demands“ zu verhindern. Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, a.a.O. (Anm.12), S. 71-93. 14 Vgl. Steven Lukes, Power. A Radical View, London 1974. 15 Vgl. Christian Davenport, State Repression and Political Order, in: Annual Review of Political Science, 10 (2007). 16 Somit werden nichtregierungsnahe Akteure wie Clans ebenso nicht betrachtet wie die zweite und dritte Generation der Menschenrechte, die ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte sowie Umweltrechte umfassen. 17 Eine ähnliche Unterscheidung machen Levitsky und Way. Sie unterscheiden zwischen hoher und geringer Intensität von Repression: vgl. Steven Levitsky, Lucan Way, Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes after the Cold War, New York 2010, S. 56-58.
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zen. Während die Legitimation also Unterstützung innerhalb der Bevölkerung generieren und die Repression die Oppositionsforderungen unterdrücken soll, richtet sich die Kooptation an ressourcenreiche gesellschaftliche Eliten aus Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. (Potenzielle) Gefahren sollen so kompensiert werden.18 Wir unterscheiden sechs solcher konfliktfähiger Gruppen, deren Destabilisierungspotenzial neutralisiert werden muss, um einen intraelitären Zusammenhalt zu erreichen.19 Potenzielle Gefahren gehen dabei von Militär, Kapital, Arbeit, Partei, ethnischen Gruppen und den Landbesitzern aus, deren Interessen entweder über materielle Anreize oder politische Inklusion befriedigt werden müssen. Mit dieser dritten Säule knüpfen wir an die klassische Transitionsforschung an. Bereits in den 1980er Jahren wurde darauf hingewiesen, dass das Aufspalten von Hard- und Softlinern innerhalb der Regimeelite als wichtigster Auslöser von Regimezusammenbrüchen gilt.20 In ähnlicher Weise hat die jüngere Forschung ebenso gezeigt, dass Kohäsion, zumindest aber eine neutralisierende Stillhaltung der relevanten Eliten, von herausgehobener Bedeutung für das Überleben von autokratischen Regimen ist. Auch in Autokratien muss an der Spitze Macht glaubwürdig geteilt werden.21 Das größte Destabilisierungspotenzial stammt vor dem Hintergrund einer solchen Konzeptualisierung von Kooptation aus einer zunehmenden Unfähigkeit des autokratischen Regimes, diese Gefahren zu kompensieren. Der Verlust von ökonomischen Renten oder Brüche in den Klientelismusbeziehungen erschweren die Anbindung an das Regime. Sowohl die politische Inklusion via Ämterpatronage in Partei oder Parlament als auch das „Einkaufen“ von Loyalität durch das Gewähren materieller Vorteile und Privilegien werden damit schwieriger.
18 Vgl. Alexander Schmotz, Vulnerability and Compensation. Constructing an Index of Cooptation in Autocratic Regimes, Manuskript 2014. 19 Vgl. Gunter Schubert, Rainer Tetzlaff, Werner Vennewald, Demokratisierung und politischer Wandel. Theorie und Anwendung des Konzeptes der strategischen und konfliktfähigen Gruppen (SKOG), Münster 1994. 20 Vgl. Guillermo O’Donnell, Philippe C. Schmitter, Transitions from Authoritarian Rule. Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, Baltimore 1986. 21 Vgl. Jennifer Gandhi, Adam Przeworski, Authoritarian Institutions and the Survival of Autocrats, in: Comparative Political Studies, 40 (2007) 11; Beatriz Magaloni, Credible Power-Sharing and the Longevity of Authoritarian Rule, in: Comparative Political Studies, 41 (2008) 4/5; Milan W. Svolik, Power Sharing and Leadership Dynamics in Authoritarian Regimes, in: American Journal of Political Science, 53 (2009) 2.
Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel
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Tabelle 7: Drei Säulen autokratischer Stabilität Legitimation
Repression
Kooptation
Diffuse, ideelle Legitimation und spezifische, performanzorientierte Legitimation
Harte und weiche Repression
Kompensation von Gefahrenpotenzial von konfliktfähigen Eliten
Ganze Bevölkerung
(Potenzielle) Opposition
Elite
Unterstützungsmotiv
Rechtmäßigkeitsglaube
Furcht
Nutzen
(Systemtheoretische) Funktion
Generierung von Unterstützung
Unterdrückung von politischen Forderungen
Intraelitäre Kohäsion
Ausprägungen
Zielgruppe
Quelle: Eigene Darstellung.
Erste empirische Ergebnisse Unser Drei-Säulen-Modell erfasst die wichtigsten Stabilisierungsfunktionen von autokratischen Regimen. Legitimation versucht politische Unterstützung innerhalb der Bevölkerung zu generieren, Repression die politischen Forderungen an das System zu kontrollieren und Kooptation die Kohäsion unter den Eliten zu sichern. Diese drei Funktionen haben wir mithilfe einer Vielzahl an (Proxy-) Indikatoren gemessen.22 Unser Datensatz umfasst dabei alle Autokratien weltweit von 1946 bis 2008. Anhand einer Survival-Analyse, die die Überlebenswahrscheinlichkeit eines autokratischen Regimes schätzt, zeigt sich dabei folgendes Bild. Legitimation,23 Repression und Kooptation haben in der Tat einen unabhängigen positiven Effekt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit eines autokratischen Regimes.24 In der empirischen Analyse zeigt sich, dass dabei die weiche Repression den stärksten Effekt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit hat und statistisch hochsignifikant ist. Wie oben erwähnt, ist der Begriff der Stabilität jedoch vielschichtig. Er kann sich auf mehrere Ebenen beziehen: das politische 22 Im Folgenden präsentieren wir erste bislang unveröffentlichte Projektergebnisse, die gerade zu einer gemeinsamen Buchpublikation zusammengetragen werden. Vgl. vor allem auch Alexander Schmotz, The Survival of Dictatorships. An Event History Analysis, Manuskript 2014. 23 Aus Gründen der Messbarkeit haben auch wir in unserer Analyse mit hohen Fallzahlen auf die diffuse, ideelle Legitimation verzichtet und uns auf die spezifische, performanzorientierte Legitimation konzentriert. 24 In der statistischen Analyse verwenden wir dabei das oben diskutierte Durabilitätsverständnis von Stabilität.
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Stabilität autokratischer Herrschaft
Regime, die Herrschaftskoalition oder nur den Diktator selbst. Der Effekt von weicher Repression zeigt sich entlang aller dieser drei Stabilitätsebenen. Am bedeutendsten ist er dabei für das Regime insgesamt bzw. seine Demokratisierungswahrscheinlichkeit. Ein Anstieg der weichen Repression um einen Indexpunkt auf einer Skala von 0 bis 10 entspricht dabei einer Verringerung der Demokratisierungswahrscheinlichkeit um 40 Prozent. Weder die harte Repression, die Performanzlegitimation noch die Kooptation haben einen solch hohen individuellen Effekt auf die Zusammenbruchswahrscheinlichkeit autokratischer Herrschaft. Eine hohe Legitimation qua wirtschaftlicher und sozialer Performanz hat zwar ebenfalls einen negativen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs von Autokratien. Sie ist jedoch kleiner und nur statistisch signifikant bei der Verhinderung des Diktatorensturzes, also nur einer der drei Stabilitätsebenen. Überraschend war das Ergebnis für die Kooptationssäule. Die jüngere Forschung hat sich vor allem auf diesen Aspekt kapriziert und den intraelitären Zusammenhalt in den Vordergrund gerückt. Die älteren makrostrukturellen Ansätze wurden dabei größtenteils von mikrofundierten, spieltheoretisch und akteurszentrierten Studien ersetzt. In unserem Forschungsprojekt haben wir Kooptation als die Neutralisierung und Kompensation von Gefahrenpotenzialen strategisch wichtiger Akteursgruppen konzeptualisiert. Die Analyse aller Autokratien weltweit in den letzten vier Dekaden zeigt, dass der Effekt von Kooptation viel geringer ist als oftmals angenommen. Er hat lediglich einen kleinen positiven Effekt auf die Überlebenswahrscheinlichkeit von Autokratien auf der Ebene des Diktators. Dieser ist jedoch statistisch nicht signifikant. Für die Frage des Überlebens des politischen Systems und der Herrschaftskoalition zeigt sich dieser Effekt jedoch nicht. Den vorsichtigen Schluss, den wir aus diesem Forschungsergebnis ziehen, ist, dass die Wirkung von intraelitärer Kooptation lediglich auf eben diese Elite nachgewiesen werden kann. Ein Diktator kann die Wahrscheinlichkeit seines Abdankens zwar mit erfolgreicher Kooptation (zu einem geringen Teil und nicht signifikant) verringern. Eine erfolgreiche Kooptation senkt jedoch weder das Demokratisierungsrisiko des politischen Systems in toto noch das Risiko des Auseinanderbrechens der Herrschaftskoalition. Schließlich zeigt unsere statistische Analyse, dass harte Repression im Gegensatz zur weichen eher destabilisiert als stabilisiert. Harte Repression wurde von uns definiert als die Verletzung persönlicher Integritätsrechte. Diese Form der Repression scheint in der Frage der Stabilisierung autokratischer Herrschaft im „besten“ Fall zweischneidig, im wahrscheinlichsten Fall jedoch für die Autokratie herrschaftsdestabilisierend. Für alle drei Stabilitätsebenen können wir statistisch zeigen, dass die Ausübung von harter Repression die Überlebenswahrscheinlichkeit des autokratischen Regimes, der Regierungskoalition und des Diktators selbst sinken lässt. Die Erhöhung um
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einen Indexpunkt (wiederum gemessen auf einer Skala von 0 bis 10) erhöht die Demokratisierungswahrscheinlichkeit um 15 Prozent, die Ablösung der Herrschaftskoalition um 12 Prozent und das Abdanken des Diktators ebenfalls um 15 Prozent. Ist der Effekt der weichen Repression der stärkste für die Überlebensfähigkeit autokratischer Herrschaft, zeigt sich, dass die Verwendung von harter Repression sich ins Gegenteil verkehrt. Mit anderen Worten: Wenn ein autokratisches Regime nicht mehr nur politische Teilhaberechte beschneidet, sondern ebenfalls massiv gegen die persönliche Integrität ihrer Bürger vorgeht, schwächt dies das Regime und deutet auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs hin. Konklusion Wir haben argumentiert, dass alle autokratischen Regime in variierender Intensität auf drei Säulen basieren. Diffuse Legitimation wurde von spezifischer unterschieden, harte von weicher Repression abgegrenzt und Kooptation als Neutralisierung von sechs Gefahrenpotenzialen gefasst. Empirisch wurde in diesem Beitrag darauf verwiesen, dass der Begriff der Stabilität ebenfalls einer Schärfung bedarf. Wir haben uns in der empirischen Analyse dabei auf das Persistenzverständnis von Stabilität gestützt. Dies geschah aus forschungspragmatischen Gründen einer erleichterten Messbarkeit für eine große Anzahl von Forschungsfällen. Wir haben jedoch differenziert zwischen drei Stabilitätsebenen: dem politischen System, der Herrschaftskoalition und dem Diktator. Die einzelnen Säulen variieren in ihrer effektiven Stützung des Regimes. Als wichtigster Faktor für die Reduzierung der Zusammenbruchswahrscheinlichkeit hat sich die weiche Repression gezeigt. Über alle drei Stabilitätsebenen ist ihre Wirkung enorm. Die Kooptation hat sich hingegen als nicht so robust herausgestellt wie in der gegenwärtigen Forschung oftmals postuliert. Eine stabilisierende Wirkung ist nur auf ihre eigentliche Zielgruppe begrenzt. Ein Diktator kann zwar seine eigene Machtposition mit einer erfolgreichen Kompensation von Gefahrenpotenzialen sichern, jedoch hat eine erfolgreiche Kooptation keinen ähnlichen Effekt für die Sicherung der Regierungskoalition oder des Systems an sich. Harte Repression, das heißt die Verletzung von persönlichen Integritätsrechten, ist autokratischer Stabilität abträglich. Sie destabilisiert längerfristig. Einzelfälle wie das Massaker auf dem chinesischen Tian‘anmen-Platz 1989 können die statistische Regel nicht desavouieren, machen aber darauf aufmerksam, dass wir statistische Zusammenhänge aufzeigen, die nicht als Voraussage für jeden Einzelfall gelten müssen. Im Gegensatz zur Einschränkung von politischen Freiheiten (weiche Repression) erhöht die Anwendung von Folter, die Inhaftierung, Ermordung und das Verschwindenlassen von Oppositionellen das Risiko des Zusammenbruchs autokratischer Regime. Wenn eine Autokratie stärker auf die Anwendung solcher Instrumente angewiesen ist, ist ihr Ende statistisch gesehen wahrscheinlicher.
II.
Deutschlands Beziehungen zu Autokratien
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Ägypten: Zurück in die Zukunft? Christian Achrainer Offiziell ist die Arabische Republik Ägypten eine semipräsidentielle Demokratie. Faktisch werden Politik und Wirtschaft von einer vom Militär getragenen Elite kontrolliert. Als sich der langjährige Machthaber Hosni Mubarak am 11. Februar 2011 zum Rücktritt gezwungen sah, keimte Hoffnung auf mehr Pluralismus und Partizipation auf. Nach einer Phase der leichten politischen Öffnung scheinen heute die autoritären Verhältnisse am Nil jedoch wieder weitgehend hergestellt. Statt Parteienvielfalt und Meinungsstreit herrscht erneut politische Agonie. Zementiert wurde dies mit der Ende Mai 2014 erfolgten Wahl des ehemaligen Armeechefs Abdel Fattah al-Sisi zum Präsidenten. Gleichwohl lassen sich signifikante Veränderungen zur Mubarak-Zeit ausmachen und der Prozess der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung hat erst begonnen. Die Geschehnisse der vergangenen vier Jahre haben das Land verändert, auch wenn momentan vieles auf Restauration anstatt Transformation hindeutet. Das Militär ist nicht alles: Der komplexe Machtapparat Im Zentrum des Machtapparats steht der Oberste Rat der Streitkräfte. Viele (ehemalige) Militärs nehmen zentrale Posten in der Politik und im öffentlichen Sektor ein. So kamen seit dem Militärputsch 1952 mit Ausnahme des Muslimbruders Mohammed Mursi alle ägyptischen Präsidenten aus der Armee. Kurz nach dem Sturz Mursis ernannte die damalige Übergangsregierung am 13. August 2013 in 19 der 27 ägyptischen Provinzen frühere Generäle zu neuen Gouverneuren.1 Auch dies ist eine seit langem gängige Praxis. Außerdem unterliegen die Streitkräfte keiner zivilen Kontrolle. Gemäß der neuen Verfassung von 2014 wird der Militäretat von einem von Generälen do-
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Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2014: Egypt, (abgerufen am 1.8.2014).
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Ägypten: Zurück in die Zukunft?
minierten Verteidigungsrat bestimmt und anschließend als pauschales Budget dem Parlament präsentiert. Von besonderer Relevanz ist die zunehmend undurchsichtige Rolle der Armee in Politik und Wirtschaft. Dies zeigt sich einerseits darin, dass viele Generäle nach ihrer Pension lukrative Leitungspositionen bei staatlichen Unternehmen, wie der Suez-Kanal-Gesellschaft, den Häfen am Roten Meer oder den Energieunternehmen, übernehmen. Gleichzeitig hat sich das Militär ein eigenes wirtschaftliches Imperium aufgebaut, das Schätzungen zufolge für bis zu 40 Prozent der Wirtschaftsleistung Ägyptens verantwortlich ist. Eine genaue Erhebung ist unmöglich, da die Armee ihre Bücher nicht offenlegen muss. Darüber hinaus genießt sie Steuerfreiheit und kann Wehrpflichtige als preisgünstige Arbeitskräfte einsetzen. Ein präsidiales Dekret von 1997 spricht dem Militär außerdem die Kontrolle über alles Land zu, das noch nicht entwickelt und nicht für Landwirtschaft nutzbar ist. Die entspricht etwa 87 Prozent des Staatsgebiets. Einiges deutet darauf hin, dass sich das Militär in Zukunft noch aktiver in der Wirtschaft einbringen wird. So sollen alleine zwischen September und November 2013 staatliche Infrastrukturprojekte im Volumen von über einer Milliarde Dollar ohne Ausschreibung an das Militär gegangen sein.2 Eine Klassifizierung des Landes als Militärdiktatur greift dennoch zu kurz. Um die Herrschaft zu sichern, ist die Armee auf Unterstützer und Verbündete angewiesen. Hier ist nicht zuletzt die Bürokratie zu nennen, deren rund sechs Millionen Angestellte so etwas wie das Rückgrat des Systems darstellen. Auch verschiedene staatliche Institutionen wie Innenministerium, Polizei und Geheimdienst sind elementare Bestandteile des Regimes. Diese arbeiten eng mit dem Militär zusammen, verfügen aber gleichzeitig über ein relativ hohes Maß an Unabhängigkeit und Gestaltungsmacht. Ähnliches gilt für die Justiz, die sich heute mehr denn je zu weiten Teilen regimenah zeigt und häufig politisch motivierte Urteile fällt. Zum anderen spielte bisher die private Wirtschaftselite eine entscheidende Rolle für den Systemerhalt. Diese begann im Zuge der 2004 unter Premierminister Ahmed Nazif einsetzenden wirtschaftlichen Liberalisierungsund Privatisierungspolitik die Wirtschaft zu dominieren. Sie besteht aus mehreren Hundert Familien und Einzelpersonen, wobei einigen Superreichen eine nochmals herausgehobene Bedeutung zukommt.3 Die Einbindung in 2 3
Vgl. Stephan Roll, Al-Sisis Entwicklungsversionen. Großprojekte und Herrschaftssicherung in Ägypten (SWP-Aktuell 35), Berlin, Mai 2014, S. 3, (abgerufen am 7.8.2014). Das Vermögen der koptischen Sawiris-Familie belief sich 2012 auf rund elf Mrd. Dollar, das der Gebrüder Mansour auf etwa sechs Mrd. Daneben gab es 2011 insgesamt 21 Familien mit einem Vermögen von jeweils über 100 Mio. Dollar und 490 Familien mit jeweils über 30 Mio. Vgl. Stephan Roll, Ägyptens Unternehmerelite nach Mubarak. Machtvoller Akteur zwischen Militär und Muslimbruderschaft (SWP-Studie 14), Berlin, Juli 2013, S. 8, (abgerufen am 7.8.2014).
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den Machtapparat erfolgt auf verschiedenen Wegen. Einige einflussreiche Geschäftsmänner bekleideten unter Mubarak wichtige politische Ämter. So waren beispielsweise Mohammed Mansour oder Mounir Fakhry Abdel Nour Minister und der Stahlunternehmer Ahmed Ezz Vorsitzender des parlamentarischen Haushaltsausschusses. Die meisten Unternehmer nehmen hingegen über indirekte Kanäle und enge persönliche und wirtschaftliche Beziehungen Einfluss. Während der Präsidentschaft Mursis hingegen arbeiteten zahlreiche Geschäftsleute auf den politischen Misserfolg der Muslimbrüder hin. Beispielsweise hielten sie gezielt Investitionskapital zurück oder gründeten und finanzierten konkurrierende Parteien und Wahlkampagnen. Hervorzuheben ist hierbei das Engagement von Naguib Sawiris, der die Partei der Freien Ägypter gründete und die Tamarod-Bewegung finanziell unterstützt, die mit ihrer Unterschriftensammlung maßgeblich zum Sturz Mursis beitrug. Außerdem gehören die meisten nichtstaatlichen Medienanstalten eben jenen reichen Unternehmern.4 Dies führt zu einer Art Selbstzensur und unkritischer Berichterstattung. Die staatlichen Medien wiederum werden unmittelbar kontrolliert, unter anderem durch die politische Ernennung von Chefredakteuren und Herausgebern. Dadurch ergibt sich ein komplexes Gebilde von politisierten Institutionen und Akteuren mit eigenen Partikularinteressen. Auch wenn der heutige Machtapparat auf den ersten Blick dem der Mubarak-Ära sehr ähnlich ist, lassen sich doch einige wichtige Veränderungen feststellen. Allen voran hat eine neue Generation von Generälen um al-Sisi die Führung der Streitkräfte übernommen. Inwiefern deren Vorstellungen sich von der älteren Riege unterscheiden und welche Konsequenzen dies für die Zukunft des Regimes hat, lässt sich bisher kaum beurteilen. In den letzten Monaten kam es aber beispielsweise zu verstärkten Konflikten zwischen Militär und Wirtschaftselite. Diese liegen wohl nicht zuletzt im noch aktiveren wirtschaftlichen Engagement der Generäle begründet, die sich heute vermehrt in Sektoren aktiv zeigen, die bisher von privaten Unternehmern dominiert wurden. Außerdem kann sich das Regime heute nicht mehr auf eine eigene Partei stützen. Bis 2011 wurde das Parlament von der Nationaldemokratischen Partei
4
Hier sind vor allem die Print- und TV-Medien von Mohammed al-Amin, wie das Capital Broadcasting Center (CBC), oder der Medienkonzern von Naguib Sawiris, zu dem unter anderem die Tageszeitung Al-Masry al-Youm und der Fernsehsender ONTV gehören, zu nennen.
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Ägypten: Zurück in die Zukunft?
(NDP) dominiert, die nach Mubaraks Sturz jedoch verboten wurde.5 Trotz dieser Abweichungen und vereinzelter Unstimmigkeiten scheinen momentan sowohl die Militärspitze als auch der weitere Machtapparat im Kampf um den Erhalt der auf Klientelpolitik aufbauenden alten Ordnung weitgehend geschlossen. Ob dies so bleibt und welche Folgen die skizzierten Veränderungen mit sich bringen werden, bleibt abzuwarten. Beispielsweise könnten die Spannungen zwischen Armeeführung und privater Wirtschaftselite durchaus weitreichende Konsequenzen haben. Ebenso möglich ist jedoch, dass es sich eher um ein kurzfristiges Macht- und Konkurrenzgerandel handelt. Legitimationsgrundlagen: Sicherheit und ein alter Gesellschaftsvertrag Es ist naheliegend, dass sich ein vom Militär dominiertes Regime vor allem über Sicherheitsfragen zu legitimieren versucht. Seit dem Sturz Mursis tritt dies deutlich zutage. Es wird propagiert, nur die harte Hand der Generäle könne die Lage stabilisieren. Ohne deren Führung sei die nationale Sicherheit gefährdet. Die Rhetorik zeichnet sich dabei durch eine Schwarz-Weiß-Argumentation aus, wobei die Muslimbruderschaft als Gegenpol und Feindbild dient. Diese bedrohe die ägyptische Nation und versuche den Staat zu unterwandern. Sämtliche Muslimbrüder werden pauschal als Terroristen bezeichnet. Getreu dem Motto „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ werden zudem alle säkularen Kritiker des Militärs als Feinde Ägyptens dargestellt.6 Die Medien sorgen für die flächendeckende Verbreitung dieses manichäischen Weltbilds. Auf diese Weise versucht das Regime ein Wir-Gefühl zu erzeugen, um seine Herrschaft neu zu legitimieren und auf eine breite gesellschaftliche Basis zu stellen. Das Vorgehen wird dadurch begünstigt, dass das Militär von vielen Ägyptern als patriotischste Institution des Landes angesehen wird, auf die sie sich in Krisensituationen immer verlassen können. Die Muslimbrüder hingegen haben während der Präsidentschaft Mursis viele Sympathien verspielt. Deshalb folgt momentan ein Großteil der Bevölkerung dieser auf Bereitstellung von Sicherheit basierenden Legitimationsstrategie. Langfristig wird allerdings 5
6
Ob in näherer Zukunft eine Partei gegründet wird, ist ungewiss. Für die nächsten Parlamentswahlen wurden im Sommer 2014 zunächst einmal die Wahlgesetze geändert: 420 der insgesamt 567 Abgeordneten werden als unabhängige Kandidaten gewählt und nicht mehr zwei Drittel über Parteilisten. Das gibt den gut vernetzten Vertretern des alten Regimes die Chance, auch ohne Parteizugehörigkeit ins Parlament einzuziehen. Außerdem erscheint die Bildung einer Koalition mehrerer Parteien, die dem Regime wohlwollend gegenüberstehen, möglich. Die Führung könnten beispielsweise Amr Moussas „Liberale Konferenz-Partei“ oder die Partei „Mein Heimatland Ägypten“, die Ende 2013 von ehemaligen NDPMitgliedern gegründet wurde, übernehmen. Machterhalt und das Bewahren der eigenen Privilegien sind sicherlich zentrale Motive des Regimes. Dennoch steckt für die Armee hinter dieser Argumentation mehr als eine rein rationale Strategie, da sie sich als Hüterin der Nation sieht. Diese Rolle ist tief im Selbstverständnis der Generäle verwurzelt. Vor der Absetzung Mursis sah die Militärführung nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch die Grundfeste der ägyptischen Bevölkerung bedroht.
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auch Präsident al-Sisi an einer Verbesserung der sozioökonomischen Situation gemessen werden. Bevölkerungswachstum und demografischer Wandel, Jugendarbeitslosigkeit, wirtschaftliche und politische Dominanz einer kleinen Elite sowie fehlende Partizipationsmöglichkeiten führen weiterhin zur Perspektivlosigkeit breiter Bevölkerungsteile. Um die Unzufriedenheit einigermaßen im Zaum zu halten, gewährt das Regime Nahrungsmittel-, Energie- und Benzinsubventionen, unterhält einen riesigen Staatsapparat mit vielen Arbeitsplätzen und schnürt Konjunkturpakete. In diesem Sinne hat al-Sisi Investitionsprojekte mit einem Umfang von insgesamt 140 Milliarden Dollar angekündigt.7 Die Pläne reichen vom Bau einer zweiten Fahrrinne des Suez-Kanals, einer Hochgeschwindigkeitsbahn, neuen Flughäfen und einer Million neuer Wohneinheiten bis hin zum umstrittenen Erschließen von Agrarland in Oberägypten. Doch der alte Gesellschaftsvertrag, der nach dem Motto „Wir sorgen für eure Grundbedürfnisse und dafür akzeptiert ihr unsere Herrschaft“ funktioniert, ist nicht nachhaltig. Die Wirtschaft liegt am Boden und die Einnahmen aus Suez-Kanal, Erdgasexporten und Finanzspritzen aus dem Ausland dürften auf Dauer nicht ausreichen, um dieses Prinzip am Leben zu halten. Solange die Klientelpolitik des Regimes fortgeführt und die Wirtschaft nicht grundlegend reformiert werden, ist inklusives Wachstum nicht möglich und die sozioökonomischen Ungerechtigkeiten bleiben bestehen. Dies hat bereits zu den Aufständen 2010/2011 geführt und ist auch heute die größte Gefahr für den Systemerhalt. Vieles deutet dennoch nicht auf eine hohe Bereitschaft zu Reformen hin, da dies zwangsläufig zum Verlust von Privilegien führen würde. Immerhin entschloss sich die Regierung im Juli 2014 zur unpopulären Kürzung der Subventionen für Treibstoff, um das Haushaltsdefizit zumindest etwas zu verringern. Opposition ist Verrat am Vaterland: Machterhalt durch Repression Um Kritik und ein Aufbegehren zu verhindern, bedient sich das Regime massiv repressiver Maßnahmen. Unter Rückgriff auf die polarisierende Rhetorik im Kampf gegen alle Bedrohungen der Nation wird Opposition zum Verrat am Vaterland erklärt und nicht geduldet. Individuelle Freiheiten werden, angeblich zum Wohle und Schutz der Allgemeinheit, eingeschränkt. Gut 30 Jahre lang vereinfachte der Ausnahmezustand das repressive Vorgehen. Die Hoffnung auf eine Verbesserung nach dessen Aufhebung am 30. Mai 2012 blieb unerfüllt. Im Gegenteil übertreffen die heutigen Repressalien sogar die der MubarakÄra. Auch schützt die neue Verfassung zwar generell die grundlegenden
7
Vgl. Koert Debeuf, What to Expect from Egypt’s Sisi, 20.6.2014, (abgerufen am 16.8.2014).
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Bürgerrechte, lässt jedoch viele Möglichkeiten, diese einzuschränken, und Militärgerichte dürfen weiterhin Zivilisten verurteilen.8 Außerdem entsprechen Regierungsführung sowie die repressive Gesetzgebung dem Geist der Verfassung nicht einmal in Ansätzen. Dies zeigt sich beispielsweise am sogenannten NGO-Gesetz vom September 2013. Dieses verbietet zivilgesellschaftlichen Organisationen jegliche politische Arbeit sowie alle Aktivitäten, die die nationale Einheit oder die öffentliche Ordnung gefährden. Auch dürfen sie ohne Zustimmung der Behörden keine Gelder aus dem Ausland annehmen und können ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden. Ein weiteres Beispiel ist das Demonstrations- und Versammlungsgesetz vom Dezember 2013, nach dem die Polizei alle unangemeldeten Ansammlungen von mehr als zehn Personen auflösen darf. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ebenfalls stark eingeschränkt. So wurden seit Sommer 2013 verschiedene regimekritische und vor allem islamistische Medienanstalten geschlossen9 und zahlreiche Journalisten verhaftet oder gar getötet.10 Restriktive Gesetze erlauben es zum Beispiel, Journalisten wegen Beleidigung der Armee anzuklagen. Deshalb steht Ägypten auf der „Reporter ohne Grenzen-Rangliste 2014“ an Stelle 159 von 180 gewerteten Ländern.11 Besonders offensichtlich wird das rücksichtslose Vorgehen bei der momentanen Verfolgung der Muslimbruderschaft. Den Höhepunkt der Gewalt stellte die Räumung zweier Protestcamps in Kairo und Giza am 14. August 2013 dar, bei der mindestens 817 Menschen ums Leben kamen.12 Nach dem Sturz Mursis hatten sich dort Zehntausende Anhänger versammelt und forderten seine Wiedereinsetzung. In der Folge wurden praktisch die gesamte Führungsriege
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Laut Freedom House wurden zwischen Juli 2013 und Mai 2014 900 Personen vor Militärgerichten verurteilt. Vgl. Freedom House, Egypt Democracy Compass: May 2014, (abgerufen am 3.8.2014). 9 Unmittelbar nach dem Sturz Mursis wurden fünf islamistische Fernsehstationen geschlossen, darunter der Muslimbruder-Sender Misr 25. Al Jazeera Mubashar sowie die Zeitung der Bruderschaft „Freiheit und Gerechtigkeit“ wurden wenig später verboten. Vgl. Freedom House, Freedom of the Press Index 2014: Egypt, (abgerufen am 5.8.2014). 10 Laut Reporter ohne Grenzen wurden zwischen Juli 2013 und Mai 2014 sechs Journalisten bei ihrer Arbeit getötet und 65 inhaftiert. Im Mai 2014 saßen noch mindestens 14 Journalisten in ägyptischen Gefängnissen. Vgl. Reporter ohne Grenzen, Al-Sisi muss endlich Pressefreiheit garantieren, 30.5.2014, (abgerufen am 19.8.2014). 11 Vgl. Reporter ohne Grenzen, Rangliste der Pressefreiheit 2014, (abgerufen am 24.8.2014). 12 Vgl. Human Rights Watch, All According to Plan. The Raba’a Massacre and Mass Killings of Protesters in Egypt, August 2014, S. 6, (abgerufen am 2.9.2014).
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der Muslimbrüder sowie mehrere Tausend Mitglieder verhaftet,13 im März und April 2014 sprach ein Gericht in zwei Massenurteilen 1212 Todesurteile aus.14 Zuvor, im September 2013, wurde die Bewegung verboten und Ende Dezember 2013 zur Terrororganisation erklärt. Ihr politischer Arm, die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, wurde im Sommer 2014 verboten. Die Muslimbruderschaft wurde 1928 gegründet und ist die mit Abstand größte und mächtigste Oppositionsbewegung in Ägypten. Die liberal-säkulare Opposition wurde hingegen erst Mitte der 2000er Jahre verstärkt aktiv. Jugendbewegungen wie „Kifaya“ oder „Bewegung des 6. April“ sowie die Facebook-Gruppe „Wir sind alle Khaled Said“ waren schließlich maßgeblich am Sturz Mubaraks beteiligt. Nach 2011 schafften sie es allerdings nicht, sich nachhaltig zu organisieren, die internen Differenzen zu überbrücken und eine breite Unterstützerbasis in der Gesellschaft aufzubauen. Ein ums andere Mal wurden die liberalen Kräfte zwischen den beiden mächtigen Polen Militär und Muslimbruderschaft zerrieben. Heute werden auch sie wieder verfolgt und unterdrückt. So wurde beispielsweise die „Bewegung des 6. April“ am 28. April 2014 verboten und einer ihrer Anführer, der bekannte Aktivist Ahmed Maher, bereits am 22. Dezember 2013 inhaftiert.15 Das Regime zeigt sich entschlossen, alle Kritiker mundtot zu machen. Die leichte politische Öffnung Mitte der 2000er Jahre wird heute als Fehler angesehen, der schließlich mit den Aufständen 2011 das gesamte System ins Wanken gebracht hat. Dies soll sich nicht wiederholen, weshalb das Regime die Zügel fester anzieht. Die Frustration bei den politischen Gegnern ist dementsprechend groß und momentan ist keine signifikante Opposition erkennbar. Gleichwohl hat sich die ägyptische Gesellschaft seit 2011 gewandelt. Es sind Dynamiken in Gang gesetzt worden, die sich nur schwer aufhalten lassen dürften. Die Bürger stehen heute aktiver für ihre Forderungen ein und die politische Landschaft ist trotz aller Einschränkungen pluralistischer als zuvor.
13 Laut Freedom House wurden seit dem Sturz Mursis rund 16 000 Personen aus politischen Gründen inhaftiert. Die große Mehrheit dieser politischen Gefangenen sind Mitglieder und Unterstützer der Muslimbruderschaft, jedoch werden auch regelmäßig regimekritische säkulare Personen verhaftet. Vgl. Freedom House, Egypt Democracy Compass: May 2014, a.a.O. (Anm. 8). Das WikiThawra Projekt spricht gar von 41 000 politisch motivierten Verhaftungen. Vgl. Andrea Teti, Vivienne MatthiesBoon, Gennaro Gervasio, Sisiphus, in: Middle East Research and Information Project, 10.6.2014, (abgerufen am 7.9.2014). 14 Den Angeklagten wurde während der nur zweitägigen Prozesse keine Verteidigung gestattet und die Prozesse ließen jegliche Rechtsstaatlichkeit vermissen. Vgl. Freedom House, Egypt Democracy Compass: April 2014, (abgerufen am 3.8.2014). 15 Vgl. Tom Perry, Cairo Court Bans Group that Helped Topple Mubarak, in: Reuters.com, 28.4.2014, (abgerufen am 4.9.2014).
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Ägypten: Zurück in die Zukunft?
Ägyptens externe Beziehungen: Alte und neue Abhängigkeiten Als mit Abstand bevölkerungsreichster sowie historisch und kulturell bedeutsamster arabischer Staat nimmt Ägypten eine Sonderstellung in der Region ein. Hinzu kommt die exponierte geopolitische Lage inklusive der Kontrolle über den Suez-Kanal sowie der Grenze mit Israel. Deshalb haben zahlreiche externe Akteure ein Interesse, die Zukunft des Landes mitzugestalten, und der Kampf um Einfluss ist in vollem Gange. Zwar werden die Entwicklungen vor allem von internen Akteuren und deren Aktivitäten geprägt, die Wirtschaftsmisere und mangelnde eigene Ressourcen machen Ägypten jedoch vom Ausland abhängig. Dies wird aufgrund steigender Staatsverschuldung, einem konstant hohen Budgetdefizit und Devisenknappheit auf absehbare Zeit auch so bleiben.16 Alleine um die laufenden Kosten zu decken, benötigt Kairo aktuell rund zwei Milliarden Dollar pro Monat in Form von Krediten, Zuschüssen und Sachleistungen.17 Gleichzeitig zieht sich eine grundsätzliche Ablehnung gegen Einmischung von außen durch alle politischen und gesellschaftlichen Lager und der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung ist groß. Besonders am Pranger stehen dabei die USA, die seit dem Friedensvertrag mit Israel 1979 jedes Jahr milliardenschwere Militärhilfen nach Kairo transferiert haben. Washington wird immer wieder des Neoimperialismus bezichtigt und viele Ägypter machen, angestachelt von der Rhetorik der politischen Führung, die Einflussnahme der USA für verschiedenste Fehlentwicklungen verantwortlich. Europa kommt im Vergleich dazu noch einigermaßen glimpflich davon, nicht zuletzt, weil die EU eher als Handelspartner und wirtschaftlicher Akteur denn als politisches Schwergewicht wahrgenommen wird. Dennoch wurde nach dem Sturz Mubaraks sowohl gegen die europäischen Staaten als auch die USA der – nicht unberechtigte – Vorwurf laut, man habe aus strategischen Gründen über Jahrzehnte das alte Regime unterstützt. Heute wird dem Westen wiederum bereits aufgrund der sehr verhaltenen Kritik am Vorgehen des Militärs eine Beihilfe zum Terrorismus der Muslimbrüder unterstellt. Diese antiwestliche Einstellung spiegelte sich in einigen symbolträchtigen außenpolitischen Entscheidungen wider, wie dem Verbot verschiedener amerikanischer zivilgesellschaftlicher Organisationen und der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung.
16 Das Wirtschaftswachstum lag 2013 bei 1,8 Prozent und das Budgetdefizit bei 14,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Staatsverschuldung erreichte 90 Prozent des BIP, die Devisenreserven liegen bei etwa 16 Mrd. Dollar und reichen somit lediglich für den Importbedarf von drei Monaten. Vgl. International Monetary Fund, Arab Countries in Transition: Economic Outlook and Key Challenges, 10.10.2013, S. 9, (abgerufen am 17.8.2014). 17 Vgl. Amr Adly, Staat und Wirtschaft in Ägypten. Die strukturelle Krise wird akut, 4.6.2014, (abgerufen am 10.8.2014).
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Als erste Alternative zu den alten Partnern präsentieren sich die Golf-Staaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) und Kuwait, die derzeit das Regime protegieren. Unmittelbar nach dem Sturz Mursis stellten sie innerhalb weniger Tage insgesamt zwölf Milliarden Dollar zur Verfügung. Bis Mai 2014 erhöhte sich die Summe laut Präsident al-Sisi auf 20 Milliarden.18 Gemäß Angaben der ägyptischen Regierung haben sich auch im Bezug auf Direktinvestitionen die Verhältnisse gewandelt: Ende 2013 lagen die Investitionen der Golf-Staaten bei 50 Milliarden Dollar, die der westlichen Staaten bei 46 Milliarden19 Verdeutlichen lassen sich die engen Wirtschaftsbeziehungen an einem Rahmenabkommen über 40 Milliarden Dollar, das al-Sisi, damals noch Verteidigungsminister, im März 2014 mit Arabtec, dem größten börsennotierten Baukonzern der VAE, abgeschlossen hat. Demnach sollen auf über 160 Millionen Quadratmetern an 13 Standorten eine Million neue Wohneinheiten entstehen. Das Land dazu wird vom Militär kostenlos zur Verfügung gestellt.20 Im Gegenzug werden vermutlich Subaufträge an vom Militär kontrollierte Unternehmen vergeben und die involvierten Generäle am Gewinn beteiligt. Keine Alternative sind die Golf-Staaten im Bereich Handel. Hier ist die EU mit 23 Prozent des Außenhandelsvolumens der mit Abstand wichtigste Partner, wobei Deutschland mit circa vier Milliarden Euro pro Jahr innereuropäisch an der Spitze liegt.21 Dies dürfte sich trotz eines verstärkten wirtschaftlichen Engagements der Golf-Staaten und einer Zunahme des Handels mit China in näherer Zukunft nicht ändern.22 Auch für den Tourismus und im Bereich Arbeitsmigration ist Europa weiterhin von zentraler Bedeutung. In Bezug auf militärische Kooperation bleibt die ägyptische Armee auf die USA angewiesen. Armeetechnik und Ausbildung sind, zumindest bisher, zu 100 Prozent amerikanisch und eine Umstellung wäre mit erheblichem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Ein im September 2014 mit Russland beschlossener Waffendeal über 3,5 Milliarden Dollar zeigt jedoch, dass Kairo auch hier die einseitige Abhängigkeit zu verringern sucht. 18 Vgl. Diana Hodali, Ägypten: Präsidentenamt mit Problemen, 26.5.2014, (abgerufen am 7.9.2014). 19 Vgl. Roll, Al-Sisis Entwicklungsversionen, a.a.O. (Anm. 2), S. 2. 20 Vgl. Ahmed Morsy, The Military Crowds Out Civilian Business in Egypt, 24.6.2014, (abgerufen am 10.8.2014). 21 Auswärtiges Amt, (abgerufen am 15.8.2014). 22 China hat mit 8 Prozent Anteil am Außenhandelsvolumen mittlerweile die USA mit 7 Prozent als zweitwichtigsten Partner überholt. Das Potenzial für Handel mit den Golf-Staaten ist sehr klein, Saudi-Arabien kommt immerhin auf 4 Prozent. Vgl. Margarete Klein, Vorerst keine Rückkehr Russlands nach Ägypten (SWP Kurz gesagt), 29.8.2013, (abgerufen am 10.8.2014).
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Ägypten: Zurück in die Zukunft?
Dennoch dürfte die vermeintliche Abkehr von den USA und Europa eher taktischer Natur und vorübergehend sein. Die Golf-Staaten werden sicherlich in den nächsten Jahren eine entscheidende Rolle spielen. Aber es darf bezweifelt werden, dass die Geldströme langfristig ausreichen, um die immensen Defizite auszugleichen. Auch die verstärkte Partnerschaft mit Russland wird die militärische Kooperation mit den USA kaum ersetzen können. Gleichwohl ist die Zeit der ausschließlichen Westorientierung augenscheinlich vorbei. Die ägyptische Außenpolitik hat sich diversifiziert und Abhängigkeiten verschieben sich. Die Grenzen der Konditionalität: Deutschlands und Europas zurück haltender Kurs Deutschland gestaltet seine Politik gegenüber Ägypten vorrangig auf zwei Ebenen, wobei sich die Ansätze nur geringfügig unterscheiden: bilateral und im Rahmen der EU.23 Mit den Umbrüchen in der arabischen Welt setzte auf beiden Ebenen ein Hinterfragen der eigenen Politik ein. Vor allem die bisherige weitgehend unkonditionierte Zusammenarbeit mit den Diktatoren stand dabei im Fokus. Auch zum Mubarak-Regime pflegten Brüssel und Berlin gute Beziehungen. Ägypten war ein enger und verlässlicher Partner in den Bereichen Migration, Terrorismusbekämpfung, Energieversorgung und Handel und spielte eine wichtige Rolle im arabisch-israelischen Konflikt. Deshalb übten Deutschland und die EU zwar vereinzelt Kritik an den offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen, zeigten letztlich aber viel Toleranz gegenüber den innenpolitischen Vorgängen. Stabilität war das Zauberwort. Konditionalität existierte vorrangig auf dem Papier. Ein Blick auf die Überarbeitung der Europäischen Nachbarschaftspolitik,24 die seit 2004 den Rahmen für die Beziehungen der EU zu Ägypten darstellt, offenbart ein vermeintliches Umdenken. Getreu den Slogans „mehr für mehr“ und „weniger für weniger“ soll ein reformorientierter Staat in Zukunft verstärkt in den Genuss der angebotenen Anreize gelangen, während bei Rückschritten die Hilfen gekürzt werden. So die Theorie. In der Praxis ist von verstärkter Konditionalität bisher dagegen wenig zu sehen. In Brüssel und Berlin wurde zwar nach dem Sturz Mursis die Kürzung von Hilfsgeldern diskutiert. Passiert ist jedoch nichts und sowohl Deutschland als auch die EU vermie23 In deutschen Regierungskreisen wird daneben auch gerne auf die Bedeutung der Deauville-Partnerschaft verwiesen, dem Versuch einer koordinierten Politik von G7/G8-Staaten, Golf-Staaten, Türkei und internationaler Finanzinstitute. Allerdings funktioniert dieser Ansatz nicht, da viele der beteiligten Akteure lieber ihre eigene Politik betreiben. Insbesondere die Golf-Staaten haben sich fast komplett aus dem Projekt zurückgezogen. 24 Vgl. Eine Neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel. Eine Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, Gemeinsame Mitteilung der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Kommission, Brüssel, 25.5.2011, (abgerufen am 5.9.2014).
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den es, die Ereignisse als Militärputsch zu bezeichnen. Als die Verfolgung der Muslimbrüder und der liberalen Opposition immer groteskere Züge annahm, hielten sich die meisten Entscheidungsträger ebenfalls mit Kritik zurück. Konsequenzen wurden so gut wie keine gezogen. Die Gründe für diese Zurückhaltung liegen auf der Hand. Die Angst vor einer steigenden Instabilität in der Region ist enorm, Ägypten wird aus strategischen Überlegungen eine sehr große Bedeutung beigemessen und die ohnehin angespannten Beziehungen zur Führung in Kairo sollen durch Kritik und Druckausübung nicht noch weiter belastet werden. Außerdem sind die Einflussmöglichkeiten in der jetzigen Situation ohnehin verschwindend gering. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob für die EU eine auf Konditionalität basierende Politik gegenüber einem Staat wie Ägypten sinnvoll ist. Ein solcher Ansatz setzt eine gewisse Abhängigkeit voraus. Die EU ist jedoch nur ein Akteur unter vielen und die Anreize reichen bei weitem nicht aus, um tatsächlich Reformdruck zu erzeugen. Die Bereiche, in denen Kairo tatsächlich auf Europa angewiesen ist – Tourismus, Handel und Direktinvestitionen – eignen sich kaum für politische Konditionalität.25
25 Dieser Gedanke wird unter anderem weitergeführt in: Christian Achrainer, Mittelmeer-Politik auf Abwegen: Die EU muss sich vom Konditionalitätsprinzip verabschieden (DGAPstandpunkt 1), 13.1.2014, (abgerufen am 14.9.2014) oder Jan Völkel, More for More, Less for Less – More or Less: A Critique of the EU’s Arab Spring Response à la Cinderella, in: European Foreign Affairs Review 19 (2014) 2, S. 263-281.
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Algerien: Enigmatischer Nachbar Europas Isabelle Werenfels
Algerien gehört zu den arabischen Staaten, deren politisches System und Regime den „Arabischen Frühling“ nahezu unbeschadet überstanden haben. Historische Traumata in der Bevölkerung, der Erdöl- und Erdgasreichtum und die spezifische Ausprägung des algerischen Autoritarismus haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Auch in näherer Zukunft sind keine grundlegenden Reformen zu erwarten. Die Entscheidungsträger in Politik, Militär, Wirtschaft und Bürokratie sind zwar gespalten in der Frage, wie viel (wirtschaftliche) Reformen notwendig sind, um destabilisierende politische und gesellschaftliche Dynamiken zu verhindern. Aber sie sind sich einig im Abwehren von Reformen, welche durch die Etablierung von mehr Rechtsstaatlichkeit und Transparenz das derzeitige System verändern und damit ihren Elitenstatus gefährden würden. Die Wiederwahl des gesundheitlich stark angeschlagenen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika für eine vierte Amtszeit 2014 steht paradigmatisch für diesen anachronistischen innenpolitischen Kurs. Anders präsentiert sich die Situation mit Blick auf die algerischen Außenbeziehungen. Hier hat der „Arabische Frühling“ neue regionale und überregionale Fakten geschaffen, denen Algerien sich nicht entziehen kann. Die neue Situation hat erhebliche Sicherheits- und Kooperationsherausforderungen mit sich gebracht. Das gilt insbesondere für die negativen Folgen des Kollapses von Libyen. Dieser hat innere Konflikte in Mali befeuert und eine französische Intervention nach sich gezogen, der Algerien ambivalent gegenüberstand. Das Sicherheitsvakuum in Libyen hat auch direkte Folgen für Algerien – Libyen hat sich zum Rückzugs- und Trainingsort für Dschihadisten und zur Drehscheibe für Reisen maghrebinischer Kämpfer nach Syrien und in den Irak entwickelt. Gleichzeitig hat die neue regionale Situation Chancen für Algerien eröffnet, da sie dessen Ambition und Rolle als regionale Ordnungsmacht stärkt. Nicht zuletzt dieser Ambition verdanken sich neue und alte Spannungen im Verhältnis zu Marokko.
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Für Deutschland ist Algerien ein wichtiger Kooperationspartner aus energieund sicherheitspolitischen, aber auch aus rein wirtschaftlichen Gründen. Mit der neuen regionalen Situation steigt auch das gegenseitige Interesse an einer Vertiefung der ohnehin schon wachsenden Sicherheitskooperation weiter an. Doch bleibt diese Zusammenarbeit, so wichtig sie ist, für Deutschland auch eine Gratwanderung: Denn je enger und bedingungsloser die Kooperation, desto größer das Risiko, dass sie auch bestehende, auf lange Sicht nicht nachhaltige und undemokratische Governance-Strukturen legitimiert. Die Säulen des algerischen Autoritarismus Das algerische System ist, zumindest auf den ersten Blick, geprägt von Paradoxen. Einerseits rangiert Algerien im Freiheits-Index von Freedom House unter den „nicht freien“ Staaten1 und hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als ausgesprochen reformresistent in wirtschaftlichen und politischen Belangen erwiesen. Die 2011 und 2012 verabschiedeten Informations-, Vereins- und Parteiengesetze etwa beinhalteten nebst wenigen Freiheitsfortschritten vor allem erhebliche neue Restriktionen.2 Andererseits weist Algerien einen beachtlichen politischen Pluralismus auf. Das Parteienspektrum reicht von islamistisch über liberal und sozialdemokratisch bis zu trotzkistisch, und im Parlament sind auch oppositionelle Parteien vertreten. Nicht zuletzt existieren Dutzende von privaten Zeitungen und Medienplattformen, die politische Entscheidungsträger vom Präsidenten bis hin zu einflussreichen Figuren im Militär offen kritisieren.3 Dieser Pluralismus darf jedoch nicht als Indiz für einen Transformationsprozess missverstanden werden. Vielmehr spiegelt er strukturelle Spezifika des algerischen Autoritarismus wider, die einer Transition im Wege stehen. Intransparenz als Herrschaftsinstrument
Algerien war bis 1988 ein Einparteiensystem, in dem neben der FLN (Front de libération nationale) das Militär eine zentrale Rolle spielte. Infolge massiver Unruhen trieb eine reformorientierte Regierung 1989 eine demokratische Öffnung voran, die damals in der arabischen Welt ihresgleichen suchte. Vom demokratischen Frühling profitierte in erster Linie die islamistische Protestpartei FIS (Front islamique du salut). Ihr Triumph bei den Parlamentswahlen 1991 provozierte einen Militärputsch, der – wie in Ägypten im Sommer 2013 – im Namen der „Rettung der Demokratie“ durchgeführt wurde und in der brutalen Unterdrückung von Islamisten resultierte. In der Folge setzte sich der ra1 2 3
Vgl. Freedom House, Algeria, 2014, (abgerufen am 28.10.2014). Vgl. z.B.: The International Center for Not-for-Profit Law, NGO Law Monitor: Algeria, 6.6.2013, (abgerufen am 28.10.2014). Freedom House listet Algerien unter „Medienfreiheit“ als „teilweise frei“, a.a.O. (Anm. 1).
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dikale Flügel der algerischen islamistischen Bewegung in den Untergrund ab. Damit begann ein Bürgerkrieg, der zwischen 150 000 und 200 000 Todesopfer forderte.4 Gewaltmüdigkeit in der Bevölkerung, Verhandlungen des Militärs mit einem Teil der bewaffneten Gruppen, militärische Auslöschung anderer Gruppen sowie eine Versöhnungsinitiative für reumütige Kämpfer (1999) beendeten die bewaffneten Auseinandersetzungen Ende der 1990er Jahre weitgehend, aber nicht vollständig. Eine bewaffnete Gruppe, aus der später Al Qaida im Mahgreb hervorging, existierte weiterhin. Mit pluralistischen Parlamentswahlen 1997, an denen auch moderat islamistische Oppositionsparteien teilnahmen, kehrte das Land zur politischen „Normalität“ zurück. 1999 wurde mit Abdelaziz Bouteflika erstmals ein Präsident, der nicht aus dem Militär kam, gewählt. Von freien Wahlen konnte und kann bis heute indes nicht die Rede sein. Hinter der demokratischen Fassade zog zunächst weiterhin eine kleine informelle Gruppe wichtiger Generäle die Fäden, allen voran der mächtige Chef des DRS (Département du renseignement et de la sécurité, Dachinstitution der Geheimdienste), Mohammed „Toufik“ Mediène.5 Bouteflika gelang es jedoch sukzessive, sein eigenes Machtzentrum im Präsidentenpalast, in der Armee, Verwaltung und Wirtschaft aufzubauen. Dieses besteht aus Familienmitgliedern, langjährigen Weggefährten aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs und einem regionalen Netzwerk aus dem Westen des Landes. Inwieweit es Bouteflika tatsächlich gelungen ist, den informellen Einfluss mächtiger Militärs und insbesondere des DRS auf politische Akteure und auf den politischen Prozess zu unterbinden und inwieweit sich im Militär selbst konkurrierende „Clans“ gebildet hatten, blieb auch Ende 2014 unklar. Offen war auch, wer möglicher Konsenskandidat für die Nachfolge Bouteflikas sein könnte. Das reale oder fiktive Tauziehen undemokratischer Akteure hinter den Kulissen erfüllt in mehrerlei Hinsicht eine wichtige Funktion für den Erhalt des politischen Status quo. So zeigte sich etwa im Wahlkampf 2014, dass Spekulationen um die Macht einzelner Personen von den relevanten inhaltlichen Fragen, wie endemischer Korruption und flagrantem Mangel an Rechtsstaatlichkeit, ablenkten.6 Solange unklar ist, wer das Sagen hat, kann 4 5 6
Vgl. Amnesty International, Algeria: Steps Towards Change or Empty Promises?, 16.9.2003, (abgerufen am 28.10.2014). Zur Rolle des Militärs in der algerischen Politik siehe Hugh Roberts, Demilitarizing Algeria, Carnegie Endowment for International Peace (Carnegie Papers, Nr. 86), 2007, (abgerufen am 28.10.2014). Zu den Wahlen 2014 und den wirtschaftlichen und politischen Strukturen und Herausforderungen siehe auch Isabelle Werenfels, Riskantes Spielen auf Zeit in Algerien. Innenpolitisches Ringen um zentrale Weichenstellungen nach der Präsidentenwahl (SWP-Aktuell, Nr. 32), Berlin 2014; Rachid Ouaissa, Die Präsidentschaftswahl in Algerien: Bouteflika wird wie erwartet sein viertes Mandat bestreiten (FES-Perspektive), Berlin 2014.
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sich Protest überdies schlechter formieren als in Staaten, in denen es ein klares Machtzentrum gibt. Während 2011 in Tunesien und Ägypten Demonstranten „Ben Ali, dank ab!“ und „Mubarak, dank ab!“ skandierten, versuchten in Algerien Oppositionelle vergeblich, mit „System, dank ab!“ und „Pouvoir (Macht, Herrschaft), dank ab!“ zu mobilisieren. Spaltungspolitik und trügerischer Pluralismus
Der algerische Pluralismus ist einerseits die Folge der öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Machtzentren und ihren weit verzweigten Klientelnetzwerken in Politik, Militär, Wirtschaft, Verwaltung, Medien und selbst in der Zivilgesellschaft. Andererseits ist er das Resultat einer erfolgreichen Divide-et-impera-Politik der Regierung, die sich klassischer Instrumente autoritärer Eliten bedient: Repression, bedingte Tolerierung, Kooptation und Schaffung von Konkurrenz. Akteure, die ähnliche Agenden haben, werden unterschiedlich behandelt und auf diese Weise auseinanderdividiert und geschwächt. Paradigmatisch für den Erfolg dieser Politik steht das islamistische Lager, das sich 2014 komplett zersplittert präsentierte. Angesichts einer entlang regionaler, sprachlich-kultureller und ethnischer Linien fragmentierten Gesellschaft fallen Spaltungspolitiken in Algerien auf einen besonders fruchtbaren Boden. Folglich bleiben ethno-religiöse und selbst sozioökonomische Konflikte auf bestimmte Regionen beschränkt. Massive Proteste 2012 und 2013 im jahrzehntelang vernachlässigten Süden des Landes weiteten sich trotz der Vernetzungsversuche ihrer Anführer nicht auf den Norden aus. Bis heute verlaufen die Proteste sozialer Peripherien und die Proteste demokratieorientierter urbaner Bildungseliten weitgehend in getrennten Bahnen. Demokratieorientierte und parteiübergreifende Oppositionsbündnisse wiederum scheitern meist an einer Kombination von externen Spaltungsversuchen und inhaltlichen Differenzen. So schieden sich die Geister von Oppositionellen 2014 an der Frage der Einbindung des Militärs und der FLN in einen Transformationsprozess genauso wie an der Tiefe von Reformen. Viele Oppositionseliten befinden sich in einem „double-bind“, da profunde Reformen wie Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Transparenz ihren Elitestatus und die damit verbundenen (materiellen) Privilegien unterminieren könnten.7 Zur Strategie der Regierung gehört auch, dass Oppositionspolitiker, mit der Ausnahme prominenter Führer der verbotenen FIS, in der Regel kaum Repressalien ausgesetzt sind – dies im Gegensatz zu Anführern unabhängiger Gewerkschaften und den (wenigen) Journalisten und zivilgesellschaftlichen
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Vgl. Werenfels, Riskantes Spielen auf Zeit in Algerien, a.a.O. (Anm. 6).
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Akteuren, die Korruption aufdecken oder von Menschenrechtsverletzungen berichten. Sie riskieren körperliche Übergriffe und Haftstrafen.8 Grundsätzlich darf der Einfluss des gesamten Spektrums oppositioneller Akteure nicht überschätzt werden. Regimekritiker sind nicht zuletzt deshalb sichtbarer geworden, weil neuere unabhängige Medienplattformen auch den marginalen politischen Akteuren eine öffentliche Stimme geben. Diese Tatsache, so erfreulich sie ist, spielt letztlich dem Regime in die Hände: Sie erweckt den Anschein von Pluralismus und Meinungsvielfalt. Damit erhöht sie – unfreiwillig – die Legitimität des Regimes und verstärkt die den Machteliten willkommene Kakophonie. Vor allem aber führt sie zu einer medialen Verzerrung der realen Machtverhältnisse und lenkt von den strukturellen Hürden für einen Transformationsprozess ab. Wie hoch diese sind, haben die Entwicklungen seit dem „Arabischen Frühling“ gezeigt. Legitimitätsstrategien und Transformationshindernisse
Auch in Algerien kam es 2011 zu Protesten gegen die Regierung. Aufgrund spezifischer Befindlichkeiten in der Bevölkerung sowie erfolgreicher Elitenstrategien verliefen sich diese schnell im Sand. Letztere umfassten neben der Spaltungspolitik den taktischen und strategischen Einsatz der Erdölund Erdgasrente, die Institutionalisierung der historischen revolutionären Legitimität und die Instrumentalisierung des kollektiven Bürgerkriegstraumas. Algeriens Erdöl- und Erdgasreichtum und die damit verbundene hohe Liquidität erlauben es der Regierung, sozioökonomisch motivierte Unruhen schnell einzudämmen.9 Allein im Jahr 2012 hat die Regierung die Subventionen insgesamt um rund 60 Prozent und die Löhne im öffentlichen Dienst um über 9 Prozent angehoben. Als im Oktober 2014 Einheiten der Polizei demonstrierten, erhöhte die Bouteflika-Regierung kurzerhand die Löhne sowie spezielle Zulagen um bis zu 25 Prozent.10 Umfragen des Arab Barometer in Algerien haben ergeben, dass 2013 doppelt so viele (66 Prozent) Befragte die wirtschaftliche Entwicklung positiv beurteilten als noch 2011 (32 Prozent). Demnach ist es der Regierung gelungen, sich ein gewisses Maß an Legitimität durch Wohlfahrtsleistungen zu verschaffen.
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Vgl. Human Rights Watch, World Report 2014, Algeria, (abgerufen am 28.10.2014). 9 Ende 2013 verzeichnete Algerien 192 Mrd. Dollar Devisenreserven, vgl. CIA, The World Factbook, Algeria, (abgerufen am 28.10.2014). 10 Vgl. Tout sur l’Algérie, Revendications des policiers: détails des augmentations de salaires, 20.10.2014, (abgerufen am 28.10.2014).
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Die Machteliten nutzen die Erdöl- und Erdgasrente seit Jahrzehnten zur Erweiterung ihrer sozialen Basis. Paradebeispiel hierfür ist die Verbindung von der Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg (1954-1962) mit pekuniären Privilegien. Der Staat belohnt die Teilnahme an der sogenannten Revolution mit Taxi- und Autoimportlizenzen sowie mit direkten Renten für Ex-Revolutionäre und deren Hinterbliebene. Im Budget 2014 waren die Zuwendungen an das „Ministerium der ehemaligen Kämpfer“ beinahe ebenso hoch wie jene an das Ministerium für Höhere Bildung und entsprechen rund 75 Prozent der Zuwendungen an den Gesundheitssektor.11 Zur sogenannten revolutionären Familie gehören historische Organisationen und Institutionen wie die noch immer dominante FLN, die Vereinigung der ehemaligen Kämpfer und die Dachorganisation der staatsnahen Gewerkschaften (UGTA). In den 1990er Jahren sind Organisationen von Opfern islamistischer Gewalt dazugekommen. Auch haben sich einflussreiche Lobbygruppen gebildet, die bestrebt sind, die revolutionäre Legitimität und damit verbundenen Privilegien nicht nur auf die Kinder von „Märtyrern“, sondern auch auf Nachkommen regulärer Kämpfer zu übertragen. Durch diese Institutionalisierung der Revolution hängt ein wachsendes Segment der Bevölkerung am Tropf der Revolutionsrente. Mitglieder der revolutionären Familie sind naturgemäß reform-avers: Sie können nur verlieren, wenn sich das System nicht länger revolutionär, sondern demokratisch legitimieren würde. Ein weiteres zentrales Hindernis für Veränderungen ist die Sicherheitssituation. Nach wie vor existierende militante Gruppen in Ost- und Südalgerien begünstigen die Einschränkung politischer Freiheiten wie etwa des Versammlungs- und Demonstrationsrechts und mindern die Bereitschaft der vom Bürgerkrieg traumatisierten Bevölkerung, sich auf Experimente einzulassen. Die algerischen Machteliten profitieren folglich indirekt von anhaltenden Aktivitäten kleiner dschihadistischer Zellen innerhalb Algeriens und von der wachsenden Präsenz militanter Gruppen im Sahel und in Libyen, die Verbindungen nach Algerien haben – eine solche Gruppe zeichnete sich für den Anschlag auf die Gasanlage von Ain Amenas Anfang 2013 verantwortlich. Bouteflika gilt gemeinhin als diejenige Figur, die dafür gesorgt hat, dass nach dem Bürgerkrieg wieder Ruhe eingekehrt ist, und bezieht daraus eine gewisse Legitimität. Die algerischen Machteliten haben den Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ in den Nachbarstaaten genutzt, um das Schreckgespenst der Destabilisierung heraufzubeschwören. Regierungsnahe Eliten und Medien warnten vor politischen Aufständen, die als Einfallstor für (radikale) Islamisten oder gar für ausländische Interventionen wie in Libyen dienen könnten. Auch im Wahlkampf 2014 hat das Präsidentenlager die Furcht vor erneutem Chaos geschürt und brandmarkte andere Präsidentschaftskandidaten als gefährliche Unruhestifter oder gar Terroristen. 11 Vgl. Al-Ghumhurriyya al-ghaza’iriyya al-dimuqratiyya al-schu’biyya, Al-gharida al-rasmiyya, 31.12.2013, (abgerufen am 28.10.2014).
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Diese Politik sowie die kollektiven Ängste haben zur Folge, dass sich selbst in weiten Teilen der Opposition ein Diskurs über vorsichtige und graduelle Reformen durchgesetzt hat. In den Umfragen des Arab Barometer zogen 2013 78 Prozent der befragten Algerier und Algerierinnen graduelle Reformen massiven und abrupten Reformen vor, 2011 waren es noch knapp über 54 Prozent gewesen.12 Diese Präferenz erleichtert es der Regierung, sich auf kosmetische Reformen zu beschränken und grundlegende Veränderungen des Systems weiter vor sich her zu schieben. Die Strategie, auf Zeit zu spielen und kein Reformwagnis einzugehen, dürfte indes langfristig riskanter sein als eine Politik, die sich auf graduelle, aber profunde Reformen einlässt. Die gegenwärtigen Reformblockaden sind insbesondere mit Blick auf den strategischen Erdöl- und Erdgassektor, der 2013 über 98 Prozent der Exporteinnahmen und fast ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts generierte,13 problematisch. Zwar hat Algerien noch große Reserven, insbesondere an Erdgas. Doch die Ölproduktion stagniert seit mehreren Jahren, die Gasproduktion ist rückläufig. Ein Grund ist die Verschleppung neuer Förderund Infrastrukturprojekte. Dies geht sowohl auf Grabenkämpfe zwischen dem Präsidenten und seinen Kontrahenten im Militär als auch auf das nachlassende Interesse ausländischer Investoren zurück. Eine protektionistische Gesetzgebung sowie dürftige Rechtssicherheit und ein hohes Korruptionsniveau machen Algerien wenig attraktiv für ausländische Direktinvestitionen. Zwar sind sich immer mehr algerische Eliten bewusst, dass grundlegende wirtschaftliche Weichenstellungen notwendig sind, um den politischen Status quo zu erhalten. Diese Einsicht spiegelt sich bislang noch wenig in der Innen- wie der Außenpolitik. Sie dürfte aber mit sinkenden Ölpreisen wachsen. Algeriens Außenbeziehungen Algeriens Außenbeziehungen haben seit dem Ende des Kalten Krieges, in dem Algerien zu den wichtigen blockfreien Staaten zählte, mehrere Phasen durchlaufen. Während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre erlebte Algerien eine Phase der Isolation. Das Land war weitgehend mit sich selbst beschäftigt; europäische und andere Nationen reduzierten ihre diplomatische Präsenz aufs Nötigste. Sieht man von den Öl- und Gasexporten sowie Lebensmittelimporten ab, waren die Außenhandelsbeziehungen mit Europa bescheiden. Im algerischen kollektiven Bewusstsein und in Ex-post-Narrativen der algerischen Machteliten kämpfte Algerien als erster Staat gegen den internationalen Terrorismus, wurde von der Welt aber weitgehend im Stich gelassen und als Paria behandelt. So 12 Vgl. Michael Robbins, Skipping the Arab Spring? The Arab Barometer Surveys a Changing Algeria, Arab Reform Initiative 2014, (abgerufen am 28.10.2014). 13 Vgl. International Monetary Fund, Algeria, Country Report No. 32, 2014, (abgerufen am 28.10.2014).
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problematisch diese Darstellung des innenpolitischen Konflikts ist, sie hat ihren Zweck erfüllt. Die Rehabilitation des algerischen Regimes im Westen ging maßgeblich mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 einher, in dem Algerien eine zunehmend wichtige regionale Rolle zufiel. Die zweite Phase in den algerischen Außenbeziehungen war gekennzeichnet von der graduellen Rückkehr Algeriens auf das internationale politische Parkett. Ihre symbolischen Höhepunkte fand sie in wiederholten Einladungen Bouteflikas ins Weiße Haus ab 2001 sowie zum G8-Gipfel 2010 in Kanada. In diese Phase fiel auch die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft (2002). Aus europäischer Sicht dürfte diese Periode die unkomplizierteste im Umgang mit Algerien gewesen sein. Die algerischen Generäle waren außerordentlich daran interessiert, die von ihnen mitverantworteten Verbrechen während des Bürgerkriegs durch gute internationale Beziehungen vergessen zu machen.14 Die dritte Phase, die um 2005 begann, währt bis heute. Sie ist maßgeblich geprägt vom wiedergewonnenen algerischen Selbstvertrauen. Dabei haben nicht zuletzt die hohen Erdölpreise, die damit ermöglichte Kaufkraft des algerischen Regimes und das einhergehende internationale Interesse an der Modernisierung der algerischen Infrastruktur eine Rolle gespielt. Die Umbrüche in der arabischen Welt haben Algerien anfänglich zwar verunsichert. Mit seiner kategorischen Ablehnung der NATO-Intervention in Libyen und der Solidarität mit Gaddafi und seiner Familie stand es in Nordafrika allein da. Doch hat gerade der Zerfall Libyens es Algerien ermöglicht, sich als wichtigste Regional- und Ordnungsmacht im Maghreb und im Sahel zu etablieren. Mit seinen Mediationsinitiativen in den Konflikten in Mali und seit 2014 auch in Libyen knüpft Algerien wieder an die internationale Rolle an, die es schon in der Vergangenheit spielte bzw. zu spielen versuchte. Das außenpolitische Selbstverständnis Algeriens
Seit Jahrzehnten haben drei Faktoren Algeriens Außenbeziehungen maßgeblich definiert: die Erfahrung der kolonialen Unterdrückung und des antikolonialen Befreiungskampfs, der Ressourcenreichtum und der Konflikt mit Marokko. Letzterer dreht sich neben der Westsahara auch um konkurrierende Regionalmachtambitionen sowie Rivalitäten in den wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu afrikanischen Staaten. Die Erfahrung der Kolonisierung und Dekolonisierung haben zu einem ausgesprochen hohen Souveränitätsanspruch geführt. Algerien ist nur bereit, sich auf Zusammenarbeit einzulassen, wenn diese auf Augenhöhe geschieht. 14 Vgl. dazu auch Isabelle Werenfels, Managing Instability in Algeria: Elites and Political Change Since 1995, London 2007, S. 148-151.
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Algerien: Enigmatischer Nachbar Europas
Es vermeidet Abhängigkeiten – die Rückzahlung fast aller Auslandsschulden in den vergangenen Jahren und die hohe Diversifizierung der Handelspartner zeugen davon.15 Algerien versteht sich nicht als Land des Südens, dem geholfen werden muss. Vor allem aber toleriert es keinerlei Einmischung in innere Angelegenheiten. Umgekehrt darf Algier sich qua Verfassung weder in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen noch seine Sicherheitskräfte jenseits der Landesgrenzen einsetzen. Training und finanzielle Unterstützung von Befreiungsbewegungen dagegen sind für Algier selbstverständlich. Die guten Beziehungen zu Südafrika gehen auf die Unterstützung des ANC zurück, und noch immer beherbergt Algerien die Befreiungsbewegung der Westsahara, die Polisario, und richtet sich gegen jegliche Konfliktregelung, die nicht auf die Unabhängigkeit der Westsahara von Marokko abzielt. Der Ressourcenreichtum hat Algerien die Verwirklichung seines hohen Souveränitätsanspruchs und eines wirtschaftlichen Protektionismus erleichtert. In Verhandlungen mit der Europäischen Union etwa hat Algerien als drittwichtigster Energielieferant der EU eine weitaus bessere Verhandlungsposition als etwa das an Erdöl und Erdgas arme Marokko. Dass mit Algerien bis heute kein Aktionsplan im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik unterzeichnet wurde, hängt damit zusammen. Algier kann es sich leisten, weit weniger kompromissbereit zu sein, wenn es um die Verpflichtung zu inneren Reformen geht, insbesondere in sensiblen Bereichen, wie in Bezug auf politische Freiheiten oder Menschenrechte. Beispielhaft für die algerische Verhandlungsmacht steht sein protektionistisches Investitionsgesetz, das ausländischen Investoren einen algerischen Mehrheitspartner vorschreibt. Letztlich haben der algerische Ressourcenreichtum und der Anspruch, Abhängigkeiten zu reduzieren, zu einer Präferenz für wirtschaftlichen Bilateralismus geführt. Regionale Integration wird von Algier zwar gepredigt, die Landgrenzen zu Marokko will es jedoch nicht öffnen. Wenn sich Algerien in multilateralen Foren oder Institutionen, wie etwa im Rahmen der 5+5-Initiative,16 verschiedenen Sicherheitsinitiativen im Sahel sowie in der Afrikanischen Union (in der Marokko nicht vertreten ist), engagiert, dann meist aufgrund der eigenen drängenden Sicherheitsinteressen bzw. der Regionalmachtambitionen.
15 Die wichtigsten zehn Handelspartner sind: Europäische Union, China, USA, Brasilien, Kanada, Türkei, Indien, Argentinien, Südkorea und Russland. Vgl. Europäische Kommission, Trade in Goods with Algeria, 27.8.2014, (abgerufen am 28.10.2014). 16 Im 5+5-Format diskutieren Offizielle aus fünf südeuropäischen Staaten (Frankreich, Italien, Portugal, Malta und Spanien) und den fünf Staaten des Maghreb (Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien) insbesondere über Sicherheitskooperation.
Isabelle Werenfels
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Algerien und Deutschland: Wachsendes Ungleichgewicht
Algerien ist für Deutschland ein zunehmend wichtiger, aber kein einfacher Partner. Einerseits sind die deutsch-algerischen Wirtschaftsbeziehungen in den vergangenen Jahren immer enger geworden. 2013 war Deutschland für Algerien das fünftwichtigste Importland – nach China, Frankreich, Italien und Spanien. Insgesamt liegt Deutschland bei Algeriens Handelspartnern an 11. Stelle.17 Allerdings importiert Deutschland aus Algerien nur relativ geringe Mengen Öl und sehr wenig Erdgas – im Gegensatz zu Frankreich, das historisch bedingt enge Handelsbeziehungen mit Algerien pflegt, und den geografisch näher liegenden Ländern Spanien und Italien. Vor allem die Sicherheitskooperation ist seit 2009 enger geworden. Mit 2014 bekannt gewordenen Großaufträgen und wichtigen Abkommen im Bereich der militärischen Ausrüstung, darunter der Bau einer Fuchspanzer-Produktionsstätte (mit entsprechender Ausbildungskomponente) in Algerien, hat sich die Wirtschafts- und Sicherheitszusammenarbeit markant vertieft. In Berlin wird Algerien als Stabilitätsanker in Nordafrika sowie potenziell wichtiger Partner für eine Konfliktregelung in Libyen gesehen. Andererseits gestaltet sich die deutsch-algerische Zusammenarbeit im zivilgesellschaftlichen Bereich schwierig. Die deutschen politischen Stiftungen etwa haben keinen leichten Stand in Algerien. Zwar können sie vor Ort präsent sein und Projekte durchführen, haben aber keinen offiziellen legalen Status und sind so in ihren Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt. Projekte mit freien Gewerkschaften oder Menschenrechtsorganisationen zum Beispiel werden als subversiv taxiert und sind in der Vergangenheit auch schon mit Visaentzug oder Ausweisung bestraft worden. Was sich Algerien dagegen explizit wünscht, ist (unpolitische) Zusammenarbeit im Kultur- und Bildungsbereich. Durch die algerische Interessenlage und die beschränkten Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Kooperation entsteht ein wachsendes Ungleichgewicht in den deutsch-algerischen Beziehungen zugunsten von Sicherheitskooperation – namentlich die Lieferung von Ausrüstung. Wenn damit keine grundlegenden Governance-Reformen im Sicherheitssektor einhergehen (können), besteht das Risiko, dass die Zusammenarbeit indirekt bestehende undemokratische und intransparente Strukturen legitimiert und weiter verfestigt. Angesichts der derzeitigen algerischen Stabilität und der ressourcen- und wirtschaftsbedingten Interessen ist es verständlich, dass die EU und Deutschland in Algerien einen wichtigen Partner sehen. Eine vorbehaltlose Umarmung indes wäre kurzsichtig: Ein starker Sicherheitssektor und selbst Ressourcenreichtum sind keine Garanten für langfristige Stabilität, wenn politische Freiheiten und politische Teilhabe (zu stark) eingeschränkt sind. Dies hat der „Arabische Frühling“ deutlich gezeigt.
17 Vgl. UNCTAD, UNCTADSTAT 2014, (abgerufen am 28.10.2014).
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Belarus: Musterbeispiel autoritärer Transformation Maria Davydchyk Belarus – ein unmittelbares östliches Nachbarland der Europäischen Union (EU) – scheint auf der europäischen politischen Karte ein besonderer Fall zu sein. Einst im Westen als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet, regiert der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko das Land bereits seit 20 Jahren. Dabei hat er bewiesen, dass sein System eine Kontinuität vorzeigen kann – auch dank exogener Faktoren wie die politische und finanzielle Unterstützung aus Russland sowie mangelhaftes Interesse und eine fehlende außenpolitische Strategie der EU.1 Darüber hinaus ist Belarus als Folge der Ukraine-Krise nun das einzige Land in der östlichen Nachbarschaft der EU, das seine Grenzen kontrolliert und bisher keine offenen Konflikte ausgetragen hat. Im Zuge der Ukraine-Krise werden Kategorien wie Sicherheit und Wohlstand immer öfter der Demokratie entgegengesetzt. Ist Autoritarismus eine logische historische Herrschaftsform für den postsowjetischen Raum?2 Wie stabil sind das Wirtschaftsmodell und das autoritäre System von Belarus? Im Folgenden werden Faktoren aufgezeigt, die das belarussische System stützen, die innenpolitische und gesellschaftliche Situation analysiert, Problemfelder identifiziert und außenpolitische Perspektiven ausgelotet. Unabhängigkeit als Herausforderung Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangte Belarus 1991 seine Unabhängigkeit nicht als Folge einer starken innenpolitischen demokratischen Bewegung. Im historischen Narrativ blieb die Sowjetzeit paradoxerweise als „die Zeit, die von hoher Industrialisierung, Wirtschaftswachstum, Entwicklung von Bildung und 1 2
Vgl. Andrej Ljakhovich, Pravjashaja elita i burokratija, in: Prezidentskije vybory v Belarusi: ot ogranichennoj demokratii k neogranichennomu autoritarismu (1994-2006), Novosibirsk 2006, S. 194-224, hier S. 221. Mehr dazu bei Leonid Zaiko, Belarus „inside futuruma“: dolgostochnoe geopoliticheskoe formatirovanie, in: Buduschee Belarusi. Vzglja nezavisimyj espertov. Pod red. Olega Manaeva. St. Petersburg 2012, S. 429-454, hier S. 444.
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Wissenschaft und von der Migration russischer technischer Intelligenz nach Belarus geprägt wurde“.3 Zwar förderte die Perestroika Auseinandersetzungen mit wichtigen Themen wie den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe und der nationalen Entwicklung. Diese Themen wiesen in den ersten Jahren der Unabhängigkeit ein großes Potenzial für die Mobilisierung der Gesellschaft auf. Jedoch endete diese Bewegung dort, wo die Wirtschaftsprobleme begannen. In der territorialen Arbeitsverteilung der Sowjetunion hatte sich Belarus auf Maschinenbau, Radiotechnik, Chemie- und Elektroproduktion sowie die Erdölverarbeitung spezialisiert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion spitzten sich die Probleme der belarussischen Wirtschaft zu: Dutzende Maschinenbauund Gerätefabriken beendeten lediglich noch ihren Produktionszyklus. Viele Fabriken produzierten als letztes Glied in der Produktionskette Produkte mit hohem Mehrwert, die weder Zulieferungsmöglichkeiten noch den Absatz fanden. Die Privatisierung von solchen Fabriken war aufgrund der unterbrochenen Produktionsketten problematisch. Unter dem Deckmantel der Privatisierung erfolgten in Belarus weder eine primäre Verteilung des Eigentums noch eine private Akkumulation des Kapitals, wie es in Russland und in der Ukraine der Fall war.4 Neben der dramatischen Wirtschaftslage offenbarte die Zeit zwischen 1991 und 1993 auch die historisch bedingte Schwäche der belarussischen Staatlichkeit. Zwar hatte sich 1988 auf einer nationaldemokratischen Basis die oppositionelle Belarussische Volksfront gebildet. Ihre politischen Aufrufe konnten jedoch die Mehrheit in Belarus nicht erreichen, die sich weniger um die nationale Wiedergeburt, sondern eher um das eigene Überleben sorgte. Die Vertreter der ehemaligen Sowjetelite behielten ihre Positionen. Jedoch machte die Öffentlichkeit Anfang der 1990er Jahre die an der Macht gebliebene Nomenklatura für die Wirtschaftskrise, Hyperinflation und den sinkenden Lebensstandard verantwortlich. Als parteiloser Politiker mit populistischer Antikorruptionskampagne gewann Alexander Lukaschenko 1994 die ersten Präsidentschaftswahlen und versprach, das Land auf das Wirtschaftsniveau der Zeit vor der Perestroika zurückzubringen. Aus Sicht der politischen Ökonomie war dies ein eklektisches Programm bestehend aus sozialistischen und sozialdemokratischen Ideen. Doch es entsprach den Erwartungen der postsowjetischen Wählerschaft in Belarus. Der Großteil der Wähler war bereit, anstatt der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit einer übermäßigen paternalistischen Rolle des Staates den Vorrang zu geben.5 Dies führte zum Aufstieg populistischer neosowje3 4 5
Stanislav Bondankewitsch, Transformazija politicheskoj i ekonomicheskoj sismtemy, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S.10-44, hier S. 11. Vgl. Leonid Zaiko, Belarus „inside futuruma“: dolgostochnoe geopoliticheskoe formatirovanie, in: Buduschee Belarusi. Vzglja nezavisimyj espertov. Pod red. Olega Manaeva, St. Petersburg, 2012, S. 429-454, hier S. 436. Alexandr Sosnov, Vzaimosvjaz ekonomicheskich predpochtenij I elektoralnogo povedenija, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 86-119, hier S. 115.
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tischer politischer Kräfte an die Macht und zur öffentlichen Unterstützung eines autoritären Regimes.6 Vom Aufstieg zur Festigung Um die Frage zu beantworten, wie gefestigt das autoritäre Regime in Belarus ist, können in Anlehnung an Lukan Way7 drei Faktoren untersucht werden: erstens die Macht des politischen Führers, zweitens die Einigkeit und die Kraft der Opposition und drittens die internationale Umgebung. Die Festigung des Autoritarismus und der Macht des Präsidenten Lukaschenko können mithilfe des Konzepts der sogenannten „Strategie der vorausschauenden Überholung“ des belarussischen Politologen Vitalij Silitzki analysiert werden.8 Es handelt sich hierbei um eine Strategie der Eindämmung demokratischen Einflusses durch präventives Handeln, wenn noch keine unmittelbare Gefahr besteht. Silitzki unterscheidet drei Elemente: taktische, institutionelle und kulturelle Prävention. Das erste Element – taktisches vorausschauendes Handeln – kann als präventives Vorgehen gegen die Infrastruktur der Opposition und der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bezeichnet werden. Das zweite Element ist das institutionell vorausschauende Handeln, wobei die innenpolitischen Spielregeln geändert werden. Beispiele dafür sind die Referenden zu Verfassungsänderungen, Verschärfung der Pressegesetze und Änderungen in den institutionellen Rahmenbedingungen der Arbeit von NGOs. Das dritte Element – laut Silitzki das Schlüsselelement – ist kulturell antizipierendes Handeln. Die Manipulation des kollektiven Gedächtnisses durch die Verbreitung von ausgewählten Geschichtsbildern erweist sich als besonders wichtig, um Unsicherheit gegenüber gesellschaftlicher Erneuerung und Veränderung zu verbreiten. Die Kraft der Opposition wiederum wird bestimmt durch erstens die Fähigkeit, sich auf eine antiautoritäre Koalition zu einigen, und zweitens die Kraft, die Gesellschafft zu mobilisieren. Die herrschende Elite in Belarus ist konsolidiert, während es der Opposition an Konsens und Rückhalt in der Gesellschaft fehlt. Zwar waren im Jahr 2014 unter den 15 politischen Parteien in Belarus auch neun Oppositionsparteien registriert. Die Marginalisierung und die Diskreditierung der Opposition gehören jedoch zu den Mitteln der strategischen Prävention. Die Rahmenbedingungen erschweren eine Organisation auf der Basis von Institutionen, die Interessen verschiedener Gruppen vertreten. Dem Wähler erscheint die Opposition fragmentiert und oft untereinander konkurrierend. 6 7 8
Stanislav Bondankewitsch, Transformazija politicheskoj i ekonomicheskoj sismtemy, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 10-44, hier S. 14. Way Lukan (with Steven Levitsky), Competitive Authoritarianism: Hybrid Regimes After the Cold War, New York: Cambridge University Press, 2010. Vital Silizki, Belarus, Anatomija preventyunaha autarytaryzmu, in: Geopalitychnae mesca Belarusi u europe i svece, pad red. Valer Bulgakau, Warschau, 2006, S. 47-81.
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Eine aktive politische Minderheit bleibt indes schwach, wenn sie sich nicht auf eine passive Unterstützung oder Neutralität der Mehrheit der Bevölkerung stützen kann, was weder während der Präsidentschaftswahlen 2006 noch 2010 der Fall war.9 Die Bruchlinien in der belarussischen Gesellschaft bzw. die Spaltung der Wählerschaft – so der belarussische Soziologe Manayeu – haben weniger eine nationale oder religiöse, sondern vielmehr eine soziale und ideologische Grundlage.10 Gesellschaftsvertrag Lukaschenkos Legitimation ergibt sich als Folge seiner Politik. Der sogenannte Gesellschaftsvertrag funktioniert nach der Formel: Die Bürger nehmen die Einschränkung ihrer Rechte und Freiheiten hin und erhalten dafür Frieden, Stabilität und Sicherheit.11 Der Staat setzt seine Finanzressourcen gezielt ein, entsprechend dem politischen Konjunkturzyklus: Vor Präsidentschaftswahlen werden die Einkommen erhöht, um Loyalität zu sichern. Doch die belarussische Wirtschaft stagniert seit Jahren und kann nur durch russische Subventionen am Leben gehalten werden. Aber auch in Russland stagniert die Wirtschaft und so wird es zu keiner erneuten Arbeitsmigrationswelle aus Belarus dorthin kommen.12 Die geringe Wettbewerbsfähigkeit von belarussischen Produkten belastet die Exportwirtschaft und verschlechtert die Leistungsbilanz. Ein weiteres wirtschaftliches Problem sind die gestiegenen Preise für Energieträger. Trotz stagnierender Einkommen ist dadurch die Inflation weiter gestiegen – sie lag 2013 bei etwa 19 Prozent. Die geringen Wachstumserwartungen – der IWF prognostiziert für 2014 (mit 0,9 Prozent) und 2015 (1,5 Prozent) mäßiges Wirtschaftswachstum – und die 2014 anfallenden hohen ausländischen Rückzahlungsforderungen lassen auch für die Zukunft keine Verbesserung erwarten. Es wären umfassende Maßnahmen erforderlich, um eine weitere Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage zu vermeiden. Wichtig wäre, die Wirtschaft zu diversifizieren und zu modernisieren, den Anteil der produzierenden Industrie und der exportorientierten Wirtschaft zu erhöhen – auch im Hinblick auf die Machtsicherung bei den für 2015 geplanten Präsidentschaftswahlen. 9
Vgl. Valerij Karbalevich, Demokraticheskaja oppozicija, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 265-297, hier S. 292. 10 Vgl. Oleg Manayeu, Transformazija elektorata, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 45-85, hier S. 50. 11 Quelle: Das Belarussische Institut für strategische Studien (BISS). BISS führt Untersuchungen zu den Formen der gesellschaftlichen Unterstützung des Regimes in Belarus. 12 Die Abwertung des weißrussischen Rubels um 171,7 Prozent und eine dreistellige Inflation (108,7 Prozent) verschlechterten 2011 deutlich die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Dies löste eine Arbeitsmigrationswelle nach Russland aus. Nach unterschiedlichen Quellen waren bis zu 300 000 belarussische Arbeitsmigranten in Russland beschäftigt.
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Doch die Zustimmung für den amtierenden Präsidenten steigt – trotz der stagnierenden Wirtschaft. Der Grund hierfür ist die Sorge der belarussischen Bevölkerung wegen der Krise in der benachbarten Ukraine. Auf irrationale Weise hilft die Instabilität in der Ukraine, soziale Stabilität in Belarus zu erhalten. Es wäre jedoch falsch, das autoritäre Regime in Belarus nur als rein personifiziertes Regime des Präsidenten zu betrachten. Außerdem wäre es fehlerhaft, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem Lukaschenko-Regime und etwa dem Kutschma-Regime in der Ukraine zu sehen. Eine Umwandlung nach dem „ukrainischen“ Prinzip würde nicht funktionieren. Die Beschaffenheit der Beziehungen von Macht und Eigentum unterscheiden sich in beiden Fällen. Die Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft – wie es in der Ukraine der Fall ist –, sind in Belarus nicht in gleichem Maße ausgeprägt. Die politische Transformation der 1990er Jahre in Belarus bestand darin, dass sich die jungen Kommunisten und die alten Komsomolanhänger, die Lukaschenko an die Macht brachten, auf Erfahrungen der alten sowjetischen Nomenklatura stützen konnten.13 Am 24. November 1996 fand das umstrittene Referendum statt, das die Opposition aus dem politischen System herausgeschoben hat. Seitdem haben sich die vier folgenden entscheidenden Gruppen innerhalb der Elite gefestigt: die regionale Gruppe aus Schklou und Mogileu (die Heimat des politischen Aufstiegs von Lukaschenko), der Sicherheitsblock um Viktor Sheiman,14 Technokraten und die Nomenklatura sowie die Wirtschaftselite, wobei deren Eigentumsrechte zum Teil innerhalb des Systems gesichert sind.15 Zwar gab es in vielen postsozialistischen Ländern politische Umbrüche, die sogenannten Farbenrevolutionen.16 Dieser Prozess begann in den Ländern mit günstigen Voraussetzungen für politische Änderungen – etwa in Georgien. Doch er konnte sich nicht auf die Länder ausweiten, in denen die strukturelle Unterstützung für Veränderungen schwach ausgeprägt war – zum Beispiel in Belarus und Aserbaidschan. Politische Instabilität nach den Umbrüchen gab den dort herrschenden Autokraten Argumente, um ihre eigene Machtposition zu legitimieren und zu festigen. In Belarus wurde nun ein Modell geschaffen, das eine Symbiose aus dem Staatskapital und einzelnen Marktelementen darstellt. Man vermied eine Schocktherapie und Reformen, die zur Verschlechterung der Lebensstandards der Bevölkerung hätten führen können, und sorgte dafür, dass der Staat in allen Fragen der Sozial- und Wirtschaftsentwicklung entscheidet und das Land weiterhin abhängig von russischen Energieträgern bleibt. 13 Andrej Ljahowitsch, Pravjaschaja elita i burokratija, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 194-224, hier S. 195. 14 Viktor Sheiman ist zurzeit Assistent des Präsidenten für besondere Aufgaben und einer der engsten Vertrauten von Lukaschenko seit dem Präsidentschaftswahlkampf 1994. 15 Vgl. Ljahowitsch Pravjaschaja elita i burokratija, in: Prezidentskije vybory v Belarusi, a.a.O. (Anm.1), S. 194-224, hier S. 205. 16 Angefangen mit der Ukraine 2004, Kirgisistan, Georgien etc.
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Die außenpolitische Schaukelpolitik Die belarussische Regierung wählt ihre außenpolitischen Partner nach pragmatischen Gesichtspunkten aus. Die zwei wichtigsten sind die EU und Russland bzw. die Zollunion und ihre Nachfolgerin, die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU), die maßgeblich die internationale Umgebung von Belarus bestimmen. Zum 1. Januar 2015 soll der Vertrag über die Gründung der EAWU zwischen Belarus, Russland, Kasachstan und Armenien in Kraft treten. Die politischen Eliten der (potenziellen) Mitgliedstaaten sehen in der Wirtschaftsintegration die Möglichkeit, ihren innenpolitischen Status aufrechtzuerhalten. Der ursprüngliche Plan war, ausgehend von der gemeinsamen Freihandelszone durch die Zollunion (seit 2010), eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, die später in eine politische Union münden würde. Die Wirtschaftsintegration soll ein wichtiges Element der Institutionalisierung im postsowjetischen Raum sein, neben der Bildung eines Unionsstaats Russland und Belarus, der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit (OVKS). Doch Belarus ist nur wenig an einer politischen Union mit Russland interessiert. Viel wichtiger sind Wirtschaftsinteressen, das heißt die Subventionierung durch Russland als Gegenleistung für Loyalität. Belarus ist vor allem daran interessiert, sein Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten. Das Land profitiert vom billigen russischen Erdöl und von niedrigen Zöllen für Exporte von Erdölprodukten in Drittstaaten. Exportorientierte Unternehmen genießen großzügige Subventionen. Zudem möchte es freien Zutritt zum gemeinsamen Markt der drei Länder bekommen, um einheimische Waren zu vertreiben, Investoren anzuziehen und die Positionen seiner Unternehmen auf den Auslandsmärkten zu stärken. Die Eurasische Wirtschaftsunion indes zielt auf die Wiederherstellung der alten industriellen Produktionsketten ab. Dabei verdeutlicht der Vertrag die Absicht Russlands, weiterhin die alleinige Kontrolle über viele Bereiche – darunter auch den Gas- und Erdöltransport – und somit seine führende Rolle in Eurasien aufrechtzuerhalten. Gemeinsame Märkte im Erdgas- und Erdölbereich sollen erst in zehn Jahren geschaffen werden. Sensible Fragen wie die Zölle auf Erdölprodukte werden also weiterhin bilateral verhandelt. Die Finanzmärkte werden nicht integriert. Es gelten weiterhin viele Handelsbeschränkungen. Die Analyse der Handelsstruktur zeigt, dass sich die Zollunion auf die Beförderung und Weiterverarbeitung fossiler Brennstoffe und den Vertrieb von Rohstoffen konzentriert.17 Aufgrund dieser Spezialisierung wird es nicht einfach sein, langfristig eine führende Rolle auf dem Weltmarkt einzunehmen. Denn die
17 Maria Davydchyk, Ekaterina Romanova, Vergebliche Liebesmüh’, in: IP Länderporträt Russland, Juli/ August 2014, S. 14-19.
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Belarus: Musterbeispiel autoritärer Transformation
Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und anderen Rohstoffen bleibt abhängig von der weltweiten Konjunktur. Die Unterschiede im wirtschaftlichen Entwicklungsniveau der Mitgliedsländer, fehlende Synergien der Volkswirtschaften, mangelndes Innovationspotenzial und die unterschiedlichen Perspektiven für die zukünftige Entwicklung der Union – mit zunehmender Politisierung der Integration – stellen die Hauptprobleme der Eurasischen Wirtschaftsintegration dar. Heute lassen sich bereits erste Diskrepanzen zwischen den gesetzten Zielen und dem Verlauf der Integration beobachten. Belarus ist daher auch an einer Zusammenarbeit mit der EU interessiert – auch weil Moskau seinen Druck auf das Regime in Minsk erhöht. Als Gegenleistung für die eurasische Integration und die politische und ökonomische Unterstützung erwartet Moskau von Minsk, dass es seine Schlüsselfirmen privatisiert und verkauft. Zudem blieben auch die Versuche, durch neue Partnerschaften, etwa mit Venezuela oder China, sich von der Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland zu befreien, ohne Erfolg. So findet sich Minsk zurückgeworfen auf die Position zwischen den Integrationsverpflichtungen gegenüber Russland und den politischen Forderungen der EU. Belarus strebt ein außenpolitisches Gegengewicht zu Russland an und versucht, die eigene Innen- und Wirtschaftspolitik durch konkrete Wirtschaftsprojekte, Handel, Investitionen und Kredite zu stärken. Die Regierung in Minsk versucht, die 2009 angedachten Projekte der Östlichen Partnerschaft in den Bereichen Energie, Infrastruktur und industrielle Modernisierung umzusetzen. Die EU führt gegenüber Belarus die sogenannte Politik des kritischen Engagements. Brüssel knüpft die Zusammenarbeit an politische Bedingungen, vor allem an die Verbesserung der Menschenrechtslage. Die 2009 lancierte Östliche Partnerschaft (ÖP)18 hat jedoch in Belarus bisher wenig bewirkt. Neben der ÖP umfasst die Politik des kritischen Engagements auch die Unterstützung der Zivilgesellschaft, den Dialog mit der belarussischen Gesellschaft über Modernisierung sowie den Einsatz gezielter Sanktionen gegen ausgewählte Personen und Unternehmen. Problematisch ist, dass Minsk bis jetzt die ÖPPolitik der EU nicht als Ressource zur Modernisierung des Landes sieht, sondern nur auf zusätzliche Hilfen und Investitionen hofft, um damit auch dem Druck aus Russland standzuhalten. Hingegen sieht die belarussische Gesellschaft – vertreten etwa durch NGOs und die Business Community – in der EU einen
18 Die ÖP wurde 2009 auf Initiative von Polen und Schweden als Instrument der europäischen Nachbarschaftspolitik gegenüber Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine ins Leben gerufen. Konkrete Ziele sind die Reformen der politischen Systeme, die Liberalisierung der Wirtschaft und die Vertiefung der institutionellen Beziehungen zur EU. Die Zusammenarbeit findet auf bilateraler (EU + 1) und multilateraler (EU + mehrere Partnerländer) Ebene statt. Auf gesellschaftlicher Ebene wurden Formate entwickelt, um die Implementierung der ÖP-Programme zu begleiten und zur Diskussion über die politischen Erfordernisse, Ziele und Strategien beizutragen.
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wichtigen Akteur, der Politik, Wirtschaft und Sicherheit voranbringen könnte, dafür aber keine politischen und finanziellen Ressourcen bereitstellt. Aus belarussischer Sicht fehlt es der EU-Politik an Kontinuität. Je nach Ausgang der Wahlen in Belarus distanziert sich Brüssel entweder von dem Land und versucht das dortige Regime zu isolieren, oder es ruft eine politische Tauwetterperiode aus. Sowohl die Sanktionspolitik als auch die Kooperationsbemühungen der EU werden zudem durch den Machtanspruch Russlands in Belarus neutralisiert. Die EU scheint das hinzunehmen und akzeptiert die Rolle Russlands. Die EU konnte und wollte die Kosten eines Konflikts nicht tragen. Dabei hat es Brüssel bisher nicht geschafft, eine Strategie für Belarus zu entwickeln, die von allen Seiten akzeptiert wird – die weder von Minsk noch von Moskau als Versuch der Distanzierung des Landes von Russland gesehen wird. Und schließlich ist die EU ratlos, wie sie mit einem europäischen Land umgehen soll, dessen politische Elite überhaupt kein Interesse an einer Integration hat. Abwesenheit einer realen außenpolitischen Alternative Es stellt sich die Frage, wie die EU ihre Politik so entwickeln kann, dass die neue politische Realität berücksichtigt wird – nämlich erstens die Verpflichtungen von Belarus im Rahmen der Eurasischen Integration, zweitens die Sicherheitsbedrohungen in der östlichen Nachbarschaft der EU und drittens die prekäre Wirtschaftssituation in Belarus. Die Zollunion wurde bisher von der europäischen Politik ignoriert. Erst am 26. August 2014 fanden Verhandlungen in Minsk statt, die zwar in erster Linie für die Außenwahrnehmung so dargestellt wurden, dass sie auf die Lösung des Konflikts zwischen Russland und die Ukraine abzielten. Jedoch waren sie in das Treffen des Obersten Rates der EAWU19 eingebettet worden, an denen nun auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, Handelskommissar Karel De Gucht und Energiekommissar Günther Oettinger teilnahmen. Der EU müsste inzwischen klar sein, dass es immer schwieriger werden wird, bilaterale Beziehungen zwischen der EU und Belarus aufzubauen. Es wird deutlich, dass die Europa-Orientierung lediglich kulturell motiviert ist und weniger Ausdruck einer realen alternativen Außenpolitik ist: Belarus’ Aussicht auf einen EU-Beitritt wird immer vager. Die Kosten einer schrittweisen Annäherung an die EU sind für das belarussische System zu hoch. Nur solange Russland dieses Spiel mitspielt, kann das belarussische System überleben. Die Entscheidung wird somit immer zugunsten Russlands fallen. Doch seine Fokussierung auf die eurasische Integration wird Belarus, angesichts der aktuellen Krise um und in der Ukraine, immer mehr in die Isolation treiben. 19 Der Oberste Rat der Eurasischen Wirtschaftsunion ist das höchste Gremium, das aus den Staats- und den Regierungschefs der Mitgliedsländer besteht.
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Belarus: Musterbeispiel autoritärer Transformation
Im Laufe der Ukraine-Krise positionierte sich Minsk mehrfach als Vermittler. Es versucht neutral zu bleiben und – vor allem gegenüber Russland – Distanz zu bewahren. Brüssel und Minsk müssen sich bemühen, in der ÖP mehr Potenziale zur Bewältigung aktueller Herausforderungen zu erkennen und sie dann in konkrete Ziele und realistische Strategien umzusetzen. In Bezug auf Belarus bieten sich für die EU weder eine Einschränkung der weiteren ÖP-Kooperation noch eine tiefergehende Zusammenarbeit ohne politische Bedingungen an. Im ersten Fall verlöre die EU ihr Interesse aus dem Auge, bei ihren Nachbarn für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen und sie institutionell an sich heranzuführen. Im zweiten Fall würde der Anspruch der EU, wertegeleitete Politik voranzutreiben, an Glaubwürdigkeit einbüßen, da in Belarus weiterhin ein Mangel an demokratischer Entwicklung besteht. Im Vorfeld des nächsten ÖP-Gipfels in Riga 2015 werden die Verantwortlichen in Minsk versuchen, die EU davon zu überzeugen, dass eine trilaterale Zusammenarbeit mit Russland, beziehungsweise mit der EAWU, zielführend sei. Glaubwürdige Politik von beiden Seiten ist vonnöten Mit Blick auf den ÖP-Gipfel in Riga hofft Minsk, dass die Wirtschaftsdimension neben der politischen Rhetorik einen wichtigen Platz einnehmen wird. Die EU sieht jedoch ein Problem darin, dass Minsk die ÖP nur als ein für seine Interessen nützliches Format wahrnimmt. Dabei ist die EU selbst unfähig, durch die ÖP für mehr Attraktivität durch konkrete soziale und wirtschaftliche Anreize zu werben. Wenn die EU in Belarus erfolgreich sein will, ist es notwendig, die sozioökonomische Entwicklung im Lande besser zu berücksichtigen. Für Minsk wird es wichtig sein, Vertrauen zu gewinnen, institutionelle Plattformen zu entwickeln und die Glaubwürdigkeit durch politische und wirtschaftliche Reformen zu beweisen. Die Festigung des Autoritarismus ist die Folge einer mindestens zwei Jahrzehnte langen Entwicklung in Belarus, die sich aus der spezifischen gesellschaftlichen und innenpolitischen sowie wirtschaftlichen Situation wie auch aus der besonderen außenpolitischen Konstellation ergibt. Die bröckelnde Sicherheitslage in Belarus’ außenpolitischer Umgebung verschiebt die innenpolitischen Entwicklungsprioritäten in Richtung „noch mehr Staat für Sicherheit und Wohlstand“. Diese Tendenzen sollten in der Zeit einer grundsätzlichen Neuausrichtung der EU oder der deutschen Ostpolitik infolge der UkraineKrise bedacht werden. Die EU sollte sich daher bemühen, die gesellschaftliche Ebene der Beziehungen zu stärken, und den Austausch der Menschen zu fördern. Die Liberalisierung der Visapolitik ist hierbei entscheidend. Solange die EU sich allerdings über ihre grundlegenden Interessen in Belarus nicht klar ist und Brüssel und Minsk eine langfristige kulturelle und gesellschaftliche Integration nicht zum gemeinsamen Ziel erklären, bleibt die EU-Politik des kritischen Engagements unglaubwürdig und wirkungslos. Damit dürften die politischen Veränderungen in Minsk in noch weitere Ferne rücken.
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Volksrepublik China: Ein Erfolgsmodell? Stefan Friedrich
Die Volksrepublik China entwickelte sich infolge der internationalen Schuldenund Finanzkrise 2008 zum Hoffnungsträger für die gebeutelten Volkswirtschaften rund um den Globus. Gerade deutsche Politiker und Vertreter der Wirtschaft betonten immer wieder, dass die Bundesrepublik die Folgen der Krise unter anderem auch deshalb so gut überstand, weil sich Chinas Nachfrage nach deutschen Produkten positiv entwickelte. Dadurch konnten die Rückgänge in Europa und den USA zumindest in Teilen ausgeglichen werden. Parallel zu dieser Entwicklung haben beide Seiten auch die politischen Beziehungen stark ausgebaut. Im Oktober 2014 fanden in Berlin die mittlerweile dritten deutschchinesischen Regierungskonsultationen statt – die ersten dieser Art, die China mit einem anderen Staat auf Ministerpräsidenten-Ebene pflegt. Diesem großen doppelten Plus stehen allerdings deutlich unterschiedliche Einschätzungen entgegen, besonders hinsichtlich Menschenrechtsfragen. Sie spielten in den bilateralen Beziehungen seit der blutigen Niederschlagung der friedlichen Protestbewegung von 1989 eine nicht zu unterschätzende Rolle für alle deutschen Regierungen. Veränderungen in Herrschaftsstruktur und der Legitimationsbasis der KP China Seit Gründung der Volksrepublik China 1949 herrscht in Peking mittlerweile die fünfte Führungsgeneration. Mit dem Machtantritt von Xi Jinping als Generalsekretär der KP China (Herbst 2012) und als Staatspräsident (Frühjahr 2013) steht erneut ein sehr starker Führer im Zentrum des de-facto Einparteienregimes. Der zuvor vorhandene Trend hin zu einer kollektiven Führung scheint zumindest für den Moment gestoppt. Alle Fäden laufen bei Xi zusammen. Selbst Ministerpräsident Li Keqiang wird im Vergleich zu seinem Vorgänger, Wen Jiabao, national und international als deutlich schwächer eingeschätzt. Und der großangelegte Kampf gegen die Korruption in der KP, der
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Volksrepublik China: Ein Erfolgsmodell?
auch ehemalige Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros trifft, hat Xi Jinping im Volk populär gemacht. Aber die Zeiten der totalitären Herrschaft eines Mao Zedongs gehören der Vergangenheit an. Mao konnte aufgrund seiner Rolle im chinesischen Bürgerkrieg und bei der Gründung der Volksrepublik eine umfassende Machtfülle erreichen. Dies war bei Deng Xiaoping noch in abgeschwächter Form der Fall. Während die beiden nachfolgenden Führungspersönlichkeiten direkt von Deng ausgewählt wurden, war der Auswahl des aktuellen KP-Chefs ein sehr langwieriger Abwägungsprozess innerhalb der Führungselite vorausgegangen. China ist nach wie vor ein autoritäres Regime, aber es gibt innerhalb der KPCh und in der chinesischen Gesellschaft mittlerweile sehr viele Strömungen, die Gewicht haben und die in wichtigen Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden müssen. Aus diesem Grunde wird das politische System Chinas als „fragmentierter Autoritarismus“ gekennzeichnet.1 Wirtschaftliche Entwicklung
Grundlegend für die Legitimität der Herrschaft der KP ist seit den 1990er Jahren die Entwicklung der Wirtschaft und die damit verbundene Verbesserung der Lebensverhältnisse für Mio. von Chinesen. Beobachter sprechen davon, dass die chinesische Führung nach dem 4. Juni 1989 mit der eigenen Bevölkerung eine Art „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen habe.2 Im Kern läuft dieser darauf hinaus, dass die Führung dem Volk im wirtschaftlichen Bereich enorme Freiräume gewährt, solange der Machtanspruch der KP China selbst nicht in Frage gestellt wird. Dieses Arrangement hat der Volksrepublik über zwei Jahrzehnte eine beispiellose Phase ununterbrochenen Wachstums beschert. In den 1990er und 2000er Jahren lagen die Wachstumsraten meist im zweistelligen Bereich – eine Entwicklung, die China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hinter den USA aufsteigen ließ. Getragen wurde dieser Erfolg vor allem von einem starken Export. Im Jahre 2009 konnte China erstmals die Bundesrepublik als „Exportweltmeister“ ablösen. Im Zuge der seit 2008 anhaltenden globalen Finanz- und Wirtschaftskrise musste China massive Auftragsrückgänge aus Europa und den USA bewältigen. Diesen negativen Entwicklungen begegnete die chinesische Führung mit
1 2
David Lampton, How China Is Ruled, in: Foreign Affairs, Januar/Februar 2014, S. 79. Volker Stanzel, Die Kommunistische Partei und ihr historischer Erfolg: Chinas prekärer Gesellschaftsvertrag, in: MERICS China Comment, (abgerufen am 24.10.2014).
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einem umfassenden Investitionsprogramm von knapp 390 Milliarden Euro. Ein Programm, von dem auch die deutsche Exportwirtschaft profitieren konnte.3 Auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf stieg enorm an: alleine zwischen 2000 und 2013 von 946 auf 6078 US-Dollar.4 Gleichzeitig ist jedoch bemerkenswert, dass die Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung und zwischen Arm und Reich in China deutlich zugenommen haben. In den Städten ist eine Mittelschicht entstanden, der Schätzungen zufolge zwischen 300 und 500 Mio. Menschen angehören. Aber auch die Zahl derer, die in absoluter Armut leben, konnte zwischen 1981 und 2010 um 680 Mio. Menschen reduziert werden. Damit ist China verantwortlich für ca. 75 Prozent der globalen Armutsreduktion.5 Gesellschaftliche Entwicklung
Auch wenn alle chinesischen Führungen seit Jiang Zemin (1989-2002) sehr deutlich gemacht haben, dass politische Reformen nicht auf der Agenda stehen, haben sich die Freiräume der meisten Chinesen in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich vergrößert. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen in China nutzen mittlerweile das Internet, und mehr als die Hälfte davon sind in sozialen Netzwerken aktiv. Allerdings sind hier die Grenzen, die der Staat im Zuge des „Gesellschaftsvertrags“ gezogen hat, besonders eng. Ein ganzes Heer von Spezialisten kontrolliert die Internetnutzung. Gleichzeitig werden alle technischen Möglichkeiten genutzt, um die eigene Bevölkerung vor bestimmten Inhalten zu „schützen“. Dies war 2014 besonders deutlich um den 25. Jahrestag von „Tiananmen“ zu beobachten. Alle Suchanfragen im Internet, die innerhalb der „großen Chinesischen Mauer“ gemacht wurden und nur im Entferntesten etwas mit diesen Ereignissen zu tun hatten, resultierten regelmäßig in Programmabstürzen. Selbstverständlich gibt es auch Möglichkeiten, diese „Mauer“ zu umgehen, jedoch sind dafür mehr als nur Grundkenntnisse notwendig. Darüber hinaus klagen Wirtschaftsvertreter, dass die Übertragungsraten bei Zugängen über IP-Server im Ausland vielfach stark verlangsamt sind. Die Zahl der Studierenden in China hat in den vergangenen 20 Jahren enorm zugenommen. Gab es Ende der 1990er Jahre nur ca. drei Mio. Studenten, so sind derzeit mehr als 31 Mio. Studierende an chinesischen Hochschulen einge-
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Das Konjunkturpaket in Höhe von 4000 Mrd. RMB wurde im November 2008 bekanntgegeben. Vgl. Konjunkturprogramme weltweit – Chancen in der Krise: VR China, in: Germany Trade & Invest, 21.5.2010, (abgerufen am 24.10.2014). Statistisches Bundesamt, China. Statistische Länderprofile Ausgabe 2014, S. 2. Vgl. Not Always with Us, in: The Economist, 1.6.2013, (abgerufen am 24.10.2014).
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schrieben.6 Hintergrund dieser Zunahme ist eine Entwicklung, die als Übergang zur „mass higher education“ bezeichnet wird. Knapp 400 000 Chinesen, oder 1,3 Prozent aller Studenten, studieren im Ausland. Dabei sind die beliebtesten Zielländer die USA, Japan und Australien.7 Eine regierungskritische Berichterstattung innerhalb des Landes ist, wenn überhaupt, nur bei Nischenthemen oder im Bereich anerkannter Korridore existent. Selbst ausländische Journalisten sehen sich Repressalien ausgesetzt. So waren die Internetseiten der New York Times und von Bloomberg in China nach den Veröffentlichungen über die Reichtümer, die Mitglieder der Familie des damaligen Ministerpräsidenten Wen Jiabao bzw. der des kommenden starken Mannes Xi Jinping angehäuft hätten, zeitweise nicht zugänglich.8 Darüber hinaus zögerten die chinesischen Behörden die Verlängerung der Visa für die Mitarbeiter beider Medienhäuser bis zum allerletzten Moment hinaus. Auch deutsche Medien waren immer wieder von solchen Entwicklungen betroffen, zum Beispiel Die Zeit (nach einem Interview mit dem Dalai Lama im Sommer 2013), das ARD-Fernsehen und die Süddeutsche Zeitung (nach den China Offshore-Leaks Berichten).9 Die Rolle des Militärs in China ist im Vergleich zu anderen Autokratien bemerkenswert. Schon seit den Tagen von Mao Zedong untersteht das Militär der direkten Führung durch die Partei. Die überragenden Führungspersönlichkeiten haben dabei stets darauf geachtet, dass sie den Vorsitz der Zentralen Militärkommission (ZMK) innehatten. Im Verlauf des Übergangs von einer Führungsgeneration auf die nächste reklamierte der Vorgänger diesen Vorsitz zumindest noch für eine bestimmte Übergangsfrist. Für viele Beobachter war es deshalb überraschend, dass Xi Jinping fast unmittelbar nach seiner Ernennung zum Generalsekretär der KP China im Herbst 2012 auch das Amt des Vorsitzenden der ZMK übernahm. Dies galt als frühes Signal, dass Xi seine Machtstellung in der KP ungewöhnlich schnell und umfassend konsolidierte. Regelmäßig wird das offizielle Verteidigungsbudget mit zweistelligen Wachstumsraten bedacht. Allein 2013 wurden die offiziellen Rüstungsausgaben um 10,7 Prozent auf ca. 91,3 Milliarden Euro erhöht. Dabei ist es bemerkenswert, dass das Verteidigungsbudget erneut geringer ausfiel als die Ausgaben
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Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD), Bildungsmarkt-Informationen, (abgerufen am 24.10.2014). Ebd. Vgl. David Barboza, Billions in Hidden Riches for Family of Chinese Leader, in: New York Times (NYT), 25.10.2012, und (abgerufen am 24.10.2014). Vgl. Alle Berichte und Inhalte über ‚China Offshore-Leaks‘ dringend zensieren und löschen, in: Wikinews, 24.1.2014, (abgerufen am 24.10.2014).
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für die innere Sicherheit des Staates, die mit 97,5 Milliarden Euro veranschlagt wurden.10 Herausforderungen für die Stabilität In den vergangenen Jahren wurde die Volksrepublik punktuell immer wieder von terroristischen Anschlägen getroffen. Bei einem Anschlag am 1. März 2014 in Kunming kamen 33 Menschen ums Leben. Ähnlich wie bei dem Anschlag in Urumqi im Juli 2009 macht die chinesische Seite uighurische Separatisten für die Taten verantwortlich.11 Um die vielfältigen Herausforderungen des Landes bewältigen zu können, war und ist die hohe Dynamik der chinesischen Wirtschaft notwendig. Jährlich strömen mehr als acht Mio. Absolventen der zahlreichen Universitäten auf den Arbeitsmarkt. Diese können nur integriert werden, wenn ein bestimmtes Mindestwachstum aufrechterhalten bleibt. Lange Zeit ging man von einem notwendigen Mindestwachstum des BIP von 8 Prozent aus. Seit 2012 und 2013 „nur noch“ 7,7 Prozent erzielt wurden und für 2014 ein Wachstum des BIP von 7,5 Prozent vorhergesagt wird, macht in Peking der Begriff der „xin changtai“ die Runde. Dies bedeute, dass sich das Land am Wendepunkt zu einer „neuen Normalität“ befindet, innerhalb derer man sich an geringere Wachstumszahlen gewöhnen müsse.12 Letztlich mag die chinesische Führung über die niedrigeren Wachstumszahlen sogar erfreut sein. Denn im Kontext des kontinuierlichen Hochwachstums war immer wieder die Gefahr einer drohenden Überhitzung der chinesischen Wirtschaft beschworen worden. Langfristig wird auch die rückläufige demografische Entwicklung in China Einfluss auf die chinesische Wirtschaftsentwicklung haben. Derzeit gibt es zwar noch ein geringes Bevölkerungswachstum von 0,5 Prozent, letztlich wird aber der Anteil der älteren Menschen in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Auf eine kurze Formel gebracht, bedeutet dies: China wird alt, bevor es reich geworden ist. Auch wird das derzeitige Wachstum in China sehr teuer bezahlt. Die Umweltbelastung ist zu einem der größten Probleme des Landes geworden. Allein die Luftverschmutzung erreicht häufig das Vielfache der Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation – und das nicht nur in den großen Metropolen
10 Nele Noesselt, Saskia Hieber, Größer, stärker, global? Chinas Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Führungswechsel, in: GIGA Focus, Nr. 5/2013; Aufrüstung in Fernost: China schraubt Militärausgaben hoch, in: Der Spiegel, 5.3.2013, (abgerufen am 24.10.2014). 11 Johnny Erling, Terrorismus macht vor Chinas Grenzen nicht halt, in: Die Welt, 6.3.2014, (abgerufen am 24.10.2014). 12 Stefanie Schmitt, gtai – Wirtschaftstrends VR China – Jahresmitte 2014, 7.7.2014, S. 4.
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oder Industriezentren. Dies wird von der Bevölkerung zunehmend beklagt. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Vielzahl der Proteste im Land.13 Die größte Gefahr für die Stabilität in China geht jedoch von der grassierenden Korruption im Lande aus. Damit lässt sich auch die großangelegte Antikorruptions-Kampagne erklären, die Xi Jinping angeregt hat. Dabei ist nicht die Tatsache so überraschend, dass der neue starke Mann eine solche Kampagne durchführt – dies war nach den vorangegangenen Generationswechseln genauso. Der große Unterschied besteht darin, dass Xi Jinping bestimmte Grenzen, die zuvor sakrosankt waren, durchbrach. So lässt Xi auch sogenannte „Tiger“ wie den ehemaligen Sicherheitschef Zhou Yongkang, ein früheres Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, verfolgen.14 Gerade dieser Tabubruch hat Xi ungeheure Anerkennung in der Bevölkerung eingebracht. Dennoch verstummen nicht diejenigen, die herausstellen, dass auch die AntikorruptionsKampagne Xis in erster Linie dazu dienen soll, unliebsame Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Sollte sich herausstellen, dass doch nicht alle „Sünder“ gleich sind, sondern vor allem politische Konkurrenten im Fadenkreuz stehen, dann könnte sich zum einen das positive Bild Xis in der Bevölkerung wandeln. Zum anderen wäre dann damit zu rechnen, dass es auch aus dem Apparat selbst Widerstand gegen diese Politik geben wird. Bislang kommt offene Kritik eher aus anderer Richtung. Die Proteste vom Spätsommer 2014 in Hongkong richteten sich gegen die von Peking geplante Wahlrechtsreform. Angesichts der Vielzahl von Herausforderungen haben sie für die chinesische Führung eine besondere Brisanz. Auf der einen Seite will man nicht zulassen, dass in Hongkong eine echte Demokratie auf chinesischem Territorium entsteht – mit allen möglichen Folgen, die ein solches Signal möglicherweise auch für die Volksrepublik selbst haben könnte. Zum anderen will man eine gewaltsame Lösung vermeiden. Sie könnte vehemente Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft nach sich ziehen und würde die Hoffnungen auf eine Lösung der Taiwan-Frage im Sinne des Hongkonger Modells – ein Staat, zwei Systeme – beeinträchtigen.
13 Zhu Yi, Wachsendes Rechtsbewusstsein ohne Scheu vor Konflikten: Chinas Bürger fordern Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen ein, in: Merics China Monitor Nr. 16, 29.8.2014, (abgerufen am 24.10.2014); Hou Liqiang, Report Identifies Sources of Mass Protests, in: China Daily, 4.9.2014, (abgerufen am 24.10.2014). 14 Shai Oster, President Xi’s Anti-Corruption Campaign Biggest Since Mao, in: Bloomberg.com, 4.3.2014, (abgerufen am 24.10.2014).
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Die Rolle Chinas in der Welt Bereits mit dem Einzug in die Vereinten Nationen 1971 und der damit verbundenen Position als Ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrats mit Vetorecht erlangte die Volksrepublik China zumindest partiell den Status einer Großmacht. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist es Peking gelungen, diese Position mit wirtschaftlichem und zusätzlichem politischem Gewicht anzureichern. In den vergangenen Jahren wurde in diesem Zusammenhang sogar die These von einer entstehenden G2 – USA und China – diskutiert. Dies wird von chinesischer Seite zwar stets zurückgewiesen. Dass Peking allerdings anstrebt, langfristig eine sehr zentrale Rolle in der Welt zu spielen, wird nicht bestritten. Nur ob dies als „responsible stakeholder“ im westlichen Sinne oder nur entsprechend eng gezogener eigener Interessen und Prinzipien erfolgen wird, ist offen. Auf jeden Fall engagiert sich China mittlerweile sehr massiv in UNFriedensmissionen. Peking hatte 1992 damit begonnen, Soldaten für UNFriedensmissionen bereitzustellen. Mitte 2014 belief sich deren Zahl auf 2192.15 Dabei wurde im September 2014 auch erstmals ein bewaffneter Einsatz genehmigt; China kam damit einer Anfrage der UN zur Befriedung der Situation im Südsudan nach.16 Auch beim Schutz der internationalen Seefahrtswege ist China gemeinsam mit anderen Staaten engagiert. So unterstützen chinesische Verbände die internationale Operation Atalanta zur Pirateriebekämpfung vor der Küste Somalias.17 Auch in der multilateralen Gipfeldiplomatie hat sich die Volksrepublik zu einem immer wichtigeren Player entwickelt. Sei dies innerhalb der G20, der APEC, bei dem ASEM-Treffen oder den ASEAN plus 3. China spielt dort meist eine zentrale Rolle. Darüber hinaus bemüht sich China, zu einzelnen Regionen der Welt neue gefestigte Beziehungen aufzubauen. Im Juli 2012 fand bereits das fünfte – alle drei Jahre organisierte – Forum on China-Africa Cooperation (FOCAC) statt. Die Tatsache, dass daran fast alle afrikanischen Staats- und Regierungschefs teilnahmen, zeigt die Attraktivität, die diesem Forum auch von afrikanischer Seite beigemessen wird.18 15 Zum Vergleich: Großbritannien: 285; USA: 113; Russland: 92; Deutschland: 204. Vgl. Vereinte Nationen, Troop and Police Contributors, (abgerufen am 24.10.2014). 16 Johnny Erling, Chinas Soldaten sollen Ölfelder in Afrika schützen, in: Die Welt, 26.9.2014, (abgerufen am 24.10.2014). 17 Vgl. EU Naval Force and Chinese Navy Ships Meet at Sea in the Gulf of Aden, in: eunavfor.eu, 24.9.2014, (abgerufen am 19.10.2014); Mission, in: eunavfor.eu, (abgerufen am 24.10.2014). 18 Sebastian Fuchs, China, Indien und Brasilien als Akteure in Afrika, in: KAS-Auslandsinformationen Nr. 1/2, 2013, S. 6-29, hier S. 22.
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Eine besondere Rolle spielen die sogenannten BRICS-Staaten. Hier wird die von einzelnen Beobachtern identifizierte Schattenaußenpolitik der VR China sehr deutlich. Man versuche über die Stärkung dieses Zusammenschlusses das traditionelle internationale Gefüge zu verändern.19 Diesem Ziel kann auch die Weiterentwicklung der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) dienen, die von westlichen Beobachtern mitunter als Gegen-NATO bezeichnet wird. Dies ist vermutlich zu viel der Ehre für diese Organisation. Aber die Tatsache, dass sie ihre Mitgliederzahl und vor allem die Zahl der Beobachter (inkl. Iran seit 2005) deutlich erhöht hat, erregt im Westen großes Aufsehen.20 In den vergangenen Jahren wuchs die Sorge ausländischer Beobachter, dass die Volksrepublik zunehmend dahin tendieren könne, noch offene Grenzfragen im ostchinesischen Meer (mit Japan) und im südchinesischen Meer (mit Vietnam und den Philippinen) offensiver anzugehen. So kam es im Streit mit Japan um die Diaoyu-/Senkaku-Inseln zu kleineren Zwischenfällen. Auch mit den Philippinen sind die Beziehungen seit einigen Jahren belastet, da Peking seinen Anspruch auf Gebiete im südchinesischen Meer nicht wie von Manila gewünscht vor einem internationalen Schiedsgericht verhandelt sehen will.21 Deutschlands Beziehungen zur Volksrepublik China Es wird interessant sein, sich in einigen Jahren die heutigen Einschätzungen von Experten noch einmal anzusehen: Ein Blick zurück ins Jahr 2007 zeigt, wie aufschlussreich eine solche Betrachtung sein kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte gerade – an einem Sonntagnachmittag – den geistlichen Führer der Tibeter und Friedensnobelpreisträger, den Dalai Lama, zu einem einstündigen privaten Gedankenaustausch im Bundeskanzleramt getroffen. Führende ChinaExperten in Deutschland waren außer sich. Sie werteten dies als unverzeihlichen Fauxpas der Kanzlerin und sagten voraus, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern damit auf Jahre vergiftet sein würden. In der Tat erlebten die bi19 Moritz Rudolf, Mikko Huotari, Johannes Buckow, Chinas Schatten-Außenpolitik: Parallelstrukturen fordern die internationale Ordnung heraus, in: Merics China Monitor Nr. 18, 23.9.2014, (abgerufen am 24.10.2014). 20 Shanghai Organisation Cooperation, (abgerufen am 24.10.2014); Kerstin Geppert, Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Anti-NATO-Bündnis oder stabilisierender Faktor in Zentralasien?, in: KAS-Länderbericht, Januar 2010, (abgerufen am 24.10.2014). 21 Nadine Godehardt, Alexandra Sakaki, Gudrun Wacker, Sino-japanischer Inselstreit und europäische Beiträge zur Deeskalation, in: Volker Perthes, Barbara Lippert (Hrsg.), Ungeplant bleibt der Normalfall. Acht Situationen, die politische Aufmerksamkeit verdienen, SWP-Studie, Sept. 2013, S. 24-28, (abgerufen am 24.10.2014); Gerhard Will, Tough Crossing: Europa und die Konflikte in der Südchinesischen See, SWP-Studie, Juni 2014, (abgerufen am 24.10.2014).
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lateralen Beziehungen aufgrund der Reaktionen Pekings auf dieses Treffen eine Phase deutlicher Abkühlung. Peking sagte eine Reihe von hochrangigen bilateralen Treffen ab. Aber spätestens seit 2009 kann von einem auf Jahre vergifteten Verhältnis keine Rede mehr sein. Die deutsch-chinesischen Beziehungen haben sich gerade unter Kanzlerin Merkel weiter intensiviert. Sie scheinen gefestigter, umfassender und stabiler zu sein als alle anderen Beziehungen europäischer Nachbarländer mit dem Reich der Mitte. Um dies zu erklären, soll hier kurz auf einige Besonderheiten der deutsch-chinesischen Beziehungen, der chinesischen Außenpolitik selbst, aber auch der China-Politik Angela Merkels eingegangen werden. Deutsch-chinesische Beziehungen zwischen Wirtschaftsförderung und Menschenrechten
Ohne die breite wirtschaftliche Grundlage wäre der Erfolg der deutschen China-Politik nicht denkbar. Hier liegt eine wichtige Kontinuität der bilateralen Beziehungen seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Chinas Ende der 1970er Jahre. Das bilaterale Handelsvolumen erreichte 2013 140 Milliarden Euro, wobei die Volksrepublik bei deutschen Exporten (rund 67 Milliarden) an fünfter und bei den Importen (rund 73 Milliarden) sogar an zweiter Stelle stand.22 Infolge der internationalen Schulden- und Finanzkrise hat Deutschland – genau wie viele andere westliche Staaten – von der guten Konjunktur in China und dem dortigen Investitionsprogramm sehr profitiert. Aber auch für China ist Deutschland ein extrem wichtiger Partner: als Absatzmarkt wie auch als Technologiepartner für den chinesischen Modernisierungsprozess. Diese positive Entwicklung übertrug sich auch auf den Bereich der politischen Beziehungen. Diese wurden gerade in den letzten zehn Jahren weiter intensiviert und haben ein unvergleichlich hohes Niveau erreicht. Bereits 2004 vereinbarten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Ministerpräsident Wen Jiabao eine „strategische Partnerschaft in globaler Verantwortung“. Die erstmals 2011 durchgeführten Regierungskonsultationen auf Ebene der Regierungschefs sind ein weiteres eindrückliches Beispiel. Hinzu kommen die sehr breit gefächerten Dialogmechanismen. Ein zentraler Bestandteil der Dialogmechanismen ist der Rechtsstaatsdialog. Dieser ist eine direkte Folge der Niederschlagung der studentischen Protestbewegung in China im Jahr 1989 („Tiananmen“). Die damals ausgesprochenen Sanktionen des Westens hatten dabei einen vorübergehenden negativen Einfluss auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Bis auf das nach wie vor gültige Waffenembargo wurden diese nach wenigen Jahren aufgehoben. Viel entscheidender ist die Tatsache, dass sich dieses Ereignis tief in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit eingegraben hat, nicht zuletzt, da im Zuge der 22 Statistisches Bundesamt, Außenhandel 2013, 19.9.2014.
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ostdeutschen Protestbewegung im Herbst 1989 die Sorge formuliert worden war, Ostberlin könnte einer „chinesischen Lösung“ zuneigen. Gemeint war der Einsatz von Waffengewalt gegen friedliche Demonstranten. Dies war glücklicherweise nicht der Fall. Der Schatten von „Tiananmen“ prägt nachhaltig die bilateralen Beziehungen. Bis heute wird die deutsche Berichterstattung dazu quasi reflexartig mit der neuen Gretchenfrage verbunden: „Wie haltet ihr es mit den Menschenrechten?“ Auch wenn dieses Thema bereits vor 1989 in der deutschen Öffentlichkeit durchaus diskutiert wurde – herausragendes Beispiel war eine Bundestagsresolution zur chinesischen Tibet-Politik im Oktober 1987 – so waren es letztlich die Ereignisse um den 4. Juni 1989, die es bundesdeutschen Politikern nachgerade unmöglich machten, im Umgang mit der Volksrepublik das Thema Menschenrechte auszusparen. Helmut Kohl, der die Bedeutung Chinas für die deutsche Wirtschaft schon früh erkannt hatte, war nach den Tiananmen-Ereignissen von 1989 darum bemüht, die Beziehungen möglichst schnell wieder zu normalisieren. Dabei musste er auf die öffentliche Meinung in Deutschland Rücksicht nehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, machte sich Kohl die Situation zunutze, dass nicht allein die chinesische Wirtschaft Anfang der 1990er Jahre an Fahrt gewann, sondern ein asiatisch-pazifisches Jahrhundert prognostiziert wurde. In diesem Kontext veröffentlichte die Bundesregierung 1993 eine Asien-Strategie, in deren Zentrum die Volksrepublik stand und in der auch die Frage der Menschenrechte angesprochen wurde. Damit war der Tenor für die nächsten Jahre gesetzt: Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen bei gleichzeitiger Thematisierung von Menschenrechtsfragen. Auch unter Kanzler Gerhard Schröder sollten die Wirtschaftsbeziehungen mit China weiter ausgebaut werden. Um gleichzeitig das Thema Menschenrechte nicht zu vernachlässigen, vereinbarte Schröder bereits 1999 die Einrichtung eines breit angelegten bilateralen Rechtsstaatsdialogs. Dieser umfasst neben den jährlichen Symposien auf Ebene der Justizminister beider Länder eine Vielzahl von Aktivitäten. Auf deutscher Seite waren daran phasenweise mehr als 40 Institutionen beteiligt – von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (giz) über NGOs, die politischen Stiftungen bis hin zu einzelnen Rechtsfakultäten an Universitäten. Vielfach wurde der Regierung Schröder vorgeworfen, sich mit der Einrichtung des Rechtsstaatsdialogs auf geschickte Weise der öffentlichen Auseinandersetzung über menschenrechtliche Fragen entziehen zu wollen. Das mag eine Motivation gewesen sein, die Kritik greift aber zu kurz, wenn über dieses Instrumentarium konkrete Verbesserungen in der Menschenrechtspraxis im Partnerland angestoßen werden. Dieser Ansatz wurde auch unter Bundeskanzlerin Merkel nahtlos fortgesetzt. Einer der führenden China-Wissenschaftler in Deutschland schreibt dazu: „Mit dem Rechtsstaatsdialog und dessen flankierenden Kooperationsprogrammen verfügt
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Deutschland über Zugangspunkte in China, die kein anderes europäisches Land in dieser Bandbreite in Anspruch nehmen kann.“23 Auch die chinesische Seite erkennt die Einzigartigkeit dieses Instrumentariums an. Der chinesische Botschafter bezeichnete den Rechtsstaatsdialog gar als „‚Star‘ unter unseren Dialogformaten“.24 In jüngster Zeit gibt es aber auch Stimmen unter offiziellen deutschen Teilnehmern, die jenseits der Bereitschaft zu reden mehr konkrete Ergebnisse von chinesischer Seite erwarten. Tabus und Sanktionierungen in der chinesischen Außenpolitik
Der Umgang mit China hat noch eine weitere Besonderheit. Es gibt Tabus, die von Peking gesetzt werden, und deren Nichtbeachtung zu Sanktionierungen führen kann. Sie betreffen in erster Linie die Taiwan- und die Tibet-Frage, aber auch offene Kritik an China auf internationalen Foren wurde durch Peking in der Vergangenheit immer wieder mit Sanktionen belegt. In den vergangenen 20 Jahren gab es zwei größere Krisen in den deutschchinesischen Beziehungen, die auf eine Nichtbeachtung von durch die chinesische Seite gesetzten Tabus zurückzuführen waren. 1996 war es der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel, der im Rahmen der Jahrestagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf deutliche Kritik an China geübt hatte. Als Folge wurde ein länger geplanter Besuch Kinkels in der Volksrepublik von Peking kurzfristig abgesagt. Und die Bestrebungen des Deutschen Bundestags, eine Tibet-Resolution zu verabschieden, führten zur Verweigerung der Reise des Unterausschusses für Menschenrechte im selben Jahr. Auch 2007 kam es zum Bruch eines von China gesetzten Tabus: Im September, kurz nach ihrem sehr erfolgreichen Besuch in der Volksrepublik, empfing die Bundeskanzlerin den geistlichen Führer der Tibeter, den Dalai Lama. Dieses von deutscher Seite als privat bezeichnete Treffen an einem Sonntagnachmittag wurde von China heftig kritisiert. Besonders der Umstand, dass sie den Dalai Lama im Bundeskanzleramt empfing, wurde als Affront gewertet. Als Reaktion setzte China alle hochrangigen bilateralen Treffen zunächst aus. In beiden Fällen haben sich die Wogen nach einiger Zeit und mit Hilfe umfassender diplomatischer Bemühungen wieder glätten lassen. Ende 1996 konnte der Staatsbesuch von Roman Herzog in China einige Monate später, wie geplant, stattfinden. Infolge der Verstimmungen von 2007 kam es vor der Normalisierung jedoch zum Austausch einer diplomatischen Note zwischen dem vom Koalitionspartner, der SPD, geführten Auswärtigen Amt und dem 23 Sebastian Heilmann, Deutsche China-Politik in Europa führend, 30.4.2014, in: Review 2014, (abgerufen am 24.10.2014). 24 Botschafter Shi Mingde am 1.9.2014 in Leipzig zur Eröffnung des 14. chinesisch-deutschen Rechtsstaatsdialogs-Symposium, in: (abgerufen am 24.10.2014).
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chinesischen Außenministerium, die bis heute nicht öffentlich gemacht wurde. Es heißt, dass darin die Bundesrepublik schriftlich bestätigt habe, dass Taiwan ein unverbrüchlicher Teil Chinas sei. Dass dies von chinesischer Seite als ausreichendes Zugeständnis von Berlin angesehen wurde, ist allerdings insofern überraschend, da Deutschland in dieser Frage weder 2007 noch irgendwann zuvor Zweifel an seiner Position hatte aufkommen lassen. Aber auch nichtstaatliche Organisationen können durch den Bruch von Tabus in Schwierigkeiten geraten. So musste die Friedrich-Naumann-Stiftung (FNS) ihr Büro in Peking Ende 1996 schließen. Hintergrund waren nicht Aktivitäten der Stiftung in China, sondern die Durchführung einer hochrangig besetzten Tibet-Konferenz der FNS in Bonn. Da die Stiftung dem chinesischen Drängen, die Veranstaltung abzusagen, nicht entsprechen wollte, musste die FNS ihr Büro in Peking schließen. Von derartigen Sanktionierungen ist allerdings nicht nur Deutschland betroffen. Auch Großbritannien und Frankreich sahen sich derartigen Reaktionen Pekings ausgesetzt. So führte ein Treffen von Premier David Cameron mit dem Dalai Lama im Mai 2012 zu massiven Verstimmungen, die London nur mit Mühe reparieren konnte.25 Bereits 2008 verzichtete Präsident Nicolas Sarkozy auf chinesischen Druck darauf, mit dem Oberhaupt der Tibeter zusammenzutreffen.26 Und nach der Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an den chinesischen Bürgerrechtler Liu Xiaobo zeigte China der norwegischen Regierung, die mit der Vergabe des Preises nichts zu tun hat, die kalte Schulter.27 Der Merkel-Ansatz und der Blick auf die anderen
Der aktuelle Erfolg der deutschen China-Politik hat viel mit den Grundkonstanten in den bilateralen Beziehungen zu tun. Beide Länder sind gerade in Wirtschaftsfragen füreinander sehr wichtig und profitieren, jedes auf seine Weise, enorm voneinander. Dennoch hat die Intensität der Beziehungen, wie sie sich gerade in den Jahren der Kanzlerschaft von Angela Merkel entwickelt hat, auch viel mit dem Auftreten der ersten ostdeutschen Kanzlerin zu tun. Kernpunkte sind hier Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Peking reagiert sehr sensibel darauf, wenn Kritik an China aus einer überheblichen Haltung zu kommen scheint. Deshalb beobachtet man dort – durch25 Jochen Buchsteiner, Dalai Lama war gestern, in: faz.net, 17.10.2013, (abgerufen am 24.10.2014). 26 Michaela Wiegel, Sarkozys diplomatischer Kniefall vor Peking, in: faz.net, 12.8.2008, (abgerufen am 24.10.2014). 27 Friedensnobelpreis an Liu Xiaobo: China lädt norwegische Ministerin aus, in: Spiegel Online, 10.10.2010, (abgerufen am 24.10.2014).
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aus nicht unbegründet – sehr genau, wie sich bestimmte Positionen gegenüber China im Gesamtkontext der Außenbeziehungen dieses Staates darstellen. Im Falle der neuen Kanzlerin Angela Merkel war dies genauso. So registrierte Peking sehr wohl, dass die Kanzlerin vor ihrem ersten Besuch in der Volksrepublik auch gegenüber den USA (Kritik an Guantánamo) und Russland (Zusammentreffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft) kritische Töne angeschlagen hatte. Als die neue Kanzlerin dann auch bei ihrem Besuch in Peking die Situation der Menschenrechte ansprach, konnte dies von chinesischer Seite leichter akzeptiert werden. Denn das Signal an China war eindeutig: Wir kritisieren euch nicht, weil wir meinen, ihr seid schwach und mit euch können wir es machen, sondern wir behandeln euch wie die anderen auch, weil uns diese Punkte wichtig sind. Präsident Sarkozy wurde 2008 demgegenüber eine solche überhebliche Haltung vorgeworfen. Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking versuchte er die chinesische Regierung unter Druck zu setzen, indem er ins Gespräch brachte, gegebenenfalls seine Teilnahme an der Eröffnung der Spiele abzusagen. Dies ging Peking zu weit, sodass in chinesischen Zeitungen Internetumfragen zitiert wurden, nach denen die Chinesen auf die Teilnahme von Präsident Sarkozy gerne verzichteten.28 Sarkozy nahm letztlich doch an der Eröffnungsfeier teil, das Image Frankreichs und seines Präsidenten hatte aber erheblich gelitten. Die angedeutete Ausladung des französischen Präsidenten war insofern besonders bemerkenswert, als dass China auf die Teilnahme möglichst vieler Staats- und Regierungschefs gesteigerten Wert legte. Bundeskanzlerin Merkel, die sich sehr frühzeitig darauf festgelegt hatte, nicht an den Eröffnungsfeierlichkeiten teilzunehmen, wurde gerade dafür in Deutschland selbst vehement kritisiert. Die Bundeskanzlerin blieb aber bei ihrer Haltung, obwohl sie in der Folge der Abkühlung der Beziehungen nach dem Empfang des Dalai Lama unter besonderem Druck gestanden hatte. Sie begründete dies jedoch nicht mit Kritik an China, sondern damit, dass deutsche Regierungschefs auch sonst nicht an Eröffnungsfeierlichkeiten für Olympische Spiele teilgenommen hatten. Angela Merkel reist regelmäßig ins Reich der Mitte. Genau wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder setzte sie sich zum Ziel, die Volksrepublik mindestens einmal jährlich zu besuchen. Dies ist ihr mit mittlerweile sieben Visiten in neun Jahren Kanzlerschaft auch weitgehend gelungen. Ein besonders enges Verhältnis entwickelte sich zum langjährigen Ministerpräsidenten Chinas, Wen Jiabao (2003-2013). Diesen traf sie, entgegen der Gepflogenheiten des chinesischen Protokolls, auch am Rande ihres China-Besuchs 2014.
28 Sarkozy ist bei Olympia „nicht willkommen“, in Welt.de, 3.7.2008, (abgerufen am 24.10.2014).
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Fazit Unter den autokratischen Regimen der Welt stellt China sicherlich für jede deutsche, aber auch für viele andere Regierungen weltweit eine besondere Herausforderung dar. China hat sich im Zuge seiner enorm gewachsenen Wirtschaftskraft in den vergangenen 20 Jahren zu einem zentralen Akteur der Weltpolitik entwickelt. Global Governance ist ohne Einbindung der Volksrepublik kaum mehr möglich. Gleichzeitig ist der Schatten von „Tiananmen“ zumindest in großen Teilen der westlichen und gerade der deutschen Öffentlichkeit noch nicht verschwunden. Darüber hinaus kennt China, wie kaum ein anderes Land, in seinen Außenbeziehungen Tabus und ist gewillt und imstande dazu, diese auch durchzusetzen. Den Bundeskanzlern seit Helmut Kohl ist es gelungen, jeweils eine besondere Beziehung zur chinesischen Führung aufzubauen und damit die für beide Seiten wichtigen Wirtschaftsbeziehungen auf vielfältige Weise zu unterstützen. Das Thema Menschenrechte spielt dabei seit 1989 eine wichtige Rolle. Dies wird von chinesischer Seite akzeptiert, solange die zentralen Akteure des Partnerlands deutlich machen können, dass damit nicht kurzfristig „Politik“ nach dem Motto gemacht wird, mit „euch können wir es machen“. Angela Merkel hat in ihrer neunjährigen Kanzlerschaft die Beziehungen zu Peking stark ausgebaut. Die Grundlage hierfür bildet nach wie vor die enge Wirtschaftspartnerschaft beider Länder, aber auch der gegenseitige Respekt. Dieser bedingt auch, dass sie Menschenrechtsthemen direkt ansprechen kann. Die Bundeskanzlerin erleichtert sich dies dadurch, dass sie die Menschenrechtsfrage nicht nur gegenüber China oder vermeintlich schwächeren Ländern thematisiert, sondern dass sie so auch gegenüber großen Partnern agiert. Die Führung in Peking beobachtet dies sehr genau.
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Iran: Ein neues pragmatisches Experiment Henner Fürtig Jeder Bewertung vergangener und möglicher zukünftiger Entwicklungen der Islamischen Republik Iran müssen drei Ausgangsprämissen vorausgeschickt werden: Erstens zählt die iranische Revolution von 1978/79 zu den wenigen genuinen sozialen Revolutionen der Neuzeit. So teilt sie vergleichbare Entwicklungsetappen, Widerstandskraft und Sendungsbewusstsein mit der französischen Revolution von 1789 und der russischen von 1917. Zweitens begleitet das aus der Revolution hervorgegangene Staatswesen seit seiner Gründung ein Grundwiderspruch, der schon im Staatsnamen zum Ausdruck kommt. Der Gegensatz zwischen islamischem (Gottessouveränität) und republikanischem (Volkssouveränität) Staatsverständnis zeigte sich bisher als unüberbrückbar. Letztlich ist auch der duale Charakter der Staatsstruktur Ausdruck dieses Gegensatzes. Die „islamische“ Seite der Struktur mit dem Obersten Rechtsgelehrten an der Spitze und über das Netzwerk Zehntausender Moscheen, den wirtschaftsstarken islamischen Stiftungen und nicht zuletzt den mächtigen Revolutionsgarden (Pasdaran) in der Gesellschaft verankert, stellt quasi das „Standbein“ des Systems dar, während die „republikanische“ Seite mit dem Präsidenten in führender Funktion, seiner Regierung und allen staatlichen Institutionen einschließlich der regulären Armee faktisch als „Spielbein“ des Systems fungiert, mit dem – auch weil verfassungsmäßig sekundär – experimentiert werden kann. Mangels einer ausformulierten Vorlage oder eines Modells leitet sich nämlich aus dieser Konstellation drittens ein politisches Führungsprinzip des Regimes ab, das bestenfalls mit „Versuch und Irrtum“ (trial and error) zu beschreiben ist. Das bisherige Wirken des „Spielbeins“ zeigt sich klar an bisher vier, mit den Amtszeiten der Präsidenten zu verbindenden Phasen. So folgte auf eine im Wesentlichen durch den Enthusiasmus der siegreichen Revolution und das Wirken ihres charismatischen Führers, Ayatollah Khomeini, gekennzeichnete visionäre Phase in der Amtszeit des damaligen Präsidenten und heutigen Revolutionsführers Khamenei eine pragmatische Phase, in der es Präsident Rafsanjani vor allem darum ging, der durch den achtjährigen
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Krieg mit dem Irak international isolierten und wirtschaftlich ausgebluteten Islamischen Republik die Existenz zu sichern. Nachdem er diese Aufgabe erfüllt hatte, durfte Präsident Khatami eine Reformphase einleiten, um der zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der rigiden politischen Bevormundung ein Ventil zu öffnen. Studentenunruhen 1999 und 2002 ließen befürchten, dass aus der Ventil- eine Schleusenöffnung werden könnte. Deshalb erhielt Mahmud Ahmadinejad als Präsident ab August 2005 die Gelegenheit für eine Restaurationsphase, die er am Grab Khomeinis mit der Losung beschrieb: „Der Weg des Imams ist der absolute Weg der Islamischen Republik [...] Er war nicht nur der Führer der Revolution, er bleibt ihre Richtschnur.“1 In der Lesart Ahmadinejads war die Revolution in einer Spiralbewegung auf etwas höherer Ebene wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt. Jetzt herrschten wieder, wie in den frühen 1980er Jahren, egalitärer Populismus im Inneren und missionarisches Sendungsbewusstsein in den Außenbeziehungen. Präsident Ruhani ist noch zu kurz im Amt, um seiner Amtszeit schon ein Prädikat geben zu können. Das Regime: Struktur und Legitimationsstrategien In der beschriebenen, von Ayatollah Khomeini, dem „Vater der Revolution“, angelegten dualen Konstruktion seiner Islamischen Republik, liegt auch die Ursache für die seit 1979 andauernden, heftigen – bisweilen fast paralysierenden – Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen des Regimes um Tempo und Kurs der Revolution, aber natürlich auch um eigene Machtpositionen. Summarische Zuweisungen unterschieden zunächst zwischen „Rechten“ und „Linken“, später zwischen „Visionären“ und „Pragmatikern“, danach zwischen „Konservativen“ und „Modernisierern“ und zuletzt zwischen „Prinzipientreuen“ und „Reformern“. Das Richtungsschema wird durch weitere Unterscheidungsmerkmale ergänzt. So unterscheidet die Regimeprominenz sehr wohl zwischen In- und Outsidern. Die „politischen Familien“ der Islamischen Republik sind trotz heftiger Zwiste durch gemeinsame Erfahrungen und das grundlegende Interesse am Regimeerhalt fest miteinander verwoben, sie besetzen die wichtigsten Schaltstellen der Macht. Auf der anderen Seite brachten die Dekaden der revolutionären Entwicklung seit 1979 einen „natürlichen“ Generationswechsel mit sich, der sich nicht nur biologisch, sondern auch politisch ausdrückt. Während die erste, durch viele Geistliche besetzte Generation vor allem durch die Revolution selbst geprägt wurde, machte die zweite Generation, in der die Anzahl von Laien viel größer ist, ihre entscheidenden Erfahrungen eher im irakisch-iranischen Krieg.2 Die erste Generation, die „alte“ Elite, zu der die Gründerväter der Republik und die 1 2
International Herald Tribune, 21.12.2005. Vgl. Rouzbeh Parsi, Iran at a Critical Juncture, in: ders. (Hrsg.): Iran: A Revolutionary Republic in Transition, Paris 2012, S. 10.
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Mehrheit des Klerus’ zählen, wurde im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zunehmend durch die zweite Generation, bestehend aus Kommandeuren und Veteranen der Revolutionsgarden, der Sicherheitskräfte des Innenministeriums und der Freiwilligenverbände (basij), in der Regel Laien, herausgefordert. Ihre Galionsfigur war und ist Mahmud Ahmadinejad. Das wichtigste Legitimationsinstrument des Regimes ist seine Behauptung, „im Geiste der Revolution“ zu handeln und damit den „Willen des Volkes“ umzusetzen. Gemäß dieser Doktrin ist die Revolution gemeinsame Sache aller Iraner und die jeweilige Führung muss sich in regelmäßigen Abständen durch Wahlen vergewissern, dass ihr Kurs von der Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird. Obwohl die iranische Wahlgesetzgebung der Institution des „Wächterrats“ weitgehende Vollmachten gewährt, um Kandidaten auszuschließen, die angeblich oder tatsächlich nicht für die – vage formulierten – Ziele und Werte der islamischen Revolution eintreten, blieben die Wahlen doch grundsätzlich kompetitiv. Deshalb lohnte sich nach Meinung der Mehrheit der Urnengang trotz aller Einschränkungen: 2001 lag die Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen bei 68 Prozent, 2005 bei 63 Prozent, 2009 bei 85 Prozent und 2013 bei 72 Prozent. Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, dass im Iran keine Wahlpflicht besteht. Die Opposition und die Krise von 2009 Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, welch Erstaunen die Mitteilung der Wahlkommission am Abend des 12. Juni 2009 auslöste, wonach der Amtsinhaber Ahmadinejad 62,6 Prozent der Stimmen, sein populärer Herausforderer Mussawi aber nur 33,8 Prozent erreicht habe.3 Das widersprach allen Erwartungen, nicht zuletzt dem über Dekaden üblichen Verhalten der iranischen Wähler und nährte den Verdacht massiver Manipulation. Aus dem Erstaunen wurde Entsetzen, als Revolutionsführer Khamenei das Ergebnis ohne weitere Prüfung am 13. Juni 2009 zu einer „göttlichen Entscheidung“ erklärte.4 Schock und Unglauben über die Wahlergebnisse wichen bald spontanen, nichtsdestotrotz massiven Protesten, die schließlich in der „grünen Bewegung“ organisierte Form annahmen. Damit war die schwerste innenpolitische Krise der Islamischen Republik Iran seit 1979 eingeleitet worden. Diese Krise manifestierte sich vor allem in der Zuspitzung der Auseinandersetzungen zwischen Regime und Opposition, die in ihrer Härte und Intensität an die ersten postrevolutionären Jahre erinnerten. Gelang es der klerikalen Führung zwischen 1979 und 1983 – erheblich befördert durch den nahezu zeitgleichen Krieg mit dem Irak – zunächst die bürgerlich-liberale und danach peu à peu auch die linke Opposition auszuschalten, so musste sie sich 3 4
Vgl. Islamic Republic of Iran Broadcasting (IRIB), 12.6.2009. Vgl. Middle East Economic Survey (MEES), Nr. 25/2009, S. 22.
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knapp 30 Jahre später mit der „grünen Bewegung“ zum ersten Mal wieder auf einen Gegner einstellen, der ihre Machtausübung grundsätzlich in Zweifel zog. Folgerichtig begann eine gnadenlose Verfolgung des Widerstands. Tausende tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle wurden verhaftet, viele gefoltert und getötet. Der „grünen Bewegung“ nahestehende Organisationen und Medien wurden verboten, ihre beiden populärsten Führer, Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi, unter strengen Hausarrest gestellt. Das staatliche Fernsehen berichtete live von mehr als 100 Schauprozessen, in denen den Angeklagten im Kern immer wieder „Aufwiegelung“ und „Konspiration gegen die Islamische Republik“ vorgeworfen wurden. Die Repression hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die „grüne Bewegung“ bisher nicht durchsetzen konnte, aber ein anderer Aspekt erscheint ungleich wichtiger: Im Gegensatz zu zunächst royalistischer, dann bürgerlichliberaler und zuletzt linker Opposition gegen das iranische Revolutionsregime bis Mitte der 1980er Jahre verblieb die „grüne Bewegung“ – zumindest ihre Führungsetage – immer innerhalb des seit 1979 etablierten Herrschaftssystems. Mir Hossein Mussawi war erster Ministerpräsident der Republik gewesen, Mehdi Karrubi ihr langjähriger Parlamentspräsident. Ihnen ging es immer um Reform, nie um Revolution. Forderungen nach einem Regimewechsel wurden auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen aus der „zweiten Reihe“ der Bewegung laut. Dieser gelang es weder, sich nach der ersten Niederlage neu zu gruppieren, noch eigenständige, integrative Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Eine regimeunabhängige Opposition ist so – zumindest in organisierter Form – gegenwärtig im Inland nicht zu erkennen. Das generelle Verbot der Gründung politischer Parteien hat dieses Fehlen sicherlich unterstützt, ist dafür aber nicht allein verantwortlich zu machen. Ein erneuter Versuch: Hassan Ruhani Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2013 war Revolutionsführer Khamenei vor allem daran gelegen, Republik und Regime wieder in „ruhigeres Fahrwasser“ zu dirigieren und eine Wiederholung von 2009 zu vermeiden. Er rief seine Landsleute deshalb mehrfach zu aktiver Teilnahme an den bevorstehenden Wahlen auf, um der Welt ein „Beispiel für die Lebendigkeit der iranischen Demokratie“ zu geben.5 Es werden nicht zuletzt die einschneidenden Erfahrungen des „Arabischen Frühlings“ gewesen sein, die bei Khamenei dieses Umdenken auslösten. Zumindest im Inland sollten Unterschiede zwischen der Islamischen Republik Iran und den rigiden, letztlich „stupiden“ Autokratien erkennbar bleiben, die die Völker in so vielen arabischen Nachbarstaaten gerade hinweggefegt hatten. Erst jetzt wurde Khamenei der eigentliche legitimationssi5
Mehrun Etebari, Iran Press Report: What to Make of the Glut of Presidential Candidates? Washington, DC 2013, S. 1.
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chernde Wert von Wahlen in vollem Umfang bewusst. Nachdem der Wächterrat durch sein Selektionsverfahren – wie in der Vergangenheit – jede tatsächliche Gefährdung des Systems ausschließen würde, machte Khamenei unmissverständlich klar, dass er sich neutral verhalten und das – möglichst zahlreiche – Votum der Wähler akzeptieren würde.6 Bei aller Wertschätzung des durch die Wahlen errungenen Legitimitätsgewinns war trotzdem klar, dass Khamenei keinesfalls den Sieg eines ausgewiesenen Reformers wünschte. Mithin hätte der Kandidat die größten Chancen, dessen Loyalität zum Regime erprobt war, der aber gleichzeitig genügend Glaubwürdigkeit bei Kritikern desselben besaß. Hier schlug die Stunde Hassan Ruhanis. Dieser war von 1992 bis 2000 stellvertretender Parlamentssprecher gewesen, gehört seit 1999 dem Expertenrat an und sitzt schon seit 1989 im „Obersten Rat für Nationale Sicherheit“. Als Sekretär dieses Rates fungierte er zwischen 1989 und 2005 als iranischer Chefunterhändler im Nukleardisput mit dem Westen. In dieser Eigenschaft baute er ein enges Vertrauensverhältnis zu den damaligen Präsidenten Rafsanjani und Khatami auf, die heute als prominente Reformer gelten. Ähnlich wie Rafsanjani setzte er sich für einen fairen Umgang mit der „grünen Bewegung“ und die Aufhebung des Hausarrests von Mussawi und Karrubi ein. Diese Position wurde zu einem wesentlichen Argument seines Wahlkampfs. Immer wieder betonte er, dass zu einer funktionierenden Gesellschaft auch gehöre, dass sie Kritikern Gehör schenkt und deren Sicherheit garantiert.7 Für Revolutionsführer Khamenei waren hingegen mit der Wahl Ruhanis in erster Linie die Voraussetzungen für die Überwindung der Legitimitätskrise des Regimes geschaffen worden. Wenn dieser es schaffen würde, im Inland die Mehrheit der Bevölkerung erneut an das System zu binden und im Ausland den Iran wieder als verlässlichen und berechenbaren Akteur erscheinen zu lassen, der Investoren und Wirtschaftspartner anzieht, dann verdiene er jede Unterstützung. Angesichts des omnipräsenten Blocks der konservativen „Prinzipientreuen“ in allen anderen wichtigen Institutionen des Staates würden dem neuen Präsidenten dabei aber klare Handlungsgrenzen gesetzt. Ruhani selbst identifizierte drei Hauptziele seiner Präsidentschaft: zum ersten, Irans internationale politische Isolierung zu überwinden, wozu primär eine Klärung der Nuklearfrage nötig ist. Zum zweiten, die Dominanz des Staates in der Wirtschaft zu mildern und in- wie ausländischen Unternehmern ein günstiges Investitionsklima zu schaffen sowie zum dritten, der Gesellschaft neue politische Freiräume zu öffnen.8 Nach einem Jahr seiner Präsidentschaft 6 7 8
Vgl. James M. Dorsey, Iran’s New President: Averting a Popular Revolt, in: RSIS Commentaries, Nr. 109/2013, S. 1. Vgl. Suzanne Maloney, Iran’s Elections: The Men Who May Be Also-Rans, Washington, DC 2013, S. 2. Vgl. Shaul Bakhash, Introduction, in: Haleh Esfandiari (Hrsg.), Iran, the Next Five Years: Change or More of the Same? Washington, DC 2014, S. 3.
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ist offensichtlich, dass er das Erreichen dieser Ziele nicht gleichzeitig, sondern nacheinander anstrebt. Im Zentrum stehen dabei eindeutig die Beilegung des Nuklearkonflikts mit dem Westen und die Überwindung der internationalen Isolation einschließlich des Sanktionsregimes. Hierbei ist ihm die Rückendeckung durch Revolutionsführer Khamenei vorerst sicher. Das Nacheinander offenbart sich am deutlichsten im Ausbleiben signifikanter politischer Reformschritte. Mussawi und Karrubi blieben im Hausarrest, allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2014 wurden 320 Personen hingerichtet.9 Seine Gegner behaupten die Diskurshoheit in den Medien und Bildungseinrichtungen. Für Ruhanis Taktik spricht dagegen, dass er aufgrund des obwaltenden politischen Kräfteverhältnisses im Inland bei gleichzeitiger Inangriffnahme aller Projekte mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern würde, während ihm ein Durchbruch auf internationalem Parkett einen immensen Vorteil gegenüber seinen Widersachern bei der Verfolgung seiner anderen Ziele verschaffen würde. Die wirtschaftliche Krise Ein weiteres wesentliches Element der Selbstlegitimierung des Regimes besteht in der Nutzung des Zugriffs auf die natürlichen Ressourcen des Landes, insbesondere seine Erdöl- und Erdgasvorkommen. Mit 157 Milliarden Barrel an gesicherten Erdölreserven nimmt der Iran weltweit den vierten Rang unter allen Erdölproduzenten ein.10 Erdöl und Erdölerzeugnisse machten 2013 62,3 Prozent aller iranischen Ausfuhren aus.11 Da sich auf der anderen Seite etwa 80 Prozent der iranischen Wirtschaft in den Händen des Staates bzw. islamischer Stiftungen befinden, verfügt vor allem das Regime über die finanziellen Mittel, sich Zuspruch zu „erkaufen“. Insbesondere Mahmud Ahmadinejad hat davon reichlich Gebrauch gemacht. Mit ausufernden Subventionen und einer teilweise bizarren Lohnpolitik buhlte er um die Zustimmung seiner Massenbasis in der Stadtarmut bzw. unter landlosen und Kleinbauern. Im Ergebnis stand eine Hyperinflation von 42 Prozent im Jahr 2013 bei gleichzeitigem Wertverlust der Landeswährung um 50 Prozent.12 Der daraus resultierende immense Preisanstieg für Waren – auch Grundnahrungsmittel – und Dienstleistungen traf die mittleren und niedrigen Einkommensgruppen besonders hart. Die Zahl der Familien, die unter der Armutsgrenze leben – eigentlich Ahmadinejads Zielgruppe – wuchs in seiner Präsidentschaft von 22 Prozent auf 40 Prozent.13
9 10 11 12
Vgl. Nazila Fathi, The Rouhani Paradox, Washington, DC 2014, S. 3. Vgl. U.S. Energy Information Administration, Country Profile Iran, Washington, DC 2014, S. 2. Vgl. UNCTAD Documentary Iran 2013, Genf 2014, S. 11. Vgl. Bijan Khajehpour, Outlook for the Iranian Economy, in: Haleh Esfandiari (Hrsg.), Iran, a.a.O. (Anm. 8), S. 8. 13 Vgl. Nazila Fathi, The Rouhani Paradox, a.a.O. (Anm. 9), S. 5.
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Vor allem aber hat das in den letzten Jahren deutlich verschärfte internationale Sanktionsregime gegen den Iran der Wirtschaft erheblich geschadet. Irans Bruttoinlandprodukt (BIP) sank nach eigenen Angaben 2012 um 5,8 Prozent und 2013 um 2 Prozent.14 Bis zur Amtsübernahme Ruhanis im August 2013 war die tägliche Erdölexportmenge des Iran auf eine Million Barrel gefallen, weil die EU seit Juli 2012 kein Erdöl mehr aus dem Iran importiert und auch asiatische Großabnehmer die Einfuhr erheblich reduziert haben. Selbst die dadurch deutlich geringeren Deviseneinahmen können nicht effektiv eingesetzt werden, weil Iran – ebenfalls sanktionsbedingt – vom internationalen Bankenverkehr weitgehend ausgeschlossen ist.15 Der daraus resultierende Rohstoff-, Ersatzteil- und Materialmangel führte zu einem extrem niedrigen Auslastungsgrad der Industrie. Das wiederum resultierte in einer geringen Nachfrage nach Arbeitskräften und – ergo – hoher Arbeitslosigkeit. Gerade in der politisch relevanten Altersgruppe zwischen 15 und 30 Jahren, der immerhin 40 Prozent der Bevölkerung angehören, beträgt die Arbeitslosenquote 30 Prozent.16 Nach übereinstimmender Expertenmeinung hat die gegenwärtige Wirtschaftskrise die Dimension der Jahre 1988 bis 1990 erreicht, als die immensen Schäden und Zerstörungen des achtjährigen Krieges mit dem Irak den greisen Revolutionsführer Khomeini zwangen, von seinen Visionen des „Exports“ der islamischen Revolution Abstand zu nehmen und Präsident Rafsanjani mit der Aufgabe zu betrauen, zunächst das Überleben der akut gefährdeten Islamischen Republik zu sichern. Die Parallelen resultieren in einem ähnlichen Verhalten des gegenwärtigen Revolutionsführers. Unmittelbar nach der Amtseinführung Ruhanis sprach Ali Khamenei vom Beginn einer neuen Periode der „heroischen Flexibilität“ in der Außenpolitik.17 In der Realität bedeutet das die Gewährung von erheblichem Freiraum für den Präsidenten in dessen Bemühen, die internationalen Sanktionen durch Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft zu mildern und schließlich abzubauen; einschließlich direkter Gespräche mit den USA, dem „großen Satan“ in der Revolutionspropaganda. Wiederholt nahm er Ruhani sogar in Schutz gegenüber Angriffen seiner Widersacher aus den Reihen der „Prinzipientreuen“ und maßregelte die Medien wegen „unsachlicher Angriffe“ auf den Präsidenten.18 Ruhani konnte im ersten Jahr seiner Präsidentschaft einige – wenn auch bescheidene – Erfolge verbuchen. Der Genfer Aktionsplan vom 24. November 14 Vgl. Iran Economics Magazine, Tehran, Nr. 3/2014, S. 4. 15 Vgl. Behrooz Behbudi, Despite Wild Card Candidates Iranian Voters Doubtful of Election Validity, in: The Middle East, Juni 2013, S. 25. 16 Vgl. Rico Kutscher, Wahlen in Iran: Inflation und Arbeitslosigkeit belasten das islamische Land, (abgerufen am 14.6.2014). 17 Vgl. Nima Gerami, Leadership Divided? The Domestic Politics of Iran’s Nuclear Debate, Washington, DC 2014, S. vii. 18 Vgl. Nazila Fathi, The Rouhani Paradox, a.a.O. (Anm. 9), S. 4.
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2013 führte zu ersten Erleichterungen im Sanktionsregime und damit zu positiven Impulsen für die Wirtschaft. Der Wechselkurs des Rial konnte stabilisiert und die Inflationsrate auf etwa 20 Prozent halbiert werden. Der Iran erzielte 2013/14 einen Handelsüberschuss und für das im März 2015 zu Ende gehende aktuelle Wirtschaftsjahr wird erstmal wieder ein Wachstum des BIP von 3 Prozent erwartet. Wirtschaftsminister Ali Tayebnia warnte gleichzeitig aber vor überzogenen Erwartungen. Um die 2005 beschlossenen Entwicklungsziele für 2025 (Vision 2025) zu erreichen, wäre unter anderem ein jährliches Wachstum des BIP von 11 Prozent nötig;19 das ist kaum noch realistisch und wenn, dann jedenfalls nur bei Aufhebung aller relevanten Sanktionen. Die internationalen Beziehungen des Iran Ayatollah Khomeini sah die iranische Revolution lediglich als Ausgangspunkt für eine weltweite Ausbreitung der islamischen Staatsidee an. „Die iranische Revolution gehört nicht allein dem Iran, denn der Islam gehört nicht einem bestimmten Volk. Der Islam ist der gesamten Menschheit offenbart worden [...] Eine islamische Bewegung kann sich daher nicht nur auf ein bestimmtes Land beschränken, nicht einmal nur auf islamische Länder, denn die ist die Fortsetzung der Revolution des Propheten.“20 Damit hatte er eine wesentliche Aufgabe der Außenpolitik des iranischen islamischen Staates umrissen, nämlich die Revolution in die Welt zu tragen und dabei auch ausdrücklich die Befreiung nichtmuslimischer Unterdrückter (mostazafin) im Auge zu behalten. Die Paragrafen 11, 152 und 154 der iranischen Verfassung nehmen direkten Bezug auf diese Aufgabe und sind unvermindert gültig. Da der „Revolutionsexport“ aber nie über bescheidene Anfangserfolge hinausgekommen war und am Ende der 1980er Jahre – kriegsbedingt – ein Scheitern der Revolution und der Islamischen Republik Iran drohte, gewann das Staatsmännische in Khomeini Oberhand: In seinem Testament stellte er die nationalen Interessen des Iran über die der islamischen Weltgemeinde. Damit schuf er seinem Nachfolger Khamenei und zukünftigen iranischen Regierungen die Voraussetzung für eine flexible Außenpolitik zwischen Missionierung und Pragmatismus. Der Iran konnte auf dieser Grundlage beispielsweise den „kleinen Satan“ Sowjetunion/Russland gegen den „großen Satan“ USA, das christliche Armenien gegen das schiitische Aserbaidschan oder das „sozialistische“ Venezuela gegen die „imperialistischen“ USA unterstützen. Ganz in diesem Sinne, wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, handelten die ersten beiden Präsidenten unter der Ägide Khameneis. Rafsanjanis pragmatischer Kurs wurde von seinem Amtsnachfolger Khatami zwar im Kern fortgesetzt, jedoch in Gestalt des „Dialogs der Zivilisationen“ 19 Vgl. Vgl. Bijan Khajehpour, for the Iranian Economy, a.a.O. (Anm. 12), S. 8. 20 Ettela‘at, 3.11.1979.
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um eine Komponente erweitert, die durch beharrliches Umwerben europäischer Staaten sowie Chinas und Japans die USA indirekt unter Handlungszwang stellen sollte und damit geeignet war, die politische Isolation des Iran langfristig zu durchbrechen. Die Wirkungen dieser Orientierung lassen sich noch in der Gegenwart an der Zusammensetzung der Adressaten iranischer Exporte ablesen, deren Liste von China angeführt wird, und auf der – in dieser Reihenfolge – auch die Türkei, Indien, Japan und Südkorea stehen.21 Präsident Bushs Eingliederung des Iran in die „Achse des Bösen“ 2002 bedeutete nicht nur eine symbolträchtige Absage an Khatamis Dialogangebot, sondern erlaubte es Mahmud Ahmadinejad, ab 2005 wieder Khomeinis ursprüngliches Rollenverständnis der Islamischen Republik Iran als des „wahren Verteidigers des Islam gegenüber dem Westen“ in den Mittelpunkt der Außenpolitik zu rücken. Demgemäß sollte der Iran die durch den Sturz Saddam Husseins 2003 vakant gewordene Position des nahöstlichen Widerstandszentrums gegen „amerikanische und zionistische Willkür“ einnehmen. Insgesamt blieb die Durchsetzung des iranischen Führungsanspruchs jedoch hinter den Erwartungen des Regimes zurück. Deshalb sah es im Februar 2011 eine enorme Chance, die Umbrüche in der Nachbarschaft für das eigene Projekt zu usurpieren. Ali Khamenei deutete die Ereignisse in Tunesien und Ägypten als eine „natürliche Fortsetzung der iranischen Revolution von 1979.“22 Die Aufstände seien „das ‚islamische Erwachen‘, das der Sieg der großen Revolution des iranischen Volkes ermöglicht habe“.23 Aus diesen und vielen ähnlichen Äußerungen spricht das unbedingte Bestreben, die Umwälzungen in einen Entwicklungsbogen zu zwängen, der mit der eigenen Revolution von 1979 seinen Anfang genommen hat. Trotz aller Rückschläge und Verunglimpfungen durch westliche und regionale Gegner würde das iranische Modell offensichtlich immer noch so viel Attraktivität besitzen, dass es anderen als Beispiel dienen könne. Damit hätte es nicht nur eine nachträgliche Bestätigung erfahren, sondern die Islamische Republik Iran wäre als Initiator und „Ferment“ des „islamischen Erwachens“ folgerichtig in eine Führungsposition gerückt. Per Saldo blieb die Losung des „islamischen Erwachens“ bei den arabischen Aufständischen jedoch ohne Widerhall, die iranische Parteinahme für einzelne Aufstandsbewegungen wurde dagegen in der Regel eher als selektive Maßnahme in Verfolgung eigener Vormachtambitionen interpretiert. Für Präsident Ruhani ist deshalb Nüchternheit in seinen außenpolitischen Zielen angesagt. Das gering ausgeprägte ideologische Moment gehörte zu den Wesenszügen des „Arabischen Frühlings“; und dort, wo sich islamis21 Vgl. UNCTAD Documentary Iran, a.a.O. (Anm. 11), S. 10. 22 Ali Alfoneh, Middle Eastern Upheavals; Mixed Response in Iran, in: Middle East Quarterly, Sommer 2011, S. 36. 23 Charles Kurzman, The Arab Spring: Ideals of the Iranian Green Movement, Methods of the Iranian Revolution, in: International Journal of Middle East Studies, Nr. 44/2012, S. 162.
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tische Bewegungen in ersten Wahlen durchgesetzt haben wie in Tunesien oder Ägypten, sind ihre Repräsentanten längst wieder von der Macht verdrängt worden. Darüber hinaus erlaubt die iranische Wirtschaftskrise, insbesondere der Ballast der Sanktionen, gegenwärtig generell keine außenpolitischen Eskapaden. Ungeachtet der jeweiligen Erfolgsaussichten ergeben sich für Ruhani drei Kreise bzw. Felder seiner Außenpolitik. Zum ersten die unmittelbare Nachbarschaft. In seiner ersten Pressekonferenz nach Amtsantritt unterstrich er die enorme Bedeutung der Verbesserung der Beziehungen zum „Nachbar- und Bruderland“ Saudi-Arabien;24 gemeint sind letztlich aber alle arabischen Golf-Monarchien. An seinen Nordgrenzen bemüht sich der Iran um einen nutzenorientierten Austausch mit den mittel- und zentralasiatischen Republiken, im Osten und Westen geht es darum, die Konfliktherde in Afghanistan sowie im Irak und in Syrien unter Kontrolle zu halten. In der Stabilisierung Afghanistans und Iraks sowie der Bekämpfung der extremistischen Taliban und des „Islamischen Staates (IS)“ ergeben sich sogar große Felder der Interessenkongruenz mit dem Westen, namentlich den USA. Lediglich in der Palästina-Frage hält der Iran ostentativ an seinen seit 1979 gepflegten Positionen fest; eine Zweistaatenlösung wird vehement abgelehnt. Allerdings bemühte sich Ruhani, die antisemitischen Ausfälle seines Amtsvorgängers Ahmadinejad zur Episode zu machen. In einem Interview mit CNNs Starreporterin Christiane Amanpour verurteilte Ruhani den „Massenmord der Nazis an den Juden“.25 Den zweiten Kreis bildet ein Konglomerat aus blockfreien Staaten – der Iran hat seit August 2012 für drei Jahre den Vorsitz der „Bewegung blockfreier Staaten“ inne –, den BRIC-Staaten sowie lateinamerikanischen Verbündeten wie Venezuela, Kuba und Bolivien. Ruhani und letztlich auch Khamenei wissen jedoch, dass dauerhafte außenpolitische Erfolge nur bei einer Beilegung der Krise mit dem dritten Kreis, dem Westen, möglich sind. Beziehungen mit Deutschland Seit dem Ende des Kalten Krieges gehört das Umwerben Europas als mögliches Gegengewicht zum „großen Satan“ USA zu den Konstanten iranischer Außenpolitik. Dazu zählte auch die Gewährung von Vorzugsbedingungen für die europäische Wirtschaft. Die EU wurde zum wichtigsten Handelspartner des Iran; 2004 kamen 44 Prozent aller iranischen Einfuhren aus dem EU-Bereich.26 In dieser Konstellation konnte Deutschland seine Vorteile als Handelsnation besonders zur Geltung bringen. Gestützt auf die seit 1952 traditionell guten iranisch-deutschen Beziehungen, avancierte Deutschland zum wichtigsten 24 Vgl. Mahmood Monshipouri, Manochehr Dorraj, Iran’s Foreign Policy: A Shifting Strategic Landscape, in: Middle East Policy, Nr. 4/2013, S. 142. 25 Guardian, 25.9.2013. 26 Vgl. Spiegel Online, (abgerufen am 9.9.2010).
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Außenhandelspartner des Iran. Allein zwischen 2003 und 2004 stiegen die deutschen Exporte nach Iran um 35 Prozent und erreichten 2005 einen Spitzenwert von 4,4 Milliarden Euro.27 Im selben Jahr endeten aber auch die für Deutschland „idyllischen“ Bedingungen, unbeeinflusst von politischen Zwängen vorteilhaft Handel treiben zu können. Die Präsidentschaftsübernahme Mahmud Ahmadinejads im August 2005, seine ausweichenden Reaktionen auf die internationalen Vorwürfe, ein militärisches Nuklearprogramm zu betreiben, seine Drohungen gegen Israel und den Westen, insbesondere aber seine dreiste Leugnung des Holocaust, erzwangen eine klare politische Positionierung Berlins. Deutschland hält sich an die seit Dezember 2006 von den Vereinten Nationen und der Europäischen Union verhängten und seitdem mehrfach verschärften Sanktionen gegenüber den Iran. Seit Herbst 2007 nehmen in Iran tätige deutsche Geschäftsbanken keine neuen Geschäfte mehr an. Im selben Jahr lösten die Vereinigten Arabischen Emirate Deutschland als wichtigster Handelspartner des Iran ab, der Warenaustausch zwischen dem Iran und Deutschland ging um 20 Prozent zurück.28 Aufgrund zahlreicher schon vor 2006 abgeschlossener Verträge brach der Handel nicht abrupt ab, ging aber nach 2007 weiter stetig zurück, um 2012 bei 2,12 Milliarden Euro zu verharren, quasi einer Halbierung innerhalb von acht Jahren.29 Seit dem Inkrafttreten des Aktionsplans zwischen dem Iran und seinen internationalen Verhandlungspartnern (3+3) im Nukleardisput am 20. Januar 2014 sind einige positive Entwicklungen zu verzeichnen. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2014 wuchsen die deutschen Exporte nach Iran um 32 Prozent. Natürlich war dabei das Ausgangsniveau niedrig, aber die deutsche Wirtschaft würde generell eine Normalisierung der Beziehungen zu Iran fast einhellig begrüßen. Immerhin sind mehr als 5000 deutsche Unternehmen im Iran-Geschäft tätig, darunter solche Branchenriesen wie BASF, Siemens, Daimler-Benz und Volkswagen.30 Aber auch die iranische Seite wird nicht müde, den Boden für eine Wiederaufnahme intensiver Kontakte zu bereiten. Nicht zuletzt die Ukraine-Krise habe es europäischen Ländern inklusive Deutschland gezeigt, wie wichtig eine Diversifizierung ihrer Energielieferanten ist.31 Als erdöl- und erdgasreicher Staat sei der Iran ein offensichtlicher Partner in diesem Bestreben.
27 Vgl. bfai.de, (abgerufen am 18.6.2008). 28 Vgl. Wall Street Journal, 24.9.2007. 29 Vgl. UNCTAD Documentary Iran, a.a.O. (Anm. 11), S. 10. 30 Vgl. Wall Street Journal, 24.9.2007. 31 Vgl. Iran und der Westen: Perspektiven der Zusammenarbeit. 156. Bergedorfer Gesprächskreis, Berlin 2014, S. 3f.
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Kasachstan: Exporteur von Sicherheit und Stabilität? Luba von Hauff Eine noch so ambitionierte politische Modernisierung und Stabilisierung Kasachstans ist ohne Bruch mit dem politisch-kulturellen Erbe der Sowjetunion nicht möglich. Dazu müsste aber eine unabhängige Gesellschaft geschaffen werden, was jedoch von den nationalen Eliten Kasachstans und von benachbarten Mächten wie Russland und China verhindert wird. Damit werden auch die Grenzen deutscher Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit und regionale Stabilität deutlich. Hoffnung und Skepsis Im Gegensatz zu vielen seiner postsowjetischen Nachbarn ist Kasachstan ein wirtschaftlich aufstrebender, politisch hochambitionierter und international integrierter Staat, dessen Regierung keinen Zweifel daran lässt, dass sie einen westlich ausgerichteten Pfad eingeschlagen hat und diesen auch konsequent verfolgt. Die ehemals sowjetische Republik, die strategisch zwischen Russland, China, den südlichen, an Afghanistan angrenzenden zentralasiatischen Staaten sowie dem Kaspischen Meer gelegen ist, hat seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 eine bemerkenswerte sozioökonomische Entwicklung vollzogen. Laut der Ländereinteilung der Weltbank gehört Kasachstan heute zum oberen Segment der mittleren Einkommensgruppe.1 Auch gilt es als eine der solidesten und international wohlintegriertesten Marktwirtschaften des GUS-Raumes.2 Zwar leidet das Land sowohl an den Erscheinungen einer Übergangswirtschaft – insbesondere an Korruption und sozialer Ungleichheit – als auch an den Folgen einer bisher unzureichend diversifizierten Ökonomie – der Abhängigkeit von internatio1 2
The World Bank, Kazakhstan, (abgerufen am 1.8.2014). Ebd.; European Bank for Reconstruction and Development, Kazakhstan Transition Report 2013, (abgerufen am 28.8.2014); Forbes, Kazakhstan, (abgerufen am 1.8.2014).
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nalen Marktfluktuationen und der Holländischen Krankheit.3 Nichtsdestotrotz ist die internationale Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung in weiten Teilen positiv, was nicht nur auf bedeutende Fortschritte im Armutsabbau sowie auf einen „umsichtigen“ Wiederaufbau der von der Finanzkrise stark getroffenen kasachischen Wirtschaft zurückzuführen ist, sondern auch auf die konsequente Durchführung weiterer wirtschaftspolitischer Reformen.4 Auch im politischen Bereich bemüht sich das postkommunistische Land um internationale Anerkennung. Zusätzlich zum Engagement im Rahmen regionaler sicherheitspolitischer Strukturen wie der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) ist die Regierung bemüht, ihre Politik verstärkt als im Einklang mit liberal-demokratisch geprägten Werten darzustellen und sich mit westlichen Institutionen so gut es geht zu integrieren. Davon zeugen nicht nur die aktive Kooperation mit liberal geprägten internationalen Organisationen wie der NATO und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sondern auch ein an westlichen Vorgaben orientiertes Präsidialsystem mit den dazugehörigen Verfassungs- und Verwaltungsorganen.5 Dementsprechend bezeichnet Präsident Nursultan Nasarbajew sein Land als eine sich entwickelnde, „evolutionäre“ Demokratie.6 In diesem Kontext des sozioökonomischen und politischen Fortschritts steht auch die aktuelle Modernisierungsstrategie 2050. Ziel der Strategie ist, bis 2050 in die Gruppe der 30 führenden Wirtschaftsnationen der Welt aufgenommen zu werden und so die bereits exponierte, „anerkannte“ Rolle Kasachstans innerhalb der Weltgemeinschaft zu konsolidieren.7 Trotz dieser Bestrebungen wird jedoch das soziopolitische Transformationspotenzial des Landes im Westen mit einiger Skepsis betrachtet. Auch nach mehr als 20 Jahren politisch-normativer Sozialisation mit dem Westen
3 4 5 6 7
Vgl. Anja Franke, Andrea Gawrich, Gurban Alakbarov, Kazakhstan and Azerbaijan as Post-Soviet Rentier States: Resource Incomes and Autocracy as a Double ‚Curse‘ in Post-Soviet Regimes, in: Europe Asia Studies, 61 (2009) 1, S. 109-140. Vgl. The World Bank, Kazakhstan Overview, (abgerufen 28.7.2014); European Bank for Reconstruction and Development, Kazakhstan Transition Report 2013, a.a.O. (Anm. 2). Vgl. Marta Brill Olcott, Kazakhstan. Unfulfilled Promise? Washington, DC, 2010, S. 87f.; Marie-Carin von Gumppenberg, Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, Opladen 2002, S. 135f. Vgl. Nursultan Nazarbayev, Kazakhstan’s Steady Progress Towards Democracy, in: Washington Post, Opinions, 1.4.2011, (abgerufen am 1.8.2014). Vgl. Botschaft des Präsidenten der Republik Kasachstan Nursultan Nasarbajew an das Volk Kasachstans, (abgerufen am 26.7.2014).
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gilt dort das kasachische System als korrupt, autoritär und nicht (besonders) rechtsstaatlich.8 An genau diesem Punkt setzt die vorliegende Analyse an. Das Anliegen ist, die eigentliche Richtung der soziopolitischen Transformation Kasachstans zu untersuchen und etwaige Grenzen der liberal geprägten Modernisierungsbestrebungen auszuloten – auch unter Berücksichtigung des regionalen geopolitischen Kontexts. Das vorgebrachte Argument lautet, dass das noch immer vorherrschende politisch-kulturelle Erbe der Sowjetunion einer umfassenden soziopolitischen Modernisierung im Wege steht und das – tatsächlich vorhandene – Transformationspotenzial des Landes schwächt. Dies hat nicht nur langfristige Konsequenzen für die nationale Stabilität Kasachstans, sondern auch für das Wirkungspotenzial – die (sicherheits-)politischen Hoffnungen und Bemühungen – Deutschlands und des Westens. Der Nährboden kasachischer Regierungsführung Der Charakter der heutigen Regierung entspringt der „goldenen“ BreschnewPeriode der Sowjetunion: Damals nahmen die Generalsekretäre der jeweiligen zentralasiatischen Republiken eine Vermittlerrolle zwischen dem Moskauer Politbüro und den regionalen Machtgruppen, sogenannten Klans, ein. Solange sie den Moskauer Erwartungen gerecht wurden – Produktion und gesellschaftliche Kontrolle mussten aufrechterhalten werden – hatten die lokalen Parteivorsitzenden bedeutenden politischen Spielraum in dem schon damals von patrimonialen, informellen Beziehungen geprägten Umfeld.9 Gemäß dieser „sowjetischen Tradition“ ist auch das heutige System Kasachstans von nicht (offiziell) institutionalisierten, persönlichen Netzwerken des Präsidenten (und ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik) geprägt, die er zum Zwecke der Machtausübung im Rahmen eines legal-rationalen, bürokratisierten Staatsapparats benutzt. Heute jedoch rotieren Kasachstans Einflusszentren nicht mehr (ausschließlich) um regional oder ethnisch geprägte „Klans“, sondern hauptsächlich um finanzindustrielle Gruppen.10 Diese Gruppen befinden sich in direkter Abhängigkeit vom Präsidenten. Er beeinflusst ihre Aktivitäten durch informelle Mediation, durch einen straffen, ihm direkt unterstehenden Staatsapparat und durch den Einsatz 8
Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2013, S. 1; Joanna Lillis, Nations in Transit 2014, Kazakhstan, (abgerufen am 23.7.2014). 9 Vgl. Frederick Starr, Clans, Authoritarian Ruler, and Parliaments in Central Asia (Silk Road Paper), Washington, DC 2006.; Pauline Jones Luong, Institutional Change and Political Continuity in PostSoviet Central Asia, Cambridge 2002; Kathleen Collins, Clan Politics and Regime Transition in Central Asia, Cambridge 2006. 10 Vgl. Barbara Junisbai, A Tale of Two Kazakhstans: Sources of Political Cleavage and Conflict in the Post-Soviet Period, in: Europe-Asia Studies, 62 (2010) 2, S. 235-269.
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seiner Familienmitglieder. Zum inneren Zirkel des Präsidenten gehören seine Töchter Dariga Nasarabajewa und Dinara Kulibajewa sowie Nasarbajews zweiter Schwiegersohn Timur Kulibajew.11 Letzterer verfügt unter anderem im Rahmen seiner Position als Vorsitzender des kasachischen Energieverbands Kazenergy über bedeutenden politischen Einfluss im Energiesektor und gilt als potenzieller Nachfolger für das Amt des Präsidenten.12 Bedeutende finanzindustrielle Gruppen ohne familiäre Anbindung bestehen um Bulat Utemuratow, einem langjährigen Vertrauten Nasarbajews – bekannt als dessen „Problemlöser“ oder auch „persönlicher Kassierer“;13 Vladimir Kim, den größten Anteilseigner von Kazakh Mys, Kasachstans größtem Kupferproduzenten; sowie um Alexander Maschkewitsch, Phatokh Chodiew und Alidschan Ibragimow, die Besitzer des größten kasachischen Bergbauunternehmens Eurasian Natural Ressource Corporation (ENRC).14 Im politischen Bereich ist die Macht noch stärker konzentriert. So übt Nasarbajew, der seit 1989 an der Macht und mittlerweile qua Parlamentsbeschluss als „Führer der Nation“ mit besonderen persönlichen Rechten ausgestattet ist, nicht nur die Funktionen der Exekutive aus, sondern hat auch weitreichende Kompetenzen im den Bereichen der Legislative und Judikative, welche ihm formell und faktisch unterstehen.15 Darüber hinaus kontrolliert Präsident Nasarbajew das politische System durch seine Funktion als Vorsitzender der Präsidentenpartei „Nur Otan“, welche 83 der insgesamt 107 Sitze (81 Prozent) im Maschilis stellt – und auch durch seine persönliche Verbundenheit zu den Vorsitzenden der im Maschilis vertretenen „konstruktiven“ Opposition.16 Nicht zuletzt steuert der Präsident das politische System durch verschiedene, 11 Rakhat Alijew, der erste und ehemalige Schwiegersohn Nasarbajews, befindet sich seit dem offenen Bruch mit Nasarbajew im Jahr 2007 im europäischen Exil. Derzeit sitzt er in Untersuchungshaft in Wien. Vgl. Austria Arrests Top Kazakh Dissident Rakhat Aliyev, in: BBC, 6.6.2014, (abgerufen am 25.8.2014). Das Ehepaar Kulibajew hat bedeutende Vermögenswerte in den Banken-, Energie-, Bau- und Bergbausektoren. Vgl. Forbes, The World’s Billionaires, Timur Kulibayev, (abgerufen am 14.8.2014). 12 Vgl. Sebastien Peyrouse, The Kazakhs Neopatrimonial Regime: Balancing Uncertainties among the ‘Family’, Oligarchs and Technocrats, in: Democratizatsiya, 20 (2012) 4, S. 345-370. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Vgl. Lillis, Nations in Transit 2014, a.a.O. (Anm. 8); von Gumppenberg, Staats- und Nationsbildung, a.a.O. (Anm. 5), S. 137f. 16 Zu dieser gehören die als wirtschaftsfreundlich geltende Partei Ak Zhol sowie die Kommunistische Volkspartei Kasachstans. Vgl. Background on Nur Otan Party, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC, 5.4.2012, ; Background on Ak Zhol Party, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC, 5.4.2012, (abgerufen am 15.7.2014); Background on Communist People’s Party, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC, 5. 4.2012, (abgerufen am 15.7.2014); Barbara Junisbai, Azamat Junisbai, The Democratic Choice of Kazakhstan: A Case Study in Economic Liberlization, Intraelite Cleavage, and Political Opposition, in: Demokratizatsiya, 13 (2005) 3.
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direkt mit ihm (und mit den finanzindustriellen Gruppen) in Beziehung stehende politische Akteure, welche an den strategisch wichtigen Schalthebeln der Verfassungsorgane und des Staatsapparats sitzen. Zu den einflussreichsten Beamten gehören unter anderem der Premierminister Karim Massimow, der Senatsvorsitzende Kassym-Jomart Tokayew sowie der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs Kairat Mami – alle drei befinden sich derzeit bereits zum zweiten Mal im jeweiligen Amt. Weitere Politvertraute des Präsidenten sind Nurtai Abykajew, die „graue Eminenz“ Nasarbajews und Leiter des Nationalen Sicherheitsrats sowie der vergleichsweise junge, bestens vernetzte und im Westen ausgebildete Kairat Kelimbetow, Präsident der kasachischen Zentralbank.17 Grundsätzlich verfolgen sowohl die finanzindustriellen Gruppen als auch die Politiker Kasachstans die gleichen Ziele wie ihre Pendants in demokratischen Systemen – den Zugang zu wirtschaftlichen und politischen Ressourcen zu maximieren und so die Politik zu ihren Gunsten beeinflussen zu können. Entsprechend ausgeprägt ist die Konkurrenz unter den finanz-industriellen und Beamtenbündnissen um die Nähe zum Präsidenten. Im Gegensatz zu demokratischen Systemen hat dieser Wettstreit jedoch einen informellen Charakter und verläuft außerhalb der formalisierten, institutionalisierten Mechanismen, die den Zugang zur Macht oder die wirtschaftspolitische Interaktion laut Gesetz regulieren. So ist die intrasystemische Mediation durch Nasarbajew der einzige tatsächlich geltende Interaktions- und auch Konfliktlösungsmechanismus für die unterschiedlichen, miteinander rivalisierenden Interessengruppen Kasachstans.18 Entsprechend gilt nicht (ausschließlich) das Gesetz als systemisches Ordnungsprinzip, sondern auch die politische Loyalität gegenüber dem Vorgesetzten sowie die stetige Umverteilung von (Staats-)Ressourcen, zu denen „administrativer Status“ genauso gehört wie öffentliche Finanzmittel.19 Mit anderen Worten, zumindest im Bereich der intraelitären Interaktion entbehrt Kasachstans politisches System der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit und basiert stattdessen auf persönlichen Beziehungen und Korruption.20 Zum gegebenen Zeitpunkt ist die Funktion dieses Systems untrennbar mit der Person Nasarbajew verknüpft. Seine politische Nachfolge – er ist 74 Jahre alt und seit 25 Jahren im Amt – ist bisher allerdings noch nicht ge-
17 Vgl. Dosym Satpayev, „Staraja gvardija“ wozwrochajetsya (Die „alte Garde“ kehrt zurück, Russisch), in: Risk.kz, Gruppa ocenki Riskow, 3.3.2014, (abgerufen am 3.8.2014); Peyrouse, The Kazakh Neopatrimonial Regime, a.a.O. (Anm. 12). 18 Vgl. Junisbai, A Tale of Two Kazakhstans, a.a.O. (Anm. 10). 19 Vgl. Peyrouse, The Kazakh Neopatrimonial Regime, a.a.O. (Anm. 12). 20 Im Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International belegt Kasachstan Platz 140 von insgesamt 177 Ländern. Vgl. Corruption Perception Index 2013, (abgerufen am 25.8.2014).
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klärt.21 Damit ist das hoch ambitionierte Kasachstan einem strukturellen und personellen Stabilitätsrisiko ausgesetzt. Zwar gibt es im Rahmen der Strategie 2050 Modernisierungsansätze, die auf genau diese Problematik zielen. So vollzieht sich derzeit – trotz der Prävalenz der sowjetisch geprägten, patrimonialen Machtvertikale – eine tentative Neuordnung des Systems. Mit der Modernisierungsstrategie sollen Institutionen „de-personalisiert“ werden, indem stufenweise eine Meritokratie eingeführt und das System „entloyalisiert“ wird.22 Auch Korruptionsbekämpfung sowie die Entflechtung der Politik- und Wirtschaftsinteressen – „die Unternehmer müssen wissen, dass sie vom Staat nicht betrogen und auch nicht geschützt werden“ – werden als zwingende Voraussetzungen zur Stärkung, das heißt Stabilisierung, des Staatswesens benannt.23 Diese Reformansätze gehen einher mit einem bedeutsamen Generations- und damit auch Kaderwechsel innerhalb des Staatsapparats. Die jüngeren, im Westen ausgebildeten (oder mit ihm sympathisierenden) Beamten wie Kelimbetow oder der Umweltminister Nurlan Kapparow stehen dabei nicht nur für liberal(er) ausgerichtete, reformorientierte politische Ansätze, sondern verfügen auch über international und nicht mehr (aus erster Hand) sowjetisch geprägte politische Erfahrungen.24 Über diese liberal ausgerichteten Entwicklungen wachen allerdings in den (offiziellen) Schlüsselpositionen des Staatsapparats mit Kassym-Jomart Tokayew (Legislative), Karim Massimow (Exekutive) und Kairat Mami (Judikative) langgediente, erfahrene und höchst loyale Beamte des Systems Nasarbajew. Ihr Wiedereinsatz steht für die Weiterentwicklung einer stärker ausgeprägten intrasystemischen Gewaltenteilung in der Zukunft – einer Art Risikospreizung und damit Stabilisierung der bis dato personalisierten Machtvertikale.25 Ob die anvisierten Veränderungen unter dieser Führung tatsächlich einen innenpolitischen Bruch mit dem sowjetischen Erbe nach sich ziehen können, ist deswegen fraglich, besonders vor dem Hintergrund der zweiten Dimension des patrimonialautoritären Systems – der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft.
21 Die Interimsnachfolge ist zwar offiziell durch die Verfassung geregelt: So würde im Fall von Nasarbajews Abtreten der Vorsitzende des Senats Tokayew übergangsweise an die Spitze des Staates treten, allerdings gelten Nasarbajews Koordinations- und Mediationsqualitäten als „unersetzbar“. Vgl. International Crisis Group, Kazakhstan: Waiting for Change, Brüssel 2013. 22 Vgl. Botschaft des Präsidenten der Republik Kasachstan, Teil III, Punkt 5., a.a.O. (Anm. 7). 23 Ebd. 24 In diesem Zusammenhang spielt das Bolaschak-Stipendium der Regierung eine bedeutende Rolle. Damit wird außerordentlich begabten kasachischen Studenten ein Studium im (meist westlichen) Ausland ermöglicht – unter der Voraussetzung, dass sie nach Beendigung des Studiums für mindestens fünf Jahre für die kasachische Regierung arbeiten. Vgl. (abgerufen am 15.8.2014). 25 Vgl. Satpayev, „Staraja gvardija“, a.a.O. (Anm. 17).
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Die verstaatlichte Gesellschaft Der patrimonial geprägte Staatsapparat Kasachstans funktioniert in weiten Teilen unabhängig von der Gesellschaft des Landes. Um zu überleben, erfordert dieses System daher eine weitflächige politische Exklusion – das heißt Unterdrückung – der von der Umverteilung ausgeschlossenen sozialen Schichten.26 Der eigentlich liberale Wortlaut der Verfassung, der freie Meinungsäußerung sowie Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit in Kasachstan gewährt, wurde durch verschiedene Gesetze eingeschränkt.27 Darüber hinaus werden zivilgesellschaftliche Organisationen mit genuinem Oppositionspotenzial – Medien, unabhängige Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, oppositionelle politische Parteien und religiöse Vereinigungen – verstärkt von Staatsbehörden überwacht, besonders seit dem Ausbruch und jähen Ende der Schanaosen-Proteste.28 Die Unruhen in der westkasachischen Ölstadt offenbarten die sozialen Abgründe neopatrimonial-autoritärer „Stabilität“. So forderte der Zusammenstoß zwischen den demonstrierenden (zum Teil randalierenden, jedoch unbewaffneten) Ölarbeitern und den kasachischen Sicherheitskräften im Spätjahr 2011 nicht nur 16 Tote und über hundert Verletzte.29 Er zog auch die Schließung von verschiedenen unabhängigen Pressekanälen, das Verbot der oppositionellen Partei Alga! sowie die langfristige Inhaftierung von insgesamt sieben Organisatoren der Demonstration nach sich.30 Zusätzlich zum Ausmaß staatlicher Repression offenbarten die Ereignisse von Schanaosen jedoch auch die Entwicklung einer neuen Dynamik innerhalb der Staat-Gesellschaft-Beziehung – den graduellen Rückgang der auf Seiten der breiten Bevölkerung traditionell verbreiteten politischen Apathie sowie den wachsenden Unmut über das von Korruption und inadäquater sozioökonomischer Entwicklung geprägte System Kasachstans.31 26 Vgl. Luba von Hauff, A Stabilizing Neighbour? The Impact of China’s Engagement in Central Asia on Regional Security. DGAPAnalyse Nr. 3/2013. 27 Vgl. Constitution of the Republic of Kazakhstan, 1995, (abgerufen am 24.7.2014). 28 Vgl. Protection of Fundamental Rights in Kazakhstan, Tajikistan, and Turkmenistan. Update on Developments in April – June 2014, Kazakhstan International Bureau for Human Rights and Rule of Law, 17.7.2014 (abgerufen am 20.7.2014); Lillis, Nations in Transit, a.a.O. (Anm. 8). 29 Ebd. 30 Darunter war auch der Vorsitzende der Partei Alga! Vladimir Kozlow. Er wurde wegen der „Anstachelung des sozialen Unfriedens“ zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Vgl. Human Rights Watch, Kazakhstan: Opposition Leader Jailed, 9.10.2012, (abgerufen am 10.8.2014); Margarita Assenowa, Zhanaozhen Trials: Former Oil Executive Receives the Longes Prison Punishment, in: Eurasia Daily Monitor, Nr. 9/2012, (abgerufen am 28.7.2014). 31 Vgl. Joanna Lillis, Kazakhstan: Widening Social Divide Fuels Protest Mood, in: EurasiaNet, 19.2.2013, (abgerufen am 15.8.2014).
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So erlebte das Land in den Jahren 2011 und 2012 nicht nur den Anstieg radikal-islamistisch inspirierten Gedankenguts im Untergrund, sondern auch dessen Eruption – in diesen Jahren gab es mehr als 50 Todesopfer in Folge von Terroranschlägen in Kasachstan.32 Auch säkulare, von sozioökonomischen Ungleichheiten oder politischen Entwicklungen motivierte (bisher jedoch eher kleinformatige) Proteste haben deutlich an Sichtbarkeit und Schärfe gewonnen.33 An genau diesem Punkt setzt der vom Regime geführte Diskurs um den „Kampf gegen Terrorismus und Extremismus“ an. Die Ausbreitung des religiös-ideologisch motivierten, oppositionellen Aktivismus („Terrorismus“) im Blick, setzt die Regierung durch restriktive, kleine Religionsgemeinschaften stark benachteiligende Registrierungsanforderungen auf eine konsequente Verstaatlichung der religiösen Sphäre.34 Der Tatbestand des „Extremismus“ hingegen wird als eine flächendeckende, allgemein gehaltene Projektionsfläche für unerwünschte oppositionelle Strömungen genutzt. Er gilt sowohl für regimekritisches säkulares, sozioökonomisch und politisch motiviertes Engagement als auch für die religionsbasierte oppositionelle Variante.35 So können zivilgesellschaftliche Aktivisten mit der nicht näher definierten Begründung der „Anstiftung zu sozialem, nationalem, ethnischem oder religiösem Unfrieden“ sowie der „Anstachelung zu Massenunruhen“ zu hohen Geld- und Haftstrafen verurteilt werden. Organisationen und Pressekanälen drohen indes auch Schließungen. Seit der jüngsten Reform des Strafgesetzbuchs zählt auch die Leitung einer „öffentlichen Vereinigung“ als ein „erschwerender Umstand“ im Zusammenhang mit anderen Strafanklagen; auch die nicht näher definierte „ungesetzliche Einmischung in die Aktivitäten von staatlichen Behörden durch Mitglieder von öffentlichen Vereinigungen“ wurde zum Straftatbestand erklärt.36 Parallel zur Kriminalisierung von regimekritischem sozialen Engagement ist die Regierung bemüht, neue – und staatsgelenkte – Ventile zur Kanalisierung gesellschaftlicher Unzufriedenheit zu schaffen. Dazu werden verschiedene politische, soziale, ökonomische, religiöse und ethnische Vereinigungen mit finanziellen und administrativen Mitteln gefördert.37 Diese Organisationen richten sich konsequenterweise vermehrt in technisch orientierten, entpolitisierten (oder 32 Vgl. Luba von Hauff, A Stabilizing Neighbour?, a.a.O. (Anm. 26). 33 Joanna Lillis, Kazakhstan: Landmark Eurasian Union Treaty Signed Amid Protests and Arrests, in: EurasiaNet, 29.5.2014, (aberufen am 15.8.2014); Lillis, Kazakhstan: Widening Social Divide Fuels Protest Mood, a.a.O. (Anm. 31). 34 Vgl. Kazakhstan. The Law on Religious Activities and Religious Associations, October 2011, ; Felix Corley, Kazakhstan: Religious Freedom to Suffer in Anti-extremist Programme?, in: Forum 18 News Service, (abgerufen am 29.7.2014). 35 Vgl. The 2012 CSO Sustainability Index for Central And Eastern Europe and Eurasia, (abgerufen am 28.7.2014). 36 Vgl. Protection of Fundamental Rights in Kazakhstan, a.a.O. (Anm. 28). World Report 2014, Kazakhstan, (abgerufen am 29.7.2014). 37 Vgl. The CSO Sustainability Index, a.a.O. (Anm. 35).
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politisch „sicheren“) Themenfeldern ein, ohne Bezug zu den politisch sensiblen gesellschaftspolitischen Realitäten – und verfehlen somit in vielen Fällen ihre eigentliche Bestimmung.38 Der „hybride“ Ansatz der Kriminalisierung und gleichzeitigen Verstaatlichung der Gesellschaft signalisiert beides: Sowohl den im Rahmen der Modernisierungsstrategie anvisierten schrittweisen Wandel in der Beziehung zwischen einem traditionell kontrollbedürftigen Staat und einer sich erst aus der sowjetischen politischen Apathie entwickelnden Gesellschaft als auch die Grenzen dieses Wandels – und seinen sowjetischen Charakter. Trotz der angedachten Modernisierung nutzt die Regierung weiterhin alle Mittel der Repression und Verstaatlichung, um jegliche Form von gesellschaftlicher Autonomie zu unterbinden und so die vorherrschenden patrimonial-autoritären Strukturen weiterhin zu kontrollieren. Damit bleibt aber die Ursache der wachsenden gesellschaftlichen Unzufriedenheit bestehen, nämlich eine der Bevölkerung unzugängliche Regierung, die kein genuines Ventil für die Verbalisierung etwaiger sozialer und politischer Missstände bietet. Dieses Spannungsfeld birgt das Potenzial nationaler Instabilität, trotz nationaler und internationaler Stabilisierungsbemühungen. Der geopolitische Kontext und nationale „Stabilität“ Kasachstan kann aufgrund seines Rohstoffreichtums, seiner geostrategischen Position und seines sicherheitspolitischen Engagements als ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt (pivot) betrachtet werden – sowohl für die angrenzenden Regionalmächte Russland und China als auch für die weiter entfernten EU und USA. Tatsächlich haben alle in der Region engagierten Akteure signifikante Beteiligungen und entsprechende wirtschaftliche Interessen im kasachischen Energie- und Bergbausektor.39 Ebenso sind sowohl die Nachbarstaaten als auch die EU, USA und ein bedeutender Teil der internationalen Gemeinschaft auf Kasachstans Mitwirkung bei der Northern Distribution Network-Route der internationalen Schutztruppe ISAF angewiesen sowie auf das kasachische Engagement bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Sicherheitsrisiken der Region.40 Entsprechend teilen alle in Kasachstan aktiven Mächte das Interesse an dortiger Sicherheit und Stabilität. Allerdings unterscheidet sich die Definition dieser Begrifflichkeiten je nach Akteur und Interessenlage. 38 Ebd; vgl. auch Erika Weinthal, Pauline Jones Luong, The NGO Paradox: Democratic Goals and NonDemocratic Outcomes in Kazakhstan, in: Europe-Asia Studies, Nr. 7/1999, S. 1267-1284. 39 Vgl. Luba Azarch, Zentralasien und die EU, Aussichten einer Energiepartnerschaft, DGAPanalyse 7/2009; Sebastien Peyrouse, Jos Boonstra, Marlene Laruelle, Security and Development Approaches to Central Asia. The EU Compared to China and Russia, EUCAM Working Paper 11/2012. 40 Dazu gehören unter anderem regionale Konflikte um Land, Wasser und Energie, Drogenschmuggel, organisierte Kriminalität sowie die Ausbreitung von religiösem (islamischen) Extremismus und Terrorismus. Vgl. Luba von Hauff, A Stabilizing Neighbour?, a.a.O. (Anm. 26).
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So bedeutet für Russland, den wichtigsten geopolitischen Akteur in der Region, die Stabilität Kasachstans eine gewisse Kongruenz mit russischer Regierungsführung. Dies liegt nicht nur an dem gemeinsamen politischen Erbe der Sowjetunion, sondern auch an Präsident Wladimir Putins außenpolitischer Strategie der umfassenden (Re-)Integration des gesamten postsowjetischen Raumes.41 Tatsächlich hat Moskaus Vorgehen in anderen, sich offenkundig dem Westen zuwendenden ehemaligen Sowjetrepubliken gezeigt, dass Parallelen in politisch-ideologischer Ausrichtung für die Aufrechterhaltung konstruktiver Beziehungen im postsowjetischen Raum unerlässlich sind. In dieser Hinsicht ist Kasachstan ökonomisch wie politisch besonders verwundbar: Aufgrund seiner vorherrschenden Stellung in der regionalen Pipelineinfrastruktur kontrolliert Moskau knapp 80 Prozent der kasachischen Rohölausfuhr – die Haupteinnahmequelle des kasachischen Regimes.42 Noch entscheidender ist allerdings die Frage der Souveränität und territorialen Integrität Kasachstans im Hinblick auf die knapp vier Millionen in Nordkasachstan lebenden ethnischen Russen, zu deren grundsätzlicher „Verteidigung“ Putin sich schon vor der aktuellen Ukraine-Krise bereiterklärt hat.43 Eine mit Moskau solidarisierende Art der Regierungsführung gehört damit notwendigerweise zum Instrumentarium kasachischer Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland und ist derzeit unabdingbar. Auch China, Kasachstans wichtigster Handelspartner, versteht unter Sicherheit und Stabilität den Erhalt des dortigen politischen Status quo.44 Tatsächlich verfolgt Peking (im Tandem mit Moskau) mithilfe der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) einen als innenpolitisch nichtinvasiv deklarierten Ansatz, bei dem die Schaffung einer regionalen Sicherheits- und Wertegemeinschaft im Mittelpunkt steht. Diese beruht auf dem chinesischen Sicherheitsverständnis – der Unterdrückung der „drei Übel“ Terrorismus, Extremismus und Separatismus – und wird von den Prinzipien der „Souveränität“, der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ sowie des „Respekts für die Vielfalt (politischer) Kulturen“ geleitet.45 Damit stellt sich die SOZ explizit gegen den „Export fremder (das heißt westlicher) Modelle sozioökonomischer Entwicklung“, welche maßgebenden chinesischen Analysen zufolge „die Wurzel globaler Instabilität“ darstellen.46 Durch den – von der kasachischen Regierung bereits übernommenen – Sicherheitsdiskurs sowie den 41 Nur die mittlerweile zur EU und NATO gehörenden baltischen Staaten sind davon ausgenommen. 42 Vgl. Rilka Dragneva, Kataryna Wolczuk, Russia, the Eurasian Customs Union and the EU: Cooperation, Stagnation or Rivalry? Chatham House, Russia and Eurasia Programme Briefing Paper 1/2012. 43 Vgl. Martha Brill Olcott, After Crimea: Will Kazakhstan Be Next in Putin’s Reintegration Project? In: Op-Ed, La Vanguardia, 5.3.2014, (abgerufen am 24.7.2014). 44 Für eine Übersicht der bilateralen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Beziehungen zwischen Kasachstan und China, vgl. Luba von Hauff, A Stabilizing Neighbour?, a.a.O. (Anm. 26). 45 Pang Xingchen, 2004, in: Evan S. Medeiros, China’s International Behavior. Activism, Opportunism, and Diversification, Santa Monica, CA 2009, S. 845. 46 Ebd.
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kulturrelativistischen normativen Ansatz verschafft die SOZ der kasachischen Regierung ein handfestes und (nach innen wie außen) legitimierendes rhetorisches Schild, um unerwünschte oppositionelle Strömungen innerhalb der Gesellschaft zu marginalisieren und die Regierung – in Form der patrimonialautoritären Machtvertikale – zu konsolidieren, oder auch „stabilisieren“. Im Gegensatz dazu assoziieren die westlichen Mächte – die EU und die USA – den Begriff der Stabilität sowohl mit der Erhöhung sicherheitspolitischer Kapazitäten als auch mit einer umfassenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Transformation des Landes. Zu den normativen Schwerpunkten der westlichen Kasachstan-Politik zählen die Verankerung demokratischer Strukturen, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung des Rechtsstaats.47 Dieser Ansatz ist nur schwer mit den von Peking (und Moskau) gesetzten Anreizen des Kulturrelativismus, des entwicklungspolitischen Individualismus und der Nichteinmischung vereinbar. Das ist ein ernstzunehmendes Alternativangebot zu den liberaldemokratischen, innenpolitische Transformation nach sich ziehenden Wertvorstellungen des Westens. Inzwischen äußern sich das Ausmaß und die Prävalenz des chinesischen, durch die SOZ kanalisierten Einflusses in einem neuen kasachischen „Selbstbewusstsein“: einer stark von Selbstbestimmung, Nichteinmischung und Individualismus geprägten innenpolitischen Rhetorik. So verdeutlichte Nasarbajew 2013 bei einer auf Menschenrechte zielenden Frage eines westlichen Journalisten, dass „niemand das Recht (hat), uns vorzuschreiben, wie wir in unserem Land zu leben oder es aufzubauen haben“.48 Doch im Gegensatz zu ihren eigenen Aussagen verfolgen Russland und besonders China einen nur scheinbar nichtinvasiven, jedoch für die kasachischen Eliten höchst attraktiven Ansatz der „Stabilität“, mit dem sie bewusst dazu beitragen, den verstaatlichten Zustand der kasachischen Gesellschaft zu konsolidieren und so die derzeitige Regierungsform zu stärken. Dies wiederrum verstärkt nicht nur Kasachstans eigene, sowjetisch geprägte Hürde der Transformationsbereitschaft – und damit auch das vom Regime ausgehende Instabilitätspotenzial –, sondern bindet auch dem westlichen normativen Engagement (und der Durchsetzung des eigenen Stabilitätsbegriffs) die Hände. Implikationen für deutsche Außenpolitik Deutschland und Kasachstan sind durch „freundschaftliche Beziehungen“ miteinander verbunden.49 Zudem wird an einer deutsch-kasachischen „Partnerschaft 47 Vgl. Rat der Europäischen Union, Die EU und Zentralasien: Strategie für eine Neue Partnerschaft, Drucksache QC-79- 07-222-29-C, Oktober 2007; USAID, Kazakhstan. County Profile. 48 Vgl. Kazinform International News Agency, (abgerufen am 25.7.2014). 49 Vgl. Auswärtiges Amt, Beziehungen zwischen Kasachstan und Deutschland, (abgerufen am 25.7.2014).
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für die Zukunft“ gearbeitet, welche eine bedeutende wirtschaftliche Dimension hat und auch verschiedene gesellschaftspolitische Kooperationsformate beinhaltet, insbesondere in den Bereichen Umwelt, Bildung, Wissenschaft und Kultur.50 Die Pflege der deutsch-kasachischen Beziehungen (und auch der europäisch-kasachischen) ist, indes, nicht nur dem bereits erwähnten Rohstoffreichtum Kasachstans geschuldet. Zwar ist das Land eines der bedeutenden Rohöllieferanten Deutschlands (und der EU) und versorgt die Bundesrepublik auch mit sogenannten seltenen Erden und anderen Mineralien.51 Allerdings gilt das Interesse Deutschlands vor allem auch dem stabilisierenden Potenzial Kasachstans in der instabilen Großregion Zentralasien und damit der Hoffnung, dass die postsowjetische Republik sich zu einem „Exporteur von Sicherheit und Stabilität“ in dieser geo- und sicherheitspolitisch bedeutenden Region entwickelt.52 In diesem Zusammenhang der Stabilisierung und Stabilität steht auch das deutsche Engagement im Bereich der kasachischen Rechtsstaatlichkeitsentwicklung. Die Förderung der Gesetzmäßigkeit, also der sachlichen, unpersönlichen Verbundenheit zwischen Eliten und politischen Institutionen bei gegenseitiger Kontrolle stellt tatsächlich ein Kernstück der deutschen (und europäischen) normativen Bemühungen in Kasachstan dar.53 Entsprechend unterstützt die Bundesregierung in ihrer Funktion als Ko-Koordinator der europäischen Rechtsstaatlichkeitsinitiative die Reform des kasachischen Justizwesens und auch die Modernisierung der dortigen Gesetzgebung und Verwaltung.54 Selbst in der ansonsten politisch äußerst zurückhaltenden bilateralen „Partnerschaft für die Zukunft“ wird dieses Prinzip an erster Stelle genannt.55 Dieser Ansatz zielt konkret auf das erörterte strukturelle Gesamtproblem Kasachstans: Das Instabilitätspotenzial eines vertikal inte50 Vgl. Gemeinsame Erklärung über eine Partnerschaft für die Zukunft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kasachstan, 3.9.2008, (abgerufen am 25.7.2014). 51 Vgl. Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, Amtliche Mineralöldaten 2013, (abgerufen am 25.7.2014); Europäische Kommission, Generaldirektion für Energie, (abgerufen am 25.7.2014); Sabine Kinkartz, Seltene Erden aus Kasachstan, 8.2.2012, (abgerufen am 1.8.2014). 52 Vgl. Grußwort von Staatsministerin Cornelia Pieper anlässlich des Vortrags des kasachischen Außenministers Erlan Idrissow bei der DGAP, 31.1.2013. 53 Vgl. Rat der Europäischen Union, Die EU und Zentralasien, a.a.O. (Anm. 47). 54 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/1313, 5.5.2014 (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Omid Nouripour, Tom Koenigs, Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen). 55 Der Erfolg dieser Bemühungen ist allerdings nur mäßig – Kasachstans Rechtsstaatlichkeitsniveau gehört auch weiterhin, und trotz einiger Verbesserungen und hoher Ambitionen, zu den weltweit schwächsten 30 Prozent. Vgl. Daniel Kaufmann, Aart Kraay, Massimo Mastruzzi, Worldwide Governance Indicators. Country Data Report für Kazakhstan 1996-2012, (abgerufen am 27.6.2014).
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grierten und persönlich kontrollierten, von verschiedenen (ähnlich starken) Interessengruppen vernetzten Systems, das (bisher) weitestgehend unabhängig von politischen Institutionen und der Gesellschaft funktioniert. Allerdings verfehlt er das anvisierte Ziel der Transformation und trifft stattdessen auf ein bedeutendes Problemfeld deutscher, europäischer und gesamtwestlicher Politik in Kasachstan: das lokale, sowjetisch inspirierte Verständnis von Stabilität als Regimestabilität und damit die Ablehnung von genuinem politischen Wandel. Zwar ist Kasachstans derzeitige Modernisierungsstrategie, mit ihrem Fokus auf De-Personalisierung, Kaderprofessionalisierung und Entflechtung zwischen Staat und Wirtschaft durchaus als eine wachsende Einsicht der Eliten für die Ursachen der vorherrschenden systemischen Unsicherheiten zu bewerten. Allerdings erfordert die Modernisierung – und damit auch innenpolitische Stabilisierung – Kasachstans mehr als nur das Verständnis und Beheben einer Auswahl von administrativen Symptomen. Dafür wäre ein Bruch mit dem patrimonialen, autoritären Erbe der Sowjetunion, also ein politisch-kultureller Wandel nötig. Die „Entstaatlichung“ der Gesellschaft, das heißt die Schaffung einer unabhängigen, dem Staat ebenbürtigen Gesellschaft, welche die Interaktion zwischen Eliten und politischen Institutionen mitgestaltet und so kontrolliert, ist von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der kasachischen Rechtsstaatlichkeit – und damit für die Entwicklung eines (nach westlichem Verständnis) stabilen Kasachstans. Allerdings ist genau das weder im Interesse der derzeitigen Mehrheit der nationalen Eliten noch im Einklang mit dem politisch reizvollen Ansatz von Russland und China. So wird es verständlicher, warum der Westen und die EU (und damit auch Deutschland) in politisch-normativer Hinsicht bisher keinen Einfluss auf die politische Transformation Kasachstans nehmen konnten und warum dies wohl auch in der Zukunft schwierig bleiben wird – was der Umsetzung von Astanas selbsternannten liberalen Zielen einen entsprechend illiberalen Rahmen verleiht. Kurzfristig – das heißt bis zum Rückzug von Präsident Nasarbajew – werden diese Strukturen die verschiedenen Bereiche der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Kasachstan wahrscheinlich nicht beeinflussen, nicht zuletzt aufgrund der marktwirtschaftlich geprägten und wohlentwickelten Wirtschaftsstrukturen des Landes sowie aufgrund der derzeit noch bestehenden personalisierten Stabilität durch Präsident Nasarbajew. Mittel- und langfristig bedeutet die Prävalenz der patrimonial-autoritären sowjetisch geprägten Kultur jedoch systemische und damit nationale und potenziell supranationale, Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung ihre Hoffnungen bezüglich Kasachstans Potenzial als „Exporteur von Sicherheit und Stabilität“ noch einmal überdenken – zumindest gemäß ihrer Definition.
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Russlands Aggression – ein Zeichen innerer Schwäche Stefan Meister
Die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im März 2012 markierte einen Paradigmenwechsel in der russischen Innen- und Außenpolitik. In den beiden ersten Amtsperioden Putins (2000-2008) stabilisierten sich dank steigender Rohstoffpreise die Wirtschaft und das Herrschaftssystem. Während seinerzeit die Außenpolitik Putins noch stärker auf Kooperation setzte, bilden seit dem Frühjahr 2012 der Konflikt mit dem Westen und die wachsende Repression nach innen zentrale Elemente der dritten Amtszeit des Präsidenten. Legitimationsdefizite im Innern … Der 2000 etablierte innerrussische Gesellschaftsvertrag, nach dem ein breiterer Teil der Bevölkerung Anteil am wachsenden Wohlstand bekam und dafür seine politischen Rechte preisgab, ist aus Sicht des Regimes mit den Massendemonstrationen Ende 2011/Anfang 2012 durch Teile der Gesellschaft aufgekündigt worden. Insbesondere die russische Mittelschicht und der „liberale“ Flügel der Machtelite waren frustriert über die Rückkehr Wladimir Putins und das Ende der unter Präsident Dmitri Medwedew (2008-2012) angekündigten politischen und ökonomischen Modernisierung. Die fehlende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft und landesweite Korruption zeigen die Grenzen dieses auf Rohstoffexport basierenden Wohlstands. Diese Defizite stellen bei zusätzlichen Herausforderungen für den Staat, wie bei den Waldbränden im Sommer 2010, als auf regionaler Ebene der Brandschutz nicht funktionierte, die Systemfrage. Die Gesellschaft reagierte durch wachsende Selbstorganisation und Kritik an den regionalen Behörden. Diese Entwicklung speiste auch Teile der Demonstrationen 2011/12, die zur Legitimationskrise des Systems Putin führten.
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Für die politische Elite um den neuen-alten Präsidenten waren diese Demonstrationen, bei denen zeitweise über 100 000 Menschen allein in Moskau auf die Straße gingen, ein Schock, der den Politikwandel beschleunigte. Die Angst vor einer Farbenrevolution in Russland hat zu einem Umdenken von Putin und seinem direkten Umfeld geführt und die Hardliner in der russischen Elite gestärkt. Denn das System Putin hatte durch seine Unfähigkeit, das Land politisch, ökonomisch und moralisch zu erneuern, an Legitimation verloren und ist infolge innerer Modernisierungsdefizite auf absehbare Zeit nicht mehr in der Lage, wachsenden Wohlstand zu garantieren und den alten Gesellschaftsvertrag zu finanzieren. … führen zur Konfrontation mit dem Westen Zum Machterhalt bedarf es deshalb anderer Legitimationsressourcen. Wegen der Gefahr, im Zuge der ins Stocken geratenen ökonomischen Modernisierung die Kontrolle zu verlieren, entschied sich der Kreml, nach innen die politische und gesellschaftliche Opposition unter Druck zu setzen und zu stigmatisieren sowie nach außen den Konflikt mit dem „Westen“ zu schüren. Ein neuer Konservativismus gegen westlichen Liberalismus verbunden mit einer konfrontativen Außenpolitik, die auf die Absicherung des postsowjetischen Einflussraums setzt, führen zur Ideologisierung russischer Politik. Infolge der Massendemonstrationen in Kiew seit November 2013 und der Absetzung von Präsident Janukowitsch durch das ukrainische Parlament hat Russland den Anschluss der Krim orchestriert und einen asymmetrischen Krieg in der Ostukraine begonnen. Putins Absichten sind es, das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land des postsowjetischen Raumes im russischen Einflussbereich zu halten und die begrenzte Souveränität der Ukraine durch den Westen anerkannt zu bekommen. Zum Erreichen dieser Ziele ist der russischen Führung fast jedes Mittel recht. Die Ukraine-Krise ist zur Russland-Krise geworden, die nicht nur die Stabilität des ukrainischen Staates, sondern auch die nach 1991 in Europa entstandene Sicherheitsordnung infrage stellt. Zentrale Ursache für diesen Konflikt zwischen Russland und der EU ist jedoch nicht die westliche Politik im postsowjetischen Raum, sondern das Legitimationsdefizit und die innere Schwäche des Systems Putin. Die Krim-Annexion und insbesondere die harte Rhetorik gegenüber den USA und der EU haben dem russischen Präsidenten Zustimmungswerte von über 80 Prozent beschert. Der Konflikt mit dem Westen wird für Wladimir Putin in den kommenden Jahren eine entscheidende Machtressource bleiben, was zu einer andauernden Konfrontation in Europa führen wird.
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Wandel der Funktionslogik des Machtsystems Als Erbe der Sowjetunion ist russische Politik durch informelle Strukturen geprägt, die hinter den formellen Institutionen die Rechtspraxis und politischen Entscheidungen bestimmen. Zwar ist Russland laut Verfassung ein demokratischer Rechtsstaat, in dem formal regelmäßig Wahlen stattfinden und Parteien im Wettbewerb stehen, doch in der Praxis erfüllen die politischen Institutionen diese Aufgaben nur selten, sie imitieren demokratische Strukturen. Russland hat sich nach 1991 zu einem patrimonialen Staat entwickelt, in dem persönliche Beziehungen und Klientelstrukturen alle staatlichen und wirtschaftlichen Entscheidungsebenen bestimmen.1 Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft werden nicht nach Qualifikation besetzt, sondern die Herkunft und insbesondere das Verhältnis zum Präsidenten sind ausschlaggebend. Nur Putin kann durch dieses Beziehungsgeflecht die Stabilität des Systems garantieren – einer der Gründe, weshalb er 2012 auch auf Druck aus Teilen der Sicherheitselite zurückgekommen ist. Über ein hierarchisches System (Machtvertikale) regiert der Präsident bis in den letzten Winkel des Landes. Parteien, Rechtsstrukturen, Polizei und Verwaltungen sind Instrumente in den Händen der regierenden Eliten, mit denen sie ihre Macht absichern und sich vor den Interessen anderer Gruppen schützen. Das Parlament dient vor allem dazu, Entscheidungen des Präsidenten und der Elitenzirkel zu bestätigen und nicht, diese zu debattieren. Medien werden insbesondere seit der heißen Phase der Ukraine-Krise Anfang 2014 als Propagandainstrument zur Beschaffung von Zustimmung für die Politik des Präsidenten genutzt. Diese Herrschaftsstrukturen werden auch durch eine Symbiose von Politik und Wirtschaft gestärkt: Wer die politische Macht besitzt und über Einfluss auf die staatlichen Strukturen verfügt, dominiert auch die Zugänge zu wichtigen staatlichen Unternehmen und Banken und kann die Gesetze so anpassen, dass sie den eigenen ökonomischen Interessen dienen. Diese Zugänge wiederum sichern Loyalitäten und Macht ab. Korruption ist in diesem System nicht die Ausnahme, sondern die Regel.2 Denn Privilegien und Bereicherungen schaffen Loyalitäten. Politische Entscheidungen erfolgen in einem für Außenstehende intransparenten Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Elitengruppen, wobei diese keinen westlichen Vorstellungen von Interessengruppen entsprechen, sondern letztlich alle in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Putin stehen. Unter 1 2
Petra Stykow, Wahlen in autoritären Regimen, die postsowjetischen Länder, in: Steffen Kailitz (Hrsg.), Autokratien im Vergleich, PVS Sonderheft 47, Baden-Baden 2013, S. 237-271. Im Korruptionsindex von Transparency International belegte Russland 2013 Platz 127 von 175 Ländern. Trotz regelmäßiger Antikorruptionskampagnen gibt es keine maßgebliche Verbesserung in diesem Bereich. Transparency International, Corruption Percepetion Index 2013, (abgerufen am 1.11.2014).
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der Präsidentschaft von Dmitri Medwedew dominierte der wirtschaftsliberale Teil der russischen Elite die Politik und setzte im August 2012 maßgeblich den Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisatin (WTO) durch. Dabei war jedoch entscheidend, dass Putin seinerzeit die WTO-Integration unterstützte und die Wirtschafts- und Finanzkrise die russische Wirtschaft belastete. Mit Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt kamen dann vor allem Personen aus dem Sicherheitsapparat in seinen engeren Entscheidungszirkel. So hat Putin nach den Massendemonstrationen seit seiner Wiederwahl den wirtschaftsliberaleren Teil der russischen Elite aus den zentralen Entscheidungszirkeln entfernt und sich mit loyalen Personen aus dem Sicherheitsapparat wie dem Leiter der Präsidialadministration Sergei Iwanow und seinem ersten Stellvertreter Wjatscheslaw Woloschin umgeben. Diese zumeist in den sowjetischen Sicherheitsstrukturen ausgebildeten Personen ordnen ökonomische Fragen sicherheitspolitischen unter, was auch in der Ukraine-Krise deutlich wurde: Die De-facto-Annexion der Krim war auch eine Kurzschlussreaktion der Sicherheitseliten, weil sie mit der Absetzung von Präsident Janukowitsch ihren Einfluss in Kiew verloren und befürchteten, die auf der Krim stationierte Schwarzmeer-Flotte zu verlieren. Russlands Isolierung und die westliche Sanktionspolitik gehen auf Kosten der ökonomischen Interessen von wirtschaftsorientierten Teilen der russischen Elite und gefährden deren Loyalität zum System. Hinzu kommt, dass die „Sicherheitsgruppe“ mittlerweile so dominant geworden ist, dass sie auch bisher loyale Personen offen attackiert und sich deren Unternehmen aneignet.3 Wer bis 2012 Teil des Systems war, konnte, solange er loyal gegenüber dem Präsidenten war, trotz Selbstbereicherung nicht bestraft werden. Dieses System erreicht jedoch seine Grenze, da es eine Erneuerung der Elite kaum ermöglicht. Insgesamt scheint seit 2012 die Balance in der russischen Elite zwischen dem eher liberaleren wirtschaftsorientierten Teil und den Sicherheitspersonen zerstört worden zu sein. Manche Experten sprechen sogar von einem Regimewandel.4 Ökonomische Prioritätenverschiebung 2012 wurden dementsprechend auch in der russischen Wirtschaftspolitik neue Prioritäten gesetzt. War Putin bis zur Wirtschafts- und Finanzkrise 3
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Ein Beispiel ist der Hausarrest des Putin-freundlichen Oligarchen Wladimir Ewtuschenkow, dessen Unternehmensgruppe Sistema laut Anklage Anteile an der unrechtmäßig privatisierten Firma Baschneft besitzt. Laut gerichtlicher Entscheidung gehen diese Anteile zurück an den russischen Staat. Dieses Urteil spielt dem staatlichen Ölkonzern Rosneft in die Hände, der von einem engen Alliierten Putins, Igor Setchin, geführt wird und an Baschneft interessiert ist. Vgl. Vedomosti, 30.10.2014, (abgerufen am 1.11.2014). Kadri Liik, Regime Change in Russia, ECFR Policy Memo, 31.5.2013, (abgerufen am 1.11.2014).
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2008/09 – wegen der hohen Preise für Öl und Gas sowie der Ausrichtung auf Europa als Empfänger russischer Rohstoffe und Lieferant für Technologien und Investitionen – eher an einem guten Verhältnis zur EU interessiert, so hat die Wirtschaftskrise die Schwächen des russischen (und europäischen) Wirtschaftssystems offen gelegt und das Interesse an Kooperation zur Absicherung des Systemerhalts geschmälert. Putins Wirtschaftspolitik, so wie er sie zu Beginn seiner dritten Amtszeit in seinem programmatischen Artikel in der Wirtschaftszeitung Vedomosti angekündigte, war ambivalent:5 Einerseits sollten – verbunden mit dem WTO-Beitritt – mehr privatisiert und die Investitionsbedingungen verbessert werden. Andererseits erhöhten sich der Anteil staatlicher Unternehmen und die Bedeutung von Energieexporten für den Staatshaushalt weiter und es gab es keine echten Verbesserungen in den Bereichen Rechtssicherheit und Investitionsbedingungen. Zudem klagte die EU gegen Russland vor der WTO, unter anderem wegen der russischen Importbeschränkungen für europäische Autos. Bereits 2011 kündigte Putin in einem programmatischen Artikel noch als Premier an, nach sowjetischer Tradition den militär-industriellen Komplex zum Motor der wirtschaftlichen Modernisierung zu machen. Mit der UkraineKrise wurde 2014 erneut der Haushalt für die Modernisierung der russischen Armee aufgestockt.6 Seit den im russisch-georgischen Krieg 2008 offensichtlich gewordenen Schwächen setzt die russische Führung alles daran, das Militär zu modernisieren. Während in den 2000er Jahren 2,5 bis 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Rüstung ausgegeben wurden, werden die Verteidigungsausgaben 2014 auf 3,5 und die gesamten Militärausgaben auf 4,5 Prozent des BIP steigen. Diese Ausgaben sollen laut Budgetplanung für 2015 bis 2017 auf 4,2 bzw. 5,4 Prozent des BIP steigen.7 Auch wenn die russische Führung trotz hoher Ausgaben infolge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise noch über ausreichend Währungsreserven8 und einen gut gefüllten Reservefonds verfügt, kommt dieses Geld durch Korruption und die sich veränderte ökonomische Prioritätensetzung immer
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Wladimir Putin, Nam Nuzna Novaja Ekonomika, in: Vedomosti, 30.1.2012. Das staatliche Rüstungsprogramm 2020 soll zwischen 2011 und 2020 bis zu 573 Mrd. Dollar erhalten. 2014 erfolgt bereits die Ausarbeitung des Anschlussprojekts bis 2025. Vgl. Putin-Rede unter: (abgerufen am 1.11.2014). Julian Cooper, The Russian Military and the Economy (unveröffentliches Manuskript), 12.10.2014; ‘Defence economics’ (Russia), in: International Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2014, Abingdon, März 2014, S. 165-167. Ende September 2014 betrugen die russischen Währungsreserven 454 Mrd. Dollar. Central Bank of the Russian Federation, International Reserves, 30.9.2014, (abgerufen am 1.11.2014).
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weniger bei der Bevölkerung an.9 Insbesondere seit der globalen Finanzkrise waren große Summen aus dem Stabilitätsfonds nötig, um den Rubel zu stützen. Auch Unternehmen, die ihre Kredite im Ausland nicht mehr bedienen konnten, musste der Kreml unter die Arme greifen, was den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft weiter stärkte. In der jüngsten Ukraine-Krise haben die westlichen Sanktionen sogar dazu geführt, dass der russische Staat in den Pensionsfonds greifen musste, um die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft einzudämmen. Die Reserven des russischen Stabilitätsfonds sind von Beginn des Jahres 2014 bis Oktober um fast 10 Prozent gesunken. Letztlich haben die Ukraine-Krise und die westliche Sanktionspolitik mit dazu beigetragen, dass sich die protektionistischen Tendenzen in der Wirtschaftspolitik weiter verstärkt haben. Hohe Regierungsbeamte argumentieren, dass die westlichen Sanktionen es Russland nun ermöglichen, aus eigener Kraft eine Modernisierung seiner Wirtschaft zu erreichen. Denn Sanktionen schützen die russische Wirtschaft vor Konkurrenz und ermöglichen deren ungehinderte Entfaltung.10 Dass eine derartige Wirtschaftspolitik zum Bankrott führen kann, sollte die Erfahrung der Sowjetunion gezeigt haben. Russland ist heute jedoch viel stärker in die globale Weltwirtschaft integriert, seine Abhängigkeit vom Westen, unter anderem von Technologien zur Erschließung von Rohstoffen und beim Export von Öl und Gas, sind zentral für das Budget und die Handlungsmacht des Staates. Jedoch werden letzten Endes weniger westliche Sanktionen ein Umdenken der russischen Führung befördern, sondern deren Kombination mit einem niedrigen Ölpreis. Bei derzeit (November 2014) unter 80 Dollar pro Barrel Öl ist das russische Budget unterfinanziert, da das Regime mit seinen enormen Subventionen und Korruptionsverlusten mindestens einen Preis von 110 Dollar benötigt. Ideologie als Strategie Die Machtverschiebung innerhalb der russischen Elite wird flankiert durch die Ideologisierung der Innenpolitik, die seit mehreren Jahren im Gange ist und durch die Ukraine-Krise verstärkt wurde. Die Zustimmungsraten für die Politik Putins insgesamt und für seine Wiederwahl war bis 2013 auf ein für ein autokratisches System, das auf der Stärke der Führungsfigur basiert, bedrohliches Maß 9
Am 1.10.2014 umfasste der Reservefonds 90 Mrd. Dollar. Mit den Ausgaben im Rahmen der globalen Finanzkrise war er 2011 auf zeitweise unter 30 Mrd. Dollar gesunken. Vgl. Ministerstvo Financov Rossijskoj Federacii, Sovokupnyi obem sredst fonda, 7.10.2014, (abgerufen am 1.11.2014). 10 So argumentierte Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew in einem Zeitungsartikel im August 2014, dass Gegensanktionen die russische Wirtschaft ankurbeln könnten. Vgl. Vedomosti, 25.8.2014, (abgerufen am 1.11.2014).
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gesunken. Trotz massiver Fälschungen konnte Ende 2011 die Partei der Macht, Einheitliches Russland, nur noch knapp 50 Prozent der Stimmen erreichen.11 Auch Putin selbst war in der Wählergunst unter die magische 50-Prozent-Marke gesunken.12 Es tauchten neue politische Gegner wie Alexei Navalny auf, die nicht der marginalisierten liberalen Opposition, sondern dem nationalistischpopulistischen Lager angehören. Navalny erlangte mit der Aufdeckung von behördlichen Korruptionsfällen Popularität und konnte bei der Bürgermeisterwahl im September 2013 in Moskau mit 27 Prozent einen Achtungserfolg erzielen.13 Umso wichtiger wurde in der politischen Rhetorik, Feindbilder aus Sowjetzeiten zu bedienen: etwa „Faschisten“, die nunmehr auch in der Ukraine die Zugehörigkeit zur russischsprachigen Welt bedrohen. Die Behauptung des Kremls, dass der Westen schuld an der ökonomischen Stagnation in Russland sei, dass die USA und EU den russischen Einflussbereich zurückdrängen wollten, und die mit der Annexion der Krim demonstrierte Stärke sollen dabei von den Defiziten der eigenen Politik ablenken. Diese Argumentation passt in das ideologische Muster, mit dem Politik und Gesellschaft „versicherheitlicht“ werden – zumal auch ein fundamentaler Konflikt zwischen dem „dekadenten Westen“ und Russland als dem Hüter der „wahren europäischen Werte“ kreiert worden ist. Der Stimmungsumschwung in der russischen Bevölkerung belegt die Wirksamkeit dieser Propaganda. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada unterstützten im Oktober 2014 neun von zehn (88 Prozent) Russen Putins Politik. 2013 waren es im Durchschnitt nur 64 Prozent seiner Landsleute.14 Teile der Mittelklasse, die 2011/12 noch gegen das korrupte System Putin und die Manipulation von Wahlen auf die Straße gegangen sind, befürworten die Angliederung der Krim. Diese wurde zu einem wichtigen symbolischen Erfolg für das Regime Putins, der seinen Landsleuten demonstrierte, dass Russland wieder in der Lage ist, seine „legitime Einflusssphäre“ zu wahren, seine „Landsleute zu schützen“ und Stärke gegenüber dem Westen zu zeigen. Die Welle von Patriotismus, verbunden mit massiver Propaganda, konnte nur aufgrund des kollektiven Traumas wegen des Zerfalls der Sowjetunion so erfolgreich sein. Insbesondere die Krim-Annexion hat dem Regime seine Legitimation zurückgegeben und ist deshalb nicht verhandelbar.
11 So lag Einheitliches Russland bei Umfragen 2012/13 konsequent unter 40 und zeitweise unter 30 Prozent. Levada, Elektoralny rejting partii i ONF, 25.7.2013, (abgerufen am 1.11.2014). 12 Levada, Oktjabr’skie rejtingi odobrenia i doveria, 29.10.2014, (abgerufen am 1.11.2014). 13 Die Website von Alexei Navalny ist zeitweise zu einem Instrument geworden, was die korrupte russische Elite massiv unter Druck gesetzt hat, (abgerufen am 1.11.2014). 14 Vgl. Levada, Oktjabr’skie rejtingi odobrenia i doveria, a.a.O. (Anm. 12).
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Gleichzeitig werden kritische Stimmen in der russischen Gesellschaft systematisch marginalisiert. Ein zweites NGO-Gesetz stigmatisiert zivilgesellschaftliche Organisationen, die aus nichtrussischen Quellen finanziert werden, als ausländische Agenten und behindert deren Arbeit mit enormen bürokratischen Hürden.15 Gesetze, mit denen das Internet kontrolliert und ausländische Finanzierung von Medien eingeschränkt werden, verhindern, dass sich die Gesellschaft ausgewogen informieren und kritisch austauschen kann. All diese Maßnahmen können mit Blick auf eine mittel- bis langfristige Perspektive nur zum Schluss führen, dass das Regime sich auf weitere Konflikte mit der russischen Gesellschaft vorbereitet. Mehr Kontrolle und Repression sind zu erwarten. Die Anführer der Demonstrationen von 2011/12 sowie wichtige Oppositionelle wie Navalny stehen bereits unter Hausarrest oder sind zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Damit werden auch international die Möglichkeiten begrenzt, mit der russischen Zivilgesellschaft zu kooperieren. Der internationale Kontext Westliche Sanktionen im Rahmen des Ukraine-Konflikts stärken diese Strukturen eher, da sie Russland isolieren, der sicherheitsorientierten Elite Oberwasser geben und die Wirtschaftsliberalen weiter marginalisieren, die auf ökonomische Beziehungen mit Europa setzten. Für Putin und sein Umfeld wiegen zurzeit die (innen-)politischen Vorteile des Konfrontationskurses die ökonomischen Kosten von Sanktionen auf. Kurzfristig wirken sie ohnehin nur begrenzt, da die Währungsreserven und der Stabilitätsfonds die Wirkung für eine gewisse Zeit abfedern können. Außerdem ist es in einer globalisierten Welt schwierig, ein Land komplett zu isolieren. Doch mittelfristig werden der Imageschaden, Kapitalabfluss und begrenzte Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten gravierende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben. Das Wirtschafts-„Wachstum“ liegt in diesem Jahr nahe bei null, und in den kommenden Jahren wird abhängig von der Verschärfung der Krise mit der EU, gegebenenfalls. weiteren Sanktionen und der Höhe des Ölpreises nur eine langsame Erholung erwartet.16 Autarkie in vitalen Wirtschaftsbereichen und die Erschließung neuer Märkte für russische Energieressourcen vor allem in Asien sind wichtige Ziele der dominanten Gruppen in der russischen Elite. Energieabkommen mit China und anderen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea sollen langfristig die einseitige Abhängigkeit vom europäischen Markt begrenzen. Was ökono15 Vgl. Jens Siegert, Mehr als eine Art „Agenten-Jagd“ – eine Art Zwischenbericht, in: Russlandanalysen 278, 6.6.2014, S. 25-27, (abgerufen am 1.11.2014). 16 Bank of Finland, Bofit Forecast for Russia 2014-2016, 16.9.2014, (abgerufen am 1.11.2014).
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misch sinnvoll erscheint, wird teuer erkauft werden müssen, da Russland bei der Konkurrenz um die asiatischen Märkte unter anderem mit Anbietern von Flüssiggas aus Australien und Katar konkurriert, die bei ihren Investitionen bereits weiter sind und insgesamt effizienter arbeiten. Ebenso hat Russland durch seine Isolation eine schlechte Verhandlungsposition gegenüber chinesischen Firmen und stimmte bereits aus Gründen des Prestigegewinns Abkommen zu, die ökonomisch wenig sinnvoll sind.17 Das aggressive Auftreten Moskaus hat darüber hinaus dazu geführt, dass postsowjetische Länder den Druck Moskaus durch Kooperation mit anderen Partnern ausbalancieren wollen. So wird es zwar am 1. Januar 2015 zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan kommen, gleichzeitig haben Minsk und Astana ein wachsendes Interesse, mit alternativen Partnern wie der EU zu kooperieren. Das hat keinen Politikwandel in diesen Ländern zur Folge, aber höhere Kosten für Russland, um sich deren Loyalität zu erkaufen. Russland wird aber weniger Ressourcen haben, um über ökonomische und energiepolitische Subventionen postsowjetische Länder an sich zu binden. Zudem bietet es weder ein ökonomisches noch gesellschaftliches Modell für diese Staaten. Die Ukraine-Krise markiert auch das Scheitern russischer Soft Power. Deshalb wird der sicherheitspolitische Druck auf diese Länder weiter wachsen, um deren Handlungsspielraum einzuschränken.18 Das Umschalten auf Hard Power im Fall der Krim und der Ostukraine ist ein Paradigmenwechsel, der 2008 in Georgien das erste Mal seit dem Ende der Sowjetunion getestet worden ist. Er zeigt auch, dass je schwächer Russland ökonomisch und politisch ist, desto aggressiver seine Führung reagiert. Die Nutzung von Konflikten im postsowjetischen Raum wird ein Instrument in der zukünftigen russischen Außenpolitik bleiben, um die Länder der Region unter Kontrolle zu halten. Militärische Mittel zum Erhalt der Einflusszone sind nicht mehr ausgeschlossen – eine Entwicklung, auf die EU und NATO reagieren müssen. Konsequenzen für die deutsche und europäische Politik Die europäische Politik der Kooperation mit Russland und insbesondere die deutsche Modernisierungspartnerschaft sind gescheitert. Das System Putin hatte nie Interesse an einer politischen Modernisierung über ökonomische Kooperation. Die Hoffnung, dass die russische Mittelklasse einen po17 Ewa Fischer et al., The Rising Costs of Getting Closer to Beijing: New Russian-Chinese Economic Agreements, OSW Analysis, 15.10.2014, (abgerufen am 1.11.2014). 18 Vgl. David Cartier (Hrsg.), The Geopolitics of Eurasian Integration, Special Report, London School of Economics, Juli 2014.
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litischen Wandel herbeiführen wird, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Die hohen Zustimmungsraten für Putins aktuelle Politik auch aus der russischen Mittelklasse belegen das. Es gibt kritische Stimmen, wie eine Demonstration gegen den Ukraine-Krieg mit über 10 000 Demonstranten in Moskau im September 2014 zeigte, jedoch ist diese Gruppe klein und marginalisiert. Progressive und kritische Teile der Gesellschaft verlassen aufgrund des aggressiven politischen Klimas das Land.19 Für die EU wird es immer schwieriger, den Austausch mit der russischen Bevölkerung zu unterstützen und Zugänge zu relevanten Entscheidungsträgern zu bekommen. Zwar will die Regierung wieder attraktiver für Investitionen und technisches Know-how aus dem Ausland werden. Doch die russische Führung hat massiv in Medienpropaganda über Kanäle wie Russia Today oder Manipulationen im Internet investiert und Debatten zu Sanktionen und dem Verhältnis zum Westen beeinflusst.20 Die EU-Mitgliedstaaten sind gefordert, sich gegen diese Attacken besser zu schützen und trotzdem Offenheit gegenüber der russischen Gesellschaft zu bewahren. Der Konflikt mit Russland wird andauern und bedarf einer Neukonzeptionierung europäischer Sicherheit, die auch andere postsowjetische Staaten einbezieht. Die NATO braucht eine Stabilisierungsstrategie für Nichtmitglieder. Die EU kann kein Interesse daran haben, dass die Ukraine von einem schwachen zu einem zerfallenden Staat wird, mit allen negativen Konsequenzen. Dies sollte u.a. durch Institution-Building im Sicherheitsbereich erfolgen. Ihrerseits wird die russische Führung alles dafür tun, damit sich Länder wie die Ukraine, Moldau und Georgien nicht in EU oder gar NATO integrieren können. Sicherheit in Europa wird deshalb in Zukunft mehr kosten. Deutschland hat immer eine Schlüsselrolle in der europäischen Politik gegenüber Russland gespielt und tut dies auch in der Ukraine-Krise. Die Bundesrepublik ist einer der größten Handels- und Investitionspartner für Russland. Doch die deutsche Politik musste in der Ukraine-Krise lernen, dass ökonomische Interdependenz auch negative Auswirkungen für die eigene Wirtschaft und Politik haben kann. Sanktionen machen nur dann Sinn, wenn auch positive Alternativen, sprich Anreize aufgezeigt werden. Deshalb sollten, parallel zu den Sanktionen gegen zentrale Figuren des Systems Putin, Visaerleichterungen für einen großen Teil der russischen Gesellschaft eingeführt werden. Selbstschutz ja, aber nur durch einen offenen Dialog kann die EU den autoritären Tendenzen in Russland entgegenwirken. Wandel in Russland kann nur auf lange Sicht erwar19 Laut BBC haben 2013 über 186 000 Menschen, vor allem aus der gut ausgebildeten Mittelklasse, Russland verlassen. Russian Braindrain After Putin Crackdown, in: BBC Monitoring, 2.10.2014, (abgerufen am 1.11.2014). 20 Julian Hans, Putins Trolle, in: Süddeutsche Zeitung, 13.6.2014, S. 8. Ein aktuelles Beispiel ist die deutsche Ausgabe des russischen Propagandasenders Russia Today: (abgerufen am 1.11.2014).
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tet werden; gleichwohl müssen der Austausch mit den derzeit marginalisierten Reformkräften in der russischen Elite und Gesellschaft intensiviert werden und Plattformen für zivilgesellschaftlichen Austausch reformiert und ausgebaut werden. Ebenso braucht die EU eine Informationsstrategie für die osteuropäischen bzw. russischen Gesellschaften. Dabei sollte eine Medienplattform im Internet geschaffen werden, die die russische Propaganda enthüllt. Die russische Führung wird in bestimmten internationalen Konflikten weiterhin daran interessiert sein, mit dem Westen zu kooperieren. Insbesondere die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus beschäftigt Moskau ebenso wie den Westen. Mit Blick auf die Eurasische Wirtschaftsunion sollte die EU ebenfalls Kooperations- und Kompatibilitätsansätze identifizieren und gleichzeitig den bilateralen Austausch mit den einzelnen Mitgliedstaaten pflegen. Im Gegensatz zu den gemeinsamen Interessen im internationalen Rahmen wird es im postsowjetischen Raum dauerhaft bei einer Einflusskonkurrenz bleiben, die sich auch durch partielle Kompromisse und Kooperation in anderen Bereichen auf absehbare Zeit kaum lösen lassen wird.
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Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl Guido Steinberg
Die Stabilität der Autokratie Saudi-Arabiens beruht auf historisch-religiöser Legitimation sowie den hohen Einnahmen aus dem Ölexport, mit denen ein Patronagesystem finanziert und das Wohlwollen der Bevölkerung gekauft werden. Gleichwohl könnten ein Konflikt über die Thronfolge sowie langfristig niedrige Ölpreise die Stabilität des Regimes – und seine Außenpolitik mit westlichen Demokratien – gefährden. Historisches Fundament: Macht und Glaube Das Königreich Saudi-Arabien ist eine Monarchie, in der die Herrscherfamilie Saud mit kurzen Unterbrechungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts regiert. „König“ nennt sich der saudi-arabische Herrscher seit 1932. Als Gründungsdatum des saudi-arabischen Staates gilt das Jahr 1744/45, als der Namensgeber der Dynastie, Emir Muhammad Ibn Saud (1710-1765) ein Bündnis mit dem sunnitischen Reformgelehrten Muhammad Ibn Abdalwahhab (1703/04-1792) schloss, gemäß dem der Emir die Lehren des Klerikers in seinem Herrschaftsgebiet zu einer Art Staatsreligion machen würde. Diese Übereinkunft ist im Prinzip bis heute in Kraft und die „wahhabitischen“ Gelehrten haben ihre starke Stellung in der Religionspolitik des Landes bewahrt. Dies ist vor allem deshalb folgenreich, weil Ibn Abdalwahhab eine extrem puristische Islaminterpretation vertrat, die auf eine Rückkehr zu einer idealisierten islamischen Urgesellschaft im Mekka und Medina des 7. Jahrhunderts abzielte. Gemeinsam schufen Herrscher und Gelehrte eine Tugendrepublik, in der nur als wahrer Muslim galt, wer die Glaubenslehre der Wahhabiten vorbehaltlos übernahm und ihre Verhaltensvorschriften exakt befolgte. Die wahhabitische Tradition prägt die politische Kultur des Landes bis heute. Zwar sind ihre Gelehrten nur noch Juniorpartner der Herrscherfamilie und ihr Einfluss auf die Politik des Landes steht weit hinter dem der führenden Prinzen zurück, doch bestimmen sie die Natur des saudischen Autoritarismus
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mit – der sich eine stark religiöse Prägung bewahrt hat. Die Saudi-Araber sind gezwungen, sich den Verhaltens- und Kleidungsvorschriften der Wahhabiten zu beugen – die noch dazu eine Religionspolizei unterhalten, die in den Straßen der Städte patrouilliert. Dies betrifft zum einen die Frauen des Landes, die weitgehenden Beschränkungen unterliegen und kaum Anteil am öffentlichen Leben haben. Zum anderen werden die religiösen Minderheiten im Land teils brutal diskriminiert; insbesondere die den Wahhabiten verhassten Schiiten, die mit zwei bis drei Millionen Menschen bis zu 15 Prozent der Bevölkerung stellen, leiden unter vielfältigen Benachteiligungen. Ungefähr ein Dutzend führende Prinzen leitet die Politik des Landes und der König ist oft nicht mehr als ein Primus inter Pares. Die Familie Saud begründet ihren Anspruch auf Alleinherrschaft religiös und historisch und setzt ihn notfalls mit Gewalt durch. Dies geschieht allerdings nur in Einzelfällen, denn es gibt keine organisierte Opposition im Land, politische Parteien sind verboten und auf Unzufriedenheit reagiert die Führung oft mit dem Versuch, durch direkte und indirekte Zahlungen an wichtige Einzelpersonen, gesellschaftliche Gruppen oder die Gesamtbevölkerung die Lage zu beruhigen. Da die Öleinnahmen dem Land sehr großzügige Zuwendungen erlauben, ist Saudi-Arabien im regionalen Vergleich (und wenn man von den religiöskulturellen Einschränkungen absieht) eine der weniger brutalen Diktaturen. Die recht professionellen Geheimdienste des Landes konzentrieren sich auf mögliche Gefahrenquellen, wie vor allem die Schiiten im Osten des Landes, und lassen dem Rest der Bevölkerung mehr Spielräume als andere nahöstliche Despotien. Solange Tabuthemen wie der Herrschaftsanspruch der Familie Saud und – etwas weniger wichtig – die Islaminterpretation der Wahhabiten nicht angesprochen werden, gibt es auch Spielraum für öffentliche Kritik. Überdies wird der private Raum von der Herrscherfamilie meist respektiert und viele SaudiAraber müssen für offene Worte dort keine Konsequenzen fürchten. Dementsprechend sind viele Saudi-Araber zumindest nicht übermäßig unzufrieden mit dem Regime. Hier spielt auch die – abgesehen von der grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft – sehr weitgehende wirtschaftliche Freiheit eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Angst vieler Untertanen vor der Alternative, die von der Herrscherfamilie gerne mit dem Hinweis auf die Dschihadisten von Al Qaida und dem Islamischen Staat (IS) und die Bürgerkriege und Aufstände in Nachbarländern gerne geschürt wird. Daher muss das saudische Regime keine unmittelbaren Gefahren für seine Stabilität fürchten. Bruchlinien der Regimestabilität Die einzige, aber gleichzeitig große Unbekannte ist die Situation in der Herrscherfamilie selbst, die für Außenstehende nur sehr schwer durchschaubar ist. Bis heute regieren die Söhne des Gründers des dritten saudi-arabischen
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Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl
Staates, Abdalaziz Ibn Saud, der bereits 1953 starb, und es ist vollkommen ungeklärt, wann die Macht auf die Enkelgeneration übergeht. Der heutige König Abdallah wurde 1923 geboren, sein Kronprinz Salman 1936 und die Nummer zwei in der Thronfolge, Muqrin, 1943. Doch schon in seinem Fall diskutieren die Saudis immer wieder, ob er wirklich König werden kann. Denn zahlreichen bisher prominenteren Angehörigen der nächsten Generation werden Ambitionen auf den Thron nachgesagt und Muqrin gilt als eher schwacher Prätendent. Einen Favoriten gibt es unter den Enkeln Ibn Sauds aber nicht und viele Saudi-Araber befürchten, dass spätestens nach dem Tod Muqrins ein Konflikt über die Nachfolge die Stabilität des Landes beeinträchtigen könnte. Eines der größten Probleme des saudi-arabischen Staates ist, dass es die politische Elite des Landes bisher nicht geschafft hat, ein Nationalgefühl zu schaffen. Dies geht vor allem auf die dominierende Rolle der Bewohner Zentralarabiens während der Entstehung des Staates zurück, die nach der arabischen Bezeichnung ihrer Ursprungsregion auch Najdis genannt werden und die das eigentliche Staatsvolk Saudi-Arabiens sind. Nicht nur die Herrscherfamilie, sondern auch die wahhabitischen Gelehrten stammen aus dem Najd und hier haben beide ihre Hausmacht. Die übrigen Regionen des Königreichs wurden in teils jahrelangen Feldzügen erobert und die Macht wurde auch dadurch gesichert, dass zahlreiche besonders loyale Zentralaraber Schaltstellen im Sicherheitsapparat, in der Justiz, Verwaltung und im Erziehungswesen der neuen Provinzen besetzten. Bis heute spielen regionale Bruchlinien eine wichtige Rolle, obwohl die einzelnen Landesteile bereits in den Jahren zwischen 1913 und 1932 erobert wurden. Dies hat auch damit zu tun, dass die Eroberer den neuen Untertanen nicht nur die saudi-arabische Herrschaft, sondern auch die wahhabitische Islaminterpretation aufzwangen. Dies ist besonders deutlich in der im Westen des Landes gelegenen Region Hijaz zu spüren, in der nicht nur die Pilgerstätten von Mekka und Medina liegen, sondern auch die Hafenstadt Jidda. Die Bevölkerung der Provinz ist aufgrund der Pilgerströme aus aller Welt, der Bedeutung als Handelsplatz und enger kultureller Beziehungen nach Ägypten und Syrien sehr viel weltoffener als die Zentralaraber, die hier bis heute oft als unzivilisierte Beduinen geschmäht werden. Obwohl die Hijazis mehrheitlich Sunniten sind, ist die Wahhabiya in der Region nicht sehr populär, weil die meisten Einwohner toleranteren Islaminterpretationen anhängen. Dass es trotzdem keine Abspaltungstendenzen mehr gibt, dürfte vor allem dem Ölreichtum des Landes geschuldet sein. Denn das Öl wird ausschließlich an der Küste des Persischen Golfs gefördert und nach einer Aufspaltung des Landes würden die Hijazis nicht mehr an den Einnahmen beteiligt. Im Osten des Königreichs ist die Situation sehr viel schwieriger, weil hier die überwiegende Mehrheit der saudi-arabischen Schiiten lebt, die die saudi-arabische Herrschaft häufig ablehnen. Sie scheinen aber nicht mehr die Mehrheit in der strategisch so wichtigen Ostprovinz zu stellen, weil schon seit den 1950er
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Jahren viele Najdis auf der Suche nach Arbeit hierhin gezogen sind. Deshalb hegen nur sehr wenige Schiiten Hoffnungen, aus dem Staatsverband ausbrechen zu können. Trotz dieser Probleme hat sich das von der Familie Saud etablierte politische System in Saudi-Arabien als sehr viel stabiler erwiesen als die meisten Regime in anderen arabischen Staaten. Dies liegt zum einen an der historischen Legitimität der Monarchie, die mit zwei Unterbrechungen bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts über das Land herrscht.1 Zumindest das zentralarabische Staatsvolk und beträchtliche Teile der Bevölkerungen in den eroberten Provinzen unterstützen deshalb die Herrschaft der Familie Saud. Selbst scharfe Kritiker der Familie Saud fordern eine konstitutionelle Monarchie und nicht etwa ein Ende der Dynastie. Zum anderen beruht die Legitimität der Herrscherfamilie auf den hohen Einnahmen aus dem Ölexport, die sie an die Bevölkerung weitergibt. SaudiArabien verfügt immer noch über rund ein Viertel der Welterdölreserven und wird seine starke Stellung auf den Energiemärkten voraussichtlich noch lange behalten. Auch die „Schieferrevolution“ in den USA wird daran nichts ändern, denn die Förderung von unkonventionellem Öl wird dort schon in spätestens einem Jahrzehnt wieder einbrechen. Saudi-Arabien wird also auch weiterhin in der Lage sein, durch großzügige direkte und indirekte Zahlungen an seine Bevölkerung Zustimmung zu kaufen. Trotzdem zeichnen sich heute schon gravierende Probleme ab. Denn das Königreich betreibt einen großen Teil seiner Elektrizitätswerke und Meerwasserentsalzungsanlagen mit Öl, und der lokale Energiebedarf steigt aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums schnell an. Gelingt es nicht, die Produktion von Öl und vor allem von Gas rasch und substanziell zu steigern, droht immer weniger Öl für den Export bereitzustehen. Die Steigerungsraten des einheimischen Verbrauchs sind so hoch, dass das Land heute bereits ein Drittel seiner Produktion selbst verbraucht und einige Experten bereits warnen, Saudi-Arabien werde bis 2030 zum Ölimporteur werden, sollte der rasante Anstieg nicht bald gestoppt werden. Hinzu kommt, dass das Land aufgrund steigender Ausgaben immer abhängiger von anhaltend hohen Ölpreisen wird. Schon Ende 2012 durfte der Preis pro Fass nicht unter 85 Dollar pro Fass liegen, wollte Saudi-Arabien sein Budget finanzieren. Zwar hat es in den 1980er und 1990er Jahren gezeigt, dass es auch eine lange Tiefpreisphase überstehen kann, doch könnten eine länger anhaltende Weltwirtschaftskrise und ein dadurch verursachter Nachfragerückgang und Preiseinbruch bei fossilen Rohstoffen der Legitimität der Monarchie schaden und die Stabilität des Landes beeinträchtigen.
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In der Forschung wird zwischen drei saudischen Staaten unterschieden, dem ersten 1744/45-1818, dem zweiten 1824-1891 und dem dritten, der seit 1901 besteht.
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Herrschaftssicherung Die Herrschaft der saudischen Dynastie beruht auf teils jahrhundertealten Bindungen, die bis heute wirksam sind und die weit über das Bündnis mit den Gelehrten und das dadurch gestärkte Band zur Bevölkerung hinausgehen. Zwar hat sich die Herrscherfamilie seit der Entstehung des Königreichs 1932 und den seit 1945 wachsenden Öleinnahmen immer mehr von den religiösen und wirtschaftlichen Eliten des Landes und damit auch vom Volk entfernt. Diese Entwicklung zeigte sich beispielsweise daran, dass die Mitglieder der Herrscherfamilie immer häufiger untereinander heirateten und nicht einmal mehr die Töchter der großen Gelehrten- und Händlerfamilien und der Stammesführer als standesgemäße Ehefrauen akzeptierten. Doch an die Stelle dieser traditionellen Form der Herrschaftssicherung traten modernere Bindungen wie die Anstellung im öffentlichen Dienst und Zuteilung von wirtschaftlichen Vorteilen durch staatlich geförderte Korruption. Politische Herrschaft ist in Saudi-Arabien immer noch sehr stark personalisiert und die wichtigsten Ministerien wie das Innen-, Verteidigungs- und Außenministerium wurden seit ihrer Gründung ohne Ausnahme mit führenden Prinzen der Familie Saud besetzt. Diese sehen ihren Zuständigkeitsbereich bis heute mehr als persönliche Pfründe denn als Ämter an, die sie zur Versorgung von Familienangehörigen und Gefolgsleuten nutzen. Besonders deutlich wird diese Politik im Verteidigungs- und Innenministerium, die besonders viele Stellen zu vergeben haben. In der Nationalgarde, in der Angehörige der ehemaligen Beduinenstämme des Landes dienen, und die als besonders loyale Schutztruppe des Königshauses dient, ist dieses Motiv sogar institutionalisiert. Es ist zu vermuten, dass diese Vetternwirtschaft die Einsatzfähigkeit von Armee und Sicherheitskräften massiv beeinträchtigt, doch wird sich dies erst im Ernstfall erweisen. Parallel hierzu ist Korruption wie in allen nahöstlichen Staaten ein wichtiges Instrument der Herrschaftssicherung. Seinen offensten Ausdruck findet sie im sogenannten Sponsoren- oder Kafalasystem. In Saudi-Arabien benötigt jede ausländische Firma einen inländischen „Sponsor“ (arabisch kafil), mit dem er zusammenarbeitet. In vielen Fällen besteht die Zusammenarbeit aus einer Geldzahlung an den Saudi, der keinen eigenen Beitrag zum Gelingen des Geschäfts oder Projekts leistet, außer dass er als Sponsor fungiert. In vielen Fällen handelt es sich bei den Sponsoren um Personen mit guten Beziehungen in die Politik des Landes, sodass das System einer Art staatlich verordneter Korruption gleichkommt. Da viele Saudi-Araber von ihm profitieren, trägt es zur Stabilität des Landes bei. Hinzu kommen vor allem im Krisenfall Zahlungen an die Bevölkerung – wie während des „Arabischen Frühlings“
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2011, als König Abdallah direkte und indirekte Zuwendungen an die saudiarabische Bevölkerung von 130 Milliarden Dollar ankündigte.2 Aufgrund der finanziellen Möglichkeiten und der im Vergleich zu einigen Nachbarstaaten beträchtlichen historischen und religiösen Legitimität der Herrscherfamilie ist die Repression durch die Sicherheitsbehörden im Königreich im regionalen Vergleich weniger brutal. Sie trifft oder traf vor allem drei Gruppen, unter ihnen die schiitische Opposition, die sunnitisch-islamistische Opposition, die in Saudi-Arabien meist eine eigentümliche Verbindung des Gedankenguts der Wahhabiya mit dem der Muslimbruderschaft vertritt, und die Dschihadisten der Al Qaida und des IS. All diese Gruppen werden von der saudischen Herrscherfamilie als Gefahren für den Erhalt ihres Regimes gesehen und dem entsprechend entschlossen bekämpft. Unter den Schiiten der Ostprovinz gibt es zwar keine starke Oppositionsgruppe mehr, aber das Vorbild des Arabischen Frühlings in Nordafrika ermutigte auch sie zu Protesten, die seit dem Frühjahr 2011 immer wieder aufflammen – oft als Reaktion auf Unruhen im benachbarten Bahrain. Die Sicherheitskräfte greifen hart durch und töten und verletzen häufig jugendliche Demonstranten. Rädelsführer der Proteste werden inhaftiert; ein wichtiger oppositioneller Gelehrter wurde im Oktober 2014 zum Tode verurteilt, weil er mehrfach den Sturz der Herrscherfamilie gefordert hatte.3 Mit den Wahlerfolgen der Muslimbruderschaft in Tunesien und Ägypten 2011 und 2012 wuchs die Sorge der saudi-arabischen Führung vor dem transnationalen Einfluss der Organisation und ihrer Ideologie in Saudi-Arabien. Im Land gilt sie insbesondere den Vertretern des „Islamischen Erwachens“ (as-Sahwa al-Islamiya), die stark von dem revolutionären Gedankengut der Muslimbrüder beeinflusst sind und die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die islamistische Opposition im Land anführten. Führende Vertreter wurden mit Reiseverboten belegt, ihre Fernsehprogramme eingestellt und Publikationen verboten.4 Seit der saudi-arabische Ableger der Al Qaida im Mai 2003 eine Terrorkampagne in Saudi-Arabien startete, sieht die Herrscherfamilie diese und andere dschihadistische Organisationen als Gefahr für ihre Herrschaft. Ihre Sorge gilt vor allem „Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel“, die vom Jemen aus operiert, aber viele saudi-arabische Mitglieder hat und mehrfach versucht hat, Anschläge in Saudi-Arabien zu verüben. Seit 2013 fürchtet die Führung in Riad auch Anschläge des IS (vormals ISIS), dem sich ebenfalls zahlreiche saudi-arabische Kämpfer angeschlossen haben, die mit einem Angriff auf das Königreich drohen. 2 3 4
James Gavin, Riyadh Spends to Curb Unrest, in: Middle East Economic Digest, 15.-21.4.2011, S. 3032, hier S. 30. Saudi Arabia: Cleric Sentenced to Death, in: Associated Press, 15.10.2014. Monika Bolliger, Islamische Kritik an der saudischen Regierung, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.4.2012.
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Obwohl es in Saudi-Arabien keine organisierte Opposition gibt, hat die Furcht der saudi-arabischen Führung vor innenpolitischen Verwerfungen seit 2011 deutlich zugenommen. Ein wichtiges Indiz hierfür war die Intervention in Bahrain im März 2011, wo saudi-arabische und emiratische (das heißt der Vereinigten Arabischen Emirate) Truppen Proteste der schiitischen Bevölkerungsmehrheit niederschlagen halfen. Dieser Schritt war nicht nur der Sorge um die Stabilität des Regimes der Familie Khalifa im Nachbarland, sondern auch der vor einem Übergreifen der dortigen Proteste auf die saudiarabische Ostprovinz geschuldet. Auch die schwer nachvollziehbare Angst vor der Muslimbruderschaft, die das Königreich entgegen der Faktenlage im März 2014 zur terroristischen Organisation erklärte, trägt paranoide Züge. Lediglich die Nervosität gegenüber den Dschihadisten von Al Qaida und IS, die im Königreich viele Anhänger haben, ist gerechtfertigt. Internationale Beziehungen Die internationalen Beziehungen Saudi-Arabiens werden vor allem von seinem Bedürfnis nach militärischem Schutz und der überragenden Rolle des saudiarabischen Öls für die Weltwirtschaft bestimmt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die USA die Schutzmacht des Königreichs und im Gegenzug liefert Saudi-Arabien der Weltwirtschaft verlässlich Öl zu akzeptablen Preisen. Aus innenpolitischen Gründen war dieses Bündnis immer problematisch, weil vor allem die Wahhabiten eine so enge Beziehung zu „ungläubigen“ Christen ablehnen. Der Widerspruch zwischen der prowestlichen Außen- und der prowahhabitischen Innenpolitik des Landes brach denn auch auf, als 1990 Hunderttausende amerikanische Soldaten im Land stationiert wurden. Für die USA und die anderen westlichen Partner Saudi-Arabiens hingegen sind es die vor allem infolge der religiösen Einschränkungen katastrophale Menschenrechtslage in SaudiArabien und die Förderung islamistischer und salafistischer Gruppen weltweit, die Kritik hervorrufen und die Beziehungen strapazieren. Dies gilt auch für Europa und Deutschland, wo jedes Anzeichen einer Vertiefung der Beziehungen von scharfer Kritik begleitet wird. Im deutschen Fall wird dies besonders seit zwei aufeinanderfolgenden Reisen von Bundeskanzler Gerhard Schröder in die arabischen Golf-Staaten im Oktober 2003 und Februar 2005 sichtbar, bei denen er jeweils auch Saudi-Arabien besuchte. Schröder bekundete während der Treffen mit saudi-arabischen Politikern ein gestiegenes deutsches Interesse an einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, sprach von „gewaltigen Möglichkeiten“ für den deutschen Außenhandel und handelte sich so den Vorwurf ein, die deutsche Außenpolitik zu „kommerzialisieren“. Dennoch setzte seine Nachfolgerin Angela Merkel diese Politik, die tatsächlich vor allem der Förderung des Außenhandels galt, fort. Die Kanzlerin und ihre jeweiligen Außenminister besuchten die Golf-Staaten sehr viel häufiger als ihre Vorgänger in den 1980er und 1990er Jahren.
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Da ein beträchtlicher Teil der deutschen Exporte Rüstungsgüter waren, gewannen die Beziehungen zu Saudi-Arabien auch eine sicherheitspolitische Dimension, ohne dass dies von deutscher Seite beabsichtigt gewesen zu sein scheint. Das beste Beispiel war zunächst ein Projekt zur Sicherung der saudiarabisch-irakischen Grenze mit modernen Anlagen. Der Zuschlag ging 2007 an den deutsch-französischen Konzern Airbus Defence and Space (damals noch EADS-Cassidian), der die Technik liefern würde: Zäune mit Infrarotkameras, Bewegungsmeldern und Radaranlagen, deren Informationen in mehreren Lagezentren mit denen von Patrouillen zu Land und in der Luft zusammenlaufen sollten.5 Die Bundesregierung unterstützte das Vorhaben, indem sie seit Anfang 2009 Bundespolizisten abstellte, die ihre saudi-arabischen Kollegen technisch und taktisch für den Betrieb der neuen Anlagen schulen. Einigen Berichten zufolge handelte es sich bei der Ausbildung durch die Bundespolizei um eine Bedingung des saudi-arabischen Innenministeriums, wenn der Auftrag denn an Cassidian gehen sollte.6 Die Hilfeleistung entsprach jedoch auch der Linie des damaligen Innenministers Schäuble und seines Staatssekretärs August Hanning, die die seit 2003 enorm verbesserte Sicherheitszusammenarbeit mit SaudiArabien weiter ausbauen wollten. Es war auch kein Zufall, dass Deutschland und Saudi-Arabien im Mai 2009 ein Abkommen über die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen schlossen. Bei dem Vorhaben an der irakischen Grenze handelte es sich jedoch nur um ein Pilotprojekt, dem im Juni 2009 der Abschluss über die gesamte saudiarabische Grenzsicherung folgte. Wiederum erhielt EADS den Auftrag für die technische Ausstattung an den insgesamt 9000 Kilometern saudi-arabischer Außengrenzen, davon rund 4900 Kilometer Küstenlinie und 4100 Kilometer Landgrenze. Der Auftrag hat ein Volumen von rund zwei Milliarden Euro und wiederum sind Trainingsmaßnahmen durch die deutsche Bundespolizei Teil der Verabredung. Das Geschäft war nicht nur für Airbus Defence interessant, denn erwartet werden zahlreiche Folgeaufträge für Fahrzeuge und Schiffe, die für die Grenzsicherung benötigt werden. Ende Februar 2013 beispielweise wurde bekannt, dass die Bremer Lürssen-Werft Patrouillenboote im Wert von 1,5 Milliarden Euro an Saudi-Arabien liefern wird.7 Obwohl die Rolle der Bundespolizei bei der Ausbildung der saudi-arabischen Grenzer kein Geheimnis war, wurde die deutsche Öffentlichkeit erst im Juli 2011 auf sie aufmerksam, nachdem der geplante Verkauf von 270 Leopard-Kampfpanzern an Saudi-Arabien bekannt geworden war. Die saudiarabische Führung hatte bereits Anfang der 1980er Jahre einen Anlauf genommen, das Vorläufermodell zu erwerben, doch verweigerte die Bundesregierung 5 6 7
Marcus Mohr, Gute Zäune, schlechte Zäune, in: ADLAS 2/2010, S. 45-48. Rüdiger Barth, Johannes Gunst, Oliver Schröm, Der Geheimpakt, in: Stern, 14.7.2011. Saudi-Arabien will deutsche Patrouillenboote kaufen, in: zeit.de, 10.2.2013, (abgerufen am 30.10.2014).
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Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl
auf Druck Israels die Genehmigung. Da sich die israelische Sicht auf SaudiArabien gewandelt hat und Tel Aviv in dem Königreich keine Bedrohung mehr sieht, fiel dieser Widerstand 2011 weg, doch die innenpolitische Kritik in Deutschland geriet dafür umso heftiger. Während die Opposition und viele Medienvertreter den Verkauf von Kampfpanzern an Saudi-Arabien generell ablehnten, konzentrierte sich die Kritik vieler Fachleute vor allem darauf, dass es sich den frühen Berichten zufolge um den Leopard 2A7+ handeln sollte. Dies ist ein Kampfpanzer mit Sonderausstattung für die Bekämpfung von Aufständen und Unruhen auch in städtischen Gebieten. Da saudi-arabische Truppen erst im März 2011 ins benachbarte Bahrain einmarschiert waren, um dort die Proteste der schiitischen Bevölkerungsmehrheit niederzuschlagen, war es sehr viel wahrscheinlicher geworden, dass das saudi-arabische Militär deutsche Panzer auch gegen die eigene oder die bahrainische Bevölkerung einsetzen würde.8 Hinter den Kulissen wurde nach diesem Intermezzo weiter verhandelt und Saudi-Arabien scheint bereit gewesen zu sein, sich mit dem herkömmlichen Kampfpanzer zufrieden zu geben. Dennoch wurde 2014 deutlich, dass die neue Bundesregierung nicht mehr bereit war, die erforderliche Genehmigung zu erteilen. Hier wirkte sich vor allem die Regierungsbeteiligung der SPD aus, denn Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel stellte sich auch aufgrund von Widerstand innerhalb der Partei gegen das Geschäft.9 Der Aufbau engerer sicherheitspolitischer Kontakte Deutschlands mit Saudi-Arabien wird vor diesem Hintergrund sehr viel schwieriger werden.
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Guido Steinberg, Der falsche Panzer, das falsche Land, in: Süddeutsche Zeitung, 11.7.2011. Tobias Schulze, Patrouillenboot ja, Leopard nein, in: die tageszeitung, 9.10.2014.
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Vereinigte Arabische Emirate: Wirtschaftliche Vorreiter Christian Koch
Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) bestehen aus sieben Emiraten (Abu Dhabi, Dubai, Sharjah, Ajman, Ras al-Khaimah, Um al-Quwain und Fujairah), die sich im Zuge des Rückzugs Großbritanniens aus seinen Kolonialgebieten „östlich von Suez“ Ende der 1960er Jahre zu einer Föderation zusammenschlossen. Offiziell wurden die VAE im Dezember 1971 gegründet und stellen seitdem die einzige funktionierende Föderation in der gesamten arabischen Welt dar. Innerhalb der Föderation werden die VAE vom Emirat Abu Dhabi angeführt, das aufgrund seiner Wirtschaftsstärke, seines Ölreichtums (ca. 94 Prozent der Ölreserven des Landes befinden sich unter der Kontrolle von Abu Dhabi, das aktuell 97 Prozent der täglichen Ölförderung stellt) und seiner geografischen Größe die Vormachtstellung unter den sieben Emiraten besitzt. Unter der Führerschaft der Herrscherfamilien, insbesondere der Al-NahyanFamilie in Abu Dhabi, haben sich die VAE als ein stabiles Land in der instabilen Region des Nahen und Mittleren Ostens etabliert und sich für die restliche Region als ein Modell effektiver Regierungsführung hervorgehoben. Unterstützt von seinen Öleinnahmen haben die VAE eine beispiellose wirtschaftliche und soziale Entwicklung genommen. Das Land zeichnet sich durch makroökonomische Stabilität, einen gut entwickelten Finanzsektor und starke soziale Sicherheitsnetze aus. Der Rohstoffreichtum ist somit als Segen für die VAE zu betrachten. Er ist Grundlage einer weitreichenden Entwicklung und Modernisierung des Landes, von der fast alle seine Staatsbürger direkt profitieren. Politisches System und Gesellschaftsvertrag Die VAE sind als autokratische Monarchie verfasst, in der Herrscherfamilien in den einzelnen Emiraten die Alleinmacht haben. Es gibt weder freie Wahlen, noch eine ausgeprägte Gewaltenteilung oder eine breitgefächerte Zivilgesellschaft.
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Vereinigte Arabische Emirate: Wirtschaftliche Vorreiter
Politische Strukturen bleiben unterentwickelt, und so sind es zum großen Teil informelle Beziehungen, auf persönlicher Ebene oder auf Basis der Stammeszugehörigkeit, die politische und wirtschaftliche Entscheidungen bestimmen. Intermediäre Institutionen wie etwa politische Parteien, Verbände oder Gewerkschaften sind nicht erlaubt und spielen deshalb auch keine Rolle bei der politischen Willensbildung. Aktuell geht es darum, die bestehenden Machtarrangements der Herrscherfamilien zu festigen und zu verhindern, dass etwa durch Dezentralisierung und andere Reformen das Herrschaftssystem für breitere Teile der einheimischen Bevölkerung geöffnet wird. Kleinere Schritte der politischen Öffnung wurden in den vergangenen Jahren zwar gewagt, darunter die Durchführung von eingeschränkten Wahlen für das emiratische Parlament. Diese haben aber keine Auswirkungen auf die Machtverhältnisse. Die Haltung der Regierung steht nicht unbedingt im Widerspruch zur gesellschaftlichen Lage. Die Kombination einer kleinen nationalen Bevölkerung mit großen finanziellen Mitteln hat es den herrschenden Familien erlaubt, sich nicht nur zu etablieren, sondern im Rahmen des gesellschaftlichen Konsenses unangefochten zu regieren. Von der großen Mehrheit der Bürger der VAE wird das Regime als legitim angesehen. Wegen der demografischen Entwicklung, die immer mehr ausländische Arbeitskräfte erfordert, versucht die Regierung durch Kampagnen eine nationale Identität hervorzuheben, um damit deutlich eine Grenze zwischen emiratischer und der nichtemiratischen Bevölkerung zu ziehen. Zwar wird die Identität gegenüber anderen nicht mit rassistischen Feindbildern konstruiert, dennoch besteht die klare Strategie, das Wir-Gefühl mit patriotischen sowie nationalistischen Motiven zu kultivieren. So hat die Regierung ihre Landsleute ermutigt, am Nationalfeiertag vom 2. Dezember, dem Tag der Staatsgründung, offen ihren Nationalstolz zu zeigen. Ethnische, religiöse oder sozioökonomische Spannungen existieren nicht; sie würden, sollten sie auftreten, sofort im Keim erstickt. Modernisierung der Wirtschaft Die VAE-Führung zeigt sich entschlossen, den Prozess der Globalisierung im Interesse ihres Landes aktiv mitzugestalten und den erheblichen Ölreichtum des Landes dafür einzusetzen, um eine nachhaltige Diversifizierung der Wirtschaft voranzutreiben. Das bedeutet unter anderem die schrittweise Umsetzung marktwirtschaftlicher Praktiken und eine Bereitschaft, Rechtsnormen für Geschäftstransaktionen einzuhalten. Wirtschaftlich betrachtet kann keine Rede davon sein, dass sich die VAE auf ihren Lorbeeren ausruhen. Die politische Führung verfolgt auch mit Nachdruck den Auf- und Ausbau des Bildungssektors, um die eigene Bevölkerung auf die Bedürfnisse des künftigen Arbeitsmarkts vorzubereiten. Das emiratische Bildungssystem hat hohe Qualität, was auch den im Land lebenden Ausländern zugute kommt.
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Emiratische Staatsbürger werden durch staatliche Stipendien großzügig unterstützt, damit sie in aller Welt ihren Bildungsweg verfolgen. Mit der Liberalisierung ihrer Handelspolitik haben die VAE regional und international eine Vorreiterrolle eingenommen. So hat sich das Emirat Dubai in den vergangenen zehn Jahren zu einem regionalen Handelsknotenpunkt entwickelt, auch dank seiner modernen Hafen- und Straßeninfrastruktur und einem Flughafen, der 2013 über 66 Millionen Passagiere bediente und damit in der Weltrangliste Platz sechs einnimmt, bereits fünf Plätze vor dem Frankfurter Flughafen.1 Da viele Firmen inzwischen über Dubai den gesamten nahöstlichen, südasiatischen sowie Teile des afrikanischen Marktes bedienen, sind die emiratische Wirtschaft sowie der Standort VAE für ausländische und insbesondere für deutsche Investoren und Hersteller äußerst attraktiv. Unter den europäischen Partnern ist die Bundesrepublik der wichtigste Handelspartner für die VAE – mit einem Gesamthandelsvolumen von knapp elf Milliarden Euro im Jahr 2013. Hinter Saudi-Arabien sind die VAE der zweitwichtigste Handelspartner der Bundesrepublik in der arabischen Welt.2 Insgesamt bleiben die VAE ein stabiler Standort für Geschäfte, Investitionen und Tourismus. Zudem gewinnt auch der asiatische Markt für die VAE an Bedeutung, da China, Japan und Südkorea die Hauptabnehmer der emiratischen Ölexporte sind. Auch gesamtwirtschaftlich gesehen liegen sechs der sieben wichtigsten Abnehmer emiratischer Exporte in Asien, angeführt von Japan mit 14,8 Prozent und Indien mit 11,4 Prozent des Gesamthandelsvolumens.3 Mit Südkorea pflegen die VAE zudem eine strategische Partnerschaft; südkoreanische Firmen haben zum Beispiel den Zuschlag bekommen, vier Nuklearreaktoren in Abu Dhabi zu bauen, die 2018 ans Netz gehen sollen, um der steigenden Stromnachfrage nachzukommen. Aufgrund seiner Handelsbilanzüberschüsse konnte das Land auch seine Devisenreserven erheblich erhöhen. Die in den VAE ansässigen Staatsfonds zählen inzwischen zu den führenden der Welt, darunter die Abu Dhabi Investment Authority (ADIA) mit einem Wert von ca. 773 Milliarden Dollar.4 Diese Fonds gehören nicht nur zu wichtigen Akteuren auf den Finanzmärkten, sondern sie haben sich insbesondere in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise als wichtige Investoren für deutsche und europäische Unternehmen erwiesen, 1 2 3 4
World Airport Traffic Report, (abgerufen am 20.10.2014). Auswärtiges Amt, VAE: Beziehungen zu Deutschland, (abgerufen am 20.10.2014). Schweizerische Eidgenossenschaft, VAE, (abgerufen am 20.10.2014). Sovereign Wealth Fund Institute, Fund Rankings, (abgerufen am 20.10.2014).
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wie die Beteiligungen bei der Daimler AG oder dem Ferrostahl Konzern gezeigt haben. Dabei orientieren sich die emiratischen Staatsfonds primär wirtschaftlich und versuchen nicht, durch ihre Investitionen auch politischen Einfluss zu nehmen. Außenpolitik Gleichwohl haben die wirtschaftlichen Erfolge die Regierung der VAE zu einem selbstbewussteren Auftreten in der Außenpolitik ermutigt. Die VAE sind geneigt, anders als früher, ihre Interessen mit Nachdruck zu verfolgen. Die VAE sind als Partner für die internationale Gemeinschaft anerkannt und in regionale (zum Beispiel im Golf-Kooperationsrat oder in der Arabischen Liga) sowie in internationale Foren (Vereinte Nationen, Weltwirtschaftsforum, NATO usw.) stark eingebunden. Sicherheit und Stabilität am Golf haben bei den VAE höchste Priorität, und so stehen die engen Beziehungen zu den anderen Golf-Monarchien (Kuwait, Oman, Saudi-Arabien, Katar und Bahrain) sowie eine enge Bindung mit westlichen Partnern, vor allem den USA, Großbritannien und Frankreich, im Vordergrund. In ihrer Außenpolitik suchen die VAE keinen Einzelweg, sondern beteiligen sich im multilateralen Rahmen auch an internationalen Missionen und Friedenseinsätzen, zum Beispiel im Kosovo, in Afghanistan, im Kampf gegen die Piraterie am Horn von Afrika oder bei der Umsetzung der UN-Resolution 1973 gegen Libyen im Jahre 2011. Mit Deutschaland wurden bereits konkrete Projekte umgesetzt, darunter die gemeinsame Ausbildung von irakischen Sicherheitskräften in den Jahren 2005 bis 2007 und Wiederaufbauprojekte in Afghanistan sowie beim „Wiederaufbaufonds Syrien“ im Rahmen der Freundesgruppe des syrischen Volkes.5 Die VAE tragen auch internationale Sanktionen mit, etwa gegenüber dem Iran im Zusammenhang mit dessen Nuklearprogramm oder wenn es darum geht, Finanzströme zu unterbinden, die Terrorismus unterstützen. Dass die VAE auch bereit sind, ihre Interessen nicht nur als Teil der internationalen Gemeinschaft zu verfolgen, wurde in den Jahren 2013 und 2014 deutlich. Zusammen mit Saudi-Arabien haben die VAE etwa dem Militärregime in Ägypten Hilfe geleistet, um es zu stabilisieren und einem weiteren Vormarsch der Muslimbruderschaft einen Riegel vorzuschieben. In diesem Zusammenhang werden Schritte wie die Einschränkung der Meinungsfreiheit oder die willkürlichen Gerichtsprozesse gegen sogenannte „Gegner“ des Regimes in Ägypten
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Auswärtiges Amt, VAE: Außenpolitik, (abgerufen am 20.10.2014).
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durchaus in Kauf genommen.6 Auch in Libyen haben die VAE im Mai 2014 militärische Angriffe gegen islamistische Gruppen ausgeführt, ohne vorher Verbündete wie die USA zu informieren.7 Solche Vorgehen zeugen von einer zunehmenden Selbstsicherheit der VAE-Herrschenden. Sie sind zugleich ein Zeichen dafür, dass die VAE ihre Interessen nicht immer durch die Politik ihrer Alliierten, vor allen der USA, gedeckt sehen. In der Ägypten-Politik kann durchaus davon die Rede sein, dass autokratische Staaten (die VAE und Saudi Arabien) zusammen versuchen, ihre Einflusssphäre auszudehnen und ihren Interessen mehr Nachdruck zu verleihen. Herausforderungen Wegen seiner bedeutenden Rolle als Ölproduzent und seiner geopolitisch zentralen Lage in der wichtigen Golf-Region bestehen sowohl Schutz als auch Gefahren für die Sicherheit der VAE. Da das Regime wegen seiner gemäßigten regionalen Politik für die USA und den Westen ein wichtiger Verbündeter ist, können sich die VAE auf den Schutz ihrer Alliierten gegenüber regionalen Gefahren durchaus verlassen. Aufgrund seiner sehr westlich ausgerichteten Außenpolitik hat das Land, insbesondere innerhalb der Region, aber auch Kritiker. Es bestehen Spannungen mit Nachbarstaaten wie Saudi-Arabien (Grenzstreitigkeiten), Katar (Unterstützung der Muslimbruderschaft), dem Iran (ideologische Konkurrenz sowie Streitigkeiten über drei Inseln im Golf) oder mit regionalen Bewegungen wie dem politischen Islam, verkörpert durch die Muslimbruderschaft. Wegen seiner rasanten wirtschaftlichen Entwicklung und Freizügigkeit, etwa im Hinblick auf den Konsum von Alkohol, sind die VAE zudem extremistischen Gruppierungen ein Dorn im Auge, und das Land bleibt Ziel möglicher Anschläge. Dieses Risiko hat sich 2014 durch die offensichtliche Teilnahme der VAE-Streitkräfte an den Bombardierungen der Gruppe des Islamischen Staates (IS) im Nordirak und in Syrien weiter verschärft.8 Eine mögliche Bedrohung durch islamische Terrorgruppen hat auch dazu geführt, dass die VAE ihren inländischen Sicherheitsapparat und ihre Überwachungsmechanismen in den vergangenen Jahren drastisch ausgeweitet haben. Die demografische Entwicklung der emiratischen Gesellschaft ist durch einen hohen und wachsenden Anteil von Jugendlichen gekennzeichnet, welche 6 7 8
H.A. Hellyer, UAE Likely to Support Egypt for the Long Haul, in: Al-Monitor, 16.10.2014, (abgerufen am 20.10.2014). UAE Behind Air Strikes in Libya, in: Al-Jazeera, 26.8.2014, (abgerufen am 20.10.2014). UAE Confirms Airstrikes Against Daesh Targets, in: Gulf News, 23.9.2014, (abgerufen am 20.10.2014).
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sich auch zunehmend auf die sozialen und politischen Aspekte des Landes auswirken wird. Vertraut mit den neuesten Technologien und Informationen, stellt die gut ausgebildete emiratische Bevölkerung selbstbewusster Forderungen – auch an das eigene politische System, ein Prozess, der durch den Ausbruch des Arabischen Frühlings Ende des Jahre 2010 zusätzliche Impulse verliehen bekommen hat. Noch bleiben diese Auseinandersetzungen beschränkt und intern, die Diskussion findet vorwiegend in den bereits vorhandenen Gremien, wie der Majlis, oder über persönliche Beziehungen statt. Zu öffentlichen Demonstrationen ist es bis jetzt noch nicht gekommen. Die Herrscherhäuser sind sich durchaus bewusst, dass sie ihr Machtmonopol nicht auf ewig aufrechterhalten können. Dennoch versuchen sie, ihre noch bestehende Legitimität so weit wie möglich in die Zukunft auszudehnen. Das bestehende Top-Down-Entscheidungssystem bleibt beherrschend, es wirkt aber auch als Hindernis für Produktivität und Innovation, weil es seine jugendlichen Bürger frustriert, wenn sie nicht ihren Beitrag für die Weiterentwicklung ihres Landes leisten dürfen. Eine bessere Integration der jüngeren Bevölkerung in den staatlichen Machtapparat wird notwendig sein, damit dieser Frust sich nicht gegen das Regime wendet. Die Frage, die sich in den kommenden Jahren stellen wird, ist, wie die Herrscherfamilien sich mit zunehmenden Ansprüchen der eigenen Bevölkerung auseinandersetzen werden, da der sogenannte ungeschriebene „Gesellschaftsvertrag“, in dem die Regierung wirtschaftlichen Wohlstand verspricht und als Gegenleistung die Aberkennung politischer Forderungen gegenüber dem Staat einfordert, sich langsam auflöst. Noch dient der Arabische Frühling mit seinem Chaos und Bürgerkrieg als Abschreckungsbeispiel, das politische Ansprüche seitens der emiratischen Bevölkerung eindämmt. Da wirtschaftlicher Wohlstand und innere Sicherheit inzwischen aber als selbstverständlich gelten, können die Herrscherfamilien sich nicht darauf verlassen, dass der innere Frieden gewahrt bleibt, falls es die wirtschaftliche Entwicklung oder die innere Sicherheit gefährdet werden sollten. Doch die sozioökonomische Lage ist nach wie vor stabil, und auch in der Zukunft wird wirtschaftliches Wachstum erwartet. Die weltweite Wirtschaftsund Finanzkrise hat zwar auch ihre Spuren, insbesondere im Emirat Dubai, hinterlassen, von langfristigeren Auswirkungen kann aber keine Rede sein. Durch die sich ausbreitende Instabilität der politischen Systeme im nahöstlichen Raum, insbesondere in Ägypten, Syrien und im Irak, werden die VAE zudem als Insel der Stabilität wertgeschätzt und bleiben attraktiv für Arbeitskräfte und Kapital aus dem Ausland. Die ehrgeizige Zielsetzung als führende arabische Volkswirtschaft haben die VAE mit ihrer „nationalen Innovationsstrategie“
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unterstrichen. Demnach sollen die Emirate in den nächsten sieben Jahren eines der führenden Länder für Innovation in Bereichen wie erneuerbare Energien, Transport, Bildung, Gesundheit, Technologie, Wasser und Weltraum werden.9 Um das noch höher gesteckte Ziel zu erreichen, auf dem Planeten Mars zu landen, wurde der Baus eines Forschungssatelliten angekündigt.10 Obwohl die emiratische Wirtschaft sich auf breiter Basis geöffnet hat und Diversifizierungsbestrebungen durchaus Erfolge vorweisen können, bleibt die Erdölwirtschaft die Voraussetzung dafür, um die Ziele realisieren zu können. Nur weitere Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl auf dem Weltmarkt werden die Investitionen ermöglichen, die notwendig sind, um wirtschaftliches Wachstum aufrechtzuerhalten. Sie sind auch Voraussetzung dafür, dass die Staatsfonds die Potenz der emiratischen Wirtschaft international demonstrieren können. Der Preisverfall auf dem internationalen Ölmarkt um 20 Prozent im Zeitraum von Juni bis September 2014 hat indes die Gefahren der Abhängigkeit von Erdöl als Motor der Wirtschaft wieder einmal verdeutlicht. Eine damit verbundene Problematik besteht im Hinblick auf den Arbeitsmarkt. Ca. 90 Prozent der Bevölkerung der VAE sind ausländische Arbeitskräfte, eine Zahl, die in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen hat. Da jedoch auch immer mehr junge Emiratis auf den Arbeitsmarkt drängen, muss die Regierung dafür sorgen, dass auch die einheimische Bevölkerung ins Wirtschaftsleben integriert werden kann. Noch bleibt der öffentliche Sektor der wichtigste Arbeitgeber für Emiratis. Doch wegen steigender Staatsausgaben sind diese Praktiken auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten, und eine Einbindung einheimischer Arbeiter in die Privatwirtschaft bleibt unausweichlich. Dieses wird aber die Kooptionsmöglichkeiten des Staates einschränken und somit auch politische Konsequenzen mit sich bringen. Regimestabilität Derzeit ist eine gravierende Veränderung der Regimequalität in den nächsten Jahren aus mehreren Gründen nicht zu erwarten. Erstens sehen sich die Bürger mit öffentlichen Gütern wie (materieller) Sicherheit gut versorgt. Zweitens besteht keine organisierte Opposition, die den Herrschaftsfamilien gefährlich werden könnte. Das Regime geht gegen jede Form des Widerstands hart vor, wie das Beispiel der Muslimbruderschaft verdeutlicht, deren Organisation 2013 aufgelöst und deren Mitglieder zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Zudem hat die Regierung Oppositionelle des Landes verwie9
UAE Launches Plan to Be ‘Among the Most Innovative Nations in the World’ Within 7 years, in: Arabian Business, 19.10.2014, (abgerufen am 20.10.2014). 10 UAE Takes First Steps in Building Mars Probe, in: Gulf News, 16.10.2014, (abgerufen am 20.10.2014)
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Vereinigte Arabische Emirate: Wirtschaftliche Vorreiter
sen und ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen. Unabhängige zivilgesellschaftliche Institutionen, darunter auch die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung, wurden aufgefordert, ihre Aktivitäten einzustellen und das Land zu verlassen. Andere insbesondere einheimische Institutionen oder Ansprüche wurden soweit wie möglich kooptiert. Drittens sind innerhalb des Machtapparats keine destabilisierenden Faktoren vorhanden oder absehbar. Andere Eliten bleiben weitgehend eingebunden, es bestehen keine Abspaltungen im Sicherheitsapparat und auch innerhalb der Herrscherfamilien sind Nachfolgestreitigkeiten infolge einer anstehenden Herrschaftsübergabe zwar möglich, aber nicht zu einem Ausmaß, in dem die Herrschaft zum Sturz gebracht werden könnte. Die VAE gelten damit auch in ihren Außenbeziehungen als stabiler, verlässlicher Partner. Stabile Beziehungen zu Deutschland absehbar Politisch sind für die Bundesrepublik Deutschland die Beziehungen zu den VAE noch so etwas wie Neuland, obwohl diplomatische Beziehungen bereits seit 1972 bestehen. Erst Bundeskanzler Gerhard Schröder stattete den VAE 1999 den ersten offiziellen Besuch ab. Seitdem findet ein regelmäßiger Austausch auf höchster politischer Ebene statt, mit dem Resultat, dass 2004 eine strategische Partnerschaft ausgerufen wurde und seit 2009 regelmäßige Konsultationen der jeweiligen Außenminister stattfinden. Deutschland baut in seinen Beziehungen mit den VAE auf die gemäßigte Außenpolitik des Landes, um so zur Lösung der vielen Probleme im Nahen und Mittleren Osten beizutragen. Da die VAE auch darauf bedacht sind, ihre Kapazitäten in Sachen regionaler Diplomatie oder beim internationalen Krisenmanagement stetig auszubauen, bieten sich den bilateralen Beziehungen mit Deutschland weitere Entwicklungspotenziale. Die bereits bestehende Zusammenarbeit in der Syrien-Politik könnte intensiviert werden. Probleme der Zusammenarbeit könnten sich jedoch aufgrund interner politischer Entwicklungen ergeben. Die Unterdrückung der politischen Meinungsfreiheit sowie zunehmende Menschenrechtsverletzungen haben in den vergangenen Jahren auch den VAE lauter werdende internationale Kritik eingebracht, aber nicht in dem Maße, dass es zu schärferen Sanktionen gekommen wäre. Sollte sich die innenpolitische Lage aber verschärfen, zum Beispiel durch wachsende, öffentlich artikulierte politische Forderungen, könnte die Regierung dazu verleitet werden, mit Repression zu reagieren. Dann müssten sich westliche Verbündete, insbesondere Deutschland, die Frage stellen, inwieweit pragmatische Außenpolitik mit Prinzipien von Demokratie, Menschenrechten und Meinungsfreiheit vereinbar bleibt. Zum jetzigen Zeitpunkt stellt sich diese Frage mit Blick auf die VAE aber noch nicht.
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Vietnam: Kontinuität durch Wandel1 Gerhard Will Nach der japanischen Kapitulation hatte Ho Chi Minh Anfang September 1945 in Hanoi die „Demokratische Republik Vietnam“ ausgerufen und damit ein Herrschaftssystem nach leninistischem Vorbild etabliert, dessen politische Strukturen bis zum heutigen Tage Gültigkeit besitzen. Im Verlauf der vergangenen 70 Jahre hat dieses Regime erstaunliche Fähigkeiten bewiesen, neue Herausforderungen zu bewältigen, sich neuen Rahmenbedingungen anzupassen, ohne grundlegende Positionen aufzugeben. Es setzte sich erfolgreich gegen einen militärisch vielfach überlegenen Gegner, die USA, durch und konnte nach 1975 seinen Herrschaftsbereich auch auf jene Landesteile ausdehnen, die unter der Kontrolle der Regierung in Saigon gestanden hatten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des von ihr geführten Lagers öffnete die Regierung in Hanoi ihr Land dem Weltmarkt, holte ausländische Investitionen in das Land und gewährte der Privatwirtschaft größere Spielräume. Herrschaftslegitimation durch Nationalismus Obgleich immer wieder unterschiedliche Auffassungen über die innen- wie außenpolitische Strategie auszumachen waren, zeichnete sich Vietnams Führungsspitze durch ein hohes Maß an Kohärenz und Stabilität aus. Selbst die Nachfolge des charismatischen Revolutionsführers Ho Chi Minh führte nicht zu solch unerbittlichen Machtkämpfen, wie sie für die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre oder die VR China in den Jahren der Kulturrevolution kennzeichnend waren. Der Zusammenhalt in der Führungsspitze und die Legitimität dieser Führung bei der Bevölkerung gründeten sich weniger auf die Prinzipien des Marxismus-Leninismus als auf die des Kampfes gegen Fremdherrschaft und für nationale Unabhängigkeit. Im Kampf gegen den französischen Kolonialismus hatten Vietnams Kommunisten eine Führungsrolle errungen, die 1
„Die Dinge müssen sich wandeln, um die gleichen zu bleiben.“ Ausspruch des Fürsten Don Fabrizio von Salina in dem von Giuseppe Tomasi de Lampedusa verfassten Roman „Der Leopard“.
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ihnen auch bei jenen Bevölkerungsschichten Anerkennung verschaffte, die der kommunistischen Ideologie ablehnend gegenüberstanden. Diese Anerkennung verstärkte sich in den Auseinandersetzungen mit den USA, die Hanoi trotz ungeheurer Verluste für sich entscheiden konnte. Kaderkapitalismus Die Partei, die ihre militärische Leistungskraft so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, scheiterte jedoch kläglich beim Aufbau eines sozialistischen Wirtschaftssystems. Dennoch führte der Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und deren osteuropäischen Verbündeten nicht zu einem Zusammenbruch dieses Systems in Vietnam. Wie so oft in der Geschichte Vietnams orientierte sich Hanoi an dem chinesischen Vorbild, ohne dies jedoch explizit zu betonen. Der schrittweisen Aufhebung der Kollektivierung auf dem Lande folgte die Ausweitung des privatwirtschaftlichen Sektors in den Städten. Ausländische Direktinvestitionen, Joint Ventures und eine exportorientierte Wirtschaftspolitik führten seit Beginn der 1990er Jahre zu wirtschaftlichen Wachstumsraten, die wenige Jahre zuvor kaum vorstellbar waren. Wer gehoffte hatte, dass diese wirtschaftliche Liberalisierung auch zu einer politischen Liberalisierung und schließlich zu einer Auflösung dieses autokratischen Herrschaftssystems führen würde, wurde jedoch enttäuscht. Die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) hielt unverrückt an ihrem absoluten Machtanspruch und ihrem Führungsmonopol fest, der in Artikel 4 der Verfassung niedergelegt ist. Wie in der Volksrepublik China, so entstand auch in der Sozialistischen Republik Vietnam jenes oft als „Kaderkapitalismus“ bezeichnete System, in dem politische Machtpositionen genutzt werden können, um sich wirtschaftlichen Erfolg bzw. privaten Reichtum zu verschaffen, und in dem man mit Geld all jene Güter und Privilegien (Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Reisen, Ausbildung etc.) erwerben kann, die man in einem klassisch leninistischen System nur durch Loyalität zur Partei erhalten kann. Die Herrschaft der Partei wird von privaten Wirtschaftsakteuren akzeptiert, da sie die Rahmenbedingungen für die Aktivitäten privater Unternehmer gewährleistet, umgekehrt akzeptiert die Partei diese privatwirtschaftlichen Aktivitäten, solange sie nicht das Herrschaftsmonopol der Partei infrage stellen. Da mit diesem Modell etliche Jahre hohes Wirtschaftswachstum erzielt werden konnte, erhöhte sich auch der Lebensstandard der Masse der Bevölkerung, die daher wenig Veranlassung sah, dieses Regime grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr zielt ihre Kritik auf Missstände, die ihren Alltag am stärksten beeinträchtigen – allen voran die Korruption.
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Herausforderungen der autokratischen Herrschaft Wirtschaftliche Macht und Geld in privater Hand, ein Markt, auf dem Güter und Dienstleistungen gegen Geld erworben werden können, und ein intransparentes politisches System, in dem Machtbefugnisse nicht durch ein System wechselseitiger Kontrolle beschränkt oder überprüft werden, bilden in Vietnam wie in vielen anderen Ländern einen fruchtbaren Nährboden für grassierende Korruption. Da in Vietnam das durch Korruption erworbene Geld meist nicht auf ausländische Konten transferiert wird, sondern wieder in den einheimischen Wirtschaftskreislauf fließt, sind – rein ökonomisch betrachtet – die negativen Effekte der Korruption eher gering. Für das politische und gesellschaftliche System stellt sie jedoch eine ungeheure Herausforderung dar. Die Korruption untergräbt die Effizienz und das Ansehen des Partei- und Staatsapparats, wenn dessen Mitglieder den Wünschen ihrer Geldgeber anstatt den Vorgaben ihrer Führung entsprechen. Da in dieses System der Korruption die Führung wie die Masse der Bevölkerung eingebunden sind – auch wenn die entsprechenden Kreise in höchst unterschiedlichem Maße davon profitieren bzw. darunter leiden – haben die zahllosen Kampagnen gegen die Korruption und selbst Schauprozesse gegen führende Kader, die zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind, wenig ausrichten können. Vielmehr hat dieser staatlich inszenierte Kampf gegen die Korruption zu einem noch stärkeren Ansehensverlust der Regierung geführt. Ihre Unfähigkeit, dieses Problems Herr zu werden, hat bei der Bevölkerung die Auffassung bestärkt, dass sie eine wesentliche Ursache dieses Problems ist und daher nicht dessen Lösung sein kann. Während der vergangenen sechs Jahre, in denen die wirtschaftliche Wachstumsrate von 8 auf 5 Prozent sank und die Inflation zeitweise zwischen 20 und 40 Prozent lag, wurde darüber hinaus der Anspruch der Partei erschüttert, Motor und Garant ökonomischer Prosperität zu sein. Gigantische Staatskonzerne wie „Vinashin“, denen eine führende Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes zugedacht war, engagierten sich in Bereichen wie der Immobilienspekulation, die die Taschen seiner Manager füllte, aber das Kerngeschäft des Konzerns, den Schiffbau, in den Ruin trieb. Nur durch sehr kostspielige staatliche Interventionen konnten einige Konzernteile am Überleben gehalten werden. Die enge Verknüpfung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht, meist durch nahe Verwandte hochrangiger Politiker bewerkstelligt, wurde in Zeiten wirtschaftlichen Booms, wenn auch zähneknirschend, in Kauf genommen. In wirtschaftlich schwierigeren Zeiten ruft sie jedoch sehr viel stärkere und lautere Kritik hervor. Die territorialen Konflikte mit der VR China in der Südchinesischen See stellen die Führung in Hanoi vor ein weiteres Dilemma. Die KP Vietnams und die KP Chinas betrachten sich als Bruderparteien. Zwischen beiden Ländern gibt es enge wirtschaftliche Beziehungen und einen intensiven Austausch auf
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politischer wie gesellschaftlicher Ebene. Gleichzeitig bestehen zwischen beiden Ländern unvereinbare Gebietsansprüche in der Südchinesischen See, die immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen, bei denen auch Todesopfer zu beklagen sind. Genauso ambivalent wie gegenüber China verhält sich die vietnamesische Regierung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Manchmal werden diese Proteste und Demonstrationen geduldet, ja sogar als Ausdruck patriotischer Gesinnung begrüßt, um kurze Zeit später wieder untersagt und mit empfindlichen Repressionen belegt zu werden. Dies wiegt umso schwerer, da die KP Vietnams ihren Herrschaftsanspruch stets mit ihrem entschlossenen Einsatz für nationale Unabhängigkeit legitimiert hatte. Kritiker der Regierung haben daher allen Grund, jedes Nachgeben gegenüber den Ansprüchen Pekings als einen Verrat nationaler Interessen zu sehen. Es ist dieser Vorwurf, der die sehr unterschiedlichen oppositionellen Gruppierungen eint; angefangen von Würdenträgern der buddhistischen Gemeinden bis hin zu einigen hohen Kadern des Partei- und Regierungsapparats, die nach ihrem Ausscheiden aus ihren Ämtern mitunter sehr scharf und grundsätzlich die Politik jener Institutionen kritisierten, deren führende Vertreter sie lange Zeit waren. Aktivitäten der Opposition Neben den drei oben genannten Punkten – Korruption, mangelhafte Wirtschaftspolitik und unzureichende Verteidigung nationaler Interessen – fehlen der Opposition aber gemeinsame Themen und eine kohärente Strategie; ganz zu schweigen von einer schlagkräftigen Organisation. Kritik und Widerstand gegen die Regierung machen sich meist an sehr spezifischen Punkten fest. Häufig richten sich Demonstrationen, mitunter auch gewaltsame Ausschreitungen gegen lokale Kader, die vor Ort die Staatsmacht repräsentieren und diese missbrauchen, um sich illegal Land zu verschaffen oder Landraub zu ermöglichen. Die willkürliche Erhebung von Abgaben, die angeblich dem Bau von Straßen, Bewässerungsanlagen oder anderen Infrastrukturmaßnahmen dienen sollen, allzu oft aber in dubiose Kanäle fließen, ist ein nicht minder großes Problem. Zahllose wilde Streiks in Joint Ventures richten sich zwar meist gegen die dortigen Arbeitsbedingungen, offenbaren aber auch ein Unvermögen des Staates, juristische und politische Rahmenbedingungen zu gewährleisten, mit deren Hilfe diese Konflikte gewaltfrei beigelegt werden können. Aktivisten, die weitergehende politische Forderungen nach einem grundlegenden Systemwechsel erheben, können sich zwar vor allem durch das Internet Gehör verschaffen, aber es ist bislang nicht erkennbar, dass sie eine landesweite und breite Kreise der Bevölkerung umfassende Unterstützung mobilisieren oder gar Teile des Staatsapparats und seiner Militär- und Polizeikräfte für sich gewinnen können. Die politische Führung sieht jedoch in diesen Aktivisten eine
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wesentlich gefährlichere Bedrohung. In Prozessen, über die die Medien ausführlich berichten, werden all jene, die öffentlich für eine pluralistische und demokratische Gesellschaft eintreten, ein Mehrparteiensystem und freie Wahlen fordern, mit langjährigen Haftstrafen belegt. Offensichtlich wächst in Zeiten rückläufiger wirtschaftlicher Wachstumsraten und nationaler Herausforderungen in der Südchinesischen See die Nervosität der vietnamesischen Regierung, die sie veranlasst, durch hartes Vorgehen gegen ihre Kritiker Stärke zu demonstrieren. Außenpolitik der Äquidistanz Die von Ho Chi Minh geführten Regierungen zielten stets darauf ab, Vietnam ein weitgefächertes Netz außenpolitischer Beziehungen und damit einen möglichst großen außenpolitischen Handlungsspielraum zu verschaffen. Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts und des chinesisch-sowjetischen Konflikts ist ihnen das nur bedingt gelungen. In den frühen 1960er Jahren hatte sich Hanoi nachdrücklich für eine Beilegung der Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Peking eingesetzt, da es in der Geschlossenheit des sozialistischen Lagers eine unabdingbare Voraussetzung für den Sieg über das Saigoner Regime und die amerikanische Militärmacht sah. Erst als die neue sowjetische Führung sich Mitte der 1960er Jahre bemühte, die Beziehungen zu Hanoi zu intensivieren, um die Präsenz der VR China in Vietnam zurückzudrängen, wurde sich die vietnamesische Führung der Möglichkeiten bewusst, wie man die Rivalität der beiden sozialistischen Großmächte nutzen konnte, um von beiden ein Maximum an Hilfe und gleichzeitig ein Höchstmaß an außenpolitischer Unabhängigkeit zu erlangen. Welche Vorteile Hanoi aus dieser Politik der Äquidistanz zu Peking und Moskau gezogen hatte, wurde nach dem Ende des Krieges klar, als sich die chinesisch-vietnamesischen Beziehungen rapide verschlechterten, sodass das Gegengewicht fehlte, mit dem man bislang eine einseitige Abhängigkeit von der Sowjetunion vermieden hatte. Eher aus Mangel an Alternativen denn aus politischer Überzeugung wurde Hanoi nun ein Teil des sowjetischen Lagers, dem es auch seine Außenpolitik unterzuordnen hatte. Neben Verbündeten, die von Vietnam 10 000 Kilometer entfernt waren, hatte Vietnam nur noch in den Nachbarländern Laos und Kambodscha Regierungen, mit denen es „besondere Beziehungen“ unterhielt. Auf regionaler wie internationaler Ebene war Vietnam jedoch weitgehend isoliert. Der zur Jahreswende 1978/79 erfolgte Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha wurde nicht als Befreiung vom Regime Pol Pots, sondern als der Versuch Vietnams gesehen, das Nachbarland unter seine Kontrolle zu bringen. Doch Pol Pots Truppen konnten sich im thailändisch-kambodschanischen Grenzgebiet neu gruppieren. Mit Unterstützung Chinas und Thailands verstrickten sie die vietnamesischen Truppen während der 1980er Jahre in einen verlustreichen Guerillakrieg.
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Außenpolitische Offensive Erst der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums zwang Hanoi, seine Außenpolitik neu zu strukturieren und sich damit ein internationales Umfeld zu schaffen, das seiner Wirtschafts- und Sicherheitspolitik völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Entscheidende Voraussetzung hierfür war der Abzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha (1989), der den Abschluss eines internationalen Abkommens über die Beilegung des Kambodscha-Konflikts (1991) ermöglichte. Damit war auch ein wesentliches Hindernis beseitigt, das mehr als ein Jahrzehnt einer Normalisierung der Beziehungen zur VR China im Weg gestanden hatte. Im November 1991 reiste Do Muoi, Generalssekretär der vietnamesischen KP, nach Peking, um dies öffentlich zu dokumentieren. Zwischen Peking und Hanoi entwickelte sich erneut ein intensiver Austausch auf wirtschaftlicher wie politischer Ebene bis hin zur Wiederaufnahme der Parteibeziehungen. 2001 unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen über die gemeinsame Landgrenze und die Grenzziehung im Golf von Tongking. Ungelöst blieben jedoch die Auseinandersetzungen um die Inseln im Südchinesischen Meer sowie die gegenseitige Abgrenzung der Exklusiven Wirtschaftszonen in diesem Seegebiet. Durch „besondere Beziehungen“ zu den Nachbarländern Laos und Kambodscha hatte Vietnam in den 1980er Jahren versucht, einen indochinesischen Block zu bilden, der sich als Gegenpol zur ASEAN verstand, zu der sich 1968 die westlich orientierten Länder Südostasiens zusammengeschlossen hatten. Obgleich im Zentrum Südostasiens gelegen, war Vietnam somit von den politischen und ökonomischen Integrationsprozessen seiner Nachbarn in Südostasien abgeschnitten. Dank indonesischer Vermittlung änderte sich dies zu Beginn der 1990er Jahre. 1995 wurde Vietnam Vollmitglied der ASEAN, Laos und Kambodscha folgten wenige Jahre später. Seit 2013 amtiert der vietnamesische Diplomat Le Luong Minh als Generalsekretär der ASEAN. Parallel zur regionalen Integration erfolgte die auf internationaler Ebene. Mit der EU wurden bereits 1990 diplomatische Beziehungen aufgenommen. Fünf Jahre später unterzeichneten Vietnam und die EU ein Kooperationsabkommen, das 2012 durch ein umfassendes „EU-Vietnam Partnership and Cooperation Agreement“ ersetzt wurde. Beide Seiten verpflichteten sich, die wirtschaftlichen Beziehungen zu vertiefen und Vietnam beim „Übergang zu einer offenen Gesellschaft, die auf guter Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und der Respektierung der Menschenrechte basiert, zu unterstützen“. Darüber hinaus bekräftigte man das Interesse an einer „multilateralen und regelbasierten internationalen Ordnung, die sich durch starke Institutionen auszeichnet“.2
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Delegation of the European Union to Vietnam, (abgerufen am 1.11.2014).
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Japanische Unternehmer hatten bereits in den 1980er Jahren immer wieder auf einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen mit Vietnam gedrungen. Sie erhielten hierfür jedoch keine Unterstützung ihrer Regierung, die sich an den Vorgaben Washingtons orientierte, Vietnam allenfalls humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Erst im November 1992 nahm Tokio seine Entwicklungshilfe an Vietnam wieder auf und unterstützte die kommerziellen Aktivitäten japanischer Unternehmen mit staatlichen Fördermaßnahmen. Neben der wirtschaftlichen Komponente, von der sich Vietnam einen entscheidenden Modernisierungsschub verspricht, hat in jüngster Zeit die militärische Zusammenarbeit an Bedeutung gewonnen, die Peking mit wachsendem Misstrauen verfolgt. Schlussstein der außenpolitischen Neuorientierung Hanois war Mitte der 1990er Jahre die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu den USA, die noch wenige Jahre zuvor Vietnam mit einem totalen Wirtschaftsembargo belegt hatten. Im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte sind die USA zu einem der wichtigsten Handelspartner Vietnams geworden. Seit 2010 ist es auch zu ersten Kontakten auf militärischer Ebene gekommen. Eine intensivere militärische Zusammenarbeit, die Waffenlieferungen der USA an Vietnam beinhalten würde, scheiterte aber bislang an der amerikanischen Legislative. Die Mehrheit der Kongressabgeordneten macht eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in Vietnam zu einer unabdingbaren Voraussetzung für eine engere sicherheitspolitische Kooperation. Die Verbesserung der Beziehungen zu den Nachbarstaaten wie zu den Großmächten ebnete den Weg für eine stärkere Einbindung Vietnams in internationale Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und nicht zuletzt den Vereinten Nationen. Die SR Vietnam gehörte diesen Organisationen bereits seit Mitte der 1970er Jahre an, wurde aber – nicht zuletzt auf Druck Washingtons – in diesen Institutionen weitgehend isoliert. Als enger Bündnispartner der Sowjetunion unternahm es auch während der 1980er Jahre wenig Anstrengung, diese Isolation zu überwinden. Als weithin anerkanntes Mitglied der internationalen Gemeinschaft gelang es Vietnam jedoch, auch in diesen Organisationen stärkeres Profil zu entwickeln und deren umfassende Hilfe für die eigene Entwicklung zu erlangen. Mit der Aufnahme Vietnams in die WTO am 11. Januar 2007 war das Land nun auch Mitglied der wichtigsten Institution der Weltwirtschaft geworden. Im Unterschied zu den 1970er und 1980er Jahren, in denen Vietnams außenwirtschaftlichen Beziehungen auf wenige weit entfernte Partner ausgerichtet waren, verfügt das Land heute über ein breit gefächertes Netz außenwirtschaftlicher Beziehungen und ist in regionale wie internationale Märkte gut integriert. Darüber hinaus fließen beträchtliche Summen an Entwicklungshilfe nach Vietnam. Seinen sicherheitspolitischen Interessen sucht Hanoi durch ein nicht minder breit gefächertes Netz sicherheitspolitischer Kontakte höchst unterschiedlicher Intensität gerecht zu werden. Es fehlen aber belastbare sicher-
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heitspolitische Strukturen, die bei der Prävention und Beilegung von Konflikten hilfreich sein könnten. Geteilte Beziehungen: Vietnam und Deutschland Ungeachtet der großen geografischen Entfernung zeichnete sich das deutschvietnamesische Verhältnis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch eine besondere Qualität und Nähe aus. Vietnam wie Deutschland wurden durch den Ost-West-Konflikt in zwei Staaten geteilt, deren Außenpolitik durch diesen Konflikt bestimmt wurde. Wenige Monate nach Gründung der DDR nahmen im Februar 1950 Hanoi und Ostberlin diplomatische Beziehungen auf. In Bonn war man etwas zögerlicher und es bedurfte erheblichen Drucks aus Washington, bis es Anfang der 1960er Jahre zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Saigon kam. Die Bundesrepublik leistete Südvietnam umfangreiche finanzielle Hilfe, es wurden auch einige Entwicklungshilfeprojekte initiiert, aber die Bundesregierung verschloss sich amerikanischen Forderungen nach einer direkten Beteiligung am militärischen Engagement der USA. Ihre Bereitschaft zur humanitären Hilfe bekundete sie durch die Entsendung eines Lazarettschiffs nach Vietnam. Zwischen der DDR und Demokratischen Republik Vietnam entwickelte sich dagegen schon frühzeitig eine breit angelegte Zusammenarbeit, die Hilfslieferungen ebenso umfasste wie die Ausbildung vietnamesischer Studenten und Fachkräfte in der DDR. Nach dem Ende des Krieges, der Vereinigung von Nord- und Südvietnam und der Aufnahme Vietnams in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) vertieften sich die kommerziellen wie politischen Beziehungen. Mehr als 5000 Vietnamesen schlossen in der DDR ein Studium oder eine berufliche Ausbildung ab. Als in der DDR ein immer größerer Bedarf an Arbeitskräften entstand, wurden im Verlauf der 1980er Jahre Zehntausende vietnamesischer Vertragsarbeiter in die DDR geholt. Vietnamesen dürften damit die größte Gruppe ziviler Ausländer gewesen sein, die in der DDR über einen längeren Zeitraum hinweg lebten und arbeiteten. Der Aufenthalt der einzelnen Vertragsarbeiter war allerdings auf fünf Jahre begrenzt und wurde von der vietnamesischen Botschaft wie den Behörden der DDR streng kontrolliert. Die Beziehungen zwischen Bonn und Hanoi gestalteten sich dagegen wesentlich schwieriger. Nach der Unterzeichnung der Pariser Friedensvereinbarungen im Januar 1973 kam es zwar zu ersten Verhandlungen über die gegenseitige diplomatische Anerkennung, die aber erst im September 1975 erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Ab 1976 gab es nun auch eine Botschaft der Bundesrepublik in Hanoi. Bemühungen um eine weitergehende Kooperation blieben jedoch erfolglos.
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Neustart der deutsch-vietnamesischen Beziehungen Der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Wiedervereinigung stellten auch für das deutsch-vietnamesische Verhältnis eine beträchtliche Herausforderung dar. Hanoi hatte einen wichtigen Bündnis- und Wirtschaftspartner verloren. Etwa 60 000 Vietnamesen lebten zu diesem Zeitpunkt als Vertragsarbeiter in Ostdeutschland. Die meisten von ihnen hatten durch die Insolvenz ihrer Betriebe ihren Arbeitsplatz verloren. Die wenigsten von ihnen waren jedoch bereit, in ihre Heimat zurückzukehren, wo sie noch weit schwierigere Lebensund Arbeitsbedingungen erwarteten. Die Frage ihres weiteren Verbleibs in Deutschland oder ihrer Rückkehr nach Vietnam sowie die Regelung der Altschulden Vietnams beeinträchtigten lange Zeit die Bemühungen um eine Neugestaltung des deutsch-vietnamesischen Verhältnisses. Erst im Verlauf dieser Verhandlungen wurde man sich bewusst, welche Chancen sich hier beiden Ländern boten. Für Vietnam war Deutschland ein starker wirtschaftlicher Partner, den man bei der Modernisierung dringend benötigte. Gute politische Beziehungen zu Deutschland waren zudem ein wichtiger Beitrag zur weltweiten außenpolitischen Offensive Vietnams. Für die Exportnation Deutschland war Vietnam ein aufstrebendes Entwicklungsland, das sich von der Planwirtschaft alten Stils verabschiedet hatte und auf eine exportorientierte Wirtschaftspolitik setzte, die dem privaten Wirtschaftssektor und damit auch einem politischen Transformationsprozess neue Perspektiven eröffnete. Beim Ausbau der bilateralen Beziehungen konnte man sich zudem auf eine große Anzahl von Vietnamesen stützen, die deutsch sprachen, in Deutschland gelebt hatten und so eine Brückenfunktion wahrnehmen konnten. Aufgrund dieser positiven Voraussetzungen wuchs der bilaterale Handel sehr schnell. Deutschland wurde zum wichtigsten Handelspartner Vietnams in der EU und Vietnam zu einem „Schwerpunktland“ der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Parallel zu den wirtschaftlichen Beziehungen entstand ein breit gefächertes Angebot politischer Dialoge. Die politischen Stiftungen sind in Hanoi vertreten und führen mit staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Partnern gemeinsame Programme durch. 2008 vereinbarten Berlin und Hanoi einen deutsch-vietnamesischen Rechtsstaatsdialog, in dessen Rahmen pro Jahr an die 60 Seminare, Fachgespräche und Studienreisen stattfinden. Beim Vietnam-Besuch von Bundeskanzlerin Merkel kam es im Oktober 2011 zur Unterzeichnung einer „Hanoier Erklärung“3 über eine „strategische Partnerschaft“, die sich nicht nur auf die Bereiche Wirtschaft, Handel, Investitionen und Entwicklungszusammenarbeit bezog, sondern ausdrücklich auch die Bereiche Justiz und Recht sowie die politische Zusammenarbeit auf 3
Deutsche Botschaft in Hanoi, Deutschland und Vietnam, (abgerufen am 1.11.2014).
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regionaler wie internationaler Ebene mit einbezog. Unter Abschnitt I, Absatz 9 heißt es: „Beide Seiten messen dem Dialog über die Prinzipien des Rechtsstaats und die Verfahren zu seiner Durchsetzung, einschließlich der Durchsetzung der Menschenrechte im Rechtsstaat, hervorragende Bedeutung zu.“ Gerade in dem letztgenannten Bereich haben sich aber kaum Verbesserungen ergeben. So erklärte der Beauftragte für Menschenrechte der Bundesregierung am 27. August 2014. „[…] es zeigt sich leider, dass die Menschenrechtslage in Vietnam sehr problematisch bleibt: Andersdenkende werden weiterhin unterdrückt, eingeschüchtert und weggesperrt.“4 Fazit In den vergangenen drei Jahrzehnten erhöhte sich der Lebensstandard der meisten Vietnamesen – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Gleichzeitig erweiterte sich ihr ökonomischer, sozialer und politischer Handlungsspielraum erheblich. Die Vietnam-Politik Deutschlands hat diese Entwicklung sicherlich begünstigt, ihr Einfluss sollte allerdings nicht überschätzt werden. Leider muss seit einigen Jahren eine Stagnation des ökonomischen wie politischen Reformprozesses konstatiert werden. Der Lebensstandard der Masse der Bevölkerung hat sich kaum mehr verbessert, die Willkür lokaler Kader hat eher zu- als abgenommen, Oppositionelle werden mit langjährigen Haftstrafen bedroht. Damit werden auch die Grenzen der Strategie der Bundesregierung offenbar, durch verstärkte wirtschaftliche Beziehungen und einen intensiven politischen Dialog zur Verbesserung der Menschenrechtssituation und zu einem umfassenden politischen Transformationsprozess beizutragen. Die Bundesregierung sieht sich daher vor die schwierige Alternative gestellt, entweder wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit auf regionaler wie internationaler Ebene Priorität einzuräumen, der sich Forderungen nach rechtsstaatlichen und demokratischen Reformen unterzuordnen haben, oder aber konsequenter für diese Forderungen einzutreten und dafür Beeinträchtigungen der wirtschaftlichen und politischen Kooperation in Kauf zu nehmen.
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So Christoph Strässer, Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, am 27.8.2014, (abgerufen am 1.11.2014).
III.
Umgang „westlicher“ Partner mit autokratischen Staaten
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Frankreichs neuer Pragmatismus Claire Demesmay und Tobias Koepf Frankreich hat sich im Laufe der Jahre den Ruf erarbeitet, eine eher pragmatische Politik gegenüber autokratischen Regimen zu betreiben. Insbesondere in seinen ehemaligen Kolonien in Nord- und Subsahara-Afrika unterstützte Paris Staatschefs, die auf undemokratischem Wege an die Macht gelangt waren und auch in ihrer Amtsführung wenig Rücksicht auf die Belange ihrer Bevölkerungen nahmen. Im Gegenzug versprach Frankreich sich politische Einflussnahme sowie einen bevorzugten Zugang zu den jeweiligen Märkten. Legende sind insbesondere die eng verflochtenen Beziehungen Frankreichs zu den Staaten des französischsprachigen Afrika südlich der Sahara. Das Verhältnis zwischen französischen Spitzenpolitikern und Wirtschaftseliten mit einer illustren Gruppe von afrikanischen Staats- und Regierungschefs war durch starke gegenseitige Einflussnahme, Korruption und Misswirtschaft geprägt. Auch zum marokkanischen Königshof, dem Militär und Geheimdiensten nahestehenden Regime in Algerien sowie dem autoritären tunesischen Präsidenten Ben Ali und seiner Führungsclique pflegte Paris mehr als freundschaftliche Beziehungen. Spätestens seit dem Arabischen Frühling 2011 ist den französischen Entscheidungsträgern bewusst geworden, dass eine offensichtliche Klientelpolitik den Ruf und die Glaubwürdigkeit des Landes dauerhaft schädigt. Als die damalige französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie noch Wochen nach Beginn der Demonstrationen gegen das Regime Ben Ali den tunesischen Sicherheitskräften Unterstützung bei der Eindämmung der Proteste anbot, bewertete nicht nur das Ausland diese Äußerungen als höchst umstritten. Seitdem bemühen sich die Außenpolitiker an der Seine um mehr Transparenz im Umgang mit autokratischen Regimen. Dennoch ist die französische Diplomatie weiterhin durch ein hohes Maß an Pragmatismus geprägt, der allerdings deutlich flexibler gehandhabt wird als früher. Dabei spielen sicherheitspolitische und geostrategische Betrachtungen sowie auch wirtschaftliche Interessen eine zentrale Rolle.
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Frankreichs neuer Pragmatismus
Frankreich zieht die Schrauben an – vorübergehend In den vergangenen Jahren hat Paris die Schrauben gegenüber autokratischen Regimen angezogen – auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in anderen Weltregionen. Besonders deutlich zeigte sich dieser Trendumschwung in Nordafrika im Zuge des Arabischen Frühlings. Die erwähnten Äußerungen Alliot-Maries mit Bezug auf Tunesien markierten einen Wendepunkt in der Politik Frankreichs gegenüber den Staaten des Arabischen Frühlings. Sie wurden inner- und außerhalb Frankreichs scharf kritisiert und kosteten der UMPPolitikerin letztendlich den Job. In der Folge stellte sich Frankreich während der Umwälzungen in Tunesien auf die Seite der Regimegegner. Noch radikaler fiel der außenpolitische Schwenk in Libyen aus. Noch im Dezember 2007 hatte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy den extravaganten libyschen Machthaber Gaddafi pompös in Paris empfangen, nachdem er von ihm – so zumindest der im Raum stehende und derzeit von der französischen Justiz geprüfte Vorwurf – eine 50 Millionen Euro schwere Wahlkampfspende erhalten haben soll. Nicht einmal vier Jahre danach übernahm Frankreich 2011 eine politische und vor allem militärische Führungsrolle bei der Unterstützung des Sturzes Gaddafis. Gegenüber einigen Staatschefs des subsaharischen Afrika verschärfte Paris ebenfalls den Ton, wenn auch zögerlicher als im nördlichen Teil Afrikas. Ex-Präsident Sarkozy versuchte vor allem, mehr Transparenz in die frankoafrikanischen Beziehungen zu bringen. So kündigte er in einer Rede vor dem südafrikanischen Parlament in Kapstadt im Februar 2008 an, die bilateralen Verteidigungsabkommen zwischen Frankreich und einigen afrikanischen Staaten neu verhandeln und vollständig veröffentlichen zu wollen.1 Die in den frühen 1960er Jahren geschlossenen Abkommen sicherten den Regimen der Partnerstaaten in Geheimklauseln französische Unterstützung im Falle eines Umsturzversuchs zu und waren seit jeher heftig umstritten. Sie dienten Paris wiederholt dafür, militärische Interventionen in seinen Klientelstaaten zu legitimieren. Als Illustration für einen Wandel in den oft undurchsichtigen Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika kann auch die sogenannte „Biens mal acquis“ (auf Deutsch „Unrechtmäßig erworbene Güter“)-Affäre gesehen werden. Mehrere französische Menschenrechts- und Antikorruptions-NGOs hatten in den Jahren 2007/08 Anzeige gegen drei afrikanische Staatschefs – den gabunischen Präsidenten Omar Bongo, den Präsidenten von Kongo-Brazzaville, Denis Sassou Nguesso, sowie den Präsidenten von Äquatorialguinea, Teodoro Obiang – und deren Familien erstattet. Sie beschuldigten die PräsidentenClans, Teile ihrer illegal erwirtschafteten Milliardenvermögen auf französischen 1
Vgl. Sarkozy kündigt neue Afrika-Militärpolitik an, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.2.2008, (abgerufen am 23.9.2014).
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Bankkonten deponiert beziehungsweise in Immobilien und Luxusgüter in Frankreich investiert zu haben. Im Jahre 2012 führte der daraufhin eingeleitete Prozess zur Beschlagnahmung zahlreicher Luxusgüter aus dem Besitz Teodorin Obiangs, Sohn des Präsidenten Äquatorialguineas.2 Dass die französische Justiz überhaupt den Anschuldigungen der französischen NGOs nachging, hing eng mit den neuen politischen Rahmenbedingungen zusammen. Politische Manöver haben in der Vergangenheit meist schon im Vorfeld dazu geführt, dass ähnliche Anschuldigungen aus dem Weg geräumt wurden. In anderen Weltregionen versuchten französische Regierungen ebenfalls, mehr Distanz zu undemokratischen Regierungen zu wahren. Vor allem im Umgang mit den „Schurkenstaaten“ Iran und Syrien folgt Paris zunehmend der von den USA angeführten Linie der internationalen Staatengemeinschaft. Gegenüber dem Iran schloss sich Paris den seit Ende 2006 bestehenden und seitdem stetig verschärften internationalen Sanktionen im Zusammenhang mit dem iranischen Atomprogramm an. Dies geschah sehr zum Unmut der französischen Wirtschaft, für die der Iran einen wichtigen Absatzmarkt darstellte.3 Rapide verschlechterten sich auch die Beziehungen Frankreichs zu Syrien, die vor allem nach dem Amtsantritt Bashar al-Assads 1999 zunächst noch relativ eng gewesen waren. Zwar versuchte Sarkozy 2007 kurzzeitig, die nach dem Syrien zugeschriebenen Mord am libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Februar 2005 abgebrochenen franko-syrischen Beziehungen wiederzubeleben, um eine Lösung für die Führungskrise im Libanon zu finden. Spätestens seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 herrschte jedoch Funkstille zwischen Paris und dem Regime in Damaskus.4 Als sich im Sommer 2013 die Hinweise auf Giftgasangriffe des syrischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung verdichteten, gehörte die französische Regierung sogar zu den größten Befürwortern einer militärischen Intervention. Ein Rückzieher der USA beziehungsweise das Einlenken Russlands zu einem Plan zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen verhinderten diese letztlich.5 Wie sein Vorgänger Sarkozy sucht auch Präsident François Hollande im Umgang mit autokratischen Staaten den richtigen Ton – was ihn immer wieder dazu bringt, einen Balanceakt zwischen Transparenz und pragmatischem Handeln zu vollführen. Einerseits soll der Eindruck vermieden werden, 2 3 4 5
Vgl. Transparency International, L’affaire des biens mal acquis, (abgerufen am 23.9.2014). Vgl. Ce que les sanctions contre l’Iran coûtent à la France, in: Le Monde, 17.6.2013, (abgerufen am 23.9.2014). Vgl. Trente ans de relations complexes entre les présidents syriens et français, in: Le Monde, 29.4.2011, (abgerufen am 23.9.2014). Vgl. L’été où la France a presque fait la guerre en Syrie, in: Le Monde, 13.2.2014, (abgerufen am 23.9.2014).
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Frankreich drücke bei undemokratischen Staatschefs gern ein Auge zu, wenn seine Interessen auf dem Spiel stehen. Andererseits darf die Abkehr von der alten Klientelpolitik die Handlungsfähigkeit des Landes nicht zu sehr einschränken. Nicht zuletzt die Wahrnehmung externer Gefahren und der Wille, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, führen zu einer pragmatischen Außenpolitik, die an jeden einzelnen Fall angepasst wird. Neues Sicherheitsprimat in der südlichen Nachbarschaft Der Aufstieg terroristischer Gruppierungen in verschiedenen Weltregionen seit Beginn des 21. Jahrhunderts hatte auch auf die französische Politik starken Einfluss. Er führte dazu, dass Paris vis-à-vis denjenigen Staaten, in denen terroristische Gruppierungen an Einfluss gewonnen haben, eine stabilitätsorientierte Politik verfolgt. Dies lässt sich sowohl dort beobachten, wo Frankreich selbst militärisch im Kampf gegen den Terrorismus aktiv ist als auch in Ländern, wo Paris durch Trainings- und Beratungsmaßnahmen oder den Austausch von Geheimdienstinformationen die lokalen Sicherheitskräfte im Kampf gegen den Terrorismus unterstützt. Beides ist ohne eine enge Zusammenarbeit mit den lokalen Regimen schwierig und führt meist dazu, dass Paris in Menschenrechtsfragen ein Auge zudrückt, um seine Sicherheitsinteressen in den jeweiligen Ländern nicht zu gefährden. Seit ca. 2007 hat der Kampf gegen den internationalen Terrorismus auch das französische Engagement in Teilen Nord- und Subsahara-Afrikas stark verändert. Bis dahin war Algerien das einzige Land auf dem afrikanischen Kontinent, das aus französischer Perspektive mit der Terrorismusgefahr in Verbindung gebracht wurde. In den 1990er Jahren hatte die algerische Terrorgruppe Groupe islamique armé (GIA) wiederholt Frankreich ins Visier genommen, unter anderem durch die spektakuläre Entführung eines Air-France-Fluges von Algier nach Paris im Dezember 1994 sowie den Anschlag auf einen Pariser Vorortzug mit mehreren Toten und zahlreichen Verletzten im Jahre 1995. Auslöser für die Terrorakte war, dass die GIA Frankreich der Komplizenschaft mit dem algerischen Regime bezichtigte, mit dem sie in einen blutigen Kampf verstrickt war. Die Ausbreitung des Terrorismus von Algerien gen Süden (vor allem in der Sahel-Region), das Erstarken der nigerianischen Terrorgruppe Boko Haram, die Aktivitäten der Al-Shabaab-Milizen in mehreren Staaten Ostafrikas, aber auch die Bildung neuer Terrorgruppen in Nordafrika nach Beginn des Arabischen Frühlings haben den Terrorismus zum Hauptfokus der franko-afrikanischen Beziehungen gemacht. Insbesondere in der Sahel-Region hat Frankreich sich in den vergangenen Jahren stark im Kampf gegen den Terrorismus engagiert. Dort waren französische Interessen durch die Entführung mehrerer französischer Staatsbürger, Angriffe auf französische Institutionen und die Präsenz von französischen Dschihadisten am unmittelbarsten bedroht. Neben direkten Militäraktionen
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Frankreichs wie insbesondere der Operation Serval in Mali (Januar 2013 bis Juli 2014) zur Vertreibung dreier Terrorgruppen aus dem Norden Malis spielt die Ausbildung afrikanischer Sicherheitskräfte eine zentrale Rolle in der französischen Antiterrorismus-Strategie. So baute Frankreich nicht nur seine bilateralen Militärhilfe-Aktivitäten aus, sondern war auch wesentlich an der Initiierung mehrerer unter dem Dach der EU durchgeführter Trainingsmissionen für Militär und Polizei in Mali (EUTM Mali, EUCAP Sahel Mali) und Niger (EUCAP Sahel Niger) beteiligt. Die Regierungen in Mali und Niger sind trotz jüngster Fortschritte nicht gerade für ihren demokratischen Führungsstil bekannt. Der neue malische Präsident Ibrahim Boubacar Keita startete Mitte 2013 zwar mit allerhand Vorschusslorbeeren, konnte grundsätzliche Probleme wie die grassierende Korruption im Lande und den Konflikt mit den Tuareg-Rebellen in Nordmali aber auch noch nicht in den Griff bekommen. Als alter und neuer Verbündeter Frankreichs im Kampf gegen den Terrorismus in der Sahel-Region geriert sich auch der tschadische Präsident Idriss Déby. Seit Anfang August 2014 beherbergt N’Djaména, die Hauptstadt des Tschad, die Zentrale einer neuen, regionumspannenden Antiterror-Operation Frankreichs (Operation Barkhane). Déby regiert sein Land seit 1991 mit harter Hand, war in den blutigen Konflikten in den Nachbarstaaten Sudan und der Zentralafrikanischen Republik involviert und ist bekannt dafür, dass er mit oppositionellen Stimmen wenig zimperlich umgeht.6 Auch in Somalia hat sich Paris direkt an der Ausbildung von Sicherheitskräften zur Bekämpfung der Al-Shabaab-Milizen beteiligt, insbesondere mit einem Kontingent französischer Ausbilder im Rahmen der EU-Trainingsmission EUTM Somalia. Im Mai 2014 richtete die französische Regierung in Paris ein Gipfeltreffen aus, das die Regierungen Nigerias und der Nachbarstaaten Nigerias zusammenbrachte, um ein gemeinsames Vorgehen gegen Boko Haram zu beschließen. Auch diese Initiative wurde von Menschenrechtsaktivisten kritisiert, denn der nigerianischen Regierung wird vorgeworfen, zu wenig gegen Boko Haram getan zu haben und, wenn das Regime in Abuja sich dann doch zu einem Handeln entschied, viel zu brutal gegen vermeintliche Islamisten vorgegangen zu sein.7 In Nordafrika ist Paris nicht mit eigenen Truppen im Kampf gegen den Terrorismus aktiv. Allerdings wird spekuliert, dass französische Spezialkräfte bereits im Süden Libyens im Einsatz waren, der sich zum Rückzugsraum für mehrere in der Region aktive Terrorgruppen entwickelt hat. In Tunesien hat Paris 6
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Vgl. Amnesty International, In the Name of Security? Arrests, Detentions and Restrictions on Freedom of Expression in Chad, London 2013, (abgerufen am 23.9.2014). Vgl. Kampf gegen Boko Haram: Amnesty prangert Hinrichtungen durch Nigerias Armee an, in: Spiegel Online, 5.8.2014, (abgerufen am 23.9.2014).
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seine Unterstützungsaktivitäten für die Sicherheitskräfte wieder aufgenommen, die sich seit 2013 insbesondere an der Grenze zu Algerien mit mehreren terroristischen Gruppen konfrontiert sehen. Dies geschah, obwohl auch der neuen tunesischen Regierung bereits wieder vorgeworfen wird, den Kampf gegen den Terrorismus als Vorwand bei der Bekämpfung unbequemer oppositioneller Bewegungen zu missbrauchen.8 Die neuen Hoffnungen der Wirtschaftsdiplomatie Neben sicherheitsrelevanten und geostrategischen Betrachtungen haben aber auch wirtschaftliche Interessen einen Einfluss auf den Umgang Frankreichs mit autokratischen Staaten. Insbesondere in Zeiten der Budgetkürzungen und der Massenarbeitslosigkeit erhofft sich die Regierung viel von den Exportleistungen der französischen Unternehmen und hat sich daher zum Ziel gesetzt, diese durch außenpolitisches Handeln zu unterstützen. In diesem Punkt könnte Außenminister Laurent Fabius keine klarere Sprache sprechen. Seit seinem Amtsantritt im Zuge der Präsidentschaftswahl 2012 setzt er sich für die Entwicklung einer „diplomatie économique“ (Wirtschaftsdiplomatie) ein, mit dem deutlichen Ziel, „das diplomatische Netzwerk Frankreichs, seinen Einfluss und seine Instrumente im Dienste der französischen wirtschaftlichen Interessen zu mobilisieren“.9 Zu diesem Zweck wurde nicht nur das Außenministerium in „Ministère des Affaires étrangères et du Développement international“ umbenannt, auch seine Strukturen wurden angepasst: In einer neu gegründeten Abteilung für Unternehmen sollen neun „Sherpas“ aus Politik und Verwaltung die wirtschaftlichen Beziehungen Frankreichs mit besonders wichtigen Partnern stärken. So ist beispielsweise die Sozialistin Martine Aubry für China zuständig, der ehemalige konservative Premierminister Jean-Pierre Raffarin für Algerien, der ehemalige Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement für Russland und der Diplomat Pierre Sellal für die Vereinigten Arabischen Emirate. Außerdem ist das strategische Staatssekretariat für Außenhandel seit der Regierungsumbildung im Frühling 2014 dem Außenministerium angeschlossen und nicht mehr Teil des Wirtschaftsministeriums. Es soll nicht nur die französische Exportwirtschaft gezielt fördern, sondern auch die touristische Attraktivität Frankreichs10 ausbauen. Seitdem das Außenministerium explizit auf Wirtschaftsdiplomatie setzt, hat es mehrere Gelegenheiten gegeben, diesen neuen Schwerpunkt in die Praxis um8
Vgl. Human Rights Watch, An Analysis of Tunisia’s Draft Counterterrorism Law, New York, 7.7.2014, (abgerufen am 23.9.2014). 9 Gespräch mit Außenminister Laurent Fabius, in: La Revue Parlementaire, 1.1.2014. 10 In der Diskussion wird oft erwähnt, dass Frankreich zwar das meistbesuchte Land der Welt ist, aber in Bezug auf Einnahmen aus dem Tourismus erst an dritter Stelle kommt, vgl. Interview mit Matthias Fekl, Es fehlt den Exporten an Dynamik, IP-Länderporträt Frankreich, Nov. 2014–Feb. 2015, S. 22-25.
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zusetzen – auch gegenüber Staaten, die keine Demokratien sind. Der Umgang mit Saudi-Arabien, mit dem die französische Regierung in den vergangenen zwei Jahren eine Annäherung initiierte, ist hierfür ein Paradebeispiel. In Paris erhofft man sich von dieser Partnerschaft nicht nur Vorteile in der Außenpolitik, wie die Unterstützung im Kampf gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) und Vermittlung in der Iran-Frage. Sie soll auch helfen, milliardenschwere Verträge abzuschließen, unter anderem in Bezug auf Infrastrukturprojekte und Exportkredite. So sprach man während des Frankreich-Besuchs des Kronprinzen Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud im September 2014 über SaudiArabiens Finanzierung französischer Rüstungsgüter für die libanesische Armee. Aus französischer Sicht steht so viel auf dem Spiel, dass der Außenminister selbst für die Betreuung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Königreich zuständig ist. Vor allem aber China ist wegen des Potenzials seines Absatzmarkts prioritär für die Wirtschaftsdiplomatie Frankreichs geworden. Paris hofft einerseits, das enorme Ungleichgewicht in der franko-chinesischen Handelsbilanz reduzieren zu können – woraus sich heutzutage zwei Fünftel des französischen Außenhandelsdefizits ergeben –, andererseits auf mehr Investitionen aus China. In diesem Kontext sind diplomatische Missklänge eher rar, was die französische Regierung mit einem gewissen Unbehagen zugibt: Auf die Anfrage eines Abgeordneten im Vorfeld des China-Besuchs von François Hollande im April 2014 antwortete Laurent Fabius, dass der Präsident Frankreichs die Menschenrechte „sicherlich erwähnen“ werde, dies jedoch „im Bestreben nach Effizienz und ohne jegliche Provokation“.11 Kritik an dieser Haltung üben auf politischer Ebene insbesondere die Grünen sowie in der Zivilgesellschaft Menschenrechtsorganisationen. Doch bislang hielten sich die Kontroversen in der Öffentlichkeit in Grenzen. Zuletzt sorgte vor allem das im Frühling 2014 während Hollandes Besuch in China lancierte Vorhaben für Empörung, chinesische Polizisten nach Paris kommen zu lassen, damit sie ihren französischen Kollegen helfen, die Sicherheit der chinesischen Touristen zu gewährleisten. Vertreter des konservativen Lagers bezeichneten diese Initiative als „Armutszeugnis“12 für die französische Polizei. Die Grünen wiesen auf Fragen der Menschenrechte hin: „Ich finde diese Zusammenarbeit zugleich extravagant und schockierend. Wenn man die Brutalität, die Gewalt der chinesischen Polizei kennt [...]“.13 Auch der Direktor von Human Rights Watch und die Präsidentin des Vereins „Solidarité Chine“ zeigten sich äußerst besorgt darüber, dass eine 11 Vgl. Sitzung der Assemblée Nationale vom 23.4.2013. 12 Vgl. Des policiers chinois à Paris? Pas si sûr..., in: Nouvel Observateur, 4.6.2014, (abgerufen am 23.9.2014). 13 Vgl. Les députés français divisés sur la venue de policiers chinois à Paris, in: Radio France Internationale, 15.5.2014, (abgerufen am 23.9.2014).
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solche Initiative die Überwachung chinesischer Dissidenten in Frankreich erleichtern würde. Inzwischen wurde das Projekt aufgegeben. Wenn wichtige Handelsverträge auf dem Spiel stehen, herrscht in der Regel kein großer Dissens zwischen den politischen Parteien. Das zeigten zuletzt die Diskussionen um den Verkauf eines Mistral-Hubschrauberträgers an Russland. Während Washington und London vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise den Partner an der Seine dazu aufriefen, die Lieferung zu stoppen, rückten französische Politiker aus unterschiedlichen Lagern zusammen und unterstützten Hollandes Argumentation: „Der Vertrag wurde 2011 abgeschlossen, das Schiff ist beinahe fertig und muss im Oktober geliefert werden […] Die Russen haben bereits bezahlt, so dass wir 1,1 Milliarden Euro zurückzahlen müssten.“14 Diese Haltung lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass Eingriffe ausländischer Partner in die nationale Politik in Frankreich traditionell abgelehnt werden. Vor allem waren dabei aber finanzielle Argumente ausschlaggebend. Die Aussicht, die Arbeitsplätze von Tausenden Werftarbeitern im Atlantik-Hafen Saint-Nazaire zu sichern, hat in der Debatte eine zentrale Rolle gespielt. Genauso wie immer wieder die Gefahr betont worden ist, die einseitige Vertragsauflösung könnte das Ansehen Frankreichs als zuverlässiger Handelspartner schädigen – und somit zukünftige Verträge mit Russland, wo französische Großunternehmen wie Renault, Vinci und Total sehr präsent sind, und anderen Staaten gefährden. Eben diese Argumente haben sowohl die radikale Linkspartei „Front de gauche“ als auch der „Front national“ nach der vorläufigen Suspendierung des Vertrags im September 2014 vorgebracht. In den Monaten zuvor waren die Kritiker der Mistral-Lieferung vor allem in der Zivilgesellschaft unter Intellektuellen15 zu finden gewesen. Dilemma eines flexiblen Ansatzes in der Außenpolitik Um den schwierigen Spagat zwischen einem härteren Umgang mit autokratischen Regimen einerseits und der Wahrung seiner sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen andererseits zu schaffen, verfolgt Paris einen neuen Pragmatismus. Dieser ist weniger durch eine Orientierung an abstrakten Werten und Prinzipien gekennzeichnet (wie dies etwa in Deutschland eher der Fall ist), sondern durch ein dem jeweiligen Land sowie der aktuellen französischen Interessenlage angepasstes Handeln. Dies erlaubt es Paris, einige Regime für seine Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren, während es gegenüber anderen autokratischen Staaten, die wichtigere Partner darstellen, einen deutlich moderateren Ton anschlägt. Was dieser neuen pragmatischen Politik zugrunde liegt, 14 Vgl. François Hollande, Erklärung während eines Treffens der Association de la presse présidentielle, Paris, 21.7.2014. 15 So Françoise Thom von der Sorbonne (in: Le Monde [LM], 3.9.2014), François Heisbourg von der „Fondation pour la recherche stratégique“ (in: LM, 24.7.2014) oder der Philosoph André Glucksmann bereits bei der Vertragsunterzeichnung (in: LM, 26.11.2009).
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ist die Sorge, sich zu sehr in einem normativen Muster einsperren zu lassen und dadurch den notwendigen Spielraum für außenpolitisches Handeln zu reduzieren. Grundsätzlich gilt in der französischen Außenpolitik (wie übrigens auch in der französischen Wirtschaftspolitik) der Primat der Politik: Regeln müssen mit einer gewissen Flexibilität interpretiert werden, um den Entscheidungsträgern zu erlauben, ihre Prioritäten an immer wechselnde Rahmenbedingungen, also an die Entwicklung der Lage in den Partnerländern und die jeweiligen nationalen Interessen Frankreichs, anzupassen. Ermessen wird in Paris als zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Diplomatie gesehen, um sich die Hände nicht binden zu lassen. Dies erklärt zum Beispiel auch das traditionelle Misstrauen der französischen Verantwortlichen gegenüber dem – von Deutschland bevorzugten – Konditionalitätsprinzip in der EU-Nachbarschaftspolitik. Diese Politik ermöglicht Entscheidungsspielräume gegenüber Autokratien und bietet innenpolitisch weniger Angriffsfläche. Eine pragmatische Politik ohne normative Versprechungen kann auch nicht an diesen gemessen werden. Falls doch einmal öffentlicher Gegenwind drohen könnte, setzt die Regierung verstärkt auf Diskretion. Dies erlaubt es den Verantwortlichen in Paris, die Beziehungen zum jeweiligen Partnerstaat zu pflegen, ohne die Öffentlichkeit gegen sich aufzubringen. So verlieh Frankreich zum Beispiel im Mai 2013 dem chinesischen Botschafter Kong Quan die Ehrenlegion, ohne dies auf der Website des ElyséePalasts zu veröffentlichen. Dies verhinderte eine innenpolitische Diskussion um die Auszeichnung, die in China dagegen offiziell verkündet und als Zeichen der engen chinesisch-französischen Beziehungen gewürdigt wurde.16 Von einigen seiner internationalen Partner und Verbündeten, darunter auch Deutschland, muss Frankreich sich für seinen neuen Pragmatismus, der sich auch als Opportunismus interpretieren lässt, oft Kritik anhören. Dies wurde jüngst rund um den Mistral-Deal mit Russland deutlich. Insbesondere die USA stellten im Kontext der Ukraine-Krise die Zuverlässigkeit Frankreichs bei der Suche nach Lösungen für die Krise offen in Frage. Allerdings wird auch in anderen, eher wertorientiert handelnden Staaten der Ruf lauter, im Umgang mit autokratischen Regimen einen flexibleren Ansatz zu wählen, unter anderem auch, um sich nicht immer wieder der Kritik der Anwendung von „Doppelstandards“ ausgesetzt zu sehen, falls aus realpolitischen Erwägungen später doch gegen bestimmte Normen verstoßen wird. Letztendlich können aber erst die kommenden Jahre zeigen, ob die Partner Frankreichs auf den „französischen Weg“ des außenpolitischen Pragmatismus einschwenken werden, oder ob Paris sich doch dem internationalen Druck beugen und einen stärker prinzipiengeleiteten Kurs einschlagen muss.
16 L’ambassadeur chinois décoré en secret, in: Le Figaro, 23.5.2013, (abgerufen am 23.9.2014).
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Großbritannien als Hüter der westlichen Ordnung Bastian Giegerich1 Als vormalige Weltmacht, die das internationale System maßgeblich geprägt hat, und heute eine der führenden Industrienationen ist Großbritannien von jeher Fragen der globalen Ordnung und Stabilität zugewandt. Das pragmatische Abwägen britischer Außenpolitiker zwischen Werten und Sicherheitsoder Wirtschaftsinteressen soll letztlich dazu dienen, dass sich trotz kurzfristiger wirtschaftlicher Erfolge von Autokratien langfristig doch das westliche Wirtschaftsmodell und seine demokratischen Grundlagen durchsetzen. Selbstverständnis britischer Außenpolitik Dieses außenpolitische Rollenverständnis vereint liberale und pragmatische Elemente. Folgt man der in der internationalen Politikwissenschaft weit verbreiteten Ansicht, dass der radikale Islamismus und der Aufstieg nichtdemokratischer Großmächte – oder autokratischer Großmächte kapitalistischer Prägung – die gegenwärtig wichtigsten und grundlegendsten Herausforderungen für eine liberale demokratische Weltordnung darstellen,2 dann ist Großbritannien schon allein wegen seines Selbstverständnisses als Ordnungsmacht gefordert. Dieser Systemwettbewerb wird von führenden britischen Politikern auch nicht geleugnet, sondern mit der Überzeugung ausgefochten, dass der Demokratieexport langfristig erfolgreich sein kann. Trotz des unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolgs einiger autokratischer Staaten – der als Herausforderung anerkannt wird, da er das westliche Narrativ des Erfolgsmodells bestehend aus
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Der Autor gibt in diesem Artikel seine persönliche Meinung wieder. So zum Beispiel Azar Gat, The Return of Authoritarian Great Powers, in: Foreign Affairs, Juli/August 2007 (Online-Version). Zur Debatte, ob sich autoritäre Staaten auf dem Vormarsch befinden oder nicht, siehe: Larry Diamond, The Democratic Rollback: The Resurgence of the Predatory State, in: Foreign Affairs, März/April 2008 (Online-Version); Wolfgang Merkel, Das Ende der Euphorie: Die Zahl der Autokratien bleibt konstant, in: Internationale Politik, Mai/Juni 2010, S. 18-25.
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Demokratie und Marktwirtschaft unterminiert3 – sehen Entscheidungsträger in London Demokratien langfristig als überlegen an und leiten daraus ab, dass die Unterstützung demokratischer Reformen in anderen Ländern ein britisches Kerninteresse beschreibt. Der ehemalige Staatssekretär im britischen Außenund im Innenministerium Jeremy Browne fasste zusammen: „Demokratie zu unterstützen ist in unserem [...] aufgeklärten nationalen Interesse. Es gibt eine Korrelation zwischen Gesellschaften, die sicher und wohlhabend sind und denen, die sich einer partizipativen Demokratie erfreuen.“4 Demokratie dient in diesem Zusammenhang gelegentlich als Sammelbegriff für Wahlen, eine unabhängige Justiz, die Herrschaft des Rechts, individuelle Freiheitsrechte, Medienfreiheit, die demokratische Kontrolle von Streitkräften, eine politische Parteienlandschaft und aktive Zivilgesellschaft. Denn, so der britische Regierungschef David Cameron, aus allen diesen Aspekten entstehe „der goldene Faden, der sich im Gewebe erfolgreicher Staaten und nachhaltiger Volkswirtschaften in der ganzen Welt“5 finde. Britische Außenpolitik wird denn auch von Konstanten getragen, die der damalige Außenminister William Hague in einem Gespräch mit dem damaligen Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, als Unterstützung für „Menschenrechte, demokratische Werte, Freihandel“ kennzeichnete.6 In dieser Hinsicht ist der parteiübergreifende Konsensus stark. Zwar konnten Studien zeigen, dass die Labour-Partei in der Vergangenheit häufiger mit Menschenrechten verbundene außenpolitische Initiativen vorangetrieben hat als die Tories. Letztgenannte tragen diese Initiativen dann aber mit, auch nach einem Regierungswechsel.7 Die britische nationale Sicherheitsstrategie von 2010 verkündet bereits in ihrem Vorwort die Leitlinie: „Unser nationales Interesse verlangt von uns, für die Werte einzustehen, an die unser Land glaubt – die Herrschaft des Rechts, Demokratie, Meinungsfreiheit, Toleranz und Menschenrechte.“8 Dass sich Großbritannien in der außen- und sicherheitspolitischen Verknüpfung von Werten und Interessen als für andere Nationen beispielgebend sieht, schwingt hierbei mit. 3 4 5 6 7
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Siehe zum Beispiel den Namensartikel des britischen Premierministers über britische Werte: David Cameron, British Values, in: Mail on Sunday, 15.6.2014, (abgerufen am 10.8.2014). Foreign and Commonwealth Office, Jeremy Browne Speaks on Government’s Approach to Supporting Democracy around the World, 13.12.2010, (abgerufen am 10.8.2014). Cabinet Office, PM’s Speech about Indonesia’s Transformation at Al Azhar University, 12.4.2012, (abgerufen am 10.8.2014). Foreign and Commonwealth Office, Britain Must Temper Idealism with Pragmatism, 17.6.2011, (abgerufen am 10.8.2014); alle Übersetzungen stammen vom Verfasser. Sally Morphet, British Foreign Policy and Human Rights: From Low to High Politics, in: David P. Forsythe (Hrsg.), Human Rights and Comparative Foreign Policy: Foundations of Peace, United Nations University, Tokio (Online-Version), (abgerufen am 10.8.2014). HM Government, A Strong Britain in an Age of Uncertainty: The National Security Strategy, Cm 7953, London, Oktober 2010, S. 4.
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Großbritannien als Hüter der westlichen Ordnung
Die Tatsache, dass wechselseitige politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen Demokratien und Autokratien mittlerweile nahezu alle wesentlichen außenpolitischen Handlungsfelder prägen, muss dabei kein Hindernis sein. Außenpolitiker des Vereinigten Königreichs bemühen zwar regelmäßig Vokabeln, die für kontinentaleuropäische Ohren ein ungewohntes Maß an Pathos und moralischer Autorität enthalten, sind aber in der Regel nicht moralisierend. Großbritanniens Außenpolitiker handeln pragmatisch, wenn ihre ethischen Prinzipien an die Grenzen der Realität stoßen. Anspruch versus Wirklichkeit Trotz der wirtschaftlichen Rückschläge der vergangenen Jahre, in denen Großbritannien von der 2007/08 einsetzenden internationalen Wirtschaftsund Finanzkrise stärker als etwa Deutschland getroffen wurde, und der 2010 beschlossenen Verkleinerung der britischen Streitkräfte, verfügt das ständige Mitglied des UN-Sicherheitsrats Großbritannien über eine beträchtliche materielle Machtbasis. Der Wille, diese auch auf der globalen Bühne einzusetzen, speist sich aber ebenso aus ideellen Überlegungen und dem Selbstbild einer intellektuellen Führungsmacht, die sich gut mit dem englischen Begriff des „thought leader“ fassen lässt. Jamie Gaskarth, Deputy Director der Plymouth School of Government, hebt dementsprechend hervor: „Britanniens Status und Rollen in der internationalen Gemeinschaft basieren nicht nur auf materiellen Faktoren, sondern auch darauf, dass das Vereinigte Königreich ein konstruktives und aktives Mitglied der internationalen Gemeinschaft ist.“9 Doch der Anspruch, dass Großbritannien einen signifikanten Einfluss auf das Weltgeschehen haben müsse, stößt sich immer deutlicher an den eigenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, aber auch am rasanten Aufstieg anderer Mächte. Ein prägendes Narrativ der britischen Außenpolitik findet sich daher im Spannungsverhältnis zwischen Exzeptionalismus, der vorbildlichen Sonderrolle Großbritanniens, und dem wahrgenommenen eigenen Bedeutungsverlust. Es möglichst sinnvoll aufzulösen, ist eine der außenpolitischen Aufgaben der britischen Regierung. Sinnbilder, die zu diesem Zweck geprägt wurden, reichen von den konzentrischen Kreisen Winston Churchills über die transatlantische Brücke Tony Blairs bis hin zum stärker kommerziellen Bild Großbritanniens als zentralem Knotenpunkt in einer vernetzten Welt, mit Blick für die Rechte des Einzelnen und offener Gesellschaften.10 Der zumindest in Teilen hervortretende Widerspruch zwischen Handlungsanspruch und zur Verfügung stehenden Ressourcen hat in der Sicherheitsstrategie 2010 zu folgender Formulierung 9 Jamie Gaskarth, British Foreign Policy, Polity Press, Cambridge, 2013, S. 89. 10 Diese Entwicklung wird nachgezeichnet bei: Michael Harvey, Perspectives on the UK’s Place in the World, Dezember 2011, Europe Programme Paper 2011/01, Chatham House, London, S. 7-11.
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geführt: „Großbritanniens nationales Interesse verlangt von uns, dass wir jeden Gedanken an das Schrumpfen unseres Einflusses zurückweisen.“11 Diese selbstbewusste Formulierung hat die Stimmen, die an die Grenzen britischer Außenpolitik erinnern, allerdings nicht verstummen lassen.12 Die Liebe zum Pragmatismus Dabei kommt ein zweites Prinzip britischer Außenpolitik zum Tragen, nämlich die „Liebe zum Pragmatismus [...] als hoch geschätztes Element britischer Diplomatie“.13 Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Ausprägung, mit der die liberalen Konstanten britischer Außenpolitik in der Praxis aufscheinen, variiert. Faktoren wie die Beschaffenheit des internationalen Systems (Blockkonfrontation vs. Multipolarität), historische Bindungen zu ehemaligen Kolonien oder wirtschaftliche Interessen prägen unter Umständen wesentlich stärker als die Ausrichtung auf liberale und demokratische Werte. David Aworawo hat vier Jahrzehnte britischer Außenpolitik gegenüber Nigeria untersucht, das 1960 die Unabhängigkeit erreichte. In diesem Untersuchungszeitraum wurde Nigeria unter anderem von mehreren Militärregierungen mit unterschiedlich starken autokratischen und repressiven Zügen regiert. Aworawo kommt zu den Schluss, dass die Qualität und Intensität der außenpolitischen Beziehungen zwischen Nigeria und dem ehemaligen Kolonialherrn nicht von der Frage abhingen, ob ziviles oder militärisches Personal das afrikanische Land führte, sondern eher vom Ausmaß der Repression in Nigeria: stieg dieses, verschlechterten sich die Beziehungen zu Großbritannien.14 Dieses Beispiel unterstreicht die notwendigen Abwägungsentscheidungen, die es erst ermöglichen, Werte und Interessen in eine Balance zu bringen. Grundlegender, ob ein Regime autoritär ist oder nicht, ist die Frage, ob es die internationale Ordnung stört oder gefährdet.15 Die Wiedereröffnung der britischen Botschaft in Teheran im Juni 2014 unterstreicht dies ebenso, wurde sie doch – trotz des andauernden Konflikts über das iranische Atomprogramm und Menschenrechtsverletzungen – mit der bedeutenden Rolle des Iran in einer instabilen Region begründet.16
11 HM Government 2010, a.a.O. (Anm. 8), S. 10. 12 International Institute for Strategic Studies, Strategic Survey 2014, Abingdon, S. 122-123; The Economist, Running out of Gas, 21.6.2014, S. 34. 13 Oliver Daddow, Pauline Schnapper, Liberal Intervention in the Foreign Policy Thinking of Tony Blair and David Cameron, in: Cambridge Review of International Affairs, 26 (2013) 2, S. 330-349 (hier S. 336). 14 David Aworawo, National Interest and Foreign Policy: The Dynamics of Nigerian-British Relations, 1960-1999, in: Valahian Journal of Historical Studies, 16 (2011), S. 53-72. 15 Siehe: Daddow und Schnapper, a.a.O. (Anm. 13), S. 340. 16 Jochen Buchsteiner, Ein Anfang ist gemacht. Londons neue Iran-Politik soll keine Wende sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.6.2014, S. 2.
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Britische Interessen mit ethischer Dimension Das pragmatische, an Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität interessierte Verhalten muss sich aber an den etablierten ethischen Prinzipen messen lassen: „Unsere Außenpolitik muss eine ethische Dimension haben und muss das Verlangen anderer Völker nach den demokratischen Rechten, auf die wir für uns selbst bestehen, unterstützen.“ Diesen Anspruch formulierte der damalige britische Außenminister Robin Cook 1997 nach dem Wahlerfolg der Labour Partei unter Tony Blair.17 Seither ist die ethische Basis für Außenpolitik oft als unerreichbare Vision kritisiert worden. Schon in den ersten Jahren der Regierung Blair erfuhr der Ansatz Cooks eine Neuinterpretation. Standen zunächst der Einsatz für Menschenrechte und Völkerrecht im Zentrum der Bemühungen, führte vor allem die krisenhafte Entwicklung auf dem Balkan zu einer stärkeren Betonung humanitärer Interventionen unter Einsatz des britischen Militärs. In der Folge zementierten die politischen Begründungen für Interventionen zunächst den Kontrast zwischen moralisch verwerflichem Verhalten und dem, was als rechtens galt.18 In seiner viel zitierten Chicagoer Rede vom April 1999 argumentierte Blair zum Beispiel, der Kosovo-Krieg sei „ein gerechter Krieg, nicht begründet auf territorialen Ambitionen, sondern auf Werten“.19 Die Rhetorik Blairs fußte auf einer weltanschaulichen Unterscheidung zwischen dem zivilisierten Verhalten der euro-atlantischen Staatengemeinschaft und der Barbarei anderer. Das gängigste Missverständnis bezüglich der von Cook eingebrachten ethischen Dimension – nämlich, dass sich aus Cooks Anspruch eine eindeutige und ewig gültige Unterscheidung in moralisch richtige und falsche Politik ableiten ließe – ist somit auch durch die Labour-Regierung selbst erzeugt worden. Sinnvoller erscheint es, wie die derzeitige Regierung anzuerkennen, dass auch Außenpolitik mit einer ethischen Dimension britische Interessen verfolgt, zu denen die Kooperation mit Staaten, die die eigenen Werte nicht teilen, gehören kann. Diese Betrachtungsweise schafft Raum für Risikoabschätzungen, die weniger auf Prinzipien und stärker auf Güterabwägungen beruhen.20 William Hague, bis zu seinem Rücktritt im Juli 2014 Außenminister in der Regierung von David Cameron, argumentierte, dass man in der Außenpolitik nicht darum 17 Der Text von Robin Cooks Rede kann abgerufen werden unter (abgerufen am 28.9.2014). 18 Jack Holland, Blair’s War on Terror: Selling Intervention to Middle England, in: British Journal of Politics and International Relations, 14 (2011), S. 74-95. 19 Tony Blair, Doctrine of the International Community, Speech at the Economic Club, Chicago, 22.4.1999, (abgerufen am 27.9.2014). 20 Gaskarth, a.a.O. (Anm. 9), S. 77 und 96. Für eine detaillierte Studie basierend auf Interviews mit britischen Entscheidungsträgern siehe auch: Jamie Gaskarth, Interpreting Ethical Foreign Policy: Traditions and Dilemmas for Policymakers, in: British Journal of Politics and International Relations, 15 (2013), S. 192-209.
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herum komme zu versuchen, „Leute zu beeinflussen, mit denen man nicht übereinstimmt oder die man unangenehm findet“ – das habe der ethische Ansatz oft ausgeblendet.21 Doch gleichzeitig beschrieb Hague in einem Namensartikel für die Tageszeitung The Telegraph Menschenrechte als Schlüssel zur britischen Außenpolitik: „Es entspricht nicht unserem Charakter als Nation beiseite zu stehen, wenn andere in Not sind oder unberührt zu bleiben, wenn ihnen die hart erkämpften Freiheiten und Rechte, derer wir uns in Britannien als Resultat eines jahrhundertelangen Strebens innerhalb einer demokratischen Gesellschaft erfreuen, verwehrt bleiben. Wir können keine Außenpolitik ohne Gewissen haben. Die Werte, nach denen wir zu Hause leben, enden nicht an unserer Küste.“22 In der nationalen Sicherheitsstrategie von 2010 findet sich eine erstaunlich direkte Ansprache dieses Dilemmas im Kontext der Bekämpfung des internationalen Terrorismus: „Unsere Sicherheit zu schützen, verlangt von uns die Zusammenarbeit mit Ländern, die unsere Werte und die Standards unseres Justizsystems nicht teilen. Durch die Zusammenarbeit mit ihnen, um unser Land vor terroristischen Angriffen und anderen Bedrohungen zu schützen, gehen wir keine Kompromisse hinsichtlich unserer Werte ein. Wir sprechen Missstände an und nutzen unser eigenes Verhalten als Beispiel. Aber wir müssen eine Balance zwischen der öffentlichen Verurteilung von Abweichungen von unseren Werten und der Notwendigkeit, unsere Sicherheit durch internationale Kooperation zu schützen, finden.“23 Der damalige Parlamentarische Staatssekretär im britischen Außenministerium, Alistair Burt, stellte eine noch direktere Verbindung zwischen Kooperation mit autoritären Regimen und der Terrorismusbekämpfung her und merkte an: „Die meisten terroristischen Bedrohungen für das Vereinigte Königreich entstammen unseren starken Verbindungen in Übersee. Um diese Bedrohungen zu untersuchen und zu unterbinden, müssen wir mit Regimen zusammenarbeiten, die unsere Standards oder Werte eventuell nicht teilen. Manchmal bedeutet dies mit lokalen Sicherheitskräften zu arbeiten, um deren Fähigkeiten zur Terrorismusbekämpfung zu verbessern – sodass sie eher in der Lage sind, die Bedrohung innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu bewältigen. [...] Oft ist es die Stärke der Beziehungen in der Terrorismusbekämpfung, die wir mit Ländern rund um die Welt aufbauen, die zwischen uns und einem erfolgreichen Angriff stehen“.24 Die terroristische Bedrohung und die Kooperation mit nichtdemokratischen Staaten sind nicht zuletzt wegen der jüngsten öffentlichkeitswirksamen 21 Foreign and Commonwealth Office, 2011, a.a.O. (Anm. 6). 22 William Hague, Human Rights are Key to Our Foreign Policy, in: The Telegraph, 31.8.2010, (abgerufen am 28.9.2014). 23 HM Government a.a.O. (Anm. 8), S. 23. 24 Foreign and Commonwealth Office, Implications of the Arab Spring for the UK Government’s Counter Terrorism Strategy, 13.9.2011, (abgerufen am 10.8.2014).
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Großbritannien als Hüter der westlichen Ordnung
Enthauptungen amerikanischer und britischer Staatsbürger weiter aktuell. Angeführt von der westlichen Führungsmacht USA versuchen Großbritannien und andere westliche Staaten, zusammen mit autoritären Regimen der Region für Sicherheit und Ordnung zu sorgen: gegen die terroristische Bedrohung der dschihadistischen Organisation Islamischer Staat (IS), die den Staatszerfall des Irak und Syriens ausnutzen will. Das Zusammenwirken mit Staaten aus der Region hat auch den Vorteil klarzustellen, dass der Kampf gegen den IS keine allein „westliche“ Agenda ist. Im Lichte der nach wie vor andauernden Transformationsprozesse in den arabischen Staaten und in Nordafrika – verkürzt vereint unter der Überschrift des Arabischen Frühlings – sah sich Großbritanniens Premierminister Cameron allerdings dazu veranlasst, das Argument der Stabilität mit dem Argument von Freiheit und Wohlstand zu hinterfragen. In seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen führte Cameron aus, „einige haben argumentiert, dass Stabilität in der arabischen Welt nur durch strenge Kontrolle und starke autoritäre Regime erreicht werden kann, und dass Reformen eine Bedrohung der Stabilität sind. Das Gegenteil ist wahr. Reformen sind die Basis langfristiger Stabilität.“25 Ein halbes Jahr später ergänzte Cameron an der indonesischen Al-Azhar-Universität: „Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass wenn im Namen von Stabilität und Sicherheit Menschen ihre Rechte verwehrt werden, dieses letztendlich dazu führt, dass Staaten weniger stabil sind.“26 Unterdrückungsstrategien autokratischer Systeme seien also höchstens kurzfristig erfolgreich. Handel und Wandel Auch im wirtschaftlichen Bereich sieht die britische Regierung, trotz in Teilen beachtlicher wirtschaftlicher Modernisierungserfolge einiger Autokratien, das eigene System als überlegen an. Regierungschef Cameron erklärte 2011 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, dass die Durchsetzungskraft autoritärer Strukturen von vielen Beobachtern überschätzt werde: „Sie sehen politische Führungspersönlichkeiten mit unaufhaltbarer Kraft, die Entscheidungen durchsetzen und sie argumentieren, dass dagegen unsere liberalen demokratischen Werte altmodisch aussehen, ineffektiv – sogar eine Hürde für den Erfolg. Ich widerspreche dem leidenschaftlich. Es sind diese Werte, die das Klima für Innovation schaffen. […] Das liegt daran, dass gute Ideen durch Freiheit entstehen.“27 Einige dieser guten Ideen finden dann in Form britischer Exporte ihren Weg in autoritär geführte Staaten. Rüstungsgüter sind hiervon nicht ausgenom25 Cabinet Office, Prime Minister’s First Speech to the UN General Assembly, 22.9.2011, (abgerufen am 10.8.2014). 26 Cabinet Office 2012, a.a.O. (Anm. 5). 27 Cabinet Office, Prime Minister’s Speech at the World Economic Forum, 28.1.2011, (abgerufen am 10.8.2014).
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men. Nach Angaben des Stockholmer Instituts für Friedensforschung (SIPRI) war Großbritannien mit einem Anteil von 4 Prozent zwischen 2009 und 2013 der sechstgrößte Exporteur von Rüstungsgütern weltweit. Über 50 Prozent der weltweiten Exporte gehen auf die USA und Russland zurück, so dass Großbritannien in diesem Feld keineswegs besonders exponiert ist.28 Zudem sind die von SIPRI präsentierten Zahlen durchaus kritisch zu hinterfragen, was zum Beispiel die Methodologie, mit welcher der Wert eines bestimmten Exports bestimmt wird, betrifft. Größter Abnehmer britischer Rüstungsexporte in dem genannten Zeitraum war mit einigem Abstand Saudi-Arabien. Um britische Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien, basierend auf dem sogenannten Al Yamamah Abkommen von 1985, ranken sich auch bedeutende Korruptionsvorwürfe, welche die britische Firma BAE Systems betreffen. Britische Behörden stellten jedoch 2006 ihre Untersuchungen ein, um die „nationale und internationale Sicherheit zu schützen“.29 Die Güterabwägungen sind in diesem Feld besonders bedeutsam und kontrovers, wie dieses Beispiel unterstreicht. Generell verfolgt die britische Regierung, wie Regierungen anderer EUMitgliedstaaten auch, eine restriktive Rüstungspolitik. Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im britischen Außenministerium Alistair Burt erklärte: „Wir werden keine [Export-]Lizenzen ausgeben, wo es nach unserer Einschätzung ein klares Risiko dafür gibt, dass die vorgeschlagenen Exporte einen regionalen oder internen Konflikt provozieren oder verlängern könnten, oder wo sie benutzt werden könnten, um interne Repressionen zu ermöglichen.“30 Premierminister Cameron vertrat allerdings auch eine offensivere Linie, um Rüstungsexporte in die Golf-Region zu unterstützen: „Die Idee, dass wir von kleinen und demokratischen Staaten wie Kuwait erwarten, in der Lage zu sein. all seine Mittel zur Verteidigung selbst zu produzieren, erscheint völlig im Widerspruch mit der Realität zu sein.“31 Argumentationspunkte, die benutzt werden, um Rüstungsexporte in autoritäre Länder zu begründen, unterscheiden sich auch in Großbritannien nicht von denen, welche die Debatte in anderen Demokratien prägen: die Gültigkeit von Verträgen, die Reputation als verlässlicher Handelspartner sowie Arbeitsplätze.32 Die seit 2010 verstärkte kommerzielle Dimension britischer Außenpolitik erhöht die enge wirtschaftliche Verflechtung zusätzlich; auch jene mit Autokratien. 28 Siemon T. Wezeman, Pieter D. Wezeman, Trends in International Arms Transfers, 2013, SIPRI Fact Sheet, März 2014, (abgerufen am 10.8.2014). 29 Tim Jarrett, Claire Taylor, Bribery Allegations and BAE Systems, Standard Note, SN/BT/5367, 2.3.2010, House of Commons Library, London, S. 1. 30 Foreign and Commonwealth Office, Minister for Counter Proliferation Comments on Arms Export Report, 13.7.2012, (abgerufen am 10.8.2014). 31 Zitiert in: Nicholas Watt, David Cameron Hits Out at Critics of Britain’s Arms Trade, in: The Guardian, 22.2.2011, (abgerufen am 2.10.2014). 32 Gaskarth 2013, a.a.O. (Anm. 9), S. 103.
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Großbritannien als Hüter der westlichen Ordnung
Der Handel mit Staaten außerhalb der EU übersteigt mit knapp über 400 Milliarden Pfund (2013) mittlerweile den Austausch von Gütern und Dienstleistungen mit anderen EU Ländern (370 Milliarden Pfund). China ist nach den USA der zweitgrößte Handelspartner des Vereinigten Königreichs außerhalb der EU, sowohl für Exporte als auch Importe.33 London soll zudem zum Zentrum des internationalen Handels mit Renminbi, der chinesischen Währung, entwickelt werden. Gleichzeitig fließen enorme chinesische Investitionen nach Großbritannien. Diese gehen mittlerweile über rein finanzielle Beteiligungen hinaus und sind zunehmend strategischer Art, zum Beispiel im Finanzsektor und in Infrastruktursektoren wie Energie, Wasser, Transport (Flughäfen, Bahn, Tunnel).34 Auch Russland war vor der Ukraine-Krise 2013/14 ein bevorzugter wirtschaftlicher Partner. Premierminister Cameron wies darauf hin, dass „Russland ressourcenreich aber arm an Dienstleistungen“ sei, wohingegen das Gegenteil auf Großbritannien zutreffe.35 Das Interesse russischer Unternehmer, ganz unterschiedlicher Provenienz, an Luxusimmobilien in London brachte der britischen Hauptstadt sogar den Spitznamen „Londongrad“ ein. Fazit: Weniger Prinzip, mehr Güterabwägung Die politische Auseinandersetzung mit Herrschaftsformen, die sich von der eigenen langen demokratischen Tradition unterscheiden, gehört im Kontext des globalen britischen Handlungsanspruchs selbstredend zum Handwerk der Außenpolitik des Vereinigten Königreichs. Im internationalen Systemwettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien sehen britische Entscheidungsträger Demokratien, sowohl auf der politischen als auch wirtschaftlichen Ebene, langfristig als überlegen an. Das Versprechen von Wohlstand, Freiheit und Sicherheit, so die Auffassung, sei letztendlich entscheidend. Die hier analysierten Beispiele des britischen Diskurses über Außenpolitik mit Autokratien zeigen, dass eine hohe Sensibilisierung mit Blick auf das notwendige ethische Fundament der Außenpolitik unter Entscheidungsträgern besteht. Gleichzeitig zielt die vorgebrachte Logik auf die Konsequenzen von außenpolitischem Handeln und Nichthandeln, und den Versuch, liberale Werte und Sicherheit nicht in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu rücken, sondern auf unumgängliche Abwägungsentscheidungen hinzuweisen. 33 HM Revenue and Customs, UK Overseas Trade Statistics with EU, 15.7.2014, ; HM Revenue and Customs, UK Overseas Trade Statistics with Non-EU, 10.7.2014 (abgerufen am 10.8.2014). 34 Foreign and Commonwealth Office, The UK in the Asian Century, Speech by the Rt Hon Hugo Swire MP, Carnegie Institute, Washington, DC, 15.7.2014, (abgerufen am 10.8.2014); Jennifer Rankin, China Trade Visit Set to Result in £18bn of Investments for UK, 16.6.2014, (abgerufen am 16.8.2014). 35 Zitiert in: Jennifer Rankin, Simon Goodley, What Will Sanctions Mean for London Oligarchs?, in: The Guardian, 27.3.2014, (abgerufen am 16.8.2014).
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Italien: Kein Sonderweg mehr Regina Krieger Matteo Renzi setzt seit seinem Amtsantritt als Premierminister neue Akzente in der Außenpolitik. Priorität hat die Mittelmeer-Politik, was aufgrund der geostrategischen Lage Italiens und der aktuellen Krisenherde nachvollziehbar ist. Sein Vorgehen nährt jedoch Befürchtungen in Europas Hauptstädten, dass Italien seinen Sonderweg fortsetzen würde. Im Alleingang, an den Institutionen der EU vorbei, oft im Gleichschritt mit seinen autokratischen „Männerfreunden“, hatte einer seiner prominenten Vorgänger, Silvio Berlusconi, das Land an den Rand demokratischer Regierbarkeit gebracht. Auf zu neuen Zielen Seine erste Auslandsreise als Premier führte Matteo Renzi nach Tunesien. Eine Wahl, „um die Mittelmeer-Region ins Zentrum zu stellen“, sagte der gerade angetretene neue italienische Premierminister am 25. Februar 2014 im römischen Abgeordnetenhaus. Er sprach wie meistens ohne Manuskript und fügte hinzu: „Es bleibt noch Zeit, um nach Brüssel zu fahren.“ Seine Vorgänger Enrico Letta und Mario Monti hatten andere Akzente gesetzt: Letta fuhr im April 2013 noch am Tag des Vertrauensvotums nach Berlin und am folgenden Tag nach Paris und Brüssel, und auch Monti reiste im November 2011 nach der drastischsten Zäsur in der italienischen Politik nach dem Rücktritt Silvio Berlusconis sogleich in die drei Städte, um dort das Sanierungsprogramm seiner TechnokratenRegierung vorzustellen. Tunesien war mit Bedacht gewählt, der Besuch ein Signal an die Nachbarstaaten in Nordafrika: eine Anerkennung für den Weg in Richtung Demokratie nach dem Sturz des Autokraten Ben Ali Anfang 2011. Für Italien ist aufgrund der geografischen Lage als Halbinsel mit 7600 Kilometern Küstenlänge der Mittelmeer-Raum von zentraler strategischer Bedeutung. Enge Beziehungen zu den südlichen Nachbarn und dem Nahen Osten gehören seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Priorität italienischer Außenpolitik. Stichworte sind Sicherheitspolitik, Absatzmärkte, in zunehmendem Maße
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die Flüchtlingsproblematik, doch an allererster Stelle die Energieversorgung. „Transmed“, die 1983 eingeweihte 2500 Kilometer lange Gasleitung von Algerien nach Italien, führt durch Tunesien und dann durchs Meer nach Sizilien. In dem Land, in dem der Arabische Frühling im Dezember 2010 seinen Anfang nahm, demonstrierte Renzi erstmals den neuen politischen Stil Roms, gleichsam als Auftakt zur italienischen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2014: Es müsse nun Schluss damit sein, nur auf ökonomische Parameter zu schauen, „auf Zahlen und auf Striktheit“, sagte er bei der Pressekonferenz in Tunis, Vorrang habe die Politik, und die müsse im Mittelmeer-Raum beginnen. Vietnam, China und Kasachstan, dann Mosambik, Kongo und Angola sowie schließlich Ägypten waren die nächsten Auslandsstationen des jungen Premiers – neben den Pflichtterminen in Brüssel und den EU-Hauptstädten. Begleitet wurde er von Wirtschaftsvertretern, bei der Rückkehr waren strategische Abkommen im Gepäck. Die Kulturpolitik lieferte schon zuvor einen weiteren Hinweis darauf, wohin die Reise Italiens geht: So erklärte Mario Giro, Außen-Staatssekretär, in einer Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuss der Abgeordnetenkammer zur Lage der italienischen Kulturinstitute, die Eurozentrik (allein in Deutschland gibt es sieben Institute) sei überholt und müsse reformiert werden. Wenn Investitionen zu tätigen seien, dann in Ländern wie Kasachstan und Aserbaidschan und grundsätzlich im asiatischen Raum und am Golf.1 Außenpolitik ist Innenpolitik Kontinuität und Neuausrichtung, Sonderrolle oder nicht – die Analyse des Umgangs Italiens mit autokratischen Staaten ist nicht vollständig ohne eine grundlegende Komponente römischer Politik, die eher psychologischer Natur ist: Explizites Ziel ist es, wieder mehr zu zählen. Die drittgrößte Volkswirtschaft der EU hat seit dem Ende des Kalten Krieges schon allein aus geostrategischen Gründen an Einfluss und Bedeutung verloren.2 Der Stiefel, seinerzeit oft bezeichnet als „Flugzeugträger“ der westlichen Welt, ist heute eine Mittelmacht mit gravierenden ökonomischen Problemen und einer horrenden Haushaltsverschuldung, auf die Brüssel mit Sorge schaut. 1
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Mario Giro, Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuss der Abgeordnetenkammer, 23.10.2013, (abgerufen am 8.10.2014). Eine klare Analyse der Position Italiens seit dem Mauerfall liefert Carlo Marsala, der von dem „Zwiespalt zwischen dem eigenen Anspruch und der äußeren Wahrnehmung“ schreibt. Carlo Marsala: Italienische Außen- und Sicherheitspolitik, in: Karoline Rörig, Ulrich Glassmann, Stefan Köppl (Hrsg.): Länderbericht Italien, Band 1240 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2012, S. 288-302.
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Nötig für ein neues Standing ist daher die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit. Und dazu muss die chronische politische Instabilität überwunden werden. „Scegliere per contare“ – „(richtig) wählen, um zu zählen“ – ist der Titel des Jahresberichts 2014 zur italienischen Außenpolitik des renommierten internationalen Forschungszentrums Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rom, der sich wie eine To-do-Liste für die Regierung liest. „Der Reformprozess ist ins Stocken geraten und es wurde teilweise sogar der Rückwärtsgang eingelegt wegen der vielen Widerstände gegen die Reformversuche im Inneren und wegen der Kontraste innerhalb der heterogenen Regierungsmehrheiten“, heißt es in dem Bericht.3 Die Analyse besticht mit schonungsloser Deutlichkeit: Die aktuelle Lage rühre auch von der – nicht neuen – Schwierigkeit, eine strategische Vision der internationalen Projektion des Landes zu entwickeln. Außenpolitik ist Innenpolitik. Besonders schwer wiege die „andauernde politische Instabilität, die verhindert, der Ausrichtung der Außenpolitik die notwendige Kohärenz und Kontinuität zu geben“.4 Stabile Glaubwürdigkeit könne nicht durch Forderungen erreicht werden, da Italien in den vergangenen Jahren in einer nachteiligen Situation gewesen sei, sondern durch das zielstrebige und kohärente Wiederaufnehmen des Reformwegs. Als weiterer Schritt müsse die Strategie der Außenpolitik aktualisiert und an die neuen Verhältnisse angepasst werden – also kein Sonderweg mehr. Die „nachteilige Situation“ hat einen Namen: Silvio Berlusconi, wunderbar treffend beschrieben von dem schwedischen Krimiautor Arne Dahl: „Apostel der Oberflächlichkeit, Messias des Machtmissbrauchs, Peiniger der Menschheit. Silvio Berlusconi. Die Kunst, die eigenen schmutzigen Geschäfte zur politischen Agenda zu machen. Die Kunst, einen ganzen Staatsapparat, jede demokratische Institution in eine Tochtergesellschaft seiner eigenen Unternehmungen zu verwandeln.“5 Keine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte Italiens ist größer. Der Mailänder Medienunternehmer, der 1994 seine Partei „Forza Italia“ gründete und insgesamt dreimal Ministerpräsident war, hat die Geschicke seines Landes 20 Jahre lang geprägt und beeinflusst – bis heute.6 Seine Zeit als Politiker markiert den Bruch mit der Tradition, vor allem ab 2002, während seiner zweiten Amtszeit. Er vermied ein klares Bekenntnis zu Europa und suchte unberechenbar neue Bündnisse – nicht nur mit Putin und Gaddafi, sondern zum Beispiel im Golf-Krieg an der Seite des US-Präsidenten George W. Bush in der „Koalition 3 4 5 6
Scegliere per contare. Sintesi e raccomandazioni del Rapporto sulla politica estera italiana, edizione 2014, a cura dell’Istituto Affari Internazionali (IAI), Documenti IAI, 14. 6.4. 2014, S. 2. (Alle italienischen Originalzitate wurden von der Autorin übersetzt.) Ebd. Arne Dahl: Gier. München 2013, S. 227. Der Historiker Giovanni Orsina beschreibt das Phänomen des „Berlusconismus“ von den Entstehungsgründen bis zu den Nachwirkungen exzellent in seinem Buch Il berlusconismo nella storia d’Italia, Venedig 2013.
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der Willigen“. Während er außenpolitisch mit klassischer Schaukelpolitik Schaden anrichtete, vertiefte sein Politikstil im Inneren die Spaltung Italiens, die bis heute nicht überwunden wurde – im Gegenteil: Das permanente Anklagen „der Politik“, die Befriedigung von Partikularinteressen, die Entfremdung der Menschen von der „Kaste“ und das Problem der mangelnden Glaubwürdigkeit finden ihre Fortsetzung im Phänomen der Antipolitik des ehemaligen Komikers Beppe Grillo und seines Movimento 5 Stelle. „Berlusconi präsentierte sich als Bannerträger der Gesellschaft gegen die Politik“, schreibt der ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses und Politiker der Renzi-Partei Partito Democratico Luciano Violante, „und hat Feuer entfacht, die er dann nicht mehr bändigen konnte.“7 Im November 2011, als Italien kurz vor dem Staatsbankrott steht, tritt Berlusconi zurück und Staatspräsident Georgio Napolitano beruft den ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten und Wirtschaftsprofessor Mario Monti zum Regierungschef. Der Name bürgte für den „Sanierungskurs“ und die Rückbesinnung auf die Kontinuität italienischer Außenpolitik. Außenpolitisches Programm Römische Außenpolitik ist geprägt durch Kontinuität auf der einen Seite wie das seit der Regierung Monti proaktiv und kontinuierlich wieder betriebene Bekenntnis des EU-Gründungsstaats Italien zu Europa, das in den BerlusconiJahren stark in den Hintergrund geraten war. Auf der anderen Seite sind neue Akzente in der Außenpolitik deutlich zu erkennen, getragen von strategischen und ökonomischen Interessen. Der Umgang mit autokratischen Staaten fügt sich ein in die Neuausrichtung der Außenpolitik, die mit der Technokraten-Regierung von Mario Monti begann und mit Premier Enrico Letta fortgesetzt wurde. Das gilt besonders für Russland, Iran und die Maghreb-Staaten, allesamt „alte“ Verbündete. China, Vietnam, Kasachstan und die Länder am Horn von Afrika – siehe Renzis Reisen – sind neue strategische Ziele, wie in zunehmendem Maß auch die Golf-Region. Kontinuität und Neuausrichtung folgen einem präzisen Schema. Sicherheitsinteressen und mehr noch Wirtschaftsinteressen stehen über allen anderen Politikfeldern, Priorität für das rohstoffarme Italien hat die Sicherung der Energieversorgung. Aspekte wie Demokratiefähigkeit oder Beachtung der Menschenrechte in anderen Ländern werden nicht ausgeblendet, sind aber nicht entscheidend für die Beziehungen. Deshalb sind in der Außenpolitik – neben den obsoleten Bekenntnissen zu Bündnissen und internationalen humanitären und militärischen Verpflichtungen – auch keine gravierenden Unterschiede im Umgang mit demokratischen und autokratischen Staaten auszumachen. Darüber besteht parteiübergreifend Konsens in Italien. Wenn die Menschen 7
Luciano Violante, Governare. Beati quelli che amministreranno la città con gli occhi dell’altro, Edizioni San Paolo, 2014, S. 46.
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auf die Straße gehen, was wie in Frankreich und Spanien viel häufiger passiert als in Deutschland, geht es um innenpolitische, soziale Probleme. Dazu kommt, dass die Mehrheit der Italiener, ähnlich wie in Deutschland, wenig an internationaler Politik interessiert ist und in den Medien die Forderung geläufig ist, Deutschland möge in der Außenpolitik eine führende Rolle übernehmen.8 Italien ist deutlich mehr als andere EU-Staaten auf Energieversorgung von außen angewiesen. Die Importabhängigkeit ist sehr hoch: 83 Prozent.9 Das determiniert den Umgang mit Autokratien, die über die meisten Rohstoffe verfügen und meist die Lieferländer sind. Italiens Hauptlieferanten für Erdöl sind Russland, Libyen und Saudi-Arabien, für Erdgas, das im Energiemix immer wichtiger wird, sind es Algerien, Russland und Katar.10 Russlands herausragende Rolle Zweimal Russland – das Land spielt eine herausragende Rolle für Italien. Am Beispiel der bilateralen Beziehungen lässt sich die italienische Außenpolitik gegenüber Autokratien analysieren. Der Kurs zeichnet sich sehr deutlich ab: Rom will die privilegierten Beziehungen beibehalten, aber gleichzeitig, und das ist die Novität, seinen historischen Kurs der Sonderwege beenden. Ob das durchgehalten wird, hängt von mehreren Faktoren ab: von politischer Stabilität und von der für die Sanierung der Wirtschaft notwendigen Realisierung von Reformen im Inneren und von der internationalen Lage insgesamt. Das Urteil italienischer Experten ist jedenfalls auffallend einstimmig. Die ökonomischen Verflechtungen Italiens und Russlands sind eng. Rom ist der zweitgrößte Handelspartner Moskaus in Europa nach Deutschland. Die großen Unternehmen mit Staatsbeteiligung Enel, Eni und Finmeccanica und die Bank Unicredit sind Mitglieder im Foreign Investors Advisory Council (FIAC), dem Rat, in dem unter Vorsitz von Präsident Wladimir Putin die größten in Russland operierenden Unternehmen vereint sind. Am Beginn stehen die Beziehungen des russischen Industriekonzerns Gazprom zum staatskontrollierten Energiekonzern Eni, dem größten Unternehmen Italiens. Schon 1960 startete die Kooperation, in Zeiten des Kalten Krieges, der bipolaren Welt 8
So Antonio Armellini, in: Corriere della Sera, 19.8.2014. Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts LAPS der Universität Siena im Auftrag des Istituto Affari Internazionali bejahten 65 Prozent die Frage, ob sich Italien mehr um interne Belange als um internationale Probleme kümmern soll. 80 Prozent sahen ihr Land als wenig oder überhaupt nicht einflussreich auf internationaler Bühne. Vgl. Linda Basile, Pierangelo Isernia, Francesco Olmastroni, Gli italiani e la politica estera, IAI Monografie, 17.12.2013, S. 10 und 11. 9 Im Vergleich: Deutschlands Importabhängigkeit beträgt 63,8 Prozent (eigene Kohle und erneuerbare Energien), die Großbritanniens 44,8 Prozent (eigenes Öl und Gas) und die Frankreichs 49,6 Prozent (Atomstrom). Vgl. Internationale Energie Agentur (IEA), Energy Balances of OECD Countries, 2013 Edition, Paris 2013, S. II, 186 u. II, 190, eigene Berechnung. 10 IEA: Oil Information, 2014 Edition; Paris 2014, S. III, 324. Natural Gas Information, 2013 Edition, Paris 2013, S. IV, 236f.
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und des Wirtschaftswunders im Westen – ein erster Sonderweg, der Italien den Energieimport sicherte und den russischen Markt für Produkte „made in Italy“ öffnete. Jede der zahlreichen Regierungen unterstützte diese Politik. 2006 wurde ein strategisches Abkommen geschlossen und 2010 erneuert.11 Das wichtigste Projekt des Abkommens war die Pipeline South Stream, 2007 beschlossen, um Erdgas durch das Schwarze Meer und die Balkan-Länder zu transportieren, an der Ukraine vorbei. Das Projekt, an dem die französische EDF und die deutsche Wintershall zu je 15 Prozent beteiligt sind, und das Anfang Dezember 2014 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin bei einem Besuch in der Türkei aufgekündigt wurde, bestimmte bis dahin die Prioritäten italienischer Außenpolitik. Die rigide Position Italiens im Zuge der Ukraine-Krise im Sommer 2014 war dem geschuldet, immer auch mit dem Hinweis darauf, dass etwa Deutschland im Gegensatz zu Italien durch die Pipeline North Stream Versorgungssicherheit genießt. So plädierte die neue Eni-Aufsichtsratspräsidentin Emma Marcegaglia bei einer Wirtschaftstagung im Auswärtigen Amt in Berlin bei der Diskussion über die Auswirkungen von Sanktionen dafür, mit Russland im Gespräch zu bleiben.12 Auch das Aus für South Stream führte nicht zu einem Strategiewechsel gegenüber Moskau. Premier Renzi erklärte postwendend, dass das ein Projekt sei, das Italien nicht als fundamental betrachte, dass der Stopp der Pipeline kein Grund zur Sorge sei. Gleichzeitig betonte er den Stellenwert der strategischen Wahl von Partnern wie Russland, den Ländern im Osten und in Afrika.13 In diesem Kontext wird das Projekt TAP (Trans Adriatic Pipeline) für Italien immer wichtiger, die geplante Pipeline, die Erdgas aus Aserbaidschan durch Griechenland und Albanien nach Apulien bringen soll. Im kollektiven Gedächtnis geblieben sind Bilder von Wladimir Putin und Silvio Berlusconi – mit Familien im Sommer in der Villa auf Sardinien oder mit dicken Pelzmützen im russischen Osten. Die „Männerfreundschaft“, die bis heute anhält, erregte viel Aufmerksamkeit im Westen. Durch Wikileaks-Enthüllungen erhielt sie eine neue Dimension. Aus Berichten des US-Botschafters in Rom nach Washington entstand 2010 der Verdacht, dass es Verbindungen zwischen den beiden gibt, die über politische Beziehungen hinausgehen. Bewiesen wurde das nicht.14
11 Vgl. Carlo Frappi, Anna Marra, Laura Petrone (Hrsg.), La Russia dopo la crisi: i rapporti economici con l’Italia, la cooperazione energetica e il mondo sindacale. („Russland nach der Krise: die Wirtschaftsbeziehungen zu Italien, die Zusammenarbeit im Energiesektor und die Gewerkschaften“), Osservatorio di politica internazionale, Approfondimento ISPI Nr. 38, Juli 2011. 12 Matthias Brüggmann, Komplizierte Suche nach Lösungen, Handelsblatt, 27.8.2014. 13 South Stream: Renzi, stop di Putin non ci preoccupa, ANSA, 2.12.2014, 21 Uhr. 14 Die Tageszeitung La Repubblica berichtete am 8.12.2010 exklusiv über die Depeschen des US-Botschafters Ronald Spogli, in denen stehe, dass Putin Berlusconi einen Anteil an jeder Pipeline zugesagt habe, die Gazprom und Eni bauen wollten.
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Die Beziehungen wurden nicht belastet. An der Sonderbeziehung zu Russland hielten auch die Technokraten-Regierungen nach Berlusconi fest, zur Freude Moskaus. Angesichts der Solidität der ausgezeichneten Beziehungen zwischen Italien und Russland habe es beim Übergang von der Regierung Berlusconi zur Technokraten-Regierung Monti keine Bremse gegeben, schreibt Tatiana Zonova von der Moskauer MGIMO Universität. „Moskau gründet seine Beziehungen zu Rom neu über einen pragmatischen und weniger personalisierten Weg.“15 Im Zuge der Ukraine-Krise erregte der Schulterschluss Rom-Moskau erneut Unwillen in Brüssel. Das Misstrauen der europäischen Partner angesichts des italienischen Sonderwegs erreichte einen Höhepunkt im Sommer 2014, als Premier Renzis Kandidatin für das Amt der Hohen Repräsentantin für Außenund Sicherheitspolitik der EU, Außenministerin Federica Mogherini, erst in allerletzter Sekunde in Brüssel den Zuschlag bekam. Vor allem britische Medien und Mitgliedstaaten aus Osteuropa hatten ihr zuvor vorgeworfen, zu einseitig pro Moskau Politik zu machen. So hatte sie bei ihrer ersten Reise während der EU-Ratspräsidentschaft in Moskau ihrem Amtskollegen Sergej Lawrow explizit Unterstützung für South Stream zugesagt.16 Die „neue“ Mittelmeer-Strategie Neben Russland spielt an der Südgrenze Italiens Libyen, von 1912 bis 1947 italienische Kolonie, eine Sonderrolle. Hier ist das Thema Sicherheit ebenso wichtig wie der Punkt Energieversorgung. Die instabile Lage nach dem Sturz Gaddafis 2011 – funktionierende institutionelle Strukturen gibt es nicht – ist doppelt gefährlich für Rom, Stichworte sind Erdgasnachschub und Flüchtlinge. Auch mit Muammar al-Gaddafi begründete Silvio Berlusconi eine Männerfreundschaft. Erst kurz vor dem Sturz des Machthabers ließ er ihn fallen. Zwei Daten zeigen die Verflechtung der beiden Länder: 2008 wurde in Bengasi ein Freundschaftsvertrag geschlossen, der neben italienischer Reparationszahlungen auch eine Übereinkunft über Flüchtlingsströme enthielt. Im Jahr davor verlängerten Eni und die Libyan National Corporation ihren Erdöl- und Erdgas-Förderungsvertrag bis 2042 bzw. 2047. Renzis Reise nach Kairo im August 2014 und die dabei demonstrierte Unterstützung für Präsident Abdel Fattah Al-Sisi muss im Licht der neuen außenpolitischen Mittelmeer-Strategie Italiens gesehen werden. In einem 15 Tatiana Zonova, Italia – Russia: meno personalismi, più pragmatismo (Italien – Russland: weniger Personalismus, mehr Pragmatismus), in: ISPI commentary, 21.2.2013. 16 In der deutschen Diskussion über die Auswirkungen des Ukraine-Konflikts wurde der Rückgang des deutschen Russland-Geschäfts beklagt. Während 2013 der deutsche Handel um 5 Prozent zurückgegangen sei, habe Italien seinen Handel mit Russland um knapp 18 Prozent gesteigert. In dem Zusammenhang ist von „Krisengewinnern“ die Rede. Vgl. Markus Wehner, Krim-Krise trifft deutsche Wirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 29.3.2014.
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Italien: Kein Sonderweg mehr
deutlichen Kommentar zur Reise warnt der Außenpolitikexperte Roberto Aliboni nicht nur vor zu viel Vorschusslorbeeren für das autokratische Regime in Ägypten, sondern mahnt auch, in der Mittelmeer-Politik keine nationalistischen Alleingänge zu unternehmen: „Damit diese einigend und nicht trennend wird, ist es nötig, dass sie die italienische Regierung in eine Außenpolitik einbettet, die unsere Interessen in Gleichklang bringt mit denen der anderen EU-Mitgliedstaaten.“17 Fazit und Ausblick: Italiens Rolle in Europa Grundsätzlich gilt für den Umgang Italiens mit Autokratien: Auflagen und Grenzen gibt es nicht, auch wenn sich Italien natürlich an die internationalen Verträge hält, halten muss – siehe Sanktionen gegen Russland im Zuge der Ukraine-Krise. Viele Partnerländer sind noch weit von einem demokratischen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild entfernt. Dem strategischen Ziel der Energieversorgung und der Sicherheit wird alles untergeordnet, in allen Regierungen. Das Motto des Programms der italienischen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2014 passt, um den Umgang mit autokratischen Staaten zu beschreiben: „Europa – ein neuer Anfang“ – also auch für Italien. Die EU müsse eine Schlüsselrolle spielen, liest man da, und vor allem den Einfluss an den eigenen Grenzen stärken. Ägypten, Libyen, Menschenrechte im Iran, Balkan, Türkei – alle Konfliktherde werden genannt. Die aktuelle geopolitische Situation Italiens, mit Instabilitäten und Kriegen an fast allen Grenzen,18 die determinierend sind für die nationale Sicherheitsstrategie, erschwert den Weg zu politischer Stabilität im Inneren und zur Wiedererlangung der Glaubwürdigkeit nach außen. Die Aussichten sind jedoch positiv. Eine Rückkehr des „Primats der Politik“ konstatiert Violante, einer der von Staatspräsident Giorgio Napolitano benannten Weisen für die Verfassungsreform. Und zum Primat der Politik gehöre die Unabhängigkeit der Entscheidungen der Regierung. Italien brauche Stabilität und eine „außerordentliche Fähigkeit des politischen Kommandos“, denn „die Demokratie kann nicht ein kampfloses Nachgeben gegenüber korporativem Denken und Ineffizienz sein.“19 17 Roberto Aliboni, Renzi a metà tra nazionalismo e Europa (Renzi zwischen Nationalismus und Europa), in: Affarinazionali.it, 5.8.2014. (abgerufen am 8.10.2014). 18 Vgl. die Ausführungen des Außenpolitikexperten Lucio Caracciolo, Chefredakteur der geopolitischen Zeitschrift „Limes“, in einer Anhörung vor dem Auswärtigen Ausschuss der Abgeordnetenkammer, 4.2.2014, (abgerufen am 8.10.2014). 19 Luciano Violante (mit Mario de Pizzo), Il primato della politica. Dialogo sul potere, la fiducia, il rispetto. Rubbettino, 2014, S. 38-39.
Regina Krieger
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Renzi sei auf dem richtigen Weg. Und während die ökonomische Performanz und die Reformfähigkeit der Regierung in Rom aufmerksam verfolgt werden von den europäischen Partnern, sind italienische Medien und Fachleute geschlossen einig in der Verteidigung der Politik gegenüber „Austeritätsfanatikern“. Sie haben eine eindeutige Empfehlung, wie der künftige Kurs der Außenpolitik aussehen soll: „Die Identität Italiens auf dem internationalen Schachbrett und sein System der Allianzen gelten nicht als Argument für variable Geometrien je nach zeitweiligen, temporären Vorteilen“, so Paolo Messa, Gründer der Monatszeitschrift Formiche.20 „Renzi muss für Europa eine strategische Perspektive mit langem Atem aufstellen und es vermeiden, sich auf einen inhaltslosen ‚Neo-Mediterranismus‘ rein nationaler Prägung festzulegen“, schreibt Roberto Aliboni.21 Um Schwachstellen zu überwinden, muss die Regierung Renzi – jede italienische Regierung – die Politik im europäischen Kontext verankern. Die Zeit von Alleingängen ist vorbei, auch im Umgang mit autokratischen Staaten. Der treffendste Kommentar kommt aus Rom: „In Zeiten großen Drucks auf den Haushalt und bei der ständigen Revision des Gebrauchs von Ressourcen ist es unabdingbar, den Sinn für Prioritäten klar zu haben.“22
20 Paolo Messa, Mogherini o no, l’Italia deve avere una politica estera chiara (Mogherini oder nicht, Italien muss eine klare Außenpolitik haben), in: formiche.net, 17.7.2014, (abgerufen am 8.10.2014). 21 Roberto Aliboni, Renzi a metà tra nazionalismo e Europa, a.a.O. (Anm. 17). 22 Roberto Menotti, Le frontiere europee: la sfida analitica della sicurezza e le prospettive italiane (Die europäischen Grenzen: die analytische Herausforderung in puncto Sicherheit und die italienischen Perspektiven), Italiadecide – Workshop in preparazione del semestre di presidenza italiana della UE, Roma, 14.4.2014, Camera dei Deputati, (abgerufen am 8.10.2014).
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Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken Hanns W. Maull In Japans Außenpolitik nach 1945 spielt die Unterscheidung zwischen autokratischen und demokratischen Systemen praktisch keine Rolle. Der wichtigste Grund hierfür liegt in den geopolitischen Rahmenbedingungen Ostasiens und dem damit zusammenhängenden Sicherheitsbündnis Japans mit den USA. In einer Welt im Umbruch versucht Japan Stabilität und Kontinuität zu wahren. Geopolitische Rahmenbedingungen Zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes bildete Japan im Bündnis mit Amerika und seinen Militärstützpunkten auf den japanischen Inseln das wichtigste Bollwerk der Eindämmung zunächst des kommunistischen Blocks und danach, nach dem Aufbrechen des chinesisch-sowjetischen Konflikts und der Öffnung der USA für die strategische Zusammenarbeit mit China, der Sowjetunion. Nach dem Ende des Kalten Krieges in Ostasien geht es in der internationalen Politik in dieser Region im Kern darum, die alte regionale Sicherheitsarchitektur an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Die größte dieser Herausforderungen stellt Chinas Aufstieg zur Weltmacht dar, aber auch die Systemkrise der Demokratischen Volksrepublik Korea und ihr Aufstieg zur Atommacht bergen große Risiken. In dieser Lage konnte und wollte es sich die japanische Außenpolitik nicht leisten, seine Außenbeziehungen mit Blick auf die jeweiligen politischen Systeme – Demokratien oder Autokratien – zu differenzieren. In seiner außenpolitischen Rhetorik sieht sich Japan zwar gerne als Teil der Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien. Die Praxis zeigt allerdings, dass Japans Bereitschaft, eine im Sinne dieser Werte ausgerichtete Außenpolitik zu betreiben, insbesondere in seinem unmittelbaren geografischen und geopolitischen Umfeld in Ostasien recht begrenzt ist. So versucht Japan, seine Bemühungen um eine Eindämmung der chinesischen Expansionsbestrebungen in Ostasien auch in die Perspektive einer Kooperation der Demokratien in Asien zu stellen, etwa in seinen Beziehungen
Hanns W. Maull
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zu Australien, den Philippinen, Indonesien oder Indien. Angesichts der geopolitischen Gegebenheiten in Ostasien bleiben diese Bemühungen allerdings insgesamt wenig überzeugend und politisch irrelevant. Denn zu den wichtigen Gegenspielern Chinas in Ostasien gehören das ebenfalls kommunistische Vietnam wie die demokratischen Philippinen. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Beziehungen Japans zu den kommunistisch regierten Volksrepubliken in China und Nordkorea, um diese einleitenden Beobachtungen zu vertiefen. Sie fragt jeweils zunächst nach den Zielsetzungen Japans, sodann nach den präferierten Instrumenten der japanischen Außenpolitik und schließlich nach innenpolitischen Faktoren mit Einfluss auf die Politik Japans gegenüber den beiden kommunistischen Nachbarstaaten. Japan und China China hatte für Japan seit jeher eine herausragende Bedeutung – als zivilisatorisches Leitmodell, als demografisches, wirtschaftliches und politisches Gravitationszentrum jeder regionalen Ordnung in Ostasien und als Wirtschaftsraum. Aus Sicht Japans waren dabei zwei Fragen für das bilaterale Verhältnis entscheidend: Ist China stabil oder instabil? Und steht es Japan grundsätzlich eher kooperativ oder eher antagonistisch gegenüber? Zielsetzungen Japans in den Beziehungen zu China
Derzeit sind die Beziehungen Japans zu China zugleich wirtschaftlich außerordentlich eng1 und politisch ungewöhnlich angespannt.2 China ist – inzwischen weit vor den USA – Japans wichtigster Handelspartner und neben den USA auch der wichtigste Wirtschaftspartner Japans überhaupt. Wirtschaftliche Verflechtungen produzieren zwar auch Konflikte, insgesamt dominieren aber starke Kooperationsanreize, weil beide Seiten viel zu verlieren haben. Politisch dagegen werden die bilateralen Beziehungen beherrscht vom maritimen Territorialkonflikt um die Senkaku-Inselgruppe (chinesisch: Diaoyu) sowie von der unzureichend aufgearbeiteten militaristischen Vergangenheit Japans in Ostasien in den 1930er und 1940er Jahren. Hinzu kommen unterschiedliche Vorstellungen und Ziele bei der Ausgestaltung der regionalen Ordnung und ihrer Sicherheitsarchitektur. Das wichtigste Ziel Japans gegenüber China heißt: Stabilität. Ein politisch instabiles China könnte gravierende Auswirkungen auf Japans Wirtschaft und 1 2
Vgl. Hanns Günther Hilpert, René Haak (Hrsg.), Japan and China, Cooperation, Competition and Conflict, Houndmills 2002. Vgl. International Crisis Group: Dangerous Waters: China-Japan Relations on the Rocks, Brüssel, 8.4.2013 (Asia Report Nr. 245).
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Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
Gesellschaft haben (Wachstumseinbrüche, Umweltbelastungen und Flüchtlinge). Zudem könnte Japan – wie in den 1930er Jahren – dazu verleitet werden, ein etwaiges Machtvakuum in China selbst ausfüllen zu wollen. Stabilität in China ist deshalb ein Kardinalziel der japanischen China-Politik; dabei spielt es keine Rolle, ob diese Stabilität demokratisch fundiert ist. Das zweite Kardinalziel Japans besteht darin, sicherzustellen, dass China Japan wohlgesonnen und generell kooperationsbereit ist. Auch in diesem Zusammenhang ist es aus der Sicht Japans – im Gegensatz zur Perspektive der USA, die sich immer wieder an der Vorstellung orientiert, ein demokratisches China sei sowohl der politischen Stabilität des Landes wie auch einer im Sinne der USA kooperativen Außenpolitik zuträglich – bedeutungslos, welche politische Ordnung China aufweist. Weitaus größer war vor allem in den letzten drei Jahrzehnten Japans Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas; diese gilt Tokio als wesentliche Voraussetzung innenpolitischer Stabilität. Schon bald nach dem Ende des Bürgerkriegs in China suchte Japan die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Volksrepublik. Der Kalte Krieg in Ostasien und die Vorgaben der USA verhinderten jedoch eine Annäherung; Japans China-Politik bemühte sich deshalb nach dem Prinzip der „Trennung von Wirtschaft und Politik“ darum, wenigstens die Handelsbeziehungen zur Volksrepublik so weit wie möglich zu entwickeln. Als die USA dann unter Präsident Richard Nixon – für Japan völlig überraschend – ihre China-Politik revidierten, zog Japan eilends nach: Bereits 1972 traf sich der damalige japanische Ministerpräsident Tanaka Kakuei mit seinem chinesischen Kollegen Zhou Enlai, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu normalisieren. Mit dem Friedens- und Freundschaftsvertrag von 1978 wurde diese Normalisierung dann vollzogen und dabei zugleich die Basis für eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit gelegt. Nach der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni 1989 reagierte der Westen insgesamt mit Wirtschaftssanktionen gegen die Volksrepublik China; Japan konnte sich dem Druck der USA in dieser Frage nicht entziehen, scherte aber schon 1990 als erster der G7-Industriestaaten aus der gemeinsamen Sanktionsfront aus. Zugleich forcierte Tokio seine Bemühungen um regionale Zusammenarbeit in Ostasien, um China so wirtschaftlich wie politisch in die Region zu integrieren. Im Sog der Dynamik der Wirtschaftsentwicklung der Volksrepublik China nach 1978 und insbesondere nach der Bestätigung der Öffnungspolitik 1992 durch Deng Xiaoping vertieften und verbreiteten sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Staaten rasant: Der Umfang des bilateralen Warenhandels erhöhte sich von fünf Milliarden Dollar (1980) und 18,2 Milliarden (1990) auf 83,8 Milliarden (2000)
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und zuletzt rund 312 Milliarden im Jahr 2013.3 Auch der Gesamtumfang der japanischen Direktinvestitionen in der VR China ist in dieser Zeit gestiegen und belief sich Ende 2012 auf rund 98,8 Milliarden Dollar (das entsprach etwa 8,8 Prozent der weltweiten japanischen Direktinvestitionen).4 Damit bildeten die Wirtschaftsbeziehungen bis 2010 den Schwerpunkt im Verhältnis der beiden Staaten zueinander. Eine dramatische Verschlechterung der bilateralen Beziehungen löste 2010 ein Zwischenfall in den Gewässern um die von Japan verwaltete, aber auch von der Volksrepublik China beanspruchte, unbewohnte Senkaku-Inselgruppe aus, bei dem ein chinesischer Fischkutter mit einem japanischen Küstenwachschiff kollidierte. Der Kapitän des Fischerboots wurde zunächst verhaftet, dann auf massiven chinesischen Druck hin freigelassen. 2012 stiegen die Spannungen weiter, nachdem die japanische Regierung sich entschloss, einen bis dahin in Privatbesitz befindlichen Teil der Inselgruppe von den Eigentümern zu kaufen. Die chinesische Regierung reagierte darauf heftig, und es kam zu schweren Ausschreitungen gegen japanische Einrichtungen und Unternehmen in China. Japan reagierte seinerseits zunehmend beunruhigt auf die militärische Aufrüstung Chinas und die wachsende Zahl der Verletzungen des japanischen See- und Luftraumes durch chinesische Schiffe und Kampfflugzeuge.5 In den vergangenen Jahren haben sich deshalb die Gewichte in den bilateralen Beziehungen zunehmend auf den Territorialkonflikt und die Sicherheitspolitik verlagert: Japan bemüht sich erkennbar darum, den chinesischen Machtanspruch in der Region einzuhegen und dazu die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den USA und gleichgesinnten Staaten in der Region (Australien, Vietnam, Indonesien und Indien) zu intensivieren. Zugleich ist Japan jedoch bestrebt, die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen gegen die negativen Auswirkungen des sich verschlechternden politischen Klimas in Ostasien abzuschirmen. Es versucht damit, zu der alten Strategie der Trennung von Wirtschaft und Politik zurückzukehren. Instrumente
Bei den Bemühungen Japans, die Beziehungen zur Volksrepublik China in seinem Sinne zu gestalten, dominierten bislang eindeutig wirtschaftliche Instrumente. Auffallend ist dabei, dass Japan vor allem mit Anreizen operiert und ungern zu Sanktionen greift. Die Leitidee der japanischen Wirtschaftspolitik in Ostasien 3
4 5
Zahlenangaben nach: Hanns Günther Hilpert: China and Japan: Conflict or Cooperation?, in: Hilpert und Haak (Hrsg.): Japan and China, a.a.O. (Anm. 1), S. 32-51 (hier S. 36); Japan External Trade Organization, Japanese Trade and Investment Statistics, (abgerufen am 26.8.2014). Zahlenangaben nach ebd. Vgl. Ministry of Defense: Defense of Japan 2014, Annual White Paper, Part I, Ch. 1, Section 3: China, (abgerufen am 29.8.2014).
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Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
bildete lange das Konzept der „Fluggänse-Formation“: Wie eine Schar von Fluggänsen sollten sich die ost- und südostasiatischen Volkswirtschaften in dynamischen Industrialisierungs- und Modernisierungsprozessen in einer Keilformation gemeinsam voranbewegen – unter Führung Japans, versteht sich. In diesem Konzept spiegeln sich Japans eigene Erfahrungen der nachholenden Modernisierung und Industrialisierung vor und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, die wesentlich vom japanischen Staat orchestriert und vorangetrieben wurden („Entwicklungsstaat/developmental state“).6 Dieses Modell ist grundsätzlich ebenso anwendbar auf autoritäre wie auf demokratische politische Ordnungen; allerdings setzt es in jedem Falle einen starken, aktiven und handlungsfähigen Staatsapparat voraus. Wesentliche Bereiche der Einflussnahme der Politik sind dabei die Geldpolitik und die Kreditvergabe, die Bereitstellung von Technologie und der Außenhandel. Die Idee der Fluggänse-Formation lässt sich als regionale Ausweitung des Konzepts des Entwicklungsstaats begreifen. In seinen Beziehungen zur Volksrepublik China – wie generell zu den Nachbarstaaten in Ost- und Südostasien – war Japan bestrebt, das eigene Entwicklungsmodell zu propagieren und durch die Bereitstellung von Kapital, Technologie und Absatzmärkten materiell zu unterstützen. Wiewohl dies politischen Wandel nicht ausschloss, lag die Vermutung nahe, dass mit Hilfe Japans erfolgreich voranschreitende Entwicklungsprozesse in China zunächst dazu beitragen würden, die politische Ordnung und damit die Führungsrolle der Kommunistischen Partei zu festigen. Die Unterstützung der chinesischen Entwicklungsprozesse durch Japan schien jedoch durchaus geeignet, ein kooperatives Verhältnis zwischen den beiden Staaten herbeizuführen. Die daraus entstehenden Wirtschaftsverflechtungen zwischen Japan, China und den anderen Staaten der Region würden China an Japan binden und die Volksrepublik als kooperativen Akteur in die Region Ostasien integrieren. Zudem würden die Früchte von Wirtschaftswachstum und Entwicklung bei der chinesischen Führung und der Bevölkerung massive materielle Anreize für kooperatives außenpolitisches Verhalten generieren, so die Überlegungen in Japan. Die japanische China-Politik bemühte sich deshalb zunächst um die Vermittlung der entsprechenden „Software“ für die Entwicklung Chinas auf der Basis des japanischen Modells und der japanischen Erfahrungen an die chinesische Führung. Neben Japan hatte allerdings auch die Weltbank, die von amerikanischen und europäischen Ökonomen dominiert wurde, erheblichen Einfluss auf die Entwicklungsstrategie der Volksrepublik. Japan drängte deshalb nachdrücklich auf eine Modifikation der liberalen bzw. neoliberalen Entwicklungsphilosophie der Weltbank im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung der Rolle des Staates in 6
Vgl. die klassische Studie von Chalmers Johnston, MITI and the Japanese Miracle, The Growth of Industrial Policy, 1925-1975, Tokyo 1982. Vgl. auch: Meredith Cumings-Woo, (Hrsg.), The Developmental State, Ithaca, NY 1999.
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wirtschaftlichen Entwicklungsprozessen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war eine Weltbank-Studie zu den Ursachen des Wirtschaftswachstums in Ostasien, die die große Bedeutung des Staates in Entwicklungsprozessen konzedierte und somit zumindest teilweise Japans Vorstellungen entsprach.7 Daneben stellte Japan der Volksrepublik im Rahmen seiner Strategie der Einbindung gewissermaßen als „Hardware“ staatliche Entwicklungshilfe (ODA) vor allem in Form von günstigen Krediten, aber auch von Zuschüssen im Rahmen technischer Zusammenarbeit oder in anderen Formen bereit (siehe Tab. 8). Diese Entwicklungshilfe bereitete japanischen Unternehmen den Weg für Direktinvestitionen. Dadurch erhielt die Volksrepublik Zugang zu modernen Technologien und zu Absatzmärkten für die von japanischen Unternehmen in China erzeugten Produkte, insbesondere in den USA und in Europa. Tabelle 8: Entwicklung der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) Japans für China (Netto-Auszahlungen in laufenden Mio. Dollar)
Schenkungen (davon: technische Zusammenarbeit) zinsbegünstigte Darlehen gesamt
1980
1990
1995
1999
2005
2008
n.v.
201,31
387,87
414,47
n.v.
n.v.
(n.v.)
(163,49)
(304,75)
(348,79)
(n.v.)
(n.v.)
n.v.
521,71
992,28
811,50
n.v.
n.v.
4,2
723,02
1.380,15
1.225,97
1.064,27
278,25
(6,4)
(35,6)
(39,8)
(51,5)
(58,6)
(18,7)
(in Prozent der gesamten ODA Japans n.v. = Daten nicht verfügbar Quellen: Weltbank, und (abgerufen am 16. 8.2014); Ministry of Foreign Affairs of Japan, Economic Cooperation Program for China, 2001, (abgerufen am 16.8.2014).
Welche Bedeutung Japan diesen wirtschaftlichen Komponenten seiner China-Politik zumaß, zeigt ihr Umfang. Nach Angaben des japanischen Außenministeriums stellte Japan von 1979 bis 2005 insgesamt über drei Billionen Yen (nach derzeitigem Wechselkurs etwa 30 Milliarden Dollar) zinsbegünstigte Kredite sowie 150 Milliarden Yen für technische Hilfe und Zuschüsse in anderer Form (jeweils rund 1,33 Milliarden Dollar) zur Verfügung.8 Wie 7 8
The East Asian Miracle, Economic Growth and Public Policy, New York 1993 (World Bank Policy Research Report). Ministry of Foreign Affairs of Japan, Overview of Official Development Assistance (ODA) to China, (abgerufen am 16.8.2014).
198
Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
Tab. 8 zeigt, floss insbesondere in den Jahren 1990 bis 2005 der Löwenanteil japanischer Entwicklungshilfe in die Volksrepublik. Die Direktinvestitionen japanischer Unternehmen in China zogen etwas später, ab Mitte der 1990er Jahre, nach; sie stiegen jedoch – im Gegensatz zur Entwicklungshilfe, die nach 2005 rasch zurückging und dann 2009 auslief – bis in die jüngste Gegenwart kontinuierlich weiter an. Ende 2012 betrug der Gesamtwert der japanischen Direktinvestitionen in China rund 98,1 Milliarden Dollar (das sind 8,8 Prozent der gesamten Auslandsdirektinvestitionen japanischer Unternehmen). Zeitweilig konzentrierte sich auch bei den japanischen Direktinvestitionen im Ausland ein außerordentlich hoher Anteil (bis zu 40 Prozent) auf die Volksrepublik, wenngleich hier deutlich größere Schwankungen zu verzeichnen waren als bei der japanischen Entwicklungshilfe (siehe Tab. 9).9
Tabelle 9: Entwicklung der japanischen Direktinvestitionen in China (in Mrd. Dollar) 1990
1995
2000
2005
2010
2013
japanische ADI in China
0,407
8,447
2,132
16,188
22,131
40,470
Japan. ADI weltweit
48,024
22,651
31,534
45,461
57,223
135,049
(in Prozent)
(0,8)
(37,3)
(6,7)
(35,6)
(38,7)
(30,0)
japanische ADI in Prozent aller ADI in China)
(11,7)
(23,6)
(5,6)
(14,6)
(8,1)
(11,6)
Quellen: Japan External Trade Organization (JETRO), (abgerufen am 28.8.2014); Weltbank, (abgerufen am 28.8.2014).
Die China-Politik in der innenpolitischen Auseinandersetzung
Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und seiner offensiveren Regionalpolitik ist auch die japanische China-Politik innenpolitisch kontrovers geworden. Nach der Machtübernahme der Demokratischen Partei Japans (DPJ) 2009 bemühte sich ihr erster Ministerpräsident Yukio Hatoyama um eine nachhaltige Verbesserung der Beziehungen zu China und sprach sich – zur Irritation Washingtons – für eine „ostasiatische Gemeinschaft“ unter Ausschluss der USA aus. China ignorierte allerdings diese Offerten. Mit der Rückkehr der LDP 9
Möglicherweise auch unter dem Eindruck der politischen Spannungen zwischen Japan und China gingen die japanischen Investitionen in China seit 2013 aber deutlich zurück. Vgl. hierzu insgesamt die Angaben von JETRO unter https://www.jetro.go.jp/en/news/releases/20140807856-news/tables.pdf (abgerufen am 27.9.2014).
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an die Macht gewannen insbesondere unter Ministerpräsident Shinzoˉ Abe (im Amt seit 2012) konservativ-nationalistische Kräfte in Japan an Gewicht. Sie drängen auf eine Revision der pazifistischen Nachkriegsverfassung und eine robustere Verteidigungspolitik. Abe entsprach dem durch neue Akzente in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik (wie etwa die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats oder die Verschärfung der Geheimhaltungsvorschriften) sowie durch seinen national wie international scharf kritisierten Besuch des Yasukuni-Schreins, an dem unter anderem auch der verurteilten japanischen Kriegsverbrecher des Pazifik-Krieges gedacht wird. Seit langem ist die Geschichte der chinesisch-japanischen Beziehungen nicht nur zwischen China und Japan, sondern auch in der japanischen Innenpolitik umstritten. Dabei geht es vor allem um die Bewertung der japanischen Invasion zunächst der Mandschurei und dann des eigentlichen Territoriums Chinas sowie der Kriegsverbrechen, die sich das japanische Militär zu Schulden kommen ließ. Immer wieder gab es Äußerungen prominenter konservativer Politiker in Japan, die die Kriegsschuld Japans und seine Kriegsverbrechen zu relativieren oder ganz zu ignorieren versuchten. Dies belastete regelmäßig die Beziehungen zu China, aber auch zu Südkorea. Die Linke in Japan dagegen kritisierte diese Versuche, das japanische Verhalten in der Vergangenheit schön zu reden. Es erscheint allerdings fraglich, ob sich die japanische China-Politik tatsächlich dazu eignet, nachhaltig innenpolitische Unterstützung zu mobilisieren. Zwar hat sich die Einstellung der japanischen Bevölkerung gegenüber der Volksrepublik China in den letzten Jahren (wie auch umgekehrt die der chinesischen Bevölkerung gegenüber Japan) deutlich verschlechtert, und die nationalistischen Appelle konservativer Kräfte scheinen einen gewissen Widerhall zu finden. Doch haben die wirtschaftlichen Verflechtungen der beiden Volkswirtschaften insbesondere für Japan weiterhin große Bedeutung, und die japanischen Wirtschaftsverbände stehen der gegenwärtigen Regierungspolitik skeptisch gegenüber. Japans China-Politik dürfte deshalb auch in Zukunft vor allem durch wirtschaftliche und geopolitische Erwägungen sowie bündnispolitische Rücksichtnahmen auf Amerika bestimmt werden, bei denen der Charakter der politischen Ordnung der Volksrepublik China keine Rolle spielen wird. Japan und Nordkorea Die koreanische Halbinsel hat traditionell außerordentliche Bedeutung für Japans Sicherheit: Sie bildet die wichtigste Verbindung zum asiatischen Festland und diente daher wiederholt als Einfallstor in das japanische Archipel. Zugleich stellt Korea eine geopolitische Pufferzone zwischen Japan und China dar. Nach dem Ende des Pazifik-Krieges (und damit der japanischen Kolonialherrschaft über die gesamte koreanische Halbinsel) sah sich Japan bald mit dem KoreaKrieg und danach mit zwei koreanischen Staaten konfrontiert, der kommuni-
200
Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
stisch-totalitären Demokratischen Volksrepublik im Norden und der diktatorisch beherrschten Republik Korea im Süden. Der Korea-Krieg zeigte, wie rasch politische Instabilität und gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Halbinsel Japan in Konflikte hineinziehen und gefährden konnten; die Stabilität der koreanischen Halbinsel und ihre Kontrolle durch Japan zumindest neutral, besser noch wohlwollend gegenüberstehende Kräfte sind daher wie in China, so auch auf der koreanischen Halbinsel Japans außenpolitische Kardinalziele. Wie im Falle Chinas ist dabei für Japan die Frage der jeweiligen politischen Ordnungen in Korea zweitrangig, wenn nicht bedeutungslos. Wie wenig gewichtig dieser Faktor in der Außenpolitik Japans bis heute geblieben ist, zeigt das Verhältnis Japans zu Südkorea, das – jedenfalls auf der zwischenstaatlichen Ebene – kaum je besser gewesen sein dürfte als Mitte der 1960er Jahre zu Zeiten der Militärdiktatur von Präsident Park Chung-hee und kaum je schlechter als heute, wo in Seoul seine Tochter als demokratisch gewählte Präsidentin regiert. Zielsetzungen Japans gegenüber Nordkorea
Im Umgang mit dem totalitären Regime in Pjöngjang ging es Japan in den letzten Jahren vor allem um drei Themen: das nordkoreanische Atomwaffenprogramm, japanische Wirtschaftshilfe für Pjöngjang im Kontext einer Normalisierung der Beziehungen und das Schicksal von japanischen Staatsbürgern, die in den letzten Jahrzehnten von nordkoreanischen Agenten entführt und nach Nordkorea verschleppt wurden. Dabei standen die Bemühungen Japans, auf Nordkorea einzuwirken, im Kontext zweier wichtiger Entwicklungen in der Region, die Ostasien seit Ende des Kalten Krieges prägen: die Systemkrise der nordkoreanischen Wirtschaft, die Mitte der 1990er Jahre in einer schweren Hungersnot mit Hunderttausenden Toten gipfelte, und die geopolitischen Machtverschiebungen im Gefolge des Aufstiegs der Volksrepublik China. Die (bis heute andauernde) Krise der nordkoreanischen Volkswirtschaft zwang Pjöngjang dazu, Hilfe aus dem Ausland zu suchen; sein Kernwaffenprogramm erlaubte es ihm aber auch, Verhandlungen mit den wichtigen Mächten in Ostasien und den USA mit einer starken Trumpfkarte zu führen. Und mit dem Aufstieg Chinas in Ostasien übernahm Peking zunehmend die Führungsrolle von Washington bei Verhandlungen mit Nordkorea. Mit Wirtschaftshilfen garantierte China immer wieder das Überleben der nordkoreanischen Volksrepublik. In den diplomatischen Bemühungen zwischen Pjöngjang und den großen Mächten in Ostasien (China, Japan, USA) ging es um die Einhegung des nordkoreanischen Kernwaffenprogramms im Austausch gegen wirtschaftliche Unterstützung für das Regime in Pjöngjang. Die gemeinsamen Erklärungen, die aus diesen Verhandlungen 2005 und 2007 hervorgingen, scheiterten allerdings jeweils rasch in der Umsetzungsphase. Mit seinem ersten Kernwaffentest am 9. Oktober 2006 stellte sich Pjöngjang dann offen gegen die internationale Staatengemeinschaft; der Sicherheitsrat der Vereinten
Hanns W. Maull
201
Nationen verhängte daraufhin Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea, die auch Japan mitträgt. Instrumente Japans im Umgang mit Nordkorea
Sanktionen spielen im Instrumentenkasten der japanischen Außenpolitik gegenüber Nordkorea eine deutlich größere Rolle als im Verhältnis zu China. Japan unterstützt die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeordneten Maßnahmen in vollem Umfang. Sie betreffen den Finanz- und Personenverkehr zwischen Japan und Nordkorea. Wie auch im Verhältnis zur Volksrepublik China, agiert Tokio dabei auf der Grundlage seiner bilateralen Sicherheitsvereinbarungen mit den USA, die Japans Sicherheit vor allem durch Abschreckung, aber auch durch eine gemeinsame Verteidigungsfähigkeit gewährleisten sollen. Die Rücksichtnahme auf den Sicherheitsvertrag und den Sicherheitspartner Amerika sowie auch die Interessen Südkoreas, des zweiten Partners der USA in Ostasien, beengt Japans eigenständigen Handlungsspielraum gegenüber Nordkorea.10 Dabei hat Tokio aber auch immer wieder versucht, Pjöngjang durch wirtschaftliche Anreize zur Kooperation zu bewegen, bislang allerdings erfolglos. Die bemerkenswertesten Initiativen waren der Besuch einer hochrangigen LDPDelegation unter Führung von Kanemaru Shin (1990) sowie die Gipfeltreffen zwischen Ministerpräsident Jun‘ichiroˉ Koizumi und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-il (2002 und 2004). In beiden Fällen scheiterten die Bemühungen um Entspannung, Normalisierung und finanzielle Entschädigung am ungeklärten Schicksal der von Nordkorea entführten bzw. in Nordkorea gegen ihren Willen festgehaltenen japanischen Staatsbürger. Innenpolitische Einflüsse auf die japanische Nordkorea-Politik
Innenpolitische Bedeutung für Japans Nordkorea-Politik haben vor allem zwei Interessengruppen: die mit Nordkorea sympathisierenden, in Japan lebenden Koreaner, die in der Generalversammlung der Koreaner in Japan (bekannt als Chongryon bzw. Choˉsen Soˉren, abgekürzt nach der Bezeichnung der Organisation in koreanischer bzw. japanischer Sprache) organisiert sind, sowie die politisch einflussreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Familienangehörigen der nach Nordkorea entführten bzw. dort festgehaltenen Japaner. Choˉsen Soˉren hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Mitgliedern und Einfluss verloren; offensichtlich wenden sich immer mehr der in Japan lebenden Koreaner von Nordkorea ab. 2012 verurteilte ein japanisches Gericht 10 Vgl. Christopher W. Hughes, Japans’s Re-emergence as a Normal Military Power, London 2004 (IISS Adelphi Paper Nr. 368-369).
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Japan und die nordostasiatischen Volksrepubliken
die Organisation dazu, ihr Vermögen aufzulösen, um angehäufte Schulden von über 750 Millionen Dollar zurückzuzahlen. Chosen Soren fungiert als inoffizielle Botschaft Nordkoreas in Japan und unterhält koreanische Schulen. Sie organisiert daneben eine Reihe von Dienstleistungen für Japaner koreanischer Abstammung, insbesondere – bis 2006, als die japanische Regierung dies als Sanktion auf Nordkoreas Nukleartests untersagte – eine wöchentliche Fährverbindung von Japan nach Nordkorea, und ist nicht zuletzt im Glücksspielgeschäft (Pachinko) aktiv. Dabei werden der Chosen Soren auch Verbindungen zur japanischen Unterwelt (den Yakuza) nachgesagt, die wiederum über Verbindungen ins rechtsextreme Lager und in die LDP hinein verfügt. Finanztransfers aus der Organisation wie auch von japanischen Koreanern an Familienangehörige in Nordkorea und an das Regime bilden eine wohl insgesamt rückläufige, nach wie vor aber nicht zu unterschätzende Quelle von Deviseneinnahmen für Pjöngjang, die sich von der japanischen Regierung zwar einschränken, aber nur schwerlich ganz verhindern lassen.11 Größeres politisches Gewicht haben inzwischen die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Familienangehörigen entführter Japaner. Insbesondere der gegenwärtige Ministerpräsident und LDP-Politiker Abe hat dieses Thema immer wieder aufgegriffen, um sich damit innenpolitisch zu profilieren. Seine harte Linie gegenüber Nordkorea in der Entführungsfrage verbindet er mit anderen Themen – wie dem Umgang Japans mit seiner kolonialen und militaristischen Vergangenheit in Korea und dem Besuch des Yasukuni-Schreins –, um sich so die Unterstützung der konservativen und nationalistischen Kräfte innerhalb der eigenen Partei und darüber hinaus zu sichern. Schlussfolgerungen Der autokratische Charakter von Staaten spielt für die japanische Außenpolitik insbesondere in der eigenen Region kaum eine Rolle. Ihre wesentlichen Bestimmungsfaktoren sind vielmehr die geopolitischen Gegebenheiten in Ostasien, die geschichtspolitische Hypothek, die Japans politische Elite aufgrund ihres unzureichenden Umgangs mit der eigenen Geschichte in den Augen seiner Nachbarn in China und Korea trägt, und das Sicherheitsbündnis Japans mit den USA. Dabei ist das oberste Ziel der japanischen Politik in der Region die Wahrung eines Höchstmaßes an Stabilität und Kontinuität in einer Region – und einer Welt – im Umbruch. Im Umgang mit China und Nordkorea setzt Japan vor allem auf wirtschaftliche Instrumente – gegenüber China primär auf Anreize, gegenüber Nordkorea vor allem auf Sanktionen. Bislang erwiesen sich diese Mittel allerdings als wenig wirkungsvoll; seine strategischen Zielsetzungen konnte Japan damit nur sehr 11 Rust M. Deming, The Politics of North Korea in Japan, (abgerufen am 18.8.2014).
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wenig voranbringen. Dies gilt gleichermaßen für Japans Strategie der wirtschaftlichen Anreize und Einbindung der Volksrepublik China wie für seine Sanktionen gegenüber Nordkorea. Innenpolitische Interessengruppen spielen in der japanischen Außenpolitik eine untergeordnete Rolle; die japanische Außenpolitik gegenüber den beiden kommunistisch regierten Nachbarstaaten hatte bislang innenpolitisch weitgehende Handlungsfreiheit. Der problematische Umgang japanischer Politiker mit der Vergangenheit Japans in China seit 1931 und dann im Pazifik-Krieg erwies sich dagegen seit längerem als eine gewichtige Hypothek für die japanische Außenpolitik. Die Folge sind Vorbehalte und Misstrauen Japan gegenüber in den Nachbarstaaten, die sich dort wiederum politisch mobilisieren und instrumentalisieren lassen. Vor allem das japanische Verhältnis zu Südkorea leidet darunter, aber auch in den chinesisch-japanischen Beziehungen hat es Peking immer wieder verstanden, Japans Geschichte für seine eigenen Zwecke politisch zu nutzen.
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Frei von kolonialer Geschichte1 und stärker als jedes andere Land der Erde in internationale Organisationen integriert, wurde das bilinguale Kanada lange als „ehrlicher Vermittler“ angesehen. Die kanadischen Blauhelme waren Ausdruck einer auf Ausgleich bedachten Politik. Doch mit dem Antritt der Harper-Regierung hielt 2006 ein neues Vokabular Einzug in die Außenpolitik. „Prinzipienfest“ sollte diese sein, von „Handeln statt Worten“ geprägt werden. „Prinzipienfeste“ Lautsprecher-Politik Das war eine deutliche Abkehr von der Diplomatie der Vorgängerregierungen. Vorher wurden Meinungsverschiedenheiten mit anderen Staaten, wie es diplomatisch Usus ist, nicht vor einer internationalen Öffentlichkeit verhandelt. Ohne Kenntnisse dieser Gepflogenheiten2 war es wenig verwunderlich, dass die „prinzipienfeste“ Lautsprecher-Politik der neuen Regierung bei in- und ausländischen Politikern und Experten anfänglich für Stirnrunzeln sorgte.3 Beobachter rechneten anfänglich damit, dass durch die Wahlschlappe bei der Bewerbung um einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat 2010 ein Umdenken der Regierung erfolgen und die kanadische Diplomatie zukünftig wieder verstärkt multilateral agieren würde. Nach der Bildung der 1 2
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Wenn man – wie auch im Fall der USA, Australiens und Neuseelands – von den Beziehungen zu seiner indigenen Bevölkerung absieht. In den ersten zwei Regierungsjahren hatte Kanada neben einem Premierminister, der vor seiner Wahl noch nie Nordamerika verlassen hatte, insgesamt vier (!) Außenminister. Darüber hinaus fehlte es dem Kabinett und Beraterstab an Personen mit außenpolitischen Erfahrungen. Vgl. John Ibbitson, The Big Break. The Conservative Transformation of Canada’s Foreign Policy, CIGI Paper 29, Waterloo 2014, S. 9. Ähnlich wie in Deutschland, wo das Bundeskanzleramt in den vergangenen Jahren stetig an Bedeutung für die Außenpolitik gewonnen hat, hat sich der Machtzuwachs des von politischen Beratern besetzten Prime Minister’s Office (PMO) gegenüber Außen- und Verteidigungsministerium sowie dem von Beamten besetzten Privy Council Office (PCO) verstärkt.
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Mehrheitsregierung 2011 zeigte sich jedoch, dass dies ein Trugschluss war. Stephen Harper und sein Team nutzten in den vergangenen vier Jahren den hinzugewonnenen Gestaltungsspielraum, um die außenpolitische Kurskorrektur zu verstetigen. Mit Blick auf das Verhältnis zu autokratischen Regimen haben sich vier Leitlinien herauskristallisiert: Erstens werden Autokratien aufgrund der geografischen Lage Kanadas nicht als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen. Zweitens wird Demokratieförderung als zu teuer und ineffektiv angesehen. Drittens wird die Politik gegenüber autokratischen Regimen nicht multilateral abgestimmt, sondern unilateral betrieben. Viertens hängt es vom wirtschaftlichen Potenzial der Staaten und der politischen Bedeutung entsprechender Diasporagruppen in Kanada ab, ob autokratische Regime mit Sanktionen belegt werden oder nicht. Sicherheitspolitik Das International Policy Statement der liberalen Regierung von 2005, welches den sicherheitspolitischen Fokus auf gescheiterte Staaten legte, wanderte unter der Regierung Harper in den Giftschrank. Zwei Jahre nach Amtsantritt wurde mit der Canada First Defence Strategy (CFDS) ein neues Weißbuch vorgelegt. Die Umsetzung des von manchen eher als Einkaufsliste denn echte Strategie belächelten Dokuments hat zu einer paradoxen Entwicklung geführt: Einerseits wurde zunächst der Verteidigungshaushalt bis zum Haushaltsjahr 2012 deutlich erhöht. Andererseits wurde seit dem Ende des ISAF-Einsatzes in Afghanistan – abgesehen von einem eher symbolischen Beitrag zur Libyen-Mission – der Verteidigungsschwerpunkt auf den nordamerikanischen Luftraum und die Kontrolle der arktischen Gewässer verengt und die militärische Schlagkraft trotz weiterer Mittel nicht gesteigert. Der hemisphärische Isolationismus begrenzt seitdem die internationale Rolle der kanadischen Streitkräfte. Dabei hat es die Regierung in den vergangenen Jahren mit symbolischen Schritten wie Militärparaden, der Wiedereinführung des Präfix „Royal“ für die Luftwaffe und Marine sowie der Umbenennung des nationalen Highways 401 in „Highway of Heroes“ geschafft, sicherheitspolitischen Aktionismus zu simulieren und hierdurch gute Umfragewerte zu erzielen.4 Doch der Schein trügt: Das Verteidigungsministerium musste in den vergangenen zwei Jahren mehr als zwei Milliarden Dollar an Einsparungen verkraften. Hierdurch ist die Einsatzbereitschaft zwischenzeitlich – wie in Deutschland – eingeschränkt. Jüngster Beleg ist die Ankündigung des Verteidigungsministers, dass die für Luftschläge gegen den Islamischen Staat (IS) bereitgestellten CF18 Kampfflugzeuge maximal sechs Monate an Einsätzen teilnehmen könnten. Obwohl sie schon im Oktober 2014 in Kuwait stationiert wurden, sind mit 4
Defence Policy in Canada. Strong. Proud. Ready?, in: The Economist, 3.8.2013.
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ihnen bis Mitte November 2014 noch keine Angriffe gegen den IS geflogen worden. Haushaltskürzungen betreffen jedoch in viel größerem Maße jene Bereiche, die im Zentrum der außenpolitischen Auseinandersetzung mit autokratischen Staaten standen. Das Ende der Demokratieförderung Das institutionelle Gefüge aus staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, das sich der Demokratieförderung verschrieb, ist seit 2010 durch die konservative Regierung massiv umgestaltet worden. Budgetkürzungen im Außenministerium und reduzierte Zuweisungen an Projektträger erschweren seitdem die Programmarbeit. Dass die politische Arbeit gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung bilateraler Beziehungen in den Hintergrund rückt, dokumentieren Botschaftsschließungen in Bosnien-Herzegowina und Kambodscha. Die jüngste Chronologie liest sich wie folgt: 2012 wurde die dem Außenministerium unterstehende Behörde Rights & Democracy per Regierungsbeschluss geschlossen. Das Entwicklungshilfeministerium (CIDA) wurde ein Jahr später in das neue Außenministerium – nun Department of Foreign Affairs, Trade and Development (DFATD) genannt – eingegliedert. Die bisherige Arbeit der beiden Ministerialabteilungen für Demokratieförderung kam damit zum Erliegen.5 Im September 2014 verkündete zudem der Vorstand des renommierten NorthSouth Institute (NSI), dass die Einrichtung ihre Tätigkeit aufgrund fehlender Regierungsmittel zum Jahresende beenden würde. Das ist insofern ironisch, als ihre Vertreter die bisherigen Reformen noch im vergangenen Jahr öffentlich als eine Möglichkeit ansahen, die Außenpolitik stringenter zu machen.6 Ebenso wie das NSI kämpfen weitere NGOs um das wirtschaftliche Überleben. So beschränkt sich die außenpolitische Auseinandersetzung mit autokratischen Staaten zwischenzeitlich auf ihr Potenzial für den bilateralen Handel.
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Die Arbeit von Ministerialabteilungen für Demokratieförderung im Außen- und Entwicklungshilfeministerium wurde bis in jüngste Zeit von zahlreichen kanadischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) unterstützt, die in der Entwicklungszusammenarbeit sowie Menschenrechts- und Demokratieförderung tätig sind. Hierzu gehörten die über 70 Mitgliedsorganisationen des NGO-Dachverbands Canadian Council for International Cooperation (CCIC) sowie weitere renommierte Institutionen wie das North-South Institute (NSI) oder das Forum of Federations (FoF). Vgl. Nicholas Galletti, Marc Lemieux, The Dismantling of Canadian Democracy Promotion, Brick by Brick, in: The Globe and Mail, 29.12.2010; Michael Petrou, CIDA, DFAIT and Promoting Democracy Abroad, in: Maclean’s, 6.2.2012; Haroon Siddiqui, Prime Minister Harper Muzzles Diplomats and Foreign Agencies, in: Toronto Star, 7.4.2012. Jennifer Erin Salahub, DFATD Could be Good for Fragile States, in: The Ottawa Citizen, 28.3.2013, sowie Joseph Ingram, Aniket Bhushan, Thinking Bigger on Development, in: The Ottawa Citizen, 5.4.2013, S. B7.
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Bi- statt Multilateralismus Die wichtigen außenpolitischen Entscheidungen in Kanada werden von einem immer kleineren Zirkel im Büro des Premierministers und einigen Abteilungen des Außenministeriums vorbereitet. Dieses Vorgehen findet seine Entsprechung in der Wahl der diplomatischen Mittel. Außenpolitik wird auf allen Feldern bevorzugt bilateral betrieben, multilaterale Foren werden hingegen gemieden. Nach dem Scheitern der Doha-Runde der WTO wurde so eine aggressive bilaterale Freihandelspolitik verfolgt, die zu zahlreichen neuen Freihandelsabkommen führte. Mit Honduras, Peru, Jordanien, Kolumbien, Panama und den EFTAStaaten traten seit 2009 bilaterale Vereinbarungen in Kraft. Abgeschlossen sind die Verhandlungen mit der EU und Südkorea; die Gespräche mit Indien, Japan, Marokko, Singapur und der Ukraine sind weit gediehen. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, La Francophonie oder der Commonwealth werden gemäß der neuen Regierungslinie entweder ignoriert oder mit der Drohung, die Mitgliedszahlungen einzustellen oder auszutreten, bedrängt.7 Insbesondere die Vereinten Nationen gelten den Konservativen als Quasselbude und Versammlungsort autokratischer Führer. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit ihnen sei nicht möglich. Sowohl der Premierminister als auch sein Außenminister haben in den vergangenen drei Jahren in Reden vor der Generalversammlung harsche Kritik an der Organisation geübt und den bisherigen diplomatischen Konsens aufgekündigt, mit allen Staaten zu sprechen. Man wolle sich, so Harper und Baird, nicht mit allen Amtskollegen arrangieren und verzichte daher in einigen Fällen gänzlich auf den diplomatischen Austausch. Diasporagruppen In diesem Punkt vermischt sich die werteorientierte Rhetorik der Außenpolitik häufig mit dem Ansinnen, innenpolitisch zu punkten.8 In Kanada ist der Einfluss von Einwanderergruppen auf die Außenpolitik stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Zu den einflussreichsten Diasporagruppen zählen Han-Chinesen aus der Volksrepublik China inklusive Hongkong (1,4 Millionen), Kanadier mit ukrainischen Wurzeln (1,2 Millionen) oder indischen Ursprungs (600 000) sowie Tamilen aus Sri Lanka (400 000), Filipinos (300 000) und Vietnamesen
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John Baird, Address by Minister Baird to United Nations General Assembly, New York, 1.10.2012; Address by Minister Baird to the United Nations General Assembly, New York, 30.9.2013. David Carment, David Bercuson (Hrsg.), The World in Canada: Diaspora, Demography, and Domestic Politics, Montreal/Kingston 2008.
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(250 000).9 Ferner bestehen im Rahmen der ministeriellen Umstrukturierung Regierungskontakte zu sudanesischen und haitianischen Einwanderern.10 Die Einwanderer aus asiatischen Ländern, vor allem China, emigrieren heute mehrheitlich nicht mehr als politische Flüchtlinge nach Kanada, sondern stammen aus der oberen, regierungsnahen Mittelschicht ihrer Ursprungsländer. Pekingtreue Investoren oder Studenten sind insbesondere in Westkanada keine Seltenheit. Ostasiatische Einwanderer wünschen daher gute bilaterale Beziehungen zu den Herkunftsländern. Die Tamilen und ukrainisch-stämmigen Kanadier sind hingegen dezidiert Sri Lanka- bzw. Russland-kritisch. Das ist auch Premierminister Stephen Harper nicht verborgen geblieben. Motiviert durch die tamilische Diaspora sagte Ottawa 2013 den Besuch des Commonwealth-Gipfels in Sri Lanka aufgrund von Menschenrechtsverstößen der Regierung in Colombo ab – wissend, dass damit im Speckgürtel von Toronto politisch gepunktet werden konnte. Im Zuge der Ukraine-Krise haben sich Außenminister Baird und Regierungschef Harper früher als alle anderen westlichen Regierungsvertreter auf die Seite der prowestlichen Kräfte in Kiew gestellt.11 Die mit den USA und europäischen Partnern gemeinsam verhängten Sanktionen wurden durch zusätzliche unilaterale Maßnahmen verschärft. Sieben Sanktionspakete, bestehend aus Einreiseverboten und dem Einfrieren von Konten, wurden seit März 2014 verabschiedet.12 Handel, Handel, Handel Gleichzeitig kommen Zweifel am bedingungslosen Eintreten für Menschenrechte und Demokratie in Autokratien auf, wenn man bestehende Sanktionsregime mit den einschlägigen Wirtschaftsdaten abgleicht. In der Debatte über die Beziehungen zu Russland hat der Premierminister den Konflikt zwischen Wirtschaftsinteressen und einer werteorientierten Außenpolitik klar benannt: „Die eingeleiteten Schritte sind nicht ohne sorgfältige Berücksichtigung ihres möglichen Einflusses auf die Interessen kanadischer Unternehmen erfolgt. Wie unsere Verbündeten stellen wir unsere nationalen Interessen an die erste Stelle
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National Household Survey, Immigration and Ethnocultural Diversity in Canada, Ottawa 2011; The Mosaic Institute, Walter and Duncan Gordan Foundation, Tapping Our Potential. Diaspora Communities and Canadian Foreign Policy, Toronto 2011; John Ibbitson, Harper’s Foreign Policy: Ukraine and the Diaspora Vote, CIGI, Waterloo, 13.3.2014. 10 Manuelle Chanoine, Meredith Giel, Tâmara Simão, Effectively Engaging Diasporas Under the New Canadian Department of Foreign Affairs, Trade and Development, CIGI, Waterloo 2013. 11 Stephen Harper, PM Delivers Remarks at the United for Ukraine Gala, Toronto, 11.9.2014. 12 DFATD, Current Sanctions Measures, Ottawa, (abgerufen am 20.10.2014).
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– aber wir werden es nicht zulassen, dass Unternehmerinteressen allein unsere Außenpolitik diktieren.“13 Ein Blick auf die Außenhandelszahlen der vergangenen Jahre zeigt, dass die unnachgiebige – oder prinzipienfeste – Politik gegenüber Autokratien nur dann vollzogen wurde, wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen wie im Fall Russlands begrenzt oder – in den Fällen Irans oder Nordkoreas – nicht existent waren. Ohne nennenswerte wirtschaftliche Verflechtungen und eine innenpolitisch relevante Zahl an iranisch-stämmigen Kanadiern brach die Regierung mit der Schließung seiner Botschaft in Teheran und der Ausweisung aller iranischen Diplomaten im September 2012 die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab. Zwei Jahre zuvor hatte die Harper-Regierung die Beziehungen zu Nordkorea faktisch eingefroren. Lediglich konsularische Dienste, regionale Sicherheitsfragen und Menschenrechtsfragen werden über den kanadischen Botschafter in Seoul abgewickelt. Begleitet wurden diese Schritte durch einseitige Wirtschaftssanktionen und Einreiseverbote für die politischen und wirtschaftlichen Eliten beider Länder.14 Hingegen haben sich mit der Normalisierung der Beziehungen zur Volksrepublik China ab 2010 die kanadischen Exporte mehr als verdoppelt. Im Umgang mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht musste die kanadische Regierung gleichwohl Lehrgeld zahlen. Auf dem APEC-Gipfel in Vietnam 2006 sprach Stephen Harper mit der chinesischen Delegation nicht nur über die Wirtschaftsbeziehungen, sondern thematisierte auch die Menschenrechtssituation in China.15 Kurze Zeit später empfing er den Dalai Lama in Ottawa mit tibetischer Flagge auf seinem Schreibtisch – ein Affront für die chinesische Regierung und die in Kanada akkreditierten Diplomaten.16 Was viele NGO-Vertreter anfangs mit einer Mischung aus Erstaunen und Wohlwollen zur Kenntnis nahmen, stellte sich aus Sicht der Regierung bald als politische Fehlkalkulation heraus. Die Annahme, wirtschaftliche Beziehungen zu politisch ungeliebten Ländern aufrechterhalten oder gar ausbauen zu können, war mit einer solch gradlinigen Außenpolitik nicht möglich. Hatten manche (vermeintliche) China-Kenner gemutmaßt,17 dass Kanada wirtschaftlich zu bedeutend 13 Stephen Harper, Our Duty is to Stand Firm in the Face of Russian Aggression, in: The Globe and Mail, 25.7.2014. 14 DFATD, Canada-Iran Relations, (abgerufen am 20.10.2014); Canada-Democratic People’s Republic of Korea, (abgerufen am 20.10.2014). 15 Mark Mackinnon, How Harper’s Foreign Policy Focus Evolved from Human Rights to the ‘Almighty Dollar’, in: The Globe and Mail, 27.11.2013, S. A5. 16 Paul Evans, Canada-China Relations: Growing Connectivity and Friction, in: Fen Osler Hampson und Paul Heinbecker (Hrsg.), Canada among Nations 2009-2010 – As Others See Us, Montreal/Kingston 2010, S. 124. 17 Ein Beispiel für eine solche Fehleinschätzung stammt von Bruce Gilley, Reawakening Canada’s China Policy, Canadian Foreign Policy Journal, 14 (2008) 2, S. 121-130.
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sei, um von Peking ignoriert werden zu können, sprachen die Wirtschaftsdaten eine klare Sprache: Während die Importe aus der Volksrepublik rasant stiegen, stagnierten die Exporte; 2009 sanken sie sogar unter das Niveau des Vorjahres.18 Selbst im Fall weniger bedeutender autokratischer Staaten, wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), musste die Harper-Regierung aus Schaden klüger werden. Da sie ihre Ablehnung zusätzlicher Start- und Landerechte für die Fluglinien Etihad und Emirates von und nach Toronto 2010 über die Presse bekanntgab, ohne Abu Dhabi informiert zu haben, folgte die symbolische Sanktion postwendend: Der Vertrag für Camp Mirage, Nachschubbasis für den Afghanistan-Einsatz, wurde nicht verlängert und Verteidigungsminister Peter MacKay die Zwischenlandung auf dem Rückweg vom Hindukusch untersagt, sodass sein Flug umgeleitet werden musste.19 Der ersten diplomatischen Ohrfeige folgte postwendend der zweite Affront: Vertreter der VAE bei den Vereinten Nationen erklärten, man habe dafür geworben, Ottawas Kandidatur für einen nichtständigen Sicherheitsratssitz nicht zu unterstützen.20 Bekanntlich unterlag Kanada Deutschland und Portugal bei der Wahl 2010 um die zwei für die Periode 2011/12 zur Verfügung stehenden Sitze für westliche Staaten.21 Seitdem ist jedoch der Außenhandel mit den VAE, auch der mit SaudiArabien und Kasachstan, deutlich gestiegen. So betragen die Ausfuhren in die VAE seit vergangenem Jahr mehr als jene nach Russland. Ein Anfang 2014 zwischen dem kanadischen Zweig von General Dynamics und der Regierung in Riad geschlossener Rüstungsdeal über zehn Milliarden Dollar wertete die bilateralen Handelsbeziehungen zu Saudi-Arabien massiv auf.22 Schließlich hat sich der Austausch mit Almaty so rasant entwickelt, dass die Importe aus Kasachstan 2013 – in der Hauptsache Bergbauprodukte – das Fünffache der Einfuhren aus Russland betrugen. Dass die kanadische Außenpolitik Abstriche bei ihrer Prinzipienfestigkeit macht, zeigt sich auch, wenn nationale Interessen wie die Energieversorgung der Ostprovinzen berührt werden. So betrugen die Einfuhren aus Algerien – hauptsächlich Öl und Gas – in den vergangenen Jahren mehr als jene aus Indien, Brasilien und Russland zusammengenommen.
18 Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD), Monthly Statistics of International Trade, Paris, 12/2010 und 12/2012. 19 Daniel Leblanc, Jane Taber, UAE Banishes Canada from Base, Blocks MacKay from Its Airspace, in: The Globe and Mail, 11.10.2010. 20 Doug Sanders, Canada Said Things, But Just Wasn’t There, in: The Globe and Mail, 16.10.2010. 21 Nach Einschätzung kanadischer Experten und ehemaliger Diplomaten waren für das Scheitern auch Kürzungen bei der Entwicklungshilfe für afrikanische Staaten sowie Ottawas einseitige Parteinahme für Israel ausschlaggebend. Vgl. Paul Heinbecker, Security Council Failure Was of Canada’s Own Making, in: The Ottawa Citizen, 13.10.2010. 22 David Pugliese, Light Armored Vehicle Deal With Saudi Arabia Raises Human Rights Concerns – General Dynamics Land Systems Canada Wins Award Estimated at $10 Billion, in: The Ottawa Citizen, 14.2.2014.
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Ausblick Wohin die Reise geht, zeigt der 2013 veröffentlichte Global Markets Action Plan. Er benennt die handelspolitischen Schwerpunkte der Regierung und identifiziert neben „etablierten Handelsbeziehungen“ auch Märkte, denen aus kanadischer Sicht ein „breites Interesse“ zukommt bzw. die für kanadische Unternehmen „spezifische Möglichkeiten“ bieten.23 Zu ersteren zählen neben der VR China auch Saudi-Arabien, die VAE und Vietnam. Russland wurde nach der Verhängung von Sanktionen24 aufgrund der Ukraine-Krise von der Liste gestrichen. Ländern, denen „spezifische Möglichkeiten“ für die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen eingeräumt werden, sind unter anderem Bahrain, Kuwait, Kasachstan und Myanmar/Birma. Angesichts der problematischen politischen Lage in diesen Ländern ist klar, dass das Ansinnen der kanadischen Regierung, Missstände zu benennen und Diktatoren in die Schranken zu weisen, wohlfeile Rhetorik ist. Es gibt bislang zwei Indizien, dass sich mit den 2015 anstehenden Unterhauswahlen keine grundlegenden Änderungen in der Sache (sehr wohl aber in der Rhetorik) ergeben dürften. Zum einen sind dies die Verlautbarungen der großen Oppositionsparteien (Liberal Party bzw. New Democratic Party). Beide haben dem Handel mit China (und Asien im Allgemeinen) Priorität eingeräumt und die von der konservativen Regierung gebilligte Übernahme der kanadischen Ölfirma Nexen durch die Chinese National Offshore Oil Corporation im vergangenen Jahr begrüßt. Ferner zeigen Meinungsumfragen, dass die kanadische Bevölkerung mehrheitlich der Ansicht ist, dass die Regierung „das Predigen von Menschenrechten in Ländern wie China“ unterlassen solle. Da zwei Drittel der Kanadier die Wirtschaftsbeziehungen mit dem Reich der Mitte intensivieren wollen, spricht nicht viel für einen Kurswechsel in Ottawa.25
23 Government of Canada, 2013. Global Markets Action Plan. Ottawa. 24 Government of Canada, 2014. Current Sanctions, (abgerufen am 2.11.2014). 25 Peter O’ Neil, Human Rights Take Back Seat to Trade with China, but Canadians Divided on Pipeline: Poll, Canada.com, 23.4.2012.
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Die Niederlande: Handel und Menschenrechte Willem Frederik Jochen Stöger1
Handel und Menschenrechte sind Begriffe, die traditionell im Fokus der niederländischen Außenpolitik stehen. Dies betrifft die Außenpolitik im Allgemeinen und auch den Umgang der Niederlande mit autokratischen Staaten. Mit ihrer internationalen Orientierung, die von starken Handelsinteressen und einer Abhängigkeit vom Ausland gekennzeichnet ist, treten die Niederlande als engagierte Befürworter der internationalen Rechtsordnung und als Förderer von Stabilität und Freihandel auf.2 Dazu passt auch, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) und weitere internationale Tribunale ihren Sitz in den Niederlanden haben. Zwar sind wirtschaftliche Interessen und die Achtung und Durchsetzung von Menschenrechten für die meisten westlichen Staaten Hauptbestandteile ihrer Außenpolitik. Doch die Betonung dieser beiden Aspekte ist in den Niederlanden vergleichsweise stark ausgeprägt.3 Kennzeichnend für die Niederlande ist, dass diese beiden außenpolitischen Beweggründe in der Argumentation der Regierung miteinander verbunden werden. Kritische Beobachter führen an, dass diese beiden Ziele oft schwer vereinbar sind und oftmals zu einem Dilemma in der außenpolitischen Ausübung führen. Die konsekutiven Haager Regierungen vertreten dagegen die Sichtweise, dass nicht die Rede von einem Entweder-oder, sondern von einem Sowohl-alsauch sein sollte. Gute wirtschaftliche Beziehungen bilden die Grundlage für einen Dialog über die Menschenrechte, den Rechtsstaat und die Demokratie. Handel wird dabei als Voraussetzung zur Förderung der Menschenrechte verstanden. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern diese Rechtfertigung für den Umgang mit autokratischen Staaten in Zukunft glaubwürdig bleibt. 1 2 3
Der Autor gibt in diesem Artikel seine persönliche Meinung wieder. Vgl. Duco Hellema, Neutraliteit en vrijhandel, Utrecht 2001. Diese Betonung wird bereits seit der kolonialen Zeit durch den Hinweis auf die Berufe koopman en dominee, Kaufmann und Pfarrer, gekennzeichnet.
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Akteure und Ziele Politik, Medien und Teile der Gesellschaft sind sehr interessiert an den Beziehungen der Niederlande zu autokratischen Staaten. Vor allem Russland, China und Länder der arabischen Region – insbesondere Ägypten und die Golf-Staaten – stehen regelmäßig im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Natürlich divergieren die Meinungen, aber im Allgemeinen ist die Haltung der Parlamentsabgeordneten, der Medien und der Gesellschaft relativ kritisch, die der Regierung und Unternehmen konstruktiv. Die niederländische Regierung wird seit Ende 2012 aus einer Regierungskoalition der liberalen VVD und der sozialdemokratischen PvdA gebildet. Für beide Regierungsparteien sind sowohl die Wirtschaft als auch die Menschenrechte wichtige Themen. Dies geht deutlich aus dem Koalitionsvertrag vom Oktober 2012 hervor.4 In diesem Dokument stellen VVD und PvdA fest, dass die Außenpolitik des Landes den Fokus auf den Schutz und die Förderung der Interessen der Niederländer und die niederländischen Unternehmen im Ausland sowie auf die Stärkung der internationalen Rechtsordnung und Menschenrechte legt. Die Menschenrechte sollen durch bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit gefördert werden. Zudem wurde der Posten eines Ministers für Außenhandel und Entwicklungshilfe geschaffen. Damit sollte der Nexus dieser beiden Bereiche betont werden.5 Es gibt jedoch unterschiedliche Akzente zwischen den Koalitionspartnern. Während die Förderung der Wirtschaftsinteressen niederländischer Unternehmen im Ausland eine wichtige parteipolitische Zielsetzung der VVD ist, engagiert sich die PvdA traditionell verstärkt für die Menschenrechte. Für den liberalen Wirtschaftsminister Henk Kamp haben die wirtschaftlichen Interessen oft Vorrang, der sozialdemokratische EU-Kommissar Frans Timmermans hingegen versucht vielmehr, ein Gleichgewicht zwischen der Förderung der Wirtschaftsinteressen und der Menschenrechte herzustellen. Die Regierung argumentiert, dass gute bilaterale und eben auch wirtschaftliche Beziehungen erst die Grundlage schaffen, um auch über andere und gewissermaßen delikatere Angelegenheiten sprechen zu können, zum Beispiel über Fragen der Menschenrechte, den Rechtsstaat und die Demokratie. Der Dialog mit den autokratischen Staaten und die Mittel, die im Rahmen dieser Beziehungen eingesetzt werden, werden also innenpolitisch mit der Überzeugung gerechtfertigt, dass durch die politische und wirtschaftliche Integration Regime verändert, geöffnet und demokratisiert werden können. Die Niederlande versuchen hierbei, autokratische Staaten verstärkt in das internationale multilaterale Geflecht zu integrieren und in diesem Zuge auch even4 5
Vgl. Bruggen slaan. Regeerakkoord VVD – PvdA, 29.10.2012, (abgerufen am 1.11.2014). In den Niederlanden sind Außenpolitik und Entwicklungshilfe in einem Ministerium vereint.
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Die Niederlande: Handel und Menschenrechte
tuelle Konfliktkonstellationen so weit zu internationalisieren, dass sie neuen Lösungsoptionen zugeführt werden können. Die Menschenrechte stellen traditionell einen Eckpfeiler der Außenpolitik dar. In der niederländischen Menschenrechtsstrategie von 2013 werden die Haager Prioritäten aufgelistet: Unterstützung der Verteidiger der Menschenrechte, Gleichberechtigung für Frauen sowie Gleichberechtigung für Minderheiten. Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sind andere niederländische Schwerpunkte in diesem Bereich.6 Relativ innovativ sind die trilateralen Partnerschaften, über die die Niederlande zusammen mit einem anderen, nichtwestlichen Staat die Menschenrechtslage in einem autokratischen Land ansprechen. Die Niederlande sind eine Handelsnation und die wirtschaftlichen Interessen – inklusive die im Bereich der Energie – sind ein anderes Hauptthema der nationalen Debatte über den Umgang mit autokratischen Staaten. Aufgrund ihres wirtschaftlichen Aufstiegs sind China und Russland für die Niederlande wichtiger geworden. Die wirtschaftlichen Beziehungen mit beiden Ländern sind intensiv. Die Niederlande sind innerhalb der EU nach Deutschland der zweitwichtigste Handelspartner Chinas. 2012 betrug das Handelsvolumen ungefähr 40 Milliarden Euro.7 Auch in anderen Bereichen gibt es Kooperation. So sind Russland und China Prioritätsländer für die Kulturpolitik der Niederlande. Sogar hinsichtlich der Sicherheitspolitik werden die Möglichkeiten der Zusammenarbeit erörtert. Im April 2014 besuchte Verteidigungsministerin Jeanine Hennis China.8 Die Niederlande arbeiten bereits mit der chinesischen Armee zusammen, etwa im Rahmen der Piratenbekämpfung vor der Küste Somalias und der Multidimensional Integrated Stabilisation Mission (MINUSMA) in Mali. Die Niederlande sind auch einer der wichtigsten Handelspartner Russlands. Der Energiesektor spielt dabei eine herausragende Rolle. Die Haager Regierung förderte die Stellung der Niederlande als Gas-Drehscheibe Nordeuropas.9
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Vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Mensenrechtenbrief 2013. Respect en recht voor ieder mens. (abgerufen am 1.11.2014). Vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Het Nederlandse China-beleid: Investeren in Waarden en Zaken, S. 11, (abgerufen am 1.11.2014). Vgl. Hennis: stap richting samenwerken met China, in: De Telegraaf, 4.4.2014, (abgerufen am 1.11.2014). Vgl. Harm Ede Botje, Thijs Broer, Voorbij de gasdroom: onze ongezonde relatie met Rusland, in: Vrij Nederland, 27.7.2014, (abgerufen am 1.11.2014). Die Energiepolitik der niederländischen Regierung wurde von dem Grünen Europa-Abgeordneten Bas Eickhout als Lobbyismus für Putin bezeichnet. Vgl. Bas Eickhout, De Nederlandse regering stelt zich op als lobbyist van Putin, in: de Volkskrant, 26.6.2014, (abgerufen am 1.11.2014).
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Die Niederlande sind für Russland das wichtigste Exportziel.10 Inwiefern Wirtschaftsinteressen und Menschenrechte harmonieren oder kollidieren, ist generell eine der großen Fragen (der niederländischen Auseinandersetzung) in Bezug auf den Umgang mit autokratischen Staaten. Auch bei Rüstungsexporten gilt es verschiedene Ziele abzuwägen. Zwar gibt es grundsätzlich keine wesentlichen institutionellen, rechtlichen Auflagen oder Grenzen für die Beziehungen von Wirtschaftsunternehmen und der Politik zu autokratischen Staaten. Eine Ausnahme bildet aber der Export von Waffen. Das Außenministerium ist zuständig für die Genehmigung der Exporte. Das niederländische Parlament überwacht die Waffenexporte. So sollten die Niederlande unter anderem keine Waffen an Regime liefern, die diese gegen ihre eigenen Bürger einsetzen könnten. Dennoch werden Waffen und hochwertige DualUse-Technologie an Führer autoritärer Regime durchaus verkauft. So hatte der damalige ägyptische Präsident Mubarak einen Teil der Schützenpanzer (YPR), die während des Arabischen Frühlings auf dem Tahir-Platz in Kairo gegen Demonstranten eingesetzt wurden, in den Niederlanden erworben. Ein anderes Beispiel sind die F-16 Kampfjets, die in den 1990er Jahren an Jordanien verkauft wurden. Auch wurden Dual-Use-Technologien an Russland und China geliefert. Doch in einigen Fällen verhinderte das Parlament Rüstungsexporte, etwa 2012 den Verkauf von 80 Leopard II Kampfpanzern der niederländischen Armee an Indonesien mit der Begründung, die indonesische Regierung könnte diese Waffen gegen die Bevölkerung von Papua-Neuguinea einsetzen. Dass die EUMitgliedstaaten die gemeinsamen Regeln im Bereich der Waffenexporte unterschiedlich interpretieren können, wurde deutlich, als Deutschland kurz danach Leopard II-Kampfpanzer an Indonesien verkaufte.11 Mittel und Wege Um wirtschaftliche Interessen zu fördern, verfügt auch der niederländische Staat über diverse Mittel. Staatsbesuche, Dienstreisen des Ministerpräsidenten und der Minister stehen oft im Zeichen der Wirtschaft und werden regelmäßig von einer Handelsmission mit Vertretern niederländischer Firmen begleitet. Auch Besuche ausländischer Staats-, Regierungschefs und Regierungsmitglieder in den Niederlanden werden in der Regel genutzt, um Handelsinteressen und -be-
10 Vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Mensenrechtenstrategie voor het buitenlands beleid, 14.2.2013, S. 4. (abgerufen am 1.11.2014). 11 Vgl. M. Garschagen, Hennis zegt ‘sorry’ tegen Indonesië voor blokkade verkoop Leopards, in: NRC Handelsblad, 9.10.2013, (abgerufen am 1.11.2014).
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ziehungen zu fördern.12 Mit China und – bis vor kurzem – Russland haben diese Besuche sehr regelmäßig stattgefunden.13 Die niederländischen Botschaften und Konsulate und neuerdings die Netherlands Business Support Offices (NBSO) spielen bei der Unterstützung der bilateralen Handelsbeziehungen eine wichtige Rolle.14 Zudem wird auch, wo möglich, ein Teil der Entwicklungshilfe im Interesse der niederländischen Wirtschaft eingesetzt. Schließlich kann noch die Exportförderung als Instrument genannt werden. Zur Förderung des Rechtsstaats, der Menschenrechte und der Demokratie in autokratischen Staaten stehen Den Haag ebenfalls verschiedenartige Mittel zur Verfügung. Erstens setzt die niederländische Regierung sich im Rahmen von internationalen Organisationen, vor allem der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, für diese Ziele ein und unterstützt sie finanziell. Zweitens nutzt die Haager Regierung den bilateralen Dialog, um Fragen der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie gegenüber den jeweiligen Staaten anzusprechen. Das niederländische Parlament versäumt es selten, die Regierungsmitglieder vor oder nach ihren Auslandsreisen auf das Thema Menschenrechte und die damit verbundenen (moralischen) Verpflichtungen anzusprechen. Zudem verfügen die Niederlande über einen Beauftragten für Menschenrechte, der in diesem Bereich die Position der niederländischen Regierung vertritt und andere Staaten und Organisationen auf ihre diesbezüglichen Verpflichtungen hinweist. Ferner setzen sich die diplomatischen Vertretungen der Niederlande vor Ort für die Achtung und Förderung der Menschenrechte ein. Die Niederlande pflegen neben den zuweilen intensiven Beziehungen zu den autokratischen Regierungen genauso Kontakte zu oppositionellen Gruppen und Personen in den jeweiligen Ländern, vor allem zu zivilgesellschaftlichen Akteuren. Was die wirtschaftlichen Interessen anbelangt, entsprechen die Ressourcen den Zielen. Im Bereich der normativen Ziele verfügen die Niederlande ebenfalls über vielfältige Mittel; da aber die Ambitionen in diesem Feld groß sind, stellt sich die Frage, ob diese Mittel ausreichen. Laut mehreren Beobachtern reichen die Ressourcen in Bezug auf Russland und China aus. Sie sind der Meinung, dass es nicht mehr Absorptionskapazität gäbe und dass eine höhere finanzielle 12 Beim Staatsbesuch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping anlässlich des Nuclear Security Summit (NSS) in Den Haag im März 2014 wurden Handelsverträge in Höhe von zwei Mrd. Euro abgeschlossen. Vgl. Tweede Kamer der Staten Generaal, Kamerstuk 33 625, Nr. 15 vom 7.7.2014 (Algemeen Overleg), S. 11, (abgerufen am 1.11.2014). 13 Wirtschaftsminister Kamp hat erst unter großem Druck des Parlaments kurzfristig seine für Mai 2014 geplante Handelsmission nach Moskau abgesagt. Vgl. Botje, Broer, Voorbij de gasdroom, a.a.O. (Anm. 9). 14 In China alleine gibt es sechs NBSO. Vgl. Balanceren tussen koopmanschap en diplomatie. Evaluatie van de Netherlands Business Support Offices 2008-2013, Den Haag 2014, S. 45, (abgerufen am 1.11.2014).
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Unterstützung und ein stärkeres politisches und diplomatisches Vorgehen sogar kontraproduktiv wirken könnten. Neben politischen und diplomatischen Aktivitäten verfügen die Niederlande auch über finanzielle Mittel zur Unterstützung ihrer normativen Ziele, wie den Menschenrechtsfonds, mit dem das Außenministerium und die Botschaften vor Ort Projekte unter anderem von NGOs unterstützen. Der Fonds verfügte im Jahr 2013 über eine Summe von ungefähr 34 Millionen Euro, davon wurden rund 20,5 Millionen Euro von den Botschaften direkt eingesetzt.15 Ein anderes Instrument ist der Matra Fonds, mit dem der Kapazitätsaufbau der Zivilgesellschaft in Osteuropa und Russland gefördert wurde. Der Matra Fonds wurde mittlerweile eingestellt, aber 2011 wurde – als Reaktion auf die Entwicklungen in der arabischen Welt – ein Matra-Süd Fonds geschaffen.16 Ziel dieses Finanzinstruments ist es, die Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte sowie die wirtschaftliche Entwicklung in den arabischen Ländern voranzutreiben. Die Mittel werden sowohl bilateral als auch über multilaterale Strukturen eingesetzt. Ein bekannter Haager Grundsatz im Bereich der Außenpolitik lautet: „Multilateral wo möglich, bilateral wo nötig“. Viele politische Angelegenheiten, inklusive Menschenrechte, werden in zunehmendem Maße im EU-Kontext behandelt. Dennoch sind die Niederlande auch bereit, sich bilateral zu engagieren. In der Praxis wird oft von Fall zu Fall beurteilt, welches die besten Kanäle für das Engagement sind. Den Haag versucht, seine Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts-, Handels-, Migrations-, Entwicklungshilfe-, Energie- und Umweltpolitiken zu koordinieren. Das Außenministerium ist zuständig für diese Abstimmung. In diesem Rahmen finden regelmäßige Treffen der Koordinierungskommission Internationale Angelegenheiten (CoRIA) statt, an der die Direktoren der internationalen Abteilungen der relevanten Ministerien teilnehmen. Zudem gibt es für einige, für die Niederlande wichtige Staaten, etwa China und Russland, mehrjährige interministerielle Strategien (MIB). Dennoch verfügt das Außenministerium nicht über Instrumente, um eine Koordinierung erzwingen zu können. Die Niederlande setzen sich auch für eine Koordinierung in internationalen Organisationen, insbesondere im Rahmen der EU und der UN, ein. Gute internationale Koordination ist für die Niederlande ein wichtiges Prinzip. Es ist schwierig zu sagen, inwiefern es Den Haag gelingt, seine nationalen Vorstellungen in multilaterale Handlungen einzubeziehen. Im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik hat Den Haag sich für das Prinzip der intelligenten Konditionalität („more for more, less for less“) eingesetzt. Dieses Prinzip ist Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik geworden, was jedoch 15 Vgl. Ministerie van Buitenlandse Zaken, Mensenrechtenbrief 2013, a.a.O. (Anm. 6), S. 30. 16 Vgl. Matra South Programme, (abgerufen am 1.11.2014).
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nicht nur den Niederlanden allein zuzuschreiben ist. Zudem ist unklar, inwieweit dieses Prinzip in der Praxis von der EU implementiert wird. Die Regierung beteiligt sich im Rahmen der UN und der EU an der internationalen Sanktionspolitik gegenüber Staaten, die eine Bedrohung für die internationale Sicherheit darstellen. Bei der Bildung von Sanktionskoalitionen sind die Niederlande allerdings kein Vorreiter. Was die EU-Sanktionspolitik in Bezug auf Russland und China anbelangt, folgt Den Haag der Politik der großen Mitgliedstaaten, insbesondere der Positionen Deutschlands und des Vereinten Königreichs. Die Niederlande waren aufgrund der großen Wirtschaftsinteressen in Russland zu Beginn der Ukraine-Krise zurückhaltend bei der Unterstützung von Sanktionen gegenüber Moskau. Der schreckliche Abschuss des zivilen Passagierflugzeugs MH17 mit knapp 300 Toten in der Ostukraine war der Wendepunkt für Den Haag. Seitdem befürworten die Niederlande härtere Sanktionen gegen Russland. Wirksamkeit? Inwiefern Sanktionen außenpolitische Ziele näher bringen, ist umstritten. Auf jeden Fall verursachen die Wirtschaftssanktionen gegen Russland auch wirtschaftliche und politische Kosten in den Niederlanden. Geschätzt wird, dass diese Sanktionen die niederländische Agrar- und Lebensmittelindustrie rund eine Milliarde Euro an Ausfällen kosten werden. Dieser Schaden könnte erheblich zunehmen, wenn noch weitere Bereiche von den Sanktionen betroffen wären. In der Praxis werden autokratische Regime aufgrund verschiedener wirtschaftlicher Interessen und strategischer Überlegungen unterschiedlich behandelt. Wenn die niederländischen Interessen nicht substanziell darunter leiden, tritt die Haager Regierung härter bei Menschenrechtsfragen auf. So wurde die Entwicklungshilfe für Uganda beendet, nachdem das Regime per Gesetz Teile seiner Bevölkerung diskriminierte. Auch gegenüber Belarus nimmt Den Haag eine relativ kritische Linie ein. Die Niederlande haben keine diplomatische Vertretung in Minsk, und Den Haag macht keinen Hehl aus seinen ernsthaften Sorgen um die Lage der Menschenrechte und der problematischen Rechtsstaatlichkeit in Belarus.17 Dies steht im schrillen Kontrast zu den bis vor Kurzem engen Beziehungen mit Russland. Von Fall zu Fall stehen also unterschiedliche Interessen im Vordergrund. In Bezug auf den Iran stehen Sicherheitsinteressen auf dem Spiel, in Bezug auf die Golf-Staaten spielen Wirtschaftsinteressen eine große Rolle, und im Umgang mit Ägypten wurde menschenrechtlichen Beweggründen ein relativ großer Platz eingeräumt. In den Beziehungen mit China spielen wirtschaftliche Belange eine wichtige Rolle, aber auch die Lage der Menschenrechte hat Den Haag im Auge. 17 Vgl. Betrekkingen Nederland – Wit Rusland, (abgerufen am 1.11.2014).
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Dasselbe galt für Russland, aber durch die Geschehnisse um den Konflikt in der Ukraine, insbesondere nach dem Abschuss von MH17, sind die wirtschaftlichen Interessen weniger dominant geworden und die Sicherheitsinteressen mehr in den Vordergrund gerückt. Die Unterstützung der demokratischen Transition ist ein Ziel der Haager Außenpolitik, aber zur gleichen Zeit sind die Förderung von Sicherheit und Stabilität leitende Ziele des Außenministeriums. Der Eindruck entsteht, dass in instabilen Regionen die Existenz einer Autokratie manchmal als das kleinere Übel im Vergleich zum möglichen Staatszerfall oder zu einer regionalen Destabilisierung angesehen wird. Die Regierung in Den Haag betont oft, dass sie sich ihrer Beschränkungen bewusst ist. Dennoch sind die niederländischen Ziele im Bereich der Menschenrechte ambitioniert und vielfältig. Die Bewertung der angewendeten Mittel ist kompliziert, da sie relativ fragmentiert sind und die Wirkung schwer zu messen ist. NGOs, die Projekte mit niederländischen Finanzmitteln ausführen, und die Botschaften, die diese unterstützen, berichten regelmäßig über ihre Aktivitäten. Zudem verfügt das niederländische Außenministerium über einen Evaluierungsdienst, die Inspektion für Entwicklungszusammenarbeit und Politikevaluierung (IOB).18 Das Außenministerium und die Botschaften versuchen, ihre Instrumente an der Lage im Zielland zu orientieren. Eine „demand driven approach“ ist das Ziel. Zur gleichen Zeit wird die Außenpolitik bestimmt von Prinzipien, die in Den Haag als wichtig und richtig angesehen werden, die jedoch einer regelmäßigen politischen und gesellschaftlichen Unterstützung durch die Bürger und das Parlament bedürfen. Die Demokratisierungsbemühungen sind in dem Sinne glaubwürdig, dass die Niederlande versuchen, das zu fördern, was ihrer Meinung nach das Beste für die Zielländer wäre. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob die niederländische Politik den lokalen Kontext in den Zielländern genügend reflektiert und ob die angewandten Mittel ausreichend sind. Eine andere Frage, die sich stellt, ist die der Konkurrenzfähigkeit der westlichen Staaten und der EU bei Verhandlungen mit Autokratien. Vor allem in Bezug auf autokratische Staaten in Afrika ist dies eine wichtige Frage. So sind etwa mit Blick auf die Beziehungen zu Ägypten die Niederlande und sogar die EU nicht immer konkurrenzfähig im Vergleich zu finanzstarken Golf-Staaten, die mit ihrer finanziellen Unterstützung keine Vorbedingungen an eine gute Regierungsführung und die Achtung von Menschenrechten verbinden. Eine vergleichbare Situation gibt es in Bezug auf die afrikanischen Autokratien und China.
18 Dieser Dienst hat Evaluierungen über Teilaspekte des niederländischen Umgangs mit Autokratien durchgeführt, zum Beispiel die Politik im Bereich der Waffenexporte und der Menschenrechte, (abgerufen am 1.11.2014).
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Schlussfolgerungen Der Balanceakt der Regierung zwischen der Förderung von Wirtschaftsinteressen und Menschenrechten ist gefährdet. Kritische Beobachter monieren, dass die Frage der Menschenrechte zugunsten der Wirtschaftsinteressen zunehmend in den Hintergrund rückt. Der niederländische Umgang mit Autokratien ist zuweilen pragmatisch. Dies bringt der Regierung den Vorwurf des Opportunismus ein. Im Kern der Kritik geht es um die Frage, ob entweder Stabilität oder demokratische Transition Priorität haben sollte. Die Rechtfertigung der engen Wirtschaftsbeziehungen steht dabei genauso in der Kritik. Denn die Beziehungen mit Russland haben rückblickend nicht zur Demokratisierung, zum Aufbau eines Rechtsstaats und zu einer besseren Menschenrechtslage geführt. Auch in China sind die Fortschritte in diesen Bereichen eher bescheiden. Vielmehr wurden diese Staaten durch eine breite Wirtschaftskooperation in ihrer Politik gestützt. Umgekehrt werden demokratische Prinzipien durch das Vorgehen der autokratischen Staaten international unterminiert. Diese Entwicklungen müssten Anlass geben, die niederländische Außenpolitik auf den Prüfstand zu stellen und mittels eines politischen Diskurses, der die Gesellschaft mit einschließen sollte, eine Neubewertung der außenpolitischen Prinzipien Den Haags vorzunehmen.
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Österreichs engagiert neutraler Ansatz Heinz Gärtner Die wissenschaftliche Literatur über internationale Kooperation konzentrierte sich im Wesentlichen auf Demokratien. Eine große Rolle spielte die These des „demokratischen Friedens“, wonach Kooperation und Interdependenz von Demokratien wegen ihrer inneren Verfasstheit viel stärker entwickelt wären als bei Autokratien, was zu friedlicherem Verhalten von demokratischen Staaten zueinander führen würde. Das Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) 1998 greift die wissenschaftliche These des „demokratischen Friedens“ auf, wonach Demokratien nicht in weitreichende gewaltsame Auseinandersetzungen mit anderen Demokratien involviert sind: „Die effektivste Gewaltprävention ist die Entwicklung Europas zu einer Zone demokratischer Rechtsstaaten. Demokratien führen in aller Regel keine Kriege gegen andere Demokratien.“1 Neuere Arbeiten untersuchten das Kooperationsverhalten von Autokratien.2 Sie kommen zu dem Schluss, dass außenpolitische Kooperation bei bestimmten Autokratietypen nicht nur außenpolitisches Verhalten verändern, sondern auch innenpolitische Öffnungen erreichen kann. Die großen Ausnahmen sind Ein-Personen-Diktaturen. Dieser Artikel geht der Frage nach, welche Beziehungen ein neutraler Kleinstaat, wie Österreich, zu autokratischen Staaten entwickelt. Prinzipiell geht für Österreich Integration vor Isolation. Denn bei Konfrontationen sind Kleinstaaten meist die Verlierer. Dahinter steht auch die durch historische Erfahrung genährte Hoffnung, dass durch Kooperation langfristig die Autokratie gemildert wird.
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SPÖ, Das Grundsatzprogramm, über: Renner Institut, (abgerufen am 3.9.2014). Michaela Mattes, Mariana Rodríguez, Autocracies and International Cooperation, in: International Studies Quarterly, 58 (2014) 3, S. 527-538.
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Innenpolitische Wahrnehmung: Demokratie ohne Führungsschwäche Österreicher haben eine obrigkeitsstaatliche Vergangenheit. Sie wird in Umfragen immer wieder sichtbar. Knapp ein Drittel (29 Prozent) der Österreicher befürwortet einen „starken Führer, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss“.3 Diese Haltung ist aber nicht, wie vielfach in der Medienöffentlichkeit dargestellt wird,4 mit nationalsozialistischem Gedankengut gleichzusetzen. Diese Frage bezieht sich auf den aktuellen politischen Kontext und ist wohl eher beeinflusst von der Kritik der Medien, die den gewählten Politikern und Parteivorsitzenden in regelmäßigen Abständen „Führungsschwäche“ vorwerfen. Immerhin stimmen 85 Prozent der Österreicher der Aussage zu, dass es sich bei der Demokratie um die „beste Regierungsform“ handelt. Auch die Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise im Allgemeinen und die mangelnde staatliche Kontrolle der Aktivitäten der Bank Hypo-Alpe-Adria, deren Verluste neue Steuerbelastungen mit sich brachten, im Besonderen, dürften ausschlaggebend sein. Immerhin sank die Zustimmung zu einem „starken Mann“ gegenüber dem Vorjahr um mehr als 30 Prozent.5 Historische Erfahrungen mit Autokratien Österreich hat selbst Erfahrung mit autokratischen Herrschaftsformen. Die Habsburger Monarchie, die die Österreicher jahrhundertelang regierte und die 1918 endgültig zusammenbrach, war trotz des Vorhandenseins eines Parlaments (Reichsrat) nicht demokratisch. Wohl aber kann sie als „wohlwollende“ Autokratie bezeichnet werden. Allerdings wurde die Kriegsentscheidung im Sommer 1914 autokratisch getroffen. Das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau diente mehr als Vorwand oder Anlass denn als Grund. Die serbische Regierung forderte die Monarchie mit ihren großserbischen Plänen zwar heraus, hatte aber mit dem Attentat nicht direkt zu tun. Das politische System nach 1918 war wohl demokratisch, aber das Gewaltmonopol des Staates schwach ausgeprägt, sodass Milizen zunehmend das politische Bild prägten. Die christlich-sozial geprägte „Heimwehr“ orientierte sich an den faschistischen Ideen Italiens. Der sozialdemokratische „Schutzbund“ wollte Demokratie und soziale Errungenschaften gegen rechtsradikale Übergriffe verteidigen. Diese unübersichtliche Situation nutzte der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß aus, 1933 das Parlament 3 4 5
Ein Drittel der Österreicher sehnt sich nach „starkem Führer“, in: DerStandard.at (APA), 7.5.2014, (abgerufen am 3.9.2014). Ebd; Ein Drittel der Österreicher will einen starken Führer, in: Die Zeit Online, 7.5.2014, (abgerufen am 3.9.2014). 61 Prozent wollen „starken Mann“, in: Kleine Zeitung, 8.3.2013.
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auszuschalten und eine austro-faschistische Autokratie zu errichten. Es kam 1934 zum Bürgerkrieg mit dem sozialdemokratischen Schutzbund. Dollfuß selbst wurde 1934 Opfer eines nationalsozialistischen Anschlags von SSMännern. 1938 musste die österreichische Autokratie der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus weichen, die von einem großen Teil der Österreicher begrüßt wurde, weil sie sich davon Ordnung versprach. Nach 1945 wollten die Österreicher Demokratie und betrachteten mit überwältigender Mehrheit die westlichen Mächte USA, Großbritannien und Frankreich als Befreier. Die Sowjetunion wurde als Besatzungsmacht gesehen, obwohl ihre militärische Leistung beim Sturz des nationalsozialistischen Regimes anerkannt wurde. Die Kommunistische Partei erhielt bei den ersten Wahlen 1945 weniger als 5 Prozent, obwohl sie im Widerstand gegen den Nationalsozialismus einen hohen Blutzoll geleistet hatte. Durch das Neutralitätsgesetz 1955 konnte Österreich eine Demokratie ohne Kontrolle ausländischer Mächte entwickeln. Isolation verhindern, multilateral handeln Als Kleinstaat und Nachbar eines von einer kommunistischen totalitären Autokratie kontrollierten Paktes erkannte Österreich bald, dass man sich einerseits mit Autokratien arrangieren muss, andererseits dass Autokratien ein Ablaufdatum haben, wie die österreichische Erfahrung ja zeigte. So unterstützte Österreich, insbesondere der sozialdemokratische Bundeskanzler Bruno Kreisky, die Ost-West-Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre im Allgemeinen und die deutsche Ostpolitik des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland Willy Brandt im Besonderen. Österreich engagierte sich beim Prozess der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Gemeinsam mit den anderen neutralen und nichtbündnisgebundenen Staaten bemühte sich Österreich um die Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen Ost und West. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 anerkannte zwar die „Unverletzlichkeit der Grenzen“, das heißt die Einflusssphären, betont aber humanitäre und Freiheitsrechte und den „friedlichen Wandel“ der Nachkriegsgrenzen. In privaten Gesprächen war man überzeugt, dass dieser Prozess zur Aufweichung der kommunistischen Diktaturen führen würde. Bruno Kreisky sprach vom „Verwittern von Diktaturen“. Es blieb aber letztlich dem Außenminister der christlich-sozialen Volkpartei Mock vorbehalten, 1989 den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs zwischen Ungarn und Österreich zu durchschneiden. Um friedliche Veränderungen herbeizuführen, kann die während des Kalten Krieges etablierte KSZE auch für die Entspannung heutiger Krisensituationen modellhaft sein. Durch ihr Eintreten für Menschenrechte und Bürgerfreiheiten hat sie dazu beigetragen, dass innerhalb von 15 Jahren der totalitäre Kommunismus aufgeweicht und schließlich beseitigt wurde. In Österreich weiß
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man aber auch, dass es wenig bringt, Autokraten dafür zu kritisieren, dass sie Autokraten sind, weil Machthaber für solche Kritik immun sind. Wien ist deshalb auch zurückhaltend, gewaltsamen Regimewechsel zu fordern, sondern will friedliche Änderungen fördern. Engagierte Neutralitätspolitik Österreich hat den Vorteil, dass es keine globalen geopolitischen Interessen und keine engen Bündnisverpflichtungen hat. Der Status der Neutralität an sich bedeutet schon, dass Österreich in Konflikten eine nicht von vornherein feindselige Haltung einnimmt. Westliche demokratische Rechtsstaaten machen wegen realpolitischer Überlegungen auch immer wieder Abstriche von ihrer Werthaltung. Österreich hat hingegen keine weltweiten geopolitischen Interessen, etwa in autoritär regierten Ländern, die Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien missachten, Militärstützpunkte zu errichten oder Waffen zu liefern. Österreich hindert auch keine Bündnisverpflichtung, überall für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Gerade die Neutralität ermöglicht es Österreich, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Österreich kann die Vorteile und Möglichkeiten, die sich aus der Neutralitätspolitik ergeben, engagiert nutzen; es verfolgt eine „engagierte Neutralitätspolitik“. Das traditionelle Neutralitätskonzept des „Stillsitzens“ gehört endgültig der Vergangenheit an. Falsche Zurückhaltung wird ersetzt durch mutiges und offensives diplomatisches und politisches weltpolitisches Engagement: „Die österreichische Neutralität kann nicht ein „Sichheraushalten“ bedeuten, sondern verlangt eine intensive Beteiligung am internationalen Krisenmanagement. Damit will Österreich seinen Beitrag leisten, Staatszerfall, das Entstehen von autoritären Staaten und regionale Destabilisierung zu verhindern, wodurch Wirtschaftsräume verloren gehen und unkontrollierte Flüchtlingsströme entstehen können. Wien hat sich seit Jahrzehnten an internationalen Einsätzen beteiligt, wenn ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vorlag, auch wenn Kampfeinsätze nach Kapitel VII der UN-Charta damit verbunden waren. Das ist nicht nur mit dem Status der österreichischen Neutralität vereinbar, sondern für eine „engagierte Neutralitätspolitik“ erforderlich. Engagierte Neutralität bedeutet nicht Abseitsstehen bei Menschenrechtsverletzungen, sondern die Verantwortung, Zivilisten zu schützen. Neutrale Staaten sind besser geeignet, diese Aufgaben zu übernehmen, weil damit ein Signal gesendet wird, dass sie nicht alleine eine Initiative der USA oder Frankreichs sind. Gerade die USA können daran ein Interesse haben. Es kann natürlich für Österreich keine Neutralität zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Willkür sowie zwischen Einhaltung der Menschenrechte und deren Verletzung geben. Auch während des OstWest-Konflikts stand Österreich immer auf dem Boden der westlichen
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Wertegemeinschaft. Sowohl Bruno Kreisky als auch Heinz Fischer, die Entspannungs- und Kooperationspolitik unterstützten, erhoben ihre Stimmen gegen Diktaturen in Ost und West sowie gegenüber unverhältnismäßiger Gewaltanwendung im Nahen und Mittleren Osten. Kreisky nannte diese Außenpolitik Österreichs „aktive Neutralitätspolitik“. Während die meisten westlichen Länder Yassir Arafat als Diktator und Terroristen betrachteten, war Bruno Kreisky der erste westliche Staatsmann, der den Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) 1979 nach Wien einlud, um die internationale Gemeinschaft auf die Angelegenheiten der Palästinenser aufmerksam zu machen. Kreisky glaubte schon damals, dass aus einer Zweistaatenlösung auch ein demokratischer Palästinenserstaat entstehen könnte. Dem Prinzip, die Isolation von Autokratien zu verhindern, um langsame gesellschaftliche Veränderungen zu ermöglichen, ist Österreich weitgehend treu geblieben. Ganz in diesem Sinne handelte der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer, als er im Juni 2014 in der Krim-Krise den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einem Arbeitsbesuch in Wien empfing, wo dieser auch eine Rede vor der österreichischen Wirtschaftskammer hielt. Das bedeutet keine Anerkennung der Besetzung der Krim, wohl aber ist es ein Versuch, die Gesprächskanäle offen zu halten. Obwohl sie Österreich dafür kritisierten, erkannten die Staatschefs der entscheidenden großen europäischen Staaten selbst die Notwendigkeit von diplomatischen Gesprächen mit Russland und konferierten mit Putin. Österreich, das die Sanktionen der EU gegenüber Russland mitträgt, legt Wert darauf, dass im Rahmen von multilateralen Organisationen Lösungen gefunden werden. So wurde in Wien auch ein Treffen des russischen Präsidenten Putin mit dem Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dem Bundespräsidenten der Schweiz Didier Burkhalter, organisiert. Wirtschaftliche Beziehungen mögen dabei eine Rolle spielen. Die Europäische Union ist Russlands größter Handelspartner und Russland für die EU der drittgrößte. Für Österreich ist Russland der zehntwichtigste. Österreich bezieht 55 Prozent seines Gases von Russland und die Raiffeisen Bank International und die UniCredit Bank Austria gehören zu den größten Banken in Russland. Etwa 500 österreichische Unternehmen sind in Russland tätig. Nun sind Wirtschaftsbeziehungen nichts Negatives. Sie können letztlich auch zu Veränderungen des wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Systems von Nichtdemokratien beitragen. Die deutsche Ostpolitik firmiert ja auch unter dem Slogan „Wandel durch Handel“. Entspannung durch Neutralität Geopolitisch ist und bleibt Russland ein Nachbar Europas. Viele befürchten einen neuen Kalten Krieg, verbunden mit einem Rüstungswettlauf. Um sol-
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che Entwicklungen zu verhindern, befürwortet Österreich eine „strategische Partnerschaft“ mit Russland. Von seiner Entwicklung zum Neutralitätsgesetz bis zum EU-Beitritt kann Österreich ein Modell für die Ukraine sein.6 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Österreich von den westlichen Siegermächten und von der Sowjetunion besetzt. Es bestand die Gefahr einer Teilung wie in Deutschland. Österreich grenzte während des Ost-West-Konflikts an Staaten des Warschauer Paktes. Es hatte zu einem Arrangement mit der Sowjetunion zu finden. Nach dem Tode Stalins ergab sich die Möglichkeit, mit dem neuen Parteivorsitzenden der KPdSU Nikita Chruschtschow den österreichischen Vorschlag einer Neutralität zu verhandeln. Das Neutralitätsgesetz wurde 1955 im österreichischen Parlament beschlossen und von allen Siegermächten respektiert. Österreich verzichtete mit dem Neutralitätsgesetz darauf, einem Militärbündnis beizutreten, und versprach, keine militärischen Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Territorium zuzulassen. Österreich behielt seine Einheit. Mit Österreichs Neutralität war aber keine ideologische Äquidistanz zwischen dem Westen und dem Osten verbunden. Österreich übernahm schnell die Werte des Westens, was letztlich die Möglichkeit der EU-Mitgliedschaft eröffnete. Die Sowjetunion war aber dadurch zufriedengestellt, dass Österreich nicht der NATO beitreten würde. In dem vom Neutralitätsgesetz formal unabhängigen Staatsvertrag 1955 wurde ein Anschlussverbot an Deutschland festgelegt. Ähnlich müsste eine Vereinigung der Ukraine mit Russland ausgeschlossen werden. Das österreichische Neutralitätsgesetz war der Beginn der Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Für die Ukraine wäre der Status der Neutralität leichter zu erreichen, da Putins Autokratie definitiv weniger totalitär ist als die kommunistische Diktatur der Sowjetunion es war. Der österreichische Bundespräsident plant, 2015 in den Iran zu reisen, nachdem der Außenminister das Land schon im Frühjahr 2014 besuchte. Der Besuch erfolgte nach dem Ablauf der ersten Frist für das Nuklearabkommen. Österreich ist überzeugt, dass der Iran nun aus der jahrzehntelangen Isolation herausgeführt werden muss. Das ist nicht eine Aufgabe, die Österreich übernehmen kann, aber Wien kann ein symbolisches Signal setzen, dass der Iran sich in die westliche Staatengemeinschaft integrieren soll. Der Iran wird religiös autokratisch regiert, hat aber eine dynamische Zivilgesellschaft, die für internationalen Austausch bereit ist, und ein Wirtschaftspotenzial, das für alle Handels- und Investitionspartner interessant ist. 6
Heinz Gärtner, Kiew sollte sich Neutralität Österreichs ansehen, in: Der Standard, 3.3.2014,
(abgerufen am 3.9.2014). Dieser Vorschlag wurde von der österreichischen Bundesregierung aufgegriffen und in Form eines Vier-Punkte-Plans der EU vorgelegt. Vgl. Christian Ultsch, Österreichs Außenamt schlägt in Perspektivenpapier vor, dass …, in: Die Presse, 2.4.2014, (abgerufen am 3.9.2014).
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Globale Entwicklungen und Österreichs Interessen Österreich hat berechtigte Befürchtungen, dass seine Interessen in den großen weltwirtschaftlichen und -politischen Entwicklungen zu kurz kommen könnten. Österreich ist daran interessiert, dass globale Freihandelsabkommen letztlich allen Staaten nutzen, insbesondere auch Schwellenländern, zu denen auch autokratische und halbautokratische Staaten gehören. In seiner Rede zur Lage der Nation 2013 hat US-Präsident Barack Obama angekündigt, ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU abschließen zu wollen. Doch die möglichen Wirkungen des Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens (TTIP) werden unterschiedlich gesehen. Auf der einen Seite argumentieren liberale Internationalisten, dass TTIP eine stabile Basis für die Marktwirtschaften und liberalen Demokratien liefern und damit deren globalen Einfluss stärken könnte. Eine solche Einigung würde dazu beitragen, westliche Standards, Prinzipien und Regeln zu verbreiten und auch für Schwellenländer wie Indien und China verbindlich zu machen, wenn diese die Vorteile der Freihandelszone nutzen wollen. Die USA und Europa bilden gemeinsam eine wirtschaftlich und politisch einigende Kraft, die aufstrebende Wirtschaftsmächte wie China, Indien und Brasilien mit einbeziehen könnte. Auf der anderen Seite argumentieren Vertreter der realistischen Denkschule, dass auf der geostrategischen Ebene, im globalen Spiel der Mächte, westliche Integrationsbemühungen – TIPP zusammen mit der Transpazifischen Partnerschaft (TPP), die von den USA im asiatisch-pazifischen Raum forciert wird – eine Konfrontation mit China hervorrufen werden. Dieses Handeln würde das autokratisch-kapitalistische Modell Chinas isolieren. Die USA und Europa würden nicht nur ihren Status als führende Volkswirtschaften festigen, sondern auch einen politischen Block liberaler Demokratien bilden. Gemäß dieser Logik befürchten auch politisch Verantwortliche in Wien, dass mit TTIP nichtdemokratische Staaten weniger integriert, sondern vielmehr isoliert werden und so wichtige Wirtschaftsbeziehungen verloren gehen. Fazit Österreich hat selbst weitreichende Erfahrungen mit autokratischen bis totalitären Regimen, von der Habsburger Monarchie über den Austro-Faschismus bis zum Nationalsozialismus. Nach 1945 schützte die Neutralität Österreich vor ausländischer Einflussnahme. Als Grenzland zum Warschauer Pakt erkannte man bald, dass man sich mit autokratischen Regimen arrangieren muss, ohne die eigenen und die westlichen Werte preiszugeben. Das war auch die Basis für die Unterstützung der Entspannungspolitik und des Helsinki-Prozesses. Gleichzeitig war man davon überzeugt, dass durch diese Entwicklungen die kommunistischen Gesellschaften aufgeweicht werden würden.
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Die „aktive Neutralitätspolitik“ Bruno Kreiskys ermöglichte auch ein günstiges Gesprächsklima mit der PLO im Nahen Osten. In diesem Geiste bemüht sich Österreich auch während der Krim-Krise, die bilateralen und im Rahmen der OSZE die multilateralen Kontakte mit Russland nicht abreißen zu lassen. Aufgrund seiner eigenen historischen Erfahrung mit angrenzenden Autokratien regte Wien an, eine Neutralität der Ukraine nach österreichischem Vorbild zu überlegen. Ebenso versuchte Österreich ein Signal für den Iran zu setzen, den Weg der Integration und nicht der Isolation zu gehen. Österreichs „engagierte Neutralitätspolitik“ bedeutet also nicht, sich aus globalen Entwicklungen herauszuhalten, sondern die Vorteile der Neutralität durch internationales Engagement zu nutzen.
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Polen: Frontstaat im Osten Europas? Gerhard Gnauck Nach dem russisch-georgischen Krieg im Sommer 2008 kam auf deutscher Seite das Bemühen auf, die eigene „Ostpolitik“ stärker mit jener der neuen EU-Länder abzugleichen und das Gespräch darüber zu suchen. Das Interesse war beiderseitig: Polen wollte seine Außenpolitik „europäisieren“, also sowohl seine Interessen und Kompetenzen einbringen als auch seine Kräfte mit anderen Kräften bündeln. So kam es zu gemeinsamen Besuchen des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski mit seinem jeweiligen deutschen Kollegen (Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle) in Kiew, in Minsk und 2014 in St. Petersburg. Die Beziehungen zu diesen drei Ländern sollen hier untersucht werden. Unterschiedliche Perspektiven In diesen Jahren konnte man von deutschen Diplomaten immer wieder hören: „Polen und wir haben die gleiche Analyse der Lage in Russland. Allenfalls in der Handlungsanleitung, die daraus folgt, gibt es Unterschiede.“ In der Tat, es hat zu diesem Thema deutsch-polnische Gesprächsrunden gegeben. Aber ihr Ergebnis wurde auf polnischer Seite anders wahrgenommen. Wer im polnischen Außenministerium danach fragt, bekommt von einem ihrer Teilnehmer Folgendes zu hören: „Polen war immer skeptischer hinsichtlich der Frage, wieweit Russland in der Lage ist, mit Europa zu kooperieren. Wenn wir sagten, in Russlands Politik gegenüber Georgien und der Ukraine seien militärische Elemente vorstellbar, sagten die Deutschen, das sei totaler Radikalismus. Aber das hat unseren Dialog nicht gestört.“1 Polens „zukunftsgerichtete Analyse“, so der ranghohe Gesprächspartner, sei schon lange die Folgende gewesen: „Weil das Regime in Russland heute von dieser Art ist, wird es sich nur zum Schlimmeren entwickeln, und man muss es jetzt stoppen, auch wenn man dafür wirtschaftlich selbst einen Preis zahlt. 1
Hintergrundgespräch des Autors im polnischen Außenministerium, 1.7.2014.
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Deutschland dagegen sieht auch jetzt ein ‚Feld des Dialogs‘. Es gibt aber kein Feld für Dialog, oder es ist sehr klein. Nicht Dialog an sich ist das Ziel.“2 Dass Polens Sicht auf seine unmittelbare Nachbarschaft eine andere ist als diejenige Deutschlands auf diese Länder, kann nicht verwundern. Marek Prawda, damals Botschafter in Berlin, sagte einmal, sein größter Wunsch an die Deutschen sei, dass diese verinnerlichten: „Polen haben nicht nur Traumata, sondern auch Ansichten.“3 Diese Aussage meinte unter anderem, dass Polens Einschätzungen der Entwicklung in Russland von deutscher Seite gern als Ausfluss spezifischer „Ängste“ abgetan würden. Was geschah nach 1989 östlich von Polen? Aus der Sowjetunion wurde 1991/92 ein ungleiches Quartett von Nachbarn: die Russische Föderation, die Ukraine, Belarus und Litauen. In der Zeit bis September 1993, als der letzte russische Soldat Polen verließ, musste es Polen um „Wiedererlangung der Souveränität und Aufbau neuer Beziehungen“4 zu den Nachbarn im Osten gehen. Dies hat Polen zügig in Angriff genommen, und zwar mit einer – so wurde sie oft genannt – „zweigleisigen“ Politik: Man nahm neben den Beziehungen zur Sowjetunion früh Kontakt zu den Hauptstädten der damaligen Sowjetrepubliken auf. Nachdem die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) sich demonstrativ für „souverän“ erklärt hatte, schloss Polens Außenminister Krzysztof Skubiszewski mit ihr im Oktober 1990 einen Vertrag über Freundschaft und gutnachbarliche Zusammenarbeit – für die RSFSR der erste internationale Vertrag. Nachdem sich die Ukraine am 2. Dezember 1991 für unabhängig erklärt hatte, erkannte Polen das Land als erster Staat weltweit an. Ähnlich schnell wurde Polen gegenüber Belarus aktiv.5 Warschau setzte in seiner Politik also nicht auf die Hauptstadt des Sowjetimperiums, sondern auf die erstarkenden Unionsrepubliken, aus denen, so hoffte man, stabile, demokratische Nachbarstaaten werden würden. Die intellektuellen Grundlagen für diese Politik waren bereits gelegt: vor allem vom Pariser Exilverleger Jerzy Giedroyc und seiner Zeitschrift Kultura und im Lande selbst vom Bürgerrechtler Jan Józef Lipski. Ihnen ist mit zu verdanken, dass – trotz schlimmer Erinnerungen an den Moskauer Imperialismus und den ukrainischen Nationalismus – sofort eine konstruktive Politik zum Zuge kam.
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Ebd.; siehe auch eine gute frühe Bestandsaufnahme in: Agnieszka Lada (Hrsg.), Russland heute und morgen. Meinungen deutscher und polnischer Experten, Warschau 2010 (das herausgebende Institut ist zu finden unter isp.org.pl); Slawomir Debski, „Ostpolitik“ – Mythos und Doktrin (Polnisch: „Polityka wschodnia“ – mit i doktryna), in: Polski Przeglad Dyplomatyczny 31 (2006) 3, S. 5-18. Gespräch mit Marek Prawda, 30.4.2010. So die Periodisierung bei Jacek Cichocki, Wojciech Kononczuk, Polen und seine östlichen Nachbarn, in: Dieter Bingen, Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Bonn 2009, S. 625-643; hier S. 628. Auf diese erste Etappe 1989-1993 folgt dann schlicht „Die Entwicklung der politischen Beziehungen 1993-2008“, ebd., S. 629. Vgl. Klaus Ziemer, Das politische System Polens. Eine Einführung, Wiesbaden 2013, S. 319f.
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Sie zielte auf Anerkennung der Grenzen, auf Verständigung, Versöhnung und gemeinsames Gestalten der neu errungenen Freiheit.6 Darüber hinaus hofften viele, die Entwicklung in der Ukraine, Belarus und Litauen aktiv beeinflussen und mit ihnen eine Art Bündnis schließen zu können, wobei mögliche Interessengegensätze mit Russland zumindest mitgedacht wurden. Dieser Ansatz wird – unter Bezug auf die mächtige polnisch-litauische Dynastie des 14. bis 16. Jahrhunderts – gern „jagiellonisch“, gelegentlich auch „romantisch“ genannt. Dagegen sind immer wieder Kritiker aufgetreten, die zu mehr „Realismus“ oder „Minimalismus“ mahnten: Polen habe nicht die Mittel, die Entwicklung im Osten – mit Ausnahme Litauens – nachhaltig zu beeinflussen.7 Die konstruktive Politik gegenüber dem Osten wurde im Großen und Ganzen parteiübergreifend betrieben, vom linken (postkommunistischen) Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski bis zu seinem national-konservativen Nachfolger Lech Kaczynski, selbst bei oft lautstarkem parteipolitischem und medialem Streit um den richtigen Kurs. Auch für die Ostpolitik kann also gelten, was Klaus Ziemer über die polnische Politik seit 1989 schreibt: „Die größten Erfolge [...] liegen [...] im Bereich der fundamentalen außenpolitischen Neuverortung des Landes. Dies wird, wie etliche Umfragen belegen, auch von der überwältigenden Mehrheit der polnischen Gesellschaft so bewertet.“8 Die Jahre bis 1999 bzw. 2004 (NATO- bzw. EU-Beitritt) können hier nur summarisch behandelt werden. Sie waren für Polen und noch mehr für seine östlichen Nachbarn eine Zeit tiefster wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen. Nach der Jahrtausendwende wurde Polen für seine östlichen Nachbarn zuneh-
6
7
8
Der in Polen gerade wiederentdeckte Lipski ist aufgrund seines fundamentalen, seinerzeit (1981) heftig attackierten Essays „Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen“ über „Größenwahn und Fremdenfeindlichkeit“ seiner Landsleute vor allem in Deutschland stark rezipiert worden; er hatte unter anderem die Vertreibung der Deutschen als „Übel“ bezeichnet und die Beziehungen zu allen Nachbarvölkern und den Juden einer kritischen Revision unterzogen. Der bedeutendste polnische Exilverleger Jerzy Giedroyc schuf mit seiner Zeitschrift Kultura die Grundlagen für die Verständigung mit Polens östlichen Nachbarn. Als Zeugnis polnisch-russischer Nachbarschaft zeitlos und herausragend: das Russland-Kapitel in Czeslaw Milosz’ Werk „West- und Östliches Gelände“ (polnischer Titel „Rodzinna Europa“). Inzwischen sind gesammelte Texte des Autors über Russland erschienen: Rosja. Widzenia transoceaniczne, Bd. 1 und 2, Warschau 2010-2012. Vgl. Bartlomiej Sienkiewicz, Pochwala minimalizmu, in: Tygodnik Powszechny (Krakau), 24.31.12.2000. Sienkiewicz war 2013-2014 Innenminister. Auch der langjährige Außenminister Sikorski hat sich einmal demonstrativ von einer jagiellonischen Politik distanziert, wofür er vielfach kritisiert wurde; dennoch blieb er in Polens östlicher Nachbarschaft sehr engagiert. Ziemer, Das politische System Polens, a.a.O. (Anm. 5), S. 311. Allerdings reichen die dort zitierten Umfragen bis 2009, der Flugzeugabsturz von Smolensk 2010 ist noch nicht erfasst.
232
Polen: Frontstaat im Osten Europas?
mend attraktiv, als Zielland für – legale und illegale – Arbeitsmigranten ebenso wie für Studenten.9 Die steigenden Zahlen der Studierenden sind vermutlich auch auf die 2008 eingeführte „Polen-Karte“ (Karta Polaka) zurückzuführen. Dieser „Ausweis“, den Polens diplomatische Vertretungen bei Nachweis polnischer Abstammung und Verbundenheit mit der polnischen Kultur und Sprache ausstellen, gewährt seinen Inhabern unter anderem freien Zugang zu Studienplätzen in Polen und etliche, finanziell relevante Vergünstigungen. Bis September 2014 wurden für Bürger der Ukraine etwa 60 000 Polen-Karten ausgestellt und mehr als 40 000 in Belarus.10 Der Systemwechsel nach 1989 hat auch die Wirtschaftsbeziehungen schwer getroffen. Ihren wechselhaften Verlauf spiegelt Tabelle 10. Sie zeigt zunächst den Zusammenbruch der Planwirtschaften und der Zusammenarbeit im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), der 1991 aufgelöst wurde. Sodann kommt es zu einer Erholung, bis die Rubelkrise vom August 1998 die ganze Region trifft: Polens Exporte nach Russland werden mehr als halbiert; auch jene in die Ukraine sind stark betroffen. Dagegen werden die Importe von der Krise wenig berührt; jene aus Russland steigen sogar weiter, was offenbar an der kontinuierlichen Abnahme russischer Rohstoffe (Energieträger) liegt. Erstaunliche Zuwächse, gegenüber Russland sogar eine Verdreifachung der Umsätze, bringen die vier Jahre nach Polens EU-Beitritt 2004. Darauf folgt der Kahlschlag durch die weltweite Krise seit 2007/08. Er konnte zumindest von Russland bis 2013 wieder wettgemacht werden, bis 2014 der russisch-ukrainische Konflikt ausbricht.
9
Im Studienjahr 2012/13 stellten Ukrainer in Polen die größte Gruppe aller ausländischen Studierenden. Ihre Zahl verfünffachte sich seit 2005 auf jetzt 9747 (manche Schätzungen liegen noch etwas höher). Für die in Polen beschäftigten ukrainischen Arbeitnehmer liegt die niedrigste Zahlenangabe bei 180 000. Die Zahl der Weißrussen, der zweitgrößten Gruppe, verdreifachte sich in dieser Zeit auf 3388; gemessen an der Einwohnerzahl, sind aus Belarus mehr Studierende nach Polen gegangen als aus der Ukraine. Russland als Herkunftsland ist weit abgeschlagen (unter 1100). Vgl. (abgerufen am 20.10.2014). In Deutschland waren es im Wintersemester 2013/14 aus Russland 14 525, aus der Ukraine 9212 Studierende; vgl. (abgerufen am 20.10.2014). 10 Vgl. E-Mail-Auskünfte von Wojciech Kononczuk, verantwortlich für Ukraine/Belarus/Moldawien im Warschauer regierungsnahen Institut OSW, und Rafal Wolski, Leiter der Konsularabteilung, Polnische Botschaft Kiew, 20.10.2014. Die Zahl der Antragsteller ist im Falle der Ukraine über die Jahre relativ stabil geblieben. Die „Polen-Karte“ gilt allgemein als erfolgreiche Maßnahme zugunsten der polnischen Minderheiten im Osten.
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Tabelle 10: Polens Exporte und Importe (in Millionen US-Dollar) Jahr
Russland
Russland
Ukraine
Ukraine
Belarus
Belarus
Export
Import
Export
Import
Export
Import
1992
728
1353
188
163
159
161
1993
644
1271
188
201
103
114
1994
934
1453
280
205
136
165
1995
1274
1960
743
291
240
238
1996
1654
2526
978
418
272
257
1997
2154
2685
1206
415
319
220
1998
1597
2372
1086
377
265
170
1999
710
2675
703
338
232
166
2000
862
4619
793
475
243
153
2001
1059
4422
1003
449
276
145
2002
1332
4407
1180
491
261
227
2003
1512
5215
1561
744
396
386
2004
2843
6390
2023
1038
565
698
2005
3960
8985
2588
1020
722
979
2006
4702
12135
3962
1316
975
1076
2007
6432
14352
5511
1694
1121
1139
2008
8917
20544
6437
2355
1602
1313
2009
5015
12834
3430
1144
1214
819
2010
6618
18206
3917
1819
1605
838
2011
8532
25535
4688
2792
1862
1355
2012
9889
27964
5280
2551
2011
990
2013
10805
25265
5713
2219
2418
779
2014*
5700
14543
2405
1465
1319
568
* Schätzung für die Monate 1 bis 7. Quelle: Wirtschaftsministerium, Warschau, zitiert in: Cichocki, Konończuk, Polen und seine östlichen Nachbarn, a.a.O. (Anm.4), S. 636 (bis 2006). Von 2007 an: Wirtschaftsministerium, Warschau 2014, Statistikamt GUS.
234
Polen: Frontstaat im Osten Europas?
Eine „schwierige Angelegenheit“: Russland Wie gestalteten sich nach 1991 die Beziehungen zwischen Polen und Russland? Zu Anfang zwei bis heute gültige Befunde und eine Hypothese. Erstens: Die polnisch-russischen Beziehungen waren „völlig asymmetrisch. Nach 1991 wurde Russland für Polen zu einem der wichtigsten Staaten, während in der russischen Außenpolitik Polen und die anderen Staaten Mitteleuropas praktisch nicht vorkamen [...]. Unterdessen erwartete Warschau von Russland, dass es Polen als gleichwertigen Partner anerkennen und die polnischen Interessen berücksichtigen würde.“11 Und zweitens: „Der fundamentale Faktor, der die Entwicklung der Beziehungen zu Russland bremste, war der Mangel an Vertrauen der polnischen Regierungen gegenüber den russischen Aktivitäten im Bereich der Sicherheit“12 sowie Moskaus Bemühen, mit einigen großen EU-Staaten über die Köpfe der anderen hinweg Politik zu machen. Der Autor dieser Worte münzte sie auf die gesamte Zeit seit 1991, wenngleich es dabei auch Perioden einer polnischrussischen Annäherung gegeben hat. Drittens: Die Hypothese, die hier nur angerissen werden kann, betrifft die russische Gesellschaft. Polen, so schrieb ein russischer Intellektueller um 2008, habe als „Fenster nach Europa“ jahrzehntelang für die sowjetische Bevölkerung eine große kulturelle und gesellschaftliche Ausstrahlung gehabt. Doch die radikalen „Schock“-Wirtschaftsreformen erst in Polen und dann in Russland, ihr Erfolg in Polen und ihr (großenteils so empfundenes) Scheitern in Russland hätten diese Epoche beendet. Seitdem sei Polen nicht mehr so attraktiv, kein Vorbild mehr, kein Testfeld für Reformen. Asymmetrie, Misstrauen und womöglich die Position Polens als „unattraktiver“ Partner (und für manche in Russland als alt-neues Feindbild oder als Konkurrent um Einfluss in Osteuropa) setzten der Politik Warschaus also enge Grenzen. Wie groß Polens Einfluss und Möglichkeiten sind, ist dabei eine zentrale Frage. Auf einer Expertentagung im Osteuropa-Kolleg in Breslau im November 2012 fielen dazu Aussagen wie diese: „Wir, slawische Brüder, sind erfolgreich (in der Reform- und Wirtschaftspolitik). Das hat gigantische Schlagkraft in der Ukraine, in Belarus und in Russland.“13 Darauf erwiderte ein anderer Teilnehmer: „Alle Veränderungen, die in Russland stattfinden, finden durch die Russen selbst statt. (...) ich würde auf einen minimalistischen Ansatz setzen. Gut, wenn sie ein positives Bild von Polen haben; es reicht, wenn sie 11 Cichocki, Kononczuk, Polen und seine östlichen Nachbarn, a.a.O. (Anm. 4), S. 629. 12 Jaroslaw Cwiek-Karpowicz, Polityka Polski wobec Rosji, in: Rocznik Polskiej Polityki Zagranicznej, 2010, S. 137-152, hier S. 137. 13 Polska Polityka Wschodnia. Materialy z konferencji zorganizowanej 22-24 listopada 2012 r. we Wroclawiu, Wroclaw 2013, S. 74. Bemerkenswert ist, dass diese Worte von Stanislaw Ciosek kommen, dem polnischen Botschafter in Moskau 1989-1996; er gilt bis heute als ein führender „Russland-Versteher“ aus dem postkommunistischen Lager.
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uns als einen normalen und guten Nachbarn behandeln. Aber das (Denken), wir könnten gegenüber Russland eine Mission, eine Aufgabe haben, das bringt nur negative Auswirkungen.“14 In Polens Innenpolitik spielte die Frage, wie man die Beziehungen zu Moskau verbessern und eigene Fehler (sei es „Naivität“, sei es „Scharfmacherei“ gegenüber Russland) vermeiden könne, zumindest bis 2013 keine wirklich zentrale Rolle. Sie wurde jedoch immer wieder aufgeworfen, am häufigsten von Vertretern der linken Milieus. Dagegen plädierten die national-konservative Partei PiS unter Jaroslaw Kaczynski und Kräfte weiter rechts für eine „harte“ Haltung gegenüber Russland. Die seit Jahren mitregierende Bauernpartei PSL schließlich fühlt sich den Interessen ihrer Klientel verbunden und neigt generell zu einer zurückhaltenden „Ohne-mich“-Außenpolitik. In dieser Lage wählte der neue Ministerpräsident Donald Tusk (PO) einen Mittelkurs, indem er in seiner Regierungserklärung Ende 2007 verkündete, er wolle eine Verbesserung der Beziehungen „mit dem Russland, wie es ist“15 – also nicht mit einem Wunschbild von Russland. Man sprach von der Hoffnung, die pragmatische Zusammenarbeit von ungelösten Streitfragen trennen zu können und mit diesem Ansatz auch in der EU mehr Gehör und mehr Spielraum zu bekommen. Die Stimmung in der Bevölkerung war entsprechend. Über die Jahre stiegen die Sympathiewerte gegenüber „den Russen“ von 17 auf (im Januar 2010) 34 Prozent, die bekundete Antipathie sank von 56 auf 31 Prozent. In Russland selbst gab es spiegelbildlich eine ähnliche Entwicklung.16 Auch die Probleme um ein russisches Importverbot (2005-2007) für polnische Agrarprodukte, das in Warschau als politisch motiviert betrachtet wurde, konnten überwunden werden. Als Reaktion hatte Polen von 2006 bis 2008 durch Veto die Aufnahme von Verhandlungen über ein neues EU-RusslandKooperationsabkommen blockiert. Es gelang Polen auch, unter anderem mit Hilfe Berlins, die Importsperre zu einem wichtigen Thema der EU-RusslandBeziehungen zu machen. Zugleich blieb die Aufarbeitung der Geschichte – für Warschau – ein wichtiges Thema. Dazu gehört an erster Stelle der Fall Katyn, der sowjetische Massenmord an insgesamt 22 000 Polen. So durften die zuständigen polnischen Institutionen 2000 im westrussischen Katyn und in Mednoje bei Twer zwei Gedenkstätten eröffnen. In Katyn entstand daneben eine russische Gedenkstätte für die ebenfalls dort verscharrten einheimischen Opfer des Terrors. Dass in Katyn 2010 die damaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk und Wladimir Putin gemeinsam der polnischen und sowjetischen Opfer gedachten, kann als (nachhaltiger?) Erfolg der Warschauer Geschichtspolitik
14 Ebd., S. 75 (Wortmeldung von Jaroslaw Cwiek-Karpowicz). 15 Cwiek-Karpowicz, Polityka Polski wobec Rosji, a.a.O. (Anm. 12), S. 139. 16 Ebd., S. 138; die polnischen Umfragewerte stammen vom Institut CBOS.
236
Polen: Frontstaat im Osten Europas?
gelten.17 Allerdings war der Katyn-Aufarbeitung kein juristischer Erfolg beschieden: Schon 2005 beendete die russische Militärstaatsanwaltschaft das entsprechende Verfahren und erklärte einen Teil der Dokumente für geheim. Auch das abschließende Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg 2013, das unter anderem dieses Vorgehen der russischen Justiz bewertete, war für die Katyn-Opferfamilien allenfalls ein Teilerfolg.18 Im Sommer 2008 schreckte der kurze russisch-georgische Krieg Europa auf. Polens Außenminister formulierte wenig später in einer programmatischen Rede in einem Satz, was teilweise als „Sikorski-Doktrin“ bezeichnet wurde: „Jeder weitere Versuch, die Grenzen in Europa durch Gewalt oder Subversion neu zu zeichnen, wird von Polen als existenzielle Bedrohung seiner Sicherheit betrachtet werden und sollte eine proportionale Antwort seitens der gesamten Atlantischen Gemeinschaft nach sich ziehen.“19 Georgien zum Trotz: Von 2007/08 an war die Lage für eine polnischrussische Entspannung im Allgemeinen günstig. Tusks Pragmatismus und Barack Obamas 2009 verkündetes „reset“ der Beziehungen zu Russland trafen auf Dmitrij Medwedjews Präsidentschaft und – nach Ansicht vieler Experten – auf die Moskauer Einsicht, das aufstrebende neue EU-Land Polen stärker berücksichtigen zu müssen. Es kam zu einem bemerkenswerten „Tauwetter“. Polnisch-russische Arbeitsgruppen bis hinauf auf Ministerebene, deren Arbeit jahrelang geruht hatte, wurden 2009 wiederbelebt. Erstmals wurde in Moskau 2009 ein gemeinsames „Forum der Regionen“ abgehalten.20 Auch die 2005 kurz in Erscheinung getretene „Polnisch-Russische Gruppe für Schwierige Angelegenheiten“ begann, in neuer Besetzung, 2008 mit einer zumindest in Polen viel beachteten Tätigkeit. Ein Ergebnis ist der in beiden Ländern erschienene Sammelband „Weiße Flecken – Schwarze Flecken“.21 In beiden Hauptstädten wurden Zentren für den polnisch-russischen Dialog gegründet.22 Höhepunkt der Annäherung waren die Besuche Wladimir Putins in
17 Allerdings sei das Interesse der russischen Behörden an Mednoje bald wieder erlahmt, vgl. Julia Kantor, Ni operativnogo interesa, ni istoritscheskoj zennosti: Gosudarstvennyj memorialnyj kompleks „Mednoje“ ostavili bez finansirovanija, in: Vremja novostej online, 4.10.2007, (abgerufen am 7.9.2014). 18 Vgl. Cichocki, Kononczuk, Polen und seine östlichen Nachbarn, a.a.O. (Anm.4), S. 630. 19 (abgerufen am 22.10.2014; Übers. des Verf.). Sikorski nannte dies die Antwort auf die kurz zuvor in Moskau formulierte „Medwedjew-Doktrin“, die er in dieser Rede so zusammenfasste: „Es (Russland) wird seine Bürger und seine Infrastrukturprojekte jenseits seines Territoriums, wenn nötig, mit Gewalt verteidigen.“ 20 Details bei Cwiek-Karpowicz, Polityka Polski wobec Rosji, a.a.O. (Anm.12), S. 141f. 21 Vgl. die polnische Ausgabe: Adam Daniel Rotfeld, Anatolij W. Torkunow (Hrsg.), Biale Plamy – Czarne Plamy. Sprawy trudne w polsko-rosyjskich relacjach 1918-2008, Warszawa 2010. Das großformatige Werk ist 900 Seiten stark. 22 In Warschau vgl. , in Moskau vgl. (abgerufen am 20.9.2014). Allerdings scheint es deutliche Unterschiede in der Arbeitsweise beider Zentren zu geben: das polnische ist deutlich mehr an kontroversen öffentlichen Debatten interessiert als das russische.
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Danzig/Zoppot zum 1. September 2009 und in Katyn (mit Donald Tusk) am 7. April 2010. Drei Tage später kam es in Smolensk, nahe Katyn, zum Absturz des polnischen Flugzeugs mit Präsident Kaczynski und weiteren Persönlichkeiten an Bord. Aus der Sicht unseres Themas ist interessant, wie gering im Folgenden Polens Spielraum gegenüber den russischen Behörden war (und ist). So hat das in Moskau ansässige, für Luftfahrtunfälle zuständige Komitee MAK mit seiner 2011 einseitig einberufenen Pressekonferenz über den Hergang des Absturzes Tusk veranlasst, seinen Urlaub abzubrechen, und ihm einen dramatischen Einbruch in den Umfragewerten beschert.23 Die Zusammenarbeit beider Länder bei der Aufklärung des Absturzes wurde immer schwieriger; bis heute – Stand Oktober 2014 – hat Russland trotz Nachfragen weder das Flugzeugwrack noch die Flugschreiber an Polen übergeben (lediglich Kopien der Tonaufnahmen). Immerhin durften polnische Ermittler einige der am Absturzort tätigen russischen Fluglotsen vernehmen. Der Fall Smolensk trug maßgeblich zur Polarisierung der polnischen Gesellschaft bei; die Regierung versuchte, eine produktive Zusammenarbeit mit Moskau zu erreichen, und musste sich zugleich ständig gegen heftige Kritik („Verrat“ an Lech Kaczynski und an Polens Interessen) sowie Anschlagstheorien zur Wehr setzen. Heute scheint das Thema an Bedeutung zu verlieren. Allerdings wird der Abschluss der polnischen Ermittlungen erst für 2015 erwartet. Im Zuge des erwähnten „Tauwetters“ war es auch zu engeren Kontakten zwischen der römisch-katholischen Kirche Polens und der russisch-orthodoxen Kirche gekommen. Sie gipfelten 2012 im historisch ersten und entsprechend politisch aufgeladenen Besuch eines Moskauer Patriarchen – Kyrills I. – in Warschau. In einer gemeinsamen „Botschaft“ riefen die Oberhäupter beider Kirchen die Gläubigen in beiden Ländern dazu auf, um „Vergebung [...] für jegliches einander zugefügte Böse zu bitten“.24 Bemerkenswert erscheint im Rückblick ferner, dass die Aktivität der russischen Geheimdienste in Polen zwischen 2000 und 2014 kaum je zu einem öffentlichen Thema geworden ist. Im Jahr 2000 hatte Außenminister Bronislaw Geremek neun russische Diplomaten wegen Spionageverdachts ausgewiesen, worauf Moskau ebenfalls mit Ausweisungen reagierte. Offenbar hat Polen auch 23 Die internationale Presse stellte aus dem MAK-Bericht vor allem einen Satz heraus, in dem davon die Rede war, der Oberbefehlshaber der polnischen Luftwaffe, General Andrzej Blasik, sei vor dem Absturz im Cockpit gewesen und habe 0,6 Promille Alkohol im Blut gehabt. Die länger dauernden polnischen Ermittlungen haben diese These nicht bestätigen können. Zu dem Unglück vgl. diese viele Facetten berücksichtigende Darstellung: (abgerufen am 20.9.2014). 24 (abgerufen am 20.9.2014). Interessanterweise war und ist offenbar nie von einem Gegenbesuch der polnischen Kirchenführer die Rede.
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Polen: Frontstaat im Osten Europas?
in den vergangenen zwei Jahren, erfährt man erst jetzt, „mehrere Residenten der russischen Dienste im Stillen ausgewiesen, worauf von der anderen Seite keine Antwort erfolgte“.25 Erst am 15. Oktober 2014 gab es in Warschau eine Neuauflage der Ereignisse von 2000: mit der Festnahme zweier Polen, die verdächtigt wurden, für den russischen militärischen Geheimdienst GRU gearbeitet zu haben. Der eine, Jurist, entstammt einer gemischten polnisch-russischen Familie und schrieb unter anderem Beiträge über polnisch-russische Beziehungen und Energiefragen für seriöse polnische Fachmedien, nach Aussagen einer der Redaktionen stets honorarfrei. Der andere war Oberstleutnant und im Verteidigungsministerium tätig. Wenige Tage später wurde einem russischen Korrespondenten in Warschau die Akkreditierung entzogen. Medienberichten zufolge soll er in Polen unter anderem Lobbyarbeit für russische Firmen getätigt haben, darunter für den Konzern Acron, und 2006 bereits eine Akkreditierung in der Tschechischen Republik verloren haben. In der nachfolgenden Berichterstattung in den polnischen Medien wurde mehrfach geäußert, die Aktivitäten der russischen Geheimdienste in Polen seien seit Beginn der Ukraine-Krise erheblich gewachsen; ein mit dem Thema vertrauter Politiker sprach von einem „fünffachen“ Anstieg. Als eine seltene Win-win-Situation erscheint der 2013 in Kraft getretene kleine Grenzverkehr zwischen dem gesamten Gebiet Kaliningrad und einem großzügig bemessenen Grenzraum in Polen, für den sich Außenminister Sikorski eingesetzt hatte. Dadurch ist unter anderem ein reger Einkaufstourismus entstanden. Größere Investitionen zwischen beiden Ländern sind jedoch nach wie vor selten. Auf polnischer Seite spielt dabei auch die Sorge der Firmen eine Rolle, in Russland leicht Opfer politischen Drucks zu werden. Umgekehrt werden russische Investitionen in sensiblen Bereichen von Polen gebremst, zuletzt beim Versuch des russischen Konzerns Acron, 2012 ein großes polnisches Stickstoffwerk zu übernehmen. „Die betroffene Firma Azoty ist der größte Einzelabnehmer russischen Erdgases in Polen“, heißt es dazu im Außenministerium. „Russland Zugang zu strategischer Infrastruktur zu gewähren, während Polen zugleich von Russland abhängig ist, ist keine gute Idee.“26 Belarus – ein „weißer Fleck“? Eine besondere historische Belastung der Beziehungen zwischen Polen und Weißrussen gibt es nicht. Allerdings waren Warschaus Politik aus anderen Gründen enge Grenzen gesetzt. Denn nachdem Lukaschenka 1994 – damals 25 Aussage eines „ranghohen Beamten“, zitiert in Wojciech Czuchnowski, Jacek Harlukowicz, Z Polski wydalono dyplomate Rosji, który ‚zadaniowal’ szpiegów. To mocny sygnal dla Moskwy [cd. afery szpiegowskiej w MON], in: Gazeta Wyborcza, (abgerufen am 20.10.2014). 26 Hintergrundgespräch des Autors im Außenministerium, a.a.O. (Anm. 1).
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demokratisch – erstmals gewählt worden war, schlug er einen autoritären Kurs ein, auf den EU und USA schon 1996 mit personenbezogenen Sanktionen antworteten. Das führte dazu, dass es seit dem letzten Treffen 1996 bis heute keine Begegnung der Staatsoberhäupter von Polen (damals nicht EU-Mitglied) und Belarus mehr gegeben hat. Warschau pflegte Kontakt auf unterer Ebene. Bald wurde Polen Initiator oder Gastgeber von Aktivitäten, die an nichtstaatliche Akteure in Belarus gerichtet waren. Warschau unterstützte offen die Opposition; so empfing Präsident Lech Kaczynski 2007 zweimal deren Präsidentschaftskandidaten Aljaksandr Milinkewitsch. Eine wichtige Rolle spielt bis heute das 2007 gegründete, in weißrussischer Sprache sendende Fernsehen Belsat, das in erster Linie von den Regierungen Polens und Schwedens getragen wird.27 Daneben gibt es den vom Warschauer Außenministerium finanzierten, im grenznahen Bialystok ansässigen Sender „Radio Racyja“ sowie das Euroradio-Programm; letzteres hat seine Sendeblöcke im Programm von Sendern in Polen, Litauen und der Ukraine, die auf UKW auch nach Belarus hineinstrahlen.28 Mit der Vergabe von Stipendien für Studienaufenthalte in Polen versucht Warschau auch, eine staatsunabhängige Ausbildung junger Weißrussen zu fördern. Da Belarus nach wie vor Reisefreiheit gewährt, erscheinen solche Initiativen sinnvoll. Generell entsteht der Eindruck, dass sich in Warschau eine kleine, aber rege weißrussische Exilszene gebildet hat. (Mehr Aktivitäten gibt es in dieser Hinsicht allenfalls im litauischen Vilnius.) Das größte „Einzelproblem“ in den Beziehungen war über viele Jahre der Umgang der Behörden mit der polnischen Minderheit. Das Verbot des Verbands der Polen in Belarus (ZPB) im Jahre 2005 war geradezu „ein Wendepunkt in der polnischen Politik“, führte zu „ihrer erheblichen Verschärfung und dem Einfrieren von Kontakten. Weißrussische Angelegenheiten wurden von nun an ein wichtiger Gegenstand des Interesses polnischer Politiker und Medien.“29 Die Repressalien seitens der Behörden führten zur Gründung eines konkur27 Das täglich 17 Stunden umfassende Belsat-Programm wird von Warschau aus auf die Satelliten Astra 4A und Eutelsat 33B geschickt. In Belarus ist es mit Satellitenschüsseln zu empfangen. In Minsk führten mir die immer wieder schikanierten örtlichen Belsat-Journalisten 2011 vor, dass sie in der Lage sind, komprimierte Videodateien für die Nachrichtensendungen per Internet nach Warschau zu schicken. 28 Belsat zitiert eine Untersuchung von 2012, wonach 22 Prozent der Einwohner von Belarus Satellitenantennen besitzen; von diesen nutzen demzufolge 53 Prozent das Belsat-Programm, das außerdem großenteils im Internet gesehen werden kann. Vgl. und (abgerufen am 20.10.2014); Berichte des Autors über Minsk sowie die Exilszene in Vilnius, in: und (abgerufen am 20.10.2014). 29 Agata Wierzbowska-Miazga, Polityka Polski wobec Bialorusi, Rocznik Polskiej Polityki Zagranicznej 2010, S. 167-182, hier S. 167. Allerdings ist mein Eindruck, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema inzwischen stark abgeflaut ist.
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rierenden, regimenahen „Verbands der Polen“, während die erstgenannte Organisation trotz Verbots weiter tätig war und oft scharf oppositionell auftrat. Gegen Ende 2007 begann plötzlich der Wind des Wandels zu wehen: Die EU (mit ihrem in dieser Hinsicht sehr aktiven Mitglied Polen) und Belarus machten sich an eine „Reparatur“ der beschädigten Beziehungen. Welche Seite der Motor dieses Wandels war, lässt Wierzbowska-Miazga offen, nennt aber folgende Gründe: Auf EU-Seite habe man das „Fiasko der Isolationspolitik“ gegenüber Belarus konstatiert, in Minsk dagegen wirtschaftlichen Zwängen und wachsendem Druck aus Moskau etwas entgegensetzen wollen. Die Visasperren gegen Minsk wurden suspendiert. Bei seinem Besuch in Minsk am 12. September 2008 konnte Polens Außenminister Sikorski feststellen, dass es Signale der Öffnung gebe und alle politischen Gefangenen nach und nach freigekommen seien. Daraufhin gab es Begegnungen auf hoher Ebene; so sprach Premier Tusk am Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. September 2009 mit Regierungschef Sjarhej Sidorski. Überraschend wurde „Belarus neben der Ukraine zum aktivsten jener Staaten, die eine Einladung zur Östlichen Partnerschaft erhalten hatten“.30 Demnach legten beide Länder gemeinsam mit Litauen schon zu Beginn dieser 2009 ins Leben gerufenen Partnerschaft zahlreiche fertige Projekte vor, von denen ein Teil grenzüberschreitende Projekte mit Polen betraf. Auch der Stabilisierungskredit des Internationalen Währungsfonds über 3,5 Milliarden Dollar in diesem Jahr verschob den Vektor der Zusammenarbeit der Minsker Führung deutlich nach Westen. Deutlicher als zuvor sprach Warschau jetzt auch seinen Wunsch aus, polnische Unternehmen sollten im Nachbarland größere Chancen bekommen und Aktivitäten entfalten. Mit anderen Worten: Plötzlich tat sich ein breiteres Spektrum von Themen auf, und Polens Belarus-Politik wurde europäischer und zugleich pragmatischer. Die Änderung war so deutlich, dass ein Teil der weißrussischen Oppositionellen begann, Warschau deswegen zu kritisieren und ihm vorzuwerfen, wirtschaftliche Interessen oder die Lage der polnischen Minderheit für wichtiger zu halten als die Änderung der Lage im Land.31 Der abrupte Kurswechsel Lukaschenkas von 2010, die Festnahme zahlloser Demonstranten und mehrerer Präsidentschaftskandidaten in der Wahlnacht und das brutale Vorgehen der Miliz legten alle Hoffnungen in Trümmer. Dabei hatten die Außenminister Sikorski und Guido Westerwelle mit einem gemeinsamen Besuch bei Lukaschenka noch kurz zuvor Hoffnung auf Milliardenhilfen im Falle freier und fairer Wahlen gemacht. Das Scheitern dieser Politik wurde in Polens Medien als „Prestige-Niederlage“ Sikorskis gewertet.32 Die Gründe 30 Ebd., S. 168. 31 Ebd., S. 172. 32 Lukasz Adamski, Anna Maria Dyner, Tomasz Sikorski, Praca u podstaw na Wschodzie, Rocznik Polskiej Polityki Zagranicznej 2011, S. 75-92, hier S. 84.
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für diesen Kurswechsel sind für Warschauer Experten „bis heute unklar. Die Gefahr eines ‚Maidan‘ mit Zeltlager in Minsk hatte nicht bestanden. Heute gibt es zwei Thesen: Entweder hatte Lukaschenka ein falsches Bild der Lage – hier kann spekuliert werden, dass ein Teil der eigenen Sicherheitskräfte, womöglich unter Beteiligung der russischen Geheimdienste, ihn desinformiert hat. Oder er glaubte, eine Demonstration der Stärke werde die Annäherung mit der EU ohnehin nicht gefährden.“33 Das offizielle Belarus schoss jetzt scharf gegen Polen, sprach mit Blick auf die Opposition gar von einer staatsfeindlichen „Verschwörung“ mit polnischer Beteiligung. Seitdem gab es mehrfach Vorfälle, bei denen Minsker Behörden und Medien regelrecht die Konfrontation suchten und Polen an den Pranger stellten. Der bekannteste Fall dürfte der Skandal um Ales Bjaljazki sein: Der Bürgerrechtler wurde 2011 zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er ausländische Hilfsgelder für die Bürgerrechtsarbeit nicht deklariert und somit „Steuern hinterzogen“ habe. Grundlage der Verurteilung waren ausgerechnet Unterlagen, welche die Behörden Litauens und Polens den Ermittlern in Belarus auf Anfrage zur Verfügung gestellt hatten. Sikorski entschuldigte sich für einen schweren „Fehler“ der polnischen Behörden. Jetzt hatte Warschau kaum eine andere Wahl, als – noch mehr als bisher – Opposition und Zivilgesellschaft zu unterstützen. Knapp zwei Monate nach Lukaschenkas Kurswechsel fand in Warschau die Konferenz „Solidarität mit Belarus“ statt. Delegationen aus 36 Ländern sagten laut Gastgeber Sikorski Unterstützungsgelder von 87 Millionen Euro zu.34 Mit dem offiziellen Minsk hat es seitdem keine nennenswerte Zusammenarbeit mehr gegeben. Ein bereits ratifiziertes Abkommen über visafreien kleinen Grenzverkehr wartet seit 2011 vergeblich auf den letzten, von Minsk blockierten Schritt: den Austausch der Ratifikationsurkunden. Auffällig ist, dass immer wieder – anders als im Fall Russlands – Aktivitäten der weißrussischen Geheimdienste in bzw. gegen Polen an die Öffentlichkeit gelangten. Anlässlich eines solchen Falles schrieb die Gazeta Wyborcza: „Unsere Geheimdienste weisen seit Jahren darauf hin, dass Belarus auf dem Gebiet der Spionage das aktivste aller Länder ist. Der weißrussische GRU und der KGB sind mit ihren russischen Pendants in Spionage- bzw. Spionageabwehrgemeinschaft. In dieser Gemeinschaft ist Polen ‚Belarus zugeeignet‘.“35 Im Frühsommer 2014 herrschte in der Belarus-Frage in Warschau Illusionsund Ratlosigkeit. Im Außenministerium hieß es damals, man verurteile weiterhin, dass es dort (damals sieben) politische Häftlinge gebe. Zwar gebe 33 Gespräch mit Wojciech Kononczuk (vgl. Anm. 10), 17.10.2014. 34 Vgl. (abgerufen am 20.10.2014). 35 Szpiedzy z Bialorusi w Polsce (Infokasten, ohne Autor), in: Gazeta Wyborcza, 19.-21.4.2014. 2013 seien laut Inlandsgeheimdienst ABW zwei Spione aus Belarus festgenommen worden, bis April 2014 ebenfalls zwei.
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es neuerdings, vor allem auf Betreiben von Belarus, vorsichtige Schritte Richtung Zusammenarbeit, bei Grenzfragen, Bildung und Wirtschaft. Erstmals seit Jahren trafen sich im Juni 2014 die Vizeaußenminister (in Warschau). „Aber Lukaschenka spielt offenbar wieder das alte Spiel von 2009/10: Dialog zu Minsker Bedingungen, kein Wort über Demokratisierung. Und die Präsidentenwahl 2015 in Belarus verringert den Spielraum.“36 Im Außenministerium geht man noch weiter: „Wir haben den Willen und die Fähigkeit der Gesellschaft zu Demokratisierung und zu einer proeuropäischen Entwicklung überschätzt. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung ist mit der Lage in ihrem Land, mit Stabilität und einem relativ hohen Lebensstandard zufrieden. Die Sanktionen und die Unterstützung der Opposition haben nichts gebracht.“ Polen gehe es jetzt nicht mehr um „Demokratisierung hier und jetzt“. Ein anderes Argument „rückt in den Vordergrund: Ohne Lukaschenka wird dieses Land ein Gouvernement Russlands sein. Demokratisierung kann auch zu Destabilisierung führen.“37 Die Ukraine: Wieder Hoffnung? Die Ukraine soll aufgrund des Sieges der prowestlichen „Euromaidan“Bewegung hier nur kurz behandelt werden. Der Staat trug unter Präsident Leonid Kutschma (1995-2005) semiautoritäre Züge, was immerhin die Entstehung einer starken Opposition ermöglichte. Die „orangene Revolution“ von 2004/05 war ein großer Schritt hin zu Pluralismus, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Dagegen brachte Präsident Viktor Janukowitsch (2010-2014) deutliche Rückschritte. Warschau hat trotz Auf und Ab versucht, an einer Politik der guten Nachbarschaft und engeren Anbindung der Ukraine festzuhalten. Dabei reichten die Motive von „strategischem Eigeninteresse“ bis hin zu „Versöhnung über den Gräbern“. Durch die Kontakte des polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski zu allen politischen Lagern in der Ukraine wurde dessen Vermittlungsmission während der „orangenen Revolution“ möglich. Sie ebnete – nach einer gefälschten Präsidenten-Stichwahl – den Weg zur Wahlwiederholung und hat womöglich eine blutige Niederschlagung der Proteste verhindert. Diese Mission wird zu Recht als einer der größten Erfolge der neuen polnischen Ostpolitik gewertet. Janukowitschs Machtantritt drehte vieles wieder zurück, etwa durch den selektiven Einsatz der Justiz gegen Oppositionelle wie Julia Timoschenko. Allerdings ließ auch der neue Präsident den Willen und sogar konkrete Maßnahmen erkennen, um die für Ende 2013 angestrebte EU-Assoziierung (inklusive des Freihandelsabkommens DCFTA) zu erreichen. Das brachte 36 Gespräch mit Wojciech Kononczuk, a.a.O. (Anm. 33). 37 Hintergrundgespräch im polnischen Außenministerium, a.a.O. (Anm. 1). Einhellig in diesem Sinne auch die Aussagen im Band Polska Polityka Wschodnia, a.a.O. (Anm. 13); Tagung im November 2012.
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Warschau in eine Zwickmühle, besonders augenfällig 2012, als man von der (west-)europäischen Debatte über einen möglichen politischen Boykott der Fußball-EM in Polen und der Ukraine förmlich überrumpelt wurde. Warschau versuchte dennoch weiterhin, in der EU „Anwalt“ der Ukraine zu sein, und argumentierte vor allem – anders als Berlin – mit der langfristigen transformativen Wirkung einer EU-Assoziierung auf Gesellschaft, Staat und Wirtschaft der Ukraine. 2014: Nach einer Zeitenwende? Die russische Aggression gegen die Ukraine und das zunehmend autoritäre und nach außen drohende Verhalten der russischen Führung haben in Polen das Gefühl, in Sicherheit zu leben, erheblich vermindert. Für (bestehende oder vorgetäuschte) russische Einkreisungsängste hat man in Polen kein Verständnis, da „Russland erstmals in der Geschichte vom Westen her keine Gefahr droht.“38 Die Ankündigungen Moskaus von 2013 und 2014, in Belarus erstmals eigene Luftwaffenstützpunkte (vermutlich zwei) einzurichten, werden ebenso wie die großen Manöver der vergangenen Jahre an Russlands Westgrenze als bedrohlich empfunden. Der Konflikt des Jahres 2014 hat die Besorgnis noch verstärkt: Ende August nannten 84 Prozent der Polen als größte Gefahr für ihr Land (und 73 Prozent als größte Gefahr für die EU) die „expansive russische Politik“. Eine absolute Mehrheit befürwortete zugleich eine Aufnahme der Ukraine in NATO und EU.39 Die neue Lage hat viele Lebensbereiche getroffen: So schrumpft der – zuvor noch stark gestiegene – Außenhandel nach Osten. Polens Exporte nach Russland gingen im Zeitraum Januar bis Juli 2014, also noch vor dem Importverbot für Obst und Gemüse aus der EU, gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 10,5 Prozent zurück. Die Exporte in die Ukraine sanken sogar um 25 bis 27 Prozent.40 Die russischen Obstsanktionen haben Polen noch einmal hart getroffen, allerdings mit der „Esst-Äpfel“-Kampagne auch eine erstaunlich breite, humorvolle und eher unpolitische Solidarisierung innerhalb Polens ausgelöst. Die erwähnten polnisch-russischen Initiativen der letzten Jahre sollten dennoch weiterlaufen, auch der Jugendaustausch sei von der aktuellen Lage nicht betroffen, sagt Adam Daniel Rotfeld, Ex-Außenminister und heu38 Polska Polityka Wschodnia, Aussage von Stanislaw Ciosek, a.a.O. (Anm. 13), S. 74. Ciosek fährt fort: Gefahren drohten Russland heute aus anderen Richtungen, „und sie (die Russen) wissen das ganz genau“. 39 Pawel Majewski, Wyrwac sie Rosji. Polacy chcieliby, zeby Ukraina poszla taka droga jak Polska, in: Rzeczpospolita, 5.9.2014. Dagegen sahen nur 4 bzw. 17 Prozent der Polen laut dem Institut IBRiS den „islamischen Terrorismus“ als größte Gefahr für ihr Land bzw. die EU. 40 Rosja nie zachwiala eksportem, in: Dziennik Gazeta Prawna, 18.9.2014 (Angaben laut Statistikbehörde GUS). Zugleich stieg der Export nach Deutschland um 8,7 Prozent. Polens Exporte in die drei hier behandelten Länder betrugen 2013 9 Prozent der Gesamtexporte.
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te Ko-Vorsitzender der „Polnisch-Russischen Gruppe für Schwierige Angelegenheiten“. Allerdings werde man bald überlegen, was mit dem von beiden Außenministern noch im Dezember 2013 in Warschau unterzeichneten „Programm 2020 in den polnisch-russischen Beziehungen“ geschehen solle.41 Das für 2015 geplante „polnische (Kultur-) Jahr in Russland“ und die entsprechende Gegenveranstaltung wurden von Warschau inzwischen abgesagt. Wie wird sich die Entwicklung im Osten Europas auf Polens Politik auswirken? Ein Faktor der Stabilität ist Staatspräsident Bronislaw Komorowski. Er hatte Polens Ostpolitik stärker mitgestaltet als andere Politikfelder, was schon seine Familiengeschichte und sein Interesse am Osten nahelegten. Komorowski, Polens mit Abstand beliebtester Politiker, dürfte seinen Einfluss auf die Außenund Sicherheitspolitik eher noch vergrößern, ohne freilich seinen Parteifreunden in der Regierung in die Parade zu fahren. Die seit Herbst 2014 regierende neue Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, bisher nur innenpolitisch profiliert, hat verbal erste Signale ausgesandt, die etwa so klingen: „Das polnische Hemd ist uns näher als der ukrainische Rock.“ Zu spüren ist eine Mischung von Desillusionierung und Vorsicht angesichts der nicht erwarteten Brisanz und Heftigkeit der Ukraine-Krise. Vermutlich wird diese polnische Regierung sich etwas stärker als die frühere an der Haltung Berlins und am EU-Mainstream orientieren. Doch selbst wenn sie das tut, könnte der Konflikt im Osten Polen in Mitleidenschaft ziehen. Zum einen innenpolitisch: Hier verlaufen die Fronten nicht unbedingt nach den Parteisympathien. So schlägt etwa die regierungsnahe Gazeta Wyborcza vor, „ohne auf Deutschland und Frankreich zu schauen, Gespräche über die Lieferung von Defensivwaffen an die attackierte Ukraine aufzunehmen“.42 Zugleich wird in der Kaczynski-nahen Presse kontrovers diskutiert, ob sich Polen im Osten nicht stärker als bisher „heraushalten“ solle. Auch außenpolitisch drohen Konsequenzen: Diese Krise „kann sich jahrelang hinziehen und unsere Beziehungen zu vielen Ländern vergiften“, schrieb Mitte September 2014 der ebenfalls regierungsnahe Journalist Jacek Zakowski. Man sei in vieler Hinsicht allein – sogar in der Visegrád-Gruppe, in der niemand Polens Besorgnis und Aktivismus teile. Überdies habe die Ukraine-Krise Polen wieder näher an die USA gerückt und von vielen Ländern Europas entfremdet. Damit werde die Entwicklungsrichtung der letzten sieben Jahre unter Tusk/ Sikorski gleichsam umgedreht.43
41 Gespräch mit Adam Daniel Rotfeld am 3.10.2014; allerdings hat dieser Jugendaustausch bisher eher symbolisches Ausmaß. Das vage und optimistisch klingende „Programm 2020“, eine Art Road Map, ist zu finden unter: (abgerufen am 20.10.2014). 42 Jaroslaw Kurski, Nie badzmy jak porzucony kochanek, in: Gazeta Wyborcza, 22.10.2014. Kurski, erster Stellvertreter des Chefredakteurs Adam Michnik, gilt als dessen Kronprinz. 43 Jacek Zakowski, Piec niedokonczonych prac, in: Polityka, 17.-23.9.2014, S. 15-17, hier S. 17.
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So oder so: Es hat in Polen seit 1918 immer Politiker, Publizisten, Aktivisten gegeben, welche die „mysl wschodnia“ pflegten, das „Ost-Denken“ oder die „Ost-Reflexion“, die Beschäftigung mit den Nachbarn vom Baltikum über Russland bis zum Kaukasus. Es wird sie wohl auch künftig geben – wobei ihre Motive von humanitären über familiengeschichtliche und wissenschaftliche bis zu politischen reichen. Die heute etwa 30-Jährigen unter ihnen nennt Pawel Kowal dementsprechend die „fünfte Generation“ innerhalb der letzten hundert Jahre.44 Dass in der Region ihres Interesses noch – oder wieder – Autokratien am Werk sind, stellt Polens Ostreflexion und Ostpolitik vor zusätzliche Herausforderungen. Leichter wird ihre Arbeit dadurch gewiss nicht.
44 Vgl. den Sammelband von Pawel Kowal et al., Mloda mysl wschodnia, Warschau 2014.
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Als neutraler Kleinstaat ist die Schweiz bestrebt, stabile Beziehungen zu allen Staaten der Welt zu unterhalten. Universalität ist ein fundamentales Prinzip ihrer Außenpolitik.2 Weltoffenheit ist zur Wahrung ihrer Interessen wichtig, da sie weder Mitglied der EU noch der G-20 ist. Die urdemokratische Schweiz pflegt deshalb auch mit Autokratien diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen – wie andere Staaten auch. Schweizerische Außenpolitik war lange Zeit fast ausschließlich Außenwirtschaftspolitik, ergänzt durch unpolitische solidarische Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Doch der Umgang der Schweiz mit autokratischen Regimen hat sich seit 1990 stark gewandelt. Historische Sündenfälle Die neutrale Schweiz unterhielt nach 1945 möglichst mit allen Staaten Beziehungen, unabhängig von ihrer Regierungsform. Die Neutralität hatte sich in zwei Weltkriegen bewährt und wurde bewusst beibehalten. Es mag erstaunen, dass die Schweiz lange Zeit nicht stärker zwischen Demokratien und Autokratien unterschied. Dem innenpolitisch so hehren Wert der Demokratie auch weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, war nach 1945 jedenfalls kein Ziel ihrer Außenpolitik. Grundsätzlich blieb die Schweizer Außenpolitik im Kalten Krieg ausgesprochen unpolitisch und trotz humanitärer und friedenspolitischer Gesten bewusst außenwirtschaftlich dominiert. Die außenpolitische Doktrin der Schweiz unterschied ab 1947 streng zwischen „technischer“ Kooperation mit 1 2
Ich danke Matthias Bieri und Jonas Hagmann für wertvolle Kommentare zum Manuskript. Generell zieht der Kleinstaat eine Kultur des Dialogs einer Kultur des Ausschlusses vor. 2009 wurde die Schweizer Außenpolitik unter den Slogan „Eine Aussenpolitik des Dialogs“ gestellt. Vgl. Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2009, 2.9.2009, S. 6292. Die Aussenpolitischen Berichte von 1993 bis 2013, (abgerufen am 7.10.2014).
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dem Ausland, die erlaubt war, und selbstgewählter außenpolitischer Abstinenz.3 Während andere neutrale europäische Staaten wie Schweden Kollaborationen mit Diktaturen oder dem Apartheidregime geißelten, beschränkte sich die Schweizer Außenpolitik „auf die humanitäre Rolle des hilfsbereiten Samariters und des diplomatischen Briefträgers“.4 Die mächtige Handelsabteilung im Volkswirtschaftsdepartement operierte als „geheimes Außenministerium“.5 Solidarische außenpolitische Aktionen sollten den „Sonderfall Schweiz“ im Ausland akzeptabler machen. Die Schweiz pochte auf die Universalität der Wirtschaftsbeziehungen und das Recht des Neutralen auf Freihandel. Westliche Sanktionen lehnte sie kategorisch ab, etwa gegen Rhodesien (1965), Iran (1979-81), Argentinien (1982) oder das Apartheidregime in Südafrika (ab 1977). Noch 1989 nahm sie weder an Boykottmaßnahmen gegen China (nach dem Tiananmen-Massaker) noch an diplomatischen Sanktionen gegen den Iran teil (nach dem Mordaufruf gegen Salman Rushdie).6 Jedoch beteiligte sie sich – unter starkem Druck der USA und im Widerspruch zu einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik – seit 1951 insgeheim am westlichen Technologieembargo gegenüber den Ostblockstaaten, wie erst 1987 publik wurde.7 Die Schweiz machte immer wieder negative Schlagzeilen, weil Diktatoren wie Ferdinand Marcos (Philippinen), Mobutu (Zaire) oder Jean-Claude Duvalier (Haiti) illegale Gelder in Millionenhöhe auf Schweizer Banken horteten.8 Auch der Export von Kriegsmaterial nach Südafrika oder Nigeria belastete die Schweizer Außenpolitik.9 Des Weiteren gewährte der Bundesrat auch Exportrisikoversicherungen für kontroverse Atomkraftwerk- und Staudammprojekte in Südafrika. Man berief sich auch hier auf die Universalität, aber auch auf den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Schweiz.10 Trotz dieser „dunklen Seiten“ ihrer Außenpolitik ging es der Schweiz aber natürlich nicht primär darum, von fragwürdigen Geschäften mit Autokraten zu profitieren. Zwar dominierten Wirtschaftsaspekte die Außenpolitik, aber die 3
Vgl. Daniel Trachsler, Bundesrat Max Petitpierre. Schweizerische Außenpolitik im Kalten Krieg 19451961, Zürich 2011. 4 Matthias Kunz, Pietro Morandi, Der Kosovo-Krieg als heimliche Epochenwende der schweizerischen Aussenpolitik, in: Jürg Martin Gabriel (Hrsg.), Schweizerische Aussenpolitik im Kosovo-Krieg, Zürich 2000, S. 63-88, S. 67. 5 Urs Altermatt, Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart, in: Alois Riklin, Hans Haug, Raymond Probst (Hrsg.), Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, Bern 1992, S. 61-78, hier S. 72. Die Handelsabteilung hieß ab 1979 Bundesamt für Aussenwirtschaft, dieses fusionierte 1999 ins Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). 6 Jörg Künzli, Vom Umgang des Rechtsstaats mit Unrechtsregimes, Bern 2008, S. 141-145. 7 Vgl. André Schaller, Schweizer Neutralität im West-Ost-Handel: Das Hotz-Linder-Agreement vom 23. Juli 1951, Bern 1987. 8 Spektakuläre Fälle illegaler Potentatengelder, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 25.2.2010. 9 Kriegsmaterialexport als steter Skandalherd, in: Swissinfo, 14.10.2009; Künzli, Vom Umgang des Rechtsstaats, a.a.O. (Anm. 6), S. 219-225. 10 Ebd., S. 593-595.
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Schweiz handelte zu 70 Prozent mit den unmittelbaren Nachbarstaaten sowie mit den USA, allesamt Demokratien. Zudem hatte die unpolitische Entwicklungshilfe der unparteiischen Schweiz während der Ost-West-Konfrontation einen sehr guten Ruf, auch weil sie nie Kolonialmacht gewesen war.11 Neue außenpolitische Konzepte und Ziele Das Ende des Kalten Krieges wirkte aber als Zäsur. Das Spannungsfeld zwischen einer exportorientierten Wirtschafts- und einer werteorientierten Außenpolitik wurde neu austariert. Solidarität und globale Verantwortung waren zwar bereits seit 1947 wichtige Maximen der Schweizer Außenpolitik. Erst seit 2000 ist die Förderung von Demokratie jedoch als außenpolitisches Ziel in der Bundesverfassung verankert. Die schweizerische Außenpolitik ist heute aktiver, solidarischer und kooperativer als vor 1989. Nebst der Verfolgung wirtschaftlicher Eigeninteressen wurde im Sinne einer möglichst kohärenten Außenpolitik der weltweite Einsatz für Demokratie und Menschenrechte wichtiger. Seit 1993 reden außenpolitische Berichte einer aktiven, solidarischen und kooperativen Außenpolitik das Wort. Neutralität bedeute nicht Passivität, betont der Bundesrat.12 Die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat ist heute eines von fünf außenpolitischen Zielen. Ziel- und Mittelkonflikte sollen im Bemühen um eine kohärente Außenpolitik interdepartemental geregelt werden.13 Das Spannungsfeld zwischen Wirtschafts- und Demokratieförderung ist seit Inkrafttreten der revidierten Bundesverfassung am 1. Januar 2000 auch verfassungsrechtlich verankert. Artikel 54 Absatz 2 nennt unter den außenpolitischen Zielen sowohl die „Wohlfahrt“ der Schweizerinnen und Schweizer – womit Wirtschaftsbeziehungen mit Autokratien gerechtfertigt werden können – als auch die „Achtung der Menschenrechte“ und „Förderung der Demokratie“. Artikel 101 betont explizit, dass der Bund „die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland“ zu wahren habe.14 Artikel 54 gibt seither innenpolitischen Kritikern der Schweizer Beziehungen mit Autokratien einen nützlichen Hebel. So wird seither vermehrt in parlamentarischen Anfragen von der politischen Linken auf die Achtung der Menschenrechte und Förderung der Demokratie als außenpolitische Ziele gemäß Verfassung verwiesen.15 11 Vgl. René Holenstein, Wer langsam geht, kommt weit. Ein halbes Jahrhundert Schweizer Entwicklungshilfe, Zürich 2010. 12 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2012, 9.1.2013, S. 3026. 13 Bundesrat, Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren, 29.11.1993, S. 5f., S. 36. 14 Vgl. Laurent Goetschel, Aussenpolitik, in: Peter Knoepfel et al., Handbuch der Schweizer Politik (5. Aufl.), Zürich 2014, S. 623-644, hier S. 628. 15 Vgl. z.B. Motion 11.3127 von Hildegard Fässler-Osterwalder, 16.3.2011. Dabei ging es um Kriegsmaterialexporte nach Saudi-Arabien, Pakistan, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate. Zur Kritik der Politik gegenüber Iran vgl. Anfrage 06.1173 von Markus Wäfler, 19.12.2006.
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Bei einer außenpolitischen Klausur am 18. Mai 2005 („K18“) fällte der Bundesrat den Grundsatzentscheid, als Nichtmitglied der EU mit ausgewählten außereuropäischen Partnern strategische Partnerschaften einzugehen. Die Regierungsform spielte dabei keine Rolle. Im Fokus sind die USA, China, Russland, Indien, Japan, Brasilien, Südafrika und die Türkei.16 Die im Bericht 2007 verschriftlichte neue Strategie wurde in späteren Berichten bestätigt, wenn auch nach der Amtsübergabe von Außenministerin Micheline Calmy-Rey (2003 bis 2011) an Didier Burkhalter das Verhältnis der Schweiz zu den europäischen Nachbarstaaten und der EU ab 2012 wieder wichtiger wurde.17 Seine aktuelle außenpolitische Vision18 stellte der Bundesrat 2012 unter das Motto einer „Außenpolitik der verantwortungsbewussten Offenheit“. Als überdurchschnittlich globalisiertes Land, das dank seiner exportorientierten Wirtschaft großen Nutzen aus der Globalisierung ziehe, müsse sich die Schweiz aktiv für ein stabiles Umfeld, störungsfreie Versorgungssysteme und eine friedliche und liberale internationale Ordnung mit freien Staaten und Gesellschaften einsetzen, argumentierte der Bundesrat.19 Den hervorgehobenen Stellenwert der Schweiz im internationalen Vergleich pries er dabei wie folgt an: „Als Land ohne koloniale Vergangenheit und mit demokratischer Erfahrung besitzt die Schweiz einen besonderen Mehrwert für Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden.“20 Anti-autokratische Außenpolitik in der Praxis Der Versuch, Zielkonflikte zwischen national-egoistischer Förderung der eigenen Wohlfahrt und einer solidarischen Friedenspolitik mithilfe einer kohärenten Außenpolitik aufzulösen, führte in der Praxis ab 1990 zum Wandel im Umgang der Schweiz mit Autokratien. Im Folgenden werden besonders relevante Instrumente und Maßnahmen der neuen, „anti-autokratischen“ Schweizer Außenpolitik diskutiert. Entwicklungspolitik
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde die Schweizer Entwicklungshilfe politischer. 1999 traf der Bundesrat einen Grundsatzentscheid in Sachen außenpolitischer Konditionalität der internationalen Zusammenarbeit: Alle Abkommen mit Drittstaaten sollten eine Klausel über die Beachtung von Menschenrechten 16 Vgl. Erweiterung der aussenpolitischen Pupillen, in: NZZ, 20.5.2005. 17 Vgl. Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2007, 15.6.2007, S. 5534-5537; ders., Aussenpolitischer Bericht 2012, a.a.O. (Anm. 12), S. 1036-1047; ders., Aussenpolitischer Bericht 2013, 15.1.2014, S. 11201131. 18 Bundesrat, Aussenpolitische Strategie 2012-2015, März 2012. 19 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 17), S. 1063f. 20 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2011, 18.1.2012, S. 2980.
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und Grundsätze der Demokratie enthalten und bei deren Nichteinhaltung annulliert werden. Bei fehlenden Bemühungen um gute Regierungsführung, bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, bei schweren Verstößen gegen Frieden und Sicherheit, aber auch bei fehlender Bereitschaft zur Rückübernahme abgewiesener Asylbewerber würde die Schweiz die technische oder finanzielle Zusammenarbeit sistieren oder abbrechen. 2003 wurde diese Praxis jedoch bereits wieder gelockert: Seither liegt der Fokus stärker auf positiven Anreizen statt auf negativen Maßnahmen.21 Die Unterstützung der Transition zu demokratischen, marktwirtschaftlichen Systemen ist heute eines von fünf Zielen der Schweizer Entwicklungspolitik.22 Der Bundesrat betont inzwischen: „Demokratische Länder sind daran interessiert, Demokratien in Entwicklungsregionen zu stärken.“ Die Schweizer Entwicklungspolitik steht dabei unter dem Motto „Solidarität im wohlverstandenen Eigeninteresse“: Durch die Zusammenarbeit sollen auch Migrationsströme in die Schweiz reduziert werden.23 Die einflussreiche Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), die zwei Drittel des Budgets des Außenministeriums verschlingt, wurde in den letzten Jahren stärker ins Außendepartement (EDA) integriert.24 Unter den aktuell 20 Schwerpunktländern der Zusammenarbeit sowie zwölf Haupteinsatzgebieten der humanitären Hilfe befinden sich Nordafrika, Südkaukasus, Zentralasien, Syrien, Nordkorea und Myanmar. Für den Fokus auf Zentralasien sprechen auch sachfremde Gründe. Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan sitzen in der von der Schweiz 1992 initiierten Stimmrechtsgruppe von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die informell als „Helvetistan“ bezeichnet wird. Auch für das Engagement in Nordkorea sprechen friedenspolitische Gründe und nicht die Aussicht auf einen erfolgreichen Demokratisierungsprozess.25 2013 verlieh der externe Entwicklungsausschuss der OECD der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz jedoch gute Noten und bestätigte somit ihren neuen, politischeren Ansatz.26
21 Bundesrat, Bericht zur Umsetzung der Konditionalität in der Aussenpolitik, 25.10.2010. Vgl. auch die Stellungnahme des Bundesrats zum Postulat 06.3617, „Förderung der Menschenrechte und der Demokratie in Abkommen mit Drittstaaten“ vom 6.10.2006, 8.12.2006. Die Zusammenarbeit wurde abgebrochen oder sistiert mit Weißrussland (1996), Myanmar (1996), Indien und Pakistan (nach den Atomtests 1998) sowie nach dem Staatsstreich in Niger (1999). Trotz parlamentarischer Kritik wurde hingegen die Zusammenarbeit mit Russland auch nach Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges 1999 weitergeführt. 22 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2011, a.a.O. (Anm. 20), S. 2999. 23 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2007, a.a.O. (Anm. 17), S. 5547f. Zur Migrationsaußenpolitik siehe ders., Aussenpolitischer Bericht 2010, 10.12.2010, S. 1162-1168. 24 Vgl. Ambivalente Integration der Entwicklungspolitik, in: NZZ, 5.12.2013. 25 Philippe Guldin, Kohärenz in der Schweizer Aussen- und Entwicklungspolitik, Dissertation Universität Zürich 2011, S. 106; Künzli, Vom Umgang des Rechtsstaats, a.a.O. (Anm. 6), S. 615f. 26 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 17), S. 1100.
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Zivile Friedensförderung
Mit der seit 1993 forcierten zivilen Friedensförderung engagiert sich die Schweiz in autokratisch regierten Staaten wie Nepal, Kolumbien, Indonesien, Thailand, Kirgistan, Myanmar sowie in Nordafrika und im Südkaukasus.27 Sie spezialisiert sich auf die Bereiche Vergangenheitsarbeit, auf religiöse Faktoren bei der Beilegung von Konflikten sowie auf den Schutz der Menschenrechte bei friedlichen Demonstrationen oder auf die Bekämpfung der Straflosigkeit.28 Die Förderung der menschlichen Sicherheit ist ein wichtiges Element der schweizerischen zivilen Friedensförderung: Der Fokus auf das Individuum als Objekt der Sicherheit stellt eine verkappte Demokratisierungsagenda gerade auch in Autokratien dar.29 Die Schweiz engagiert sich zudem für den Ausbau der internationalen Strafgerichtsbarkeit im Rahmen des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Anfang 2013 ersuchte die Schweiz in einer Petition zusammen mit 56 mitunterzeichnenden Staaten den UN-Sicherheitsrat darum, die Situation in Syrien an den ICC zu überweisen.30 Auch die Mediation ist in den vergangenen Jahren ein immer wichtigerer Bestandteil der Schweizer Friedensförderung geworden: Die Vermittlungen im sudanesischen Bürgerkrieg (2002) sowie zwischen Armenien und der Türkei (2009) waren besonders erfolgreich. 2013 war die Schweiz in über zehn Mediationsverfahren involviert, darunter in Kolumbien, Myanmar, Äthiopien, Mali, Indonesien und Thailand. Dabei wurden bewaffnete Gruppen, Regierungen und Fazilitationsteams auf Friedensverhandlungen vorbereitet.31 Im März 2011 hat der Bundesrat ein fünfjähriges Nordafrika-Programm auf den Weg gebracht. Im Bereich „Demokratie und Menschenrechte“ (im Umfang von acht Millionen Schweizer Franken pro Jahr) stehen Projekte zur Durchführung von Wahlverfahren, politischer Dialog, Reform des Sicherheitssektors, Stärkung der Zivilgesellschaft, Förderung der Menschenrechte, Übergangsjustiz und Vergangenheitsarbeit sowie die Rückerstattung von Potentatengelder im Vordergrund.32
27 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2011, a.a.O. (Anm. 20), S. 2980. 28 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2011, a.a.O. (Anm. 20), S. 2959, 2984f., 2991; ders., Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 17), S. 1104. 29 Daniel Trachsler, Menschliche Sicherheit: Entstehung, Debatten, Trends, in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 90 (2011). 30 Daniel Trachsler, Der ICC: Hohe Erwartungen, zwiespältige Bilanz, in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 130 (2013). 31 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 17), S. 1103. Vgl. Simon J.A. Mason, David Lanz, Switzerland’s Experiences in Peace Mediation, in: Touko Piiparinen, Ville Brummer (Hrsg.), Global Networks of Mediation, Helsinki 2012, S. 73-78. 32 Lisa Watanabe, Nach den arabischen Rebellionen: Eine neue Schweizer Nordafrikapolitik, in: Christian Nünlist und Oliver Thränert (Hrsg.), Bulletin 2013 zur schweizerischen Sicherheitspolitik, Zürich 2013, S. 71-89.
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Umdenken der neutralen Schweiz
Demokratieförderung
Multilateral setzt sich die Schweizer Diplomatie in UN, Europarat und OSZE aktiv für Demokratisierungsprozesse ein, gemäß dem Motto „Sicherheit durch Demokratie“. Als Nichtmitglied der EU sind der Europarat und die OSZE wichtige Diskussionsplattformen für die Schweiz – Bern engagiert sich deshalb in beiden Organisationen. Sowohl die Europarats-Präsidentschaft 2009/10 als auch die OSZE-Präsidentschaft 2014 wurden aufwändig umgesetzt.33 Umso stärker ist die Schweizer Diplomatie betroffen vom Bedeutungsverlust beider Organisationen im 21 Jahrhundert.34 Bei der Förderung demokratischer Transitionsprozesse wie aktuell in Kosovo, Georgien, Somalia, Myanmar, Mali und Nordafrika profitiert die Schweiz vom Ruf einer stabilen Demokratie und von ihrer anerkannten Expertise.35 Eine Spezialität ist die Entsendung von Schweizer Experten zu Wahlbeobachtungen im Ausland. Menschenrechtsdialoge
Mit einigen autoritären Staaten führt die Schweiz seit 1991 offizielle Menschenrechtsdialoge. Auf Regierungsebene werden Themen wie Todesstrafe, Folter, Religionsfreiheit diskutiert. Wenn keine positive Wirkung festgestellt wird, können diese Dialoge abgebrochen oder sistiert werden.36 2013 fanden Dialogrunden mit China, Kuba, Nigeria, Russland, Senegal, Tadschikistan und Vietnam statt.37 Inwiefern Schweizer Impulse in den Partnerländern tatsächlich zu Fortschritten führen, ist kaum messbar. Gerade die Menschenrechtsdialoge mit China sind innenpolitisch höchst umstritten und werden oft als Feigenblatt für außenwirtschaftliche Interessen gebrandmarkt.38 Ein interner Evaluationsbericht über die Umsetzung von Schweizer Handlungsvorschlägen im Jugendstrafvollzug im Iran fiel 2011 enttäuschend aus.39 Asset Recovery40
Bei der Sperrung und Rückgabe unrechtmäßig erworbener und in der Schweiz deponierter Vermögenswerte „politisch exponierter Personen“ (PEP) erarbeitete sich die Schweiz seit 1990 international eine Vorreiterrolle. Sie erstattete 684 33 Hier geht es um Werte und nicht um Interessen, in: Tages-Anzeiger, 18.11.2009; Christian Nünlist, Building Bridges for Everyone: Switzerland’s Chairmanship of the OSCE in 2014, in: Security and Human Rights, Band 3-4 (2013/14), S. 355-372. 34 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2009, a.a.O. (Anm. 2), S. 6360. 35 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 15), S. 1104. 36 Alexander Spring, Andreas Kind, Flavia Kleiner, Die Menschenrechtsdialoge der Schweiz: Quo vadis? In: foraus-Diskussionspapier Nr. 9 (Dezember 2011). 37 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2013, a.a.O. (Anm. 17), S. 1107. 38 Die heikle Frage der Menschenrechte im China-Abkommen, in: NZZ, 15.5.2013. 39 Micheline Calmy-Rey, Die Schweiz, die ich uns wünsche, München 2014, S. 138. 40 Vgl. Mark Pieth (Hrsg.), Recovering Stolen Assets, Bern 2008.
Christian Nünlist
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Millionen Dollar an die Philippinen, 700 Millionen an Nigeria, 92 Millionen an Peru, 74 Millionen an Mexiko zurück.41 Zurzeit wird ein neues Gesetz auf den Weg gebracht. Damit wird die Schweiz über das im internationalen Vergleich umfassendste Gesetz bezüglich der Sperrung, Einziehung und Rückführung von Potentatengeldern verfügen. Das Gesetz wird „Lex Ben Ali“ genannt, weil die Schweiz 2011 innerhalb kürzester Zeit drei Mal Gelder von gestürzten Diktatoren in Tunesien, Ägypten und Libyen sperren ließ. Weil die Verfassung die Sperrung von Potentatengeldern nur in Ausnahmefällen erlaubt, entschied der Bundesrat, eine gesetzliche Grundlage für künftige Vermögenssperrungen zu schaffen.42 Kriegsmaterialausfuhr
Das Thema bleibt bis heute kontrovers. 2006 bewilligte der Bundesrat den Export eines Trainingsflugzeugs nach Tschad, das später im Krieg eingesetzt wurde.43 75 Prozent des ausgeführten Kriegsmaterials gehen aber an Staaten, welche dieselben Werte wie die Schweiz vertreten, an Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Österreich, Schweden oder die USA.44 Zwei Volksinitiativen, die Kriegsmaterialexporte verbieten wollten, wurden 1997 und 2009 klar abgelehnt. Das Kriegsmaterialgesetz wurde 2008 verschärft. Exporte waren in der Folge nur erlaubt, falls das Empfängerland Menschenrechte respektierte und sich nicht in einem bewaffneten Konflikt befand. Im März 2014 forderte das Parlament jedoch, die Ausfuhren wieder zu lockern, um die Schweizer Rüstungsindustrie nicht zu benachteiligen.45 Energiepartnerschaften
Autokratien spielen eine wichtige Rolle in der Energieaußenpolitik der Schweiz. Den Beziehungen zum Energielieferanten Russland wird seit 2005 strategisch hohe Bedeutung zugemessen. Russische Rohstoffe sind zentral für den Schweizer Finanzplatz und Transithandel.46 Die Schweiz versucht, sowohl die Herkunftsländer von Erdöl und Erdgas als auch die Transportwege zu diversifizieren, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Im Fokus stehen 41 Die „Lex Duvalier“ könnte kurzlebig sein, in: Swissinfo, 26.1.2011. 42 Botschaft zum Bundesgesetz über die Sperrung und die Rückerstattung unrechtmäßig erworbener Vermögenswerte ausländischer politisch exponierter Personen, 21.5.2014. 43 Vgl. PC-9 in Tschad bewaffnet, in: NZZ, 18.1.2008. 44 Stellungnahme des Bundesrats vom 18.11.2009 auf Motion 09.3859 von Donzé Walter vom 24.9.2009, „Restriktive Anwendung des Kriegsmaterialgesetzes“. 45 Parlament schmiert Schweizer Waffenexporte, in: NZZ, 6.3.2014; Saudi-Arabien darf nun Schweizer Fliegerabwehrgeschütze kaufen, in: Tages-Anzeiger, 7.3.14; Handlanger der Schurkenstaaten, in: Sonntags-Zeitung, 3.11.2013; Schweizer Waffen-Exporte gehen zurück, in: NZZ, 28.2.2014. 46 Jonas Grätz, Partnerschaft mit Russland: Bestandsaufnahme einer aussenpolitischen Akzentsetzung, in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2013), S. 43-70, S. 47f.
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Umdenken der neutralen Schweiz
Aserbaidschan, die Türkei, Russland, Algerien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die Ukraine, Weißrussland, Georgien, Armenien und Kasachstan.47 Aktuell ist Libyen der wichtigste Rohöllieferant, gefolgt von Kasachstan, Nigeria und Algerien. Das in der Schweiz verbrauchte Erdgas wird in absteigender Reihenfolge in den EU, Russland, Norwegen und Algerien produziert. Der Bundesrat verknüpfte die energiepolitische Zusammenarbeit mit dem Versprechen, sich in diesen Ländern für Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen.48 Doch die energiepolitische Abhängigkeit von instabilen Regionen im Mittleren Osten, in Nordafrika und Zentralasien führt zu Zurückhaltung. Die Schweiz möchte diese autokratischen Regime nicht vor den Kopf stoßen.49 Sanktionen
Seit 1990 beteiligt sich die Schweiz an UN-Sicherheitsratssanktionen. Die neue Vereinbarkeit von Neutralität und Wirtschaftsembargos wurde im Neutralitätsbericht 1993 kodifiziert.50 Seit 1998 hat die Schweiz auch die meisten EU-Sanktionen übernommen, etwa gegen Ex-Jugoslawien, Sudan, Myanmar, Simbabwe, Usbekistan, Weißrussland oder Nordkorea. Oft setzt sie UN-Sanktionen erst in Absprache mit der EU und mit zeitlicher Verzögerung um, etwa gegen die Taliban (2000), Liberia (2005) oder Iran (2007). Im Sommer 2014 bestanden Schweizer Sanktionen unter anderem gegen Liberia, Myanmar, Simbabwe, Côte d’Ivoire, Sudan, Kongo, Belarus, Nordkorea, Libanon, Iran, Somalia, Guinea, Eritrea, Libyen, Syrien, Guinea-Bissau, die Zentralafrikanische Republik sowie gegen Russland und die Ukraine.51 Als Nichtmitglied der EU behält sich die Schweiz eine unabhängige Position vor: So lehnte sie EU-Sanktionen gegen Iran aus friedenspolitischen Motiven, das heißt wegen des Schweizer Schutzmandats für den Iran, zunächst ab.52 Die Schweiz zögerte auch bei den EU-Sanktionen gegen Russland nach der Annexion der Krim im März 2014. Um nicht als „Kriegsgewinnerin“ zu gelten, verhindert die Schweiz jedoch in solchen Fällen Umgehungsgeschäfte im eigenen Land.53 Nicht immer mit Erfolg: 2009 musste die Credit Suisse 536 Millionen Dollar wegen vertuschter Finanztransaktionen mit Iran und Syrien zahlen;54 zudem
47 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2009, a.a.O. (Anm. 2), S. 6403. 48 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2010, a.a.O. (Anm. 23), S. 1056f.; Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2011, a.a.O. (Anm. 20), S. 2918; Bundesamt für Energie, Schweizer Erdöleinfuhren: Herkunft, Einfuhrwege, Hauptakteure, 21.3.2013. 49 René Schwok, Die Schweizer Aussenpolitik nach Ende des Kalten Krieges, Zürich 2014, S. 46. 50 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 1993, a.a.O. (Anm. 13), S. 18. 51 Die aktuelle Seco-Liste findet sich unter (abgerufen am 29.8.2014). 52 Bundesrat, Aussenpolitischer Bericht 2010, a.a.O. (Anm. 23), S. 1080. 53 Künzli, Vom Umgang des Rechtsstaats, a.a.O. (Anm. 6), S. 532f.. 54 Iran & Co.: CS hat Ausstieg verschleppt, in: Sonntagszeitung, 20.12.2009.
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wurden Firmen mit Sitz in der Schweiz auch verdächtigt, UN-Sanktionen gegen Libyen (1993-1999) und Irak (1991-2003) zu unterlaufen.55 Fazit: Eine kohärente Außenpolitik? Seit 1990 hat sich die Schweizer Außenpolitik stark gewandelt. Auch der Umgang mit Autokratien veränderte sich. Demokratie- und Menschenrechtsförderung wurden als außenpolitische Ziele in die neue Verfassung geschrieben. Insbesondere unter Außenministerin Micheline Calmy-Rey (2003-2011) florierte eine aktive, solidarische Neutralitätspolitik. Die Schweizer Außenpolitik dient zwar weiterhin der bestmöglichen Interessenwahrung, insbesondere der wirtschaftlichen Wohlfahrt des Landes. Solidarische Elemente wurden aber eng mit den nationalen Interessen des Landes verzahnt – der Bundesrat spricht deshalb vom „wohlverstandenen Eigeninteresse“ als Motto seiner Außenpolitik. Die Vision der 1990er Jahre, eine kohärente demokratiefördernde Außenpolitik zu betreiben, wurde allerdings im 21. Jahrhundert nicht konsequent umgesetzt, auch wenn sich die Schweiz heute sehr stark in der zivilen Friedensförderung und der Menschenrechtspolitik engagiert. Unter den seit 2005 forcierten außereuropäischen strategischen Partnerschaften figurieren heute Autokratien wie China, Russland und die Türkei. China ist seit 2002 der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien; Russland ein wichtiger Gaslieferant; die Türkei ein wichtiges Durchgangsland für Öl und Gas. Auch die Entwicklungszusammenarbeit sowie die humanitäre Hilfe kooperieren teils aus sachfremden Gründen mit Autokratien. Die internationale Zusammenarbeit wird seit 2003 nicht mehr konsequent von Reformen im Partnerstaat abhängig gemacht, von strikter politischer Konditionalität wird seither wieder abgesehen. Dennoch sollten die wirtschaftlichen Beziehungen mit Autokratien nicht überbewertet werden. Nach wie vor ist das Handelsvolumen zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg größer als dasjenige mit den USA oder als dasjenige mit China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika zusammen. Sowohl das Freihandelsabkommen mit China als auch die laufende UkraineKrise führten aber dazu, dass das Konzept der strategischen Partnerschaften mit Autokratien 2014 stärker in Verruf geraten ist. Prompt kehren die Geister der Vergangenheit zurück – und der Schweiz wird wieder wie im Kalten Krieg vorgeworfen, aus dem Sonderfall Neutralität wirtschaftlichen Profit ziehen zu wollen. Dieser Vorwurf zielt aber daran vorbei, dass sich der Umgang mit Autokratien generell stark gewandelt hat und sich die Schweiz heute viel stärker als vor 1990 weltweit für Demokratieförderung einsetzt. Während andere europäische Staaten infolge der Wirtschaftskrise ihre solidarischen Beiträge in den letzten Jahren zurückgefahren haben, hat die Schweiz die finanziellen Mittel sowohl für die Entwicklungshilfe als auch für die zivile Friedensförderung erhöht. 55 Schwok, Schweizer Aussenpolitik, a.a.O. (Anm. 49), S. 47.
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Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise Susanne Gratius
Spaniens Außenpolitik ist seit jeher stärker interessengeleitet als wertegebunden. Zwar gehören Demokratie und Menschenrechte zu den außenpolitischen Zielsetzungen, in der Praxis aber haben – unabhängig von der politischen Couleur der Regierungen – nationale Interessen wie Energieversorgung, Wirtschaftswachstum oder aber die Kandidatur Spaniens als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (2015-2016) eindeutig Vorrang vor normativen Prinzipien. Der Trend zur Außenpolitik im Eigeninteresse hat sich seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 deutlich verstärkt.1 Unter der konservativen Volkspartei PP, die das Land seit November 2011 mit absoluter Mehrheit regiert, haben sich die außenpolitischen Schwerpunkte durch die absolute Priorität der ökonomischen Stabilisierung zugunsten eigener Exportinteressen und sicherheitspolitischer Ziele verlagert. Wachstumskurs um jeden Preis Maßgeblich hierfür ist das Programm „Marca España“, das Spaniens Wirtschaftskraft und Ansehen im Ausland stärken soll. Das Programm wird von einem eigens hierfür geschaffenen Hochkommissar geleitet und steht an der Schnittstelle zwischen Regierungspräsident und Außenminister. Durch das ressortübergreifende Exportförderungsprogramm ist die Grenze zwischen der spanischen Außen- und Wirtschaftspolitik inzwischen nicht mehr klar zu erkennen.2
1 2
Richard Gillespie, Driven by Crisis: Spanish Foreign and Security Policy in 2011, in: Anuario Internacional 2012, CIDOB, Barcelona 2012; Susanne Gratius, Außenpolitik im Eigeninteresse? Die spanische Lateinamerika-Politik. SWP-Aktuell, Berlin, Januar 2014. Ebd.
Susanne Gratius
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Das Diktat der Wirtschaftspolitik seit dem Beginn der Finanzkrise 2008 hatte nicht nur inhaltliche, sondern vor allem finanzielle Konsequenzen. Der von Brüssel verordnete Sparkurs zur Reduzierung des Haushaltsdefizits (von über 8 Prozent unter der sozialistischen Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero) betraf vor allem die Außen- und Entwicklungspolitik, die von 2009 bis 2012 Etatkürzungen von insgesamt 66 Prozent hinnehmen musste.3 Proportional gesehen war das Außenministerium am stärksten von der Sparpolitik betroffen.4 Auch wenn die von der vorigen sozialistischen Regierung bewilligten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, die allein im Zeitraum 2006 bis 2008 um 50 Prozent anstiegen, nach Ansicht vieler nicht im Verhältnis zur realen Wirtschaftskraft des Landes standen, geht die derzeitige Austeritätspolitik mit einem deutlichen Einflussverlust Spaniens in der internationalen Politik und insbesondere in der Entwicklungszusammenarbeit einher.5 Insofern standen Spaniens Chancen nicht allzu gut, Mitte Oktober 2014 in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt zu werden. Die Regierung bemühte sich aber intensiv, Verbündete zu gewinnen und gewann schließlich die Abstimmung gegen die Türkei im dritten Anlauf. Die internationale Kampagne Spaniens zur Aufnahme in den UN-Sicherheitsrat richtete sich nicht nur an demokratische Staaten, sondern suchte auch die Unterstützung autoritär regierter Nationen. Letzteres zeigte sich im Juni 2014, anlässlich der erstmaligen Teilnahme von Mariano Rajoy an einem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union und dem anschließenden bilateralen Treffen mit dem Präsidenten von Äquatorialguinea, Teodoro Obiang, der 1979 durch einen Militärputsch an die Macht kam und das Land seitdem autoritär regiert. Lediglich linke Medien, wie die Tageszeitung El Público, kritisierten die Annäherung Rajoys an Diktator Obiang, den in den zurückliegenden 20 Jahren alle spanischen Regierungschefs geflissentlich gemieden hatten. Mit Ausnahme der Proteste gegen die spanische Teilnahme am Irak-Krieg und dem anschließenden Wahlsieg der Sozialisten nehmen außenpolitische Themen in der öffentlichen Debatte so gut wie keinen Raum ein. In der Wahlkampagne 2011 beispielsweise spielte „der Rest der Welt absolut keine Rolle“.6 Das Interesse der Medien konzentriert sich auf die Innen-, Wirtschaftsund Europapolitik, die eng miteinander verwoben sind. Demokratieförderung und der Umgang mit autoritären Staaten werden nur noch selten thematisiert.
3 4 5 6
Nach Angaben der OECD wurde die spanische Entwicklungszusammenarbeit 2012 (im Vergleich zum Vorjahr) um 53 Prozent gekürzt; vgl. OECD, Mid-term review of Spain. Paris, 19.11.2013. Cristina Manzano, Política Exterior y de Seguridad española en 2012: entre lo pragmático y lo involuntario, in: Anuario de CIDOB 2013, S. 215-222, Barcelona 2013, S. 2016. Gillespie, Driven by Crisis, a.a.O. (Anm. 1). Manzano, Política Exterior, a.a.O. (Anm. 4).
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Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise
Auch die Kritik der Oppositionsparteien an der Außenpolitik im Eigeninteresse7 hält sich wegen der Priorität innenpolitischer Probleme – Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, Korruption, Separatismustendenz in Katalonien oder die wachsende soziale Ungleichheit – in Grenzen. Und durch die klaren Mehrheitsverhältnisse der spanischen Regierung besteht im Unterschied zu anderen EU-Mitgliedstaaten in Spanien kein sichtbarer Konflikt zwischen den einzelnen Ressorts und staatlichen Agenturen, die den vorgegebenen „Wachstumskurs um jeden Preis“ mittragen. Dieser pragmatische Kurs zeigt sich auch in der vor kurzem reformierten Außen- und Sicherheitspolitik, in der Demokratie und Menschenrechte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Außen- und Sicherheitspolitik Aus Sicht der PP-Regierung ist die Erfüllung der Kriterien für den Verbleib im Euro das oberste nationale Ziel, dem die Wirtschafts-, Sozial und Außenpolitik untergeordnet sind. Hierdurch hat sich die Gewichtung der traditionellen geografischen Schwerpunkte der spanischen Außenpolitik, Europa, Nordafrika und Lateinamerika, leicht verschoben. Unter Wirtschaftsminister José Manuel García Margallo, einem ehemaligen EP-Abgeordneten, belegt die EU – mit über 60 Prozent der Ausfuhren und Einfuhren der wichtigste Handelspartner Spaniens – mit großem Abstand den ersten Rang. Die Bedeutung der anderen beiden Regionen richtet sich nach den politischen und wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Regierung. Unter dem vorigen Außenminister Miguel Ángel Moratinos, der als Nahost-Experte galt, wurde Nordafrika eine größere Bedeutung zugemessen, während Lateinamerika – und innerhalb der Region vor allem die Mitgliedstaaten der Pazifik-Allianz – in der Außenpolitik der Regierung Rajoy aus wirtschaftlichen Gründen eine größere Rolle spielten.8 Das absolute Primat der Wirtschaftspolitik in der öffentlichen Debatte verschaffte Minister José Manuel García Margallo einen relativ großen Handlungsspielraum für neue Akzente, die im September 2014 in einem (noch nicht veröffentlichten) umfassenden Strategiepapier zur spanischen Außenpolitik definiert wurden. Die neue außenpolitische Strategie orientiert sich teilweise an den Empfehlungen des Real Instituto Elcano9 und zielt, ebenso wie die 2013 verabschiedete nationale Sicherheitsstrategie, auf Kohärenz, Effizienz und Koordination ab. In Bezug auf die Zielsetzungen spielen 7 8 9
Gratius, Außenpolitik im Eigeninteresse?, a.a.O. (Anm. 1). Ebd. Als Grundlage diente ein vom spanischen Think-Tank Real Instituto Elcano verfasstes Dokument, das zahlreiche Handlungsempfehlungen für eine „strategischere Außenpolitik“, einschließlich einer stärkeren Werteorientierung, ausspricht. Vgl. Ignacio Molino (Hrsg.), Hacia una renovación estratégica de la política exterior española, Informe Elcano 15, Madrid, Februar 2014.
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Demokratieförderung und Menschenrechte eine, wenn auch nicht zentrale Rolle in der künftigen spanischen Außenpolitik, die deutlicher als zuvor eigenen Interessen dient. Demnach ist die Projektion des eigenen Demokratiemodells eine der sechs strategischen Zielsetzungen der spanischen Außenpolitik, die mit einer deutlicheren „Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten in der Welt“ und der Allianz mit anderen konsolidierten Demokratien einhergehen sollte.10 Demokratische Werte und die Einhaltung der Menschenrechte sollten auch in der Entwicklungszusammenarbeit stärker gewichtet werden. Wenn die neue außenpolitische Strategie diese Empfehlungen aufgreift, würden Demokratie und Menschenrechte nicht nur einen höheren Stellenwert in den spanischen Außenbeziehungen haben, sondern auch die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Staaten wie Deutschland. Auch in der 2013 verabschiedeten nationalen Sicherheitsstrategie wird Menschenrechten und Demokratie keine herausragende Stellung eingeräumt. Als wichtigste Zielsetzungen werden indes, in dieser Reihenfolge, Stabilität, Frieden und internationale Sicherheit genannt. Autoritäre Regime gehören nicht zu den zentralen Herausforderungen und Risiken der spanischen Sicherheitsstrategie, und Demokratieförderung wird im gesamten Dokument nicht einmal erwähnt.11 Eine Ausnahme bildet Nordafrika. Ein „stabiler, demokratischer Mittelmeerraum“ gilt als „beste Sicherheitsstrategie, und Rechtsstaatlichkeit gehört, zusammen mit wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Kohäsion und sicherheitspolitischen Herausforderungen, zu den im Dokument genannten künftigen Herausforderungen der Maghreb-Region, die für Spanien aus historischen, wirtschaftlichen und geografischen Gründen von besonderer Bedeutung ist.12 Dies gilt insbesondere für Marokko, Spaniens größtem Handelspartner in der Region, mit dem Madrid seit jeher enge politische Beziehungen unterhält. Gegenüber allen anderen Regionen und Partnerländern finden Demokratie und Menschenrechte keine Erwähnung. Im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik verfügt Spanien, ebenso wie andere EU-Mitgliedstaaten, über die gesamte Bandbreite positiver und negativer Instrumente der Demokratieförderung, bevorzugt aber seit Kurzem Dialog und Zusammenarbeit. Die massive Kürzung der finanziellen Mittel für Außen- und Entwicklungspolitik gehen mit einem deutlichen Einflussverlust Spaniens in den für das Land strategischen Regionen Lateinamerika und Nordafrika einher. Dies gilt insbesondere für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ), die nicht mehr als Hebel für die Demokratisierung in wichtigen Partnerländern genutzt wird. 10 Ebd. S. 12. 11 Presidencia del Gobierno, Estrategia de Seguridad Nacional: Un proyecto compartido, Madrid 2013. 12 Ebd., S. 14.
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Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise
Keine politischen Kriterien in der Entwicklungszusammenarbeit Die drastische Sparpolitik – 2012 betrug der Anteil der EZ am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch 0,15 Prozent (zwei Jahre davor waren es noch 0,43 Prozent) –, zusammen mit der wachsenden Präsenz Chinas und Indiens in Afrika und Lateinamerika, hat die Wirksamkeit der spanischen Entwicklungshilfe als politisches Instrument gegenüber autoritär regierten Staaten deutlich verringert. So verfügte die spanische Entwicklungsagentur AECID 2013 nur noch über ein Drittel (266 Millionen Euro) der Ressourcen, die sie 2011 erhalten hatte. Die AECID gehört inzwischen zum spanischen Außenministerium und hat dadurch zwar an Koordination und Kohärenz gewonnen, aber auch an Autonomie und Unabhängigkeit verloren. Trotz der momentanen Sparpolitik ist die spanische Entwicklungszusammenarbeit, zumindest konzeptionell, nach wie vor demokratischen Werten verpflichtet. So bleibt die Konsolidierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch im neuen, von der konservativen Regierung entwickelten Orientierungsrahmen (Plan Director) für den Zeitraum 2013-2016 oberstes Ziel der spanischen Entwicklungspolitik. Im entwicklungspolitischen Orientierungsrahmen 2013-2016 wurde die Anzahl der Schwerpunktländer von 50 auf 23 reduziert. Unter anderem bedeutet dies das Ende der Entwicklungskooperation (und damit eines bedeutenden Instruments der Demokratieförderung) mit Ländern mittleren Einkommens und demokratischen Strukturen wie Argentinien, Brasilien, Chile, Panama und Uruguay, aber auch mit hybriden Regimen wie das von Nicolás Maduro regierte Venezuela, mit dem Spanien enge energiepolitische Beziehungen unterhält. Im Unterschied zur multilateralen Entwicklungskooperation der EU, die Länder mittleren Einkommens kaum noch oder gar nicht mehr fördert, konzentriert sich die spanische Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor auf Lateinamerika,13 seit Kurzem aber in erster Linie auf die Staaten mit einem hohen Armutsniveau, wie Bolivien, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua oder Peru. Unter den zehn bedeutendsten Empfängerländern der spanischen Entwicklungsgelder waren 2012 sowohl Demokratien als auch autoritäre Staaten, wie die DR Kongo, die mit 168 Millionen Dollar sogar an erster Stelle stand, gefolgt von Tunesien, Haiti, Bolivien, Peru, Marokko, Nicaragua, den palästinensischen Gebieten, Guatemala und El Salvador. Politische Kriterien für die Auswahl der neuen Länderschwerpunkte lassen sich nicht erkennen. Von
13 Die Region erhielt 2012 mit 1233 Millionen US-Dollar fast doppelt so viel Ressourcen wie Afrika südlich der Sahara (688 Millionen US-Dollar) und deutlich mehr als Nordafrika/MENA (480 Millionen US-Dollar) – Angaben der OECD-DAC.
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den neuen Partnerstaaten gelten nach Angaben von Freedom House14 vier als autoritär regierte, 13 als hybride Regime und lediglich drei als Demokratien. Dies steht, zumindest auf den ersten Blick, im Widerspruch zur obersten Priorität der Demokratieförderung der spanischen Entwicklungszusammenarbeit. Tabelle 11: Schwerpunktländer der spanischen EZ (Plan Director 2013-2016) Demokratie
Hybride Regime
Autoritäre Regime
El Salvador, Peru, Dominikanische Republik
Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Guatemala, Haiti, Honduras, Nicaragua, Paraguay
Kuba
MENA (Nordafrika und Nahost) (2 Länder)
Marokko
Mauretanien
Afrika südlich der Sahara (3 Länder)
Mali, Nigeria, Senegal
Zentralafrika, Ostafrika und südliches Afrika (3 Länder)
Mosambik
Lateinamerika und Karibik (12 Länder)
Philippinen
Asien (1 Land) Quelle: AECID, nach Freedom House 2014.
Äthiopien, Äquatorialguinea
15
Auf den zweiten Blick finanziert Spanien eine Vielzahl von Projekten mit politischen Zielsetzungen, wie Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte oder Förderung der Regierbarkeit. Dies gilt insbesondere für Projekte in Nordafrika und hier vor allem für Marokko, zusammen mit Algerien, ein zentraler wirtschaftlicher und politischer Partner Spaniens in der Region. Allerdings dienen die meisten unter der Rubrik demokratische Konsolidierung und Rechtsstaatlichkeit geführten Projekte vor allem der technischen Verbesserung der staatlichen Institutionen und ihrer Dienstleistungen einschließlich der Steuererhebung. Zivilgesellschaftliche Akteure oder aber oppositionelle Gruppen waren 2014 keine bedeutende Zielgruppe der politischen Entwicklungshilfe. Spanien ist innerhalb der EU-Mitgliedstaaten seit Beginn der Krise kein zentrales Geberland mehr und belegt international nur noch den 13. Rang. Politische Kriterien spielen bei der Vergabe von Projekten anscheinend keine Rolle mehr. Dieser Trend wurde durch die anhaltende Wirtschaftskrise und die geringe Vergabe neuer Ressourcen verstärkt. Damit verzichtet Spanien weitgehend auf ein Instrument der Soft Power, das unter der vorigen Regierung von Rodríguez Zapatero als Aushängeschild 14 Freedom House, Freedom in the World 2014, Washington, DC. 15 Ebd.
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Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise
für eine global verantwortliche, international solidarische und politisch einflussreiche Mittelmacht Spanien diente. Jetzt soll das Projekt „Marca España“, zusammen mit dem wirtschaftlichen Stabilisierungskurs, Spaniens Ansehen als internationale Mittelmacht stärken und gleichzeitig neue Exportmärkte erschließen. Die Merkantilisierung der Außenpolitik wird im pragmatischen Umgang mit autoritär regierten Partnerländern wie China deutlich und hat seit 2011 auch zu einer neuen Kuba-Politik geführt. Dialog statt Sanktionen: Die neue Politik gegenüber China und Kuba Der Stellenwert demokratischer Werte richtet sich, wie auch in anderen EUMitgliedstaaten, einerseits nach der wirtschaftlichen Bedeutung und Größe des jeweiligen Partnerlands und andererseits nach dem historischen Einfluss. Ein deutliches Beispiel hierfür bieten die – bis zur Wirtschaftskrise – unterschiedlichen Politiken gegenüber China und Kuba, die inzwischen durch eine Strategie der Annäherung angeglichen wurden. China ist mit etwa 20 Prozent der Außenschuld Spaniens zweitgrößter Gläubiger und war 2012 die drittbedeutendste Importquelle des Landes. Die Handelsbeziehungen sind deutlich asymmetrisch, denn bei den spanischen Exportmärkten nimmt China lediglich den 23. Platz ein. Beide Staaten unterhalten diplomatische Beziehungen seit 1973, zwei Jahre vor dem Ende der Franco-Diktatur und der Aufnahme diplomatischer Kontakte zwischen China und der EU. 2005 vereinbarten China und Spanien eine strategische Partnerschaft, in der Demokratie und Menschenrechte, im Gegensatz zur seit 1998 bestehenden Partnerschaft zwischen China und der EU, keine Rolle spielen. Dies zeigt einerseits, dass die bilateralen strategischen Partnerschaften nicht mit den multilateralen der EU koordiniert werden und andererseits die Priorität spanischer Exporte und Investitionen16 gegenüber demokratischen Fortschritten in China. Letzteres stellte Mariano Rajoy im September 2014 bei seinem ersten Staatsbesuch in China unter Beweis, bei dem, unter anderem, 14 Abkommen über 3,15 Milliarden Euro in den Bereichen Energiekooperation, Filmindustrie und Landwirtschaft unterzeichnet wurden. Zuvor hatte die Regierung in Madrid auf Druck der chinesischen Regierung ein Gesetz verabschiedet, das die unter Rodríguez Zapatero verabschiedete universale Rechtsprechung teilweise wieder zurücknimmt und dadurch unter anderem die Verurteilung der Verantwortlichen am Völkermord in Tibet verhinderte. Die Kritik spanischer Richter, die durch die Einschränkung der universalen Gesetzgebung auch zahlreiche international gesuchte Drogenhändler freilassen mussten, wurde zwar eine Zeitlang von oppositionellen Medien aufgegriffen, hatte aber durch die 16 Enrique Fanjul, Las relaciones empresariales de España con la China de la reforma: la evolución de un modelo, ARI 38, Real Instituto Elcano, Madrid, September 2013.
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absolute Mehrheit der PP-Regierung keinerlei juristische Konsequenzen und wurde von der Opposition kaum thematisiert. Im Gegensatz zu China standen Demokratie und Menschenrechte seit den 1990er Jahren im Mittelpunkt der spanischen Außenpolitik gegenüber dem sozialistischen Inselstaat. Bis 2011 war Kuba Teil einer polemischen Debatte zwischen PSOE und PP, die Demokratieförderung mit unterschiedlichen Strategien betrieben: Die PSOE bevorzugte Wandel durch Annäherung und die PP setzte auf Demokratieförderung durch die Unterstützung der Opposition und politischen Druck auf die Castro-Regierung. Ein Ergebnis der aktiven Rolle Spaniens innerhalb der EU war die 1996 verabschiedete Gemeinsame Position gegenüber Kuba, die auf Anregung der konservativen Regierung von José María Aznar (1996-2004) die demokratische Konditionalität verstärkt und bis heute in Kraft ist. Auch die Einfrierung der Entwicklungspolitik und die Verhängung diplomatischer und kultureller Sanktionen der EU als Reaktion auf eine neue Welle der Repression in Kuba im Jahre 2003 ging auf die Initiative der konservativen spanischen Regierung Aznar zurück. Nach dem Wahlsieg der sozialistischen PSOE nahm Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wieder auf und initiierte 2008 mit der Regierung von Präsident Raúl Castro einen regelmäßigen Dialog über Menschenrechte. Ein konkretes Ergebnis der Gespräche war, zusammen mit der Vermittlerrolle der Katholischen Kirche, die Freilassung zahlreicher politischer Gefangener seit 2010. Die seit 2011 regierende konservative Volkspartei PP hat keinen Kurswechsel in der Kuba-Politik vorgenommen, sondern die Linie der vorigen Regierung beibehalten. Erstmals bietet Kuba kein Spielfeld mehr für ideologische Grabenkämpfe zwischen den beiden bedeutendsten Parteien PP und PSOE, und es ist eine, noch vor einigen Jahren vergeblich geforderte Staatspolitik17 gegenüber der letzten spanischen Kolonie entstanden. Dies heißt auch, dass Spanien die noch unter der Regierung Zapatero geforderte Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens zwischen der EU und Kuba, das derzeit verhandelt wird, erstmals mittragen wird, ohne weitergehende Demokratisierung zu fordern. (Diese Rolle übernehmen inzwischen osteuropäische Staaten, teilweise mit deutscher Unterstützung.) Ob dahinter spanische Wirtschaftsinteressen in Kuba oder aber eine pragmatischere Linie nach dem Scheitern des demokratischen Drucks unter der Aznar-Regierung stehen, lässt sich nicht eindeutig festmachen. Mit Ausnahme der spanischen Kuba-Politik bis zum Jahre 2011 waren Sanktionen und demokratische Konditionalität auf bilateraler Ebene keine be17 Jorge Domínguez, Susanne Gratius, La Política Española ante la Cuba del Futuro. Working Papers on Latin America 06/07-2, The David Rockefeller Center for Latin American Studies, Harvard University, Cambridge 2006.
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Spaniens Interessen in Zeiten der Wirtschaftskrise
deutenden Instrumente des Umgangs mit autoritären Regimen. Ein Beispiel hierfür bietet die 1991 während der sozialistischen Regierung von Felipe González gegründete Iberoamerikanische Staatengemeinschaft mit Sitz in Madrid, die auf dem Respekt unterschiedlicher politischer Regime beruht und ausdrücklich keine Demokratieklausel einführte, die, bei strikter Anwendung, die Teilnahme Kubas hätte verhindern können. Seit der 2014 reformierten außenpolitischen Strategie sind Dialog und Zusammenarbeit nicht nur die bevorzugten Instrumente der PSOE im Umgang mit autoritären Regimen, sondern erstmals auch offizielle Staatspolitik. Stand Spanien von jeher Sanktionen und Konditionalitäten skeptisch gegenüber, wurde die zuvor von der PP bevorzugte „harte“ Politik der Demokratieförderung endgültig durch die „weiche“ Strategie ersetzt. Dies hat den Vorteil, dass der Umgang mit autoritären Regimen jetzt nicht mehr innenpolitisch instrumentalisiert werden kann und erstmals ein parteienübergreifender Konsens zugunsten von Wandel durch Annäherung besteht. Dies gilt jedoch vor allem für die bilaterale Außenpolitik. Im Hinblick auf die multilaterale Politik trägt Spanien die von der EU verhängten diplomatischen und wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber insgesamt 34 Staaten einschließlich Russland (Europäische Union 2014) nach der Annexion der Krim-Halbinsel mit. Insofern besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der „weichen Politik der Demokratieförderung“ in den bilateralen Beziehungen mit autoritären oder halbautoritär regierten Staaten wie China, Kuba, Marokko oder Venezuela und der Unterstützung der „harten Sanktionspolitik“ der EU gegenüber Russland, Iran oder Syrien, die von der Regierung Rajoy mitgetragen werden. Dieser Widerspruch – Wandel durch Handel in den bilateralen Beziehungen und Zustimmung zur EU-Sanktionspolitik – entspricht allem Anschein nach nicht einer normativen Politik der Demokratieförderung, sondern eher dem pragmatischen Wirtschaftskurs. Fazit und Ausblick Die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit autoritären Regimen – je nach Eigeninteressen, Wirtschaftsmacht und historischen Verbindungen zum Partnerland – machen deutlich, dass Spanien keine kohärente Strategie der Demokratieförderung entwickelt hat, tendenziell aber eher den Dialog und die Zusammenarbeit mit allen Partnern sucht. Vor der Wirtschaftskrise wurde diese „sanfte Politik“ der Demokratieförderung eher den PSOE-Regierungen (Felipe González und José Luis Rodríguez Zapatero) zugeschrieben, wohingegen die PP eher diplomatischen Druck auf autoritäre Regime wie beispielsweise Kuba ausübte, Sanktionen forderte und die Oppositionsparteien unterstützte. Es ist zu vermuten, dass der derzeitige politische Kurswechsels der vormals eher Sanktionen zugeneigten PP vor allem auf wirtschafts-, sicherheits- und
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energiepolitische Eigeninteressen zurückzuführen ist und weniger aus der Überzeugung geschieht, Zusammenarbeit mit autoritären Regierungen habe langfristig einen demokratischen „Trickle down“-Effekt. Hierfür spricht zumindest die Tatsache, dass Dialog und Zusammenarbeit, unabhängig von den politischen Regimen der jeweiligen Partnerländer, inzwischen die bedeutendsten Instrumente der spanischen Außenbeziehungen sind und die nationale Sicherheitsstrategie Demokratie und Menschenrechte als Herausforderungen nicht einmal erwähnt. Der positive Nebeneffekt des Primats nationaler Eigeninteressen ist ein allerdings nicht intendierter Konsens über den Umgang mit autoritären Staaten. Die einstigen ideologischen Grabenkämpfe zwischen Volkspartei und sozialistischer PSOE über den Umgang mit autoritären Staaten wie Kuba oder Venezuela wurden durch die absolute Priorität der Regierung Rajoy, Spanien aus der Wirtschaftskrise zu führen, praktisch aufgehoben. Ob dieser merkantilistische Fokus der Außenpolitik langfristig wieder korrigiert wird, hängt vor allem davon ab, ob es Spanien gelingt, die Wirtschaftsund Finanzkrise zu überwinden und wieder mehr Mittel, Instrumente und politische Energien für den Export eigener Werte zur Verfügung zu stellen. Dies wiederum ist eng mit den von Brüssel und Berlin verordneten Auflagen zur Einhaltung der Euro-Kriterien verbunden, sodass seit 2011 ein „trade-off“ zwischen Demokratieförderung und wirtschaftlicher Stabilität entstanden ist. Nach den nächsten Wahlen im November 2015 wird sich zeigen, ob die Politik des „Dialogs mit allen“ lediglich konjunkturell bedingt ist oder aber einem generellen Trend zu einer stärker interessengeleiteten Außenpolitik widerspiegelt. Dass nach einem möglichen Regierungswechsel ein grundlegender außenpolitischer Kurswechsel zugunsten einer kohärenten, effizienteren und stärker wertegebundenen Strategie gegenüber autoritären Regimen vollzogen wird, bleibt allerdings fraglich, denn Spanien galt auch vor 2008 als „insbesondere gegenüber seinen südlichen Nachbarn als einer der vorsichtigsten EU-Mitgliedstaaten bei der externen Förderung von Demokratie und Menschenrechten“.18
18 Gillespie, Driven by Crisis, a.a.O. (Anm. 1), S. 4.
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Südkoreas Außenwirtschaftsförderung im Zielkonflikt Hanns Günther Hilpert Exporte und weltweite Markterfolge koreanischer Unternehmen stiften nationale Identität und internationale Anerkennung des Landes. Für Südkoreas Wirtschafts- und Außenbeziehungen werden somit die Weltregionen jenseits Nordostasiens, dabei auch die Geschäftsbeziehungen mit autokratischen Staaten, immer wichtiger.1 Trotz einer verstärkt globalen Orientierung bleibt aber die Teilung der koreanischen Halbinsel unverändert im Fokus der südkoreanischen Außenpolitik. Der totalitäre Nachbar Nordkorea Auch mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der Kalte Krieg auf der koreanischen Halbinsel nicht beendet. Die Bedrohungslage hat sich für die Republik Korea (RK, Südkorea) sogar noch verschärft, da die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK, Nordkorea) inzwischen über Nuklearwaffen verfügt, Mittel der konventionellen Kriegsführung leichtfertiger einsetzt und der mäßigende Einfluss der Sowjetunion weggefallen ist. Die nördlich der Demarkationslinie stationierten Artilleriewaffen der DVRK können ohne Vorwarnung die nur 40 Kilometer südlich gelegene Großregion Seoul erreichen. Die Versenkung der Fregatte Cheonan, der Beschuss der exponierten Insel Yeongpyeong 2010, die massiven Kriegsdrohungen gegenüber Südkorea und Amerika im Frühjahr 2013 haben gezeigt, auf welch brüchigem Eis der Waffenstillstand auf der koreanischen Halbinsel steht. Zusätzlich ist Südkorea mit den ökonomisch-sozialen Risiken eines nordkoreanischen Zusammenbruchs konfrontiert. Bei einer Nord-SüdBevölkerungsrelation von 1:2 und einer Pro-Kopf-Einkommensrelation von 1
Für den Richtungswechsel zu einer stärker global ausgerichteten Außen- und Sicherheitspolitik, siehe die unter der Präsidentschaft Lee Myung-bak erarbeitete nationale Sicherheitsstrategie: Cheong Wa Dae, Office of the President, the Republic of Korea (Hrsg.), Global Korea: The National Security of the Republic of Korea, Seoul 2008.
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etwa 1:20 käme Südkorea eine Wiedervereinigung gegenwärtig erheblich teurer als Westdeutschland 1990. Dabei ist der Süden weder auf Flüchtlingsströme vorbereitet noch verfügt er über das Kapital, um die Altlasten zu beseitigen, die Aus- und Fortbildung zu finanzieren und einen Kapitalstock im Norden aufzubauen. Die Teilung der koreanischen Halbinsel steht unverändert im Fokus der Außen- und Sicherheitspolitik Südkoreas. Dies gilt gerade auch für die gegenwärtige Regierungsadministration unter Präsidentin Park Geun-hye, die im Verhältnis zu Nordkorea einen Neuanfang anstrebt, während sich das bilaterale Verhältnis unter dem Vorgänger Lee Myung-bak (2008-2013) noch dramatisch verschlechtert hatte. Mit ihrem Konzept der „Trustpolitik“ will sie nationale Sicherheit mit engerer innerkoreanischer Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und humanitären Angelegenheiten verbinden. Während im bilateralen Verhältnis an dem Ziel der Wiedervereinigung festgehalten wird, soll auf der größeren regionalen Ebene über die Zusammenarbeit bei sogenannten weichen Themen wie Klima-, Umwelt- und Katastrophenschutz Vertrauenskapital zur Bewältigung der schwierigeren außen- und sicherheitspolitischen Fragen aufgebaut werden. Zu diesem Zweck hat Südkorea die Northeast Asia Peace and Cooperation Initiative ins Leben gerufen. Auch für die globale Ebene bildet das Motiv des Vertrauensaufbaus das prägende Narrativ.2 Regionale Prioritäten – globale Ambitionen Im Zuge der Demokratisierung, Wohlstandsbildung und Internationalisierung Südkoreas haben sich seine strategischen Herausforderungen und Interessen vervielfacht. Neben der Wahrung von Frieden und Stabilität auf der koreanischen Halbinsel will Seoul die regionale Integration in Nordost- und Ostasien vorantreiben, den Aufstieg Chinas bewältigen, das Militärbündnis mit den USA zu einer globalen Allianz umbauen und die koreanische Wirtschaft im Ausland unterstützen. Damit versucht Südkorea sich als zivile asiatische Mittelmacht, etwa in den Bereichen Sicherheit, Handel, Umwelt und Entwicklung, global zu positionieren. Generell ist Südkoreas Außenpolitik an demokratisch-freiheitliche Grundwerte gebunden und präferiert, Konflikte friedlich, kooperativ und im multilateralen Rahmen zu lösen. Das Nukleare Nichtverbreitungsregime durchzusetzen, menschliches Leben zu schützen und die Menschenrechte zu achten, sind außenpolitische Ziele, die sich für Südkorea fast schon zwingend
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Zum Konzept und zur Umsetzung von Koreas „Trustpolitik“ der programmatische Beitrag des gegenwärtigen Außenministers: Yun Byun-se, President Park Geun-hye’s Trustpolitik: A New Framework for South Korea’s Foreign Policy, in: KoreaNet. Gateway for Korea, 30.9.2013 (abgerufen am 11.8.2014).
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Südkoreas Außenwirtschaftsförderung im Zielkonflikt
ableiten aus der sicherheitspolitischen und humanitären Herausforderung durch Nordkorea. Auch global ausgerichtete wirtschaftliche Interessen spielen eine entscheidende Rolle. Die großen Unternehmensgruppen (Hyundai, Samsung und LG) verfügen über einen gut etablierten Zugang zu den sich mit Außenpolitik und Außenwirtschaft befassenden Ministerien des Landes. Seit den 1960er Jahren ist die Förderung von Exporten, Direktinvestitionen und Ressourcenprojekten auf Auslandsmärkten quasi südkoreanisches Staatsinteresse. Primat der Außenwirtschaftspolitik Ökonomisch nimmt das 50 Millionen Einwohner zählende Land (2013) den 15. Platz unter den größten Wirtschaftsnationen der Welt ein. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf entspricht kaufkraftbereinigt in etwa dem EU-Durchschnitt. Im Ranking des Human Development Index befand sich Südkorea (2012) auf Rang 12, nur zwei Plätze hinter dem in Asien führenden Japan. Südkorea verfügt über ausgewiesene industrielle Wettbewerbsstärken (Informationstechnologie, Kraftfahrzeuge, Stahlerzeugung, Anlagen- und Schiffbau), über ein Arbeitskräftepotenzial mit der weltweit höchsten tertiären Ausbildungsquote und über eine physische und technische Infrastruktur, die zu den modernsten der Welt zählt. Die Ausrichtung des G20-Gipfels (2010), des zweiten Gipfels zur Nuklearen Sicherheit (2012) und der Internationalen Cyberspace Konferenz (2013) sind Ausweis des neuen internationalen Status. In der Rückschau wäre der wirtschaftliche und politische Aufstieg Südkoreas ohne die frühzeitige Prioritätssetzung auf wirtschaftliche Entwicklung und weltwirtschaftliche Integration kaum möglich gewesen. Für die erfolgreiche Transformation von einem bettelarmen, kriegszerstörten Entwicklungsland zu einem hochmodernen Industrieland und von einer brutalen Militärdiktatur zu einem demokratischen Verfassungsstaat in einem Zeitraum von weniger als 50 Jahren war die zugrundeliegende ökonomische Wachstums- und Exportpolitik instrumental.3 Tief verwurzelt ist in Südkorea die Überzeugung, dass eine Politik, die auf wirtschaftliche Entwicklung und internationale Integration setzt, langfristig erfolgreicher ist als jene, die auf militärische Stärke baut – gerade auch weil die eigene Entwicklungsstrategie ein Bruch mit der Abschottungspolitik des „hermit kingdom“ der vorkolonialen Epoche war und der auf nationale Unabhängigkeit und Autarkie zielenden Politik der DVRK diametral entgegengesetzt ist.
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Zur wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie Südkoreas siehe die klassischen Analysen der frühen 1990er Jahre: Alice H. Amsden, Asia’s Next Giant. South Korea and Late Industrialization, New York 1990; The World Bank, The East Asian Miracle. Economic Growth and Public Policy, Oxford 1993, S. 123-147; 191-255, 292-325.
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Weltwirtschaftlich orientiertes Wachstum gilt gewissermaßen als die adäquate Strategie im nationalen Streben nach wirtschaftlichem Wohlstand und politischer Unabhängigkeit. Daher zielt die diplomatische Unterstützung privatwirtschaftlicher Aktivitäten koreanischer Unternehmen im Ausland nicht nur auf ökonomische Renten, sondern gilt als wesentlicher Bestandteil der globalen Profilierung. Wirtschaftliche Risiken begrenzen Dabei ist eine Strategie, die Entwicklung und Wohlstand auf Integration in das Weltwirtschafts- und Weltfinanzsystem gründet, in besonderem Maße Volatilitätsrisiken ausgesetzt.4 Seit jeher schwankt Südkoreas Inlandskonjunktur mit dem Auf und Ab der Auslandsnachfrage. Den größten wirtschaftlichen Einbruch erlebte das Land jedoch durch eine Finanzkrise. Die im Zuge der Asien-Krise 1997/98 eingetretenen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen haben gezeigt, auf welch brüchigem Fundament der Wohlstand des Landes fußt, und wie sehr die eigene Existenz von volatilen weltwirtschaftlichen Entwicklungen abhängig ist. Um wirtschaftliche Sicherheit zu bewahren, versucht Seoul die heimische Wirtschaft gegen Finanzmarkt- und Währungsrisiken abzusichern, die Wechselkurse zu stabilisieren, den Zugang zu den internationalen Absatzmärkten zu sichern und die Versorgung mit fossiler Energie und kritischen Rohstoffen zu gewährleisten. Die beiden letzten Punkte, Absatz- und Versorgungssicherheit, dominieren das Verhältnis der RK zu den Entwicklungs- und Schwellenländern jenseits der Heimatregion Nordostasien, vollkommen unabhängig davon, ob die Partnerstaaten autoritär oder demokratisch verfasst sind. Akzentuiert wird die Abhängigkeit der RK von ausländischen Absatz- und Beschaffungsmärkten durch die strukturellen Besonderheiten der südkoreanischen Wirtschaft. Drei strukturelle Muster sind strategieprägend: Erstens konzentrieren sich Südkoreas Exporte (2012) auf die Industriesektoren Elektrotechnik und Elektronik (26,1 Prozent), Fahrzeuge (12,9), Maschinenund Anlagenbau (8,8), Schiffbau (6,4), optische und medizinische Geräte (5,4), Eisen und Stahl (4,8) sowie Kunststoffe (5,1).5 Um die Rentabilität der industriellen Produktion sicherzustellen,6 müssen Südkoreas Unternehmen eine mög4 5 6
Vgl. David S. Kang, South Korea’s Embrace of Interdependence in Pursuit of Security, in: Ashley J. Tellis und Michael Wills (Hrsg.), Strategic Asia 2006-07: Trade, Interdependence, and Security, Seattle 2006 , S. 140-144. 152-156, 166. Die Prozentangaben in Klammern geben die Anteile am südkoreanischen Gesamtexport im Jahr 2013 an. Eigene Berechnungen auf der Grundlage der OECD-Statistiken (Trade by Commodity). Um mit ihren standardisierten Massenprodukten in diesen Branchen auf dem Weltmarkt preislich bestehen zu können, ist es für Koreas Industrie nach wie vor geboten, über hohe Losgrößen in der Produktion rasche Fixkostendegressionen und Lernkurveneffekte zu erzielen. Der Vorteil statischer Skaleneffekte und dynamischer Lernkurveneffekte lässt sich indes nur über hohe Absatzzahlen und eine zügige globale Vermarktung ausspielen.
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lichst lückenlose Vermarktung auf allen Weltmärkten anstreben. Es ist daher essenziell, auch kleine Märkte zu beliefern und mit autoritär regierten Ländern ins Geschäft zu kommen. Zweitens ist Südkoreas Wirtschaft bevorzugt in Branchen aktiv, in denen die politische Flankierung und das Lobbying ein entscheidender Wettbewerbsparameter ist, so der Anlagenbau, der Kraftwerksbau, der Hoch- und Tiefbau. Um bei öffentlichen Ausschreibungen und Großprojekten im Ausland zum Zuge zu kommen, sind koreanische Unternehmen daher auf die aktive und professionelle Unterstützung der eigenen Außenwirtschaftsförderorganisationen und Diplomatie angewiesen. Auch die Staatspräsidenten stellen sich in ihren Auslandsreisen gerne in den Dienst der nationalen Wirtschaft. Eine enge Abstimmung zwischen Diplomatie und Exportwirtschaft ist insbesondere auch im Rüstungssektor vonnöten, dem jüngsten industriepolitischen Erfolg Südkoreas. Mit Exporten in Höhe von 2,4 Milliarden Dollar (2011), 2,35 Milliarden Dollar (2012), 3,4 Milliarden Dollar (2013) befindet sich Südkorea inzwischen unter den führenden Waffenexporteuren der Welt.7 Größere Absatzerfolge konnte Südkoreas Rüstungsindustrie in Südostasien (Indonesien, Philippinen, Thailand und Vietnam), in Lateinamerika (Kolumbien und Peru), Europa (Großbritannien, Polen und Türkei) und im Mittleren Osten (Irak) verbuchen. Strategisch geht es Südkorea darum, über den Export die industrielle Basis der heimischen Rüstung zu stärken und die Wertschöpfung im Land zu erhöhen. Gegenüber seinen Kunden aus Schwellenländern empfiehlt sich Südkorea als außenpolitisch unverdächtiger Partner beim Aufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie.8 Drittens ist Südkorea als einer der weltweit größten industriellen Verbraucherländer auf den verlässlichen Import von fossiler Energie, von Uran, von metallischen und mineralischen Rohstoffen existenziell angewiesen. Südkorea verfügt selbst über so gut wie keine eigenen Vorkommen. Die jüngeren Trends auf den globalen Rohstoffmärkten, wie der wachsende Ressourcennationalismus der Schwellenländer, die unternehmerischen Konzentrationsprozesse und die expansiven Auslandsinvestitionen chinesischer Staatsunternehmen, gelten in Südkorea als existenzielle Bedrohung für die heimische Industrie. Um die Bezugs- und Versorgungsrisiken zu mindern, unterstützen daher staatliche Stellen das Engagement koreanischer Energie- und Rohstoffunternehmen in ausländischen Rohstoffproduzentenländern, unabhängig davon, ob diese demokratisch oder – wie Usbekistan – autoritär verfasst sind. Als Kernaufgaben sollen Staatsunternehmen wie die Korea National Oil Corporation (KNOC), Korea
7 8
Angaben des südkoreanischen Verteidigungsministeriums (Ministry of National Defense, MND) und der südkoreanischen Beschaffungsbehörde (Defense Acquisition Program Administration, DAPA). Für einen Überblick der südkoreanischen Rüstungswirtschaft: Trefor Moss, Briefing: Industrial Ambition, in: Jane’s Defence Weekly 17/2012, 4.4.2012.
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Gas Corporation (KOGAS) und Korea Ressources Corporation (KORES) ausländische Energie- und Rohstoffressourcen sichern.9 Angesichts der internationalen Ausrichtung der südkoreanischen Volkswirtschaft sollte es nicht überraschen, dass auch das entwicklungspolitische Engagement auf außenwirtschaftlichen Interessen gründet. Die statistische Analyse der Entwicklungshilfeleistungen zeigt, dass die Empfängerländer Staaten mit lukrativen Märkten und Rohstoffen sind, die mit Südkorea enge wirtschaftliche Beziehungen pflegen.10 Für die Vermutung, dass Südkorea mit seinen Entwicklungshilfeleistungen vorzugsweise ökonomische Eigeninteressen verfolgt, sprechen auch der im OECD-Vergleich geringe Anteil von Zuschüssen, der geringe Anteil von ungebundenen und multilateralen Hilfen sowie die starke Konzentration der Leistungen auf benachbarte Länder. 2012 war Vietnam das Hauptempfängerland und die Länder Afghanistan, Kambodscha, Laos, Sri Lanka und Usbekistan befanden sich unter den Top-Ten. Demokratische Regierungsformen, Rechtsstaatlichkeit und die Beachtung der Menschenrechte scheinen keine ausschlaggebenden Kriterien der Entwicklungshilfevergabe zu sein. Zielkonflikte: Wirtschaft versus Sicherheit Das Primat der Außenwirtschaft in Südkoreas Außenpolitik gegenüber autoritären Regimen der Dritten Welt gilt nicht absolut. Die Bindung der Außenpolitik an Menschenrechte und insbesondere sicherheitspolitische Erfordernisse konstituieren politische und moralische Grenzen der primär an kommerziellen Interessen orientierten Außenpolitik. Angesichts der unmittelbar von der DVRK ausgehenden atomaren Bedrohung ist die RK eine aktive Verfechterin der Politik der nuklearen Abrüstung und der Stärkung des globalen Antiproliferationsregimes. Aber im Widerspruch zu dem aktiven diplomatischen Engagement11 fiel es Südkorea schwer, sich den westlichen Iran-Sanktionen auf Grundlage der Resolutionen 1737, 1747, 1803, 1929 des UN-Sicherheitsrats anzuschließen. Erst unter amerikanischem und europäischem Druck reduzierte Südkorea den Ölimport aus dem Iran. Betrug der Anteil des Iran an den gesamten Rohöleinfuhren 2011 9
Vgl. Hanns Günther Hilpert, Südkorea, in: Hanns Günther Hilpert und Stormy-Annika Mildner (Hrsg.), Nationale Alleingänge oder internationale Kooperation? Analyse und Vergleich der Rohstoffstrategien der G20-Staaten, SWP-Studie Nr. 1/2013, Berlin 2013, S. 150-157. 10 Vgl. Kim Eun-mee und Oh, Jinhwan, Determinants of Foreign Aid: The Case of South Korea, in: Journal of East Asian Studies 2/2012, S. 251-273. 11 Die RK ist Gründungsstaat des Atomwaffensperrvertrags (1968) und seit 2009 Mitglied der Proliferation Security Initiative (PSI), war 2011 Gastgeberin der siebten Plenarsitzung der Globalen Initiative zur Bekämpfung des Nuklearen Terrorismus (GICNT) und 2012 des zweiten Gipfels zur Nuklearen Sicherheit. Vgl. hierzu die Homepage des MOFA; MOFA, ROK’s Disarmament and Non-Proliferation Activities, (abgerufen am 11.8.2014).
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noch 9,4 Prozent, so reduzierte sich diese Quote 2012 auf 6 Prozent, 2013 auf 5 Prozent. Parallel hierzu fielen auch Südkoreas Industrieexporte nach Iran und die iranische Bank Melli musste in Seoul ihre Pforten schließen.12 Die Lockerung der Sanktionen durch die EU und die USA im Januar 2014 hingegen war der Startschuss zur Wiederaufnahme der südkoreanisch-iranischen Geschäftsbeziehungen, einschließlich der begleitenden Unterstützung durch Politik und Förderorganisationen. Sicherheitspolitische Notwendigkeiten … Die enge Anbindung an die USA und die Sicherstellung einer angemessenen Verteidigungs- und Reaktionsfähigkeit gegenüber nordkoreanischen Bedrohungen sind die Grundpfeiler der Sicherheitspolitik der RK. Daraus ergeben sich für die Außenpolitik gegenüber autoritär verfassten Drittstaaten wichtige Konsequenzen. Erstens gilt das Gebot der Solidarität gegenüber Amerika im Besonderen und gegenüber der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen. Angesichts der eigenen exponierten sicherheitspolitischen Lage herrscht in Seoul ein waches Bewusstsein, in kritischen Situationen auf amerikanischen Beistand und auf die Solidarität der internationalen Gemeinschaft angewiesen zu sein. Wiederkehrend zeigte sich Seoul bei internationalen Krisensituationen zum sicherheitspolitischen Engagement bereit. So nahm die RK an den von Amerika geführten Kriegen in Vietnam und im Irak teil und unterstützte den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan und im Irak. In dem Streben nach globaler Anerkennung und Sichtbarkeit beteiligte sich die RK mit eigenen Truppenkontingenten mehrmals an UN-Friedensmissionen (Burundi, Elfenbeinküste, Georgien, Haiti, Indien/Pakistan, Libanon, Liberia, Somalia, Sudan, Timorleste, Westsahara). Des Weiteren ist Südkorea Vertragsstaat aller internationalen Exportkontrollabkommen und verfügt über ein effektives Exportkontrollregime.13 Wie der Konflikt um den Export von Tränengas nach Bahrain zeigt, reagiert Südkoreas Diplomatie empfindlich auf den öffentlichkeitswirksamen Druck global tätiger Nichtregierungsorganisationen (NROs), wenn dem Land ein Reputationsverlust droht. Als die NROs Bahrain Watch von London aus und Physicians for Human Rights in den USA gegen den Export südkoreanischen Tränengases nach Bahrain agitierten und dabei auf den unverhältnismäßigen Einsatz durch das königliche Regime verwiesen, geriet Südkorea 12 Vgl. I-wei Jennifer Chang, The Iran Sanctions and South Korea’s Balancing Act, in: Middle East Institute, Washington, DC, Juni 2014, (abgerufen am 11.8.2014). 13 Die RK ist Mitgründer des Wassenaar-Abkommens (1996), Mitglied der Nuclear Supplier Group (1995), der Australian Group (1996) und des Missile Technology Control Regime (2001) und trat 2009 der Proliferation Security Initiative (PSI) bei. Zum Exportkontrollregime der RK, vgl. Jaewon Lee, South Korea’s Export Control-System, SIPRI Background Paper, Stockholm 2013.
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unter Rechtfertigungsdruck. Schließlich wurden die Ausfuhren im Januar 2014 untersagt.14 Zweitens hat die RK generell ein Interesse daran, den politischen Radius und die mehr oder minder illegalen ökonomischen Aktivitäten der DVRK im Ausland einzudämmen. Im Verhältnis zu autoritär verfassten Drittstaaten besitzt dieses Aufgabenfeld zuweilen eine erhebliche politische Brisanz. Konfliktfelder sind die rüstungstechnische Zusammenarbeit der DVRK im Bereich der Ballistik und Nukleartechnologie, der (aufgrund der UN-Sanktionen) illegale Handel der DVRK mit Waffen und Rüstungsgütern, der militärische Knowhow-Transfer der DVRK im Bereich der Ballistik, Chemiewaffenproduktion, im Tunnel- und Stollenbau sowie die verschiedenen kriminellen Aktivitäten Nordkoreas im Ausland (Falschgeld, Drogen, Schmuggel sowie illegaler Handel mit Elfenbein und bedrohten Arten). Die Eindämmung dieser Aktivitäten in autoritären Staaten ist heikel, da es erstens erfahrungsgemäß ungern gesehen wird, wenn innerkoreanische Konflikte in das Gastland getragen werden. Zweitens hält die DVRK zuweilen beste politische und geschäftliche Beziehungen zu den höchsten Stellen vor Ort. Statt offensiv vorzugehen, praktiziert Südkorea stille Diplomatie, indem es etwa kriminaltechnisch verwertbare Informationen diskret weitergibt. Grundsätzlich setzt die RK darauf, als nichtwestliches Entwicklungsmodell, als Geberland und als Handelspartner auf längere Sicht das attraktivere Korea zu sein. Dass diese Strategie Erfolg hat, zeigte in jüngerer Zeit das Beispiel Myanmar. Anlässlich des Besuchs des südkoreanischen Staatspräsidenten Lee Myung-bak im Mai 2012 versprach das südostasiatische Land, die militärische Zusammenarbeit mit Nordkorea zu beenden und die gegen die DVRK gerichteten UN-Sanktionen zu beachten.15 … bestimmen Partnerschaften Angesichts der existenziellen Bedeutung der militärischen Allianz mit den USA ist es in Bezug auf kritische Drittländer (wie Iran und Syrien) für die RK geboten, den strategischen sicherheitspolitischen Interessen der USA nicht zuwiderzulaufen und sich im Zweifelsfall mit dem Bündnispartner abzustimmen. Bis heute hat Nordkorea keine diplomatischen Beziehungen zu den Ländern Kuba und Syrien aufgenommen, welche auch beide traditionell eng der DVRK verbunden sind. Doch trotz der rüstungspolitischen Zusammenarbeit des ägyp-
14 Vgl. John Power und Philip Iglauer, South Korea’s Tear Gas. Shipments of the Agent to Bahrain Reveal the Country’s Uncertainty in Its Role as a Middle Power, in: The Diplomat, 26.12.2013, (abgerufen am 11.8.2014); Song Jung-a und Simeon Kerr, South Korea Halts Tear Gas Exports to Bahrain, in: Financial Times, 9.1.2014. 15 Vgl. Thai News Service, Myanmar (Burma)/South Korea: Seoul: Burma to Comply with UN Resolutions on Pyongyang, 17.5.2012.
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Südkoreas Außenwirtschaftsförderung im Zielkonflikt
tischen Regimes mit Nordkorea ist Südkoreas Ägypten-Politik16 ähnlich pragmatisch ausgerichtet wie die Haltung der USA zur Militärdiktatur in Kairo. Zu den benachbarten autoritär regierten Ländern China und Russland besteht ein Sonderverhältnis. Russland ist für die RK ein wichtiger geopolitischer Akteur in der Region, der einerseits gegenüber der DVRK vermittelnd, eventuell auch befriedend tätig sein kann, andererseits aber auch in der Lage ist, Einigungen zu torpedieren und Konflikte zu verschärfen. Russlands Einflusspotenzial erklärt die Weigerung Seouls, westliche Sanktionen gegen das Regime Putins mitzutragen, als der Machthaber im Kreml 2014 die Krim völkerrechtswidrig annektierte und die Ostukraine destabilisierte. In Bezug auf China, zu dem seit über Jahrhunderten enge kulturelle und politische Bindungen bestehen, hat sich aufgrund der inzwischen intensiven ökonomischen Verflechtung de facto ein Abhängigkeitsverhältnis entwickelt, welches sich durch das geplante koreanisch-chinesische Freihandelsabkommen noch verstärken dürfte. Für eine Wiedervereinigung des geteilten Koreas ist China der unverzichtbare Schlüsselpartner. Das erklärt vielleicht auch die zurückhaltende Reaktion auf die Deportation nordkoreanischer Flüchtlinge durch China und Laos. Fazit und Ausblick Die auf außenwirtschaftliche Expansion und außenpolitische Profilierung ausgerichtete Politik Südkoreas hat sich als ungemein erfolgreich erwiesen, sichtbar etwa an den Markterfolgen koreanischer Unternehmen und der Attraktivität Seouls als Gastgeber internationaler Konferenzen oder als neuer Standort internationaler Organisationen. Aber mit dem Erfolg und dem neuen Status sind auch die inneren Widersprüche gewachsen. Südkoreas Außenpolitik und ihr administrativer Apparat zeigen wenig Neigung, politische Konflikte zu Lasten der eigenen Wirtschaft zu riskieren. Zwar sind diese Verhaltensweisen mit Blick auf die wirtschaftlichen Strukturen und die identitätsstiftenden historischen Erfahrungen Südkoreas durchaus verständlich, sie stehen aber viel zu oft im Widerspruch zu den sicherheitspolitischen Verpflichtungen oder der humanitären demokratischen Wertebindung der Außenpolitik. Wenn aber Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen, läuft Südkoreas Außenpolitik Gefahr, auf dem internationalen Parkett Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu verspielen. Aber auf genau dieses Vertrauen wird man bei der Lösung der Korea-Frage angewiesen sein.
16 Zu Ägypten und Syrien: Jang Ji-Hyang, The Role of a Middle Power South Korea in Iran, Syria and Egypt, in: Middle East Institute, Washington, DC, Juni 2014, (abgerufen am 11.8.2014).
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Amerikas Pragmatismus Josef Braml Die USA sehen sich seit jeher als außergewöhnliche Nation mit der Pflicht, eine „Neue Welt“ zu schaffen. Der US-amerikanische „Exzeptionalismus“1 manifestierte sich auf höchst unterschiedliche Weise: indem die „city upon a hill“ (so der puritanische Pionier John Winthrop) selbstgenügsam der Welt als leuchtendes Vorbild diente oder indem sie die Welt zu verändern suchte.2 Bis heute leitet den tonangebenden außenpolitischen Mainstream Washingtons ein liberal-hegemoniales Weltbild, gemäß dem die USA die Welt nach ihren Wertvorstellungen und Interessen ordnen. Wenn nötig, werden die demokratischen Werte pragmatisch den wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen untergeordnet. Missachtet ein autokratischer Herrscher die Menschenrechte seiner Bürger, so spielt es für die Geostrategen in Washington nur dann eine ausschlaggebende Rolle, wenn er sich den geopolitischen Interessen und dem globalen Führungsanspruch der USA widersetzt. Solche „bösartigen“ Regime, etwa der Irak unter Saddam Hussein, werden mit Militärgewalt „demokratisiert“; wenn das wie im Falle mächtigerer Staaten wie Iran und China nicht ratsam erscheint, werden sie „eingedämmt“ und „eingebunden“, um den „Regimewechsel“ im Sinne einer „liberalen Weltordnung“ langsam, aber sicher voranzutreiben. Doch wie lange können die USA gegen den Willen der lokalen Bevölkerungen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens – und auch gegen die Kritik vorausschauender Experten – autoritäre Regime in Saudi-Arabien und Ägypten unter anderem auch mit üppigen Finanz- und Rüstungshilfen stützen, ohne ihre eigene Glaubwürdigkeit vollends zu verlieren?
1 2
Seymour Martin Lipset, American Exceptionalism. A Double-edged Sword, New York/London 1996. Ausführlicher zu den unterschiedlichen, kontinuierlich widerstreitenden Elementen der nationalen Identität der Vereinigten Staaten siehe Walter Russel Mead, Special Providence. American Foreign Policy and How it Changed the World, New York 2001.
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Amerikas Pragmatismus
Ägypten: „Investition in regionale Stabilität“ An Präsident Obamas Glaubwürdigkeit kamen Zweifel auf, als er in seiner Kairoer Rede vom Juni 2009 einen Neuanfang in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zur muslimischen Welt verkündete3 und demokratische Grundrechte für die Menschen dieser Region forderte, zugleich aber ebenso wie seine Vorgänger das Militär und damit den Garanten des autoritären Regimes in Ägypten mit etwa zwei Milliarden Dollar pro Jahr stützte.4 Als dann im Spätjahr 2010 der so genannte Arabische Frühling als Herbststurm von Tunesien über Algerien, Ägypten, Jemen, Libyen, Bahrain, Syrien und weitere arabische Länder hinwegfegte, waren aus Washington besorgte Stimmen zu vernehmen: Ein Umsturz oder freie Wahlen in Ägypten könnten unvorhersehbare Konsequenzen für die regionale Stabilität haben, im schlimmsten Fall sogar die Israel und den USA feindlich gesinnte Muslimbruderschaft an die Macht spülen!5 Bislang gab es in dem Land am Suez-Kanal, der für den Welthandel so wichtig ist, allerdings noch keine großen Umwälzungen. Die „Herrschaft“ der Muslimbrüder währte nicht lange. Die eigentliche Revolution, so ein Kenner der amerikanischen Außenpolitik mit historischem Weitblick, sei der Versuch des Mubarak-Clans gewesen, das Militärregime durch eine Erbmonarchie zu ersetzen. Diese Revolte sei vom Militär mit Hilfe der Protestbewegung zurückgeschlagen und somit das Ancien regime restauriert worden.6 Noch hat der Arabische Frühling in Ägypten keine Früchte der Demokratie zur Reife gebracht. Doch das Königshaus in Saudi-Arabien, das eng mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak verbunden war, zeigt sich sehr beunruhigt angesichts des üppigen Blütenstands und verfolgt die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit.
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White House, Remarks by the President on a New Beginning, Cairo University, 4.6.2009, (abgerufen am 23.9.2014). Als „Investition in die regionale Stabilität“ haben die USA seit 1948 insgesamt über 74 Milliarden Dollar Auslandshilfe an Kairo gezahlt. Trotz enormer Sparzwänge und Haushaltsprobleme wurden im Haushaltsjahr 2014 für die Militärdiktatur wieder 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe und 250 Millionen Wirtschaftshilfe veranschlagt. Siehe Jeremy M. Sharp, Egypt: Background and U.S. Relations, CRS Report for Congress, Congressional Research Service, Washington, D.C., 5.5.2014, siehe insbesondere „Summary“ und S. 11-17. Zum Beispiel der ehemalige US-Regierungsbeamte und Ex-Präsident des Council on Foreign Relations, Leslie H. Gelb, Beware Egypt’s Muslim Brotherhood, in: Daily Beast, 29.1.2011, (abgerufen am 23.9.2014). So Walter Russel Mead, Will Egypt Have A Revolution?, in: American Interest, 2.10.2011, (abgerufen am 23.9.2014).
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Deal mit Saudi-Arabien: Sicherheit für Öl Auch die zu erwartende Erbfolge im saudischen Königshaus bereitet den USStrategen Sorgen. Die beiden möglichen Nachfolger des amtierenden Königs Abdullah, dessen Alter auf 89 Jahre geschätzt wird, sind auch nicht mehr die Jüngsten und kämpfen bereits mit großen gesundheitlichen Problemen. Die nächste Generation, über 100 Prinzen und deren Clans, müssen sich erst verständigen, wer am besten geeignet ist, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass Streit bei der Erbfolge das Königshaus ins Wanken bringen könnte. Denn aus der empirischen Regimeforschung ist bekannt, dass insbesondere personalisierte Autokratien, vor allem wegen der Nachfolgeregelung, instabil sind. Bislang hat Washington dafür gesorgt, dass die Ölmonarchie Saudi-Arabien stabil ist. „Sicherheit für Öl“ lautet der Deal. Solange Riad seinerseits dafür Sorge trägt, dass der Ölpreis nicht allzu sehr steigt, ist die Welt für die USA und ihre Verbündeten in Ordnung. Denn die westlichen Volkswirtschaften bleiben bis auf weiteres verwundbar durch flukturierende und hohe Ölpreise, die sie nicht allein beeinflussen können. Anders als viele hiesige Beobachter, die die „Energieunabhängigkeit“ und den Rückzug der USA aus dem Nahen und Mittleren Osten prophezeien, verstehen US-Strategen die Logik der Energiemärkte und die damit zusammenhängende Geopolitik: Selbst wenn es den USA durch Förderung eigener Ressourcen und politisch gesteuerte Einsparungen gelingen sollte, neben dem Gas7 auch den Importanteil von Öl – und das ist die Achillesferse der Wirtschaft und des Transportsektors – merklich zu reduzieren, sollte man einen zweiten Aspekt beachten: Die Ölpreise werden international von einem Oligopol namens OPEC und mitunter auch von Unruhen und Förderengpässen in anderen Weltregionen beeinflusst. Auf absehbare Zeit bleibt Saudi-Arabien der einzige „swing producer“, der ausreichend Kapazitäten hat, bei Bedarf Öl kostengünstig, sehr schnell und in großen Mengen zu fördern, um damit die Preise in einen niedrigeren, für westliche und asiatische Volkswirtschaften erträglichen Bereich zu drücken – was seit geraumer Zeit geschieht. Das saudische Königshaus hat es den USA auch ermöglicht, das iranische Regime im Nuklearstreit wirtschaftlich unter Druck zu setzen: Ohne die zu7
Es bleibt abzuwarten, ob sich der „Ölrausch“ in den USA bei nüchterner Ex-post-Betrachtung nicht doch noch als Blase herausstellt. Zum einen ist zu befürchten, dass das billige Geld der US-Notenbank (Stichwort: quantitative Lockerung) auch im Energiebereich bereits zu Fehlallokationen geführt hat. Viele kleinere Pionierunternehmen, die von Private-Equity-Firmen finanziert und vertraglich zu Mindestmengen verpflichtet wurden, können aufgrund des gegenwärtigen Überangebots und Preisverfalls bei Schiefergas nicht mehr ihre Investitions- und Produktionskosten decken. Die meisten Pioniere werden sich wirtschaftlich zu Tode „fracken“. Wie in neuen Märkten üblich, wird sich auch der Fracking-Markt bereinigen, wenige größere Anbieter werden übrig bleiben. Die Preise werden dann wieder steigen.
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sätzliche Förderung Saudi-Arabiens hätte die durch die Sanktionen verursachte Verknappung des Ölangebots zu enormen Preissteigerungen geführt, die die ohnehin angeschlagene Wirtschaft der Weltmacht weiter geschwächt hätte. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn Saudi-Arabien damit den USA geholfen hätte, sich auf Kosten des Königshauses dem Erzrivalen Iran anzunähern. „Plan B“: Annäherung an den Iran Die USA haben mehrere strategische Interessen, sich im Rahmen der Nuklearverhandlungen mit der Theokratie in Teheran umfassender zu verständigen. Zunächst ist ohnehin fraglich, ob Washington wirklich bereit ist, mit Militärschlägen das iranische Atomprogramm zu verhindern. Denn der Iran verfügt über die „Öl-Waffe“: Im Falle einer externen Bedrohung kann das Regime die Straße von Hormuz blockieren, eine strategisch wichtige Meerenge, durch die täglich ein Großteil der westlichen Energieversorgung aus dem Mittleren Osten passiert. Eine Annäherung an den Iran würde Teherans strategische Abhängigkeit von China verringern. Chinas Interesse am Mittleren Osten ist durch seinen Energiehunger begründet. Die wirtschaftliche Entwicklung, politische Stabilität und militärische Stärke Chinas hängen stark von Öl- und Gasimporten aus Zentralasien und dem Persischen Golf ab. Um sich die vitalen Ressourcen zu sichern, hat Peking massiv in Energie- und Infrastrukturprojekte in beiden Regionen investiert. So soll künftig Öl per Bahn von Teheran über die irakische Grenze und Zentralasien nach China transportiert werden. Doch die Unsicherheitslage in der Region könnte Chinas ehrgeizige Energiepläne einmal mehr vereiteln. Dank des amerikanischen „regime change“, der Beseitigung des Diktators Saddam Hussein und des darauffolgenden Chaos im Irak, hat Teheran nicht nur einen Erzfeind weniger, sondern kann als Regionalmacht auch auf die Entwicklung im Irak und in Syrien Einfluss nehmen. Es ist eine weitere Ironie der Geschichte, dass der Iran, der jahrzehntelang über seine Satelliten Terrorismus gegen die USA und seine Verbündeten unterstützt hat, nunmehr an der Seite der USA gegen eine gemeinsame Bedrohung kämpft. Das Ansinnen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), das Debakel der US-Außenpolitik im Zweistromland auszunutzen und auf dem Gebiet der heute zerfallenden Staaten Irak und Syrien ihr Kalifat zu errichten, bedroht die Sicherheit des Westens, des Irans – und früher oder später auch das saudische Königshaus, das ohnehin noch wegen der Unruhen des Arabischen Frühlings „beunruhigt“ ist. Washington muss sich wohl oder übel mit Teheran verständigen, um einen „Plan B“ zu haben, sollten Unruhen in Saudi-Arabien die für den Westen lebenswichtigen Erdölproduktionskapazitäten einschränken. Bei einem Treffen der OPEC im Dezember 2013 hat der iranische Ölminister Bijan Namdar Zanganeh bereits in Aussicht gestellt, Öl in großen Mengen und zu äußerst
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günstigen Preisen zu liefern, falls die Sanktionen gegen sein Land aufgehoben würden: „Wir werden vier Millionen (Fässer pro Tag) produzieren, selbst wenn der Preis auf 20 Dollar (pro Fass) fällt.“8 Das war auch eine Kampfansage an Saudi-Arabien, das mit seinem Produktionsverhalten und Gewicht in der OPEC bislang dafür gesorgt hat, dass die Preise für westliche Wirtschaften erträglich blieben. Doch gleichzeitig muss die Ölmonarchie Saudi-Arabien darauf achten, dass die 100-Dollar-Marke nicht über einen längeren Zeitraum unterschritten wird, damit sie über die nötigen Mittel verfügt, um die eigene Herrschaft zu alimentieren, Eliten zu kooptieren und die Bevölkerung mit Sozialleistungen ruhigzustellen. Diese Preiskategorie entzieht jedoch den auf Mobilität angewiesenen US-Bürgern enorm Kaufkraft und gefährdet die zu zwei Dritteln vom Konsum lebende amerikanische Volkswirtschaft. Sicherlich werden die USA nicht von heute auf morgen ihre außenpolitischen Loyalitäten wechseln. Es ist aber denkbar, dass mit der IranKarte auch das regionale Machtspiel und die Ölpreispolitik Saudi-Arabiens beeinflusst werden können. Es bleibt indes abzuwarten, ob die Obama-Regierung die für einen New Deal mit Iran nötigen nachhaltigen Lockerungen der Sanktionen durch den Kongress bekommt. Zudem ist fraglich, ob die Mitglieder der Gruppe der P5+1, die an den Nuklearverhandlungen beteiligten fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrats (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich) plus Deutschland, wirklich an einem Strang ziehen. „Neustart“ mit Russland? Ob Russland tatenlos zusieht, wenn sich der Iran und die USA umfassend verständigen, ist zu bezweifeln. Wenn der iranische Ölminister anbietet, im Falle einer Einigung mit den USA, Öl im wörtlichen Sinne „zu jedem Preis“ zu liefern, läuten in Moskau die Alarmglocken. Im Kreml ist man fest davon überzeugt, dass der Untergang der Sowjetunion – laut Wladimir Putin die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts – weniger durch das Rüstungswettrennen und die wirtschaftliche Schwäche, sondern durch die von Saudi-Arabien verursachten niedrigen Ölpreise befördert wurde. Es wäre demnach naiv zu glauben, dass der Architekt eines weiterhin von Öleinnahmen abhängigen „Neu-Russland“ dabei helfen wird, den Atomstreit mit dem Iran zu schlichten. Amerikanischen Sicherheitsexperten ist auch klar, dass Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim auch dadurch motiviert war, weil dort die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist. Vom Hauptstützpunkt Sewastopol aus
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Zitiert in: George Jahn, At OPEC Meeting, Iran Says It Plans Big Oil Production Hike If Sanctions End, Associated Press/Washington Post, 4.12.2013.
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kann der Kreml über den Seeweg (etwa mit Waffenlieferungen) auf die Stabilität und die Ölpreisbildung im Nahen und Mittleren Osten Einfluss nehmen. Wegen seiner Abhängigkeit von Öleinnahmen war Moskau selbst in der Zeit des Kalten Krieges stets ein zuverlässiger Energielieferant des Westens, insbesondere für Europa. Auch heute wird Russland seine wichtigsten Abnehmer in Westeuropa weiterhin beliefern, selbst wenn das Transitland Ukraine im Konfliktfall mit Moskau das für westliche Länder bestimmte Gas einmal mehr für sich selbst beanspruchen sollte. Denn die Stabilität des russischen Regimes, dessen sozial- und wirtschaftspolitischen Leistungen für seine Bürger viel zu wünschen übrig lassen, hängt wesentlich von den Einnahmen aus den Energieexporten ab. Sollten die verkauften Mengen an Öl und Gas oder der dafür veranschlagte Preis spürbar sinken, wäre auch Putins autokratische Herrschaft gefährdet. Washington ist nicht verborgen geblieben, dass die russische Führung große Schwierigkeiten hat, seine Politik und Wirtschaft vom Ressourcenfluch zu befreien. Zwar sind noch üppige Reserven vorhanden, doch angesichts der Korruption bei der staatlich dominierten Rohstoffausbeutung und der grassierenden „Holländischen Krankheit“9 besteht die Gefahr, dass eine zerfallende russische Autokratie den Westen vor noch größere Herausforderungen stellen wird als die aktuell in der Ukraine-Krise zur Schau gestellte Energiepotenz des Kreml-Führers.10 Derzeit kann der russische Präsident Wladimir Putin von der Schwäche seiner Regierung im sozialen und wirtschaftlichen Bereich noch durch eine antiwestliche Propaganda ablenken. Die unbefriedigten Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung nach sozialer und ökonomischer Sicherheit werden durch Konsum einer bewährten Massendroge überkompensiert: Nationalismus, der durch Abgrenzung von äußeren Feinden geschaffen wird. Der Westen muss als Sündenbock für die eigenen Reformversagen und Missstände herhalten. Es besteht die Gefahr, dass die Sanktionen westlicher Staaten instrumentalisiert werden, um den eigenen Machterhalt zu sichern: Die Androhung weiterer Wirtschaftssanktionen ermöglicht es Putin umso mehr, ein patriotisches WirGefühl, eine Wagenburg-Mentalität zu schaffen.
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Nach dem makroökonomischen Krankheitsbild der „Dutch Disease“ kann wegen Rohstoffexporten die Währung eines Landes derart aufgewertet werden, dass die Produkte anderer Exportbranchen im Ausland teurer und damit nicht mehr konkurrenzfähig werden. Ebenso kann die Wettbewerbsfähigkeit alternativer Wirtschaftssektoren vermindert werden, wenn der für die Erwirtschaftung von Devisen lebensnotwendige Rohstoffsektor allzu sehr gefördert und andere (industrielle) Wirtschaftssektoren vernachlässigt werden. 10 So auch die Einschätzung von Joseph S. Nye, A Western Strategy For a Declining Russia, in: Project Syndicate, 3.9.2014, (abgerufen am 3.9.2014).
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Des Weiteren befürchten US-Sicherheitsexperten von der Brookings Institution,11 dass Sanktionen im Energiebereich den USA und Europa selbst schaden – unmittelbar und auf lange Sicht: Sie bestärken Putin darin, seine nach Asien gerichtete Diversifizierungsstrategie mit noch größerer Dringlichkeit zu forcieren. Die russische Führung wird versuchen, ihre Kundschaft auszuweiten. Neben den Europäern sollen künftig auch energiebedürftige asiatische Länder mit russischen Rohstoffen versorgt und damit Einnahmen und Regime dauerhaft gesichert werden. Insbesondere China, dessen wirtschaftliche Entwicklung und militärische Aufrüstung von Energieimporten abhängt, ist sehr daran interessiert, die Energielieferanten und Lieferwege zu diversifizieren. Eindämmung Chinas Da Chinas Energieversorgung aus Afrika und dem Mittleren Osten vielerorts (unter anderem auch an der Straße von Malakka, eine Meerenge in Südostasien) durch die USA blockiert werden kann, ist das Reich der Mitte um Alternativen bemüht. Zum einen sollten künftig Öl und Gas aus dem Nahen und Mittleren Osten auf einer letzten Teilstrecke über Myanmar gepumpt werden. Es sei denn, den USA gelingt es doch noch, China einen Strich durch die Öl- und Gasrechnung zu machen, indem sie die Führung des zuvor jahrzehntelang als Militärdiktatur gemiedenen Landes mit einem „Demokratiepaket“ zur stärkeren Zusammenarbeit mit dem Westen bewegt. Zum anderen kommt es auch nicht von ungefähr, dass der 2013 gewählte chinesische Staatspräsident Xi Jinping seinen ersten Auslandsbesuch dem russischen Machthaber Putin abstattete, um die Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern. Die Strategie des vom Kreml gelenkten Pipelinekonzerns Transneft ist schon seit geraumer Zeit nach Asien gerichtet, um die Pazifik-Region, insbesondere China, Südkorea und Japan mit Öl zu beliefern. Über die Eastern Siberia-Pacific Ocean (ESPO) Pipeline bezieht China mittlerweile schon mehr Öl aus Russland als Deutschland. Im Februar 2014 präsentierte Transneft Pläne, in den nächsten sechs Jahren knapp zehn Milliarden Dollar zu investieren, um die Kapazität der ESPO-Pipeline zu verdoppeln. Die Ausweitung der Pipeline-Kapazitäten ist nötig, um die auf 25 Jahre angelegte, 270 Milliarden Dollar umfassende Vereinbarung zwischen dem russischen Öl-Giganten Rosneft und der China National Petroleum Corporation (CNP) umzusetzen.12 Auch der staatlich gelenkte Energiekonzern Gasprom plante schon seit Längerem, eine Pipeline nach China zu bauen. Die Sanktionsdrohungen des Westens in der Ukraine-Krise haben schließlich den 11 Vgl. Clifford Gaddy, zitiert in: Neil MacFarquhar und David M. Herszenhorn, Ukraine Crisis Pushing Putin Toward China, in: New York Times, 20.5.2014, S. A1. 12 Vgl. Jack Farchy, Rosneft’s Pipeline Proposal Sparks Rift With Transneft, in: Financial Times, 20.2.2014.
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über ein Jahrzehnt in der Preisfrage uneinigen russischen und chinesischen Handelsführern zum Vertragsabschluss verholfen, den der russische Präsident bei seinem China-Besuch im Mai 2014 als „epochales Ereignis“ feierte. Nach dem „umfangreichsten Vertrag“, den Gasprom laut Aussage seines Chefs Alexej Miller je eingegangen ist, wird Russland von 2018 an über 30 Jahre jährlich 38 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach China liefern.13 Die immensen Investitionen in Pipelines und andere Infrastruktur kann insbesondere China aufbringen. Zumal das Reich der Mitte seit der von den USA verursachten Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 damit begonnen hat, sich von der Interdependenz mit den USA zu lösen, zunehmend Währungsreserven aus der „Dollar-Falle“ nimmt und die eigene Währung behutsam internationalisiert. Auch Moskau hat ein schon seit Längerem bekundetes Interesse, den Dollar als einzige Weltleitwährung abzulösen, um ein multipolares Währungssystem zu etablieren. China und Russland könnten dazu beitragen, indem sie ihre Handelsgeschäfte über ihre Währungen (zunächst in Form von Swaps) abwickeln. Die durch westliche Sanktionsdrohungen in der Ukraine-Krise forcierte Annäherung Russlands und Chinas kann nicht im Interesse der USA sein, zumal die langfristig angelegten Pläne Moskaus und Pekings darauf hindeuten, dass neben Nordkorea auch westlich orientierte Staaten wie Japan und Südkorea durch Energielieferungen noch stärker wirtschaftlich eingebunden werden sollen.14 Ohnehin sehen US-Strategen mit Sorge, dass Japan und Südkorea wirtschaftlich bereits mehr mit dem Reich der Mitte verflochten sind als mit den USA. Um die pazifischen Länder wirtschafts- und handelspolitisch stärker an sich zu binden, versuchen die USA im Rahmen der Trans-Pacific Partnership (TPP) die Liberalisierung und Marktintegration in der transpazifischen Region voranzutreiben. Fraglich bleibt indes, ob der US-Präsident das dafür nötige innenpolitische Kapital aufbringen kann, um dem protektionistisch eingestellten Kongress dieses umfangreiche Freihandelsabkommen abzuringen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass auch die umworbenen Handelspartner Interessenkonflikte plagen, vor allem wenn diese Initiative gegen China gerichtet sein sollte. Denn Japan und andere Länder der Region genießen zwar einerseits den militärischen Schutz der USA, vor allem auch gegenüber China, 13 China, Russia Clinch Natural Gas Supply Pact, in: Bridges, Vol. 18, Nr. 18, 22.5.2014. 14 Am 24. August 2011 informierte der damalige Präsident Medwedew die erstaunten Journalisten über die „Ergebnisse“ seiner Gespräche mit den Mitgliedern der Nationalen Verteidigungskommission Nordkoreas: „Wir haben unsere ausführenden Organe angewiesen, eine Kommission einzurichten, um den spezifischen Rahmen für eine bilaterale Zusammenarbeit beim Gastransit durch die Volksrepublik zu vereinbaren, bei dem auch die Koreanische Republik eingebunden wird, zumal die Hauptkonsumenten in Südkorea sind.“ Dmitri Medwedew, Meeting with Journalists Following Talks with Chairman of the State Defence Commission of the Democratic People’s Republic of Korea Kim Jong II, 24.8.2011, (abgerufen am 23.9.2014).
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doch teilen sie andererseits mit dem Reich der Mitte wichtige Handels- und Währungsinteressen. Peking und Tokio, die beiden Hauptfinanciers der exorbitant anschwellenden US-Staatsschulden, nehmen peu à peu ihre Anlagen aus der „DollarFalle“. Um den Dollar zu umgehen, hat China unter anderem schon zwei Vereinbarungen zur gegenseitigen Anerkennung von Währungen mit Japan und Südkorea geschlossen. Neben zahlreichen asiatischen Ländern hat China auch mit Brasilien, Indien und Russland vereinbart, den Handel untereinander in nationalen Währungen abzuwickeln. Mittlerweile reinvestieren auch die OPEC-Staaten die Petro-Dollars der USA und der Asiaten nicht mehr im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern in China. China arbeitet daran, eine multipolare Ordnung mit mehreren Leitwährungen zu etablieren. Früher oder später werden die Währungsmärkte die Kräfteverhältnisse im internationalen Handel abbilden – nämlich eine multipolare Ordnung mit drei Kraftzentren: Der Dollar wird auf absehbare Zeit seine Leitfunktion mit dem Euro und dem chinesischen Renminbi teilen müssen.15 Damit werden die USA aber künftig nicht mehr wie bisher den Gutteil der Währungsreserven anderer Länder zum Nulltarif erhalten und über ihre Verhältnisse, das heißt kreditfinanziert, wirtschaften können. Das wird neben der Wirtschaft und dem Sozialbereich auch die militärische Rüstung der Weltmacht betreffen. Fazit und Ausblick Außenpolitikexperten, die Sicherheitspolitik umfassender begreifen, hoffen, dass ein Verständnis für die Zusammenhänge verschiedener Politikfelder auch helfen könnte, die sich anbahnende militärische Rivalität zwischen Washington und Peking abzumildern. Denn schließlich sind die USA und China wirtschaftsund handelspolitisch voneinander abhängig. Eine Schwäche des einen würde unweigerlich auch gravierende Probleme für den anderen bewirken. Doch wer sich nur die kontinuierlich und deutlich steigenden Militärausgaben und das martialische Auftreten Chinas im pazifischen Raum ansieht, muss befürchten, dass es auch im Reich der Mitte Hardliner gibt, die künftig noch stärker den Ton angeben werden. Denn auch in Washington können die anstehenden Haushaltskürzungen im militärischen Bereich wohl nur noch damit abgemildert werden, wenn man vonseiten der Rüstungsindustrie und der von ihr finanziell motivierten Politiker und Experten die „gelbe Gefahr“ überzeich-
15 Vgl. den US-Währungsexperten Barry Eichengreen, What China is After Financially, in: East Asia Forum, 30.1.2011, (abgerufen am 8.9.2014).
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net.16 Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass auf beiden Seiten jeweils von Partikularinteressen motivierte Bedrohungswahrnehmungen selbsterfüllende Prophezeiungen werden. Die USA werden dabei ihren gegenwärtigen Konfrontationskurs gegenüber Russland erneut überdenken müssen. Hatten sich doch die Antagonisten des Kalten Krieges nach der Amtsübernahme Barack Obamas 2009 ohnehin schon auf einen „Neustart“ ihrer Beziehungen verständigt. Washington stellte dafür seine treuesten Verbündeten des „neuen Europa“ bloß, die sich zuvor im Zuge der geplanten Stationierung des Raketenabwehrsystems noch fest an der Seite der USA gegen Russland exponiert hatten. Dieser „Reset“ hat indes noch keine nachhaltige Annäherung zwischen Washington und Moskau bewirkt. In der Ukraine-Krise wurden auf beiden Seiten wieder die alten Denk- und Diskursmuster aus der Zeit des Kalten Krieges bemüht, obwohl das von US-Präsident Obama als „Regionalmacht“ herabgestufte Russland nicht mehr als vitale Bedrohung für die USA gilt. Doch die sich am asiatischen Horizont abzeichnende Herausforderung wird Geostrategen in Washington darin bestärken,17 dass die „Regionalmacht“ Russland – ungeachtet ihrer „Demokratiedefizite“ – dann wieder als nützlicher Partner helfen könnte, der aufstrebenden „Großmacht“ China zu begegnen.
16 So lieferte der Berater Aaron Friedberg der Politik bereits Argumentationshilfen: „Um die notwendigen Ausgaben in Zeiten knapper Haushalte zu rechtfertigen“, so der Princeton-Professor, „müssen unsere Führer deutlicher die Interessen der Nation sowie die Verpflichtungen in Asien erklären und ungeschminkter die Herausforderungen beschreiben, die Chinas unbarmherzige militärische Rüstung darstellt.“ Aaron L. Friedberg, China’s Challenge at Sea, in: New York Times, 4.9.2011. 17 So der „neorealistische“ Vordenker John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault. The Liberal Delusions that Provoked Putin, in: Foreign Affairs, September/Oktober 2014, S. 77-89, hier S. 89.
IV.
Multilaterale Foren und autokratische Regime
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Bewährungsprobe für das normative Projekt der EU Almut Möller Die Europäische Union und ihre Mitglieder haben sich in ihren Grundlagenverträgen zu einer wertegebundenen Außenpolitik bekannt (Art. 21 des Vertrags über die Europäische Union). Den Grundsätzen ihrer Zusammenarbeit nach innen wollen sie auch nach außen zum Durchbruch verhelfen, um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Achtung der Menschenwürde, die Grundsätze der Gleichheit und Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts in anderen Teilen der Welt zu fördern. Die lange Aufzählung zeigt es: Das Selbstverständnis der EU als normatives Projekt weist einen „gewisse[n] Überschuss an Wert- und Zielnormen“1 auf und weckt gleichzeitig hohe Erwartungen, an denen sich die EU messen lassen muss. In der Praxis sind die Akzente in den Außenbeziehungen der Union dabei oft selektiv. Am Ende eines komplexen Abwägungs- und Abstimmungsprozesses, der die politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen der 28 Mitglieder berücksichtigt, steht nicht selten ein Kompromiss auf niedrigem Niveau.2 Zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht also ein Spannungsfeld, das sowohl in der eigenen Selbstversicherung als auch in der konkreten Ausgestaltung der EU-Außenbeziehungen seit vielen Jahren Gegenstand kontroverser Debatten ist. Kritik und Existenzfragen Der Grundsatz der wertegebundenen Außenpolitik ist damit keinesfalls nur eine vertragliche Bestimmung mit geringer oder gar ohne praktische Relevanz – 1 2
Andreas von Arnauld, Das System der europäischen Außenbeziehungen, in: ders. (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, Baden-Baden 2014, S. 41-101, hier S. 77. Zum Charakter der EU als außenpolitischer Akteur siehe etwa Mario Telò, Frederik Ponjaert, The EU’s Foreign Policy: What Kind of Power and Diplomatic Action?, Ashgate 2013.
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im Gegenteil. Spürbar und sehr konkret wirkt sich die weltweit festzustellende demokratische Stagnation in Verbindung mit dem steigenden Einfluss nichtdemokratischer Staaten3 auf die Außenbeziehungen der EU aus, insbesondere in ihrer Nachbarschaft. Der Hoffnung auf eine Demokratisierungswelle in der arabischen Welt durch die politischen Umbrüche seit dem Jahreswechsel 2010 ist inzwischen deutlich Ernüchterung gewichen. Die Konfrontation mit der Russischen Föderation über die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 und die Zukunft der Ukraine haben die Frage des Umgangs der EU und ihrer Mitglieder mit Autokratien in einer neuen Aktualität und Qualität auf die politische Agenda gesetzt. Mit Blick auf die arabischen Nachbarstaaten ist die jüngere Debatte insbesondere von der Kritik geprägt, dass die EU in der Vergangenheit entgegen ihrer deklarierten Werte gehandelt und die Regime in den Nachbarländern vor allem zum Schutz ihrer Sicherheitsinteressen unterstützt habe, anstatt auf politischen und gesellschaftlichen Wandel hinzuarbeiten. Stichworte sind hier vor allem Migrationsbewegungen in Richtung Europa und die Eindämmung religiös motivierten Terrorismus. Im Blick auf die östliche Dimension wirft Russland der EU gegenwärtig vor, in der gemeinsamen Nachbarschaft Machtpolitik zu betreiben, worauf Moskau seinerseits reagiert habe. In der aktuellen Debatte geht es aber nicht nur um die Frage, ob das „Modell EU“ die richtigen Antworten auf den offenen Angriff auf seine Werte, insbesondere den Bruch des Völkerrechts durch Russland durch die Annexion der Krim, findet. Viel grundlegender nährt der Versuch Moskaus, eine Ausweitung seiner Einflusssphäre nicht nur in Bezug auf den postsowjetischen Raum (etwa durch Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion), sondern bis hinein in die EU zu betreiben, inzwischen sogar Zweifel daran, dass die Union ihr Modell auch nach innen dauerhaft sichern kann.4 Der Umgang mit Autokratien wird in der EU gegenwärtig also durchaus in existenzieller Perspektive diskutiert.5 Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik auf dem Prüfstand Der Gedanke der „Missionierung“ durch die Europäische Union findet in unterschiedlicher Weise Niederschlag in der Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten und Organisationen. Besonders deutlich wird er im unmittelbaren geografischen Umfeld der Union in den „Sonderaußenpolitiken“ der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. Ursprung dieser Politiken war die 3 4 5
Siehe dazu etwa Lars Brozus, Hans-Henning Schröder, Autoritäre Regime als Herausforderung für die Außenbeziehungen Deutschlands und der EU, SWP Arbeitspapier FG 2/FG 5 Nr. 1, Berlin 2011. Siehe die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Debatte zum Thema internationale Autokratieförderung, in: ebd., S. 3-4. Siehe etwa Jan-Werner Müller, Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie, Berlin 2013.
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Heranführung der Staaten Mittel- und Osteuropas an eine EU-Mitgliedschaft als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Ganz bewusst konzipierte die EU in den 1990er Jahren eine Erweiterungspolitik, die den gescheiterten Modellen in Mittel- und Osteuropa ihr Modell von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Marktwirtschaft und gleichberechtigter Kooperation entgegensetzte. Die Mitgliedschaft in der EU wurde an eine Erfüllung von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen geknüpft – eine besondere Form der Konditionalität, die die Erweiterungspolitik zwischenzeitlich zum Vorzeigeprojekt der EU-Außenbeziehungen werden ließ, zeigte sich doch hier in besonders erfolgreicher Weise die transformative Kraft der EU. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) knüpfte in ihrer Konzeption im Jahr 2004 gezielt an die Erfolge der Erweiterungspolitik an. Sie stützte sich auf die Prinzipien der Erweiterungspolitik und verfolgte das Ziel, die Nachbarstaaten der EU in östlicher und südlicher Perspektive in einen „ring of friends“ entlang der Trias von Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zu transformieren.6 Dabei sollte auch die Zusammenarbeit mit reformwilligen zivilgesellschaftlichen Akteuren forciert werden. Während bereits die grundlegende Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik im Jahr 20117 offenbarte, dass die EU deutlich hinter ihren ambitionierten Zielen zurückblieb, brachten seitdem beschlossene Reformen – vor allem der Versuch der Stärkung des Mechanismus der Konditionalität – keine wesentlichen Erfolge. Dabei fiel die Bilanz in den Ländern der östlichen Partnerschaft zwar insgesamt besser aus als in der südlichen Dimension. Reformen wurden aber dennoch bisher zu wenig von den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten getragen, um nachhaltig wirken zu können. Zuletzt wurde die ENP regelrecht von den dramatischen politischen Umbrüchen in nahezu allen Zielländern der arabischen Welt sowie von den Entwicklungen in der Ukraine überrollt. Die seit dem 1. November 2014 amtierende EU-Kommission will sich gemeinsam mit den Mitgliedstaaten in den kommenden Monaten daher einer sehr viel grundlegenderen Debatte über die Zukunft der ENP stellen. Welche Lehren sind aus den Entwicklungen der vergangenen Jahre für die ENP zu ziehen? Macht es Sinn, weiter an der ENP festzuhalten – und wie müsste diese ausgestaltet sein, um der neuen Interessenlage der EU Rechnung zu tragen? Wie stellen sich diese Interessen 6
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Zur Konzeption der Nachbarschaftspolitik siehe Markus Kotzur, Europäische Nachbarschaftspolitik, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Europäische Außenbeziehungen, a.a.O. (Anm. 1), S. 371-405. Kotzur weist darauf hin, dass „Nachbarschaft“ jenseits des ideellen Ansatzes der EU in ursprünglichem Sinne auch ein raumbezogener Begriff ist, dem Inklusion und Exklusion innewohnen. Diese Interpretation spielt in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Russischen Föderation derzeit eine entscheidende Rolle, da Moskau die ENP als reine Machtpolitik interpretiert. Vgl. Gemeinsame Mitteilung der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Kommission, Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel. Eine Überprüfung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, Brüssel 2011.
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Bewährungsprobe für das normative Projekt der EU
heute dar – und gibt es überhaupt Konsens unter den EU-Mitgliedern sowie mit der EU-Kommission? Die Debatte um die Nachbarschaftspolitik steht damit auch in einem direkten Zusammenhang mit der Frage der künftigen politischen und sicherheitspolitischen Gesamtordnung in Europa. Der Umgang mit Autokratien wird zentraler Bestandteil der laufenden Neubewertung und -ausrichtung sein müssen – denn ihre eigene Nachbarschaft, dies haben die Erfahrungen mit der ENP gezeigt, ist keineswegs eine „domaine réservé“ der EU. Andere Staaten, darunter eben auch autokratische Regime, haben ihrerseits Interessen in dieser Nachbarschaft, die mit denen der EU kollidieren können. Die EU und ihre Mitglieder sind allerdings angesichts der eigenen inneren Widersprüche, die während der vergangenen Krisenjahre offengelegt wurden, spürbar verunsichert – und für Einflussnahme von Autokratien zunehmend anfällig. Die EU als Wirtschaftsmacht und internationaler Partner Während die EU in ihrer Nachbarschaft stärker auch als politischer und sicherheitspolitischer Akteur auftritt, wirkt sie in globaler Perspektive – trotz eines hohen Engagements in der Entwicklungspolitik und einzelner sicherheitspolitischer Akzente – weiterhin vor allem als eine Wirtschaftsmacht. Übergeordnete politische Ziele spielen jedoch auch in den Wirtschaftsbeziehungen eine Rolle. Die EU setzt in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Organisationen insbesondere auf Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialoge, die langfristig wirken sollen. Insbesondere das Europäische Parlament, das seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 allen Handelsabkommen zustimmen muss, weist regelmäßig auf die Wertebindung europäischer Außenpolitik hin und setzt das Thema Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit auf die Agenda. Die wirtschaftlichen Interessen der Union und ihrer Mitglieder setzen dem Wertepostulat jedoch Grenzen. Entsprechend sind die von der Kommission verantworteten Handelsbeziehungen der EU mit Drittstaaten oder regionalen Zusammenschlüssen eher von Realismus geprägt. Der zunehmende globale Wettbewerb um Ressourcen und Marktanteile, verbunden mit einem wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Druck auf viele EU-Mitgliedstaaten, haben im Zuge der Krise der vergangenen Jahre Wirtschaftsinteressen noch stärker in den Vordergrund gerückt. Mehr Handel soll als Wachstumsmotor für lahmende Volkswirtschaften in der EU wirken. Als größter gemeinsamer Markt der Welt mit mehr als 500 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürgern ist die EU ein attraktiver Partner für Drittstaaten und Organisationen. Wirtschaftskooperation führt allerdings auch zu wechselseitigen Abhängigkeiten, die in Bezug auf Autokratien besonders problematisch sein können. Dies hat die EU mehrfach erfahren müssen. Moskau etwa hat wiederholt die Abhängigkeit zahlreicher EU-Staaten von russischen Gaslieferungen für politische Zwecke instrumentalisiert – und wird
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dies voraussichtlich weiterhin tun. Peking weiß um die Bedeutung des chinesischen Marktes für europäische Produkte und Investitionen, insbesondere aus Deutschland, und versucht immer wieder, in der Zusammenarbeit mit der EU die Ebene der Mitgliedstaaten auf der einen und der EU auf der anderen Seite gegeneinander auszuspielen. Ihr eigenes komplexes Mehrebenensystem macht die EU angreifbar für Einflussnahme von außen. Die Krise um die Zukunft der Ukraine könnte nun einen Wendepunkt markieren und das Primat der Politik wieder stärker in den Vordergrund stellen. Die Konfrontation mit Russland, die von der EU im Kern als eine Auseinandersetzung um die Zukunft der europäischen Sicherheits- und Werteordnung interpretiert wird, hat im Sommer 2014 dazu geführt, dass die 28 EU-Regierungen innerhalb von kurzer Zeit einstimmig umfangreiche Sanktionen beschlossen haben – gegen den Widerstand von starken Wirtschaftseliten in EU-Staaten, allen voran in Deutschland. Weiterentwicklung der Sanktionspolitik Die EU hat in den vergangenen Jahren insgesamt immer häufiger auf Sanktionen als Instrument zur Beeinflussung von Autokratien zurückgegriffen.8 Da die EU und ihre Mitglieder weiterhin äußerst zurückhaltend mit der Entwicklung und dem Einsatz militärischer Optionen umgehen, sind Sanktionen das einzige zur Verfügung stehende – und angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der EU potenziell sehr wirksame – Zwangsmittel. Dieses wendet die EU im Rahmen der Vereinten Nationen, aber auch mit eigenen Initiativen an. Das Einstimmigkeitsprinzip beim Beschluss von Sanktionen hat sich dabei auch bei unterschiedlichen Interessenlagen der Mitgliedstaaten letztlich als überwindbare Hürde erwiesen. Der wachsende Konsens auf politischer Ebene über den Einsatz von Sanktionen als Mittel der EU-Außenpolitik hat die EU auch dazu veranlasst, ihre Kapazitäten in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Dazu gehört etwa eine personelle Stärkung der Kapazitäten im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), der seit kurzem über eine eigenständige Abteilung „Sanktionen“ verfügt. Diese Kapazitäten sind jedoch weiter ausbaufähig, um ein kontinuierliches und systematisches Monitoring, eine Bewertung und eine zielgerichtete Anpassung der einzelnen Sanktionsregime zu ermöglichen. Bis jetzt weiß die EU noch zu wenig über Ausmaß und Wirksamkeit ihrer Sanktionspolitiken, um auf diesen Erfahrungsschatz aufbauen und ihre Politiken noch effektiver gestalten zu können. 8
Vgl. dazu Konstanty Gebert, Shooting in the Dark? EU Sanctions Policies, ECFR Policy Brief 71, Januar 2013. Eine Liste der aktuellen Sanktionsregime der EU findet sich auf den Internetseiten des Europäischen Auswärtigen Dienstes unter (abgerufen am 16.11.2014).
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Bewährungsprobe für das normative Projekt der EU
Das „Modell EU“ unter Druck Die Auseinandersetzung mit Russland um die Zukunft der Ukraine hat der EU deutlich vor Augen geführt, dass es inzwischen nicht mehr lediglich um den Umgang mit einzelnen „schwierigen Partnern“ und die konkrete Ausgestaltung der jeweiligen bilateralen Beziehungen in Abwägung ihrer wirtschaftlichen, (sicherheits-)politischen und normativen Interessen geht. Vielmehr sieht sich die EU heute gezwungen, in globaler Perspektive gemeinsam mit anderen westlichen liberalen Demokratien den Beweis anzutreten, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Kooperation auch weiterhin der beste Garant für Wohlstand und Sicherheit von Staaten und Gesellschaften sind. In diesem Diskurs hat die EU in jüngerer Zeit an Boden verloren. Dass die Folgen der globalen Finanz- und Bankenkrise die Union auch 2014 weiter fest im Griff haben, hat dabei Zweifel an der Problemlösungsfähigkeit der EU und ihrer Mitglieder verstärkt und die Position der EU gegenüber zunehmend selbstbewusst agierenden autokratischen Staaten spürbar geschwächt. Insofern geht der Handlungsdruck für die EU weit über außenpolitische Fragen hinaus bis in den Kern ihrer eigenen inneren Verfasstheit.
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Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner Henning Riecke
Der Umgang mit Autokratien ist der ursprüngliche Zweck der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO). Die Allianz hatte im Kalten Krieg die Aufgabe, durch Abschreckung und Verteidigungsbereitschaft das Vordringen des sow jetischen Gesellschaftssystems zu verhindern. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Allianz den friedlichen Übergang der osteu ropäischen Staaten zur Demokratie auf die Fahnen geschrieben und damit eine westliche Werteorientierung verbunden. Die NATO ist auch dabei ei ne Sicherheitsorganisation, die militärische Gewalt von ihren Mitgliedern fernhalten muss und Risiken dort begegnen will, wo sie entstehen. Diesen Zielen dient auch die Schaffung einer Nachbarschaft aus stabilen und demo kratisch verfassten Ländern. Partnerschaftspolitik ist ein elementarer Teil im Aufgabenportfolio der NATO. Sie hat verschiedenartige Partner, auch solche, die ihr Wertesystem nicht teilen. Pragmatische Wertegemeinschaft Die Mitglieder des Nordatlantikvertrags sehen sich durch ein gemeinsames Wertesystem verbunden, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zentral sind.1 Auch für Beitrittskandidaten sind ein demokratisches System und freie Marktwirtschaft Voraussetzung für eine Mitgliedschaft. Die NATO ist aber ursprünglich ein System der kollektiven Verteidigung nach außen. Das verbin dende Glied sind die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen und der poli tische Wille, im Geiste der Solidarität für Mitglieder einzutreten, die militärische Hilfe benötigen. Wenn ein Mitgliedstaat sich jenseits des Wertekonsens be wegte – die Türkei und Griechenland durchliefen Phasen der Militärherrschaft; 1
Nordatlantikvertrag, Präambel, Washington, DC, 4.4.1949. Alle NATODokumente, die in diesem Artikel angesprochen werden, sind zu finden unter (abgerufen am. 1.11.2014).
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Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner
Portugal war als Diktatur Gründungsmitglied der NATO –, bemühte sich die NATO stets darum, die daraus entstehenden Konflikte in der Allianz nicht öf fentlich werden zu lassen, weil der Zusammenhalt der Verbündeten Vorrang hat.2 Nach außen hin verfolgt die NATO – entsprechend den unterschiedlichen Adressaten – drei verschiedene Strategien im Umgang mit autoritär regierten Staaten: Erstens schreckt die Allianz Staaten ab, denen es um die Ausbreitung ihrer nichtdemokratischen Ordnungsvorstellungen geht – wie der UdSSR im Kalten Krieg. Zweitens unterstützt sie durch Mitgliedschaftsvorbereitung und reformorientierte Partnerschaft indirekt die Demokratisierung potenzieller Mitgliedstaaten. Die NATO bindet, drittens, aber auch Autokratien in funktio nale Partnerschaften ein. Strategie I: Flexibilität im Umgang mit Russland Im Verhältnis zu Russland wendet die NATO scheinbar widersprüchliche Strategien von Abschreckung und Annäherung an. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben Abschreckung und Verteidigung gegenüber Russland für die NATO eine immer geringere Rolle gespielt. Im Versuch, die Konfrontation des OstWestGegensatzes aufzubrechen, war und ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Russland der wichtigste Baustein. Die von Russland als aggressiv verstandene Partnerschafts und Erweiterungspolitik gegenüber ost europäischen Nachbarn sollte durch die NATOEinbindungspolitik gegenüber Russland kompensiert werden. Um russische Bedrohungsgefühle zu mildern, erhielt Moskau Einfluss auf NATOEntscheidungen, aber kein Veto.3 Die NATO hat als Teil eines Pakets aus vertrauensbildenden Maßnahmen eine integrierte Partnerschaft mit Russland ausgehandelt. Aufbauend auf der NATORusslandGründungsakte von 1997, mit der der NATORussland Rat (NATO Russia Council, NRC) als festes Konsultationsgremium ge schaffen wurde, entstand zwischen NATO und Russland ein Netzwerk von Kooperationen und gemeinsamen Projekten, etwa in der Raketenabwehr oder zum NATOEinsatz in Afghanistan. In der Gründungsakte erkennen die Unterzeichner die vitale Rolle von Demokratie, Menschen und Bürgerrechten, Rechtsstaatlichkeit sowie der Marktwirtschaft an. Das Dokument zielt anson sten auf die Einhaltung von völkerrechtlichen Prinzipien wie der territorialen Integrität und der Selbstbestimmung der Völker ab.4 Seit dieser Zeit hat die 2 3 4
Effie G. H. Pedaliu, „A Discordant Note“: NATO and the Greek Junta, 1967-74, in: Diplomacy and Statecraft, 1/2011, S. 101-120. Lionel Ponsard, Russia, NATO and Cooperative Security: Bridging the Gap (Contemporary Security Studies) Routledge 2006. Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between NATO and the Russian Fe deration Signed in Paris 1997, (abgerufen am 1.11.2014).
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NATO auch die Bedrohung durch Russland in ihren strategischen Papieren systematisch abgewertet und militärische Fähigkeiten abgebaut, die im Kalten Krieg zur Eindämmung Russlands unabdingbar waren. Insgesamt gelang es der Nordatlantischen Allianz jedoch nicht, Russland von der friedlichen, integrativen und kooperativen Natur ihrer Politik zu über zeugen. Moskau fürchtet den Verlust einer strategischen Pufferzone gegen über dem vermeintlichen Gegner NATO. So waren die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und das russische militärische Eingreifen in der Ostukraine wohl dadurch motiviert, dass die in Russland wieder dominanter gewordene Sicherheitselite ihre SchwarzmeerFlotte sicherte und unterbinden wollte, dass sich die ehemalige Sowjetrepublik an den Westen angliedert (vgl. dazu den Beitrag von Stefan Meister in diesem Band). Die UkraineKrise wird wahr scheinlich territoriale Fragen offen lassen, die Kiew den Weg in die NATO und EU weiterhin verbauen. Ähnliches ist Russland auch nach dem Krieg in Georgien gelungen, durch den Abchasien und Südossetien wahrscheinlich dau erhaft abgetrennt wurden.5 Die osteuropäischen Verbündeten, vor allem die baltischen Staaten Estland und Lettland, mit starken russischen Minderheiten, aber auch Polen war nen schon lange davor, dass Russland durch Übergriffe auf ihr Territorium den Zusammenhalt der Allianz testen könnte. Die UkraineKrise hat diese Ängste bestärkt, auch mit Blick auf die angewandte russische Kriegführung, die nichtmilitärische Mittel einbezieht. Auch davor muss die NATO ihre Mitglieder schützen. Dies geschieht nicht zuletzt durch die sogenannte Schnelle Eingreiftruppe, die Very High Readiness Task Force, die in den kommenden zwei Jahren aufgebaut wird. Sie soll im Notfall – mit Hilfe vorab installierter Materiallager und Infrastruktur – innerhalb von zwei bis drei Tagen an die Außengrenzen der Allianz verlegt werden können. Aber auch die Defacto Einbeziehung von Cyberangriffen in die NATOSchutzklausel im jüngsten Gipfeldokument ist Teil dieser Anpassung.6 Hingegen wurde mit der UkraineKrise die praktische Zusammenarbeit der NATO mit Russland suspendiert, wenn auch der NATORusslandRat auf Botschafterebene weiterbesteht. Die NATORusslandGründungsakte gilt für die NATO als intakt, auch wenn dies sehr umstritten unter den Mitgliedern ist. Die neue antagonistische Haltung gegenüber Russland ist also ein Kompromiss zwischen dem Abschreckungsgedanken und einem noch immer aufrechterhal tenen Partnerschaftsangebot. In all diesen Auseinandersetzungen spielte die innenpolitische Verfasstheit Russlands nur eine sekundäre Rolle, jenseits der schwachen Selbstverpflichtung Russlands, unter anderem in der Gründungsakte. Der Allianz geht es um die 5 6
Mit Georgien und der Ukraine hat die NATO im Übrigen integrierte Aufbaupartnerschaften mit in stitutionellem Unterbau geschaffen (NATOUkraineKommission/NATOGeorgienKommission). NATO, Wales Summit Declaration, Newport, 5.9.2014, Abs. 8 und 72.
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Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner
Etablierung europäischer Sicherheitsstrukturen. Der wachsende Nationalismus und die zunehmend autoritären Züge der Herrschaft des Kremls gehen natür lich in die Bedrohungsanalyse in Osteuropa ein. Es ist aber nicht Aufgabe der NATO, gegen diese Veränderungen in Russland aktiv vorzugehen. Strategie II: Reformdynamik für künftige Mitglieder Die Osterweiterungen der NATO in den Jahren 1999 und 2004 waren das Ergebnis einer Abwägung zwischen konfligierenden Strategien. Schnell nach dem Ende der UdSSR und des Warschauer Vertrags hatten Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn Interesse an einer NATOMitgliedschaft an gemeldet. Dies wurde in der Allianz zunächst mit Sorge aufgenommen, denn Russland hatte seinen Widerstand angekündigt. Unter den NATOMitgliedern wuchs bis 1994 jedoch die Bereitschaft, die Mitgliedschaftsbemühungen zu unterstützen. Dies geschah, um ein politisches Vakuum zu füllen, welches der Zusammenbruch der Sowjetunion hinterlassen hatte. In einer unsicheren Übergangsphase hin zu Demokratie in Osteuropa und angesichts ethnisch territorialer Konflikte schien es sinnvoll, auf dieses Drängen einzugehen. Die Verbreitung von Demokratie durch die Mitgliedschaftsvorbereitung wurde mehr und mehr zu einem zentralen Argument für diese Politik. In einer NATOStudie aus dem Jahr 1995 zur Erweiterung sowie einer Liste von Beitrittskriterien des amerikanischen Verteidigungsministers (Perry’s Principles) war die Entwicklung hin zu demokratischen Verhältnissen Voraussetzung für den Beitritt neuer Staaten und somit Ziel der Beitrittsvorbereitung.7 Um die Irritationen in Russland aufzufangen und Entscheidungen über neue Mitglieder aufzuschieben, beschloss die NATO, eine Partnerschaftsarchitektur aufzubauen: mit der Partnerschaft für den Frieden (1993), dem Nordatlantischen Kooperationsrat (1994) und dem Euroatlantischen Kooperationsrat (1997). Diese haben Mitglieder in Europa und Zentralasien, darunter Kasachstan oder Weißrussland. Das Partnerschafts bzw. Mitgliedschaftsangebot war verbun den mit der Erwartung, dass die Beitrittskandidaten ein klares Bekenntnis zur Demokratie und zur territorialen Integrität ablegen würden. Die Staaten, die zurzeit Aussicht auf Aufnahme in die Nordatlantische Allianz haben, sind keine Autokratien, sondern im schlechtesten Fall schwa che Demokratien. Die Ukraine und Georgien haben seit 2008 ein va ges Beitrittsversprechen, aber keinen Heranführungsprozess in Form eines Membership Action Plan. Formale Beitrittskandidaten sind aktuell Mazedonien, dessen Namensstreit mit Griechenland einen Beitritt verhindert, Moldawien 7
Study on NATO Enlargement, Brüssel, September 1995, (abgerufen am 1.11.2014); vgl. auch Gerald B. Solomon, The NATO En largement Debate, 1990-1997: Blessings of Liberty, Center for Strategic and International Studies, Washington, DC, 1998, S. 160 (Perry’s Principles).
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und BosnienHerzegowina, wo Uneinigkeit zwischen den drei Volksgruppen eine Verteidigungsreform erschwert. Hat die Erweiterungspolitik nun demokratische Reformen in Osteuropa substanziell befördert? Demokratisierung ist ein komplexer innenpoli tischer Prozess. Die Wirkung von Impulsen von außen ist schwer mess bar. Die Mitgliedschaftspolitik hat sicher die Autonomisierung der Militärs in Übergangsstaaten verhindert und multilaterale Öffnung ermöglicht. Demokratisierungserfolg durch Partnerschaftspolitik ist aber sicher von be stimmten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen abhängig, etwa dem Stellenwert der Westorientierung im Reformdiskurs zu Beginn eines Übergangsprozesses. Die NATOPartnerschaft hatte etwa größeren Einfluss, wenn arrivierte Entscheidungsträger für die Übernahme westlicher Werte ge wonnen wurden, und nicht nur Offiziersanwärter. Personelle Kontinuität der militärischen Apparate behinderte den Einfluss der Wertekomponente in der Mitgliedschaftspolitik, etwa in Rumänien und Bulgarien. Einfacher war dies in den baltischen Staaten, die bis 1991 ohne eigenes Militär Teil der UdSSR waren: Hier unterstützte die NATO den Aufbau von Streitkräften, auch mit dem Ziel, westliche Werte zu verbreiten. Die Slowakei, die unter Präsident Victor Meciar in undemokratische Muster zurückfiel, zeigt dagegen, dass der Anreiz der NATO Mitgliedschaft weniger bewirkt als die Aussicht auf Aufnahme in die EU. Eine nüchterne Einschätzung besagt, dass die NATO laufende Reformprozesse un terstützt und nicht behindert, sie aber kaum selbst angestoßen hat.8 Strategie III: Partnerschaften ohne Programm Partnerschaftspolitik der NATO dient vielen Zielen jenseits der Verbreitung von Werten. Die Allianz will etwa ihr Image vor allem in der arabischen Welt aufpolieren, wo die Führungsmacht USA oftmals selbst als Bedrohung verstan den wird, und mit Partnern auch neue Fähigkeiten für gemeinsame Einsätze ausbauen. Es gibt den „Mittelmeerdialog“ (1994 gegründet), zu dem auch Ägypten oder Jordanien gehören, und in dem der ungelöste Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern oft praktische Kooperation behindert. Die „Istanbul Cooperation Initiative“ (ICI, 2004) mit Staaten am Persischen Golf – Bahrain, Katar, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), nicht aber Saudi Arabien und Oman, was eine echte Regionalpolitik oder Allianzbildung gegen den Iran unmöglich macht. In diesen regionalen Partnerschaftsprogrammen geht es um militärische Zusammenarbeit und gemeinsame Übungen, mit dem 8
Für eine positive Wertung siehe Rachel A. Epstein, Nato Enlargement and the Spread of Democracy: Evidence and Expectations, in: Security Studies, 1/2005, S. 63-105, kritischer: Zdenek Kríz, Markéta Stixová, Does NATO Enlargement Spread Democracy? The Democratic Stabilization of Western Balkan Countries, in: Central European Political Studies Review, Winter 2012, (abgerufen am 1.11.2014); Dan Reiter, Why NATO Enlargement Does Not Spread Democracy, in: International Security, 4/2001, S. 41-67.
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Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner
Ziel, dass die NATO mit den Partnern gemeinsam operieren kann. Konkret rich tet sich die Kooperation auf die Terrorbekämpfung und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Beide Programme haben weniger Projekte als erhofft angestoßen und werden eher bilateral zwischen NATO und den Einzelpartnern organisiert. Die Allianz hat auch noch keine klare eigene Rolle definiert.9 Die „Partner rund um den Globus“ haben an NATO-Missionen teilgenommen und sind zumeist Demokratien, aber zu ihnen gehören auch Afghanistan sowie Pakistan. In den Gründungsdokumenten der Partnerschaften finden sich Festlegungen über den Wertekanon, an denen sich die Partner anschließen. Dies ist mögli cherweise der NATO wichtiger als ihren Partnern. Eine schwierige Aufgabe für die Allianz ist es zurzeit, die Partnerschaften in ein strategisches Gesamtkonzept einzuordnen und sie institutionell fester an die NATOProzeduren anzukop peln. Eine Option wäre es, demokratischen Staaten privilegierten Zugang zu verschaffen.10 Die Interessen der Partnerstaaten, darunter auch autoritäre Regionalmächte, sind aber unterschiedlich. Für die Staaten im arabischen Raum und am Persischen Golf steht die Mitgliedschaft in der Allianz nicht in Aussicht. Diesen Partnern geht es um verteidigungspolitische Unterstützung, in Form von Geld oder Material, wobei vor allem die reichen GolfStaaten eher eine symbolische Aufwertung durch die Kooperation erwarten dürften. Für die globalen Partner, vor allem in Asien, ist die Anbindung an die NATO auch ein Vehikel, um ihre Allianz mit den Amerikanern zu stärken. Insgesamt sind die Gegenleistungen, die die NATO den Partnern gewähren kann, zu moderat, um bei den auto kratischen Regierungen Anreize für demokratische Reformen zu setzen. Die NATO bemüht sich auch nicht um einen Dialog mit der Zivilgesellschaft in ihren nichtdemokratischen Partnerstaaten. Die NATO hat dementsprechend im Arabischen Frühling keinen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen können.11 Die weltweiten Partnernetzwerke der NATO sind auch für diese autokratisch regierten Partner nicht die einzigen oder naheliegenden multilateralen Formate, um ihren Einfluss regional oder gegenüber dem Westen auszubauen. In der SchanghaiOrganisation kooperieren Russland, China und zentralasiatische Staaten, auch um Amerika aus der Region fernzuhalten. In der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit aus ehemaligen Sowjetstaaten bildet 9
Jean-Loup Samaan, NATO in the Gulf: Partnership without a Cause? NATO Defense College (Re search Paper Nr. 92), Rom, Oktober 2012, (abgerufen am 1.11.2014). 10 Karl-Heinz Kamp, Heidi Reisinger, NATO’s Partnerships After 2014: Go West!, NATO Defense College (Research Paper Nr. 92), Rom, Mai 2013, (abgerufen am 1.11.2014). 11 Was die NATO noch nicht leistet, zeigen die Forderungen bei Alexander Corbeil et al., Partners in Democracy, Partners in Security: NATO and the Arab Spring, 20.4.2012, (abgerufen am 1.11.2014).
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Russland das Schwergewicht. Für die arabischen Staaten ist entweder die Arabische Liga oder der GolfKooperationsrat ein geeigneter Rahmen der Regionalpolitik. Die NATO sucht keine wertegeleitete Konkurrenz mit diesen Regionalorganisationen, sondern sucht auch Partnerschaft mit Organisationen, etwa mit der Afrikanischen Union, um sie bei der Krisenreaktion zu unterstützen. Fazit und Perspektive: Kooperation mit Werteorientierung Die NATO hat als Sicherheitsorganisation das vorrangige Ziel, die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleisten, dabei auch den Quellen transnationaler Risiken weltweit zu begegnen und die Stabilität in ihrer Nachbarschaft aufrecht zuerhalten. Die innenpolitische Verfasstheit von Drittstaaten wird nur dann für diese Zielstellung relevant, wenn sie zur Destabilisierung einer Nachbarregion beitragen kann. Selbst dann sind NATOReaktionen eher auf die Eindämmung der entstehenden Gefahren gerichtet. Regimewandel ist als Aufgabe nicht im Portfolio der Allianz. In allen drei strategischen Ansätzen im Umgang mit Autokratien muss die NATO mit Widersprüchen kämpfen: Die NATO schreckt autoritäre Staaten wie Russland durch ihre Verteidigungsfähigkeit vor politischer Einflussnahme oder militärischer Invasion ab, angesichts der hybriden Kriegführung Russlands muss sie glaubwürdig auch auf nichtmilitärische Bedrohungen regieren können. Auf Transformationsprozesse in Partnerstaaten in Europa kann die NATO noch einwirken, doch ohne Aussicht auf Mitgliedschaft fehlt ein wichtiger Anreiz zur Reform. Funktionale oder regionale Partnerschaften der NATO mit Autokratien zie len nicht primär auf eine Veränderung im politischen System der Partner, son dern auf Fähigkeitsausbau und einen höheren Eigenanteil der Regionalmächte an Krisenoperationen. Aber auch wenn Partnerschaftsprogramme der NATO hinter ihren Zielen zurückbleiben, zeigt sich gerade jetzt die Bedeutung von Netzwerken mit Verteidigungseliten in Krisenregionen. Es ist anzunehmen, dass westlichara bische Partnerschaftsbeziehungen beim Aufbau der internationalen Koalition gegen die sunnitisch-extremistische Gruppierung Islamischer Staat geholfen haben, die beim NATOGipfel in Wales präsentiert wurde. Arabische NATO Partner wie Jordanien oder Katar sind Mitglieder in dieser Koalition und helfen mit Logistik und dem Austausch von Geheimdienstinformationen. Vielleicht bietet die aktuelle Weltlage, die Konfrontation mit Russland und die Krisen in der arabischen Welt, eine gute Gelegenheit, am Wertekanon der NATO auch gegenüber autokratisch regierten Staaten festzuhalten. Dazu muss nicht an amerikanische Überlegungen aus der George W. BushAdministration erinnert werden, aus der NATO und ihren Partnern eine globale demokratische Allianz zu schmieden, die eigene völkerrechtliche Legitimität für internationa
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Hauptsache Sicherheit: Die NATO und ihre schwierigen Partner
les Handeln produzieren kann.12 Aktuell gibt es in den USA und Europa wenig Begeisterung für komplexe Krisenoperationen oder eine echte globale NATO. Vielleicht ändern ein Regierungswechsel in den USA oder eine dauerhafte Blockade des UNSicherheitsrats einmal diese Einschätzung. Doch auch ohne eine solche Perspektive ist eine Werteorientierung für die NATO hilfreich. Aus funktionalen Partnerschaften mit autoritären Staaten kann eine Kooperationskultur mit westlichen Demokratien entstehen, die Türen für einen reformorientierten Dialog öffnen kann. Ein prononciert arti kulierter und in der Praxis gelebter Wertekanon der Verbündeten kann hierbei Glaubwürdigkeit schaffen.
12 Ivo H. Daalder, James M. Lindsay, An Alliance of Democracies, in: Washington Post, 23.5.2004, S. B07.
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Die OSZE als Kooperationsplattform Wolfgang Zellner Als inklusive Organisation, die sowohl Demokratien als auch Autokratien mit einschließt, bietet die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beiden Regimeformen eine Plattform, um ihre Interessen zu wahren und miteinander auszuhandeln. In der Ukraine-Krise wurde ihr Wert ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Die OSZE könnte darüber hinaus auch künftig eine wichtige Rolle als Kooperationsplattform zwischen Demokratien und Autokratien im eurasischen Raum spielen, wenn das Verhältnis zwischen Russland und der EU, NATO und den Staaten der G8 weiterhin angespannt bleiben sollte. Funktionsweise der OSZE Mit ihren 57 Teilnehmerstaaten ist die OSZE eine inklusive Organisation, die alle Staaten in ihrem Anwendungsgebiet einschließt. Mit ihren drei Dimensionen – der politisch-militärischen, der wirtschaftlichen und umweltpolitischen sowie der menschlichen Dimension – deckt sie zumindest konzeptionell alle Themenbereiche ab. Auf deklaratorischer Ebene versteht sich die OSZE als eine wertebasierte Organisation, die über einen umfangreichen normativen Acquis verfügt, aufbauend auf den Kernwerten Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Von daher ist die OSZE sowohl in ihrer Selbstperzeption als auch in der Außenwahrnehmung eine demokratische Organisation. Von der Zusammensetzung ihrer Mitgliedstaaten her ist sie hingegen eine hybride Organisation, die demokratische Staaten, Demokratien mit Defekten und alle Schattierungen autokratischer Staaten umfasst. Unter einer Autokratie wird eine Herrschaftsform verstanden, „in der alle wesentlichen Entscheidungsbefugnisse einem einzigen Machtträger (Autokrat) obliegen,
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Die OSZE als Kooperationsplattform
[...] der – eine Einzelperson [...] oder ein Kollektivakteur“1 sein kann. Von den OSZE-Staaten ist wohl ein gutes halbes Dutzend Staaten, alle im postsowjetischen Bereich gelegen, als autokratisch zu klassifizieren. Mit all diesen Staaten gibt es Kooperationen, in den meisten von ihnen unterhält die OSZE Vorortpräsenzen. Aber Qualität und Dichte dieser Kooperationen hängen stark von den jeweiligen Interessenlagen ab. In der OSZE gilt das Konsensprinzip, ein Beschluss ist gefasst, wenn kein Staat dagegen Einwände erhebt. Daraus folgt, dass bereits ein einzelner Staat über eine ganz enorme Verhinderungsmacht verfügt und umgekehrt, dass weitreichende Gestaltungsmacht schwer aufzubringen ist. Dennoch werden in der OSZE regelmäßig Budgets angenommen (wenn auch häufig verspätet), Missionsleiter und Leiter von Institutionen ernannt und gewählt sowie Mandate für sogenannte Feldoperationen verabschiedet oder verlängert. Dass der umfangreiche operative Betrieb der OSZE mit seinen 17 Feldoperationen und insgesamt 2663 Beschäftigten2 halbwegs reibungslos abgewickelt werden kann, ist zum einen die Folge einer Teilautonomie wichtiger funktionaler Institutionen wie des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte oder des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten, zum anderen aber auch das Resultat einer vielfachen Verschränkung von Interessen (auch) zwischen demokratischen und autokratischen Staaten, die generelle Boykotthaltungen zur Ausnahme werden lässt. Interessen demokratischer Staaten an Kooperation mit Autokratien in der OSZE Zunächst sind demokratische Staaten an der universellen Verbreitung grundlegender Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit interessiert. Dies gilt umso mehr für die Tätigkeit in einer Organisation, die sich immer wieder zu diesen Werten bekannt hat. Darüber hinaus gibt es eine Reihe ganz unterschiedlicher Interessen, die Kooperation mit Autokratien, auch in der OSZE, angezeigt erscheinen lassen. An herausgehobener Stelle stehen Beiträge zu strategischer Stabilität und Abrüstung durch autokratische Staaten. So ist Russland sowohl für nukleare wie für konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (letztere unter dem „Dach“ der OSZE), aber auch für militärische Vertrauensbildung (direkte OSZE-Agenda) ein unverzichtbarer Partner. US-Präsident Barack Obama würdigte im April 2010 ausdrücklich die 1
2
Stichwort: Autokratie, in: Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 2004, S. 65. Autoritäre Regime stellen eine Unterkategorie autokratischer Regime dar und zeichnen sich u.a. durch „Nichtabwählbarkeit“ der Führung, „stark eingeschränkten Pluralismus“, schwach ausgebildete demokratische Willensbildung und schwache Kontrollen der Exekutive aus (Stichwort: Autoritäres Regime, in: ebd., S. 67). Zum Jahresende 2013, vgl. Organization for Security and Co-operation in Europe, Annual Report 2013, Wien 2014, S. 99.
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Rolle Kasachstans bei der nuklearen Abrüstung: „Die USA wertschätzen die Führung Präsident Nasarbajews und den Beitrag Kasachstans zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung.“3 Derlei Wertschätzung schlug sich auch in der Bewertung des OSZE-Vorsitzes nieder, den Kasachstan 2010 innehatte. So heißt es in demselben Joint Statement: „President Obama underlined the historic significance of Kazakhstan’s OSCE Chairmanship“, und, für Kasachstan fast noch wichtiger: „The U.S. and Kazakhstan agreed to work on developing a substantive agenda for an OSCE Summit.“4 Damit war für Kasachstan, das von westlichen Staaten gemeinhin als Stabilitätsanker in Zentralasien gesehen wird, die wichtigste Hürde auf dem Weg zu dem nationalen Prestigeprojekt eines OSZE-Gipfeltreffens in Astana genommen, das zu diesem Zeitpunkt noch heftig umstritten war. In der Kirgisistan-Krise 2010 konnte der kasachische Vorsitz zumindest phasenweise zu einer Beruhigung der Lage beitragen.5 Ein anderer Aspekt des Stabilitätsarguments betrifft den Beitrag, den Russland und zentralasiatische Staaten zum militärischen Engagement des Westens in Afghanistan leisteten: So wurde ein großer Teil des Nachschubs der NATO-Streitkräfte über Russland, Kirgisistan und Usbekistan abgewickelt, Kasachstan gewährte Überflugrechte. Aber auch Wirtschaftsinteressen können eine Rolle spielen: Aserbaidschan und Kasachstan haben Öl anzubieten, Turkmenistan Gas, Russland beides. Umgekehrt ist Russland für eine Reihe westlicher Industriestaaten, voran Deutschland, ein wichtiger Markt, auf dem westliche Firmen erhebliche Investitionen getätigt haben. Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass es für westliche Staaten eine Reihe von Gründen gibt, im Wesentlichen strategische und regionale Stabilität, Rüstungskontrolle und Wirtschaftsinteressen, um mit Autokratien zu kooperieren, auch im Rahmen internationaler Organisationen. Interessen autokratischer Staaten an einer Kooperation in der OSZE Legitimität, Prestige und internationale Wertschätzung gehören zu den knappsten und begehrtesten Gütern autokratischer Regime, die sich nicht unbedingt als solche begreifen, sondern über Parteien verfügen, Wahlen abhalten und in Parlamenten Regierungen wählen. Die Mitarbeit in einer demokratischen internationalen Organisation wie der OSZE stellt für diese Regime eine Möglichkeit dar, zumindest auf indirektem Wege und in beschränktem Maße Zugriff auf 3
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The White House, Office of the Press Secretary, Joint Statement on the meeting between President Obama and Kazakhstan President Nazarbayev, 11.4.2010, (abgerufen am 26.7.2014). Ebd. Vgl. Pál Dunay, Kasachstans einzigartiger OSZE-Vorsitz 2010, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg/IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2011, Baden-Baden 2013, S. 55-71.
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Die OSZE als Kooperationsplattform
Legitimitätspotenziale zu erlangen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Rätsel, warum die Regierungen von Staaten wie Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan immer wieder OSZE-Wahlbeobachtungsmissionen einladen, obwohl sie genau wissen, dass in deren Berichten grundlegende Kritik am Charakter ihrer Wahlen geübt werden wird. Die OSZE verfügt bei der Wahlbeobachtung über ein fein abgestuftes Instrumentarium von einer Wahlbeobachtungsmission (election observation mission), einer Wahlbewertungsmission (election assessment mission) bis zu einem Wahlunterstützungsteam (election support team) oder der Verweigerung jeglicher Maßnahme. In der Wahl des Instruments kommt somit bereits eine abgestufte Erwartung hinsichtlich der Qualität der entsprechenden Wahlen zum Ausdruck. So wurden in Kasachstan bei verschiedenen Wahlen 2005, 2007, 2011 und 2012 durchgehend Wahlbeobachtungsmissionen eingesetzt, während Turkmenistan und Usbekistan mit „begrenzten“ Wahlbeobachtungsmissionen und Wahlbewertungsmissionen vorlieb nehmen mussten.6 Für den innenpolitischen Gebrauch lassen sich internationale Wahlbeobachtungsmissionen durchaus zumindest partiell als Unterstützung des jeweiligen Regimes deuten, insbesondere dann, wenn die Medien staatlich gelenkt werden. Die Existenz eines mehr oder minder autokratischen Regimes bedeutet nicht, dass sich die Regierung des entsprechenden Landes nicht auf Feldern jenseits des demokratischen Regierens Respekt und Anerkennung erwerben könnte. Auf den ganz erheblichen Prestigegewinn Kasachstans durch seinen im Wesentlichen erfolgreichen OSZE-Vorsitz 2010 wurde bereits eingegangen. Aber auch für seine integrative Minderheitenpolitik wird Kasachstan häufig gepriesen. In einer Rede vor dem Ständigen Rat der OSZE sagte die Hohe Kommissarin für nationale Minderheiten der OSZE, Astrid Thors, am 10. Juli 2014: „Kasachstans Verpflichtung, Bildung in einer Reihe von Minderheitensprachen anzubieten, ist ein gutes Beispiel, das fortgesetzt werden sollte.“7 Zudem besteht die Möglichkeit, prestigeträchtige Posten zu besetzen: So ist etwa die OSZE-Projektkoordinatorin in der Ukraine eine kasachische und die Leiterin des OSZE-Zentrums in Astana eine ukrainische Diplomatin; die Missionsleiterposten des OSZE-Büros in Eriwan (Armenien) und des OSZEZentrums in Bischkek (Kirgisistan) sowie der Posten des Leiters der Abteilung für Transnationale Bedrohungen im OSZE-Sekretariat sind mit russischen Diplomaten besetzt.
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ODIHR, Elections, Kazakhstan, (abgerufen am 26.7.2014); ODIHR, Elections, Turkmenistan, (abgerufen am 26.7.2014); ODIHR, Elections, Uzbekistan, (abgerufen am 26.7.2014). Statement by Astrid Thors, OSCE High Commissioner on National Minorities, to the 1007th Plenary Meeting of the OSCE Permanent Council, Vienna, Austria, 10 July 2014, (abgerufen am 26.7.2014).
Wolfgang Zellner
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Über Legitimität und Prestige hinaus ist insbesondere für die zentralasiatischen Staaten eine Anbindung an Europa, die auf multilateraler Ebene im Wesentlichen über die EU und die OSZE vermittelt wird, von Interesse, auch um den Einfluss Russlands und Chinas zumindest etwas auszubalancieren. Um ihre Interessen wahrzunehmen, treten Vertreter autokratischer Regime in der OSZE eher zurückhaltend auf, man meldet sich meist nur dann zu Wort, wenn eigene Interessen direkt betroffen sind. Von dieser Grundtendenz gibt es drei signifikante Ausnahmen: Erstens meldet sich Russland regelmäßig zu fast allen Fragen zu Wort und klagt damit seinen Großmachtanspruch ein. Gelegentlich kommt es auch unter Führung Russlands zu gemeinsamen Stellungnahmen postsowjetischer Staaten. Berühmt geworden ist die Stellungnahme der GUS-Staaten zum Reformprozess der OSZE vom 3. Juli 2004, in der diese Staaten die Ausrichtung und Nutzung der Organisation grundsätzlich kritisierten.8 Dispute zwischen westlichen Staaten und Russland führen auch gelegentlich zur Verschiebung der Entscheidung über den OSZEHaushalt weit in das entsprechende Jahr hinein. Zweitens versuchen insbesondere die ressourcenreichen Staaten Aserbaidschan und Kasachstan, die Mandate der OSZE-Feldoperationen in ihren Ländern, also des Projektkoordinators in Baku und des Zentrums in Astana, zu schwächen und ihre Kontrolle über diese Einrichtungen zu erweitern. In Usbekistan und in der Ukraine waren derartige Bestrebungen bereits erfolgreich, dort wurden OSZE-Projektkoordinatoren eingerichtet, die schwächste Form einer OSZE-Feldoperation. Das OSZEBüro in Minsk (Belarus) musste zum 31. März 2011 nach unüberbrückbaren Differenzen mit der Regierung geschlossen werden. Und drittens nutzen Aserbaidschan und Armenien jede Gelegenheit, um auf ihren Konflikt in BergKarabach hinzuweisen, auch durch Junktims mit Fragen, die damit in keinerlei sachlichem Zusammenhang stehen. Die OSZE in der Ukraine-Krise 2014 Die Ukraine-Krise 2014 hat in doppelter Weise mit autokratischen Regimen zu tun. Zum einen war die außenpolitische Zuspitzung eine unmittelbare Folge des Zusammenbruchs des Regimes unter Präsident Janukowitsch. Zum anderen eröffnete dies Russland die Möglichkeit, die Krim zu annektieren und dann über irreguläre und wohl auch reguläre Kräfte in der Ostukraine zu intervenieren. Allgemein formuliert markiert die Ukraine-Krise 2014 eine Situation, in der der Zusammenbruch eines autokratischen Regimes und die mögliche Hinwendung des Landes zur Demokratie die offene und verdeckte Intervention durch einen autokratisch verfassten Nachbarn nach sich zogen. 8
Vgl. President of Russia, Official Web Portal, Statement by CIS Member Countries on the State of Affairs in the OSCE, Moskau, 3.7.2004, (abgerufen am 26.7.2014).
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Die OSZE als Kooperationsplattform
Interessanterweise hat das nicht zur Paralyse der OSZE, sondern im Gegenteil zu einer neuen Prominenz ihrer Rolle im Ukrainekonflikt geführt. Während EU und NATO ihre Kooperation mit Russland einschränkten und die USA und die EU schrittweise schärfere Sanktionen verhängten, wurde die OSZE zum Zentrum der Versuche, den Konflikt mit diplomatischen Mitteln zu lösen oder zumindest einzudämmen. Kern dieser Versuche ist die mit Konsensbeschluss des Ständigen Rates vom 21. März 2014 eingesetzte Sonderbeobachtungsmission, deren mittlerweile etwa 250 internationale Beobachter aus über 40 OSZE-Staaten für Transparenz sorgen und nach örtlichen Dialogansätzen suchen.9 Darüber hinaus sicherte die OSZE die Legitimität der Präsidentenwahlen am 25. Mai 2014 durch eine 1000-köpfige Wahlbeobachtungsmission und einen nationalen Dialog in einem Maße ab, das es Russland schwer machte, das Ergebnis der Wahlen einfach zu negieren. Seit Mai 2014 sucht eine Kontaktgruppe aus Ukraine, Russland und OSZE nach Möglichkeiten für einen Waffenstillstand. Die notwendige Bedingung für dieses weitreichende Maßnahmenpaket bestand in dem energischen Schweizer OSZE-Vorsitz und dessen Unterstützung durch die EU und insbesondere Deutschland, während die USA, ganz anders als in den Balkan-Krisen der 1990er Jahre, dabei nur eine nachgeordnete Rolle spielten. Die hinreichende Bedingung indessen bestand im Willen der westlichen Staaten und Russlands, diese letzte Kooperationsbrücke nicht auch noch abzureißen. Die OSZE konnte diese Rolle spielen, weil sie keine westliche, sondern eine alle Parteien einschließende Organisation ist. Ausblick Ob die OSZE dauerhaft eine Rolle als Kooperationsplattform zwischen Demokratien und Autokratien im eurasischen Raum spielen kann, ist schwer zu beurteilen. Solange Russland informell oder halbinstitutionell mit EU, NATO, G8 und anderen zusammenarbeitete, konnte man die OSZE vernachlässigen. Kommt es nach dem Ende der Ukraine-Krise in Sachen Kooperation zu einer Rückkehr zum Status quo ante, würde sich daran wenig ändern. Bleibt die Kooperation zwischen den großen westlichen Organisationen und Russland hingegen auf Dauer eingeschränkt, würden sich mittelfristig neue Tätigkeitsfelder für die OSZE öffnen vom normativen Bereich über Rüstungskontrolle bis zur Konfliktregulierung. Damit diese politischen Spielräume aber auch tatsächlich genutzt werden, bedarf es politischer Führung. Ebenso wie in der Ukraine-Krise ist hier Deutschland gefragt.
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Zu den OSZE-Aktivitäten in der Ukraine 2014 vgl. OSCE Response to the Crisis in Ukraine, 1.7.2014, (abgerufen am 27.7.2014).
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Das Nukleare Nichtverbreitungsregime und Autokratien Oliver Thränert
Kern des nuklearen Nichtverbreitungsregimes ist der 1970 in Kraft getretene Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV).1 Er basiert auf drei Pfeilern: der Verpflichtung der Nichtkernwaffenstaaten, für immer (seit 1995 ist der NVV unbefristet gültig) auf Atomwaffen zu verzichten; der gegenseitigen Unterstützung bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie; und dem gegenseitigen Versprechen der Vertragsparteien, nukleare Abrüstung sowie ein Abkommen zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung anzustreben.2 Im NVV wird zwischen Kernwaffenstaaten (USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien) einerseits und Nichtkernwaffenstaaten andererseits unterschieden, nicht aber zwischen Autokratien und Demokratien. Ziel ist die Universalität, d.h. der Beitritt möglichst aller Staaten, ungeachtet ihrer internen Verfasstheit. Damit unterscheidet sich das nukleare Nichtverbreitungsregime grundlegend von anderen internationalen Foren wie der EU oder der NATO, die eine bestimmte demokratische Werteorientierung ihrer Mitglieder voraussetzen. Mit heute 190 Mitgliedstaaten hat das NVV-Regime die Universalität tat1
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Zum nuklearen Nichtverbreitungsregime gehören weitere Elemente wie Abkommen über atomwaffenfreie Zonen in der Antarktis; Lateinamerika und der Karibik; Südpazifik; Südostasien; Afrika; und Zentralasien. Hinzu kommt die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) mit Sitz in Wien mit einem eigenen Statut und einer eigenen Mitgliedschaft. Die IAEO war ursprünglich 1957 mit dem Ziel gegründet worden, den Beitrag der Kernenergie zu Frieden, Wohlstand und Gesundheit weltweit zu fördern. Erst ab 1970 übernahm die IAEO die Überwachung der Einhaltung des NVV. Zum nuklearen Nichtverbreitungsregime gehören überdies das 1996 zur Unterzeichnung aufgelegte Umfassende Nukleare Teststoppabkommen (CTBT), das jedoch mangels der nötigen Ratifikation einiger im Vertrag definierter Staaten, die über Atomwaffen verfügen oder eine zivile Nuklearindustrie betreiben, noch nicht in Kraft getreten ist; sowie die Gruppe der nuklearen Lieferländer mit derzeit 48 Mitgliedstaaten, die es sich zum Ziel setzt, nur diejenigen Exporte zu ermöglichen, die zweifelsfrei der friedlichen Nutzung der Kernenergie dienen. Vgl. den Vertragstext: (abgerufen am 18.9.2014).
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Das Nukleare Nichtverbreitungsregime und Autokratien
sächlich nahezu erreicht. Interessanterweise sind die drei Kernwaffenstaaten, die dem NVV fernbleiben, also Indien und Israel, sowie – trotz einer sehr starken Stellung des Militärs im politischen System – auch Pakistan, Demokratien. Hingegen ist Nordkorea, das einzige Land, das bisher den NVV gekündigt und Kernwaffentests durchgeführt hat, eine Autokratie. Konfliktlinien innerhalb des Vertragsregimes verlaufen häufig zwischen Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten, wobei sich in beiden Gruppen sowohl Demokratien als auch Autokratien befinden. Besonders im Zusammenhang mit Fragen der Verifikation tut sich insofern oft ein Graben auf, als Demokratien sich eher für intrusivere Überprüfungsmöglichkeiten aussprechen, während dies Autokratien häufig ablehnen. Allerdings fordern sowohl Russland als auch China verbesserte Verifikationsmaßnahmen von den Nichtkernwaffenstaaten ein, ohne sich ihnen jedoch selbst aufgrund ihres Sonderstatus als Atommächte im gleichen Maße unterwerfen zu müssen. Umgekehrt wehrt sich mit Brasilien ein demokratischer Nichtkernwaffenstaat vehement gegen eingehendere Verifikationsmaßnahmen. Der NVV selbst weist einen nur sehr geringen Organisationsgrad auf. Die Vertragsparteien treffen sich lediglich alle fünf Jahre zu Überprüfungskonferenzen, bei denen die Implementierung des Vertrags diskutiert und Vorschläge für eine künftig bessere Umsetzung erarbeitet werden. Dazwischen finden lediglich jeweils drei sogenannte Vorbereitungstreffen statt. Die Durchführung der Verifikation haben die NVV-Vertragsstaaten an die IAEO ausgegliedert; deren Gouverneursrat kann Fälle von Nichteinhaltung der zwischen NVV-Mitgliedern und der IAEO zu schließenden Sicherheitsvereinbarungen (safeguards) dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weiterleiten, der wiederum auf der Basis der UN-Charta Maßnahmen beschließen kann.3 Interessen von Autokratien am NVV Diejenigen autokratischen NVV-Mitglieder, die dem Abkommen als Atomwaffenbesitzer beigetreten sind, also Russland und China, verfolgen vorrangig das Ziel, ihre Sonderstellung im Vertragsregime abzusichern. Anders als die USA, Frankreich und Großbritannien, die inzwischen ein relativ hohes Maß an Transparenz hinsichtlich ihrer Kernwaffenprogramme an den Tag legen, lehnen Russland, vor allem aber China entsprechende Schritte ab. Besonders Peking ergeht sich in Intransparenz, da es die Verwundbarkeit seiner vergleichsweise kleinen Nuklearstreitmacht fürchtet. Allerdings debattieren alle fünf Kernwaffenstaaten Transparenzfortschritte hinsichtlich ihrer Atomarsenale, wobei China die Federführung bezüglich der Erarbeitung eines Glossars technischer Fachbegriffe innehat. 3
Vgl. als einführendes Werk zum NVV: Joachim Krause, Strukturwandel der Nichtverbreitungspolitik, München 1998.
Oliver Thränert
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Viele autokratische Nichtkernwaffenstaaten – etwa in Afrika – würden ohnehin nicht die technischen, finanziellen und militärisch-bürokratischen Voraussetzungen erfüllen, um ein Atomwaffenprogramm durchzuführen. Jedenfalls meiden sie oft die mit nuklearen Aufrüstungsprozessen verbundenen Kosten und Gefahren, vorausgesetzt, ihre Nachbarn tun es ihnen im Rahmen des NVV gleich. Durch eine entsprechende NVV-Mitgliedschaft und die Einhaltung der dortigen Bestimmungen geraten diese Länder zudem nicht in das Visier westlicher Staaten und vermeiden es, Sanktionen ausgesetzt zu werden. Zugleich können autokratische Nichtkernwaffenstaaten die Bühne der Überprüfungskonferenzen nutzen, um von den Kernwaffenstaaten nukleare Abrüstung einzufordern. Dabei hat sich die Debatte seit einigen Jahren auf den Abschluss einer Kernwaffenkonvention und einen verbindlichen Zeitplan zur Abrüstung konzentriert. Im Falle arabischer Staaten wird die Missbilligung der amerikanischen Politik häufig mit der Forderung verbunden, Washingtons Partner Israel solle dem NVV als Nichtkernwaffenstaat beitreten. Denn arabischen Staaten, die allesamt auf Nuklearwaffen verzichtet haben, ist die Nichtmitgliedschaft der Atommacht Israel im NVV ein Dorn im Auge. Einige autokratische Staaten haben ein Interesse an der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Neben Iran und Nordkorea zählen dazu beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emirate und Vietnam. Ohne eine NVV-Mitgliedschaft wären nukleare Exporteure vermutlich nicht bereit, diesen Ländern kerntechnische Anlagen zu überlassen, da ohne entsprechende Inspektionen der IAEO die Gefahr des unentdeckten militärischen Missbrauchs gegeben wäre. Insofern sind eine NVV-Mitgliedschaft und die Einhaltung der Vertragsbestimmungen für diese Länder die Voraussetzung, friedliche Kernenergieprogramme durchführen zu können. Ferner lehnen einige derjenigen Autokratien, die sich der friedliche Nutzung des Atoms widmen oder zumindest damit liebäugeln, jeglichen Versuche ab, im Zuge von Diskussionen über die Reform des nuklearen Brennstoffkreislaufs den Zugang zu als sensitiv erachteten Technologien wie Urananreicherung und Wiederaufbereitung zu beschränken.4 Schließlich weigern sich viele autokratische Nichtkernwaffenstaaten, ein Zusatzprotokoll zu den Sicherungsabkommen mit der IAEO in Kraft zu setzen. Dabei geht es um umfangreichere Meldepflichten und verbesserte Zugangsmöglichkeiten für die Inspektoren. Autokratischen Vertragsstaaten gehen die mit dem Zusatzprotokoll einhergehenden Eingriffe in nationale Souveränität zu weit. Um entsprechende Forderungen nach Implementierung des im rechtlichen Sinne freiwilligen Zusatzprotokolls abzublocken, verknüpfen sie seine Akzeptanz mit Forderungen nach nuklearer Abrüstung.
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Vgl. Oliver Thränert, Nukleares Pulverfass oder massenvernichtungsfreie Zone?, in: Europäische Sicherheit und Technik Nr. 7/2012, S. 15-17.
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Das Nukleare Nichtverbreitungsregime und Autokratien
Wie nehmen Autokratien ihre Interessen wahr? Wenig überraschend für ein Vertragsregime mit 190 Mitgliedern, versuchen die Vertragsstaaten, ihre Interessen durch Zusammenschluss mit Gleichgesinnten zum Tragen zu bringen. Die Grenzen zwischen Demokratien und Autokratien werden bei solchen Koalitionsbildungen überschritten. Anlässlich von NVV-Überprüfungskonferenzen treten die fünf Kernwaffenstaaten, die gleichzeitig die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind, mit gemeinsamen Erklärungen auf. Sie nehmen sich darin des gesamten Spektrums des Vertragswerks an. Besonderes Augenmerk legt diese Vertragsgruppe jedoch darauf, die vom NVV anvisierte nukleare Abrüstung in den Kontext der erforderlichen Reduktion regionaler Spannungen, der Stärkung kollektiver Sicherheitsarrangements sowie der allgemeinen Abrüstung zu stellen. Ziel ist es, den radikalen Abrüstungsbefürwortern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Überdies werden bestimmte Ziele der Abrüstungsunterstützer wie die Erarbeitung eines konkreten Zeitplans für die nukleare Abrüstung oder die Reduktion der Bedeutung von Kernwaffen für nationale Doktrinen oft gemeinsam abgeblockt. Während Russland in diesen Fragen gewöhnlich im Geleitzug mit den USA, Frankreich und Großbritannien fährt, spielt China hingegen dann und wann eine Sonderrolle. Vor dem Hintergrund seiner eigenen nuklearen Nicht-Ersteinsatz-Doktrin versucht Peking, die Brücke zu nichtwestlichen Nichtkernwaffenstaaten zu schlagen, indem es sich etwa grundsätzlich für eine Konvention zur kompletten Beseitigung aller Atomwaffen ausspricht.5 Der Gruppe der Kernwaffenstaaten gelingt es, radikale Forderungen wie einen Zeitplan für die nukleare Abrüstung zurückzuweisen. Auch autokratischen Nichtkernwaffenstaaten bieten sich verschiedene Möglichkeiten, gemeinsam mit demokratischen NVV-Vertragsstaaten ihre Interessen geltend zu machen. Nach wie vor sind NVV-Überprüfungskonferenzen gemäß der Einteilung in die Gruppe der westeuropäischen und anderen Staaten, die östliche Gruppe, sowie die Nichtpaktgebundenen (Non-Aligned Movement, NAM) organisiert. Die NAM ist mit mehr als hundert Mitgliedern die größte der drei Gruppen. Während die Mehrheit ihrer Mitglieder nicht als Demokratien bezeichnet werden kann, befinden sich in der NAM jedoch auch Demokratien wie beispielsweise Indonesien oder eine Reihe südamerikanischer Länder wie Peru oder Bolivien. Die NAM-Mitglieder nutzen NVV-Überprüfungskonferenzen regelmäßig, um die aus ihrer Sicht mangelhafte nukleare Abrüstung der Kernwaffenstaaten an-zuprangern. Unter dem Einfluss der arabischen Staaten forderen sie 5
Vgl. Statement by the People’s Republic of China, France, the Russian Federation, the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, and the United States of America to the 2010 NonProliferation Treaty Review Conference. Für den Verhandlungsverlauf siehe die Berichterstattung bei: (abgerufen am 18.9.2014).
Oliver Thränert
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ebenfalls nachdrücklich den NVV-Beitritt Israels als Nichtkernwaffenstaat. Schließlich lehnt die NAM jegliche Form der Einschränkung des vollen Zugangs zum nuklearen Brennstoffkreislauf ab und schaffte es bei der NVV-Überprüfungskonferenz 2010, dass die Textpassage zu dieser Thematik im Schlussdokument recht vage blieb. Auch die Übernahme des IAEAZusatzprotokolls als Standard der Verifikation – eine Forderung der EU, weiterer westlicher Staaten und auch Russlands – wurde von der NAM erfolgreich abgewehrt. Zugleich war die NAM beim gleichen Anlass massgeblich an der Erarbeitung eines ausführlichen Aktionsplans zur nuklearen Abrüstung beteiligt.6 Die New Agenda Coalition (NAC) wurde 1998 mit dem Ziel gegründet, die nukleare Abrüstung zu fördern. Mit Brasilien, Irland, Mexiko, Neuseeland, Südafrika und Schweden gehören dieser Gruppierung zwar überwiegend Demokratien an, doch ist ebenfalls Ägypten Mitglied, ein Land, dessen demokratische Zeugnisse weit weniger gut ausfallen. Gerade Ägypten gelingt es jedoch immer wieder, seine Anliegen, insbesondere die Errichtung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten, nicht nur über seine Mitgliedschaft in der NAM, sondern auch über die NAC zum Tragen zu bringen.7 Auf Initiative der Schweiz wurde 2013 die 125 Staaten umfassende Humanitäre Initiative gegründet. Auch hier finden sich Demokratien wie Autokratien zusammen, um die humanitären Konsequenzen des Einsatzes von Kernwaffen zu thematisieren, den Besitz dieser Waffen grundsätzlich in Frage zu stellen und dementsprechend ihre Abrüstung zu fordern.8 Der 2010 von Australien und Japan initiierten Non-Proliferation and Disarmament Initiative (NPDI) gehören zwar mehrheitlich Demokratien an, doch finden sich unter den Mitgliedern ebenfalls die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Nigeria. Die Gruppe setzt sich für die Stärkung des NVV unter besonderer Berücksichtigung der Abrüstung ein.9 Schließlich gilt es zu beachten, dass das bei NVV-Überprüfungskonferenzen geltende Einstimmigkeitsprinzip einzelnen Vertragsstaaten in bestimmten Situationen zu sehr viel Durchsetzungspotenzial verhilft. So gelang es Ägypten, seinerzeit im Vorsitz sowohl der NAM als auch der NAC, am Ende der 6 7 8 9
Vgl. Statement of H.E. Ambassador Maged Abdelaziz, Permanent Representative of Egypt to the United Nations, On behalf of the Group of Non-Aligned States Parties, before Main Committee II, Review Conference of the Parties to the NPT, New York, 10.5.2010. Vgl. Statement of H.E. Ambassador Maged Abdelaziz, Permanent Representative of Egypt to the United Nations, On behalf of the NAM State Parties to the NPT, 28.5.2010, 2010 Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons. Vgl. Second Session of the Preparatory Committee for the 2015 Review Conference of the Parties to the NPT, Joint Statement on the Humanitarian Impact of Nuclear Weapons, Delivered by Ambassador Abdul Samad Minty, Permanent Representative of South Africa to the UN, 24.4.2013. Vgl. Australian Government, Department of Foreign Affairs and Trade, Non-Proliferation and Disarmament Initiative, (abgerufen am 18.9.2014).
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Das Nukleare Nichtverbreitungsregime und Autokratien
Konferenz von 2010 nahezu im Alleingang, gegenüber den USA durchzusetzen, dass Israel im Abschlussdokument namentlich genannt und zu einem Beitritt zum NVV als Nichtkernwaffenstaat aufgefordert wurde.10 Vom Umgang mit autokratischen Regelverletzern Mit Nordkorea sowie Iran haben zwei Autokratien unter dem Vorwand friedlicher Kernenergieprogramme gegen den NVV verstoßen. Die Fälle Nordkorea und Iran sind bei NVV-Zusammenkünften im Hintergrund immer bedeutsam, spielen aber keine direkte Rolle. Vielmehr sind sie entweder ausgegliedert auf die Ebene des UN-Sicherheitsrats oder werden im Rahmen der – seit 2009 ausgesetzten – Sechs-Parteien-Gespräche bzw. der E-3/EU+3-Gespräche behandelt. Hauptakteur bei dem Versuch, Nordkorea auf dem Weg zur Atombombe zu stoppen, waren zunächst die USA, die 1994 mit Pjöngjang ein Rahmenabkommen schlossen, das die Aufgabe des Atomwaffenprogramms an Energielieferungen sowie den Bau von zwei Leichtwasserreaktoren band. Nachdem die Umsetzung dieses Abkommens gescheitert war, wurden Sechs-Parteien-Gespräche (USA, Russland, China, Japan, Süd- und Nordkorea) aufgenommen. Obwohl Pjöngjang politische und wirtschaftliche Anreize in Aussicht gestellt wurden, waren auch diese Versuche erfolglos. Nach Nordkoreas erstem Atomtest 2006 erließ der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen das Land, die nach weiteren Atomtests und Raketenstarts Nordkoreas schrittweise verschärft wurden.11 Auch im Falle des iranischen Atomprogramms bildete sich eine Staatengruppe, zurückgehend auf europäische Initiativen, um mit einer Doppelstrategie aus Anreizen und – auf der Basis von UN-Sicherheitsratsresolutionen – Sanktionen Teheran von der Aufgabe einer Atomwaffenoption zu überzeugen. Diese E-3/EU+3 Gespräche (Frankreich, Großbritannien, Deutschland, USA, China, Russland, unter Gesprächsführung der EU) verliefen lange Zeit wenig aussichtsreich. Im November 2013 gelang dann jedoch eine Zwischenlösung, derzufolge der Iran sein Atomprogramm weitestgehend einfror und im Gegenzug einige Sanktionen gelockert wurden.12 Autokratien sind im nuklearen Nichtverbreitungsregime wichtige Akteure – und zwar sowohl auf der Seite der Kernwaffenstaaten als auch der Nichtkernwaffenstaaten. Oft im Zusammenschluss mit Demokratien gelingt es ihnen, ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Für die Zukunft des NVV ist es jedoch unabdingbar, dass sowohl Autokratien als auch Demokratien an der Stärkung der drei Pfeiler des Vertrags arbeiten. 10 Vgl. Harald Müller, Der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag nach der Überprüfung, Frankfurt/Main: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Report 3/2010, bes. S. 18. 11 Vgl. World Politics Review, Special Report: North Korea, the Forever Crisis, 7.5.2013. 12 Vgl. Oliver Thränert, Neither Small Step Nor Giant Leap, Center for Security Studies, Policy Perspectives Vol. 1/3, Dezember 2013.
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Die Vereinten Nationen: Keine Organisation von Demokratien Johannes Varwick und Manuel Wäschle
Die Vereinten Nationen (UN) bilden mit 193 Mitgliedstaaten die größte internationale Regierungsorganisation und können damit zumindest quantitativ einen universellen Geltungsanspruch für sich reklamieren. Die Zusammensetzung der UN hat sich seit ihrer Gründung 1945 gewandelt. Während autokratische Staatsformen bis in die 1980er Jahre noch den globalen Regelfall darstellten, änderten sich die Mehrheitsverhältnisse spätestens mit der dritten und vierten Demokratisierungswelle der 1970er bzw. 1990er Jahre. Gleichwohl ist das Wort Demokratie nicht in der UN-Charta zu finden. Vielmehr heißt es in Artikel 4 der Charta, dass „alle friedliebenden Staaten“ Mitglied werden können, „welche die Verpflichtungen aus dieser Charta übernehmen und nach dem Urteil der Organisation fähig und willens sind, diese Verpflichtungen zu erfüllen“. Seit Veröffentlichung der „Agenda für Demokratisierung“ des damaligen UNGeneralsekretärs Boutros-Ghali im Jahr 1996 wird zwar viel über das Thema geredet, was die Organisation jedoch zur Demokratisierung ihrer Mitglieder beitragen kann, ist sehr umstritten.1 Grundprinzipien zwischen Anspruch und Realität Zentrale Grundprinzipien der UN sind die souveräne Gleichheit aller ihrer Mitglieder und das grundsätzliche Verbot der Einmischung in Angelegenheiten, die „ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“ (Artikel 2, Absatz 7). Insofern sind die UN eine Staatenorganisation, die mit den Staaten leben müssen und wollen, so wie sie sind. Die Regierungsform der Länder spielt dabei keine Rolle, lediglich gewisse Prinzipien der Charta sollen handlungsleitend sein. Allerdings basieren wesentliche Grundsätze der Charta 1
Vgl. Lothar Brock, Die Vereinten Nationen als „demokratisches Experiment“, in: Vereinte Nationen 1/2012, S. 23-27.
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Die Vereinten Nationen: Keine Organisation von Demokratien
auf Regeln, die in der Praxis internationaler Politik immer aufs Neue relativiert, verändert oder schlichtweg systematisch missachtet werden: Der souveränen Gleichheit aller Staaten steht ein ausgeprägtes Machtgefälle gegenüber, und trotz des Allgemeinen Gewaltverbots nehmen sich Staaten immer wieder das Recht auf unilaterale Gewaltanwendung. Zudem erzwingt die Globalisierung gravierender Problembereiche eine Erosion staatlicher Souveränität. Trotz einer sehr ambivalenten Wahrnehmung und Einschätzung der ihr zustehenden und von ihr wahrgenommenen Rolle bieten die UN den Autokratien ein wichtiges außenpolitisches Forum.2 Es ist zwar übertrieben zu behaupten, „Diktaturen würden die UN lieben“.3 Aber insbesondere im Sicherheitsrat, in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat (bis 2006 Menschenrechtskommission) lassen sich regelmäßig Konfliktlinien und Gruppenbildungen erkennen. Die veränderte Mitglieder- und Aufgabenstruktur der UN haben das multilaterale Vorgehen und die Abstimmung von Demokratien und Autokratien in den UN nicht erleichtert. Im UN-System spielen Staatengruppen eine wichtige Rolle. Es existieren eine Vielzahl an solchen Gruppenformaten, die sich in drei Kategorien einteilen lassen:4 erstens Regionalgruppen, zweitens Staatengruppen mit gemeinsamen Interessen und drittens Verhandlungsgruppen für bestimmte Probleme. Die Regionalgruppen (von denen es derzeit fünf gibt – die Gruppen afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer und karibischer, osteuropäischer sowie westeuropäischer und anderer Staaten) spielen eine zentrale Rolle bei der Verteilung der Sitze in Gremien mit begrenzter Mitgliederzahl, wie dem Sicherheitsrat. Mit ihnen soll eine möglichst ausgewogene Sitzverteilung gewährleistet werden. Unter den Interessengruppen gibt es formelle wie informelle. Dazu zählen die Gruppe der Blockfreien Staaten (NAM) mit 120 Mitgliedern oder die Gruppe der 77 (die inzwischen 130 Staaten umfasst) wie auch diverse Freundes- oder Kontaktgruppen. Der Sicherheitsrat Der Sicherheitsrat bildet das potenziell mächtigste Organ des komplexen UNSystems. Von der UN-Charta mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, obliegt den 15 Mitgliedstaaten die Hauptverantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit (Artikel 24 UN-Charta). Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats mit seinen fünf ständigen und mit einem Vetorecht aus2 3 4
Vgl. Marianne Kneuer, Die Suche nach Legitimität. Außenpolitik als Legitimationsstrategie autokratischer Regime, in: Steffen Kailitz, Patrick Köllner (Hrsg.), Autokratien im Vergleich, Baden-Baden 2013, S. 205-236. Vgl. Jeffrey Herbst, Where Autocrats Don’t Fear to Tread. Why Dictators Love the United Nations. Foreign Policy, July-August 2010. Vgl. Matthias Wolfram, Entscheidungsprozesse im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, BadenBaden 2012, S. 172-208.
Johannes Varwick und Manuel Wäschle
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gestatteten Mitgliedern (USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und die Volksrepublik China) spiegelt die weltpolitische Konstellation bei der Gründung der UN wider. So kam es während des Ost-West-Konflikts zu einer faktischen Lähmung des Sicherheitsrats über mehrere Dekaden, da sowohl die USA als auch die Sowjetunion unliebsame Beschlüsse durch die Ausübung ihres Vetorechts verhinderten. Erst mit der Ost-West-Annäherung und dem Ende der bipolaren Weltordnung zu Beginn der 1990er Jahre konnte die Blockadehaltung im Sicherheitsrat für kurze Zeit überwunden werden. Dieses bis dahin nicht gekannte kooperative Miteinander zeigte sich unter anderem im Abstimmungsverhalten: Im Zeitraum von 1986 bis 1990 stimmten die USA und die Sowjetunion in 93 von 103 Resolutionen gleich ab und verhalfen dem Sicherheitsrat damit zu mehr Handlungsfähigkeit.5 Das entschiedene Vorgehen des Sicherheitsrats im Falle der irakischen Invasion in Kuwait im August 1990, welches schließlich in ein breites militärisches Eingreifen unter Führung der USA mündete, ist dabei das wohl augenscheinlichste Beispiel. Danach zeigte sich aber erneut wieder eine Tendenz zur Blockbildung und es scheint, als sei der Grundkonsens zwischen den Großmächten wieder im Schwinden. Bereits im Kosovo-Krieg 1999 verlor der Sicherheitsrat sein in Kapitel VII der UN-Charta niedergelegtes Gewaltlegitimierungsmonopol, als Russland aus strategischen Überlegungen seine Zustimmung zu einer militärischen Intervention verweigerte und die NATO schließlich ohne UN-Mandat einschritt. Bisher scheiterte der UN-Beitritt der mittlerweile unabhängigen Republik Kosovo denn auch an China und Russland, die dem Kosovo mit Verweis auf das Völkerrecht den Status als souveränen Staat absprechen. Wie heterogen die Interessenlage im Sicherheitsrat ist, wurde in der Syrien-Krise deutlich. Seit Beginn des Bürgerkriegs verhindern Russland und China im Sicherheitsrat regelmäßig scharfe Resolutionen gegen das syrische Regime und erhalten dafür von autokratischen Regimen wie Belarus, Iran oder Nordkorea Zuspruch. Die Generalversammlung Die Generalversammlung der UN bleibt hinter dem Machtpotenzial des Sicherheitsrats zurück, bildet aber ihr organisatorisches Zentrum und kommt dank des Prinzips „one state, one vote“ dem Ideal gleichberechtigter Mitglieder zumindest theoretisch am nächsten. Nach innen gerichtet kann die Generalversammlung Beschlüsse fassen, die auch andere Hauptorgane verpflichten, etwa im Bereich des Haushalts. Nach außen gerichtet fehlt es der Generalversammlung hingegen an harten Instrumenten; ihre Beschlüsse und Resolutionen entfalten keine völkerrechtlich bindende Wirkung wie jene des Sicherheitsrats. Auch wenn der 5
Vgl. Sven Gareis, Johannes Varwick, Die Vereinten Nationen: Aufgaben, Instrumente und Reformen, Opladen 2014, S. 49.
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Die Vereinten Nationen: Keine Organisation von Demokratien
Generalversammlung durch ihre Zusammensetzung vereinzelt die Rolle eines „Weltparlaments“ zugesprochen wird und ihre Beschlüsse oftmals eine größere (öffentliche) Wirkung entfalten, als es de jure zu erwarten wäre, muss eine solche Rolle verneint werden. Vielmehr dient gerade die Generalversammlung unterschiedlichsten Gruppen und Koalitionen als politisches Instrument zur Artikulation ihrer Interessen. So haben die Entwicklungsländer in den 1970er Jahren verstärkt ihre Mehrheit in der Generalversammlung genutzt, um eine neue Weltwirtschaftsordnung zu fordern. Aber auch autokratischen Regimen bietet die Generalversammlung die Möglichkeit, von eigenen Missständen abzulenken und mit vereinten Kräften die Agenda der UN zu beeinflussen. Wie Arye L. Hillman und Niklas Potrafke zeigen konnten, werden regelmäßig Empfehlungen, die Menschenrechtsverletzungen durch Israel in Palästina zum Thema haben, von einer stabilen Koalition von Autokratien in die Generalversammlung eingebracht.6 Hierin dürften weniger moralische Gesichtspunkte seitens Saudi-Arabiens oder Nordkoreas eine Rolle spielen als vielmehr ein strategisches „logrolling and deflective voting against a decoy“7 der Autokratien. Während in Demokratien die Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen zudem einen öffentlichkeitswirksamen moralischen Druck auf das Abstimmungsverhalten aufbauen können, fehlt ein derartiges Drohpotenzial in Autokratien zum Teil vollends. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten auf der Weltbühne und Abstimmungsverhalten in der Generalversammlung können autokratische Herrscher hingegen über gesteuerte Medienberichterstattung zu Hause Legitimation gewinnen, die ihre Herrschaft stabilisiert.8 Der Menschenrechtsrat Neben dem Ziel der kollektiven Sicherheit und der Wahrung des Weltfriedens stellen der Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte das zweite zentrale Handlungsfeld der UN dar. Auch wenn der Menschenrechtsschutz nur punktuell seinen Niederschlag in der UN-Charta finden konnte, verbirgt sich dahinter doch die Überzeugung eines engen Zusammenhangs zwischen beiden Zielen.9 Inhaltlich bleibt der Begriff der Menschenrechte allerdings unscharf und erhält je nach politischer Zielrichtung einen anderen Schwerpunkt (liberale Schutzrechte, Anspruchs- und Teilhaberechte und/oder Solidarrechte). Teil die6
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Vgl. Arye L. Hillman, Niklas Potrafke, Voting in the Absence of Ethical Restraint: Decoys and Dissonance in the United Nations, Presentation at the 4th Annual Conference on the Political Economy of International Organization, Zürich, 27.-29.1.2011, (abgerufen am 28.8.2014). Ebd., S. 34. Vgl. Kneuer, Die Suche nach Legitimität, a.a.O. (Anm. 2), S. 230-232. Vgl. Gareis, Varwick, Die Vereinten Nationen, a.a.O. (Anm. 5), S. 179.
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ser Debatte ist auch die sogenannte „liberal peace agenda“ der UN.10 Darunter werden bestimmte Leitlinien (wie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit usw.) in der Konzeption der UN-Friedenssicherung verstanden, die letztlich freiheitlichdemokratisch und somit zwangsläufig antiautokratisch angelegt sind. Im UN-System sind heute die unterschiedlichsten Organe mit dem Schutz der Menschenrechte befasst; im Zentrum steht dabei allerdings der Menschenrechtsrat, welcher 2006 die bisherige Menschenrechtskommission abgelöst hat. Grund für diesen institutionellen Neuanfang war auch hier der starke politische Zuschnitt des Gremiums, was der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinem Reformbericht „In größerer Freiheit“ kritisierte: „Insbesondere haben sich Staaten mit der Absicht um die Mitgliedschaft in der Kommission beworben, nicht etwa die Menschenrechte zu stärken, sondern sich vor Kritik zu schützen oder an anderen Kritik zu üben.“11 So waren, befördert durch den regionalen Verteilungsschlüssel, häufig auch autokratische Regime in der Menschenrechtskommission vertreten. Mit dem neuen Menschenrechtsrat als „Society of the Committed“12 sollte dieser Umstand verhindert werden, muss aber nach wie vor als vorhanden gelten. Auch wenn das zugrundeliegende Mandat von den Mitgliedern des Menschenrechtsrats selbst „die höchsten Standards in der Verbreitung und Wahrung der Menschenrechte“13 verlangt, bleibt der Rat ein politisches Gremium. Der von der Menschenrechtskommission übernommene Wahlmodus führt regelmäßig zur Besetzung der Sitze durch autokratische Staaten wie etwa China, Kuba, Russland und Saudi-Arabien. Kritisch bleibt auch die von autokratischen Staaten maßgeblich beeinflusste selektive Befassung des Menschenrechtsrats. Während etwa die prekäre Lage im Osten der Demokratischen Republik Kongo nur eine schwache Resolution nach sich zog, wurde das militärische Vorgehen Israels in Palästina vielfach in scharfen Resolutionen verurteilt. Zugleich war Israel und dessen (sicherlich kritikwürdiges) Vorgehen gegenüber Palästina und dem Libanon auf Betreiben autokratischer Staaten Gegenstand in sieben von bisher 22 Sondersitzungen des Menschenrechtsrats. Einen positiven Einfluss auf die Menschenrechtssituation in autokratischen Staaten hingegen könnte das neu geschaffene Instrument des „Universal Periodic Review“ haben, welches alle UN-Mitgliedstaaten turnusmäßig und breit angelegt einer Überprüfung ihrer Menschenrechtspraxis unterzieht. Auch wenn autokratische Regime durch ein abgestimmtes Vorgehen die Behandlung im Menschenrechtsrat verzögern können (so hatte etwa Nordkorea dort die 10 Vgl. Edward Newman, Roland Paris, Oliver Richmond (Hrsg.), New Perspectives on Liberal Peacebuilding, New York 2009. 11 Kofi Annan, In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle (A/59/2005), Ziffer 182. 12 Vgl. Nico Schrijver, The UN Human Rights Council: A New „Society of the Committed“ or Just Old Wine in New Bottles?, in: Leiden Journal of International Law, 20 (Dezember 2007) 4, S. 809-823. 13 Vgl. A/Res/60/251 (2006), Ziffer 9.
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Die Vereinten Nationen: Keine Organisation von Demokratien
Versammlungsfreiheit und Russland übermäßige Polizeigewalt in Deutschland kritisiert), bleibt zumindest die öffentlichkeitswirksame Dokumentation der Menschenrechtslage in den UN-Mitgliedstaaten.14 Bilanz: Keine Organisation von Demokratien Die Rolle von autoritären Staaten ist im UN-System durchaus eine gewichtige, eben so gewichtig, wie die Rolle der autoritären Staaten in der internationalen Politik generell ist. Dies kann durchaus das Ansehen der Vereinten Nationen in wichtigen demokratischen Mitgliedstaaten aushöhlen. Um dagegen zu wirken, wurde vielerorts die Etablierung einer „Gruppe der Demokratien“ (democracy caucus) innerhalb der UN vorgeschlagen. Eine solche Gruppe der Demokratien wäre eine Ergänzung zu den bestehenden regionalen und anderen Gruppen und würde die Zusammenarbeit beim Einbringen von Resolutionen und anderen Initiativen ermöglichen. Sie „könnte auch dabei helfen, das gegenwärtige, die Atmosphäre vergiftende Blockdenken ‚Westen versus Gruppe der 77‘ abzuschwächen“.15 Davon zu unterscheiden sind weitergehende, in der politischen Debatte der USA forcierte Pläne einer „League of Democracies“ als Konkurrenz zu den UN, die vermutlich die internationale Politik entlang ideologischer Frontlinien spalten würde. Grundsätzlich ist es eine wichtige Funktion der Vereinten Nationen, dass dort Staaten mit ganz unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen und Regierungssystemen zusammenkommen und ihre Positionen und Interessen annähern können. Multilateralismus, so der ehemalige UN-Untergeneralsekretär Karl Theodor Paschke, vollziehe sich in der fortwährenden Konsenssuche zwischen allen Beteiligten. „Diese Konsenssuche kann aber nur erfolgreich sein, wenn alle Staaten zu Kompromissen und damit zu Abstrichen an der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen bereit sind. Eine solche Bereitschaft […] ist jedoch heute in der Staatengemeinschaft noch viel zu schwach ausgebildet. Während die meisten Regierungen sich verbal zum Multilateralismus bekennen, ist der nationale Egoismus nach wie vor erster Maßstab ihres Handelns auf internationaler Ebene. Dies gilt übrigens nicht nur für Diktaturen, sondern genauso für viele Demokratien.“16 Das Einbeziehen von Nichtdemokratien in den politischen Entscheidungsprozess mag dabei ein gewisser Schwenk von einem wertebasierten hin zu einem stärker interessenbasierten Multilateralismus sein. Es wäre gleichwohl ein Missverständnis, die UN zuvörderst als Organisation von 14 Vgl. Tanja Brühl, Elvira Rosert, Die Uno und Global Governance, Wiesbaden 2014, S. 225. 15 Thorsten Benner, Vereinte Nationen der Demokratien und Diktaturen?, in: Deutsche Welle Online, 17.5.2007, (abgerufen am 1.9.2014). 16 Karl Theodor Paschke, UN-Reform. Die unendliche Geschichte, in: Vereinte Nationen, 5/2005, S. 170-173, hier S. 170.
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Demokratien zu begreifen. Wenngleich auch die Vereinten Nationen einen Demokratiebedarf haben, wäre es falsch, sie ausschließlich an ihrer demokratischen Legitimation zu messen.17 Denn sowohl Demokratisierung als auch die Wahrung des internationalen Friedens als Hauptaufgaben der UN sind zwei berechtigte normative Ziele, die in Konflikt geraten können. Die Vereinten Nationen sind vielmehr eine universale Organisation mit einer höchst heterogenen Mitgliederstruktur, die auch höchst unterschiedliche Werte, Interessen und Strategien verfolgen. In diesem Sinne können sie durchaus nützliche Beiträge zur Lösung internationaler Probleme in einer breiter werdenden Palette an Themenfeldern leisten.
17 Vgl. Klaus Dingwerth, Michael Blauberger, Christian Schneider, Postnationale Demokratie, Wiesbaden 2012.
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Russland als Testfall für die G8 und G20 Katharina Gnath und Claudia Schmucker Die G7/G8 und die G20 sind informelle internationale Foren, die ihren Mitgliedern eine Plattform für den Austausch auf höchster politischer Ebene bieten. Die Agenda der Gipfeltreffen und der zahlreichen Vorbereitungstreffen werden von den Mitgliedstaaten und der jährlich rotierenden Präsidentschaft bestimmt. Die Communiqués stellen in erster Linie Absichtserklärungen und keine bindenden Entscheidungen dar. Beide Foren haben eine selbstgewählte Mitgliederstruktur und nicht jedes Land hat Zugang zu diesen Klubs. Die G7/G8 als exklusiver wertebasierter Kreis Die G7 wurde 1975 von den damals führenden Industriestaaten1 als Antwort auf die Wirtschaftskrisen der frühen 1970er Jahre gegründet, mit dem erklärten Ziel, die Funktionsfähigkeit der Weltwirtschaft zu erhöhen. Seitdem nahmen neben Wirtschaftsfragen sicherheitspolitische Themen, Menschenrechte, Klimapolitik und Entwicklungspolitik einen immer wichtigeren Teil der Diskussionen ein.2 Mit Ausnahme der Aufnahme Russlands im Jahr 1998 zur erweiterten G8 hat sich der Klub in seiner fast 40-jährigen Geschichte seinen exklusiven Status bewahrt. Zum einen sieht die Mehrheit der Mitglieder die überschaubare Größe und Informalität der Treffen als notwendige Voraussetzung an, um einen direkten und offenen Meinungsaustausch innerhalb der Gruppe herzustellen. Auch von Deutschland wurde immer wieder befürchtet, dass eine Erweiterung der Gruppe die Kapazität der G8 reduzieren würde, flexibel und schnell zu reagieren und Kompromissmöglichkeiten informell auszuloten.3 1 2 3
Ursprünglich die G6 der Staats- und Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Japans; ab 1976 nahm auch Kanada teil, ab 1977 die EG/EU, vertreten durch die Europäische Kommission. Peter Hajnal, The G8 System and the G20: Evolution, Role and Documentation. Aldershot 2007. Siehe z.B. Deutsche Bundesregierung, Wie funktioniert die G8? Presse- und Informationsamt, Berlin, (abgerufen am 17.9.2014).
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Zum anderen rechtfertigt die Gruppe ihre Exklusivität mit ihrer Homogenität: Sie versteht sich als Zusammenschluss liberaler Demokratien mit etablierten marktwirtschaftlichen Systemen, die gemeinsame politische Ziele und Werte verfolgen. In der Abschlusserklärung des ersten Gipfeltreffens von Rambouillet im Jahr 1975 bekannten sich die Gründungsstaaten daher zu ihrer Verantwortung für „die Regierung einer offenen, demokratischen Gesellschaft, die sich zur Freiheit des Einzelnen und zum sozialen Fortschritt bekennt“.4 Die anhaltende Unterstützung eines gemeinsamen Wertekanons wird von den Mitgliedern als wichtig für den Zusammenhalt und die Identität der Gruppe angesehen. Nach der Formierungsphase der Gruppe in den 1970er Jahren dauerte es zwei Jahrzehnte, bis ein weiteres Land in den exklusiven Kreis aufgenommen wurde: Die Aufnahme Russlands resultierte aus strategischen Überlegungen, das Land nach dem Ende des Kalten Krieges in der Übergangsphase in Fragen der Wirtschafts-, Energie- und Sicherheitspolitik einzubinden und die internationale Bedeutung des Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion anzuerkennen. Zunächst wurde Russland als Gast in die politische Arbeit der Gruppe integriert; die offizielle Aufnahme erfolgte 1998. Das Land wurde jedoch kein Vollmitglied in finanzpolitischen und makroökonomischen Fragen, der ehemaligen Kernkompetenz der Gruppe. Die Finanzminister und Notenbanker der G7 tagten weiterhin parallel zu den Gipfeln der Staats- und Regierungschefs der G8. Russlands Aufnahme stellte eine Abweichung vom wertebasierten Mitgliederprinzip der Gruppe dar. Ähnliche Bestrebungen, China oder weiteren Schwellenländern wie Indien oder Brasilien einen offiziellen Platz am Tisch einzuräumen, sind gescheitert und wurden vor allem bei China mit dem Hinweis auf fehlende gemeinsame Werte begründet.5 Die graduelle Öffnung des exklusiven Kreises aus gleichgesinnten Industrienationen seit den 1990er Jahren – zum Beispiel in Form eines „Outreach“ zu anderen Ländern und internationalen Organisationen – beschränkte sich demnach auf Dialog und Ad-hoc-Einladungen. Die Kooperation „auf Armeslänge“ führte nicht zu einer weiteren Aufnahme von Mitgliedern.6 Die gemeinsamen Werte von Demokratie und Marktwirtschaft spielten nicht nur als Voraussetzung für die Mitgliedschaft eine Rolle. Die G7/G8 haben sich auch immer wieder inhaltlich mit dem Thema Demokratieförderung und der Unterstützung von Ländern beim Übergang zur Marktwirtschaft befasst. So 4 5
6
G6, Erklärung von Rambouillet: Treffen der sechs Staats- und Regierungschefs auf Schloss Rambouillet in Frankreich, Bulletin Nr. 134, S. 1329-1330, 21.11.1975, §2, (abgerufen am 11.8.2014). Siehe u.a. Seema Desai, Expanding the G8: Should China join? London: The Foreign Policy Centre, Januar 2006, S. 20-31, (abgerufen am 17.9.2014); John J. Kirton, The G7/8 and China: Toward a Closer Association, in: John J. Kirton, u.a. (Hrsg.), Guiding Global Order: G8 Governance in the Twenty-first Century, Aldershot 2001, S. 189-222. Siehe auch Katharina Gnath, Mehr Einbeziehung: Ja, Erweiterung: Nein. Die G-8 und der Dialog mit den Schwellenländern, in: Internationale Politik 62 (2007) 6, S. 66-69.
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Russland als Testfall für die G8 und G20
wurde in der Deauville-Erklärung vom Mai 2011 das Bekenntnis der Gruppe zu den Werten der Freiheit und Demokratie erneut bekräftigt und betont, dass die G8 die Demokratieentwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika unterstütze.7 Die G20 als Zweckgemeinschaft systemisch wichtiger Wirtschaftsnationen Wie die G7/G8 ist auch die G20 ein informelles Forum. Es wurde 1999 vor dem Hintergrund der Asien-Krise geschaffen und begann seine Arbeit als jährliches Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs von 20 „systemisch wichtigen“ Industrie- und Schwellenländern jenseits des medialen Rampenlichts.8 Mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 und dem Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise rückte die G20 in den Mittelpunkt der internationalen Kooperationsbemühungen. Mit dem „Gipfel zu den Finanzmärkten und der Wirtschaft“ im November 2008 in Washington, DC wurde die Gruppe auf die höchste politische Ebene der Staats- und Regierungschefs gehoben. Die Agenda der G20 ist breit gefächert, der Schwerpunkt liegt jedoch klar auf internationalen wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen wie Finanzmarktregulierung, Reform der internationalen Wirtschaftsinstitutionen, makroökonomische Ungleichgewichte, Steuerpolitik oder Wachstumsstrategien. Im Gegensatz zur G7/G8 begründete die G20 nach außen hin ihre Mitgliederstruktur stets mit dem ökonomischen Gewicht und der regional breit gestreuten Mitgliedschaft der Gruppe – auch wenn der G20-Auswahlprozess keinen eindeutigen und objektiven wirtschaftlichen Kriterien folgte, sondern politisch motiviert von den G8-Staaten vorangetrieben wurde. So machen die Mitgliedstaaten der G20 rund 90 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, 80 Prozent des Welthandels und zwei Drittel der Weltbevölkerung aus.9 Systemrelevanz stand dabei im Vordergrund; Wertefragen spielten keine Rolle für die Mitgliederstruktur. Von Anfang an herrschte deshalb eine deutlich größere Heterogenität an politischen Systemen und Ansichten unter den G207 8
9
G8, Erklärung von Deauville: Erneutes Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie, 26.-27.5.2011, §1 und 2, (abgerufen am 17.9.2014). G20 Finanzminister und Zentralbankgouverneure, Communiqué, Berlin, 15.-16.12.1999, §2, (abgerufen am 13.8.2014). Die G20 bestehen aus Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, der Türkei, den USA sowie der EU. Daneben nehmen Vertreter zahlreicher internationaler Organisationen wie der WTO, ILO, Weltbank, dem IWF und den Vereinten Nationen an den Gipfeltreffen teil. Siehe Jakob Vestergaard, The G20 and Beyond: Towards Effective Global Economic Governance, DIIS Report 2011:04, Kopenhagen: Danish Institute for International Studies (DIIS).
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Mitgliedern als in der G7/G8. Autokratien wie Saudi-Arabien, China und Russland und auch die Türkei waren Gründungsmitglieder der G20. Neben Wirtschaftsthemen spielt aber auch die Außenpolitik zunehmend eine Rolle. Während der mexikanischen Präsidentschaft 2012 wurde zum ersten Mal ein Treffen der Außenminister einberufen. Bedeutsam wurden außenpolitische Themen vor allem während der russischen Präsidentschaft 2013 und der australischen Präsidentschaft 2014, als sich die Krisen in Syrien bzw. in der Ukraine zuspitzten und auf den G20-Gipfeln über mögliche Reaktionen der internationalen Gemeinschaft gesprochen wurde.10 Die G20-Staaten befassten sich dabei jedoch mit einer außenpolitischen Krisensituation und – anders als die G8 – nicht mit dem Problem von Autokratien bzw. dem Wert der Demokratieförderung an sich. Testfall Russland 2014 Russland, das 2014 turnusgemäß die jährlich rotierende G8-Präsidentschaft innehatte, war bereits mit der Planung des Gipfels in Sotschi befasst, als die anderen Mitglieder auf Russlands Annexion der Krim reagierten und ihre Teilnahme an weiteren G8-Aktivitäten absagten und so Russland de facto den Gastgeberstatus entzogen. Die restlichen Staaten verurteilten die russische Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine. Eine gemeinsame Erklärung der G7, die am Rande des Gipfels zur Atomsicherheit am 24. März 2014 in Den Haag abgegeben wurde, begründete die Absage direkt mit dem gemeinsamen Wertekanon: „Unsere Gruppe kam wegen gemeinsamer Überzeugungen und gemeinsamer Verantwortlichkeiten zusammen“, hieß es in der Den Haager Erklärung der Staats- und Regierungschefs. Und weiter: „Die Aktionen Russlands in den letzten Wochen sind damit nicht vereinbar.“11 Die EU wurde damit beauftragt, den G7-Gipfel außerplanmäßig auszurichten, der daraufhin im Juni 2014 in Brüssel stattfand. Solange Russland nicht seinen Kurs ändere, werde das Land nicht wieder in die G8 aufgenommen, so die G7-Mitglieder. Neben dem vorläufigen Ausschluss Russlands aus der G8 beschlossen die einzelnen G7-Mitglieder Sanktionen gegen Russland. Dazu zählen seitens der EU der Abbruch der Gespräche über Visa-Angelegenheiten beziehungsweise über ein EU-Russland-Abkommen, Kontosperrungen und Einreiseverbote von Politikern sowie Export- und Importrestriktionen.12 Im Gegensatz dazu ist Russland weiterhin Mitglied der G20. Australien, das 2014 die G20-Präsidentschaft innehatte, deutete wiederholt an, Russland möglicherweise auch vom Gipfel in Brisbane im November 2014 auszuschließen. Der australische Vorstoß war jedoch nicht durchsetzbar, da sich andere G20-Länder 10 Zum Beispiel G20, Joint Statement on Syria, St. Petersburg, 6.9.2013, (abgerufen am 15.9.2014). 11 G7, Den-Haag-Deklaration, 24.3.2014, §6, (abgerufen am 11.8.2014). 12 Europäische Union, EU Sanctions against Russia over the Ukraine Crisis, (abgerufen am 15.9.2014).
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Russland als Testfall für die G8 und G20
weigerten, den Ausschluss Russlands aus der G20 mitzutragen. Vor allem die BRICS-Staaten, zu denen neben Brasilien, Indien, China und Südafrika auch Russland gehört, warnten vor einem Ausschluss Russlands. So formulierten sie auf ihrem eigenen Gipfel in Den Haag, dass der Ausschluss Russlands aus der G8 nicht automatisch für die G20 gelte: Die „Vormundschaft über die G20 [gehört] allen Mitgliedstaaten gleichermaßen und kein einzelnes Mitgliedsland [kann] einseitig Beschlüsse darüber fassen“.13 Der Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugzeugs über der Ostukraine im Juli 2014, in dem viele Passagiere mit dem Ziel Australien starben, verstärkte die australische Kritik an Russland nochmals und mehrte die Stimmen, die sich für eine Ausladung Russlands vom Brisbane-Gipfel aussprachen.14 Dennoch konnte unter der australischen Präsidentschaft dazu kein Konsens innerhalb der G20Mitglieder gefunden werden. Es gibt für die G20 auch keine eindeutige Grundlage für einen Ausschluss, da die Teilnahme auf dem wirtschaftlichen Gewicht der Mitglieder beruht. Anders als bei der G8 hat Russland auch selbst wiederholt deutlich gemacht, dass es die Mitgliedschaft in der G20 als wichtig erachtet und sich für den Verbleib in der Gruppe eingesetzt.15 Die australische Regierung nahm daraufhin eine abwartende Haltung gegenüber Russlands Teilnahme in Brisbane ein und band Russland auch weiterhin in die Gipfelvorbereitungen und regelmäßig tagenden Arbeitsgruppen ein.16 Australien verhielt sich auf dem G20-Treffen der Staats- und Regierungschefs kühl gegenüber Russland, das jedoch an allen Gipfelprozessen als volles Mitglied beteiligt war. Fazit Die Identität der G8 speist sich hauptsächlich aus den gemeinsamen demokratischen und marktwirtschaftlichen Werten. Die Autorität der G20 hingegen ist vor allem mit der Systemrelevanz ihrer Mitglieder begründet. Dementsprechend unterschiedlich verfahren die beiden Foren auch im Umgang mit Autokratien in ihren eigenen Reihen. Russlands Annexion der Krim 2014 stellte einen Testfall dar: Während die G7-Staaten Russland aus der G8 ausgeschlossen haben, hält die G20 trotz interner Diskussionen an einer russischen Mitgliedschaft fest. 13 Chairperson’s Statement on the BRICS Foreign Ministers Meeting, 24.3.2014, Den Haag, (abgerufen am 11.8.2014). Siehe auch Andrew Rettman, Brazil, China, India Rally Round Putin After G7 Snub, in: EUobserver, 25.3.2014. 14 Siehe vor allem Jamie Smyth, Australia Threatens Russian President Vladimir Putin with G20 Summit Ban, in: Financial Times, 19.7.2014, (abgerufen am 11.8.2014). 15 Sergei Lawrow, No One Can Expel Members from the G8, 26.3.2014, (abgerufen am 17.9.2014). 16 Sky News, PM Abbott Wants Russia to Attend G20 Summit, 31.7.2014, (abgerufen am 11.8.2014).
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Zusammenarbeit auf Abstand: Bretton-WoodsInstitutionen und Autokratien Hubert Knirsch
Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank (IBRD) sind ihren Statuten und ihrem Selbstverständnis nach funktionale, technische Organisationen. Sie haben kein politisches Mandat.1 Die Organisationen können Autokratien nicht anders behandeln als andere Mitgliedstaaten. In der globalen Öffentlichkeit werden die beiden Bretton-WoodsOrganisationen (BWI) dagegen keineswegs als unpolitisch wahrgenommen. Vielen gelten sie als Instrumente, mit denen die westlichen Industriestaaten und insbesondere die USA Einfluss auf Schwellen- und Entwicklungsländer ausüben. Als besonders intrusiv wird der IWF wahrgenommen, der im Gegenzug für seine Kredite finanz- und wirtschaftspolitische Maßnahmen einfordern kann.2 Können die westlichen Staaten die BWI als Instrumente einsetzen, um nichtwestlich orientierte Autokratien unter Druck zu setzen? Können die Institutionen mit Empfehlungen, die auf eine „Liberalisierung“ der Wirtschaftspolitik zielen, die Herrschaft des Staates über die Wirtschaft 1
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Die Articles of Agreement der Weltbank enthalten sogar ein ausdrückliches „Verbot politischer Aktivitäten“. Vgl. Art. IV, Sektion 10: „Die Bank und ihre Funktionsträger werden sich weder in die politischen Angelegenheiten der Mitgliedstaaten einmischen noch sich in ihren Entscheidungen von politischen Eigenschaften des oder der betroffenen Mitgliedstaaten beeinflussen lassen. Sie werden sich ausschließlich von wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten lassen.“ Beim IWF gibt es keine entsprechende Bestimmung; seine Aufgaben sind aber ebenfalls eindeutig auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik begrenzt. Als Beispiel für die IWF-Kritik: Joseph Stiglitz, Gobalization and its Discontents, New York, NY, 2002; Jürgen Hartmann, Internationale Beziehungen, Wiesbaden 2009, S. 184; Randall W. Stone (Controlling Institutions: International Organizations and the Global Economy, Cambridge 2011) sieht den IWF ganz unter dem Einfluss der USA und stützt sich dabei auf Strom C. Thacker (The High Politics of IMF Lending, in: World Politics 52 (1999), S. 38-75, hier S. 58). Diese Position wird hinterfragt von: Ngaire Woods, The Globalizers: The IMF, the World Bank and their Borrowers, Ithaca, NY, 2007, S. 35 ff. Graham Bird (The IMF and the Future, London 2003/2014, Kap IV, S. 44 ff.) kommt in einer gründlichen Erörterung der Frage, ob die Kreditvergabe des IWF von politischen Faktoren beeinflusst wird, zu keinem konklusiven Ergebnis.
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Zusammenarbeit auf Abstand: Bretton-Woods-Institutionen und Autokratien
untergraben – und damit letztlich vielleicht auch die eines Regimes über die Gesellschaft? Wirtschaftliche Freiheit und Autokratie – ein Spannungsverhältnis Die Überlegung hat einen theoretischen Reiz: Autokratien stützen sich auf Schichten, Gruppen und Personen, die sie entweder direkt bezahlen oder mit Bereicherungsmöglichkeiten wirtschaftlich privilegieren – Staatsklassen, Staatsunternehmen, Oligarchen. Gelänge es, eine Autokratie zu einer liberalisierenden Wirtschaftspolitik zu bewegen, dann müsste sich dies demnach in einer Schwächung der politischen Herrschaftsgrundlage auswirken. Empirischquantitativ ist ein solcher Zusammenhang aber bisher nicht bestätigt worden.3 Vor 1989 wurden nahezu alle Schwellen- und Entwicklungsländer autokratisch regiert. Die BWI arbeiteten mit vielen von ihnen zusammen. Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Unterstützung des wirtschaftsliberalen Reformprojekts der Pinochet-Diktatur in Chile. Der Vordenker dieser Reformen, Milton Friedman, war später der Ansicht, dass sie den Übergang zur Demokratie vorbereitet hätten.4 Tatsächlich wurde das Land erst eineinhalb Jahrzehnte nach Beginn der Reformen – und nachdem sie gegen das Votum des IWF wesentlich modifiziert worden waren – zum ökonomischen Wunderkind Lateinamerikas.5 Inwieweit die wirtschaftliche Stabilisierung das Ende der Diktatur erleichterte, muss offen bleiben. Auch die autoritäre Regierung von Park Chung-Hee in Südkorea wurde Ende der 1960er Jahre und erneut Anfang der 1980er vom IWF unterstützt. Die zentrale Rolle, die der Staat in der Entwicklung der Wirtschaft spielte, wurde hier nicht in Frage gestellt. Wie in Chile begann auch hier der Übergang zur Demokratie, nachdem die Wirtschaft sich gefestigt hatte. Die Ursachen einer solchen politischen Entwicklung sind jedoch weitaus zu komplex, um von einer monokausalen Beziehung sprechen zu können. In vielen anderen Ländern waren die BWI wirtschaftlich erfolglos – etwa in Zaire unter Mobutu, wo sie zur Finanzierung eines korrupten Regimes beitrugen und die Autokratie nicht in Demokratie, sondern in eine fragile Staatlichkeit überging. 3
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„[…]Demokratie fördert wirtschaftliche Strukturreformen, aber umgekehrt gilt dies nicht – wirtschaftliche Liberalisierung, die von Autokratien vorgenommen wird, erzeugt keine Bewegung in Richtung Demokratie.“ Paola Giuliano, Prachi Mishra, Antonio Spilimbergo, Free Governments, Good Policies, in: Finance & Development, 48 (März 2011) 1. Milton Friedman, Up for Debate: Reform Without Liberty: Chile’s Ambiguous Legacy, 10.1.2000,
(abgerufen am 7.10.2014). Vgl. Walden Bello, John Kelly, The IMF and Chile – A Parting of Ways?, in: Multinational Monitor, 4 (April 1985) 4; Ricardo Ffrench-Davis, Economic Reforms in Chile: From Dictatorship to Democracy, Ann Arbor, MI, 2010.
Hubert Knirsch
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Der „Washington Consensus“ in der Krise 1990 fasste der Ökonom John Williamson die Empfehlungen zusammen, die die BWI und die USA den lateinamerikanischen Staaten nahelegten: den „Washington Consensus“.6 Dieser Katalog von Maßnahmen zur Liberalisierung von Volkswirtschaften entsprach dem Zeitgeist nach dem Zusammenbruch der ökonomisch hilflosen sozialistischen Diktaturen in Osteuropa. Jetzt entschlossen sich viele Staaten zu Reformen und nahmen Unterstützung und Anleitung durch die BWI in Anspruch, die Privatisierungen, den Abbau von staatlicher Regulierung und den Abbau von Staatsdefiziten empfahlen. Die Asien-Krise 1997 und die Russland-Krise 1998 bilden einen Einschnitt in der Geschichte des IWF. Zwar leistete der Fonds einen entscheidenden Beitrag zur Krisenbewältigung, zog aber mit seinen harten Anpassungsprogrammen starke Kritik auf sich. Russland hatte – trotz oder wegen der Beratung durch die BWI – einen chaotischen Übergang zur Marktwirtschaft, eine übereilte Privatisierung vollzogen. Schon vor der Krise lag das Wohlstandsniveau weit unter dem von Ende der 1980er Jahre. Jetzt musste das Land als Bedingung für Kredite mehrere harte Sparpakete beschließen und konnte eine scharfe Abwertung und eine Einstellung der Zahlungen auf Rubel-Anleihen nicht vermeiden, die zu Lasten der Sparer gingen. Joseph Stiglitz machte diese Vorgänge zum Beweisstück Nr. 1 seines 2002 erschienenen Buches „Globalization and its Discontents“, das zu einem Kristallisationskern der Kritik am „Washington Consensus“ wurde.7 Stiglitz8 kontrastierte Russland mit China, das ohne Anlehnung an die BWI in der gleichen Zeit gut gefahren sei. In Russland selbst werden die Nöte und Wirren der 1990er Jahre allerdings weniger den Washingtoner Institutionen zur Last gelegt als dem innerrussischen Liberalismus der Ära Jelzin. Die Putinsche Autokratie legitimiert sich nicht zuletzt dadurch, dass sie dem Land wieder zu wirtschaftlicher Stabilität verholfen hat – was allerdings nur durch den Anstieg des Ölpreises möglich war. Seit der Asien- und der Russland-Krise greifen Schwellen- und Entwicklungsländer seltener und vorsichtiger auf IWF-Kredite zurück als zuvor. Diese Abstinenz fällt leichter, weil seit der Jahrtausendwende die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt recht gut sind: Die expansive Geldpolitik der USA fördert Finanzströme in die „emerging markets“, auch wenn diese Ströme immer wieder zu- und abnehmen. Das Wachstum der Weltwirtschaft, ebenfalls von der Geldpolitik unterstützt, trägt zu hohen 6 7 8
John Williamson, What Washington Means by Policy Reform, Washington, DC: Peterson Institute for International Economics 1990 (Chapter 2 from Latin American Adjustment: How Much Has Happened?). Stiglitz, Globalization and its Discontents, a.a.O. (Anm. 2) – zu Asien S. 89 ff., zu Russland S. 133. Ebd., S. 6.
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Zusammenarbeit auf Abstand: Bretton-Woods-Institutionen und Autokratien
Rohstoffpreisen bei und schafft Exportchancen. Die Entwicklung Chinas war und ist ein starker globaler Wachstumstreiber. Gerade auch die autokratisch regierten Staaten verzichten gern auf Kredite des IWF. Soweit sie Mittel der Weltbank erhalten, ist damit keine besondere Einflussnahme verbunden – sehr oft verdient die Bank hier Geld, das sie für die ärmsten Staaten einsetzen kann. Von den zehn Autokratien, die in diesem Band näher betrachtet werden, haben China, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) niemals IWF-Kredite erhalten. Nur wenige andere haben nach 2000 neue Programme begonnen: Vietnam schloss die letzte Vereinbarung 2001 ab, Kasachstan 2002 und Belarus 2009. Auch die globale Finanzkrise von 2008/09 änderte das Bild nur stellenweise. Die ölexportierenden Länder unter den Autokratien waren von Anfang an wenig berührt – nicht zuletzt dank der erneut expansiven Geldpolitik der USA und des dadurch weiterhin hohen Ölpreises. Algerien, Nigeria und Iran erlitten nicht einmal einen vorübergehenden Wachstumseinbruch, Saudi-Arabien erholte sich sehr schnell wieder. Nicht-ölexportierende Länder der MENA-Region waren härter betroffen, ebenso Osteuropa. In Ägypten und Tunesien kam es zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums, der mit Sicherheit zu den dortigen Regimewechseln beitrug. Russland, Belarus und die Ukraine erholten sich 2010 rasch von der Krise. Sie wurden dann aber erneut von einer Wachstumsschwäche befallen, zu der nun eine geopolitische Krise hinzutritt. Im Frühjahr 2013 ließ die US-Notenbank erkennen, dass sie die Geldpolitik allmählich straffen werde. Schnell kam es zu einem Abfluss von Finanzinvestitionen aus einigen Schwellenländern. Interessanterweise wurden die Autokratien davon kaum erfasst. Am stärksten betroffen waren Indien, Indonesien, Brasilien und die Türkei – also gerade solche Länder, die zuvor besonders starke Investitionsströme auf sich gezogen hatten. Viele Autokratien sind dagegen entweder für Finanzinvestoren geschlossen (China) oder wenig attraktiv. Sie stützen sich entweder auf Rohstoffexporte oder folgen dem „asiatischen Entwicklungsweg“ mit niedrigen Löhnen und starker Exportorientierung – in beiden Fällen sind ihre Leistungsbilanzen vergleichsweise solide, viele exportieren sogar Kapital. In Tunesien und der Ukraine unterstützt der IWF heute erneut Transformationsstaaten. Belarus und Ägypten dagegen wenden sich lieber an bilaterale Partner. In Belarus hatte der IWF sein Programm von 2008 an marktwirtschaftliche Reformen gekoppelt, die jedoch letztlich ausblieben. Jetzt zieht das Land wieder Unterstützung aus Russland vor. Ägypten hatte unter Mohammed Mursi ein IWF-Programm ausgehandelt. Die Regierung schreckte aber letztlich vor der notwendigen Reform der Benzinsubventionierung zurück. Auch unter Abd al-Fattah as-Sisi blieb Ägypten bei dieser Haltung. Ohne Reformen braucht das Land fortlaufende Unterstützung in Milliardenhöhe durch die Golf-Staaten.
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Oft wird vermutet, Autokratien neigten zu einem verschwenderischen oder korrupten Umgang mit Staatseinnahmen.9 Damit müsste sich ein erhöhtes Risiko von Verschuldungs- oder Finanzkrisen verbinden. Die hier nachskizzierte Erfahrung der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte zeigt jedoch, dass Autokratien durchaus zu einem stabilitätsorientierten Wirtschaftsmanagement in der Lage sein können. In diesen Fällen ist der Einfluss der BWI gering. Niemand zwingt die Staaten zu Strukturreformen, sie können an einer starken Rolle des Staates in der Wirtschaft festhalten. Letztlich bleiben sie aber von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängig. Sehr arme Autokratien und insbesondere fragile Staaten nehmen weiterhin IWF-Kredite in Anspruch. Ihnen gegenüber befinden sich die BWI aber in einem Dilemma. Sie als hoffnungslose Fälle einzustufen kann keine Option sein. Die internationale Gemeinschaft will diese Staaten „über Wassen halten“ – und verlangt ihnen keine übermäßigen Reformanstrengungen ab.10 So wurde in Pakistan die langjährige Forderung des IWF, die Steuerbasis zu verbreitern – also auch Großgrundbesitzer zu besteuern – bisher nicht umgesetzt. Die Unterstützung Pakistans unter Pervez Musharraf nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist als außenpolitische Instrumentalisierung der BWI kritisiert worden.11 Reformstau in den BWI und Gründung der BRICS-Bank Der Politisierungsverdacht kann sich daran nähren, dass die großen westlichen Industriestaaten in den Entscheidungsgremien von IWF und Weltbank eine starke Stellung haben – auch deshalb, weil die Quotenformeln nicht ausschließlich dem Kriterium des Bruttoinlandsprodukts folgen. Und selbst die anstehende formelgemäße Anpassung der IWF-Quoten ist vom US-Kongress bislang nicht ratifiziert worden. Die starke Position der westlichen Industriestaaten im IWF hat eine latente Frontstellung zwischen ihnen und den Schwellen- und Entwicklungsländern entstehen lassen – auch wenn diese in der operativen Politik der Institutionen nicht feststellbar zum Ausdruck kommt, wo praktisch alle Entscheidungen im Konsens getroffen werden. Dieser Frontverlauf ist vorteilhaft für die Autokratien, die keineswegs unter Druck stehen, sondern sich in der großen Gruppe der Schwellen- und Entwicklungsländer gut aufgehoben finden. Der Verdacht, die BWI könnten von den G7-Staaten politisch eingesetzt werden, und das gewachsene wirt9 Rabah Arezki, Markus Brückner, Debt and Democracy in: Finance & Development, 47 (Juni 2010) 2. 10 Hubert Knirsch, Die Ordnungsfunktion internationaler Finanzinstitutionen, in: Josef Braml, Thomas Risse, Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Jahrbuch Internationale Politik, Band 28, München 2010, S. 326-334. 11 Bribing Allies – The IMF and the World Bank Become Part of America’s Anti-terrorist Arsenal, in: The Economist, 27.9.2001.
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schaftliche Gewicht der Schwellenländer haben dazu geführt, dass über alternative, von den klassischen Industriestaaten unabhängige Finanzinstitutionen nachgedacht wird. Russland hat eine Eurasische Entwicklungsbank und einen Eurasischen Fonds geschaffen, der bisher allerdings lediglich in Belarus aktiv wurde. Die großen Autokratien China und Russland haben mit der Gründung der BRICS-Gruppe, die auch die demokratisch verfassten Staaten Brasilien, Indien und Südafrika umfasst, eine potenzielle Gegenposition zu der G7 geschaffen. Bei ihrem Gipfeltreffen im Juli 2014 haben die BRICS-Staaten Entwürfe für Verträge zur Gründung einer eigenen Entwicklungsbank und eines Währungsfonds (Contingent Reserve Arrangement) beschlossen. Nun zeigte sich allerdings, dass es auch in dieser Gruppe nicht möglich war, Quoten proportional zur Größe der Volkswirtschaften zu verteilen. Bei der BRICS-Bank betragen die Einlagequoten aller Mitgliedstaaten jeweils zehn Milliarden Dollar – Südafrika muss also im Verhältnis zur Größe seiner Volkswirtschaft besonders viel einlegen, China nur wenig. Beim Währungsfonds wurden die Anteile über den Daumen gepeilt: 41 Milliarden Dollar für China, fünf Milliarden für Südafrika, je 18 Milliarden für die drei mittleren Mitgliedstaaten. Im Krisenfall soll diesen drei genau die eigene Einzahlung zur Verfügung stehen, China die Hälfte, Südafrika das Eineinhalbfache. Besonders bemerkenswert ist: Für 70 Prozent der Mittel gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass das Land sich zugleich einem IWF-Programm unterzieht. Die Gegenentwürfe der BRICS zu den BWI zeigen somit vor allem, dass auch die großen Schwellenländer sich nicht aus den sachlichen Dilemmata lösen können, die sich bei der Gründung von internationalen Finanzorganisationen stellen.
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WTO: Politischer Wandel durch Welthandel? Stormy-Annika Mildner und Eckart von Unger1 Die Welthandelsorganisation (WTO) ist die Hüterin des Welthandels. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Handelsbarrieren abzubauen sowie für fairen Welthandel einzutreten, um Wirtschaftswachstum und Wohlstand weltweit zu fördern. Der Präambel des WTO-Abkommens zufolge sollen die „Handelsund Wirtschaftsbeziehungen auf die Erhöhung des Lebensstandards, auf die Verwirklichung der Vollbeschäftigung, auf einen ständigen Zuwachs des Realeinkommens und der effektiven Nachfrage auf hohem Niveau sowie auf die Steigerung der Produktion und des Handels mit Waren und Dienstleistungen gerichtet sein“. Zudem betont die Präambel, dass es Bemühungen bedarf, damit sich die Entwicklungsländer einen Anteil am Wachstum des internationalen Handels sichern. Die WTO ist eine Freihandelsorganisation. Demokratisierung ist hingegen kein erklärtes Ziel. Zurzeit hat die WTO 160 Mitglieder. Von den formellen und de facto autokratischen Regimen, die im Mittelpunkt des vorliegenden Jahrbuchs stehen, zählt sie Ägypten (Beitritt: 1995), China (2001), Russland (2012), SaudiArabien (2005), die Vereinigten Arabischen Emirate (1996) und Vietnam (2007) zu ihren Mitgliedern. Beobachterstatus haben Algerien, Belarus, Iran und Kasachstan. Welche Rolle spielen Autokratien in der WTO? Wie tragen sie zu den Verhandlungen in der Doha-Runde bei? Halten sie sich an das Regelwerk der WTO? Welche Alternativen bestehen für diese Länder außerhalb der WTO? Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Beitrittskriterien der WTO und die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden. Schließlich werden die WTO-Mitglieder China und Russland genauer untersucht. Beitrittskriterien und Entscheidungsfindung Jeder Staat und jedes Zollgebiet, das handelspolitisch autonom ist, kann sich der WTO anschließen. Bedingung ist lediglich, dass die bisherigen Mitglieder 1
Die Autoren vertreten in diesem Beitrag ihre persönliche Meinung.
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zustimmen und der Anwärter bereit ist, weitreichende Liberalisierungen vorzunehmen. Wie das Land politisch verfasst ist, spielt für den Beitritt hingegen keine Rolle. Es überrascht daher nicht, dass die WTO viele Autokratien zu ihren Mitgliedern zählt. Ein Beitritt gilt stets für das gesamte WTO-Abkommen und die in dessen Anhang enthaltenen multilateralen Handelsübereinkünfte. Dazu zählen die Abkommen für den Güterhandel (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), für den Dienstleistungshandel (General Agreement on Trade in Services, GATS) sowie über handelsbezogene Direktinvestitionen (Trade Related Investment Measures, TRIMS). Auch gelten die Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (Trade Related Intellectual Property Rights, TRIPS), technische Handelshemmnisse (Technical Barriers to Trade Agreement, TBT) und sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (Sanitary and Phytosanitary Measures, SPS) für alle Mitglieder. Zudem muss sich jedes Beitrittsland dem Überwachungsmechanismus der WTO für handelsrelevante Maßnahmen (Trade Policy Review Mechanism) und dem Streitschlichtungsmechanismus (Dispute Settlement Understanding, DSU) unterwerfen. Es verpflichtet sich ferner zu einer transparenten und vorhersehbaren Handelspolitik. Besteht Konsens unter den Altmitgliedern, dass ein Land die notwendigen Bedingungen für einen WTO-Beitritt erfüllt (oder besteht eine Zweidrittelmehrheit zugunsten des Beitritts), kann das Kandidatenland das Beitrittsprotokoll unterzeichnen. Oftmals muss das Protokoll noch im Land selbst ratifiziert werden. Sobald dies erfolgt ist, ist das Land ein volles WTO-Mitglied – mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten. Jedes WTO-Mitglied hat eine Stimme – unabhängig von seiner wirtschaftlichen Stärke oder auch seiner Regierungsform. Für die Entscheidungsfindung in der WTO gelten zwei Prinzipien: das Konsensprinzip und das Prinzip des Single Undertaking (SU). Konsens bedeutet nicht Einstimmigkeit; erreicht ist er vielmehr dann, wenn sich kein Mitglied explizit und förmlich gegen einen Beschlussvorschlag äußert. Dem SU-Prinzip zufolge gilt in Verhandlungsrunden nichts als vereinbart, solange nicht alle Mitglieder allen Beschlussvorlagen zugestimmt haben. Durch das Konsens- und das SU-Prinzip verfügt jedes WTOMitglied bis zum Ende der Gespräche über Vetomöglichkeiten. Autokratien in der WTO Autokratisch regierte Länder in der WTO sind keine homogene Interessengemeinschaft. Welche Interessen die Länder vertreten, hängt unter anderem von der Größe ihrer Volkswirtschaft, ihrer wirtschaftlichen Verfasstheit, ihrem Entwicklungsgrad und ihrer Integration in die Weltwirtschaft ab. Gemein ist den Ländern, die im Mittelpunkt dieses Jahrbuchs stehen – bis auf Russland –, dass sie den Status von Entwicklungsländern haben. Unter der
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WTO bestimmt jedes Land selbst, ob es Industrie- oder Entwicklungsland ist – eine allgemeingültige Definition gibt es nicht. Saudi-Arabien hat beispielsweise ein höheres durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen als sämtliche osteuropäische EU-Mitglieder und Portugal, zählt sich aber als Entwicklungsland. China ist inzwischen zur größten Handelsnation weltweit aufgestiegen, besteht aber weiterhin auf seinem Status als Entwicklungsland in der WTO. Für Entwicklungsländer gelten zahlreiche Sonderreglungen und Ausnahmen. Unter anderem müssen sie nicht dieselbe Marktöffnung leisten wie Industrieländer. Die Tatsache, dass außer Russland keine weitere Autokratie auf die Sonderrechte und Flexibilität eines Entwicklungslands verzichten möchte, legt nahe, dass sich Autokratien ihren politischen Spielraum durch die WTO möglichst wenig einschränken lassen möchten. Dies spiegelt sich auch in ihrer Ablehnung der sogenannten Handels-Plus-Themen wie öffentliche Auftragsvergabe und Investitionen wider. Einer Erweiterung des WTO-Regelwerks um diese Themen stehen sie kritisch gegenüber. In der Doha-Runde pochen die hier behandelten Länder zusammen mit anderen Entwicklungsländern auf die Bringschuld der Industrieländer und eine deutlich stärkere Öffnung gerade in den für sie wichtigen Sektoren, wozu neben dem Agrar- auch der Textilsektor gehört. Die Gruppe der neuen WTOMitglieder (Recently Acceded Members, RAMs), die China, Georgien, Russland, die Ukraine, Saudi-Arabien und Vietnam umfasst, setzt sich zudem dafür ein, dass den Ländern, die der WTO nach 1995 beigetreten sind, eine geringere Marktöffnung abverlangt wird als Altmitgliedern. Die Doha-Runde zeigt aber auch, wie unterschiedlich die Interessen und das Verhalten autokratischer Länder in der WTO sind. Ägypten und China gehören beispielsweise der WTO-G20 an, einer Gruppe von Entwicklungsund Schwellenländern, die im Vorfeld der fünften WTO-Ministerkonferenz in Cancún 2003 gegründet worden war und eine erhebliche Blockademacht in der Doha-Verhandlungsrunde der WTO entwickelt hat. China gehört neben der G20 auch der G33 an, einer Gruppe von Entwicklungsländern, die Schutzmechanismen für Entwicklungsländer mit einem hohen Anteil kleinbäuerlicher Landwirtschaft fordert. Vietnam hingegen ist Teil der CairnsInteressengruppe agrarexportierender Länder, die sich für mehr Marktöffnung im Agrarhandel einsetzt. Ägypten ist Mitglied der NAMA-11, die sich für Flexibilität beim Marktzugang für Industriegüter stark macht. Von der Doha-Runde lässt sich weder ableiten, dass sich autokratisch regierte Länder grundsätzlich besonders störend in den Verhandlungen verhalten, noch dass sie eine besonders konstruktive Rolle spielen. Trug beispielsweise China 2008 zum Scheitern der Ministerkonferenz bei, spielte es im jüngsten Konflikt um das Bali-Abkommen über Handelserleichterungen (Trade Facilitation Agreement, TFA) im Sommer 2014 eine konstruktive Rolle. Ägypten ist ein aktives Mitglied der G33, übernahm im jüngsten Konflikt jedoch eine konstruktiv moderierende Rolle. Russland hat bisher keine aktive Rolle in den
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Verhandlungen gespielt. Allgemeingültige Aussagen über das Verhalten von Autokratien in der WTO sind kaum möglich. Daher soll im Folgenden das Verhalten von zwei formal beziehungsweise de facto autokratisch regierten Ländern – China und Russland – genauer analysiert werden. China in der WTO: Handelsnation mit wenig Gestaltungswillen Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ist beeindruckend. Während Chinas Anteil am Weltsozialprodukt laut der Weltbank im Jahr 2000 noch 3,7 Prozent betragen hatte, ist dieser bis 2012 auf 11,5 Prozent angewachsen. In der Rangliste der weltweiten Warenexporteure ist China laut WTO von Platz 9 (2000) auf Platz eins (2013) aufgestiegen (inklusive Intra-EU-Trade, exklusive Intra-EU-Trade liegt China auf Platz zwei). 11,7 Prozent der weltweiten Warenexporte entfallen auf das Land. Im verarbeitenden Gewerbe ist Chinas Bedeutung im Welthandel noch ausgeprägter. Bei den weltweiten Industriegüterexporten lag sein Anteil 2013 bei 17,5 Prozent (2000: 4,7 Prozent). Der Großteil seiner Warenexporte (94 Prozent) entfällt auf das verarbeitende Gewerbe. Exporte von Agrarprodukten und Rohstoffen machen lediglich jeweils rund 3 Prozent aus.2 Das Land ist seit 2001 Mitglied der WTO. Die Beitrittsverhandlungen dauerten 15 Jahre (1986-2001); die Bedingungen für seine Mitgliedschaft füllen über hundert Seiten. Mit dem Beitritt in die Welthandelsorganisation hat sich China stark geöffnet. China verpflichtete sich, seine Zölle zu senken, Importquoten und -lizenzen nahezu komplett abzuschaffen, seine Dienstleistungsmärkte für ausländische Anbieter zu öffnen sowie Agrarsubventionen abzubauen und Exportsubventionen generell abzuschaffen. Zudem enthält das Protokoll eine Reihe rechtsstaatlicher Verpflichtungen wie Transparenz in der Gesetzgebung und die Möglichkeit richterlicher Überprüfung. China hat seine Märkte stärker geöffnet als die meisten anderen Schwellenund Entwicklungsländer in der WTO. Der durchschnittlich angewandte Zollsatz auf Industriewaren und Rohstoffe (ausgenommen Agrargüter) liegt mittlerweile bei 9 Prozent. Bei rund 7 Prozent der Zolllinien für Industriewaren und Rohstoffe beträgt der Zoll null. Der Agrarhandel ist weniger stark geöffnet; hier liegen die Zölle im Durchschnitt etwas über 15 Prozent.3 Mit dem WTO-Beitritt hat sich China dem gesamten multilateralen Regelwerk, dem Überprüfungsmechanismus und dem Streitschlichtungsmechanismus der Handelsorganisation unterworfen. Darüber hinaus ist es Mitglied des Abkommens über Informationstechnologiegüter (ITA). Allerdings hat 2 3
WTO, Trade Profile China, 2014, (abgerufen am 20.11.2014). WTO, Tariff Profile China, 2014, (abgerufen am 20.11.2014).
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China noch nicht alle Verpflichtungen vollständig umgesetzt, die es mit dem Beitrittsprotokoll eingegangen ist. Gerade auf Ebene der Provinzen und Kommunen bestehen erhebliche Defizite. Verstöße gegen allgemeine WTO-Prinzipien wie Nichtdiskriminierung und Transparenz sind an der Tagesordnung. Die Europäische Kommission zählt in China im Zeitraum 1. Juni 2013 bis 30. Juni 2014 mit 23 neuen potenziell handelshemmenden Maßnahmen so viele wie sonst nur in Russland (32).4 Dem plurilateralen WTOAbkommen über Öffentliche Auftragsvergabe ist das Land bisher nicht beigetreten, obwohl dies laut Beitrittsprotokoll vorgesehen ist.5 Ungeachtet seiner zentralen Rolle im Welthandel hat China in der WTO bisher wenig Führungswillen gezeigt. Das Land hat ausgeprägte Exportinteressen im Industriegütersektor und unterscheidet sich damit deutlich von Indien und Brasilien sowie vielen anderen Ländern der WTO-G20. Dennoch ist China bisher nicht aus der Koalition der Entwicklungsländer ausgebrochen. Peking positionierte sich immer wieder als Interessenvertreter der Entwicklungsländer. Das Land unterstützte beispielsweise die indische Position bei der Ministerkonferenz 2008 und trug so zu ihrem Scheitern bei. China, dessen Exporte die Märkte vieler anderer Entwicklungsländer unter Druck setzen, schreckt vor einer aktiveren Position in den Verhandlungen zurück, fürchtet es doch den offenen Konflikt mit anderen Ländern der WTO-G20.6 Ob Chinas konstruktive Haltung im jüngsten Konflikt um das Bali-Abkommen über Handelserleichterung im Sommer 2014 eine Trendwende darstellt, bleibt abzuwarten. Während China in den ersten fünf Jahren nach seinem WTO-Beitritt den Streitschlichtungsmechanismus nur zurückhaltend nutzte, ist das Land mittlerweile ein aktiver Nutzer geworden. Seit 2001 hat die chinesische Regierung zwölf Mal vor der WTO geklagt: neun Mal gegen die USA, drei Mal gegen die EU. Die meisten dieser Klagen richten sich gegen Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen der EU und der USA. China klagte beispielsweise gegen US-Schutzzölle auf chinesische Autoreifen. Die USA hatten diese verhängt, da importierte Reifen aus China laut der US International Trade Commission einen ernsthaften Schaden für die heimische Industrie verursachten. China verlor den Fall. Ein weiteres Beispiel ist die Klage Chinas gegen EU-Antidumpingzölle auf chinesisches Schuhwerk. Der Panelentscheid fiel zugunsten Chinas aus. Gegen China richteten sich bis November 2014 32 Klagen. Die häufigsten Kläger waren die USA, die EU, Kanada und Japan. Die Handelspartner Chinas beklagen immer wieder Dumping chinesischer Produkte, die Subventionierung chinesischer Produzenten und Exportrestriktionen. So klagten beispielsweise 4 5 6
Vgl. European Commission, Directorate-General for Trade, 11th Report on Potentially Trade-restrictive Measures, 18.11.2014. WTO, Trade Policy Review Body, Trade Policy Review, China, WT/TPR/G/300, Genf 2014. Hanns-Günther Hilpert, Chinas Handelspolitik. Dominanz ohne Führungswillen, SWP-Studie Nr. S22, Berlin 2013.
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die EU, die USA und Japan erfolgreich gegen chinesische Exportrestriktionen auf Seltene Erden, Wolfram und Molybdän. Die WTO beschied, dass die Restriktionen nicht im Einklang mit Chinas Beitrittsprotokoll stehen.7 China hat Interesse an einem gut funktionierenden Streitschlichtungsmechanismus, auch als Schutz vor protektionistischen Praktiken seiner Handelspartner. Das Land setzt daher die WTO-Panelentscheide größtenteils vertragskonform um. Die WTO ist allerdings nicht der einzige Referenzpunkt für China in der Handelspolitik. Das Land hat 13 Freihandels- und wirtschaftliche Partnerschaftsabkommen geschlossen, die meisten davon mit Ländern in Asien. Diese Abkommen sind nicht allein wirtschaftlich, sondern auch politisch motiviert. China will mit ihnen seine Vormachtstellung in Asien stärken. Zudem reagiert das Land damit auf die Bestrebungen der USA und der EU, Handelsabkommen mit asiatischen Ländern abzuschließen (zum Beispiel die Transpazifische Partnerschaft, TPP). Anders als die Freihandelsabkommen (FTAs ) der EU und USA konzentrieren sich Chinas FTAs zumeist nur auf die klassischen Handelsthemen – und dies oftmals auch mit vielen Ausnahmen. WTO-Plus-Themen wie Öffentliche Auftragsvergabe, Investitionen oder auch Regulierungsfragen werden von den Freihandelsabkommen nicht abgedeckt. Chinas WTO-Beitritt hat nicht, wie viele befürchteten, zu einer Unterminierung der WTO geführt. Ganz im Gegenteil hat der WTO-Beitritt einen zentralen Beitrag zur Entpolitisierung der Handelsbeziehungen mit China geleistet. Ein wirklich verlässlicher Verhandlungspartner, der Verantwortung und Führung in der WTO übernimmt und aktiv das Welthandelssystem mitgestalten will, ist das Land allerdings noch nicht. Die Handelspolitik Chinas bleibt widersprüchlich und oftmals intransparent und unberechenbar. Russland in der WTO: Handelspolitik und Machtpolitik Nach 18-jährigen Verhandlungen nahmen die WTO-Mitglieder auf der WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2011 das mit Russland ausgehandelte Beitrittspaket an. 2012 wurde Russland vollwertiges Mitglied der WTO. Mit dem Beitritt in die WTO öffnet Russland allmählich seine Märkte für Waren und Dienstleistungen aus dem Ausland. Dazu gehört, dass das Land Zölle auf Warenimporte senkt und diese bei der WTO festschreibt. Einmal gesenkte Zölle dürfen laut Regelwerk der WTO nur in vertraglich geregelten Ausnahmefällen wieder angehoben werden. Bei den Industriegütern soll der durchschnittliche gebundene Zollsatz Russlands von 9,5 auf 7,3 Prozent sinken, bei Agrarprodukten von 13,2 auf 10,8 Prozent. Die Übergangsfristen
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WTO, Dispute Settlement, (abgerufen am 20.11.2014).
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für die Marktöffnung betragen für die meisten Waren zwei bis drei Jahre.8 Die Einfuhrzölle auf Hightech-Produkte sollen beispielsweise ab 2015 auf null gesetzt werden. Für sensible Produkte sind die Übergangsfristen jedoch deutlich länger. Einfuhrzölle auf Chemikalien sollen bis 2018 von durchschnittlich 6,5 Prozent auf 5,2 Prozent sinken. Besonders lange Übergangszeiten gelten bei Fleischprodukten: Lag der Einfuhrzoll bei Schweinefleisch zum Zeitpunkt des WTO-Beitritts bei 65 Prozent, soll dieser bis zum Jahr 2020 auf 25 Prozent sinken.9 Russland verpflichtete sich darüber hinaus, mehr Transparenz zu schaffen, unter anderem in der Zollabwicklung, bei der Privatisierung staatlicher Unternehmen, der staatlichen Preiskontrolle sowie den Bestimmungen bezüglich des einheitlichen Wirtschaftsraums mit Belarus und Kasachstan. Russland ist weit weniger in den Welthandel integriert als China. Im weltweiten Warenhandel lag das Land 2013 bei den Exporten auf Rang zehn, bei den Importen auf Platz 16 (einschließlich Intra-EU-Trade). Russlands Exporte sind zudem weniger diversifiziert. Über 70 Prozent seiner Warenexporte sind Brennstoffe und Bergbauprodukte. Auf das verarbeitende Gewerbe entfallen rund 19 Prozent, auf den Agrarsektor weniger als 6 Prozent. Auch die Struktur der Handelspartner ist weniger diversifiziert: Knapp 46 Prozent der russischen Warenexporte gehen in die EU, knapp 43 Prozent kommen aus der EU. Im Durchschnitt liegen die angewandten Zölle auf Industriegüter, Brennstoffe und Bergbauprodukte heute bei gut 9 Prozent. Der durchschnittliche angewandte Zollsatz auf Agrarprodukte liegt bei rund 12 Prozent.10 Anders als China nutzte die russische Regierung von Anfang an den Streitschlichtungsmechanismus der WTO. Russland hat bislang (Stand November 2014) zwei Mal vor der WTO geklagt. Beide Klagen richteten sich gegen die EU. Russland klagte beispielsweise gegen die EU-Methode zur Bestimmung von Antidumpingmargen bei Antidumpingfällen. Ein Panelentscheid steht noch aus. Gegen Russland richteten sich fünf Klagen: vier von der EU und eine von Japan. Die EU klagte beispielsweise gegen die russische Recycling-Gebühr für Autos. Seit dem Russland-Ukraine-Konflikt sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen stark belastet. Anfang August verhängten die USA und die EU scharfe Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Russland reagierte auf die Sanktionen mit einem Importverbot für Agrar- und Lebensmittelgüter.11 Für Russland ist Handelspolitik auch Machtpolitik. 8 9
GTAI, Russlands WTO-Beitritt – Fahrplan zu mehr Freihandel?, 19.3.2013. Tanja Galander, Stanislav Rogojine, Beitritt zur WTO: Russland öffnet seine Märkte allmählich, PWC 2012. 10 WTO, Tariff Profile Russia, 2014, (abgerufen am 20.11.2014); WTO, Trade Profile Russia, (abgerufen am 20.11.2014). 11 Verena Kantel, Christiane Schuchert, Handelssanktionen gegen Russland, in: BDI-AußenwirtschaftsReport Nr. 3/2014.
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Russland fällt es deutlich schwerer als China, sich dem Regelwerk der WTO zu unterwerfen. So kündigte die russische Regierung an, dass sie den innerhalb der WTO-Regeln bestehenden Spielraum zum Schutz der heimischen Unternehmen voll ausschöpfen werde, sollten russische Unternehmen unter Druck geraten.12 China war bereits fast zweieinhalb Jahre Mitglied der WTO, bis ein anderes Mitglied erstmals wegen möglicher Regelverstöße Konsultationen mit China im Rahmen des DSU beantragte. Bei Russland bestanden hingegen von Beginn an Sorgen, dass sich das Land nicht an seine WTO-Verpflichtungen hält. Die oben genannte Recycling-Gebühr für Importfahrzeuge führte Russland keine zwei Wochen nach seinem WTO-Beitritt ein. Hinzu kamen bald weitere – aus Sicht der Europäischen Union – klare Brüche von WTO-Recht, beispielsweise Importverbote für lebende Tiere aus der EU, Zollerhöhungen für hunderte Produkte, Antidumpingzölle auf Fahrzeuge aus Deutschland und Italien und Erschwernisse für den Export von Holz. Dies führte dazu, dass der damalige EU-Handelskommissar Karel De Gucht Russland bereits wenige Monate nach dem Beitritt öffentlich mit der Einleitung von WTO-Verfahren drohte. Außerdem machte De Gucht klar, dass Russland weit davon entfernt sei, die WTO-Mitgliedschaft als Instrument für eine breitere binnenwirtschaftliche und innenpolitische Reformagenda zu nutzen.13 Auch Russland setzt nicht allein auf die WTO. Das Land hat 16 präferenzielle Handelsabkommen bei der WTO notifiziert, 14 davon sind Freihandelsabkommen (FTAs), zwei Zollunionen – die Partnerländer stammen alle aus der Region. Moskau hat seit Auflösung der Sowjetunion darauf gesetzt, die neuen und alten Nachbarn mit Wirtschaftsabkommen an sich zu binden und so seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss zu sichern. Seit 1997 unterhält Russland beispielsweise eine Zollunion mit Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan (Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft). 2004 trat ein Freihandelsabkommen zwischen Russland, Belarus, der Ukraine und Kasachstan in Kraft. Russlands bi- und plurilaterale Handelsabkommen beschränken sich zum Großteil auf die Liberalisierung des Warenhandels. Die ersten Verhandlungen über FTAs mit Ländern außerhalb der unmittelbaren früheren Einflusszone führt Russland mit Neuseeland und Vietnam.14 Fazit: Keine Demokratisierung von Autokratien Die Europäische Union sieht in der WTO ein wichtiges Instrument, um den Dialog mit strategisch bedeutenden Autokratien wie China und Russland zu in12 GTAI, Russlands WTO-Beitritt, a.a.O. (Anm. 7). 13 Karel De Gucht, European Commissioner for Trade, After WTO Accession: Reform and EU-Russia Trade Relations, Seminar of the Alliance of Liberals and Democrats for Europe, Brüssel, 5.12.2012. 14 WTO, RTA Data Base, Russia, (abgerufen am 20.11.2014).
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tensivieren und sie stärker in die internationale Gemeinschaft einzubinden.15 Sie hofft, dass die WTO-Mitgliedschaft von einer über die Handelsagenda hinausgehenden Reformagenda und einen „Wandel durch Handel“ begleitet wird.16 Gelingt dies? Mit dem Beitritt zur WTO unterwerfen sich autokratisch regierte Staaten dem internationalen Handelsrecht. Indem sie sich an die per DSU einklagbaren WTO-Abkommen und Transparenzmechanismen binden, schränken sie ihren Handlungsspielraum in der Handelspolitik ein. Sie verpflichten sich zu einer transparenten und verlässlichen Handelspolitik. WTO-Mitglieder müssen nicht nur Regelungen und Bestimmungen veröffentlichen. Die WTO-Texte sehen auch vielfach vor, dass sie dem Sekretariat der WTO Veränderungen mitteilen. Die Mitglieder binden ihre Zölle bei der WTO, sind verpflichtet, Zugeständnisse, die sie einem Mitglied einräumen, auch den anderen WTOMitgliedern zu gewähren (Meistbegünstigung), und dürfen nicht zwischen inländischen und ausländischen Waren diskriminieren (Inländerbehandlung). Die WTO hat zwei Instrumente, um dies sicherzustellen: die Überwachung ihrer Mitglieder im Rahmen des Trade Policy Review Mechanism und den Streitschlichtungsmechanismus. Die Beitrittsprotokolle können, wie auch im Falle Chinas und Russlands, noch über das Regelwerk der WTO hinausgehen und den Beitrittskandidaten umfassende Reformen abverlangen. Ein Blick auf die in diesem Sammelband behandelten Länder zeigt jedoch auch, wie begrenzt die Möglichkeiten der WTO sind, einen breiten politischen Wandel zu befördern. Die WTO befasst sich lediglich mit einem Politikfeld – der Handelspolitik. Sie kann von ihren Mitgliedern nicht verlangen, dass Entscheidungsprozesse demokratisch legitimiert sind. Ihre Aufgabe ist nicht, Demokratisierung zu fördern. Dies würde die Handelsorganisation auch maßlos überfordern.
15 Vgl. z.B. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Die Chinastrategie der EU: Umsetzung der Grundsätze von 1998 und weitere Schritte zur Vertiefung des politischen Konzepts der EU, KOM (2001) 265, 15.5.2001. 16 Werner Schultz, WTO-Beitritt Russland: Wandel durch Handel, Pressemitteilung, 11.11.2011, (abgerufen am 20.11.2014).
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ASEAN, APEC und China Sebastian Bersick Zu den autokratisch verfassten politischen Systemen Ostasiens werden im Allgemeinen, und jeweils in unterschiedlicher Ausprägung, die Volksrepublik China (VR China), Kambodscha, Malaysia, Myanmar, Nordkorea, Singapur, Laos sowie Vietnam gezählt.1 Die wohl wichtigste Autokratie Ostasiens ist die VR China, die aufgrund ihrer Wirtschaftsleistung und als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in wachsendem Maße wirtschaftliche und politische Macht auf sich vereint. Mit Chinas wirtschaftlicher Macht nimmt jedoch auch die Verletzbarkeit der Nachbarökonomien zu, etwa der Mitgliedsstaaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN), mit der China seit 2010 ein Freihandelsabkommen besitzt.2 Trotz des engen wirtschaftlichen Austauschs in Ostasien besteht zwischen den Staaten kein Einvernehmen über die normativ-institutionelle Verfasstheit regionaler Ordnungskonzepte. Abhängig vom jeweiligen Politikfeld lassen sich jedoch Unterschiede hinsichtlich der Bereitschaft der beteiligten Akteure zur Selbstbindung ihres nationalen Handlungsspielraums erkennen. Insbesondere das seit dem Ende der 1990er Jahre zu beobachtende wachsende Interesse der VR China an einer Teilnahme an regionalen multilateralen Dialogund Kooperationsforen sowie an wirtschaftlicher Integration in Form von bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen erscheint hierbei erklärungsbedürftig. Zwar erwartet man von Demokratien, dass diese regionalen Integrationsabkommen beitreten, nicht jedoch von Autokratien, dass diese
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Vgl. Bertelsmann Transformationsindex BTI 2014, Ergebnisse, (abgerufen am 30.10.2014). Das konstitutionelle Sultanat Brunei wird nicht vom BTI erfasst. Vgl. Bonnie S. Glaser, China’s Coercive Economic Diplomacy: A New and Worrying Trend, Center for Strategic & International Studies, Kommentar, Washington, DC, 6.8.2012, (abgerufen am 15.9.2014).
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ihren außenpolitischen bzw. außenwirtschaftspolitischen Handlungsspielraum freiwillig beschränken.3 Selbstbindung nationaler Politik: Das Beispiel Handelspolitik Im Bereich der Handelspolitik zeigt sich in Ostasien ein neuer Trend der zunehmenden Bereitschaft zur Selbstbeschränkung jeweiliger nationaler Handlungsspielräume durch die Teilnahme an regionalen multilateralen Foren. Den ASEAN-Staaten und der von der ASEAN propagierten Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), der Asia Pacific Economic Cooperation (APEC) sowie der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) kommen hierbei aktuell große Bedeutung zu, da den Foren unterschiedliche strategische Konzepte hinsichtlich der regionalen Wirtschaftsintegration in Ostasien zugrunde liegen. Im Kern geht es um die seitens der VR China und der USA jeweils angestrebte bzw. deklarierte politische Führungsfunktion in Ostasien und die Frage, ob sich ein China-zentriertes oder ein USA-zentriertes Modell der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Integration in Ostasien durchsetzt. Das von China propagierte Modell ist das der RCEP, welches die existierenden Freihandelsabkommen der ASEAN zum Ausgangspunkt hat. Die USA hingegen verfolgen die Formierung der TPP. In Asien-Pazifik besitzt die 1967 gegründete ASEAN eine Vorreiterrolle im Bereich der regionalen und funktionalen Zusammenarbeit, die unter anderem zur Gründung mehrerer wichtiger multilateraler Foren und Prozesse führte, wie das ASEAN Regional Forum (ARF, 1994), den ASEAN+3 Prozess (1997) oder den Ostasien-Gipfel (East Asia Summit, 2005). Die zehn südostasiatischen ASEAN-Mitgliedstaaten verfolgen das Ziel der Gemeinschaftsbildung und besitzen eine umfassende Agenda der intraregionalen Zusammenarbeit. In Südostasien ist regionale Zusammenarbeit weitaus fortgeschrittener als in Nordostasien. Dies belegt die zunehmende Institutionalisierung regionaler Kooperation innerhalb der ASEAN. Im Rahmen der ASEAN Economic Community soll bis Ende 2015 ein Gemeinsamer Markt geschaffen werden. Damit reagierten die ASEAN-Staaten Anfang der 2000er Jahre auf intraregionale und extraregionale Faktoren, insbesondere die Herausforderungen durch die Globalisierung, die nur langsame Erholung von der asiatischen Finanzkrise und den wirtschaftlichen Aufstieg der VR China und Indiens.4 Die von der ASEAN initiierten Kooperations- und Integrationsprozesse erfüllen wirtschaftliche und sicherheitspolitische Funktionen. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Dimension kommt hierbei aktuell der Regional Comprehensive 3 4
Vgl. Edward D. Mansfield, Helen V. Milner, Jon C. Pevehouse, Democracy, Veto Players and the Depth of Regional Integration, in: The World Economy, 2008, S. 67-96, hier S. 73. Vgl. Siow Yue Chia, The ASEAN Economic Community: Progress, Challenges, and Prospects, Asian Development Bank Institute (ADBI) Arbeitspapier Nr. 440, Oktober 2013.
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Economic Partnership (RCEP) eine wichtige Bedeutung zu. RCEP zielt auf ein Freihandelsabkommen zwischen den zehn ASEAN-Staaten und allen weiteren Staaten, mit denen die ASEAN Freihandelsabkommen unterhält (die sechs ASEAN+1 FTAs bzw. die sogenannten ASEAN Free Trade Partners), also Australien, die VR China, Indien, Japan, Südkorea und Neuseeland. Es ist geplant, die Ende 2012 begonnenen Verhandlungen Ende 2015 abzuschließen. Das Abkommen soll unter anderem den Handel von Gütern und Dienstleistungen, Investitionen sowie geistiges Eigentum umfassen. Insbesondere für externe Akteure besitzt RCEP daher eine große Bedeutung. Der EU bietet RCEP die Möglichkeit, nach Abschluss eines interregionalen EU-ASEAN Freihandelsabkommens auch einem die weitere ostasiatische Region umfassenden Freihandelsabkommen beizutreten. Bisher ist der EU dies verwehrt. Von einem solchen Schritt ist sie jedoch derzeit noch weit entfernt. Freihandelsabkommen zwischen der EU und Asien bzw. Verhandlungen dazu finden alle auf rein bilateraler Ebene statt.5 Einen wichtigen Hinweis auf die Rolle Chinas bei der künftigen Ausgestaltung einer ostasiatischen Wirtschaftsarchitektur gab der chinesische Staatspräsident Xi Jinping während des APEC-Gipfeltreffens im Oktober 2013 auf Bali. Xi erklärte: „China wird Frieden und Stabilität in der Region standhaft aufrechterhalten […,] energisch daran arbeiten, regionale Entwicklung und Wohlstand zu fördern [… und] wird sich dazu verpflichten, einen transpazifischen regionalen Kooperationsrahmen zu errichten, der allen Teilnehmern zugute kommt“.6 Die APEC wurde im Jahr 1989 von Australien, Brunei Darussalam, Kanada, Indonesien, Japan, Südkorea, Malaysia, Neuseeland, den Philippinen, Singapur, Thailand und den USA gegründet. Die VR China sowie Hongkong und Taiwan traten im Jahr 1991 bei. Mexiko und Papua Neuguinea folgten 1993. Die letzten Mitgliedsbeitritte erfolgten im Jahr 1998 mit Peru, Russland und Vietnam. Bisher ist es den 21 teilnehmenden Ökonomien nicht gelungen, ihre weitreichenden Liberalisierungsziele im Bereich von Handel, Investitionen und Dienstleistungen erfolgreich umzusetzen. Um die Zusammenarbeit und Integration zu stärken, verfolgen die USA daher das Ziel, weitergehende verbindliche Integrationsschritte im Rahmen der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) umzusetzen. An den Verhandlungen zur TPP nehmen derzeit zwölf Staaten teil, nämlich Australien, Brunei Darussalam, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur, die USA und Vietnam. Die Republik Korea erwägt gegenwärtig den Beitritt. Der grobe Rahmen für das TPP-Abkommen sieht unter anderem einen umfangreichen 5 6
Vgl. Sebastian Bersick, Europe’s Role in Asia: Distant but Involved, in: David Shambaugh, Michael Yahuda (Hrsg.), International Relations in Asia: The New Regional System, Lanham, 2014, S. 115-144. Xi Jinping, Deepen Reform and Opening up to Build a Better Asia Pacific, Rede auf dem APEC CEO Gipfel, Bali, 7.10.2013, (abgerufen am 30.10.2014).
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Marktzugang vor, indem die Beschränkungen des zollfreien Zugangs zum Gütermarkt und die Beschränkungen der Dienstleistungen gleichzeitig aufgehoben werden sollen.7 Die TPP stellt die bisherige Logik wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Integration in Ostasien in Frage, da das Abkommen eine Abkehr vom Prinzip der nichtbindenden Kooperation im Sinne des offenen Regionalismus und eine Verrechtlichung multilateraler regionaler Wirtschaftskooperation verfolgt.8 Da wesentliche Akteure zumindest bisher nicht an den TPP-Verhandlungen teilnehmen, ist der Einfluss der TPP auf die regionale Zusammenarbeit in Asien-Pazifik und auf die Vision, im Rahmen der APEC, aufbauend auf den erwarteten Integrationsschub durch ein TPP-Abkommen, eine Free Trade Area of the Asia-Pacific (FTAAP) zu errichten, ungewiss. Beobachter sind sich einig, dass die TPP weitere Mitglieder aus Nordostasien anziehen muss, um wirkliche Relevanz zu gewinnen. Mit der Teilnahme Japans und der möglichen Teilnahme Südkoreas betrifft dies insbesondere China. Die darüber in China stattfindende Debatte zeigt, in welchem Maße sich die Frage nach der regionalen Wirtschaftsarchitektur und sicherheitspolitische Faktoren wechselseitig beeinflussen. Die Befürworter einer Teilnahme argumentieren, dass ein früher Beitritt zur TPP den wirtschaftlichen Öffnungsund Reformprozess in China fördern werde, etwa im Bereich der staatseigenen Betriebe. Auch bliebe China bei einer Nichtteilnahme von regionalen Standardisierungs- und Normaushandlungsprozessen ausgeschlossen, etwa im Bereich des Umweltschutzes oder des Schutzes von geistigem Eigentum.9 Die Gegner einer Teilnahme Chinas argumentieren, dass diese Chinas Vorteile aus den bisherigen regionalen Handelsliberalisierungen beschränken und Chinas Einfluss auf regionale Kooperationsprozesse in Ostasien mindern würde. Darüber hinaus sei die TPP Teil der strategischen Hinwendung, dem sogenannten „pivot“, nach Asien und es verbinde sich daher mit der TPP das strategische Ziel der USA, „Chinas Aufstieg einzudämmen“.10 Auch in der Teilnahme Japans erkennen chinesische Beobachter nicht nur wirtschaftliche Ziele, son-
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Für Details vgl.: Enhancing Trade and Investment, Supporting Jobs, Economic Growth and Development: Outlines of the Trans-Pacific Partnership Agreement. Büro des Handelsvertreters der USA, Washington, DC, 2011, über: (abgerufen am 21.4.2012). 8 Sebastian Bersick, ASEAN, EAS, APEC – regionale Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum, in: Jahrbuch 2012, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), o.O. 2013, S. 292-298. 9 Xu Ming, Zhongguo jinzao jiaru TPP lidayubi (It is More Advantageous for China to Join the TPP Soon.), Kaifangdaobao, Nr. 5, 2013; Xing Xiaojun, Sun Lijuan, TPP zuzhi tedian jiqi dui Zhongguo de yingxiang fenxi (The Organizational Characters of TPP and Its Influence on China), Jingji wenti dansuo, Nr. 10, 2013. 10 Tang Bi, Lin Guijun, Kuataipingyang huobanguanxi xieding dui zhongguo zhanlue de yingxiang yu zhongguo de duice (The Influence of TPP on China’s Strategy and China’s Countermeasure), Shehui kexue yanjiu, Nr. 6, 2012.
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ASEAN, APEC und China
dern ebenso strategische in Form der Stärkung der US-japanischen Allianz.11 Das Verhalten der Akteure kann mit dem Konzept des Sicherheitsdilemmas erklärt werden. Demnach können Handlungen eines Staates zum Zwecke der Erhöhung der eigenen Sicherheit von einem anderen Staat als Bedrohung wahrgenommen werden.12 Selbstbindung nationaler Politik in Ostasien: Das Beispiel Sicherheitspolitik Regionale Zusammenarbeit und Integration können zum Abbau von sicherheitspolitischen Konflikten und zur Überwindung von Sicherheitsdilemmata wesentlich beitragen. Das Beispiel des europäischen Integrationsprozesses belegt, dass regionale Integration einen sicherheitspolitischen Strukturwandel ermöglichen kann, der nachhaltig Frieden und Wohlstand sichert. Ein im funktionellen Sinn vergleichbarer Prozess hat in Ostasien, zumindest bisher, nicht stattgefunden. Nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute entfielen im Jahr 2012 ein Fünftel (22 Prozent) der weltweiten Militärausgaben auf Asien und Ozeanien, welche sich 2013 um weitere 3,6 Prozentpunkte erhöhten. Chinas Militärausgaben machten mit einer Erhöhung von 7,4 Prozent dabei den größten Anteil aus.13 Die wachsenden Militärbudgets in der Region erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg in Ostasien. Beobachter verweisen auf die sogenannte Revolution in Military Affairs – etwa im Rahmen der Netzwerkbasierten Kriegsführung. Als ursächlich für die wachsende Wahrscheinlichkeit von militärischen Konflikten werden der Aufstieg neuer regionaler Mächte wie China und Indien, territoriale Konflikte oder der sogenannte US-Pivot nach Asien angeführt.14 Die einseitige Ausrufung einer Luftraumüberwachungszone durch die VR China über dem Ostchinesischen Meer Ende November 2013 kann an dieser Stelle beispielhaft angeführt werden für die Bedeutung von Sicherheitsdilemmata in Ostasien. Pekings Handeln bestärkt die Wahrnehmung Chinas in der Region und darüber hinaus als potenziell revisionistische Macht, die den Anspruch auf eine militärische Vormachtstellung nicht mehr verschleiert, sondern offen zur Schau stellt. Die chinesische Bereitschaft zur Eskalation und zur Gefährdung der 11 Cai Liang, Tiaozhan yu dongyin: riben canjia TPP tanpan de zhanyue litu tanxi (Challenges and Motivations: Exploring Japan’s Intentions of Joining TPP Negotiations), Riben wenti yanjiu, Nr. 4, 2012. 12 Robert Jervis, Cooperation under the Security Dilemma, in: World Politics, 30 (Januar 1978) 2, S. 167174. 13 Sam Perlo-Freeman, Carina Solmirano, Trends in World Military Expenditure, 2013, SIPRI Fact Sheet, April 2014, (abgerufen am 29.10.2014). 14 Yan Xuetong, Qi Haixia, Football Game Rather Than Boxing Match: China-US Rivalry Does Not Amount to Cold War, in: The Chinese Journal of International Politics, Bd. 5, 2012, S. 105-127.
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chinesisch-japanischen, aber auch der chinesisch-südkoreanischen Beziehungen läuft einer mit dem liberalen Paradigma verbundenen Handlungslogik zuwider, die im wachsenden zwischenstaatlichen Wirtschaftsaustauch und in steigender Interdependenz einen Schlüssel zur nationalen Wohlfahrt und Sicherheit erkennt. Offensichtlich ist es ein Merkmal der internationalen politischen Ökonomie Ostasiens, dass Staaten bereit sind, trotz des Risikos des Verlusts von wirtschaftlicher Wertschöpfung und Arbeitsplätzen, die aus wirtschaftlicher Zusammenarbeit resultierenden zukünftigen Gewinne zu gefährden. Bisher haben regionale Institutionen nicht zur Überwindung der wichtigsten sicherheitspolitischen Konflikte in Ostasien geführt. Im Falle des Konflikts im Südchinesischen Meer liegt das auch an der chinesischen Position, die die Bedeutung von bilateralen Verhandlungen gegenüber multilateralen betont und sich auf diese Weise eine starke Verhandlungsposition gegenüber den weiteren Anrainern (Brunei Darussalam, Malaysia, Philippinen, Taiwan, Vietnam) sichert.15 Dieser bisherige chinesische Ansatz einer bilateral geprägten Verhandlungsstrategie steht allerdings einem regionalen Problemlösungsansatz entgegen. Das von Präsident Xi Jinping während der Conference on Interaction and Confidence Building Measures in Asia (CICA) im Mai 2014 in Schanghai vorgestellte „Neue Asiatische Sicherheitskonzept für neuen sicherheitspolitischen Fortschritt“ eröffnet in diesem Zusammenhang eine weitere Perspektive, da das Sicherheitskonzept als ein zukünftiger konzeptueller Rahmen für den Aufbau einer sicherheitspolitischen Architektur in Asien dienen kann. Es betont die Notwendigkeit zur Etablierung einer asiatischen Sicherheitsarchitektur, die Sicherheit als „gemeinsam, umfassend, kooperativ und nachhaltig“ begreift. „Gemeinsam“ meint hier, dass Sicherheit „universal, gleich und inklusiv“ ist; „umfassend“ meint, dass sich der Sicherheitsbegriff sowohl auf militärische als auch auf nichtmilitärische Bedrohungen bezieht; „kooperative Sicherheit“ meint „die Förderung der Sicherheit von Einzelstaaten und der Region als ganzes durch Dialog und Zusammenarbeit“; „nachhaltige Sicherheit“ betont den Zusammenhang von Entwicklung und Sicherheit und die Notwendigkeit zur fortschreitenden „gemeinsamen Entwicklung und regionalen Integration“.16 Die chinesische Regierung beabsichtigt während der kommenden zwei Jahre ihres CICA-Vorsitzes, die Institutionalisierung der Zusammenarbeit zu vertiefen und die Kapazität von CICA zu erhöhen. 15 Vgl. Robert G. Sutter, Foreign Relations of the PRC. The Legacies and Constraints of China’s International Politics Since 1949, Plymouth, 2013, S. 238f; Jörn Dosch, The Fallacy of Multilateralism Rhetoric in China-Southeast Asia Relations – A Neo-realist Perspective on Regional Order-building, UNISCI Diskussionspapiere, Nr. 24, Oktober 2010, S. 135-152. 16 Xi Jinping, Advocating Common, Comprehensive, Cooperative and Sustainable Security in Asia for New Progress in Security Cooperation of Asia, Rede auf der vierten Konferenz zu „Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien“, CICA Gipfel, Schanghai, 21.5.2014, (abgerufen am 30.10.2014).
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Das von Xi Jinping vorgeschlagene Sicherheitskonzept für Asien fordert dazu auf, „regionale security governance in einer koordinierten Weise“ weiterzuentwickeln. Der chinesische Staatspräsident propagiert somit ein multilaterales Verständnis von Sicherheit. Ziel ist nicht die Sicherheit eines einzelnen Staates, sondern die Sicherheit aller. Eine derartige auf dem Prinzip der Multilateralität beruhende asiatische Sicherheitsarchitektur steht im Gegensatz zur bisherigen sicherheitspolitischen Realität Asiens. Die erfolgreiche Umsetzung des chinesischen Konzepts würde somit einen grundlegenden sicherheitspolitischen Strukturwandel in der Region erforderlich machen. China kann den CICA-Vorsitz nutzen, um einen solchen Prozess nicht nur zu initiieren, sondern auch durch konkrete Politikangebote Substanz zu verleihen. Die Einbeziehung aller Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres im Rahmen einer CICA-basierten multilateralen vertrauensbildenden Maßnahme könnte der erste Schritt auf dem Weg zu einem sicherheitspolitischen Strukturwandel sein. Ein solches Vorgehen könnte auch auf europäische Erfahrungen der regionalen Zusammenarbeit Bezug nehmen. Die Förderung von regionaler Zusammenarbeit und Integration ist Teil der außenpolitischen Identität der EU und ein Kerninteresse der EU und insbesondere Deutschlands. Dies betrifft vor allem die institutionelle sowie normative Konstruktion von Institutionen. Die Europäer erscheinen hier als ein natürlicher Partner der CICA-Teilnehmer. Autokratische Regime, Multilateralismus und die Perspektiven regionaler Integration in Ostasien Die Analyse der in Ostasien gegenwärtig zu beobachtenden Entwicklungen im Bereich der regionalen Zusammenarbeit und Integration zeigt, dass im Falle der VR China die Verfasstheit des nationalen politischen Systems sowie das Interesse an funktionaler Zusammenarbeit und Integration wesentlichen Einfluss auf das Verhalten der Akteure haben. Es zeigt sich somit, dass das multilaterale Handeln von Staaten in Ostasien nicht alleine durch nationale und globale, sondern auch durch regionale Faktoren bedingt wird. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass die gegenwärtige Entwicklung multilateraler Zusammenarbeit in Ostasien charakterisiert ist durch Prozesse der wirtschaftlichen Konvergenz und sicherheitspolitischen Divergenz. Eine Erklärung für dieses Strukturmerkmal der internationalen politischen Ökonomie Ostasiens – ein an dieser Stelle als „Kondivgenz“ benanntes Phänomen – ist die Verfasstheit des politischen Systems der VR China und die aus dieser resultierende Wirkmächtigkeit von Sicherheitsdilemmata. Gleichzeitig erhöhen die wachsende wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration Ostasiens bei Fortschreibung der bestehenden Sicherheitsdilemmata die Risiken für kriegerische Auseinandersetzungen in der Region. Mittelfristig bis langfristig besteht eine entscheidende Aufgabe ostasiatischer Politik daher in der Definition von Normen, Regeln, Prinzipien und Verfahrensweisen
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der Entscheidungsfindung, die eine Errichtung von regionalen multilateralen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitekturen ermöglichen. Sie können den jeweiligen ordnungspolitischen Rahmen bieten, der es den Staaten in der Region ermöglicht, in den unterschiedlichen Politikfeldern ihre jeweiligen nationalen Interessen kooperativ zu verfolgen. Dies gilt insbesondere im Bereich der regionalen „security governance“ und des Aufbaus einer Sicherheitsarchitektur, die einen nachhaltigen Beitrag auch zur Lösung maritimer Territorialkonflikte in Ostasien leisten kann. Die CICA kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, wenn es gelingt, das von China vorgeschlagene Sicherheitskonzept umzusetzen. Der von Xi Jinping vorgestellte Ansatz legt darüber hinaus nahe, dass Europa und China wichtige Voraussetzungen für ein gemeinsames Verständnis über die Rolle von Multilateralität für die Einschätzung der instrumentellen Bedeutung von regionaler Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik teilen. Für die EU und auch die deutsche Asien-Politik bietet sich daher die Gelegenheit, ihre Erfahrungen im Bereich der regionalen Zusammenarbeit und Integration in Europa, insbesondere in den Bereichen vertrauensbildende Maßnahmen, präventive Diplomatie und „conflict resolution“ einzubringen.
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Problemwahrnehmungen und Lösungsansätze der operativen Politik
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BMWi: Grundsätze deutscher Rüstungsexportpolitik Sigmar Gabriel1 Kaum ein anderes Thema ist in der Lage, so starke Emotionen hervorzurufen, wie die Frage des Exports von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern aus unserem Land, und kaum ein anderes Thema steht dann immer so sehr im Kreuzfeuer der öffentlichen Debatte, jetzt allemal, wo, wie Herr Steinmeier es zusammen mit mir in einem Brief formuliert hat, die Welt scheinbar aus den Fugen gerät. Und kaum eine andere politische Frage wird von so vielen Ansprüchen bedrängt: moralischen, wirtschaftspolitischen, sicherheitspolitischen und strategischen. Deshalb soll es genau darum heute gehen. In einer Atmosphäre, die eine durchaus wertegeleitete, aber eben auch nüchterne Debatte zulässt. Deswegen danke ich der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik dafür, hier zu diesem Thema sprechen zu dürfen. Ich möchte mit Ihnen über die Grundsätze sprechen, nach denen Entscheidungen über den Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern in Deutschland aus meiner Sicht gefällt werden sollten. Dabei werde ich mich auch auf Terrain begeben, das eigentlich nicht in den Aufgabenbereich des Wirtschaftsministers fällt, das aber unverzichtbare Grundlage jeder Debatte über Rüstung und Rüstungsexporte sein muss: das Terrain der Außen- und Sicherheitspolitik. Denn wer über die Rüstungswirtschaft reden will, darf über Außen- und Sicherheitspolitik nicht schweigen. Im Gegenteil: Sie, die Außenund Sicherheitspolitik, muss Ausgangs- und Zielpunkt einer rüstungspolitischen Strategie Deutschlands – und soweit erreichbar – auch Europas werden. Erst abgeleitet davon können wir über wirtschafts- und industriepolitische Belange der wehrtechnischen Industrie unseres Landes sprechen. Diejenigen politischen Debattenbeiträge der vergangenen Wochen und Monate, die wirtschafts- und industriepolitische Interessen in den Mittelpunkt der Entscheidungen, sozusagen zum Ausgangspunkt der Entscheidungen machen über Rüstungsexporte, verwechseln Ziele und Instrumente. 1
Rede des Bundeswirtschaftsministers bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin am 8.10.2014.
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BMWi: Grundsätze deutscher Rüstungsexportpolitik
Damit meine ich übrigens nicht die Vertreter der Rüstungsindustrie selbst. Sie vertreten private Unternehmen, haben primär ökonomische Interessen und natürlich auch das Interesse am Erhalt möglichst vieler qualifizierter Arbeitsplätze in ihren Unternehmen. Das ist völlig legitim. Die Politik allerdings hat eine andere Aufgabe, wenn es um Rüstungsgüter geht. Sie muss sich von diesen legitimen privatwirtschaftlichen Interessen zu allererst mal frei machen, darf sie gerade nicht zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Rüstungspolitik und Rüstungsexportpolitik machen und darf vor allem Ziele und Instrumente nicht verwechseln. Das Ziel sind die außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands – und ich wiederhole, auch wenn wir von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union leider noch weit entfernt sind, auch der Europäischen Union –, zu deren Instrumenten auch die Herstellung und Lieferung von Rüstungsgütern gehören können, aber auch nicht zwangsläufig immer gehören müssen. Wenn wir in Deutschland über die Produktion von und den Handel mit Kriegswaffen und Rüstungsgütern sprechen, so sprechen wir nicht über ein ganz normales Geschäftsfeld. Zu Recht gilt: Wer in Deutschland über die Genehmigung von Rüstungsgütern entscheiden muss, tut das nach strengen gesetzlichen Regeln. Dafür gibt es auch viele gute Gründe. Allemal vor dem Hintergrund der furchtbaren Leiden, die Deutsche mit deutschen Waffen zwischen 1939 und 1945 verursacht haben, da wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes sicherstellen, dass Deutschland nicht dazu beiträgt, aggressive Staaten aufzurüsten oder Konflikte kriegerisch zu lösen. Denn viele Waffen werden in die Krisenstaaten geliefert, wo sie bewaffnete Konflikte erst möglich machen, verschärfen oder verlängern. Dass wir uns jetzt dazu gezwungen sehen, in den Nordirak Waffen zu liefern, um die kurdischen Peschmerga in die Lage zu versetzen, die Mordbrenner der IS zu stoppen, ist ja durchaus auch die Folge viel zu vieler Waffenlieferungen in diesen Raum in den vergangenen Jahrzehnten. Was seit Jahrzehnten an Waffen aus dem Westen wie dem Osten an einzelne Herrscher geliefert wurde, weil sie zwar Menschenrechte unterdrückten, dafür aber scheinbar für Stabilität sorgten, befindet sich heute in den Händen unterschiedlichster Warlords und Terrorgruppierungen. Die Büchse der Pandora ist randvoll gefüllt mit Waffen, die in dieser Region eben gerade nicht hergestellt, wurden, sondern die man erst dorthin exportiert hat. Regeln des Rüstungsexports Zur Klarheit in der Debatte gehört es, dass wir uns an die unverändert eindeutigen rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen der Ausfuhr von Rüstungsgütern und Kriegswaffen erinnern. An diesen Rahmenbedingungen hat die jetzige Bundesregierung nichts geändert. Im Koalitionsvertrag zwischen
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CDU, CSU und SPD wurde nichts anderes vereinbart, als diese strengen Regeln auch anzuwenden. Dass trotz dieser politischen und rechtlichen Kontinuität unseres Handelns dennoch eine so hitzige Debatte ausgelöst wurde, lässt den Verdacht aufkommen, dass entweder in der Vergangenheit diese Regeln sehr expansiv ausgelegt oder sogar nicht durchgehend angewandt wurden. Manche mutmaßen, dass es sogar zwischen Politik und Wirtschaft eine stillschweigende Übereinkunft gab, es mit den Regeln nach der Rückführung der nationalen Finanzbudgets für Rüstungsproduktion und Beschaffung doch bitte im Export nicht so genau zu nehmen. Lassen Sie mich kurz die rechtlichen Grundlagen skizzieren, vom Grundgesetz bis hin zu den detaillierten Ausführungsbestimmungen. Art. 26 Abs. 2 des Grundgesetzes bestimmt als Zentralnorm: „Zur Kriegführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ Dieser Grundgesetzartikel zieht, wie dargestellt, die Konsequenz aus den Lehren, welche die junge Bundesrepublik Deutschland aus der Geschichte Deutschlands und Europas gezogen hat. Diese Bestimmung unserer Verfassung wird dann im Kriegswaffenkontrollgesetz konkretisiert: So bestimmt § 6 des Kriegswaffenkontrollgesetzes: „Auf die Genehmigung [des Exports oder der Herstellung] besteht kein Anspruch.“ Und weiter: „Die Genehmigung ist zu versagen, wenn erstens die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden, zweitens Grund zu der Annahme besteht, dass die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde.“ Schließlich wird ebenfalls gesagt, dass nicht genehmigt werden kann, wenn der Begünstigte der Genehmigung die „für die beabsichtigte Handlung erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt“. Angesichts staatsanwaltlicher Ermittlungen gegen einen Teil von Waffenherstellern in Deutschland ist dieser Hinweis auf die Zuverlässigkeitsprüfung aktuell ein Thema. Wohlgemerkt: In diesen Punkten hat die Bundesregierung kein Ermessen. Juristen nennen das eine gebundene Entscheidung. Auch das in seinem Anwendungsbereich wesentlich weitere Außenwirtschaftsgesetz (AWG) folgt dieser Linie. Danach kann der Export gemäß § 5 AWG von „Waffen, Munition und sonstigen Rüstungsgütern sowie Gütern für die Entwicklung, Herstellung oder den Einsatz von Waffen, Munition und Rüstungsgütern“ beschränkt werden. Dies gilt insbesondere für „Güter, die zur Durchführung militärischer Aktionen bestimmt sind“ (§ 5 Abs. 2 AWG). Es dauerte übrigens nach der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 immerhin bis Anfang der sechziger Jahre, um diese Konkretisierung durch das Kriegswaffenkontrollgesetz einerseits und die parallele Verabschiedung des Außenwirtschaftsgesetzes andererseits zu erreichen. Das aus dem Grundgesetz abgeleitete Kriegswaffenkontrollgesetz macht die deutsche
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Rüstungsexportpolitik somit zunächst vor allen Dingen zu einem Thema der Sicherheitspolitik und kennt keine industriepolitischen Interessen. Wahr ist aber auch: Man konnte den Eindruck bekommen, dass dieser Grundsatz in den vergangenen Jahren teilweise vergessen oder sogar umgekehrt wurde. Genehmigungen waren eher die Regel und nicht die Ausnahme. Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen einschließlich des Außenwirtschaftsgesetzes. Und dies, obwohl im Jahr 2000 die Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehr eindeutige politische Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern beschlossen hatte, die bis heute immer noch die Grundlage für den Rüstungsexport sind. Darin heißt es: „Der Export von Kriegswaffen [damit sind sonstige Länder gemeint, also nicht NATO und nicht EU oder vergleichbare Länder] wird nicht genehmigt, es sei denn, dass im Einzelfall besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik [...] für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen.“ Das muss man sich vor Augen führen angesichts dessen, was es in der Vergangenheit für Genehmigungen gegeben hat. Die politischen Grundsätze legen nämlich fest, dass die deutsche Rüstungsexportpolitik restriktiv zu gestalten ist, wenn es um den Export in „sonstige Länder“ geht – also Länder, die weder der NATO noch der Europäischen Union angehören und die den NATO-Ländern in ihrer politischen Verfasstheit auch nicht gleichgestellt sind wie dies für Australien, Japan, Neuseeland oder die Schweiz zutrifft. Bei diesen sogenannten sonstigen Ländern oder „Drittländern“ kann nicht per se von sicherheitspolitischer Unbedenklichkeit ausgegangen werden. Der Grundsatz lautet also: keine Genehmigung. Und die Ausnahme davon ist gebunden an besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik. Angesichts der tatsächlichen Lieferungen und Exportgenehmigungen der vergangenen Jahre kann man schon fragen, wie das eigentlich mit diesem Ausnahme-Regel-Verhältnis zu vereinbaren gewesen ist. Die bislang existierende absolute Geheimhaltung der konkreten Genehmigungen für Rüstungsexporte verhinderte zudem, dass das Erfordernis der besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Interessenlage Deutschlands an einem Rüstungsexport überhaupt erläutert oder diskutiert werden konnte. Das allerdings hat sich mit den neuen Transparenzvorschriften für Rüstungsexportentscheidungen durch den Bundessicherheitsrat entscheidend geändert. Die Grundlage dafür ist eine Verabredung zwischen Union und SPD, im Koalitionsvertrag. Die jetzt notwendige umgehende Unterrichtung des Deutschen Bundestags – und damit natürlich der deutschen Öffentlichkeit – über jede einzelne Exportgenehmigung erzwingt geradezu die außen- und sicherheitspolitische Begründung der Entscheidung. Die Politischen Grundsätze wurden unter Federführung der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder verfasst, als Konkretisierung der gesetzlichen Bestimmungen nach Ende des Kalten Krieges und der damit ver-
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bundenen Reduzierung der NATO-Streitkräfte – und auch im Bewusstsein, der Abrüstung und Rüstungskontrolle einen weit größeren Stellenwert zu geben. Nach dem Ende der Blockkonfrontation galt es ganz besonders, durch Begrenzung und Kontrolle des internationalen Waffenhandels zu präventiver und kooperativer Sicherheitspolitik beizutragen. Ein überragendes Ziel, das heute aktueller denn je ist. Wichtig ist übrigens auch, dass in diesen Politischen Grundsätzen, zu denen sich auch die jetzige Koalition aus CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag ausdrücklich bekannt hat, beschäftigungspolitische Gründe keine ausschlaggebende Rolle spielen dürfen. So heißt es in den Grundsätzen: „Beschäftigungspolitische Gründe dürfen keine ausschlaggebende Rolle spielen.“ Für sonstige Rüstungsgüter sind die Regeln etwas weniger streng. Auch hier gilt jedoch die Maxime, dass außen- und sicherheitspolitische Kriterien den Ausschlag dafür geben, ob der Export von sonstigen Rüstungsgütern beschränkt werden kann und muss, oder nicht. Genehmigungen von Rüstungsexporten erfolgen also keineswegs nach tagespolitischen oder kurzfristigen Erwägungen. Sie sollen auch nicht den wechselnden politischen Mehrheiten unterworfen sein. Entscheidungen über den Export von Waffen sollen nach dem Willen von Verfassung und Gesetzgeber in Deutschland nicht heute so und morgen anders ausfallen, je nach Gutdünken oder Zusammensetzung der Bundesregierung. Kontinuität und Stetigkeit sind auch in diesen Fragen ein Teil unseres Rechtssystems. Mir ist dabei in den vielen Gesprächen der vergangenen Monate sehr deutlich geworden: Zwar kennt jedes Unternehmen, das in diesem Feld tätig ist, diese Spielregeln durchaus. Und auch jeder Staat, der in Deutschland produzierte Waffen kaufen möchte, kennt sie auch. Und auch die damit befassten deutschen Politikerinnen und Politiker kennen diese Spielregeln. Nicht alle aber glauben, dass sie wirklich getreu des Gesetzeswortlauts auch unbedingt angewandt werden sollten. Für mehr Transparenz sorgen Die deutsche Politik ist der Diskussion über die Rüstungsproduktion und den Export von Rüstungsgütern und Kriegswaffen in der Vergangenheit oft ausgewichen. Sie hat in den vergangenen Jahren auch zu vermeiden versucht, öffentlich über aufwändige Rüstungs- und Beschaffungsprojekte der Bundeswehr zu sprechen. Wir erleben gerade, dass das vielleicht auch keine ganz kluge politische Strategie gewesen ist. Wie gesagt, dieses Ausweichen wurde begünstigt durch die Tatsache, dass über Rüstungsexportgenehmigungen hinter dem Vorhang der Geheimhaltung entschieden wurde. Dies aber entspricht gerade nicht dem grundlegenden Demokratieprinzip unserer Verfassung und übrigens mit Sicherheit auch nicht dem Verständnis der Abgeordneten des Deutschen Bundestags. Der ver-
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schämte Umgang mit diesen existenziellen Fragen ist wie ich finde einer reifen Demokratie und einer aufgeklärten Gesellschaft nicht würdig. Man muss nicht gleich Habermas zitieren, um eine ganz einfache Maxime festzuhalten: Wir sollten als Demokratinnen und Demokraten niemals den Begründungsaufwand scheuen, den eine öffentliche Debatte verlangt. Denn das Begründen-müssen heißt auch: prüfen und abwägen, ob wir gute Argumente für eine Rüstungsexportentscheidung haben oder nicht. Haben wir sie nicht, dann scheitern wir nicht erst in der öffentlichen Auseinandersetzung. Wir scheitern auch schon in der regierungsinternen sachlichen Rechtfertigung. Und dann sollten wir eine umstrittene Ausfuhr auch gar nicht erst genehmigen. Deswegen hat sich die Koalition vorgenommen, Entscheidungen über Rüstungsexporte transparenter zu gestalten als in der Vergangenheit. Ein zentrales Element ist die Information des Parlaments und der Öffentlichkeit über die positiven abschließenden Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrats, zwei Wochen, nachdem sie getroffen wurden. Und nicht nur das: Auch über die positiven Entscheidungen des Vorbereitenden Ausschusses, also Entscheidungen, die in der Vergangenheit gar nicht mehr den Bundessicherheitsrat erreicht haben, berichten wir. Damit haben wir ein bisher unbekanntes Maß an Transparenz geschaffen. Dazu gehört, dass die Bundesregierung nun zweimal im Jahr einen Rüstungsexportbericht vorlegt und nicht nur einmal. Wir wollen mit größerer zeitlicher Nähe Auskunft geben, welche Ausfuhren genehmigt wurden. Denn auch das hilft der demokratischen Kontrolle. Dies wird dazu führen, dass die öffentliche Debatte über Rüstungs- und Kriegswaffenexporte nicht wieder verschwinden wird. Sie soll auch gar nicht verstummen und verschwinden. Ich glaube, wir sollten sie begreifen als das, was viele immer wieder anmahnen: Dass Deutschland sich seiner internationalen Verantwortung stellt und keine sicherheitspolitischen Interessen sozusagen verschweigt, oder sie erst gar nicht definiert. Ich bin davon überzeugt: Die eingangs geschilderten gesetzlichen Bestimmungen werden in Zukunft getreu ihres Wortlauts und ihrer Intention angewandt werden müssen – und zwar völlig egal, wie der Bundeswirtschaftsminister heißt. Denn durch die jetzt geschaffene Transparenz und den damit erzwungenen Begründungszusammenhang für Exportgenehmigungen von Kriegswaffen oder anderen Rüstungsgütern wird jeder tatsächliche oder vermeintliche Verstoß gegen diese Grundsätze zu öffentlichen politischen Debatten führen. In Parlamenten, aber vor allem auch in der Zivilgesellschaft, von Kirchentagen bis Parteitagen. Die heimliche Verabredung, einen kritischen Rüstungsexport doch im Interesse der heimischen Industrie oder im Interesse guter wirtschaftlicher Beziehungen zum Empfängerland zu genehmigen, weil die Öffentlichkeit davon nur rudimentär Kenntnis erhalten wird, trägt nicht mehr. Auch wenn wir erst am Anfang stehen, ich bin sicher, dass uns diese Transparenz langfristig gut tun wird. Sie zwingt nämlich auch dazu, sich zu
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nationalen oder europäischen Interessen zu bekennen. Eine offene, aufgeklärte und Orientierung gebende Debatte über die deutsche Rüstungsexportpolitik wird damit zu einem Kristallisationspunkt werden für eine Auseinandersetzung über unsere politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen in der Außenpolitik. Diese Auseinandersetzung ist die Voraussetzung dafür, Verantwortung zu übernehmen, wie das ja seit einigen Monaten durch den Bundespräsidenten und den Bundesaußenminister immer wieder eingefordert wird. Hilfreich dafür können dabei auch regelmäßige Debatten im Parlament sein. Zum Beispiel eine jährliche Regierungserklärung des Außenministers zur Sicherheitslage und zur Sicherheitskooperation oder auch zur Rüstungshilfe und Rüstungsexporten. Dann werden auch die moralischen Dilemmata, mit denen wir konfrontiert sind, sichtbar. Und es wird sichtbar werden, dass es oft nicht nur gute und nur schlechte Entscheidungen gibt, sondern wenig „Schwarz-Weiß-Entscheidungen“, dafür aber vielschichtige und komplexe Entscheidungszusammenhänge. Es wird sichtbar werden, dass es sich auch bei den Rüstungsexporten manche Kritiker der Bundesregierung zu leicht machen mit einer kategorischen Zurückweisung jeder Art von militärischem Schutz vor Bedrohungen. Sicherheitspolitische Grundlagen Wenn der zentrale Bezugspunkt für den Export von sonstigen Rüstungsgütern und Kriegswaffen in Drittländer die „außen- und sicherheitspolitischen Interessen“ der Bundesrepublik Deutschland sind, kann man natürlich die Frage stellen, warum dann das Bundeswirtschaftsministerium überhaupt die zuständige Genehmigungsbehörde ist. In der Praxis ist für die Frage, wie die außen- und sicherheitspolitische Lage einzuschätzen ist, das Auswärtige Amt der erste Ansprechpartner für das Bundeswirtschaftsministerium. Ob wir der Einschätzung folgen, ist dann immer noch Sache der Genehmigungsbehörde – und letztendlich des Bundeswirtschaftsministers. Das Wirtschaftsministerium hat dabei institutionell immer zwei „Herzen“ in der Brust: dem außen- und sicherheitspolitischen Interesse zu folgen, das durch das AA definiert wird, und auf der anderen Seite industriepolitisch die deutsche wehrtechnische Industrie zu fördern. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich beides widersprechen kann und es häufig genug auch tut. Deshalb ist für künftige Koalitionen, sicher nicht mehr in der jetzigen, aber für künftige Koalitionen zu prüfen, ob nicht das Außenministerium das richtige Ressort ist, um über Rüstungsexporte zu entscheiden. Ich jedenfalls fände eine solche Reform überlegenswert, weil sie dokumentieren würde, dass im Fokus solcher Entscheidungen außen- und sicherheitspolitische Belange stehen. Die ebenso rasanten wie besorgniserregenden Veränderungen, die wir derzeit weltweit erleben, werden jedenfalls mit Sicherheit im Außenministerium
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mit Blick auf Rüstungsexportpolitik schneller und qualifizierter analysiert und beurteilt werden können als im Wirtschaftsministerium. Das gilt sicher gerade auch für den arabischen Raum, an dem sich ja aktuell die meisten Auseinandersetzungen um mögliche Rüstungsexporte entzünden. Lassen Sie mich deshalb zu dieser Region einige prinzipielle Bemerkungen machen und daraus Konsequenzen für unsere Rüstungsexportpolitik ziehen. Rüstungsexporte in den arabischen Raum Religiös, ethnisch und politisch war der arabische Raum schon immer eine der komplexesten Regionen der Welt – das gilt heute vielleicht mehr denn je. Es gibt den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern – derzeit vor allem mit Blick auf Gaza und Hamas und mit Weiterungen im Libanon, mit Blick zum Beispiel auf die Hisbollah; die Folgen des sogenannten Arabischen Frühlings – auf der einen Seite mit Tunesien und Marokko als verbleibenden Hoffnungsträgern, auf der anderen Seite mit Libyen und Jemen, die mittlerweile als „failing states“ zu bezeichnen sind. Es gibt weitere Veränderungen wie die Krise um das iranische Atomprogramm; den sunnitisch-schiitischen Gegensatz mit Syrien als Austragungsort dieses Konflikts. Dazu haben sich gruppiert: der Aufstieg des sogenannten „Islamischen Staates“ als grenzübergreifendes Phänomen und das Agieren von Al Qaida im Maghreb. Viele dieser Konflikte werden gewaltsam ausgetragen, weitere Spannungen könnten sich über kurz oder lang militärisch entladen. So ist es spätestens jetzt unausweichlich geworden, Rüstungsgüter nur nach sehr strengen Kriterien und nach dem Grundsatz größter Zurückhaltung in diese Region auszuführen. Gleichzeitig dürfen die Massivität und die Komplexität der Gewaltausbrüche uns nicht dazu verleiten, auf Differenzierungen auch innerhalb des arabischen Raums zu verzichten. Wir sollten in jedem Fall eine sorgfältige Einzelfallabwägung treffen. Dazu könnte man sich an zwei Katalogen möglicher Parameter orientieren, um Einzelfallentscheidungen vorzubereiten. Diese Parameter wären nicht nur für den arabischen Raum, sondern ganz generell eine gute Grundlage zur Beurteilung von Entscheidungen über Rüstungsexporte. Erstens der Blick auf die Länder: Dabei geht es zunächst um die innere Verfasstheit. Es besteht das Risiko, dass deutsche Rüstungsgüter für die Repression von regierungskritischen Bewegungen im Innern eingesetzt werden. Dieses Risiko steigt, je schwächer demokratische oder rechtsstaatliche Institutionen in einem Land verankert sind, oder wenn gesellschaftliche Bruchlinien (z.B. Minderheitenprobleme) existieren und wachsen. Dann ist die außenpolitische Rolle jedes Landes zu beachten: Drohen deutsche Waffen zum Angriff auf andere Staaten eingesetzt zu werden? Zu analysieren ist, ob das betreffende Land eine stabilisierende oder aggressive, eine polarisierende oder ausgleichende Haltung einnimmt.
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Schließlich ist die sicherheitspolitische Lage in Rechnung zu stellen: In dieser Perspektive interessiert eher die objektive Lage des Landes als seine eigenen Absichten und Verhaltensweisen. Droht das Land, ohne eigenes Zutun zum Beispiel zur Zielscheibe von Gewalt – etwa anderer Staaten oder von Terrorgruppen – zu werden? Zweitens der Blick nicht nur auf die Länder selbst, sondern auch auf die Rüstungsgüter. Dabei zählt die Dauerhaftigkeit: Wenn die Stabilität des Empfängerlands schwer zu prognostizieren ist, bekommt die Lebensdauer des Rüstungsguts ein besonderes Gewicht. Schwere Waffen, aber auch Produktionsstätten für Waffen stellen eine längerfristige Ausstattung dar als etwa die Lieferung von Munition. Weiter geht es um die Einsetzbarkeit: Je nach Einschätzung der möglichen Aggressivität eines Empfängerlands (nach innen bzw. nach außen) empfiehlt es sich, die Einsatzspektren der Rüstungsgüter zu analysieren: Sind sie offensiv oder defensiv, dienen sie der Grenzsicherung oder der Repression? Außerdem haben wir den Endverbleib der Waffen und dessen Kontrolle zu prüfen. Und schließlich die Akzeptanz: Bestimmte Rüstungsgüter wie Kleinwaffen als „Mittel der Wahl der Bürgerkriege“ stehen zu Recht unter erheblich kritischerer öffentlicher Beobachtung als andere (zum Beispiel als Schiffe). Mithilfe von Analysen entlang dieser Parameter könnten in Zukunft die Einzelfallentscheidungen angelehnt werden, und natürlich müsste man diese Parameter auch öffentlich debattieren. Auch müssten europapolitische Erwägungen und die Haltung der Vereinten Nationen mit in diese Analysen einfließen. So wäre es etwa denkbar, dass auch die Beteiligung von potenziellen Empfängerländern deutscher Rüstungsgüter an internationalen Institutionen wie etwa dem Kleinwaffenaktionsprogramm der Vereinten Nationen und dem im Dezember diesen Jahres in Kraft tretenden internationalen Waffenhandelsvertrag bei der Entscheidung über Rüstungsexporte berücksichtigt werden. Machen die da mit, oder verweigern sie ihre Teilnahme an diesen Programmen der Vereinten Nationen? Diese differenzierte und mit Blick auf die Außen- und Sicherheitspolitik analytische Herangehensweise würde auch verhindern, dass außenwirtschaftliche Interessen an guten bilateralen Wirtschaftsbeziehungen weiterhin als „Generalvollmacht“, als regelmäßige Berufungsgrundlage für die Befürwortung von Rüstungsexporten gemacht würden. Die vielfach nachgefragte Lieferung von Leopard-Kampfpanzern in den arabischen Raum oder auch in andere Regionen der Welt darf deshalb eben gerade nicht unter wirtschaftspolitischen Interessen entschieden werden, sondern auf der Grundlage einer solch differenzierten außen- und sicherheitspolitischen Analyse. Ich komme bei dieser Analyse zu dem Ergebnis, dass sich die Lieferung dieses Waffensystems wie auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht rechtfertigen ließe. Natürlich muss regelmäßig überprüft werden, ob die getroffenen Beurteilungen von denkbaren
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Exportländern noch zutreffen oder sich verändert haben aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen vor Ort. Kollektive Sicherheit und Bündnisfähigkeit In der Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und SPD wird die außen- und sicherheitspolitische Interessenlage Deutschlands treffend wie folgt umschrieben: „Gemeinsam mit unseren Partnern in Europa wollen wir die globale Ordnung mitgestalten und zur Lösung von Krisen und Konflikten beitragen. Dabei leiten uns die Werte und Interessen unseres Landes.“ Deutschland hat sich dazu entschlossen, mit einer eigenen Armee und gemeinsam mit verbündeten Staaten in der westlichen Verteidigungsgemeinschaft für Frieden zu sorgen. Klar ist: Die westliche Verteidigungsgemeinschaft hat die Welt sicherer gemacht. Das kann man ohne Wenn und Aber 65 Jahre nach der Unterzeichnung des Nordatlantikpakts wirklich sagen! Unser Land ist Mitglied der Europäischen Union, deren Staaten jedenfalls versuchen, ihre Außen- und Sicherheitspolitik zu koordinieren. Der Gründungsgedanke der EU ist die Überwindung nationaler Gegensätze und die Sicherung des Friedens. Mit anderen Partnern zusammen steht Europa für Freiheit und Demokratie. Und selbstverständlich dienen dem Ziel des Friedens auch die Vereinten Nationen. Die Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien orientiert ihr Handeln ebenso wie die UN-Charta nicht am geopolitischen Machtstreben, sondern an Prinzipien guter Nachbarschaft, der Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte. Uns geht es gerade nicht um Hegemonie. Das war das Denken des 19. Jahrhunderts, mit verheerenden Folgen im 20. Jahrhundert, dem „Zeitalter der Extreme“, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm die Zeit von 1914 bis zum Fall der Mauer genannt hat. Geopolitisches Hegemonialstreben, Destabilisierung und Expansionskrieg standen in einem engen Zusammenhang. Die aktuellen Krisen im Osten Europas, aber auch die Grenzkonflikte im südchinesischen Meer geben uns leider eine Ahnung davon, dass dieses Denken auch im 21. Jahrhundert noch nicht ausgestorben ist. Europa ist allerdings einen anderen Weg gegangen, den wir heute, unter neuen Herausforderungen, bekräftigen wollen. Wir haben in den vergangenen 60 Jahren die Erfahrung gemacht, dass kollektive Sicherheitsstrukturen Europa und der Welt mehr Frieden und mehr Demokratie gebracht haben. Sie haben dazu beigetragen, den Kalten Krieg ohne Blutvergießen zu überwinden. Daraus folgt zweierlei: Erstens, die Verankerung in diesen Bündnissen und transnationalen Organisationen bildet den Rahmen, an dem sich deutsche Sicherheitspolitik und damit auch die Rüstungsexportpolitik unseres Landes orientieren müssen. Vor allem handeln wir, und das mit guten Erfahrungen,
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im engen Schulterschluss mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern. Zweitens, die Erhaltung der Bündnisfähigkeit und der dazu notwendigen rüstungstechnologischen Kernkompetenzen sind ein zentrales außen- und sicherheitspolitisches Anliegen der Bundesrepublik Deutschland. Das erscheint mir auch heute noch eine ganz wichtige und richtige Einsicht: Die Beteiligung an kollektiven Sicherheitsstrukturen ist nicht überholt, sondern sie sorgt weiter für Stabilität in Europa und der Welt. Das anzuerkennen hat allerdings auch ein paar nicht ganz einfache Konsequenzen, die im Alltag rüstungspolitischer und rüstungsexportpolitischer Entscheidungen durchaus zu Schwierigkeiten führen können. Deutschland muss, wenn man das anerkennt, kooperationsfähig bleiben und eine mitentscheidende Rolle beim Erhalt einer angemessenen unabhängigen europäischen Rüstungsindustrie wahrnehmen. Airbus und Galileo sind zivile Beispiele für solche strategisch bedeutsame Kooperationsfähigkeit. Europäische, nicht nationale Champions sind dabei gefragt. Nur die Kooperation und zum Teil auch das Zusammengehen von Unternehmen in Europa können es ermöglichen, dass eine echte rüstungstechnologische Basis in Europa aufrechterhalten bleibt. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der Schritt in europäische Kooperationen und Zusammenschlüsse am besten auf der Basis einer konsolidierten deutschen Rüstungsindustrie erfolgt, um auf Augenhöhe mit europäischen Partnern verhandeln und notfalls auch zusammengehen zu können. Leider ist die bereits im Jahr 2000 mit einer gemeinsamen Erklärung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und wichtigen Partnern der deutschen Rüstungsindustrie begonnene nationale Konsolidierung von der deutschen Rüstungs- und wehrtechnischen Industrie nicht weiterverfolgt worden. Die erleichterten Exporte von Rüstungsgütern erleichterten es den Unternehmen eben auch, den schwierigen nationalen Kooperations- und Fusionsdebatten aus dem Weg zu gehen. Auch insofern war die laxe Rüstungsexportpolitik der vergangenen Jahre ein Fehler. Die Kooperationsfähigkeit Deutschlands und der Weg in die Europäisierung der Rüstungsindustrie haben auch schwerwiegende politische Konsequenzen: Erstens muss auch hier die Außen- und Sicherheitspolitik im Mittelpunkt stehen und vorangehen. Eine gemeinsame Rüstungspolitik hat in Europa nur dann eine Chance, wenn sie als Bestandteil der Entwicklung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa verfolgt wird. So weit das aus heutiger Sicht auch entfernt sein mag, so sehr ist dies – aus meiner Sicht – eine der zentralen Aufgaben der europäischen Politik der kommenden Jahre. In ihrer Folge oder Begleitung ist es zwangsläufig sinnvoll, auch militärische Fähigkeiten zu teilen, statt in 28 Mitgliedstaaten jeweils ein eigenes Heer, eine eigene Marine und eine eigene Luftwaffe mit jeweils praktisch dem gesamten Fähigkeitsspektrum vorzuhalten. Die Ressourcenverschwendung bei knapper werdenden öffentlichen Mitteln in allen EU-Mitgliedstaaten ist doch offensichtlich. Schon heute dürfte dadurch nicht nur die deutsche Bundeswehr einen
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enormen Modernisierungsstau aufgrund fehlender finanzieller Mittel aufweisen, sondern sicher auch andere europäische Armeen. Zweitens hätte diese Entwicklung auch politische Konsequenzen in Deutschland, die vermutlich in der aktuellen Debatte eher ein bisschen ausgeblendet werden, die man aber nicht ausblenden darf: Am Ende könnte bei einer Aufteilung der militärischen Fähigkeiten zwischen den europäischen Mitgliedstaaten im Rahmen einer gemeinsamen Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik dann nicht mehr der Deutsche Bundestag allein über den Einsatz der Bundeswehr entscheiden. Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik in Europa heißt nämlich, dass der Teil militärischer Fähigkeiten, den zum Beispiel Deutschland für solche Einsätze im Rahmen eines europäischen Burden Sharing bereit hält, dann auch Deutschland zur Verfügung stellen muss. Letztlich würde damit der Deutsche Bundestag einen Teil seiner nationalen Souveränität verlieren. Heute praktisch unvorstellbar, und doch eine Entwicklung, der man aus europäischer Perspektive nicht ausweichen kann, wenn wir es ernst meinen mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wenn wir es ernst meinen mit Burden Sharing und Aufteilung von Fähigkeiten, dann ist das sozusagen die Grundlage dafür, dass man sich aufeinander verlassen kann. Das allerdings schränkt die Handlungsmöglichkeiten des deutschen Parlaments ein, aktuell glaube ich kaum eine Perspektive, die politisch mehrheitsfähig wäre. Und trotzdem, wie gesagt, kann man dieser Debatte nicht ausweichen. Und um auf unser Thema der Rüstungsexporte zurückzukommen, so heißt Kooperationsfähigkeit in der wehrtechnischen Industrie natürlich auch, dass sich die nationalen Exportregime für Rüstungsgüter europäisieren müssen. Schon heute ist es schwierig, deutsche Teilzulieferungen für ein französisches oder kanadisches Rüstungsexportprodukt zu genehmigen, wenn dieses Rüstungsgut dann danach in eine Region oder ein Land exportiert werden soll, in das nach den deutschen Exportgrundsätzen ein Export verweigert werden muss. Aus meiner Sicht kann die Lösung nicht darin bestehen, dass wir unsere deutschen Exportrichtlinien einfach zugunsten des Kooperationslands lockern, sondern dass wir dringend auch hier eine europäisierte Rüstungsexportdebatte brauchen. Aber ich gebe zu: Auch das ist ein langer Weg, bis wir zu akzeptablen Ergebnissen kommen werden. Denn wir alle wissen, dass Frankreich zum Beispiel die deutschen außen- und sicherheitspolitischen Bedenken bei Rüstungsexporten, sagen wir es mal höflich, nicht immer teilt. Trotzdem werden wir dieser Diskussion in Europa nicht ausweichen können, wenn wir es ernst meinen mit gemeinsamen Fähigkeiten und dem Aufbau einer gemeinsamen europäischen Rüstungsstruktur. Die Verankerung Deutschlands in Europa und im Nordatlantischen Bündnis beantwortet nicht jede Frage im Detail, aber sie sollte der Kompass für die Debatte der kommenden Jahre sein. Deutschland kann bei dieser beginnenden Diskussion um eine stärkere Europäisierung der Außen- und Sicherheits- und
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Verteidigungspolitik und in der Folge, nicht voranschreitend, sondern in der Folge, auch der Rüstungsindustrie seine Grundsätze durchaus selbstbewusst einbringen und darf nicht immer mit schlechtem Gewissen seinen Partnern gegenüber argumentieren. Zum Beispiel muss auch im Rahmen einer europäisierten Entscheidung über Rüstungsexporte die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland bei der Entscheidungsfindung eine herausragende Rolle spielen. Insbesondere dort, wo Rüstungsgüter zur inneren Repression, schlimmstenfalls zur Verfolgung von Bevölkerungsgruppen missbraucht werden, können wir Genehmigungen nicht erteilen. Wenn durch innere Repression friedliche Transformationsprozesse verhindert werden, besteht das Risiko, dass sich der Protest radikalisiert und irgendwann gewaltsam eskaliert. Dies trägt nicht zu Frieden und Stabilität bei – im Gegenteil. Die Unterdrückung von Protesten mag kurz- bis mittelfristig als stabilisierend wahrgenommen werden, langfristig betrachtet ist jedoch oft das Gegenteil der Fall. So wirkte schon das Regime von Präsident Hosni Mubarak in Ägypten für den Westen scheinbar stabil. Aber was wir gesehen haben, war eher „Stagnation als Stabilität“. Und gerade diese Stagnation hat die Proteste der jungen Generation ausgelöst, die das Regime erfolglos versucht hat niederzuschlagen. Von Bedeutung in dieser europäischen Debatte ist ebenso das Verhalten des Empfängerlands im Hinblick auf die Unterstützung oder Förderung des Terrorismus und die Einhaltung internationaler Verpflichtungen. Und selbstverständlich ist der Endverbleib sicherzustellen. Dazu sind Endverbleibserklärungen auszustellen, aber vor allen Dingen auch zu überwachen. In Deutschland arbeitet die Bundesregierung gerade daran, die Überwachung des Endverbleibs – gerade bei Kleinwaffen – deutlich zu verbessern. Ich bin überzeugt davon, dass diese Entscheidungen auch in Zukunft nicht einfacher werden. Die Vielzahl der Konflikte in der Welt wird dazu führen, dass wir zu Recht immer vorsichtiger werden, Waffen auszuführen. Die Zunahme sogenannter „substaatlicher“ Konflikte, sprich Bürgerkriege, zerfallende Staaten, ethnisch-religiöse Gewalt, stellt uns auch vor wachsende Probleme bei der Sicherung des Endverbleibs von Waffen. Eine Lieferung an einen Staat setzt immer dessen Garantie voraus, die Nichtweitergabe zu sichern. In Regionen aber, in denen Staaten nur noch eine Schimäre sind und bewaffnete Clans und Banden das Gewaltmonopol an sich gerissen haben, kann niemand mehr garantieren, wohin Waffen aus deutscher Produktion geraten. Für die Beurteilung ist auch entscheidend, ob ein Empfängerland mit Blick auf die Weiterverwendung und den Endverbleib eigentlich sicher ist. Handelt es sich also um eher inklusive Staaten, die versuchen, ihre Gesellschaft, auch wenn sie keine Demokratien und keine Westminster-Demokratien sind, sozusagen integrativ zu behandeln? Oder sind es keine inklusiven Staaten, die Minderheiten ausgrenzen und in der Tendenz eher Gefahr laufen, dass sie irgendwann zerfallen und wir dann nicht mehr wissen, was mit den Waffen passiert? Zurückhaltung und Vorsicht bei der
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Ausfuhr, das kann ich versichern, sind angesichts dieser Umstände auf allen politischen Seiten gewachsen. Lassen Sie es mich noch einmal mit größtmöglicher Klarheit formulieren: Ein offensiver Verkauf deutscher Waffentechnik überall auf der Welt – auch zur Kompensation zurückgehender Nachfrage der Bundeswehr und der NATO – ist weder mit der geltenden Rechtslage zu vereinbaren noch mit den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands. Aber zugleich müssen wir – und das ebenfalls mit großer Klarheit – feststellen, dass es natürlich legitime sicherheits- und bündnispolitische Interessen gibt, welche die Lieferung von Rüstungsgütern und Kriegswaffen rechtfertigen können. Ich jedenfalls kann nicht dazu raten, die Welt durch eine Wunschbrille einer vollständigen Entwaffnung zu betrachten. Es wird Menschen geben, die unter einer solchen Fiktion am Ende ihr Leben verlieren. Die Erfahrung sagt uns, dass die Fähigkeit, sich gegen Aggression zur Wehr zu setzen, unverzichtbar ist. Nichts anderes erleben wir ja gerade, was passiert, wen Menschen dafür keine Möglichkeiten besitzen. Auch diese Bundesregierung genehmigt Ausfuhren, wenn es um legitime Sicherheitsinteressen geht. Ich kann aber auch diese Fälle nicht abschließend aufzählen, denn jeder Einzelfall muss auch hier betrachtet und gewichtet sowie sicherheits- und bündnispolitisch eingeordnet werden. Daran kommen wir nicht vorbei. Und natürlich gibt es in der Praxis immer wieder Beispiele für einen aus unseren Sicherheitsinteressen heraus begründeten Export von Kriegswaffen. Nehmen wir das Beispiel Patrouillenboote: Ihre Ausfuhr in Drittländer kann sicherheitspolitisch durchaus vertretbar sein, wo sie einer Marine beim Schutz der Territorialgewässer vor Piratenangriffen, beim Kampf gegen Menschenhandel und Waffenschmuggel, übrigens auch beim Vorgehen gegen Raubfischerei helfen. Deutschland und seine Partner haben ein eigenes Interesse daran, Piraterie, Terrorismus und Proliferation von Waffen, wie sie im Nahen und Mittleren Osten auftreten, einzudämmen. Auch defensive Landesverteidigung und Grenzüberwachung zählen zu Interessen, die grundsätzlich legitim sind und der Stabilisierung regionaler Sicherheitslagen befördern. Es ist jedoch zu beachten, dass die Lieferung von Rüstungsgütern dabei lediglich ein Element im Rahmen einer Gesamtstrategie sein kann. Chancen und Risiken von Rüstungsexporten müssen genau geprüft und gegeneinander abgewogen werden. Die endgültige Entscheidung muss zur Gesamteinschätzung der Sicherheitslage im jeweiligen Land und in der Region passen. Einen besonderen Fall haben wir sicherlich, wo ganze Bevölkerungsgruppen akut bedroht sind und die Frage nach einer Pflicht der internationalen Staatengemeinschaft zum Schutz von Menschenleben gestellt ist. „Responsibility to Protect“ ist meines Erachtens ein ebenso anspruchsvolles wie schwierig handzuhabendes Konzept. Denn Fragen nach der völkerrechtlichen Legitimierung und der praktischen Leistbarkeit einer Schutzintervention dürfen hinter einer
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allgemeinen Empörung nicht zurückstehen. Nicht überall dort, wo es aus ethischen Erwägungen wünschenswert wäre, können wir auch in der Praxis helfen. Das ist eine schmerzhafte, aber unausweichliche Einsicht. Unüberlegter Interventionismus würde die aktive internationale Rolle Deutschlands heillos diskreditieren. Im Grundsatz aber gilt – und darauf kommt es mir hier an: Der Schutz elementarer Menschenrechte kann im besonderen Fall auch eine Lieferung von Waffen rechtfertigen. Mit Blick auf die deutschen Rüstungsexportregeln sage ich deutlich: Die Lieferungen an die Kurden im Norden des Irak, die der Abwehr einer fanatisch-grausamen Terrorbewegung wie dem sogenannten „Islamischen Staat“ dienen, sind weder ein Tabubruch und noch gar ein Widerspruch zu unseren Werten und zu den Regeln des Rechts. Genau diese besonderen sicherheitspolitischen Erwägungen spielen nämlich eine entscheidende Rolle. Ich sehe im Fall der unmittelbar bedrohten Kurden und Jesiden eine Nothilfe, die wir uns immer politisch offen halten müssen. Diese Nothilfe ist etwas völlig anderes, als Rüstungsgüter mit einem rein kommerziellen Interesse zu exportieren! Das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz übertragen dem Ministerium für Wirtschaft und Energie die Zuständigkeit für die Erteilung von Exportgenehmigungen. Wir tragen deshalb auch Verantwortung dafür, den betroffenen Unternehmen und ihren Beschäftigten klar zu sagen, unter welchen politischen Bedingungen die deutsche Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Zukunft arbeiten wird. Lassen Sie mich deshalb zum Ende meiner Ausführungen einige industriepolitischen Konsequenzen ziehen. Stärkung der Industrie Der Koalitionsvertrag von Union und SPD bekennt sich nicht nur zu einer restriktiven Waffenexportpolitik, sondern stuft zugleich die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie als eine Schlüsselbranche von nationalem Interesse ein, deren Kernkompetenzen und industrielle Fähigkeiten weiter entwickelt und deren Arbeitsplätze erhalten werden sollen. Beide Leitplanken – Restriktionen beim Waffenexport einerseits und das Ziel des Erhalts von Kernkompetenzen in der wehrtechnischen Industrie andererseits – bilden sozusagen den Korridor, in dem sich die deutsche Rüstungspolitik und Exportpolitik bewegen muss. Um das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel einer Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten und Kompetenzen in Deutschland zu gewährleisten, schlage ich die nachfolgenden zehn Punkte vor: 1. Die Festlegung wesentlicher nationaler Kernkompetenzen
Klare Bestimmungen über die Kernkompetenzen einer deutschen wehrtechnischen und Verteidigungsindustrie sind die Grundvoraussetzung für eine effektive Umsetzung der Koalitionsvereinbarung. Ich begrüße es deshalb sehr, dass
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die Bundesverteidigungsministerin diese Diskussion nun begonnen und erste Hinweise mit Blick auf die Festlegung wesentlicher nationaler Kernkompetenz gegeben hat. Der Deutsche Bundestag und auch die Bundesregierung werden allerdings zu diskutieren haben, ob die sehr schmale Festlegung des Verteidigungsministeriums auf informationstechnische Kernkompetenzen dem Auftrag des Koalitionsvertrags ausreichend Rechnung trägt. Je nach Umfang der Festlegung dieser Kernkompetenzen werden sich daraus natürlich erhebliche Folgerungen für das bundeseigene Beschaffungsprogramm und für alle noch zu diskutierenden europäischen Kooperationsmaßnahmen ergeben. Eines aber ist klar: Egal wie groß am Ende der Umfang eigener wehrtechnischer Kompetenzen sein soll, kann die Sicherung dieser Kernkompetenzen nicht durch die Ausweitung von Rüstungsexporten in Staaten und Regionen erfolgen, in die wir auf der Basis der vorhin genannten Grundsätze eben keine Exporte durchführen sollten. Die Sicherung der wehrtechnischen Industrie in Deutschland kann nicht durch die Lockerung des deutschen Exportregimes erfolgen! 2. Impulse durch die Beschaffungspolitik des Bundesverteidigungsministeriums
Die Große Koalition hat in ihrer mittelfristigen Finanzplanung den Etat des Verteidigungsministeriums verstetigt. Dies ist angesichts der Haushaltskonsolidierungsverpflichtungen der Bundesregierung, wie ich glaube, ein wichtiges und auch ein richtiges Signal. Aufgrund der hohen Etatbelastungen durch die großen Beschaffungsprogramme der vergangenen Jahre sind kurzfristig keine neuen Impulse zu erwarten. Diese Programme laufen allerdings größtenteils gegen Ende dieses Jahrzehnts aus. Vor diesem Hintergrund brauchen wir klare Festlegungen zur längerfristigen Ausgestaltung des Einzelplans 14 und insbesondere zur Höhe zukünftiger Investitionen. Überlegenswert ist, ob Mittel, die im Verteidigungshaushalt in einem Jahr nicht abgerufen werden können, nicht in den Folgejahren als Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden müssen, statt sie sozusagen am Ende des Haushaltsjahres einzukassieren. Diese Akzente sollten allerdings bald gesetzt werden, damit entscheidende Signale zur Zukunft der nationalen Verteidigungsindustrie frühzeitig erfolgen und die Unternehmen längerfristig Planungssicherheit bekommen. 3. Neue Anläufe für eine nationale Konsolidierung in der Verteidigungsindustrie
Die Reduzierung der Verteidigungsetats in zahlreichen Industriestaaten, der verstärkte internationale Wettbewerb, die Tendenz zu global agierenden Systemhäusern, aber auch neue Absatzmärkte mit erheblichem Investitionsbedarf werfen die Frage nach neuen Konsolidierungserfordernissen auf. Zum Erhalt notwendiger nationaler Kernkompetenzen auf längerfristiger wirtschaft-
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licher Basis brauchen wir eine verstärkte Konsolidierung in der nationalen Verteidigungswirtschaft. Hier allerdings sind in erster Linie die Unternehmen selbst gefordert. Die Politik kann diese Konsolidierung nur begleiten. Eine stärkere Konsolidierung in der nationalen Verteidigungsindustrie würde die Perspektiven für eine aktivere Mitgestaltung bei europäischen und internationalen Kooperationsvorhaben spürbar erhöhen, und vor allen Dingen sozusagen die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt verbessern. 4. Wir brauchen verstärkte europäische und internationale Industriekooperationen.
Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den „Luxus“ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z.B. im U-Boot-Bereich. Hier kommt es durch den Verkauf der schwedischen Produktionsanlagen von ThyssenKrupp sogar zu einer „Re-Nationalisierung“. Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen. Die Bündelung technologischer Stärken wird die wirtschaftliche Bedeutung europäischer Projekte auch im internationalen Wettbewerb entscheidend erhöhen. Eine Reihe von Ländern verlangen bei größeren Beschaffungsvorhaben den Abschluss von Government-to-Government-Verträgen. Die wesentlichen Wettbewerber der deutschen Industrie im Ausland können hier bislang mit einer größeren Unterstützung ihrer Regierungen rechnen als deutsche Unternehmen. Die Bundesregierung sollte nach meiner Überzeugung prüfen, ob sie in Zukunft auch vergleichbare Verträge in enger Abstimmung mit den betreffenden deutschen Unternehmen bei ausländischen Beschaffungsvorhaben anbieten kann. 5. Stärkung des europäischen Rahmens für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie
Angesichts sinkender Verteidigungshaushalte, immer komplexerer Entwicklungsvorhaben und steigender Kosten wird das Ziel verstärkter europäischer Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie immer dringlicher – sowohl im NATO-Rahmen als auch in der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik in Europa. Es ist erklärtes Ziel der EU und der Bundesregierung, den bisher stark zersplitterten europäischen Verteidigungsmarkt neu zu gestalten und die europäische wehrtechnische industrielle Basis zu stärken. Die starke und wettbe-
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werbsfähige deutsche Industrie könnte von einer solchen Entwicklung deutlich profitieren. Eine substanzielle Stärkung des europäischen Rahmens wäre vor allem ein kraftvoller und willkommener Schub bei der Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Europa braucht eine eigene, umfassende und leistungsfähige Industriebasis, wenn wir gemeinsam sicherheitspolitisch Verantwortung ernst nehmen und Europa als politische Gestaltungsmacht etablieren wollen. Die EU hat in den vergangenen Jahren durchaus wichtige Akzente zur Entwicklung gesetzt und arbeitet derzeit an der Umsetzung der Aufträge des Europäischen Rates. Hierzu hat die EU-Kommission im Juni 2014 eine „Roadmap“ vorgelegt: Im Mittelpunkt stehen Forschungs-, Entwicklungs-, Innovationsförderung, Standardisierung und Zertifizierung. Als konkrete Felder für eine verstärkte europäische Zusammenarbeit wurden vom Europäischen Rat Luftbetankung, Cyber-Abwehr, unbemannte Flugsysteme und Satellitenkommunikation genannt. Der Rat wird den Stand der Umsetzungsarbeiten und die Ergebnisse der bisherigen Konsolidierungsprozesse im Juni 2015 bewerten. Eine stärker europäisch ausgerichtete Verteidigungsindustrie braucht natürlich klare Standards in der Exportpolitik. Darauf hatte ich schon hingewiesen. Im Kern geht es darum, die Anwendung des Gemeinsamen Standpunkts der EU betreffend gemeinsamer Regeln für die Exportkontrolle weiter anzugleichen, ohne dadurch die Substanz der Politischen Grundsätze von 2000 in Deutschland zu gefährden. Das Wirtschaftsministerium, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium sollten in den kommenden Monaten – möglichst mit EU-Partnern – Initiativen starten, um die europäischen Prozesse im Sinne unserer außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen noch aktiver voranzutreiben. 6. Exportpolitische Flankierung für die Verteidigungsindustrie
Die Bundesregierung sollte die Industrie stärker als bisher in ihren Aktivitäten mit EU-, NATO- und NATO-gleichgestellten Ländern unterstützen. Die NATO hat 28 Mitgliedstaaten. Sie zusammen geben 880 Milliarden Dollar für die Verteidigung aus. Hinzu kommen fünf EU-Länder, die nicht Mitglied der NATO sind – zusammen also 33 formale Bündnispartner. Auch Indien und Brasilien sind strategische Partner für Deutschland und Europa. In all diese Demokratien mit ihren großen Volkswirtschaften und Verteidigungsetats können die deutsche und die europäische wehrtechnische Industrie liefern.
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7. Neue Chancen in den Wachstumsmärkten der zivilen Sicherheitswirtschaft nutzen
Die Märkte für zivile Sicherheitstechnologien und -dienstleistungen haben im vergangenen Jahrzehnt weltweit stark an Bedeutung gewonnen. Deutsche Unternehmen nehmen dabei in zahlreichen Segmenten führende Positionen ein. Dazu gehören auch Firmen, deren Haupttätigkeiten im Verteidigungsbereich liegen. Die globalen Wachstumstrends werden sich auf längere Sicht fortsetzen. Gleichzeitig sind neue Märkte mit erheblichen Perspektiven in den vergangenen Jahren entstanden: Beispiele dafür sind der Katastrophenschutz, die Sicherheit bei Sportgroßereignissen oder der Schutz von Liefer- und Logistikketten. Noch immer fehlen umfassende Antworten zu neuen Herausforderungen wie Smart Cities oder Cyber Security. Für zahlreiche Unternehmen der deutschen Verteidigungsindustrie liegen in diesen neuen Feldern große Chancen, die es zu nutzen gilt. Das BMWi unterstützt mit seinem industriepolitischen Konzept „Zukunftsmarkt zivile Sicherheit“ bereits seit dem Jahr 2010 Aktivitäten deutscher Unternehmen in diesen neuen Märkten. Wir sind bereit, diese Konzeption zusammen mit der Industrie zu einem umfassenden Instrument der Diversifizierung weiterzuentwickeln und auch Mittel zur Verfügung zu stellen. 8. Ausbau der Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsförderung
Das BMWi wird 2015 ein neues Innovationsprogramm zur Unterstützung der Diversifizierungsstrategien von Unternehmen der Verteidigungswirtschaft in die zivile Sicherheit starten. Es ist zunächst ein Volumen von zehn Millionen Euro im Jahr vorgesehen. Die Umsetzung und Durchführung sollen in enger Zusammenarbeit mit dem Forschungsministerium, dem Innenministerium und dem Verteidigungsministerium erfolgen. Das zivile Sicherheitsforschungsprogramm der Bundesregierung sollten wir bis 2020 verlängern. Es soll möglichst eng mit dem neuen praxisorientierten Innovationsprogramm des Wirtschaftsministeriums verzahnt werden. Und auch die Bestrebungen der EU-Kommission, die Forschungsförderung in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu erhöhen, sollte Deutschland aktiv unterstützen. 9. Stärkere Unterstützung für kleine und mittelständische Unternehmen
Der wehrtechnische Mittelstand ist Rückgrat und wichtiger Innovationsmotor der deutschen Sicherheits- und Verteidigungswirtschaft. Mittelständische Unternehmen leisten sowohl eigenständig als auch im Verbund mit anderen
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Mittelständlern und als Partner der Systemhäuser wertvolle und unverzichtbare Beiträge. Deshalb betont der aktuelle Koalitionsvertrag ausdrücklich die besondere Rolle des Mittelstands für eine innovative, leistungs- und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie. Ein Hauptaugenmerk sollten wir darauf legen, dass wir die Beteiligung des Mittelstands bei Beschaffungsvorhaben der Bundeswehr und anderer öffentlicher Institutionen durch unbürokratische Verfahren verbessern, und nicht erschweren. Auch in der Forschungs- und Technologieförderung brauchen wir national und europäisch weniger bürokratische Verfahren und vor allem eine aktivere Informationspolitik über die jeweils relevanten Fördermaßnahmen. Das Verteidigungsministerium und das Wirtschaftsministerium werden sicher über dies gemeinsam zu entscheiden haben und vor allen Dingen prüfen, ob und wie aktuelle Finanzierungsengpässe des Mittelstands überbrückt werden können. 10. Förderung des gesellschaftspolitischen Dialogs
Die Bundesregierung hat mit umfassender Transparenz die zentrale Voraussetzung für diesen Dialog geschaffen. Wir brauchen aber darüber hinaus jetzt eine breite gesellschaftliche Plattform, die zur Diskussion der Rolle der Verteidigungswirtschaft einlädt. Wir dürfen nicht so tun, als sei das ein Schmuddelthema, sondern wir müssen es binden an die Sicherheitsund Außenpolitik. Nicht nur Vertreter der Industrie und der Politik, auch Diplomatie, Militär, Wissenschaft und vor allem auch kritische gesellschaftliche Gruppen sollten daran teilnehmen. Auf diese zehn Punkte will ich die Arbeit meines Hauses konzentrieren. Wichtig ist mir dabei, dass Auswärtiges Amt, Bundesverteidigungs- und Bundeswirtschaftsministerium gemeinsam handeln. Darauf hatten Sie hingewiesen. Gemeinsam sollten diese Ressorts eine Strategie für Sicherheits- und Verteidigungsindustrie entwickeln. Nur auf diesem Wege erreichen wir eine notwendige Wiederverankerung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in der Gesellschaft, die ja zurzeit sicher in weiten Teilen fehlt. Das ist nicht einfach! Und dennoch hoffe ich, dass wir auch mit Ihrer Hilfe und Ihren Beiträgen aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik eine aufgeklärte öffentliche Debatte über dieses schwierige Thema anstoßen und führen können. In einem gemeinsamen Brief mit Frank-Walter Steinmeier habe ich unlängst davon gesprochen, dass „die Welt aus den Fugen geraten“ ist. Die Rückkehr auch militärisch ausgetragener Konflikte nach Europa, die heute offene Frage, ob Russland künftig Partner oder Gegner sein wird, die fortdauernden Erschütterungen im Nahen Osten – das alles gibt zur Sorge reichlich Anlass.
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Diese Analyse macht es weder für die Politik noch für die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie einfach, verlässliche Planungen für die Zukunft zu machen. Gerade deshalb aber ist es unsere Aufgabe, die offene, ehrliche und vorausschauende Debatte zu beginnen. Wir sollten das manchmal grelle Licht der Öffentlichkeit in Sachen Rüstung wirklich nicht scheuen. Ich glaube, dass alle Beteiligten davon profitieren, aktiv die öffentliche Debatte zu suchen. Natürlich die Industrie, die sich besser einstellen kann auf die politischen Rahmenbedingungen, sei es die Modernisierung bei der Beschaffung für die Bundeswehr, sei es bei der Ausfuhr von Gütern. Aber auch unsere internationalen Partner, die zu Recht erwarten, dass die deutsche Politik „lesbar“ für sie ist und berechenbar bleibt. Nicht zuletzt gewinnt die sicherpolitische Meinungsbildung in Deutschland an Profil und Tiefenschärfe. Unser Land ist wirklich eine reife Demokratie und ein geschätzter Partner in internationaler Verantwortung. Wir dürfen uns zutrauen, ein aufgeklärtes Verhältnis zu unseren Sicherheitsinteressen und auch zu unseren militärischen Fähigkeiten zu entwickeln. Ich freue mich, mit Ihnen nun zu diskutieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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Im Auftrag der Menschenrechte Markus Löning Als der damalige Bundesaußenminister Guido Westerwelle mich Anfang 2010 fragte, ob ich Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung werden möchte, war ich ziemlich überrascht. Von 2002 bis 2009 hatte ich mich im Bundestag mit Entwicklungs- und später mit Europapolitik beschäftigt. Für die FDP habe ich mehrere Jahre den Bundesfachausschuss zur Außenpolitik geleitet. Dabei spielten natürlich auch Menschenrechtsfragen eine Rolle, standen aber nie im Zentrum. Es sollten vier sehr spannende und bereichernde Jahre werden. Menschenrechtspolitik war für mich immer ein Teil der deutschen Außenpolitik. Die weltweite Durchsetzung der Rechte jedes Menschen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind, hat einen besonderen Platz. Dennoch kann sie nicht losgelöst vom Rest deutscher Politik gedacht werden und bezieht einen Teil ihrer Stärke aus dem politischen Gewicht Deutschlands. Allerdings glaube ich, dass Deutschland auch in diesem Bereich unter seinem Gewicht boxt. Menschenrechtspolitik muss mehr Durchschlagskraft entwickeln. Dazu muss ihre Begründung weiterentwickelt werden. Wir verzichten auf Soft Power, weil wir Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht stärker als unsere politischen Ziele benennen. Warum machen wir Menschenrechtspolitik? Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung war eine Erfindung von Bündnis 90/Die Grünen. Mit dem Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahr 1998 wurde er installiert. Er sitzt außerhalb der normalen Hierarchie im Auswärtigen Amt. Weder ist er weisungsgebunden noch kann er Weisungen erteilen, aber er kann das Know-how und die Infrastruktur des Auswärtigen Amtes nutzen. Als politisches Amt ist es in dieser Form weltweit einmalig. Warum hat ausgerechnet Deutschland solch ein Amt und was ist die Begründung dafür, eine spezifische Menschenrechtspolitik zu machen?
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Historische Begründungen, die wir uns selbst geben
In der innerdeutschen Debatte wird meistens die historische Begründungskarte gezogen. Es wird auf die Nazi-Vergangenheit Deutschlands verwiesen und auf die daraus resultierende moralische Verpflichtung, sich für Menschenrechte weltweit zu engagieren. Schließlich ist der westdeutsche Rechtsstaat ja auch erst durch Intervention von außen möglich geworden. Die Auseinandersetzung mit den schweren Menschenrechtsverletzungen der Nazizeit hat zu einer hohen Sensibilität für Menschenrechtsfragen geführt – allerdings manchmal durchaus mit einem kleinen Hang zur Selbstgerechtigkeit. Das zweite geschichtliche Standbein für eine deutsche Menschenrechtspolitik ist die Zeit der SED-Diktatur. DDR-Dissidenten bekamen wenig Hilfe und Unterstützung aus dem Westen, weit weniger als möglich gewesen wäre. Wer im Westen Forderungen nach Demokratie im Osten unterstützte, setzte sich dem Verdacht aus, ein Kalter Krieger zu sein. Im Nachhinein beschämend gerade für diejenigen, die gesellschaftliche Öffnung und Demokratisierung in der Bundesrepublik vorantrieben, Verletzungen elementarer Menschenrechte in der DDR aber nicht sehen wollten. Der Verweis auf die eigene Geschichte als Begründung von Politik trägt gegenüber Dritten allerdings nur sehr beschränkt. Er wird oft misstrauisch beäugt und als Verschleierung anderer Motive wahrgenommen. Manche Gesprächspartner sehen darin auch schlicht moralisch überheblichen Paternalismus. Das trägt nicht zur Durchsetzungskraft deutscher Menschenrechtspolitik bei. Die Begründung, die unserer Politik von außen zugeschrieben wird
Von außen stellt sich die Begründung für eine deutsche und europäische Menschenrechtspolitik anders dar. Große Dankbarkeit für offene Worte habe ich gerade von Bürgerrechtlern in China immer wieder gehört. „Ihr könnt Dinge sagen, für die wir ins Gefängnis kämen, und ihr könnt sie den politisch Verantwortlichen direkt sagen. Eure Botschaft kommt an, lasst euch nicht täuschen. Die Machthaber wissen, dass ihr Recht habt.“ Damit war auch immer die Aufforderung verbunden, weiterhin Dinge anzusprechen, die chinesische Regierungsvertreter nicht hören wollen. Genau so ist mir Enttäuschung entgegengeschlagen. Dass Deutschland oder die EU sich oft nicht einmal gegenüber Ländern des Europarats in der Lage gesehen haben, deutliche Worte zu finden, führt zu maßloser Enttäuschung bei Menschen, die sich unter persönlicher Gefahr in osteuropäischen Ländern für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Feigheit und Zynismus lauten die Vorwürfe. „Ihr lebt in freien Ländern, ihr habt die Möglichkeit, euch ohne Gefahr für die einzusetzen, die diese Freiheit auch wollen. Tut es!“ So lautet die manchmal fast verzweifelte Aufforderung. Diesem hohen Erwartungsdruck können weder die Bundesregierung noch die Europäische Union ausweichen. Er spiegelt sich auch in der Erwartungshaltung
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der eigenen Zivilgesellschaft wider. Zwei Drittel der Deutschen halten den Schutz der Menschenrechte für die wichtigste Aufgabe deutscher Außenpolitik. Die Medien räumen Menschenrechtsfragen in ihrer Berichterstattung großen Raum ein. Deutschland und die EU werden stark über Wohlstand und das hohe Schutzniveau für Bürger wahrgenommen. Der Besuch eines europäischen Abgeordneten oder Regierungsvertreters im Gefängnis, eine Nachfrage bei Regierungen oder öffentliche Erklärungen stellen für politische Aktivisten wertvolle Unterstützung dar. Und diejenigen, die für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie kämpfen, erwarten Hilfe von den Vertretern freier Länder. In allen Gesprächen, die ich in den verschiedensten Ländern führte, wurde das immer wieder sehr deutlich. Wir sind frei auszusprechen, was wir denken. Diese Freiheit zu nutzen, um denen zu helfen, die diese Freiheit nicht haben, wird als unsere Aufgabe und Verpflichtung angesehen. Die Begründung, die wir in Zukunft stärker hervorheben sollten
Diese beiden Begründungen sind vor allem moralische Verpflichtungen. Politische Gesprächspartner werden – gewöhnt an den Zynismus von Interessenpolitikern – stets eine versteckte Agenda vermuten und unseren Anliegen misstrauen. Wenn wir Menschenrechtspolitik ernst nehmen und mehr tatsächliche Verbesserungen erreichen wollen, müssen wir sie vom Odium des reinen Altruismus befreien. Wir sollten aussprechen, dass es bei der Formulierung und Umsetzung deutscher und europäischer Menschenrechtspolitik auch um unsere Interessen geht. Eine pragmatische, an Interessen orientierte Begründung für eine politische Forderung wird ernster genommen. Sie erzeugt beim Gesprächspartner auch nicht das unangenehme Gefühl, wir würden uns moralisch über ihn erheben. Eine auf Interessen basierende Begründung hilft auch, die Menschenrechte in allen Bundesministerien stärker zu verankern und neben Menschenrechtsgruppen und Medien weitere Unterstützer für eine vernünftige Menschenrechtspolitik zu gewinnen. Welche deutschen Interessen werden durch eine starke Menschenrechtspolitik gestützt? Der Kampf gegen den Klimawandel oder den Terrorismus, globale Handelsbeziehungen, Fragen von Abrüstung und regionaler Stabilität sind nur im globalen Kontext und kooperativ zu lösen. Deswegen brauchen wir auf der globalen Ebene belastbare Beziehungen zu möglichst vielen – leider auch autoritären – Staaten. Als gewählte Regierung braucht die Bundesregierung für ihre Politik richtigerweise den Rückhalt der Bevölkerung. Beziehungen zu autoritären
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Regierungen werden in unserer Öffentlichkeit kritisch gesehen. Die menschenrechtliche Bilanz von Ländern wie China oder Saudi-Arabien steht einer Vertiefung der Beziehung insofern im Weg. Denn jede deutsche Regierung sieht sich richtigerweise einem Rechtfertigungszwang gegenüber der Öffentlichkeit ausgesetzt. Dieser Druck sollte unvermindert weitervermittelt werden. Nach meiner Erfahrung ist öffentlicher Druck ein Argument, das auch von Politikern in autoritären Staaten verstanden und ernst genommen wird. Die Freilassung Ai Weiweis vor den deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen im Herbst 2011 ist ein gutes Beispiel dafür. Seine Verhaftung kurz nach der Eröffnung der Ausstellung zur Kunst der Aufklärung durch den damaligen Außenminister Westerwelle im März 2011 hatte zu einer breiten, sehr kritischen Diskussion in den deutschen Medien geführt. Im April veröffentlichten ungefähr 100 Vertreter aus Kultur und Wirtschaft den Berliner Appell zur Freilassung Ai Weiweis. Bei einem Besuch im Mai habe ich in Peking gegenüber den Medien von einer Belastung der deutsch-chinesischen Beziehungen gesprochen. Auf vielen Kanälen wurde der chinesischen Regierung dieselbe Botschaft vermittelt. Der chinesischen Regierung wurde offensichtlich deutlich, dass sie bei ihrem Besuch in Deutschland mit Demonstrationen und einer Medienlage rechnen musste, die sich sehr stark um Ai Weiweis Haft drehen würde. Die Atmosphäre wäre belastet und die Handlungsräume der Bundesregierung, die Beziehungen zu China weiter zu vertiefen, wären kleiner gewesen. Daraufhin wurde Ai Weiwei im Juni unter Auflagen aus der Haft entlassen. Nach Ai Weiweis eigener Einschätzung wäre er ohne den unbedingten Willen des scheidenden chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao, erfolgreiche Regierungskonsultationen durchzuführen, und den Druck aus Deutschland nicht frei gekommen. Die Regierungskonsultationen wurden letztlich erfolgreich durchgeführt. Im selben Zuge konnten wir auch eine Neuauflage des Menschenrechtsdialogs durchsetzen. Wie gut Wen Jiabao und die chinesische Regierung jenseits dieses konkreten Falles verstanden haben, wie wichtig eine Verbesserung der Menschenrechtslage auch für die Verbesserung der deutsch-chinesischen Beziehungen ist, kann ich nicht beurteilen. Das hier beschriebene Beispiel ist aber durchaus typisch. Immer wieder habe ich erlebt, dass autoritäre Länder bereit sind, sich im Menschenrechtsbereich zu bewegen, wenn sie ihre Interessen berührt sahen. Das erfordert aber auch ein kohärentes und entschlossenes Auftreten der Bundesregierung. Eine funktionierende, unabhängige Justiz ist für den Schutz der Menschenrechte unabdingbar. Nur sie kann den Einzelnen vor Willkür und Übergriffen schützen. Das gilt auch für die Wirtschaft. Schutz von Investitionen, Rechtssicherheit bei Verträgen und unabhängige Gerichte bei zivilrechtlichen Auseinandersetzungen sind wesentliche Voraussetzungen für langfristig erfolgreiche wirtschaftliche Kooperation. Gesetze, die von der Verwaltung konsistent angewendet werden und verlässlich einklagbar sind, verbessern den
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Schutz vor Willkür und Korruption und damit die Bedingungen für Handel und Investitionen. Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur eine Forderung weltfremder Bürgerrechtsliberaler, sondern handfeste Voraussetzung für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Dass Deutschland Interesse an einer Vertiefung wirtschaftlicher Beziehungen hat, glaubt uns jede Regierung weltweit. Fast immer trifft das auch das Interesse der Gegenseite. Wenn wir den Wunsch nach einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen eng mit der Forderung nach einer funktionierenden Justiz, dem Schutz von Rechten und einer konsistenten, unabhängigen Rechtsprechung verknüpfen, gibt uns das schlicht einen größeren Hebel bei der Durchsetzung von Menschenrechten. Spätestens seit der Verabschiedung der „UN-Prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ stehen Unternehmen unter erhöhtem Druck sicherzustellen, dass in ihren Lieferketten keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Berichte über Kinderarbeit oder andere Verstöße wirken verheerend auf Reputation, Umsatz und Aktienkurse und zerstören aufgebaute Markenwerte. Verbraucher, Geschäftskunden und institutionelle Anleger verlangen Transparenz und Lieferketten im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards. Menschenrechtsfragen entwickeln sich zu Fragen der Wettbewerbsfähigkeit. Die Möglichkeiten der Wirtschaft, auf staatliche Strukturen in Lieferländern einzuwirken, sind aber ziemlich begrenzt. Es ist klar im deutschen Interesse, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und damit Arbeitsplätze zu schützen. Auch hier wäre eine engere Verknüpfung wirtschaftlicher Anforderungen und menschenrechtlicher Ziele erfolgversprechend. Nicht nur, dass Zollpräferenzen und andere Handelsinstrumente enger an menschenrechtliche Ziele geknüpft werden müssen. In allen Gesprächen muss die Bundesregierung klar machen, dass deutsche und europäische Unternehmen unter großem Druck von Öffentlichkeit, Verbrauchern und institutionellen Anlegern stehen. Es entsteht zunehmend ein direkter Zusammenhang von menschenrechtlichen Standards und der Position auf dem Weltmarkt. Ich habe selbst in Asien einzelne Unternehmen gesehen, die diesen Zusammenhang bereits verstanden haben und Produktion unter Einhaltung internationaler Standards anbieten. Das beschert ihnen volle Auftragsbücher. Die Politik kann jenseits dieser Einzelfälle strukturelle Veränderungen voranbringen, wenn sie die enge Verknüpfung von bilateralem Handelsvolumen und Menschenrechten deutlich macht. In all den Jahren, in denen ich unterwegs war, habe ich nie einen Politiker getroffen, der nicht an einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen interessiert war. Die deutsche Politik hat hier ein hervorragendes Argument in der Hand. Sie sollte es stärker nutzen. Wir sollten uns zudem öfter daran erinnern, wie sehr die EU-Osterweiterung Deutschland genutzt hat. Mit wem haben wir ökonomisch und politisch die besten Beziehungen? Ohne Zweifel mit demokratischen Rechtsstaaten, wie sie
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nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den meisten osteuropäischen Ländern entstanden sind. Offene und freie Gesellschaften entwickeln sich wirtschaftlich besser und sind interessantere Handelspartner. Der Vergleich zwischen Polen und der Ukraine ist frappierend: Ausgehend vom gleichen Niveau beim Fall des Eisernen Vorhangs erwirtschaften die Polen inzwischen ein drei Mal so hohes Bruttosozialprodukt pro Kopf. Das ist für Deutschland nicht nur ökonomisch interessant, vor allem wirkt es stabilisierend auf die politische Situation in unserem Nachbarland Polen. Wir haben mit der EU-Osterweiterung politisch verlässliche und wirtschaftlich interessante Partner gewonnen. Die Lehre daraus ist zwingend: Die Türkei, die Ukraine oder Russland auf dem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft wären für uns in jeder Beziehung besser. Unser Interesse an stabilen und prosperierenden Nachbarländern ist besonders hoch, aber letztlich gilt es praktisch für jedes Land, mit dem wir Beziehungen pflegen. Bei einigen Ländern mag der Weg noch sehr weit sein. Trotzdem sollten wir das Ziel im Auge haben und auch öffentlich klar benennen. Auch wenn autoritäre Regierungen es nicht zugeben werden, wissen sie, dass wir aus wohlverstandenen eigenen Interessen handeln, wenn wir uns für Rechtsstaat und Demokratie einsetzen. Menschenrechtspolitik als integraler Teil der Außenpolitik Menschenrechtspolitik steht nicht alleine, sondern ist Teil einer komplexen deutschen und europäischen Außenpolitik. Wie die auswärtige Kultur- oder Wirtschaftspolitik, die globale Umwelt- oder Sicherheitspolitik ist sie Teil eines Ganzen. Das bedeutet für alle Bundesministerien, die Außenbeziehungen pflegen, dass sie menschenrechtliche Fragen stärker aufnehmen müssen. Es bedeutet aber auch für die Menschenrechtspolitik, dass sie sich als Teil des Ganzen sehen muss. Und nur in diesem Gesamtkontext entwickelt Menschenrechtspolitik mehr Gewicht. Die Hauptaufgabe des Menschenrechtsbeauftragten ist es, unangenehme Gespräche in schwierigen Ländern zu führen. In vielen dieser Länder bekommt er nur Termine auf Ministerebene, weil er die deutsche Regierung vertritt. So manches Argument würde leichtfertig weggewischt, käme es nicht vom Vertreter eines politisch wichtigen Landes. Und das deutsche politische Gewicht speist sich nicht aus moralischer Überlegenheit oder Rechthaberei, sondern aus wirtschaftlicher Stärke, politischer Verlässlichkeit und unserem Einfluss in der EU. Wer das bei Gesprächen nicht einsetzt, spielt unter seinen Möglichkeiten. Gleichzeitig erzwingt die Einbindung in das politische Gesamtkonzert aber auch Verbindlichkeit im Auftreten. Es ist leicht, sich in strittigen Fragen gegen die eigene Regierung zu stellen. Das garantiert innenpolitische Schlagzeilen. Es garantiert aber auch einen Gewichtsverlust nach außen. Nur wer unbestritten die Regierung hinter sich hat, entfaltet Wirkung. Den Menschenrechtsbeauftragten
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im Auswärtigen Amt zu belassen, ihn aber zum Staatsminister mit Kabinettsrang zu machen, würde sein Gewicht noch einmal deutlich erhöhen. Die deutsche Zivilgesellschaft ist eine Stärke Abfällige Bemerkungen über „gutmenschliche“ Naivität hört man von Altkanzlern und anderen vermeintlichen „Realpolitikern“. Mich hat diese zynische Art, Dinge zu sehen, immer gestört. Es liegt darin eine durch nichts gerechtfertigte Überheblichkeit gegenüber Menschen, die sich für eine bessere Welt engagieren. Zudem ist es dumm, aus vorhandenem zivilgesellschaftlichem Engagement keine Stärke zu machen. Unser Land hat eine aktive Zivilgesellschaft, viele Bürgerinnen und Bürger engagieren sich für den Schutz von Menschen weltweit. Viele deutsche und internationale Nichtregierungsorganisationen haben sich in den letzten Jahren enorm professionalisiert. Wo früher vielleicht die engagierte Empörung dominierte, herrschen inzwischen Sachkenntnis und professionelle Recherche. Die deutsche Zivilgesellschaft hat einen sehr breiten Kenntnisschatz über Situationen in vielen Ländern weltweit. Sie kann der „offiziellen“ Politik Einsichten und Zugänge zu Personen vermitteln, die über diplomatische Kanäle oft nicht zu gewinnen sind. Gerade in autoritären Ländern ist die Informationsfreiheit eingeschränkt. Zur Gesamtbeurteilung der Lage ist es aber unerlässlich, verschiedene Perspektiven in die Bewertung einzubeziehen. Nur ein vollständiges Bild kann Grundlage von vernünftigen politischen Entscheidungen sein. Die Konsultationen und der regelmäßige Austausch mit der Zivilgesellschaft sollte zum Nutzen und zur Stärkung der Politik weiter etabliert und ausgebaut werden. Schlussbemerkung Menschenrechtspolitik sollte immer davon getrieben sein, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Das heißt aber nicht, dass man sie nicht auch mit Interessen verknüpfen und begründen kann. Im Gegenteil: Wenn es gelingt, Menschenrechtspolitik pragmatischer zu begründen und mehr Mitstreiter zu gewinnen, kann am Ende mehr erreicht werden.
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BMVg: Mit Autokratien umgehen Géza Andreas von Geyr1 Die strategische Ausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss kontinuierlich dem wandelnden sicherheitspolitischen Umfeld angepasst werden. Allein der Blick in die täglichen Nachrichten verdeutlicht, dass die Dichte und die Parallelität der für Deutschland und seine Partner sicherheitspolitisch relevanten Ereignisse zunehmen. Deutschland, als global vernetztes und vielfältig abhängiges Land, hat ein vitales Interesse, internationale Stabilität zu gewährleisten – bei uns in Europa, im atlantischen Raum, in unserer Nachbarschaft und zunehmend auch in weit entfernten Weltregionen. Auch für uns gibt es immer weniger weiße Flecken auf der sicherheitspolitischen Landkarte, immer mehr Aufgaben drängen nach diplomatischem, entwicklungspolitischem und auch militärischem Engagement. Um unserer Verantwortung gerecht zu werden, ist auch der international mit unseren westlichen Partnern sowie national zwischen den maßgeblichen Ressorts abgestimmte sicherheitsund werteorientierte Umgang mit Autokratien sinnvoll und zielführend. Sicherheitspolitische Ausgangslage Der Krisenbogen von West- und Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Afghanistan und Pakistan hat uns verdeutlicht, dass erstens die sicherheitspolitischen Entwicklungen hoch komplex und gleichzeitig wenig vorhersehbar bleiben. Die Vielzahl von transnationalen Risiken für die Sicherheit Europas, die aus diesen Gebieten hervorgehen, reichen von Terrorismus und organisierter Kriminalität, über Migrationsbewegungen bis hin zu den überregionalen Auswirkungen regional destabilisierender Krisen. Angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der fortgesetzten Versuche Russlands, die Ukraine zu destabilisieren, mussten wir mit unseren Partnern in der NATO und EU zweitens feststellen, dass auch eine militärische Bedrohung der Sicherheit Europas nicht auszuschließen ist. 1
Der Autor gibt in diesem Artikel seine persönliche Meinung wieder.
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Das Modell der „hybriden Kriegsführung“, das Militärisches mit Propaganda, Unterwanderung, Instrumentalisierung von Bevölkerungsgruppen, wirtschaftlichem Druck und vielem mehr kombiniert und erst im späten Gesamtblick den agressiven Charakter offenbart, verlangt von uns Anpassungen – bis hin zum besseren Verständnis einer wirksamen Abschreckungspolitik der Allianz. Jenseits des notwendigen Fokus auf die strategischen Räume in der europäischen Nachbarschaft dürfen wir drittens auch die Lage in entfernten Regionen, etwa in Asien – besonders in Südostasien – nicht aus den Augen verlieren. Als Handelsnation hat Deutschland ein großes Interesse an Stabilität in der Region, an sicheren Seewegen und an der friedlichen Beilegung von Gebietsstreitigkeiten im Rahmen des Völkerrechts. Hinzu kommen schließlich viertens die sogenannten neuen Risiken, etwa Cyberangriffe sowie Ressourcenfragen wie der Nexus zwischen Wasser, Energie und Nahrung und dessen direkte Auswirkungen auf unsere Sicherheit. Es zeichnet sich ab, dass eine wesentliche Zukunftsaufgabe internationaler Sicherheitspolitik darin bestehen wird, den fairen Zugang zu knapper werdenden Ressourcen zu gewährleisten. Insgesamt scheinen die Handlungsmöglichkeiten europäischer Sicherheitspolitik durch die doppelte Herausforderung -– eines Russlands, das etablierte Regeln beiseite wischt, und eines Krisenbogens, dessen Konfliktebenen sich in ihrer Komplexität unlösbar darstellen – massiv gefordert. Vorausschauendes und umfassendes Handeln Um den Risiken und Bedrohungen zu begegnen, bedarf es eines präventiv wirkenden, gesamtstaatlichen Handlungsansatzes, der möglichst alle sicherheitspolitischen Instrumente integriert. Dieser vernetzte Ansatz umfasst mehrere Ebenen. Wir brauchen die Vernetzung von Diplomatie, Entwicklungspolitik und Militär in Deutschland, aber auch eine Vernetzung auf der internationalen Ebene. Diese „doppelte Vernetzung“ ermöglicht gemeinsames Denken und Handeln. Dabei verlangt die Einbindung Deutschlands in kollektives Handeln mit Partnern und Verbündeten sowie die immer nötiger werdende partnerschaftliche Entwicklung von Fähigkeiten eine Grundhaltung deutscher Sicherheitspolitik, die offen ist für gemeinsames Analysieren, Entscheiden und Handeln – soweit letzteres unseren sicherheitspolitischen Interessen und Möglichkeiten entspricht. Dabei müssen wir uns auch über unser Verhältnis zu autoritären Staaten im Klaren sein, die oftmals Teil der sicherheitspolitischen Problemlagen, gelegentlich aber auch Teil der Lösungen sein werden. Die schwierige Balance, die im Verhältnis zu Autokratien angestrebt werden muss, liegt darin, einerseits die Beziehungen so zu gestalten, dass ein Mehr an Sicherheit für uns und unsere Partner entsteht und wir andererseits aber auch die Werte, auf die wir unsere vernetzte Sicherheit bauen, in dieses Verhältnis bewusst einbringen.
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Wettbewerb der Systeme? Generell wird mit Blick auf die internationale Gemeinschaft deutlich, dass die Kategorie Autokratien in der realen Welt in vielfältigen Formen auftritt. Merkmale, anhand derer sich Autokratien voneinander abgrenzen lassen, sind zum Beispiel die ideologische Grundlage, die Form der Machtübergabe, das Verhältnis zu Menschenrechten sowie der Grad der möglichen Bürgerbeteiligung.2 Im Zuge der Transformationsprozesse in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich zudem die Tendenz, dass Demokratisierungsbewegungen autokratische Regime unterschiedlich beeinflussen. In einigen Staaten hat sich die Polarisierung der Bevölkerung verfestigt, radikale Gruppen haben an Einfluss gewonnen, womit die demokratieorientierten Bewegungen wieder verdrängt wurden. Die Hoffnungen des Westens, nach rascher und nachhaltiger Demokratisierung wurden in weiten Teilen des „Krisenbogens“ enttäuscht. So wie Tunesien eines der positiveren Beispiele ist, so sehr scheinen die Entwicklungen in Syrien oder Libyen perspektiv- und hoffnungslos instabil und sind über die gesamte Region Auswüchse des transnationalen Terrorismus kaum kontrollierbar. Für die Länder des „Arabischen Frühlings“ kann man heute feststellen: Waren die vergangenen Jahre noch geprägt von Wogen der Demokratisierung, scheint sich der Vormarsch der westlichen politischen und wirtschaftlichen Grundordnung – bestehend aus liberaler Demokratie und Marktwirtschaft – zu verlangsamen.3 Auch ein Blick in unsere östliche Nachbarschaft ernüchtert die Demokratisierungshoffnungen: Russlands Einflussstreben zeigt, dass aus dem Wettbewerb zwischen autokratischen Regimen und Demokratien grundlegende ordnungspolitische Divergenzen entstehen können, die beträchtliches internationales Konfliktpotenzial bergen, das auch gegenwärtig bis hin zur tatsächlichen Eskalation der Systemrivalität reichen kann. Zwar ist auch eine gleichwertig verfasste innerstaatliche Herrschaftsordnung kein Garant für Interessenkongruenz. Es gehört jedoch zu den Qualitäten demokratischer Staaten, dass Divergenzen in der Regel im Rahmen multilateraler Foren verhandelt werden können – was der Kompromissscheu autoritärer Regime widerspricht. Zwei Aspekte, die in der jüngeren Vergangenheit im internationalen Kontext zum Einflussgewinn autokratischer Staaten geführt haben, sind einerseits ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, die in vielen Fällen von hohen Rohstoffpreisen abhängt, und das Aufkommen informeller multinationaler Strukturen wie die G20 oder anderer G-Formate. Diese inter- bzw. transnati2 3
Für eine genauere Betrachtung der verschiedenen Ausprägungen autoritärer Regime vgl. Steffen Kailitz, Varianten der Autokratie im 20. und 21. Jahrhundert, in: Totalitarismus und Demokratie, 6/2009, S. 209-251. Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2014, ; James Gwartney, Robert Lawson, Joshua Hall: Economic Freedom of the World. Annual Report 2013, Fraser Institute, Vancouver, BC 2013.
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onalen Formate sind bei ordnungspolitischen Kontroversen von besonderer Bedeutung, da hier erstens ein Raum zur gemeinsamen Gestaltung internationaler Politik gegeben ist, in dem die Akteure weitgehend unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung zu gemeinsamen Positionen, Richtungsweisungen und Interessen gelangen. Zweitens können autoritäre und demokratische Regierungen sich dabei gegenseitig beeinflussen und gemeinsame Interessen ausloten. Drittens findet hier eine quasi wechselseitige Legitimation statt: Demokratisch und autokratisch geprägte Staaten verhandeln auf demselben Niveau und entsagen sich so einer wertenden, hierarchischen Systematik. Demokratien akzeptieren autoritäre Regime also indirekt als gleichberechtigte Verhandlungspartner. Durch ihre Teilnahme akzeptieren Autokratien ihrerseits auch die demokratischen Prinzipien dieser Formate. Im Wettbewerb um Einflussnahme auf Dritte kann wirtschaftliche Performanz vorteilhaft sein. Der aktuelle wirtschaftliche Erfolg einiger autoritärer Regime erzeugt zumindest Zweifel am vermuteten Kausalzusammenhang von Demokratie und ökonomischer Entwicklung, entzieht Demokratien einen Teil ihrer Anziehungskraft und suggeriert die Perspektive prosperierender Herrschaft durch autokratische Herrschaftsformen.4 Auf absehbare Zeit wird die wirtschaftliche und politische Leistungsfähigkeit von Autokratien wegen der starken Fixierung auf von „oben“ vorgegebenen Wirtschaftssektoren jedoch unterschiedlich und schwankend bleiben, weil das Fundament der individuellen Entfaltungsmöglichkeit in der gesellschaftlichen Breite fehlt, ein gehöriges Maß an autoritärer Herrschafts- und Systembewahrung die Dynamik hemmt. Die kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolge autokratischer Regime sollten deshalb nicht überbewertet werden. Sicherheitspolitische Grundsätze und Spannungsfelder Für die in die Gemeinschaft der NATO und EU eingebettete Sicherheitspolitik der Bundesregierung ist die Zusammenarbeit mit Autokratien weder spannungsfrei noch vermeidbar. Denn Freiheit und Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Sicherheit, Wohlstand und nachhaltige Entwicklung sind die Grundsätze, von denen Deutschland seine sicherheitspolitischen Ziele ableitet und seine Stärke schöpft. Auf dieser Wertebasis entsteht eine auf akzeptierte Regelwerke ausgerichtete Politik, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ebenso verpflichtet ist wie Frieden und Stabilität. Zu den zentralen sicherheitspolitischen Interessen, die sich aus dieser Positionierung ergeben, gehören die Verhinderung, vorbeugende Eindämmung und Bewältigung von Krisen und Konflikten, das Eintreten für die internatio4
Vgl. Lars Brozus, Hans-Henning Schröder, Autoritäre Regime als Herausforderung für die Außenbeziehungen Deutschlands und der EU, SWP, Berlin 2011, S. 3 und 6.
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nale Geltung der Menschenrechte und die Demokratieförderung auf Basis des Respekts vor gewachsenen kulturellen und religiösen Traditionen sowie der freie, ungehinderte Welthandel einschließlich des freien Zugangs zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen. Diese Leitlinien und Parameter geben auch der Zusammenarbeit mit autoritären Staaten Richtung und Sinn. Das Ziel der Aufrechterhaltung oder des Schaffens von Sicherheit und Stabilität verlangt partnerschaftliche Absicherung und mitunter ein Miteinander mit Regimen, die nicht unseren demokratischen und menschenrechtlichen Standards entsprechen. Zugleich gestattet das richtige und angemessene Niveau an Kooperation auch Dialog und Einfluss, was wiederum nicht nur gemeinsamen Sicherheitsgewinn, sondern auch Erfahrungsaustausch und Wertevermittlung ermöglicht. Das dabei etablierte Vertrauen kommt auch unserer Verantwortung für die Sicherheit unserer Staatsbürger vor unmittelbaren Gefahren im Ausland zugute. Insgesamt ist es das Miteinander politischer und entwicklungspolitischer Maßnahmen sowie auch sicherheitspolitischer Instrumente, die im Zusammenspiel zu effizienter Krisenprävention beitragen. Das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr bringen dabei die militärpolitische Zusammenarbeit mit Partnerressorts und Streitkräften und den für sie relevanten internationalen Organisationen ganz wesentlich mit ein: Im Zentrum steht hierbei das grundsätzliche Interesse, Partner an Deutschland zu binden und so der künftigen internationalen Ordnung die gewünschte Form zu geben. Dies gilt ebenso für die immer bedeutenderen Partnerschaften der NATO über die Region der Allianz hinaus. Streitkräfte von Drittstaaten in der Tendenz tiefer in ihre Gesellschaften einzubetten hilft, demokratische Strukturen zu konsolidieren. Ebenso können vertrauensbildende Maßnahmen sowie regionale und bilaterale Kooperation im militärischen Rahmen dazu beitragen, Krisen zu verhindern und regionale Stabilität zu wahren. Kooperationspartner sollten dabei ertüchtigt werden, effektiver gegen internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität vorzugehen. Schließlich können Streitkräfte auch jenseits des euroatlantischen Stabilitätsraums auf Krisen und Konflikte reagieren und dieser bestenfalls vorbeugend verhindern. Ausblick Deutschland übernimmt immer mehr Verantwortung für internationale Stabilität und Sicherheit, weil es unseren sicherheitspolitischen Interessen entspricht, weil wir es als humanitäre Verpflichtung verstehen und weil die Partnerschaften, in die wir eingebunden sind, weiterentwickelt werden müssen, um eben diesen Herausforderungen zu begegnen. Dieser Anspruch macht auch den Umgang mit Autokratien sinnvoll; er ist ebenso sicherheits- wie werteorientiert zu gestalten.
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BMVg: Mit Autokratien umgehen
Dieses Ziel lässt sich weder mit einem ausschließlich interessenorientierten Realismus noch durch rein wertebasierten Idealismus erreichen. Sonst würden wir den Gegensatz zwischen Sicherheit und Freiheit zementieren und unüberbrückbar machen. Gemeinsames Handeln mit Autokratien – bei gleichzeitiger Berücksichtigung von Werten und Interessen – ist kein unzulässiger und moralisch verwerflicher Kompromiss. Schon deshalb nicht, weil es die Möglichkeit eröffnet, über Missstände zu reden und den anderen durch eigenes vorbildliches Handeln zu überzeugen. Auf jeden Fall gilt auch im Umgang mit Autokraten, dass verteidigungs- und sicherheitspolitische Entscheidungen – sowohl Handeln als auch Nichthandeln – erklärbar und überzeugend sein müssen. Auf Basis von beidem: unserer Werte und unserer Interessen.
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CDU/CSU: Deutsche Außenpolitik steht weltweit für Werte! Philipp Mißfelder
Die andauernde politische Fragilität an und außerhalb der Grenzen Europas offenbart, dass Unberechenbarkeit auch nach dem Ende des Kalten Krieges als Wesenskern moderner Außenpolitik fortbesteht. Wandel ist seit jeher eine systemimmanente Komponente der internationalen Staatengemeinschaft. Die Dynamik der vergangenen Jahre ist durch die Vermischung von staatlichen und subnationalen Akteuren komplexer geworden. Um der Vielfalt der Herausforderungen im 21. Jahrhundert gerecht zu werden, braucht es einen außenpolitischen Ansatz, der die Chancen einer werte- und menschenrechtsbasierten sowie am gemeinsamen Nutzen orientierten internationalen Zusammenarbeit herausstellt und darauf fokussiert ist, positive Entwicklungen zu forcieren und negativen entgegenzuwirken. Der Umgang mit autokratischen Staaten wird dabei die große außenpolitische Herausforderung der nächsten Dekade werden. Gerade Deutschland ist auf starke Partnerschaften mit Ländern angewiesen, deren Entscheidungen in der Zukunft unser Schicksal mit bestimmen werden, die aber noch nicht alle unserem Gesellschaftsmodell entsprechen: China wird aufgrund seiner Größe, seiner Wirtschaftskraft und seiner Dynamik Weltpolitik mitgestalten. Russland wird wichtigster Energielieferant bleiben und entscheidend sein für die Sicherheit Europas. Saudi-Arabien und Ägypten bilden wichtige Stabilitätsanker in einer Region, die vom Zerfall von Staatlichkeit geprägt ist und in der die Anzahl ungelöster Konflikte erkennbar zu- als abnimmt. Obwohl jedes einzelne dieser Länder auch Partei in zahlreichen Konflikten ist, entbindet es nicht von der Pflicht, auch mit jedem dieser Länder im Gespräch zu bleiben. Die Welt im Umbruch Die Frage, warum es unverzichtbar und im deutschen Interesse ist, Politik mit Autokratien zu betreiben, erschließt sich bei nüchterner Betrachtung der aktu-
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CDU/CSU: Deutsche Außenpolitik steht weltweit für Werte!
ellen Weltlage: Nach dem Ende des Kalten Krieges sind der Zerfall von Staaten sowie die Ausweitung von religiösen, sozio-ethnischen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten zu einer fundamentalen Bedrohung des globalen Friedens und der Sicherheit geworden. Nicht mehr die Bedrohung von Kriegen zwischen verschiedenen Staaten, sondern vielmehr die Eindämmung innerstaatlicher Konflikte sind heute Schwerpunkt von internationalen Friedenseinsätzen. Syrien mit einem Bürgerkrieg ungeahnten Ausmaßes sowie der Vormarsch radikaler und bestens bewaffneter Islamisten im Irak sind aktuelle und besonders augenscheinliche Beispiele. Syrien und Irak zeigen eindrücklich, wie sich lokale Aufstände mit Forderungen wie Teilhabe an politischen Prozessen, Pressefreiheit oder demokratischer Mitbestimmung zu militärischen Flächenbränden und humanitären Katastrophen größten Ausmaßes entwickeln. Syrien führt der internationalen Gemeinschaft unmittelbar vor Augen, dass die Dynamik der Gewalt bei durch Staatszerfall bedingten Konflikten eine völlig andere als bei zwischenstaatlichen Kriegen ist. Weitere Beispiele hierfür sind Länder wie Ruanda, Burundi, Mali, Somalia, Bosnien und Herzegowina, Afghanistan, der Kosovo, Sudan und Südsudan, die Demokratische Republik Kongo, Haiti, Sierra Leone, Liberia oder die Zentralafrikanische Republik. Es zeigt sich, dass zerfallende Staaten Rückzugsraum und Nährboden für organisierte Kriminalität und internationalen Terrorismus werden, die wiederum weitere Staaten in ihrer Nachbarschaft destabilisieren. Im Spannungsfeld zwischen Werten und Interessen Die tägliche Beschäftigung mit Außenpolitik führt zwangsläufig in ein Spannungsfeld zwischen sicherheitsorientierten realpolitischen Erfordernissen und einem Wertekanon, der Antrieb und Fundament deutscher Außenpolitik ist. Zu den Werten, welche für die deutsche Außenpolitik jenseits realpolitischer Erfordernisse universell sind, gehören die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Rechte von Minderheiten. Ziel und dauernder Anspruch ist es daher, dass immer mehr Menschen ihr Leben auf dem Fundament dieser Werte gestalten können. Darum dient deutsche Außenpolitik dem Ziel einer dauerhaften, friedlichen und gerechten Ordnung in Europa und der Welt. Wichtigster Partner zur Durchsetzung dieser Grundsätze bleiben trotz aller Irritationen der vergangenen Monate die USA. Deutschland ist in der transatlantischen Partnerschaft durch eine wechselvolle Geschichte und gemeinsame Werte mit den USA verbunden. So geht es doch trotz allen Streites im Wesentlichen um die Auslegung gemeinsamer Werte und wie diese angesichts der weltweiten Zunahme asymmetrischer Bedrohungen wie Terrorismus und Islamismus bewahrt und weitergetragen werden können. An der Bewahrung dieser Grundwerte gibt es auf beiden Seiten des Atlantiks keinen Zweifel. Die
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Betonung angeborener Rechte wie Freiheit und Unabhängigkeit, wie sie in der Grundrechteerklärung von Virginia 1776 oder der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte 1789 der französischen Nationalversammlung festgehalten sind, entfaltet auch heute noch eine ungeheure Strahlkraft, deren sich Deutschland und die westlichen Demokratien immer bewusst sein sollten. Die friedliche Revolution 1989, die zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Auflösung des gesamten Ostblocks führte, der Wandel in der arabischen Welt, deren Wünsche sich realpolitisch noch nicht erfüllt haben, oder die wirtschaftliche Öffnung Chinas sind Ausdruck dieser ungeheuren Kraft, die das Primat allgemeiner Menschenrechte und unveräußerlicher Werte noch heute hat. Und wenn es gegenwärtig eine Auseinandersetzung der Kulturen, Religionen und Zivilisationen gibt, sollte der Westen dieses Ringen mit erhobenem Haupt und großem Selbstbewusstsein führen. Die Grundwerte, für die wir in der Welt stehen, werden in Frage gestellt – sei es von außerhalb oder innerhalb der Wertegemeinschaft, deren Teil die Europäische Union ist. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sowie Minderheitenschutz sind nicht exklusiv „westlich“ und geografischen oder kulturellen Räumen eigen. Ihr Wert für die Entwicklung einer Gesellschaft und ihre universelle Gültigkeit hängen weder von geografischen noch kulturellen Gegebenheiten ab. Sie entsprechen dem universellen Wesen des Menschen, dessen Würde unantastbar ist und der nach Ausdruck seiner individuellen Potenziale strebt. Mit diesen Vorstellungen im außenpolitischen Werkzeugkasten fällt es leichter, mit Autokratien zu arbeiten. Hierzu ist kein erhobener Zeigefinger oder belehrender Ton vonnöten, der immer als bevormundend wahrgenommen wird und somit Ablehnung hervorruft. Wer hingegen auf dem sicheren Fundament eigener Überzeugungen argumentiert und die Interessen unseres Landes durchsetzt, wird viel verändern können. Der Weg geduldiger Verhandlungen ist stets zielführender als das Beharren auf völkerrechtlichen Positionen. Grundsätzlich ist derzeit zu beobachten, dass nicht auf allen Kontinenten demokratischen Prinzipien Vorrang eingeräumt wird – warum? Nicht zuletzt führen der außenpolitische Rückzug der USA und die Selbstbeschäftigung der europäischen Demokratien dazu, dass andere Gesellschaftsmodelle Auftrieb erhalten. Die politische, militärische und nach der Wirtschafts- und Finanzkrise teilweise auch ökonomische Schwäche westlicher Staaten haben ein Vakuum hinterlassen, das leicht von mächtigen Autokratien gefüllt werden kann, deren Wirtschaft nicht in derselben Weise dem freien Wettbewerb unterworfen ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich sowohl Amerika als auch Europa von ihrer Nabelschau befreien und wieder mehr Verantwortung übernehmen müssen. So erkennbar verheerend es für die ganze Welt gewesen ist, dass sich die USA nach dem Ersten Weltkrieg wieder aus Europa verabschiedet haben, so wenig profitieren heute große Teile der Menschheit davon, dass die führenden Demokratien mit eigenen, hausgemachten Problemen wie einer enormen
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Staatsverschuldung oder innerem Zwist wie der NSA-Affäre zu kämpfen haben. Der westlichen Selbstbeschäftigung steht unter anderem das chinesische politische System gegenüber, dem wirtschaftlicher Erfolg ausreichende Legitimität verleiht, um beispielsweise in Afrika als Erfolgsmodell aufzutreten und neue Allianzen zu schmieden. Soft Power als Vorteil im Wettbewerb der Systeme Die aufstrebenden Länder Asiens sowie autokratische Strukturen in Afrika sowie der arabischen Welt sind auch im Fokus der täglichen Arbeit des Deutschen Bundestags. Dabei stößt man oft auf die Frage, was zukunftsträchtiger ist: das demokratische westliche oder das häufig in Asien zu findende staatskapitalistische System. Der wirtschaftliche Erfolg autoritärer Staaten lässt viele die Frage stellen, ob das Wirtschaftssystem eines staatskapitalistischen Sozialismus dem des freiheitlich-demokratischen Kapitalismus vorzuziehen ist. Solche Stimmen übersehen, dass die größte politische Herausforderung in der globalisierten Welt der Umgang mit dem stetigen Wandel ist. Pluralistische freiheitliche Demokratien sind flexibel, kreativ und in der Lage, sich organisch, nicht revolutionär, einer veränderten Realität anzupassen. Es ist politisch berechenbarer, rechtsstaatliche Verfahren zu beschleunigen, die die Umsetzung von Infrastrukturprojekten verzögern, als Strukturen zu ändern, die gesellschaftliche Innovationskraft beschränken. Langfristig gesehen wird ein autoritäres System daher eher eine Schwäche als ein Wettbewerbsvorteil sein. Nichtsdestoweniger respektiert gerade Deutschland die Entwicklungsfortschritte unserer asiatischen Partner. Die Befreiung von Millionen von Menschen aus der Armut beispielsweise in der Volksrepublik China ist eine enorme Leistung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Diese Leistung darf ohne Zögern als die Verwirklichung grundlegender Menschenrechte bezeichnet werden. Dennoch fordern wir von allen asiatischen Partnern, dass sie die universellen Werte und Normen des Völkerrechts respektieren, weil sie sich als Mitglieder der Vereinten Nationen besonders dem Auftrag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet wissen. China könnte ein Zeichen für sein glaubhaftes Bekenntnis zu dieser Verpflichtung setzen, indem es den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert, den es bereits unterzeichnet hat. Wertebildung schützt vor Relativismus. Deshalb ist es ein wichtiges außenpolitisches Ziel, nicht nur die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik weiter zu stärken, sondern durch den Austausch von Schülern und Studenten die universellen Werte, für die Deutschland in der Welt steht, in den Schulen, Hörsälen und bei den zahlreichen persönlichen Gesprächen zu verinnerlichen. Anders stellt sich die Situation in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens oder Russlands dar. Diese Staaten fungieren in der Regel als Rentierstaaten, die einen großen Anteil ihrer Staatseinnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen er-
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zielen. Diese Form der Wirtschaft vernachlässigt die Entwicklung von zukünftig möglichen, einheimischen Finanzierungsquellen, was zu Modernisierungsstau, mangelnder Rechtssicherheit, intransparenten Entscheidungsprozessen, fehlender Ausgabenkontrolle und damit letztlich zu Unsicherheiten bezüglich ausländischer Investitionen führt. Gleichwohl schränkt die Fähigkeit der Golf-Monarchien, autoritäre Regierungen im Mittleren Osten finanziell zu unterstützen, die Handlungsspielräume westlicher Demokratien deutlich ein. Die viel beachtete teilweise Zurückhaltung amerikanischer Militär- und Wirtschaftshilfen an die ägyptische Regierung im Herbst 2013 von insgesamt 1,3 Milliarden Dollar, die binnen weniger Tage durch Finanzhilfen im Volumen von ca. 20 Milliarden Dollar durch die Golf-Staaten ausgeglichen wurde, ist hierfür beispielhaft. Ein wichtiges Machtpotenzial westlicher Demokratien bleibt jedoch ihre Soft Power. Autoritäre Staaten sind daran interessiert, Zuspruch durch den Westen zu erhalten. Eine Kombination aus positiven und negativen Sanktionen sowie ein gemeinsam proklamiertes Wertebild sind notwendig, um unser Interesse nach Demokratie materiell durchzusetzen. Dies muss durch Entwicklungshilfe untermauert werden, um mittelfristig die Ursachen von irregulärer Migration und Terrorismus zu bekämpfen. Lösungsansätze deutscher Politik In der praktischen außenpolitischen Arbeit erfordern sehr starke Unterschiede zwischen Regionen und Ländern immer differenziertere Wahrnehmungen und einen differenzierten Einsatz der zur Verfügung stehenden außenpolitischen Instrumente. Zum Gesamtbild gehört, dass Krisen und die Auswirkungen von Konflikten in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten Europa und Deutschland immer unmittelbarer treffen, zumal sie sich in unserer Nachbarschaft abspielen. Verbindungen zu den Maghreb-Staaten verstärken Probleme subsaharischen Ursprungs, so wie das Ende des Gaddafi-Regimes benachbarte Staaten wie Mali an den Rand des Staatszerfalls geführt hat. Diese Instabilität löst wiederum Migrationsbewegungen aus, die Menschenhandel und soziale Unruhen befördern. Die innen- und sicherheitspolitische Kooperation mit Afrika liegt in unserem nationalen Interesse. In den erst jüngst vorgelegten Afrika-Leitlinien der Bundesregierung, die den Beginn einer ausführlicheren Beschäftigung mit diesem Kontinent darstellen, sind Instrumente für den Umgang mit schwierigen Regimen aufgeführt. Oftmals geht es dabei überhaupt erst einmal um die Aufrechterhaltung von Staatlichkeit. Aber es ist in unserem Interesse und damit realpolitisch unverzichtbar, dass Sicherheit auch in Deutschland nur dann zu gewährleisten ist, wenn rechtsstaatliche Strukturen und funktionierende Sicherheitsbehörden aufgebaut werden, die wiederum unkontrollierte Migration, Terrorismus oder Waffenschmuggel unterbinden können.
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Ein zentraler Aspekt ist deshalb die Hilfe beim Aufbau funktionierender rechtsstaatlicher Strukturen. Dies kann zunächst auf dem Gebiet der Investitionen geschehen, denn kein Konzern oder familiengeführter Betrieb wird in einem Umfeld langfristige Investitionen tätigen, in dem Enteignung und signifikante Behinderungen der Geschäftstätigkeit durch erratische Rechtsänderungen drohen. Investitionssicherheit dient immer der wirtschaftlichen Dynamik. Da zu erwarten ist, dass Rechtssicherheit früher oder später auch effektive Staatlichkeit und offene Gesellschaften hervorruft, muss dem Instrument Rechtsstaatsförderung hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden. Des Weiteren wird das deutsche System der dualen Berufsausbildung, das alleine deshalb stark nachgefragt ist, weil die jungen Gesellschaften in Asien, Afrika oder der arabischen Welt auch jenseits eines akademischen Weges Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten benötigen. Es wird eine zentrale Herausforderung gerade auch autokratischer Systeme sein, der marginalisierten, aber zugleich zahlreichen Jugend durch Bildung eine Perspektive zu geben, wenn sie nicht – wie in der islamischen Welt zu beobachten – in die Fänge religiöser Fanatiker fallen soll. Durch Bildung werden entwicklungshemmende Umstände wie Korruption und ungleiche Wohlstandsverteilung bekämpft. Bildung ist somit der Schlüssel für eine bessere, freiere und selbstbestimmte Zukunft. Fazit Neue Herausforderungen in einer Welt im Umbruch und die aufgezeigten Lösungsansätze zeigen, dass im 21. Jahrhundert nicht mehr eine reine Politik der Stärke verfolgt werden kann. Das Prinzip „Wandel durch Annäherung“ hat sich dabei in der historischen Rückschau als äußerst erfolgreich erwiesen. In der praktischen Arbeit und in zahlreichen Gesprächen zeigen sich zwei wesentliche Punkte, die zum Exportschlager Deutschlands geworden sind und deren Bedeutung zweifellos noch zunehmen wird: zum einen die Hilfe beim Aufbau funktionierender rechtsstaatlicher Strukturen und zum anderen das deutsche System der dualen Berufsausbildung. Investitionssicherheit und Humankapital dienen immer der wirtschaftlichen Dynamik. Politische Veränderungen können nur langfristig durch eine große Anzahl kleiner Schritte erreicht werden. Wenn hierbei die Interessen und Beweggründe unserer Verhandlungspartner erkannt und anerkannt werden, hat Deutschland ein starkes Werkzeug für eine moderne Außenpolitik im 21. Jahrhundert.
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Außenpolitik in einer globalisierten Welt beinhaltet zwangsläufig auch Außenpolitik gegenüber Diktaturen und Autokratien. Denn bei der Mehrheit der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen handelt es sich eben nicht um Demokratien im westlichen Sinne. Laut Freedom House stehen den 88 Demokratien 107 unfreie und autoritäre Staaten gegenüber.1 Unter diesen Staaten gibt es wiederum schlimme und weniger schlimme, große und kleine, Atom- und Vetomächte, ja mittlerweile sogar EU-Mitglieder. Die Frage, wie man mit ihnen umgehen soll, ohne seine Werte und seine Glaubwürdigkeit zu verspielen, stellt sich auch für die deutsche Außenpolitik. Zumal fast jede der heutigen weltpolitischen Krisen von Nordkorea über die Krim bis hin zum Irak, Iran und zu den Konflikten im südchinesischen Meer entweder direkt durch einen autokratischen Staat ausgelöst wurde oder aus dem Machtvakuum resultiert, welches der Sturz eines autokratischen Systems meist nach sich zieht. Demokratie auf dem Vormarsch oder Rückzug? Der Anfang der 1990er Jahre noch als sicher geltende Siegeszug der liberalen Demokratie hat sich längst als Illusion herausgestellt.2 Mittlerweile lässt sich gar eine „Reautoritarisierung“ vieler Staaten beobachten. Im Vergleich zum Jahr 2000 wird deutlich, dass die Demokratieentwicklung seit Längerem weltweit stagniert. So verweist Freedom House darauf, dass die Demokratie in der Periode von 2002 bis 2005 zwar ein wenig an Boden gewann, seit 2005 jedoch
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Darunter sind 48 Diktaturen und 59 Autokratien. Vgl. Freedom House, (abgerufen am 23.9.2014). So die viel zitierte Prognose von Francis Fukuyama, The End of History, in: The National Interest, Sommer 1989, S. 3-18.
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weltweit zurückgeht.3 Demgegenüber wächst vor allem die Zahl der defekten Demokratien und jener Länder, die autoritär regiert werden und in denen die Grundrechte gefährdet sind. Auch sind bislang als anachronistisch abgetane Militärputsche in den vergangenen Jahren zurückgekehrt. Zwischen 2006 und 2013 ergriff das Militär die Macht in Guinea, Honduras, Mauretanien, Niger, Guinea-Bissau, Mali, Bangladesch, Thailand, Fidschi, Ägypten und Madagaskar. In Mexiko, Pakistan, Ecuador und den Philippinen startete das Militär zwar keinen Putsch, schaffte es aber, seine Rolle als zentraler Akteur des politischen Lebens zurückzugewinnen. Wird man also, rückblickend, dem deutschen Soziologen und Politiker Ralf Dahrendorf zustimmen müssen, der schon Ende des 20. Jahrhunderts vorhersagte: „Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert“?4 Hier sollte man nicht voreilig schwarzmalen, sondern die langfristigen Trends sehen. Auch wenn die Globalisierung der liberalen Demokratie in den vergangenen Jahren stagniert, ist sie nach wie vor das attraktivste Regierungsmodell. Und wenn man sich nicht nur die jüngste Vergangenheit, sondern die Tendenz seit 1990 oder gar seit 1945 anschaut, so ist die Demokratie immer noch auf dem Vormarsch. Es gibt also keinen Grund für Pessimismus oder gar Defätismus. Allerdings ist die Entwicklung zu mehr Demokratie kein Selbstläufer. Aus Fehlern lernen Es gibt im Umgang der demokratischen Staaten gegenüber Autokratien zweifelsohne auch weniger ruhmreiche Kapitel. So wird bis heute sehr oft mit zweierlei Maß gemessen, frei nach der Devise des Kalten Krieges: „Er ist zwar ein Verbrecher, aber es ist unser Verbrecher.“ Der Freiheitskämpfer der einen war oft genug der Terrorist der gegnerischen Seite. Nach dieser Logik wurden die afghanischen Mudschahedin gegen die damalige Sowjetunion aufgerüstet und der Irak Saddam Husseins gegen den Iran des Ajatollah Khomeini. Die Folgen und Spätfolgen dieser Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Autokratien sind bekannt. Auch die westliche Politik gegenüber Syriens Diktator Assad ist alles andere als ein Ruhmesblatt. Hinzu kommt: Während man „kleine“ Diktatoren oftmals sanktionierte oder stürzte, macht man mit den „großen“ in der Regel weiterhin Geschäfte – oft genug auch mit Rüstungsgütern. Deutschland und der „Westen“ müssen deshalb eine verantwortliche Rüstungsexportpolitik betreiben. Denn es unterminiert die eigene Glaubwürdigkeit enorm, wenn man die Demokratie im Munde führt, gleichzeitig aber Waffen an Diktatoren verkauft, bei denen es wahrscheinlich 3 4
Vgl. Freedom House, 2014 Freedom in the Word, (abgerufen am 23.9.2014). Ralf Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert, in: Die Zeit, 14.11.1997.
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oder zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass diese die Waffen gegen ihr eigenes Volk einsetzen oder damit Konflikte in ihrer Nachbarschaft anheizen. Es ist deshalb höchste Zeit, Rüstungsexporte an undemokratische Nicht-NATOStaaten und in Konfliktgebiete drastisch zu reduzieren, wenn möglich sogar ganz zu beenden – selbst wenn diese vermeintliche Stabilität garantieren. Stabilität versus Anarchie? Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat etwa Christiane Hoffmann die alte Debatte wieder aufgenommen, ob stabile Autokratien nicht das kleinere Übel sind: „Die Weltpolitik wird in Zukunft weniger vom Gegensatz zwischen demokratischen und autokratischen Staaten bestimmt sein als vom Gegensatz zwischen funktionierenden und versagenden Staaten.“5 Dieser Befund ist jedoch in vielerlei Hinsicht falsch. So wird die Weltpolitik sehr wohl vom Kampf zwischen Demokratie und Autokratie bestimmt – sei es in der Ukraine, in der Türkei oder in Hongkong. Zudem sind Diktaturen eben zumeist keine „Horte der Stabilität“, sondern erzeugen systematisch Anarchie und Zonen der Instabilität: Russland in Transnistrien, Georgien und der Ukraine; Saudi-Arabien, Katar und der Iran in der arabischen Welt, China im ost- und südchinesischen Meer. Zudem sind die politischen und wirtschaftlichen Probleme autokratischer Krisenstaaten meist so massiv, dass nur ein systemischer Wandel langfristig stabilisierend wirken kann. Doch genau hierzu sind autokratische Regime, deren Hauptinteresse kurzfristiger Machterhalt und Bereicherung sind, eben nicht bereit. Gleichwohl werden im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise die Vorzüge der „guten“, ökonomisch stabilen (Entwicklungs-)Autokratien und Diktaturen in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte gepriesen. So bietet laut Michael Spence, dem Wirtschaftsnobelpreisträger von 2001, ein „wohlwollend autoritäres System“ die optimalen Voraussetzungen für langfristiges Wirtschaftswachstum, da Demokratien innerhalb eines „zu kurzen Zeithorizonts“ agierten.6 Wahlen sind demzufolge ein ökonomischer Standortnachteil, während Diktaturen, von der Stimme des Volkes ungestört, effizient planen, arbeiten und wirtschaften können. Doch warum hat die „autoritäre Internationale“ Zulauf ? Ist ein Kommandostaat, rein funktional gesehen, wirklich die bessere Antwort auf den Anpassungszwang der Märkte als die „alte“ Demokratie? Erzeugt die scheinbar alternativlos vernetzte globale Welt eine kulturkonservative Gegenmoderne, und damit verbunden die Sehnsucht nach dem starken Mann? Auch in den neuen Mitgliedstaaten der EU ist der Rückhalt für Demokratie als Regierungsform 5 6
Christiane Hoffmann, Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie, in: Der Spiegel, 29.9.2014. Vgl. Michael Spence, The Next Convergence: The Future of Economic Growth in a Multispeed World, New York 2011.
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seit 2006 zurückgegangen – nicht nur in Ungarn haben die Autoritären wieder Konjunktur. Traditionell ging der Weg über Putsch oder „Machtergreifung“, neuerdings werden sie von der Mehrheit des (zur Wahl gehenden) Volkes gewählt. In Gaza, in Ägypten, in Venezuela, Bolivien, Ecuador und nicht zuletzt in Russland sind die populistischen Alleinherrscher teilweise legal an die Macht gekommen, aber auch unter Einsatz von Manipulationen und Gewalt. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir vor der Frage, ob das weitgehend grenzenlose Europa in Zukunft geprägt sein wird von demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, wie sie der Westen zumindest im Prinzip seit Jahrzehnten vertritt, oder ob diese Werte Stück für Stück abgelöst werden durch ein autoritäres Gesellschaftsbild, für das keineswegs nur Putins „lupenreiner Autoritarismus“ steht – wie der Vormarsch der Populisten bei den letzten Europawahlen gezeigt hat. Mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit Autokratien Der demokratische Westen muss sich nicht verstecken, sondern sollte im Gegenteil seine universellen Werte offensiv vertreten. Die westlichen Werte der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, die Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts und die Idee der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie haben auch heute noch eine ungeheure Anziehungskraft. Überall berufen sich Menschenrechtsaktivisten auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948, durch die die westlichen Werte, zumindest auf dem Papier, globalisiert wurden. Zudem hat sich der Begriff der staatlichen Souveränität im Laufe der Zeit geändert. Auf der internationalen Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien haben alle UN-Mitgliedstaaten unterschrieben, dass die Wahrung der Menschenrechte nicht nur eine interne Angelegenheit der Staaten, sondern auch ein legitimes Anliegen der Staatengemeinschaft ist. Derselben Logik folgt der Beschluss der Vereinten Nationen von 2005, einen neuen Menschenrechtsrat zu schaffen, sowie der Grundsatz der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), das Interventionsrecht der Staatengemeinschaft bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Diktaturen und Autokratien können sich also immer weniger hinter ihrer staatlichen „Souveränität“ und dem Nichteinmischungsgebot verstecken. Demokratie als politisches Modell ist potenziell universell. Und sie berücksichtigt kulturelle Eigenheiten weit stärker als Diktaturen. Deshalb verbietet es sich, die universelle Geltung der Menschenrechte mit dem kulturrelativistischen Argument zu bestreiten, weil die Menschenrechte ein Produkt des Westens seien, hätten nur diejenigen Menschen darauf Anspruch, die in westlichen Demokratien lebten.
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Zum normativen Defizit dieses „realpolitischen“ Arguments tritt ein empirisches hinzu. Denn die Stärke der Kräfte, die auf Veränderung drängen, wird regelmäßig unter- und die Stabilität autoritärer Regime überschätzt. Das war in den 1980er Jahren so, als in Polen Solidarnosc das Kriegsrecht überlebte und schließlich aus dem Machtkampf mit dem kommunistischen Regime als Sieger hervorging. Und es spricht manches dafür, dass auch in Russland und China die Machtverhältnisse weniger festgefügt sein könnten, als viele „Realpolitiker“ meinen. Es gibt kein autoritäres Modell, das der Demokratie gewachsen oder gar überlegen wäre. Autokratien sind nämlich normalerweise gerade keine effizienten, professionellen und modernen Systeme. Sie sind in der Regel geprägt durch Korruption und Kleptokratie sowie durch eine Willkürherrschaft, die zusammen mit der politischen Freiheit auch die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung ruinieren. Die allermeisten Autokratien und Diktaturen leisten nichts von dem, was ein Staat leisten soll. Sie gewährleisten nicht die Ausbildung ihrer Kinder und Jugendlichen, keine soziale Sicherheit, keine unabhängige Rechtsprechung und keine Verwaltung ohne Bestechung und „Beziehungen“. Das Einzige, worin diese Regime sich auszeichnen, sind die Unterdrückung und Ausbeutung ihrer Bürger. Demokratische Staaten haben deshalb allen Grund für eine selbstbewusste Außenpolitik gegenüber Autokratien. Wir brauchen zwar noch immer die Nichtdemokraten und Scheindemokraten zur Lösung internationaler Probleme, sie uns aber auch. Liberale Demokratie muss man im Übrigen auch niemandem aufzwingen. Wenn Menschen die Wahl haben, entscheiden sie sich eben nur in den seltensten Fällen für diktatorische Herrscher, die die natürlichen und menschlichen Ressourcen des Landes zu eigenen, privaten Zwecken unter Einsatz von Gewalt ausbeuten. Denn der Wunsch, „anständig“ regiert zu werden, ist universal. Was tun? Wie sollte deutsche Außenpolitik mit Autokraten umgehen? Welche Mittel sind geeignet? Welche Instrumente stehen zur Verfügung? Welche Rolle können Menschenrechtsdialog oder Sanktionen spielen? Stützen wir Kräfte und Strömungen, die einen Wandel stärken oder sind wir Teil der Kräfte der autokratischen Beharrung? Führt Annäherung zum Wandel, oder sind mehr Distanz und Auseinandersetzung angebracht? All dies sind konkrete Fragen, die sich der deutschen Außenpolitik stellen. Die „klassische“ sozialdemokratische Antwort auf (einige) dieser Fragen ist das Konzept „Wandel durch Annäherung“, das der deutschen Entspannungsund Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre zugrundelag und maßgeblich
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von Egon Bahr entwickelt wurde.7 Der Erfolg der sozialdemokratischen Entspannungspolitik hat aber auch gezeigt, dass Stabilität ohne Freiheiten und Rechte nicht von Dauer ist. Deals mit illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man kann und sollte sie so gestalten, dass sie perspektivisch auf Öffnung und Transformation zielen. Eine selbstbewusste Außenpolitik muss sich zwischen Regime und Gesellschaft nicht entscheiden. Die Entspannungspolitik hat im Ostblock durch geschicktes Verhandeln mit den Herrschern das Erblühen der Zivilgesellschaft mit ermöglicht. Sie darf sich jedoch nicht von dieser abwenden, wenn diese beginnt, die herrschende Klasse herauszufordern. Letztendlich gibt es kein Patentrezept für den Umgang mit autokratischen Staaten. In vielen Fällen ist Dialog der richtige Weg, teils sind Sanktionen, im Extremfall womöglich gar militärisches Eingreifen nötig. Allen diesen Optionen ist jedoch eines gemeinsam: Sie können nur auf Grundlage einer realistischen Einschätzung des Gegenübers und seiner Positionen erfolgreich sein. Dabei hat die Vergangenheit gezeigt, dass Sanktionen allein nur selten (beispielsweise im Falle Südafrikas) wirksam sind, wie die Fälle Kuba und Iran zeigen, die seit fast 50 respektive 30 Jahren unter Sanktionen der USA stehen. Und die Verbreitung von Demokratie durch militärische Intervention und von außen herbeigeführte Regimewechsel dürfte spätestens seit dem Irak-Krieg keine erstrebenswerte Form der Außenpolitik mehr sein. Außenpolitik mit Autokratien muss von Fall zu Fall ausgelotet werden. Während sich in der Türkei und Tunesien eine Strategie der gezielten Unterstützung anbietet, dürfte gegenüber Iran und Russland eine Mischung aus Sanktionen und Kooperationsangeboten bei Verhaltensänderungen erfolgversprechender sein. Wenn ein autoritärer Staat zur Erreichung eines strategischen Zieles gebraucht wird, dann muss man mit ihm verhandeln – etwa mit Iran und Nordkorea. Auch die Stabilisierung des Mittleren Ostens dürfte ohne die Einbeziehung der autoritären Regionalmacht Iran kaum möglich sein. Ebenso klar ist, dass eine langfristige Stabilitätspolitik in Europa auch einer strategischen Beziehung zwischen Russland und der EU bedarf, auch wenn diese durch das Verhalten Russlands in der Ukraine-Krise einen schweren Rückschlag erlitten hat. Im Umgang mit autoritären Staaten – gerade mit Groß-, Veto- und Nuklearmächten – helfen oft nur Verhandlungen und Angebote. Gegenüber autoritären nuklearen Weltmächten und Großmächten wie China und Russland, die zudem noch Vetomächte im UN-Sicherheitsrat sind, wird man anders Außenpolitik betreiben müssen, als beispielsweise gegenüber Serbien unter Slobodan Milosevic. Die Europäische Union hat gegenüber dem
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Vgl. hierzu die programmatische Rede von Egon Bahr vom 15. Juli 1963 in der Akademie Tutzing, (abgerufen am 23.9.2014).
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EU-Mitglied Ungarn andere Einflussmöglichkeiten als gegenüber Weißrussland oder Kasachstan. Deutsche Außenpolitik muss sich häufig der unbequemen Realität stellen, dass, wenn autokratische Eliten ihr Land in den Abgrund regieren, Deutschland auch mit all seiner Soft und Hard Power nichts dagegen tun kann. Deutsche Außenpolitik sollte deshalb versuchen, sich auf mögliche Krisen vorzubereiten. Die deutsche und die „westliche“ Politik sollten gewaltlose Demokratiebewegungen, den Einsatz für Pluralität, Meinungsfreiheit, Rechtssicherheit und Minderheitenschutz unterstützen. Dafür brauchen sie Geld, Schutz und Parteinahme auf höchster Ebene. Dazu kann auch der Erlass von Altschulden eines ehemals autoritären Regimes oder die verstärkte Zusammenarbeit beim Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen gehören. Manchmal bieten sich auf parlamentarischer Ebene Chancen, die auf Regierungsebene so nicht möglich sind. Stille Diplomatie kann in der Regel mehr erreichen als „Schaufensterpolitik“. Kontakte unter dem Radar der Öffentlichkeit gilt es zu nutzen und auszubauen. Dies ist zumeist effizienter als medienwirksame Empörung, die in erster Linie auf die Erbauung des heimischen Publikums abzielt. Im Umgang mit Diktaturen und Autokratien ist es zudem oft sinnvoll, wenn nicht immer die Regierungen am lautesten vorangehen. Hier eröffnet sich vielmehr den zivilgesellschaftlichen Organisationen ein weites Feld. Demokratie ist kein Exportartikel; sie muss von Innen aus den jeweiligen Gesellschaften heraus wachsen. Hier spielen die politischen Stiftungen, ebenso wie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, eine entscheidende und oft unterschätzte Rolle.
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Die Linke: Deutschland ist kein Zuchtmeister Wolfgang Gehrcke Das Völkerrecht ist aus der Apokalypse der beiden großen Kriege geboren, für die Deutschland die Verantwortung trägt. Sie haben Europa und weite Teile der Welt in ein Schlachtfeld verwandelt. Am Ende war es mit vielen Millionen Toten aus Kriegshandlungen, Völkermord, Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung übersät. Zurück blieben Verheerungen bis dahin nicht bekannten Ausmaßes, untröstliche Trauer, Leiden der Seelen, Hass, der teils noch heute unter einer nur dünnen Oberfläche als Rassismus oder aggressiver Nationalismus wiederbelebt werden kann. So besehen ist das Völkerrecht eine blutige Schmerzensgeburt, die Verursachern der Leiden wie Opfern, Profiteuren wie Verlierern, Unbeteiligten wie Nutznießern, die allen gleichermaßen eine Möglichkeit aufzeigt, die Barbarei hinter sich zu lassen und eine internationale Ordnung aufzubauen, in der nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern die Stärke des Rechts. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Und tatsächlich wurde und wird das Völkerrecht vielfach gebrochen, überdehnt, willkürlich beiseite geschoben oder nach reinen Großmachtinteressen interpretiert. Es ist schwer angeschlagen. Aber es ist immer noch das Beste, das wir für eine Welt jenseits des Faustrechts haben. Und für die deutsche Außenpolitik ist es von besonders großer Bedeutung, weil erst die Herausbildung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen es vielen Staaten überhaupt ermöglicht haben, zu der ehemaligen Gefahr für die ganze Welt geordnete Beziehungen aufzunehmen; damals, 1973, als das „neue Deutschland“ in die Vereinten Nationen aufgenommen wurde, existierte es freilich noch in Form von zwei Staaten, der DDR und der BRD. In den Vereinten Nationen sind zunächst alle Staaten gleich, große wie kleine, ethnisch homogene wie plurinationale, Staaten mit einer autokratischen Regierung, konstitutionelle Monarchien, Staaten mit parlamentarischen oder anderen Formen von Demokratien (wie – denkbare – unmittelbare, Volks- oder Rätedemokratien), der Vatikan und selbst Diktaturen haben gleiche Rechte und Pflichten – im Rahmen des Völkerrechts. Weil noch immer und schon wieder in internationalen Beziehungen das Recht gegenüber einer selbstherrlichen Großmacht, national bornierten Einzelinteressen oder purer Willkür
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ins Hintertreffen gerät, wäre es ein lohnendes Ziel, dieses kostbare wie fragile Völkerrecht zur normativen und moralischen Richtschnur deutscher Außenpolitik zu machen. Das ist leider nicht der Fall. Das Völkerrecht verbietet Grenzveränderungen, unabhängig davon, wie sie zustandegekommen sind, durch einseitige Akte und gewaltsame Intervention, es orientiert sich an der Charta der Menschenrechte in ihrer Einheit von individuellen Freiheits- und sozialen Rechten. Zwischen Staaten ist die Anwendung von Gewalt, schon die Androhung von Gewalt verboten, auch wenn sich einzelne Staaten nicht daran gebunden fühlen. Hingegen anerkennt die Charta der Vereinten Nationen ein Widerstandsrecht gegen Besatzung und diktatorische Willkür. So sind die Militärintervention Israels in den Gaza-Streifen im Juli/ August 2014 oder die EU- und US-Sanktionen gegen Russland zur gleichen Zeit nicht mit der Charta der Vereinten Nationen in Übereinstimmung zu bringen. In den Vereinten Nationen liegt die Ausübung des Gewaltmonopols beim Weltsicherheitsrat. Es ist ausdrücklich einzelnen Staaten, Staatengruppen oder (Militär-)Bündnissen entzogen; Kriege, zu denen sich etwa die NATO selbst mandatiert, siehe Jugoslawien, sind völkerrechtswidrig. Insofern irritiert die Frage nach einer besonderen Außenpolitik gegenüber Autokratien. Natürlich gibt es Staaten, zu denen Deutschland engere Beziehungen unterhält und solche, die im aktuellen Interessengeflecht für die Bundesregierung kaum eine Rolle spielen. Autokratische Regierungen befinden sich unter diesen wie jenen. Größere Nähe oder Ferne kann mit der Fragestellung nach einer besonderen Außenpolitik gegenüber autokratischen Regimen also nicht gemeint sein. Vielmehr könnte die Frage darauf zielen, dass und wie über deutsche Außenpolitik die Innenpolitik eines anderen Landes beeinflusst werden soll. Das könnte etwa über die Unterstützung einer Seite im Streit zwischen unterschiedlichen bis widerstreitenden Interessengruppen geschehen, über Einflussnahme auf die innere Verfasstheit, Durchsetzung einer „westlichen“ gegen eine „östliche“ Orientierung bis dahin, einen Regimewechsel herbeizuführen. Tendenzen in diese Richtung gibt es tatsächlich überdeutlich. Die Mittel reichen von offen innenpolitischen Aktivitäten von Stiftungen der Regierungsund ihnen nahestehender Parteien in anderen Ländern (zum Beispiel Aufbau und Förderung Vitali Klitschkos als Politiker in der Ukraine durch die Konrad-Adenauer-Stiftung), über staatliche Unterstützung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit oder, via Europäische Union, über Handelserleichterungen oder -hindernisse, Entwicklung oder Drosselung bis Abbruch von Kulturaustausch oder Boykott von sportlichen Großveranstaltungen (dazu gehört auch schon die demonstrative Nichtteilnahme von Bundespräsident Joachim Gauck an den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi), Behandlung von genehmen Politikern oder Parteien quasi als Regierungsvertreter oder Regierungsparteien; so wurde das Bündnis der eher konservativ-autokratischen syrischen Opposition, die Nationale Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte, schon im Dezember 2012 von 130 Staaten weltweit, darun-
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ter der Bundesrepublik Deutschland, als „die“ – auf den Artikel kommt es an – „legitime Vertretung des syrischen Volkes“ anerkannt, seit Juli 2013 hat sie ein nationales Verbindungsbüro in Berlin. Zielen die außenpolitischen Interessen der Bundesregierung auf einen Regierungswechsel, dann liegt militärisches Eingreifen in der Luft. Durch das Vetorecht der fünf Ständigen Mitglieder ist im Weltsicherheitsrat ein Zwang zur Balance gegeben, damit auch zur Entscheidung, ob er vom Gewaltmonopol Gebrauch macht oder nicht. Diese Regelung ist bis heute unbequem, aber sinnvoll. Sie kann den Weg zu einem Interessenausgleich öffnen. Anders als vielfach behauptet, sind nicht alle Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrats aktiv umzusetzen – und schon gar nicht militärisch. Sie können ihre Nähe oder Ferne durch direkte Unterstützung, Duldung oder durch Ablehnung zum Ausdruck bringen. So geschehen bei der deutschen Stimmenthaltung 2011 zum Libyen-Krieg, für die Bundesregierung vom damaligen Außenminister Guido Westerwelle vorgenommen. Die Resolution zur Flugverbotszone hat in diesem Konflikt zwar einen Rechtsrahmen gesetzt, politisch war sie jedoch falsch und die deutsche Distanz allemal gerechtfertigt. Das Völkerrecht lässt einen breiten Spielraum für nationales Handeln wie für die souveräne Politik von Bewegungen und Parteien. Geändert haben sich in den letzten Jahrzehnten die Macht- und Einflussverhältnisse in der Welt. Die USA sind dabei, ihren alleinigen Großmachtanspruch zwar immer deutlicher zu erheben, aber zugleich einzubüßen. Andere Staaten wie die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) gewinnen deutlich an Einfluss, politische Bewegungen erheben den Anspruch, die Geschicke der Welt mitzubestimmen. In diesen Prozessen wandelt sich auch das Verständnis von völkerrechtlichen Normen. So kann das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Konflikt geraten mit dem Grundsatz, dass Grenzen nur in gegenseitigem Einverständnis verändert werden können. Die Lostrennung etwa des Kosovo von Serbien oder der Krim von der Ukraine entsprachen der Absicht der Mehrheit der Bevölkerung in diesen Gebieten, sie verletzten aber trotzdem das Völkerrecht. Das taten vor allem diejenigen Staaten, die die Lostrennung aktiv unterstützten und betrieben. Zugleich darf das Recht auf Plebiszit zum politischen Status der eigenen Region nicht eingeschränkt werden; es legitimiert zwar keine Lostrennung, ist aber ein starkes politisches Signal. Aktuell scheitern die Forderungen, Wünsche und Hoffnungen zum Beispiel der Kurdinnen und Kurden auf einen gemeinsamen Staat Kurdistan oder der Basken auf einen eigenen Staat am nicht vorhandenen gegenseitigen Einvernehmen von Bewegungen und Regierungen ihrer Länder. Diese, auch die Konflikte um die Ostukraine, verweisen auf dringend notwendige international abgestimmte und garantierte rechtliche Regelungen unterhalb der Schwelle der eigenen Staatlichkeit, die ein hohes Maß an Autonomie herstellen und sichern. Umstritten ist auch das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten. Eine Außenpolitik mit dem Ziel der Veränderung
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einer Gesellschaft – sie wird gern als „Demokratisierung“ verkauft – oder einer staatlichen Ordnung (Regime Change) hat Konjunktur. Auch Deutschland hat in zahlreichen Konflikten aktiv auf Regime Change gesetzt und dafür logistische und/oder militärische Unterstützung gegeben. In Syrien zum Beispiel geht es der deutschen Außenpolitik um den Sturz von Präsident Assad, in Libyen ging es der NATO darum, Gaddafi zu erledigen, und die Verjagung von Präsident Janukowitsch in der Ukraine war der Beginn des Bürgerkriegs. Das Ergebnis ist zunehmende Instabilität, auch in Europa. Gegenüber Kuba, Venezuela oder Nicaragua versucht die deutsche Außenpolitik ebenfalls Regime Change. Die Begründungen sind von Syrien bis Kuba im Wesentlichen gleich: Verletzung von Menschenrechten und Mangel an Demokratie. Beide sind aber offensichtlich kein Grund, Saudi-Arabien, Katar oder Kolumbien eine enge Zusammenarbeit zu verweigern. Im August 2014 stoppte die Bundesregierung einen Rüstungsdeal von Rheinmetall und Russland – doch an Saudi-Arabien werden mehr deutsche Waffen denn je geliefert. Die Linke ist für den Stopp jeglicher Rüstungszusammenarbeit und jeglichen Waffenexports. Doch doppelte Standards machen die deutsche Außenpolitik so prinzipienlos, auch unmoralisch. Es lohnt sich, etwas beim deutsch-russischen Verhältnis zu verweilen: Russland soll mit den EU-Sanktionen „bestraft“ werden. Und mit der Aufkündigung des Rheinmetall-Deals geht die Bundesregierung über die EU-Sanktionen hinaus. Will Deutschland der Zuchtmeister Europas sein? Und Russlands gleich mit? Zu dem Staat Israel hat der Staat Deutschland ein besonderes Verhältnis, vollkommen zu Recht begründet durch den industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Sollten nicht wenigstens Zurückhaltung und Respekt gegenüber Russland gelten angesichts der 27 Millionen toter Sowjetbürger, ermordet im faschistischen Eroberungsfeldzug? Deutschland sortiert seinen Platz in der Weltpolitik neu. Bundespräsident Köhler musste gehen, weil er den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit deutschen Interessen, einschließlich Wirtschaftsinteressen, begründet hat. Die jetzige schwarz-rote Bundesregierung und sogar Bundespräsident Gauck haben sich von der militärischen Zurückhaltung verabschiedet, sie erheben Anspruch auf eine Weltgeltung Deutschlands als großer Macht. Außenminister Steinmeier drückte es so treffend auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 aus: „Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“ Eben diese großmachtpolitischen Ambitionen führen zu Willkür und Doppelmoral – nicht zuletzt durch die Unterscheidung in eine Außenpolitik für vermeintliche Demokratien und eine andere für vermeintliche Autokratien. Die Linke meint: Deutschland soll sich gegenüber Drittstaaten nicht an „Strafaktionen“ oder repressiven Handlungen beteiligen und seine Grenzen für Menschen in Not öffnen. Es soll auf eine Rolle als Groß- oder Mittelmacht verzichten und zur Auflösung von Blockbildungen
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Die Linke: Deutschland ist kein Zuchtmeister
und Militärbündnissen beitragen. Die Durchsetzung dieser Prinzipien kann mit dem Begriff der „deutschen Zurückhaltung“ beschrieben werden und bringt deutsches Verfassungsrecht, das Grundgesetz, in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht, der Charta der Vereinten Nationen. Als Verfassungsstaat müsste Deutschland auch nach außen Verfassungspolitik machen; völkerrechtliche Normen würden allen Staaten gegenüber gleichermaßen eingehalten. Dafür treten zurzeit nicht die Bundesregierung und nicht die Bundestagsmehrheit ein, sondern nur Die Linke. Sie meint, dem Völkerrecht und dem Grundgesetz entspricht, dass Deutschland auf die militärische Komponente als Mittel der Außenpolitik verzichtet und vollständig aus dem Geschäft mit dem Tod, der Produktion von Rüstungsgütern und deren Export aussteigen muss. Frieden braucht nicht nur Recht und Völkerrecht, sondern auch globale Gerechtigkeit. Eine effektive Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt erfordert eine andere Wirtschaftspolitik. So wie die Bundesrepublik laut Grundgesetz ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist, soll sie weltweit zu sozialem Ausgleich und sozialökologischem Umbau beitragen. Das Grundgesetz ist nicht auf eine Wirtschaftsordnung festgelegt und lässt eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse zu. International sollte Deutschland eine Einschränkung der Macht der transnationalen Konzerne und Banken und des Großgrundbesitzes möglich machen. Die Linke fordert, dass die Preise für Nahrungsmittel oder Medikamente staatlich gestützt werden können. Das darf keinem Staat verboten werden, soll es aber. Das Welthandelsabkommen ist gerade daran gescheitert, dass der indischen Regierung untersagt werden sollte, Grundnahrungsmittel für die arme Bevölkerung zu subventionieren. Tief deutsches Verfassungsrecht verletzen würde das Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP), mit dem unter anderem auch Eingriffe in private Eigentumsverhältnisse unmöglich gemacht werden sollen. In großem Umfang wird die nationale Gestaltung der Außenpolitik an die EU abgegeben. Die EU wird zum eigenständigen außenpolitischen Akteur. Die Erweiterung der Funktion der Außenbeauftragten, der Ausbau des Auswärtigen Dienstes der EU, die Ständigen Konferenzen der Außenminister und der Regierungschefs zur Abstimmung der gemeinsamen Außenpolitik beschreiben diesen Prozess. Doch die EU-Außenpolitik geht über die Köpfe der Menschen hinweg und sie ist autokratisch. Ihr mangelt es an demokratischen Formen, Entscheidungsgremien und der Rückkoppelung mit den Bevölkerungen. Die EU ist Mittel deutscher Außenpolitik und bindet sie gleichzeitig. Nun tragen die Verträge von Maastricht und Lissabon „Ewigkeitscharakter“, sie können nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten geändert werden. Für DIE LINKE ist eine Korrektur der Grundlagenverträge unverzichtbar. Auch für eine Außenpolitik der Zukunft kann es nicht bei den Verträgen von Maastricht und Lissabon bleiben. Denn eine Außenpolitik der Zukunft erfordert eine neue Dialektik von nationalen und europäischen Entscheidungen.
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Am 24. Januar 2011 empfing der damalige Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, hohen Besuch. Nach dem Termin, an den sich – anders als üblich – keine Pressekonferenz anschloss, berichtete die Brüsseler Behörde von einem „äußerst freimütigen und offenen“ Gespräch; Barroso habe insbesondere die Themen Menschenrechte und Freiheit angesprochen, „das Herz der EU-Außenpolitik“ also.1 Der Gast war Usbekistans Staatschef Islam Karimow. Ein Mann, den zu empfangen die belgische Regierung am selben Tag sich geweigert hatte; den Nichtregierungsorganisationen wahlweise einen Despoten oder Diktator nennen; der Anführer eines Regimes, das die Europäische Union (EU) mehrere Jahre lang bis 2009 mit Sanktionen belegt hatte, weil sie es Massakern an Oppositionellen bezichtigte. Karimow verließ Brüssel mit dem Versprechen, daheim politische Reformen voranzutreiben – und mit einer Absichtserklärung von Europäern und Usbeken, im Energiebereich künftig enger zusammenzuarbeiten.2 Karimow ist ein Autokrat von vielen. Er steht stellvertretend für Dutzende weltweit mit harter Hand Regierender, zu denen die EU bzw. deren Mitgliedsregierungen mehr oder weniger intensive Kontakte pflegen; oder – es gibt ja die vorgeschobenen und berüchtigten „Sachzwänge“ – pflegen müssen: weil unsere (viel zu fossil-lastige) Energieversorgung von ihnen abhängig ist, siehe Algerien, diverse Golf-Monarchien, Russland, Aserbaidschan, Kasachstan. Oder weil ihre Lage auf der Weltkarte sie zu unserem „natürlichen Partner“ bei der Abschottung unseres von Flüchtlingen ach so bedrohten Kontinents hat werden lassen. 1 2
Pressemitteilung der Europäischen Kommission, Statement of European Commission President José Manuel Barroso Following His Meeting with the President of Uzbekistan Islam Karimov, 24.1.2011, (abgerufen am 25.10.2014). Vgl. Scharfe Kritik an EU-Empfang für Karimow, in: Deutsche Welle Online, 25.1.2011, (abgerufen am 25.10.2014).
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Bündnis 90/Die Grünen: In der Grauzone hilft abgestufte Konditionalität
Plan B: Realistisches Denken jenseits des Nationalstaats Der „Westen“ hat in den vergangenen Jahrzehnten viele andere Weltregionen und Systeme wirtschaftlich abgehängt und fühlt(e) sich – möglicherweise eben deshalb – ihnen gegenüber auch moralisch überlegen. Spätestens mit dem Auseinanderfallen der Sowjetunion brach sich überdies allen voran in den USA der (wie man heute weiß: naive) Gedanke Bahn, vormals diktatorisch regierte Staaten würden sich praktisch über Nacht in blühende Demokratien verwandeln. Mark Lilla konstatiert in diesem Zusammenhang, zur allgemeinen Überraschung habe das Ende des Kalten Krieges „nicht zu einem Vormarsch der liberalen Demokratie [geführt], sondern zu einem Wiedererscheinen klassischer Formen der nichtdemokratischen Herrschaft in modernem Gewand“. Die „Schocktherapie“ nach dem Zusammenfallen der Sowjetunion habe „neue Oligarchien und Kleptokratien“ zu Tage gefördert.3 Der Politikwissenschaftler an der Columbia University in New York kommt zu einem nüchternen Schluss: Aufgrund diverser Faktoren wie ethnischer und religiöser Spannungen, wirtschaftlicher Ungleichgewichte oder einstmals von Kolonialmächten willkürlich gezogener Grenzen würden „Milliarden von Menschen weder zu unseren Lebzeiten noch zu denen unserer Kinder und Enkel in liberalen Demokratien leben – wenn denn überhaupt jemals“.4 Wir sollten wahrscheinlich unsere lange gehegten Hoffnungen auf ein – schnelles – „Ende der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama einst prophezeite,5 begraben. Wir müssen auch ehrlich fragen, wo das Projekt, unser über Jahrzehnte gewachsenes, immer wieder von Rückschlägen begleitetes politisches System zu exportieren, gelungen ist. Freie, direkte Wahlen (inklusive von uns entsandter Beobachter), ein solides, unabhängiges Justizwesen, „nation-building“ oder „democracy-building“ mit allem, was dazugehört – wo ist es denn nachhaltig gelungen? Wir brauchen auch einen Plan B. Vielleicht sollten wir uns nicht länger einreden, man könnte die Welt auch künftig noch einteilen in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, in (wirklich) lupenreine Demokraten und üble Despoten. Mark Lilla merkt dazu an, wenn die uns vorstellbaren Optionen allein „Demokratie oder die Sintflut“ hießen, dann begäben wir uns der Möglichkeit, positiv auf nichtdemokratische Regime einzuwirken.6 3
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Mark Lilla, The Truth About Our Libertarian Age. Why the Dogma of Democracy Doesn’t Always Make the World Better, in: The New Republic, 17.6.2014 (Übersetzung der Autorin), (abgerufen am 25.10.2014). Ebd. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992; dt. Übers.: Das Ende der Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr, München 1992. Lilla, The Truth About Our Libertarian Age, a.a.O. (Anm. 3).
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Und auch das ausschließliche Denken in den Kategorien des Nationalstaats scheint mir ausgedient zu haben; zumindest in dem Maße, wie Bewegungen zur Destabilisierung von Staaten und Demokratien im Facebook-, Internetund Smartphone-Zeitalter seit langem schon transnational agieren. Al-Qaida, Islamischer Staat (IS) und andere Terrorbanden handeln asymmetrisch, sie machen mit ihren Gräueltaten vor nationalen Grenzen schon lange nicht mehr halt; mit der klassischen Aufteilung der Diplomatie in Länderreferate und Botschaften alleine kommen wir kaum weiter. Schließlich fällt es mit Blick auf die Entwicklungen im Irak, in Libyen, in Somalia, im Sudan oder auch in Syrien schwer, noch von „Staatlichkeit“ im überkommenen Sinne zu sprechen. Muss die Konsequenz aus all dem heißen, dass gerade wir Europäer fortan das Thema Menschenrechte klein halten? Lautet die Schlussfolgerung daraus, dass man die Welt nicht besser machen kann, zwangsläufig, sie schlecht zu lassen? Ich meine, nein. Aber ich plädiere für einen Kurs, der Maßstäbe nicht so setzt, dass sie am Ende als Vorwand genutzt werden können, gar nichts zu tun (weil man ja eh nichts ändern kann) und sich dann nur auf reine Außenwirtschaftsoder Sicherheitspolitik reduziert. Vielmehr sollten wir Grautöne sehen und dafür echte menschenrechtsbasierte Antworten finden. Darüber hinaus wird das Grau noch grauer, wenn die Kooperation mit Autokraten oder „grauen“ Staaten notwendig ist, um Kriege zu beenden. Wo und wie kleine Schritte helfen können Wenn wir davon ausgehen, dass wir mit eindeutig nicht „lupenreinen“ Demokratien, wie Marokko, im Dialog und in Kooperation bleiben sollten, stellt sich die Frage, was in diesem Dialog gesagt wird und wie sich die Kooperation gestaltet. Wir müssen sie nicht hofieren. Sie wollen ja auch etwas von uns – Waren und Dienstleistungen, unser Know-how, unsere Touristen oder den Zuschlag für internationale Großveranstaltungen. Die Worte im Dialog müssen dabei klar sein, öffentlich wie nicht öffentlich gilt es, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. In der Kooperation sollten wir einen gestuften Konditionalisierungsprozess entwickeln, wie das die Europäische Kommission ansatzweise versucht. Bei jedem Projekt oder Vorhaben sollte genau untersucht werden, welche im Projekt inhärente Logik sich anbietet, um konkrete Bedingungen für die Verbesserung der Menschenrechtslage zu formulieren. Um dies mit einem Beispiel zu hinterlegen: Wir Europäer und Deutsche bieten unseren (schwierigen) Partnern Unterstützung bei Reformen im Justizsektor an. Autoritäre Systeme haben viele Mängel, aber sie haben immerhin den Vorzug, dass sie über Strukturen verfügen – keine „failed states“ darstellen. Natürlich ist in diesen Ländern das Justizsystem nicht perfekt, sonst müsste es nicht reformiert werden. Eine Bedingung für unsere Hilfe sollte aber sein, dass ein erkennbarer und nach-
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weisbarer Wille vorhanden ist, die Reformen auch umzusetzen und nicht nur Gelder des Westens in ihren dann letztendlich doch unreformierten Justizsektor zu stecken und einigen seiner Mitglieder schöne Reisen nach Europa zu finanzieren. Wenn man also zum Beispiel angehende Richter und Anwälte ausbildet, müssten im Gegenzug die Regierungen sich verpflichten, diese Juristen nicht nach kurzer Zeit wieder zu entlassen oder, sobald sie das Erlernte anwenden, sie zu degradieren. Ähnliches kann man bei der Förderung von Wohnungsbau oder anderen durch die Europäische Investitionsbank (EIB) oder Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) finanzierten Großprojekten festmachen: Erstens sollten die Betroffenen oder Adressaten der Projekte in die Planungen eingebunden und Projektgelder für diese Prozesse zur Verfügung gestellt werden. Zweitens sollten lokale Organsiationen unterstützt werden, die die Transparenz der Umsetzung des Projekts sowie der Vergabe der Mittel überprüfen; drittens muss man selber durch größtmögliche Transparenz ihnen dafür auch die notwendigen Informationen liefern. Und wir Europäer müssen dazu übergehen, unsere Hilfe(n) untereinander abzustimmen, sie im gemeinschaftlichen Rahmen zu gewähren. Sind nationale Beamte und Diplomaten, die alle paar Jahre ihre Posten wechseln, wirklich immer die kompetentesten Ratgeber? Sollte man sich nicht mehr der zunehmenden Expertise des Auswärtigen Dienstes in Brüssel bedienen – und damit auch dem Vorurteil entgegenwirken, die Europäer könnten nicht mit einer Stimme sprechen? Apropos sprechen: Autoritär geführte Systeme neigen dazu, ihre eigene Bevölkerung – zumal in Konfliktphasen – propagandistisch zu beeinflussen. Wie sollen westliche Demokratien reagieren, wenn sie – wie im Fall der Annexion der Krim durch Russland Anfang 2014 – der Unterstützung „faschistischer“ Kräfte (in der Ukraine) bezichtigt werden? Nicht mit der Verbreitung von Gegenpropaganda oder Lügen, sondern mit der Wahrheit, rät die Politologin Martha Bayles aus Boston.7 Sie hält die im Zweiten Weltkrieg letztlich erfolgreiche „public diplomacy“ für überlegen; man solle auf sie setzen, auch wenn man es heute mit immer subtileren Methoden der Beeinflussung westlicher Meinungsmacher und Medien durch einen Sender wie „Russia today“ zu tun hat, der auch britische, amerikanische oder deutsche Journalisten für seine Zwecke einspannt.8
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Martha Bayles, Putin’s Propaganda Highlights Need for Public Diplomacy, in: The Boston Globe, 28.7.2014, (abgerufen am 25.10.2014). Vgl. dazu auch: Bernd Ulrich, Die Welt ist verrückt – und was machen wir? In: Die Zeit, 2.9.2014.
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„Sicherheit“ realistischer definieren Wir sollten auch unsere Sprache und Konzepte überprüfen: Die deutsche Regierung nennt Saudi-Arabien einen „Partner“, einen Stabilitätsfaktor in einer höchst unsicheren Region. Gleichwohl liefert das Königreich keineswegs Sicherheit, sondern es finanziert und baut jene mit auf, für deren Eindämmung oder Bekämpfung wir später seine Hilfe benötigen. Wir haben ebenfalls Ägypten unter seinem langjährigen früheren Machthaber Hosni Mubarak unterstützt, weil sein Regime uns – scheinbar – regionale Stabilität verhieß. Wenn wir gegenüber seinem Nachfolger Abdel Fattah al-Sisi den gleichen Kurs fahren, setzen wir nichtinklusive Gesellschaften sowie Unterdrückung eines Teiles der Bevölkerung mit „Stabilität“ gleich. Die Regierung des Irak unter dem früheren schiitischen Premier Nuri al-Maliki hat durch ihren Kurs des Ausschlusses der Sunniten gezeigt, wie man eben keine Stabilität und Sicherheit schafft, sondern ihr Gegenteil. Es gilt daher, Sicherheit realistischer zu definieren und entsprechend zu handeln. Krieg und Menschenrechte Schwieriger wird es, wenn wir autokratische Regierungen brauchen, um der internationalen Schutzverantwortung („responsibility to protect“) gerecht zu werden. Der Umgang der meisten westlichen Staaten mit Autokrat(i)en weltweit war und ist von einem grundlegenden Dilemma geprägt. Wie weit sind wir bereit, von unseren eigenen Prinzipien abzuweichen, wenn unser Gegenüber sich schon allein deshalb in einer Position der Stärke wähnt, weil wir etwas von ihm wollen, nämlich Frieden. Inwieweit können wir bei offenkundigen Menschenrechtsverletzungen oder Grundwerteverstößen um des sprichwörtlichen lieben Friedens willen schweigen? Gibt es Situationen, in denen diese Dilemmata eingegangen werden müssen? Ja, auch wenn es bisweilen schwerfällt. Etwa, wenn das Ziel der Deeskalation zur Vermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen in Konkurrenz steht zur Kooperation mit Autokraten. Wenn ein Staat wie der Iran geostrategisch so einflussreich und mächtig ist, dass man seine Kontakte und seinen Einfluss schlichtweg nicht ignorieren kann beim Versuch, Länder in seiner Nachbarschaft zu stabilisieren. Wenn Großmächte wie Russland oder China sich allein durch ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat in einer solch starken Position befinden, dass sie beim Bemühen um Eindämmung diverser Krisenherde wohl oder übel eingebunden werden müssen. Aber muss man sich, wie der langjährige frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, zum PR-Agenten und Türöffner despotischer Staatschefs aus Kasachstan oder Aserbaidschan machen?9 Muss man – un9
Jörg Lau, Das bisschen Unterdrückung, in: Die Zeit, 21.2.2013.
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geachtet aller strategischen Bedeutung Russlands – so unkritisch bis liebdienerisch den Putin-Versteher geben wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder oder der (aktive) CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder? Darf man auch nur darüber nachdenken, einen Massenmörder wie Baschar al-Assad wieder aus der Ächtung zu holen, weil er vermeintlich als Feind unserer Feinde erscheint? Nein, es gibt Grenzen für das Eingehen von Kompromissen, denn irgendwann sind sie nur noch faule Kompromisse. Ein Dilemma kann auch strukturell angelegt sein, und dann darf man sich nicht gegen die Menschenrechte entscheiden. Ich denke da an den Dauerkonflikt und Krieg zwischen Israelis und Palästinensern im GazaStreifen. Immer wieder vermittelt Ägypten, und immer wieder wird danach nichts Grundlegendes zu Gaza verändert. Für die Vermittlungshilfe bekommt die jeweilige ägyptische Regierung dann zumindest für eine gewisse Zeit einen Blankoscheck, im eigenen Land die Menschenrechte mit Füßen zu treten und Oppositionelle ins Gefängnis zu stecken. In diesem Dreieck haben sich alle federführenden Parteien gut eingerichtet, zum Leid der Menschen aller drei Länder. Hier wird aus dem Dilemma ein No-Go, und bevor man sich auf ein solches einlässt, sollte man sich zur Befriedung bewaffneter Konflikte lieber andere Vermittler suchen. Auch bei der Beilegung und Transformation von Konflikten und Kriegen in einem Land gibt es oft schwierige Abwägungsprozesse. Einerseits ist die Herstellung transparenter, nichtkorrupter Verfahren von erheblicher Bedeutung bei dem Versuch, Gewaltspiralen zu durchbrechen. Andererseits hat die internationale Gemeinschaft schmerzhaft die Erfahrung machen müssen, dass eine Transformation ohne Integration zumindest eines Teiles der alten, häufig korrupten und menschenrechtsverletzenden Elite zum Scheitern verurteilt ist. Die Angst vor dem Verlust von wirtschaftlichen Vorteilen bei Friedensschließung kann Kriegsparteien weiter in den Krieg und nicht zum Frieden treiben. Hier gilt es, über den Faktor Zeit das Dilemma zu lösen. Im besten Fall werden im Laufe von Friedensverhandlungen Prozesse angestoßen, die die Übergänge in der Nachkriegsgesellschaft hin zu transparenten und die Menschenrechte respektierenden Systemen sinnvoll befördern. Im schlechtesten Fall verstärken sich das Misstrauen und die Ablehnung gegenüber den Herrschenden. Außerdem sind internationale Missionen oder zumindest einige ihrer Mitglieder und/oder Vertreter häufig selbst in Korruption und teilweise gar auch in Vergewaltigungen involviert. Es gilt also besser zu überprüfen und zu garantieren, dass Friedens- und Aufbaumissionen nicht Teil des korrupten und menschenverachtenden Systems werden. Wir müssen uns schließlich wappnen für den Fall, dass wir an Sanktionen nicht vorbeikommen und damit möglicherweise selber zur Zielscheibe von Retorsionen werden. Solange Autokraten darauf setzen können, unsere Meinungsunterschiede auszuspielen, uns auseinander zu dividieren, indem sie dem einen das Gas oder dem anderen das Öl abdrehen, bleiben wir schwach.
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Dagegen helfen Mechanismen der Solidarität – zum Beispiel ein Sanktionsfonds, den Europa einrichten könnte, um jenen Staaten unter die Arme zu greifen, die ins Visier wirtschaftlich bedrohlicher Strafmaßnahmen von Autokratien kommen. Es gelte, die Kosten von Sanktionen und Stornierungen von Geschäften „halbwegs gleichmäßig“ zu verteilen, riet der erfahrene Diplomat Wolfgang Ischinger auf dem Höhepunkt der Ukraine-Russland-Krise im Sommer 2014.10 So banal es klingt: Im Umgang mit Autokraten muss im Einzelfall abgewogen werden, welcher Ton angeschlagen und welche Schraube angezogen werden soll. Die Folgen unseres Vorgehens – für uns und vor allem für jene, die auch weiterhin mit und unter den Autokraten leben müssen – gilt es im Blick zu halten. Und unser Handeln muss aus einem Guss und solidarisch sein. Sonst gewinnt am Ende nur der, den wir doch eigentlich bändigen wollen.
10 Wolfgang Ischinger, Die Ukraine-Krise und die Sicherheit Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.9.2014.
VI.
Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen
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Schlussfolgerungen und Empfehlungen zum Umgang mit Autokratien Josef Braml, Wolfgang Merkel und Eberhard Sandschneider1
Allein der Blick in unsere unmittelbare geografische Nachbarschaft verdeutlicht, dass wir uns auch mit autokratisch geführten Staaten ins Benehmen setzen müssen. Doch der Umgang mit Autokratien ist schwierig, es gibt kein allgemein anerkanntes Patentrezept. Häufig sehen sich politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger Zielkonflikten gegenüber: Hat der Einsatz für Menschenrechte einen wirtschaftlichen Preis? Gefährden Demokratisierungsbemühungen und die damit angestoßenen unkontrollierbaren Transformationsprozesse politischer Systeme die regionale Stabilität und Sicherheit? Scheitert das „normative Projekt“ des Westens angesichts erstarkender Autokratien, die unveräußerliche Menschenrechte und Demokratie unterlaufen und westlichen Demokratien, nicht ganz zu Unrecht, Doppelstandards vorwerfen? Können westliche Staaten ihrer „Schutzverantwortung“ gerecht werden? Haben sie diese sogar missbraucht, um einen durch die Vereinten Nationen nicht legitimierten „Regime Change“ im Irak oder in Libyen zu vollziehen? Dass die Staatengemeinschaft bisweilen die Souveränität von Staaten – die Norm der Nichtintervention, das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten – auch ohne UN-Mandat bricht, bezeichnen nicht nur die Machthaber in Peking und Moskau, sondern auch westliche Vertreter der realistischen Denkschule als „organisierte Heuchelei“.2
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Die Herausgeber stützen sich bei ihren Schlussfolgerungen und Empfehlungen (teilweise auch im Wortlaut) auf die zentralen Ergebnisse ihrer Kolleginnen und Kollegen, die in ihren Beiträgen Teilaspekte analysiert haben, ohne dass diese immer explizit genannt oder zitiert werden. So Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Princeton 1999.
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Schlussfolgerungen und Empfehlungen zum Umgang mit Autokratien
Zieldefinition: Wo geht’s nach Westen? Doch die auf souveräne Territorialstaaten gebaute „Westfälische Ordnung“ wurde weiterentwickelt: Wenn ein Staat nicht fähig oder willens ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten oder gar zum hostis populi des eigenen Volkes wird, verwirkt er Teile seiner Hoheitsrechte; seine Souveränität ist demnach bedingt: Das Souveränitätsrecht eines Staates soll an die „Verantwortung zum Schutz“ (Responsibility to Protect)3 der eigenen Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen und an die Bedingung geknüpft werden, dass vom eigenen Territorium keine Bedrohung für andere Länder ausgeht. Wer den langen Weg des Westens so gut wie der Historiker Heinrich August Winkler kennt, muss konstatieren, dass das „normative Projekt“ des Westens „klüger als seine Urheber“ war, aber auch heute „kein Selbstläufer“ ist. Gleichwohl diente es „als ständiges Korrektiv der politischen Praxis des Westens und entfaltete so eine konfliktreiche Dynamik, die die Geschichte der westlichen Demokratien bis heute prägt“, betont Winkler in seinem grundlegenden Beitrag. Auch die jüngere Geschichtsschreibung verdeutlicht, dass das nach dem Untergang der Sowjetunion im Zuge der dritten Demokratisierungswelle ausgerufene „Ende der Geschichte“ noch nicht erreicht ist. Es ist bezeichnend, dass der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der 1991 vorschnell den Siegeszug liberaler Demokratien und ihrer marktwirtschaftlichen Ordnungen prophezeite, nunmehr an der demokratischen Qualität der westlichen Führungsmacht zweifelt.4 Auch wenn man von den Qualitätsverlusten der eigenen Demokratien absieht, die durch den „Globalen Krieg gegen den Terror“ und die Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise in Kauf genommen wurden, stellt sich die Frage, ob westliche Demokratien neben dem Verlust ihrer Soft Power, ihrer Vorbildfunktion und Anziehungskraft, auch an innen- und außenpolitischer Handlungsfähigkeit eingebüßt haben. Angesichts massiver wirtschaftlicher und sozialer Probleme zu Hause tun sich international agierende Regierungen schwer, ihren Bürgerinnen und Bürgern zu Hause die eigenen Kosten für „Nation and State Building“ in weit entfernten Ländern zu erklären. Demokratische Regierungen haben mit innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen, ihre Auslandseinsätze gegenüber der eigenen Bevölkerung zu legitimieren, wie die Analysen des DGAP-Jahrbuchs „Einsatz für den Frieden“ ver-
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Das Prinzip der Schutzverantwortung wurde unter anderem auch im Abschlussdokument des UNGipfels 2005 paraphiert. Francis Fukuyama, America in Decay. The Sources of Political Dysfunction, in: Foreign Affairs, September/Oktober 2014.
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deutlicht haben.5 Das jüngste Beispiel ist die von US-Präsident Barack Obama markierte „rote Linie“, die Syriens Diktator Assad davon hätte abhalten sollen, Giftgas gegen seine Bevölkerung einzusetzen. Nachdem das britische Parlament seinem Premier David Cameron die Militäroption verweigerte, entschied sich jedoch auch Obama, Assads Giftgasangriffe nicht einmal mit symbolischen Luftangriffen zu vergelten und die Verantwortung für sein Nichthandeln an den Kongress zu delegieren. Die westlichen Staaten haben versagt, den Massenmord in Syrien zu verhindern. Die vermeintlichen „Staatenbauer“ und „Demokratieexporteure“ sehen sich, nicht zuletzt aufgrund gravierender außenpolitischer Fehler wie dem Desaster im Irak, heute gezwungen, sich im Kampf gegen Al Qaida und den Islamischen Staat (IS) mit autokratischen Regimen zu arrangieren, etwa mit dem Iran, um (Energie-)Sicherheit und Wohlstand für ihre Bürger gewährleisten zu können. In jedem der hier untersuchten westlich orientieren Länder ist ein ausgeprägter Trend zum außenpolitischen Pragmatismus erkennbar. Dies gilt insbesondere für die westlichen Führungsmächte: Seit jeher ordnen die USA wenn nötig die demokratischen Werte pragmatisch den wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen unter. Auch in Japans Außenpolitik nach 1945 spielt – aufgrund der geopolitischen Rahmenbedingungen Ostasiens und des damit zusammenhängenden Sicherheitsbündnisses Japans mit den USA – die Unterscheidung zwischen autokratischen und demokratischen Systemen praktisch keine Rolle. Die Grande Nation Frankreich hat sich im Laufe der Jahre den Ruf erarbeitet, eine eher pragmatische Politik gegenüber autokratischen Regimen zu betreiben. Dass Kanada Abstriche bei seiner Prinzipienfestigkeit macht, wird deutlich, wenn Handelsinteressen, insbesondere die Energieversorgung, berührt werden: Kanada, das mit großen fossilen Ressourcen reich gesegnet ist, führt Öl und Gas aus Algerien ein, um seine Ostprovinzen zu versorgen. Auch in Großbritanniens Außenpolitik wird die „Liebe zum Pragmatismus“ deutlich: Faktoren wie die Beschaffenheit des internationalen Systems, historische Bindungen zu ehemaligen Kolonien oder wirtschaftliche Interessen prägen unter Umständen wesentlich stärker als die Ausrichtung auf liberale und demokratische Werte. Gleichwohl haben die überraschenden und andauernden Transformationsprozesse in der arabischen Welt in den Hauptstädten westlicher Staaten zum Nachdenken geführt. Großbritanniens Premierminister Cameron etwa verdeutlichte in seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen: „Einige haben argumentiert, dass Stabilität in der arabischen Welt nur durch strenge Kontrolle und starke autoritäre Regime erreicht werden kann, und dass Reform eine Bedrohung der Stabilität ist. Das Gegenteil ist wahr. Reform 5
Josef Braml, Thomas Risse, Eberhard Sandscheider (Hrsg.): Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Jahrbuch Internationale Politik, Band 28, München 2010.
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ist die Basis langfristiger Stabilität.“6 An der indonesischen Al Azhar-Universität präzisierte Cameron dann noch, dass der Arabische Frühling gezeigt habe, „dass den Menschen ihre Rechte im Namen von Stabilität und Sicherheit zu verwehren, letztendlich dazu führt, dass Staaten weniger stabil sind.“7 Strategische Perspektive einnehmen Auch heute sollten westliche Regierungen sich davor hüten, im Kampf gegen den Terror, etwa gegen Al Qaida oder IS, Allianzen mit Autokratien im Nahen und Mittleren Osten einzugehen, die ihrerseits den ideellen und finanziellen Nährboden für diese „Aufständischen“ bereitet haben. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf Katar und Saudi-Arabien. Der Zweck sollte auch nicht die Mittel heiligen, etwa Militärhilfe oder die Lieferung von Rüstungsgütern an Staaten, die diese Waffen gegen die eigene Bevölkerung einsetzen oder aufgrund ihres fehlenden Gewaltmonopols nicht verhindern können, dass diese in die falschen Hände geraten. Insofern sind die „Leitlinien der deutschen Rüstungsexportpolitik“, die Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel in seinem Beitrag ausgeführt hat, nur zu begrüßen: „Außen- und Sicherheitspolitik muss Ausgangs- und Zielpunkt einer rüstungspolitischen Strategie Deutschlands – und soweit erreichbar – auch Europas werden.“ Wenn ein Wirtschaftsminister selbst zu dem Urteil kommt, dass die Analyse der Außen- und Sicherheitspolitik als Ausgangspunkt der Rüstungsexportkontrolle besser vom Außenministerium wahrgenommen werden kann, dann sollte man bei der nächsten Regierungsbildung gründlicher über die Aufgabenverteilung auf die einzelnen Ressorts nachdenken: „Die ebenso rasanten wie besorgniserregenden Veränderungen, die wir derzeit weltweit erleben, werden jedenfalls mit Sicherheit im Außenministerium mit Blick auf Rüstungsexportpolitik schneller und qualifizierter analysiert und beurteilt werden können als im Wirtschaftsministerium“, so Gabriel in diesem Band. Grundlegend für den Umgang mit Autokratien sollte die Einschätzung sein, wie „stabil“ diese Autokratien wirklich sind. Dabei ist es wichtig, eine strategische Perspektive einzunehmen. Wenige Beobachter erkannten die Vorboten des Arabischen Frühlings; noch weniger haben damit gerechnet, dass die Herrscher in Ägypten oder Syrien ins Wanken geraten könnten. Insofern war auch jene Realpolitik, welche die Gräueltaten dieser Diktatoren ignorierte und sich im Namen von Stabilität und Sicherheit mit ihnen arrangierte, auf Sand gebaut. Bereits zuvor erwies sich die „Stabilität“, von der die deutsche Ostpolitik ausging, als unerwartet brüchig. 6 7
Cabinet Office, Prime Minister’s First Speech to the UN General Assembly, 22.9.2011, (abgerufen am 10.8.2014). Cabinet Office, PM’s Speech about Indonesia’s Transformation at Al Azhar University, 12.4.2012, (abgerufen am 10.8.2014).
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Politik und Wissenschaft hatten zu lange ihren Blick auf die Eliten dieser Regime verengt; das Volk als Treiber grundlegender Veränderungen wurde ausgeblendet. Damals wurden die Bürgerrechtsbewegungen des östlichen Mitteleuropa unterschätzt, nunmehr die Menschen, die im arabischen Raum auf die Straße gingen und ihr Leben riskierten. Wieder hatten sich „die selbsterklärten Realisten als unrealistisch erwiesen, und die Idealisten standen als die besseren Realisten da“.8 „Wir sollten auch unsere Sprache und Konzepte überprüfen“, rät Franziska Brantner von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Wir haben Ägypten unter seinem langjährigen früheren Machthaber Hosni Mubarak unterstützt, weil sein Regime uns – scheinbar – regionale Stabilität verhieß. Wenn wir jetzt gegenüber seinem Nachfolger Abdel Fattah al-Sisi den gleichen Kurs fahren, setzen wir nichtinklusive Gesellschaften sowie Unterdrückung eines Teils der Bevölkerung mit ‚Stabilität‘ gleich.“ Wir sollten also Stabilität realistischer denken und entsprechend handeln. Auch wenn wir nach diesen Erfahrungen wieder etwas klüger geworden sind, den Machtdemonstrationen autokratischer Herrscher – und der Status quoOrientierung unseres Denkens – zu misstrauen, bleibt unser Instrumentarium begrenzt, künftige Entwicklungen einschätzen zu können, zumal von Herrschaftsformen, die wenig transparent sind und deren Regimedynamiken vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern des Westens fremd sind. Aber auch ein euphorisierter Blick auf die Protestmobilisierungen verhindert eine klare Analyse. Der Arabische Frühling ist mit der Ausnahme Tunesiens schon längst im Herbst angekommen. Demokratie ist eine normativ nicht zu übertreffende politische Ordnung. Der Weg dorthin aber, die Demokratisierung ist steinig, riskant und voller Stabilitätsrisiken. So sind insbesondere Regime von Bürgerkriegen bedroht, in denen der Transformationsprozess sich hinzieht, unterbrochen wird und unvollendet bleibt. Ägypten, Irak und Syrien sind je auf ihre Weise die Menetekel an der Wand, die westliche Außenpolitik nicht übersehen darf. Ein vergleichender Blick von erfahrenen Regimeforschern hilft, Faktoren zu identifizieren, die den Ausschlag geben können für „Sein oder Nicht-Sein, Überleben oder Kollaps von autokratischen Regimen“. In ihrem grundlegenden Beitrag benennen Johannes Gerschewski und Wolfgang Merkel die zentralen Stabilisierungsfunktionen von autokratischen Regimen: Legitimation, Kooptation und Repression. Mit Legitimation versuchen autokratische Herrscher politische Unterstützung innerhalb der Bevölkerung zu generieren, mit Kooptation die Kohäsion unter den Eliten zu sichern und mit Repression die politischen Forderungen an das System, insbesondere mögliche Opposition
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Timothy Garton Ash, Lässt sich europäische Macht moralisch begründen?, in: ders.: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000-2010, München 2010, S. 119-136, hier S. 135.
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zu kontrollieren. Diese Stabilisierungsfaktoren waren grundlegend für die Fragenkataloge der Fallanalysen in diesem Band. Die Langzeitstudie der Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) erbrachte folgende Ergebnisse, die in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht werden: Wie erwartet verbesserten wirtschaftliche und soziale Performanz die Legitimation und damit Stabilität autokratischer Regime. Anders als die bisherige Regimeforschung angenommen hatte, zeigte sich aber die stabilisierende Funktion von Kooptation als nicht so robust. Was den Umgang mit der Opposition angeht, erwiesen sich insbesondere jene Systeme als stabil, die weiche Repression anwendeten. Hingegen war harte Repression kontraproduktiv: Im Gegensatz zur Einschränkung von politischen Freiheiten (weiche Repression) erhöhen die Anwendung von Folter, die Inhaftierung, Ermordung und das Verschwindenlassen von Oppositionellen das Risiko des Zusammensbruchs autokratischer Regime. Diese statistischen Zusammenhänge sollen aber, so die Einschränkung der Autoren, nicht dazu verleiten, Prognosen für einzelne Fälle ableiten zu wollen. Sonst hätte man nach dem Massaker auf dem Tian‘anmen-Platz 1989 das Ende des Regimes in Peking erwarten können. Grundsätzlich bleibt die Extrapolation vergangener Ereignisse und Fakten problematisch, zumal sich internationale Rahmenbedingungen verändern, auch Despoten aus Fehlern lernen können und selbst autokratische Systeme fähig sind, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Das beste Beispiel dafür ist die Volksrepublik China, deren Machthaber ganz offensichtlich aus Fehlern, auch jenen der Sowjetunion, gelernt haben. Gleichwohl gilt es keinesfalls als ausgemacht, dass das bemerkenswerte Wirtschaftswachstum der Volksrepublik auch künftig aufrechterhalten werden kann. So erläutert Stefan Friedrich in seinem Beitrag eine Reihe von Herausforderungen, die die Stabilität des chinesischen Wirtschaftsmodells und des Regimes gefährden. Derjenige, der den Untergang der Sowjetunion bis heute bedauert und als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts betrachtet, ist den Beweis seiner Lernfähigkeit bislang schuldig geblieben: Der russische Präsident Wladimir Putin scheint die Welt des 21. Jahrhunderts weiterhin mit der geopolitischen Machtlogik, dem Nullsummendenken des 19. Jahrhunderts, begreifen zu wollen. Diese Logik verstehen auch eine Reihe westlicher Vertreter der „realistischen“ Denkschule – und geben dem Westen, namentlich den USA und der EU, die Schuld an der Ukraine-Krise, da sie ihren Einflussbereich in einer neuen Variante der Containment-Strategie gegenüber Russland immer mehr nach Osten bewegten.9 Die „Realisten“, die seinerzeit schon vom Untergang der Sowjetunion überrascht wurden, weil ihnen eine realistische Innenansicht fehlte, tendie9
So der „neo-realistische“ Vordenker John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault. The Liberal Delusions that Provoked Putin, in: Foreign Affairs, September/Oktober 2014, S. 77-89.
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ren auch heute dazu, die „Stärke“ Russlands zu überschätzen – und damit die Ursachen der aktuellen Situation fehlzuinterpretieren. Zentrale Ursache für den Konflikt zwischen Russland und der EU ist, anders als es „Neo-Realisten“ wie John Mearsheimer behaupten, nicht allein die westliche Politik im postsowjetischen Raum, sondern vor allem das Legitimationsdefizit und die innere Schwäche der autoritären Regierungsweise Putins. Die Analyse innerer Faktoren (Gesellschaft, Wirtschaft und das politische System) vermeintlich starker Staaten, wie sie Stefan Meister und weitere Länderexperten exemplarisch in diesem Band vorstellen, sollte neben der geopolitischen Sicht auch in eine realistischere Außenpolitikanalyse einfließen. Dies gilt für „Putin-Versteher“ wie für „Putin-Verteufler“. Zwar ging Putin innenpolitisch bislang gestärkt aus der Auseinandersetzung mit dem Westen hervor – wenn man nur seine aktuellen Popularitätswerte in Russland heranzieht. Was kurzfristig zur Stabilisierung beiträgt, kann aber auf lange Sicht zur Destabilisierung des Regimes führen. So helfen Putins aggressives Auftreten „im nahen Ausland“ und der gegen den „Westen“ definierte Nationalismus offensichtlich, seine Herrschaft vorläufig zu festigen. Doch der daraus resultierende wirtschaftliche Isolationismus kann längerfristig die Fähigkeit des Regimes, wirtschaftliche und soziale Leistungen für seine Bürger zu erbringen, schmälern. Wenn die Output-Legitimation weiter sinkt, ist zu befürchten, dass der gegenwärtig starke Mann im Kreml seine Herrschaft umso mehr durch antiwestlichen Nationalismus legitimieren wird. Da ist aber nicht nur Putin gefragt, sondern „der“ Westen darf seinerseits nicht auf vertrauensbildende Maßnahmen verzichten. Sanktionen der EU und USA alleine dürften Putin innenpolitisch eher stärken als schwächen. Wirkung von Sanktionen und Anreizen überprüfen Die Vertreter westlicher Regierungen sollten sich selbstkritisch hinterfragen, ob bei der aktuellen Konstellation Wirtschaftssanktionen wirklich zielführend sind. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die Machthaber im Kreml Sanktionen in ihrem Sinne instrumentalisieren, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken und mit dem Westen einen Sündenbock für die eigenen Fehler gefunden haben. In einem „System Putin“, in dem zunehmend die Sicherheitsapparate das Sagen haben, werden die ehedem liberalen Wirtschaftseliten verdrängt und wirtschaftliche Rationalität den Machtbedürfnissen der Sicherheitsexperten untergeordnet. Nationalismus – ein historisch bewährtes „Opium für die Massen“ – wird dem Volke über die staatstragenden Medien gereicht. Die russischen Sicherheitseliten werden die Wagenburgmentalität im Machtkampf gegen die wirtschaftsliberalen Konkurrenzeliten im Lande nutzen und sich ihrerseits von westlichen Volkswirtschaften abzuschotten versuchen. Sind die Regierungen, Wirtschaftsführer, Bürger und Bürgerinnen bereit, die Sanktionen auch dann auszudehnen und zu intensivieren, wenn sie
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die eigenen Volkswirtschaften schädigen? Können westliche Politiker dieser Sanktionsspirale entkommen und dabei ihr Gesicht wahren – insbesondere gegenüber der in dieser Frage einseitig emotionalisierten Medienöffentlichkeit? Eine strategisch erfolgversprechendere Alternative wäre es, mit Anreizen zu arbeiten: Wandel in Russland kann nur auf lange Sicht erwartet werden; deshalb, so die Empfehlung des Russland-Experten Stefan Meister, „müssen der Austausch mit den derzeit marginalisierten Reformkräften in der russischen Elite und Gesellschaft intensiviert und Plattformen für zivilgesellschaftlichen Austausch reformiert und ausgebaut werden“. „Russlands Einflussstreben in der östlichen Nachbarschaft Europas zeigt“, so die Lagebeurteilung des Abteilungsleiters „Politik“ im Bundesverteidigungsministerium Géza Andreas von Geyr, „dass aus dem Wettbewerb zwischen autokratischen Regimen und Demokratien grundlegende ordnungspolitische Divergenzen entstehen können, die beträchtliches internationales Konfliktpotenzial bergen, das bis hin zur tatsächlichen Eskalation der Systemrivalität reichen kann“.10 Europäische Politiker sollten deshalb darüber nachdenken, die wirtschaftliche Blockbildung und Konfrontation zwischen der von Russland forcierten Eurasischen Wirtschaftsunion (zwischen Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien) und der Europäischen Union zu entschärfen, indem sie Moskau die Perspektive eines gemeinsamen Wirtschaftsraums eröffnen. Wie die beiden Beiträge in diesem Band verdeutlichen, haben Minsk und Astana ein großes Interesse, mit der EU zu kooperieren. Seinerseits riskiert Russland wegen seiner Misswirtschaft auf längere Sicht nicht mehr über die nötigen Ressourcen zu verfügen, um über ökonomische und energiepolitische Subventionen die Loyalitäten postsowjetischer Länder kaufen zu können. Stärkeres Selbstbewusstsein entwickeln „Der demokratische Westen muss sich nicht verstecken, sondern sollte im Gegenteil seine universellen Werte offensiv vertreten“, fordert der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich. Zwar erscheinen heute manche der Autokratien angesichts der anhaltenden Wirtschafts- und
10 Wie in der Wissenschaft üblich, sind sich auch die drei Herausgeber und Autoren untereinander nicht einig, ob Russland schlicht als ein „autokratisches System“ bezeichnet werden kann, wie China oder Turkmenistan. Das gegenwärtige System Russlands ist komplexer und hat andere Institutionen, Verfahren und Legitimationsmuster, um Zustimmung der Bürger und politische Stabilität zu erzeugen als autokratische Regime ohne (einigermaßen) freie Wahlen, ohne eine parlamentarische Opposition und mit einer machtlosen Zivilgesellschaft.
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Finanzkrise erfolgreicher als westliche Demokratien zu sein.11 Doch auf längere Sicht werden die grundlegenden Qualitäten der demokratischen Systeme, unter anderem das sich frei entfaltende kreative Potenzial ihrer Bürger, diesen eher ermöglichen, sich an Veränderungen anzupassen und den neuen globalen Herausforderungen zu begegnen, als dies autokratische Regime vermögen. Letztere haben keinen vergleichbar effektiven Rückkopplungsmechanismus an die Kreativitätspotenziale ihrer Untertanen institutionalisiert, wie dies in Demokratien über freie Wahlen geschieht. Die demokratischen Gesellschaften müssen verdeutlichen, dass es bei der deutschen und europäischen Menschenrechtspolitik auch um gemeinsame globale Interessen geht: Um den Klimawandel, Terrorismusbekämpfung, Handelsbeziehungen, Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und regionale Stabilität zu erörtern, müssen die demokratischen Regierungen auch mit autoritären Staaten zusammenarbeiten (ausführlicher dazu die Beiträge im Kapitel IV Multilaterale Foren und autokratische Regime). „Eine pragmatische, an Interessen orientierte Begründung für eine politische Forderung wird ernster genommen. Sie erzeugt beim Gesprächspartner auch nicht das unangenehme Gefühl wir würden uns moralisch über ihn erheben“, lautet die Empfehlung des FDP-Politikers Markus Löning. Ähnlich äußert sich der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Philipp Mißfelder: „Es ist kein erhobener Zeigefinger oder belehrender Ton vonnöten, der immer als bevormundend wahrgenommen wird und somit Ablehnung hervorruft. Wer hingegen auf dem sicheren Fundament eigener Überzeugungen argumentiert und die Interessen unseres Landes durchsetzt, wird viel verändern können.“ Dafür sieht Rolf Mützenich von der SPD auf parlamentarischer Ebene Chancen, die auf Regierungsebene so nicht gegeben sind: „Stille Diplomatie kann in der Regel mehr erreichen als ‚Schaufensterpolitik‘. Kontakte unter dem Radar der Öffentlichkeit gilt es zu nutzen und auszubauen. Dies ist zumeist effizienter als medienwirksame Empörung, die in erster Linie auf die Erbauung des heimischen Publikums abzielt.“ Dies ist nicht „Wandel durch Annäherung“, sondern „Wandel durch Verflechtung“. Dabei helfe eine auf Interessen basierende Begründung, so Löning aus seiner Erfahrung als ehemaliger Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, die Menschenrechte in allen Bundesministerien stärker zu verankern und neben Menschenrechtsgruppen und Medien weitere Unterstützer für eine vernünftige Menschenrechtspolitik zu gewinnen. „Immer wieder habe ich erlebt“, berichtet Löning, „dass autoritäre Länder bereit sind, sich im Menschenrechtsbereich zu 11 Laut Michael Spence, der 2001 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, bietet ein „wohlwollend autoritäres System“ die optimalen Voraussetzungen für langfristiges Wirtschaftswachstum, da Demokratien innerhalb eines „zu kurzen Zeithorizonts“ agierten. Wahlen sind nach diesem Verständnis ein ökonomischer Standortnachteil. Diktaturen hingegen können von der Stimme des Volkes ungestört effizient planen, arbeiten und wirtschaften. Vgl. Michael Spence, The Next Convergence. The Future of Economic Growth in a Multispeed World, New York 2011.
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bewegen, wenn sie ihre Interessen berührt sahen.“ Das erfordert aber auch ein kohärentes und entschlossenes Auftreten der Bundesregierung. „Nur wer unbestritten die Regierung hinter sich hat, entfaltet Wirkung“, fordert Löning: „Den Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt zu belassen, ihn aber zum Staatsminister mit Kabinettsrang zu machen, würde sein Gewicht noch einmal deutlich erhöhen.“ Das deutsche politische Gewicht speist sich nicht aus moralischer Überlegenheit oder Rechthaberei, sondern aus wirtschaftlicher Stärke, politischer Verlässlichkeit und unserem Einfluss in der EU. Dass Deutschland, die wirtschaftliche Führungsmacht in Europa, Interesse an einer Vertiefung wirtschaftlicher Beziehungen hat, ist glaubwürdig und auch im Interesse von autokratischen Regimen. Es ist auch autokratischen Herrschern verständlich zu erklären, dass erfolgreiche wirtschaftliche Kooperation nur möglich ist, wenn Investitionen geschützt und Rechtssicherheit durch unabhängige Gerichte gewährleistet werden. Denn kein Unternehmen wird in einem Land langfristig investieren, in dem die Regierung die Geschäftstätigkeit durch willkürliche Rechtsänderungen oder Enteignungen bedroht. Nur durch Rechts- und Investitionssicherheit können Willkür und Korruption und damit enorme Risiken bei Handelsgeschäften und Investitionen minimiert und die Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung gelegt werden. „Da zu erwarten ist, dass Rechtssicherheit früher oder später auch effektive Staatlichkeit und offene Gesellschaften hervorruft, muss dem Instrument Rechtsstaatsförderung hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden“, betont Philipp Mißfelder. Trotz ihrer aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten12 sind Demokratien in mehrfacher Hinsicht „souveräner“ als Autokratien. In allen von Lars Brozus in diesem Band differenzierten Souveränitäts-Dimensionen schneiden Demokratien besser ab als Autokratien: „Demokratien stehen bei der Staatlichkeit ebenso oben wie bei den Governance-Leistungen oder dem Grad der Globalisierung. Umgekehrt finden sich unter den Staaten, die in diesen Dimensionen besonders schlecht abschneiden, praktisch nur Autokratien, gelegentlich hybride Regime und einige defekte Demokratien.“ Fast alle der hier untersuchten Autokratien haben große Schwierigkeiten, die neuen globalen Herausforderungen zu meistern. Sie haben im Innern damit zu kämpfen, ihren „autoritären Gesellschaftsvertrag“ zu erfüllen, wonach ein breiter Teil der Bevölkerung Anteil am Wohlstand bekommt und dafür seine politischen Rechte tauscht. So hat auch die chinesische Führung nach dem 4. Juni 1989 mit der eigenen Bevölkerung einen informellen „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen. Solange der Machtanspruch der KP China selbst nicht infrage gestellt wird, gewährt die Führung dem Volk wirtschaftliche Freiräume und wachsenden Wohlstand. Dieses System steht und fällt jedoch mit der weite12 Vgl. Josef Braml, Stefan Mair, Eberhard Sandschneider (Hrsg.), Außenpolitik in der Wirtschaftsund Finanzkrise, Jahrbuch Internationale Politik, Band 29, München 2012.
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ren wirtschaftlichen Entwicklung. Der im Jahr 2000 etablierte innerrussische Gesellschaftsvertrag ist aus Sicht des Regimes mit den Massendemonstrationen Ende 2011/Anfang 2012 durch Teile der Gesellschaft aufgekündigt worden. Fehlende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft und landesweite Korruption zeigen die Grenzen dieser zumeist auf Rohstoffexport basierenden Wohlstandsmodelle. So benötigt auch Saudi-Arabien immer größere Einnahmen aus dem Ölexport, um Unterdrückung und Patronage zu finanzieren, um weiterhin das Wohlwollen der Bevölkerung zu kaufen. Auf Unzufriedenheit reagieren autokratische Führungen schnell mit direkten oder indirekten (Korruptions-)Zahlungen an wichtige Einzelpersonen, gesellschaftliche Gruppen oder die Gesamtbevölkerung, um die Lage zu beruhigen. Diese Form der Klientelwirtschaft vernachlässigt alternative Finanzierungsquellen und Wertschöpfungen. Die Folgen sind Modernisierungsstau, mangelnde Rechtssicherheit, intransparente Entscheidungsprozesse, fehlende Ausgabenkontrolle und der Abzug ausländischer Direktinvestitionen. Der Mangel an qualifiziertem Humankapital ist ein typischer Standortnachteil der meisten Autokratien. Hier könnte Deutschland, das weltweit für seine duale Ausbildung bekannt ist, helfen. Für viele Autokratien im Mittleren Osten wird es eine zentrale Herausforderung, ihren Jugendlichen, die in einigen Ländern heute schon über die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, eine Perspektive zu geben. Durch Bildungsangebote, bei denen nicht nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit diskriminiert und die Integration gut qualifizierter Frauen13 in den Arbeitsmarkt nicht aus geschlechtsspezifischen Gründen behindert wird, können Entwicklungshemmungen wie ungleiche Chancen- und Wohlstandsverteilung bekämpft werden. Gefahren der Korruption verstehen In autokratischen Staaten werden die Herrschaftsstrukturen durch eine Symbiose von Politik und Wirtschaft gestärkt: Wer die politische Macht hat, kann die Gesetze so anpassen, dass sie den eigenen ökonomischen Interessen dienen. Er kontrolliert die Zugänge zu wichtigen staatlichen Unternehmen und Banken. Diese Zugänge ermöglichen eine Politik der gezielten Kooptation herrschaftsrelevanter Gruppen, die mit Privilegien und Bereicherungen bedient werden. Damit sichern sich autokratische Regime die Loyalität potenzieller Opponenten. Korruption ist in diesem System nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Auch in nahöstlichen Autokratien ist Korruption ein wichtiges Instrument der Herrschaftssicherung. In Saudi-Arabien etwa benötigt jede ausländische Firma einen inländischen „Sponsor“ (arabisch: kafil) – eine Person mit guten 13 In nahezu allen arabischen Ländern und im Iran sind Frauen weitaus qualifizierter als Männer, aber der gleiche Zutritt zum Arbeitsmarkt wird ihnen aus religiösen und kulturellen Gründen verweigert.
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Beziehungen in die Politik des Landes. Das Kafalasystem ist aber nichts anderes als staatlich verordnete, systematische Korruption, die zur Erzeugung von Loyalität der Herrschaftssicherung dient. Korruptionssysteme schaffen nicht nur Loyalitäten, sondern machen die Begünstigten auch abhängig und damit verwundbar. So nutzt der neue starke Mann Chinas, Xi Jinping, seinen großangelegten „Kampf gegen die Korruption“ in der Partei auch dazu, um Widersacher aus dem Weg zu räumen und sich beim Volk beliebt zu machen. Die Säuberungsaktion beginnt aber in dem Maße an Grenzen zu stoßen, indem die Bevölkerung erfährt, dass nicht alle „Sünder“ gleich behandelt werden oder wenn es aus dem Parteiapparat größeren Widerstand geben sollte. Dann wird wohl Xi Jinping nicht die grassierende Korruption beseitigen können, die ein langfristiges Risiko für das Wirtschaftswachstum und die politische Stabilität Chinas birgt. Korruption ist das Schmiermittel aller hier untersuchten autokratischen Regime. Sie vermindert die Anreize, etwas zu leisten und damit auch die Leistungsfähigkeit dieser Volkswirtschaften – und gefährdet damit längerfristig die Existenz der autokratischen politischen Systeme selbst. Meistens werden in autokratischen Regimen mangelnde wirtschaftliche und soziale Leistungen mit Ideologien, Religion oder Nationalismus kompensiert. Doch nicht in allen Ländern stehen ideologische Fundierungen bereit. Sie bedürfen der Glaubwürdigkeit und können nicht ad hoc erfunden werden. In Saudi-Arabien ist es eines der größten Probleme, dass es die politische Elite des Landes bisher nicht geschafft hat, ein saudi-arabisches Nationalgefühl zu schaffen. Der Ölreichtum konnte bislang Abspaltungstendenzen verhindern. Die Petro-Dollars wurden auch dafür verwendet, um den Wahlerfolgen der Muslimbruderschaft in Tunesien und Ägypten 2011 bzw. 2012 zu begegnen. Neben dem transnationalen Einfluss der Muslimbruderschaft beunruhigen das Königshaus auch die Dschihadisten von Al Qaida und IS, zumal diese auch in Saudi-Arabien selbst viele Anhänger haben. Saudi-Arabien wandelt auf einem schmalen Pfad. Zum einen benötigen die Sauds den Islam zur Legitimierung ihrer Herrschaft, zum anderen bedroht eine Radikalisierung eben dieser Religion ihre Herrschaft selbst. Weiter praxisorientiert forschen und kommunizieren Wie die in diesem Band untersuchten Fallstudien zeigen, bleibt es für künftige Analysen wichtig, neben der materiellen Performanz auch die normative Dimension von Legitimation und deren Wechselwirkungen zu analysieren. Gerade die Interdependenzen zwischen den drei Säulen autokratischer Herrschaft – Legitimation, Kooptation und Repression – müssen noch systematischer erforscht werden. Die internationale Dimension im Allgemeinen und die jeweils besonderen Außenbeziehungen autokratischer Herrschaft müssen integraler Bestandteil solch systemischer Analysen werden. Erst im Zusammenspiel
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von internen und externen Faktoren lassen sich begründete Rückschlüsse auf die Legitimationsfähigkeit und Stabilität von Diktaturen ziehen.14 Das aktuelle Jahrbuch der DGAP „Außenpolitik mit Autokratien“ und seine 48 Autorinnen und Autoren wollen mit ihren allgemeinen Analysen und konkreten Fallstudien unser Wissen um innen- und außenpolitische Zusammenhänge erweitern. Damit sollen Politik und Wissenschaft in einen konstruktiven Dialog gebracht werden. Zugleich soll auch bei den Medien und anderen Multiplikatoren ein tieferes Verständnis für die gewachsene Verantwortung und Rolle Deutschlands geweckt werden. Die Legitimation außenpolitischer Entscheidungen, das heißt deren Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit und Bevölkerung, wird insbesondere in einer Demokratie über den außenpolitischen Erfolg mitentscheiden. Dieses Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik versteht sich nicht zuletzt als ein Beitrag zum Prozess „Review2014 – Außenpolitik Weiter Denken“, der von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ins Leben gerufen wurde. Er soll helfen, die Prioritäten künftigen internationalen Handelns Deutschlands zu überprüfen und den öffentlichen Diskurs über Inhalt und Bedeutung der deutschen Außenpolitik stärken.
14 Zum Beispiel kommt die Kasachstan-Fallstudie in diesem Band zum Ergebnis, dass eine noch so hoch ambitionierte politische Modernisierung Kasachstans ohne Bruch mit dem politisch-kulturellen Erbe der Sowjetunion nicht möglich ist. Dazu müsste aber eine unabhängige Gesellschaft geschaffen werden, was jedoch von den nationalen Eliten Kasachstans und von benachbarten Mächten wie Russland und China verhindert wird. Damit werden auch die Grenzen deutscher Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit und regionaler Stabilität deutlich.
VII. Anhänge
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Autorinnen und Autoren Christian Achrainer, Mitarbeiter im Programm Mittlerer Osten und Nordafrika, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Prof. Dr. Sebastian Bersick, Associate Fellow, China-Programm, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin; Associate Professor der School of International Relations and Public Affairs (SIRPA) an der Fudan University in Shanghai Dr. David Bosold, Geschäftsführer der Graduiertenschule des Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Freie Universität Berlin Dr. Josef Braml, Leiter der Redaktion Jahrbuch Internationale Politik, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin MdB Dr. Franziska Brantner, Abgeordnete Bündnis 90/Die Grünen, Vorsitzende des Unterausschusses für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln, Deutscher Bundestag, Berlin Dr. Lars Brozus, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Dr. Maria Davydchyk, Mitarbeiterin im Programm Osteuropa, Russland und Zentralasien, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Claire Demesmay, Programmleiterin Frankreich/Deutsch-Französische Beziehungen, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Stefan Friedrich, Leiter Team Politikdialog und Analyse, Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin Prof. Dr. Henner Fürtig, Direktor, GIGA Institut für Nahost-Studien, Hamburg
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Lister der Autorinnen und Autoren
Sigmar Gabriel, Bundeswirtschaftsminister, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Berlin Prof. Dr. Heinz Gärtner, Wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip) und Senior Scientist am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien MdB Wolfgang Gehrcke, Stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke, zuständig für die Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklung und Menschenrechte, Deutscher Bundestag, Berlin Dr. Johannes Gerschewski, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) Dr. Géza Andreas von Geyr, Politischer Direktor, Bundesministerium der Verteidigung, Berlin Dr. Bastian Giegerich, Referent in der Abteilung Politik, Bundesministerium der Verteidigung, Berlin; Consulting Senior Fellow, International Institute for Strategic Studies, London Dr. Katharina Gnath, Associate Fellow, Programm Globalisierung und Weltwirtschaft, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Gerhard Gnauck, Korrespondent für Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten, Die Welt, Warschau Dr. Susanne Gratius, Professorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Rechtsfakultät der Autonomen Universität in Madrid (UAM) und Research Associate bei FRIDE, Madrid Luba von Hauff, Associate Fellow im Programm Osteuropa, Russland und Zentralasien, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Hanns Günther Hilpert, Leiter Forschungsgruppe Asien, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Hubert Knirsch, Gesandter, Leiter der politischen Abteilung, Botschaft Moskau Dr. Christian Koch, Direktor, Gulf Research Center Foundation, Genf
Liste der Autorinnen und Autoren
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Dr. Tobias Koepf, Associate Fellow im Programm Frankreich/DeutschFranzösische Beziehungen, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Regina Krieger, Verantwortliche Redakteurin für die Literaturseite, Handelsblatt, Düsseldorf Markus Löning, Ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe; Director Privacy Project, Stiftung Neue Verantwortung, Berlin Prof. Dr. Hanns W. Maull, Senior Distinguished Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Dr. Stefan Meister, Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB); Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Stormy-Annika Mildner, Abteilungsleiterin Außenwirtschaftspolitik, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Berlin MdB Philipp Mißfelder, Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSUBundestagsfraktion, Deutscher Bundestag, Berlin Almut Möller, Programmleiterin Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin MdB Dr. Rolf Mützenich, Stellvertretender Vorsitzender der SPDBundestagsfraktion für die Bereiche Außenpolitik, Verteidigung und Menschenrechte, Deutscher Bundestag, Berlin Dr. Christian Nünlist, Senior Researcher, Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich Dr. Henning Riecke, Programmleiter USA/Transatlantische Beziehungen, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin
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Lister der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Claudia Schmucker, Programmleiterin Globalisierung und Weltwirtschaft, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin Dr. Guido Steinberg, Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher Osten und Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen, Auswärtiges Amt, Berlin Dr. Willem Frederik Jochen Stöger, Researcher im Policy and Operations Evaluation Department des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der Niederlande, Den Haag Dr. Oliver Thränert, Leiter Think Tank, Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich Eckart von Unger, Vertretung der BDI-Außenwirtschaftspolitik in Brüssel, BDI-Ausschuss-Außenwirtschaft, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) Prof. Dr. Johannes Varwick, Professor für Internationale Beziehungen und Europäische Politik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Manuel Wäschle, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Europäische Politik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Isabelle Werenfels, Leiterin Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Dr. Gerhard Will, bis Ende 2013 Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Professor Emeritus der HumboldtUniversität zu Berlin Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
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Anlage 1: Fragenkatalog zur Analyse autokratischer Staaten von deutschem Interesse Status quo versus Transformation 1. Handelt es sich bei der Autokratie um ein Einparteiregime, personalistisch gefärbtes oder neopatrimonialistisches Regime, eine Monarchie, Militärdiktatur, Theokratie oder andere Form eines autoritären oder totalitären Regimes? Seit wann besteht die Herrschaftsform? 2. Welche Entwicklungstendenzen sind in der Vergangenheit deutlich geworden und in Zukunft absehbar? 3. Erwarten Sie künftig eher Stabilität oder eine (gravierende) Veränderung der Regimequalität? Legitimation 1. Besteht ein Wir-Gefühl bzw. versuchen die Herrscher ein solches mit historischen, religiösen, patriotischen, nationalistischen, missionarischen oder ideologischen Motiven zu kultivieren? 2. Wird Identität offen oder in Abgrenzung gegenüber anderen, mit (rassistischen) Feindbildern konstruiert? 3. Existieren ethnische, religiöse oder sozioökonomische Spannungen innerhalb der Gesellschaft? Wenn ja, wie wird diesen begegnet? 4. Gibt es intermediäre Institutionen, etwa Parteien, Verbände oder Medien, über die Bürger an der politischen Willensbildung (eingeschränkt) partizipieren oder sich (im Ausland) informieren können? Oder werden intermediäre Institutionen für Propagandazwecke genutzt, um Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren? 5. Wie ist die sozioökonomische Lage zu beurteilen? Hatte die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 Auswirkungen auf das Land?
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Anlagen
6. Ist die demografische Entwicklung der Gesellschaft durch einen hohen bzw. stark anwachsenden Anteil Jugendlicher gekennzeichnet? Wenn ja, welche sozialen und politischen Auswirkungen sind zu erwarten? 7. Ist das Bildungssystem offen für alle Bevölkerungsgruppen oder aus ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen auf Auserwählte beschränkt? 8. Werden die Bürger mit öffentlichen Gütern wie Sicherheit und Sicherung ihrer Existenz versorgt? 9. Verfügt das Regime über Rohstoffe, um (über den Verkauf/Export) seinen Herrschaftsapparat zu alimentieren und die Grundbedürfnisse von Schlüsselgruppen und der Bevölkerung befriedigen zu können? 10. Wenn ja, gefährden niedrige Rohstoffpreise die Regimestabilität oder führen hohe Preise zu selbstbewussterem Auftreten, insbesondere in den Außenbeziehungen? 11. Ist der Rohstoffreichtum als Segen oder Fluch zu betrachten? Bestehen Zusammenhänge zwischen Rohstoffrenten und wirtschaftlicher Fehlentwicklung (Stichwort: Holländische Krankheit)? 12. Bedeuten Marktmacht bei Rohstoffen oder eine geopolitisch wichtige Lage einen gewissen Schutz oder eher eine Gefahr für das autokratische Regime? Kooptation 1. (Wie) Werden Eliten bzw. Schlüsselgruppen (z.B. Militär, Industrie, Medien oder Kirchen) in den Machtapparat eingebunden? 2. Wie ausgeprägt ist Korruption? Wie ist sie organisiert? Wirkt sie stabilisierend oder destabilisierend? 3. Sind Abspaltungen im Sicherheitsapparat oder offener Widerstand von Oligarchen denkbar? Gibt es Gruppierungen, die eine Machtprobe wagen könnten? 4. Besteht bei einer anstehenden oder möglichen Herrschaftsübergabe die Gefahr von Nachfolgestreitigkeiten, etwa zwischen verschiedenen Familienverbänden oder Machtpolen? Repression 1. Ist Opposition sichtbar; ist sie in sich geschlossen oder zersplittert? 2. Über welche Ressourcen verfügen oppositionelle Gruppen oder Parteien? 3. Wird Widerstand vom Ausland unterstützt? Wenn ja, von welchen Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen? Wie versucht das Regime diese externe Unterstützung zu unterbinden?
Fragenkataloge für die Fallstudien
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4.
Lernen Aktivisten von den Protesten oder Umsturzerfahrungen in anderen Ländern, tauschen sie Gedanken, Know-how und technische Mittel aus? 5. Werden Oppositionelle des Landes verwiesen? Ermöglichen offene Grenzen das Land zu verlassen oder wird die Ausreise verhindert? 6. Welche Funktionen haben Justiz und Wissenschaft? 7. Verfügt das Regime über einen ausreichenden Sicherheitsapparat, um die Lage im Innern zu kontrollieren? Ist es militärisch vor möglichen äußeren Feinden gerüstet? 8. Welcher Anteil an der Wirtschaftsleistung wird für innere und äußere Sicherheit ausgegeben? 9. Führen Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen im Innern zu internationaler Kritik, Sanktionen oder dazu, dass sich Schutzmächte im Inund Ausland abwenden? 10. Läuft das Regime Gefahr, seiner internationalen „Schutzverantwortung“ (responsibility to protect) gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht mehr gerecht zu werden und deswegen Teil seiner staatlichen Souveränität zu verlieren? Gibt es Reaktionen der Völkergemeinschaft, insbesondere Resolutionen der Vereinten Nationen? Internationale Beziehungen 1. Wird die Regierung vom Ausland, u.a. Deutschland anerkannt und ist sie in regionale oder internationale Foren eingebunden? 2. Ist die Wirtschaft offen für ausländische, insbesondere deutsche Investoren und Produkte? 3. Sind die internationalen Handels- und Finanzbeziehungen stark ausgeprägt? Sind sie diversifiziert oder auf wenige Partner konzentriert? Welches sind die wichtigsten Handelspartner? Welche Rolle spielt Deutschland? 4. Verfügt das Regime über Devisenreserven? Wie und wo werden diese angelegt? 5. Welche (konditionierten) Anreize werden von deutschen und internationalen Akteuren gegeben, um das Verhalten der Machthaber zu verändern? 6. Ist die an Auflagen guter Regierungsführung geknüpfte deutsche bzw. westliche Entwicklungszusammenarbeit attraktiv? 7. Werden die Machthaber durch von Deutschland mitgetragene internationale Sanktionen unter Druck gesetzt oder mit (militärischen) Drohungen externer Mächte konfrontiert, die das Regime eindämmen oder beseitigen wollen? 8. Sind Sanktionen wirksam oder kontraproduktiv?
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9.
10.
11. 12.
13. 14.
Anlagen
Werden (vermeintliche) externe Bedrohungen und Sanktionen instrumentalisiert, um mit nationalistischen oder anti-kolonialistischen Argumenten innere Geschlossenheit zu erzeugen und Opposition zu unterdrücken? Werden innere Schwächen durch Sündenböcke im In- oder Ausland gerechtfertigt? Wird die Führung des Landes von einem anderen (autokratischen) Regime in Form von militärischen Beistandsverpflichtungen, Kooperationen, Waffenlieferungen, Wirtschafts- und Finanzhilfen protegiert? Versuchen autokratische Staaten durch (gegenseitige) Unterstützung und Kooperation ihre Einflusssphäre auszudehnen? Versucht das Regime durch Provokationen des Auslands, etwa durch (nukleare) Aufrüstung oder Säbelrasseln, von innenpolitischen Problemen abzulenken und internationale materielle Hilfen zu erpressen? Besteht die Gefahr, dass innere Schwächen des Machtapparats durch aggressives Auftreten und Abenteuer in der Außenpolitik kompensiert werden? Unterstützt das Regime internationale Kriminalität oder Terrorismus? Wenn ja, mit welchen Absichten und Mitteln? Ist Deutschlands Sicherheit davon betroffen?
Deutschlands Beziehungen: Stand und Ausblick 1. Wie sind Deutschlands (politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche) Beziehungen zu diesem autokratisch regierten Land insgesamt zu beurteilen? 2. Welche Probleme bestehen oder können sich ergeben? 3. Welche Entwicklungspotenziale, Chancen oder Gefahren sind möglich und absehbar?
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Anlage 2: Fragenkatalog zur Analyse der Außenpolitik „westlicher“ Regierungen gegenüber Autokratien Ziele 1. Welche Haltung nehmen Politik, Medien, Experten und die Gesellschaft zum Umgang mit autokratischen Staaten ein? Welche Themen, Aspekte und Argumente spielen in der innenpolitischen Auseinandersetzung eine Rolle? 2. Welchen Stellenwert haben autokratische Staaten in der nationalen Sicherheitsstrategie? 3. Welche Problemwahrnehmungen, Prioritäten und Strategien verfolgen die politischen Entscheidungsträger beim Umgang mit Autokratien? Geht es primär darum, autoritäre Staaten zu stützen oder ihr Verhalten und/oder deren Regime zu verändern? 4. Stehen Wirtschafts-, Sicherheitsinteressen oder menschenrechtliche Beweggründe im Vordergrund? 5. Konkurrieren in der Regierung unterschiedliche (parteipolitische) Zielsetzungen und Vorgehensweisen verschiedener Ministerien und Parlamentsorgane? 6. Werden Außen-, Sicherheits-, Wirtschafts-, Handels-, Migrations-, Entwicklungshilfe-, Energie- und Umweltpolitik koordiniert? Wenn ja, über welche Mechanismen und Strukturen? 7. Gibt es institutionelle/rechtliche Auflagen oder Grenzen für die Beziehungen von Wirtschaftsunternehmen und Politik zu autokratischen Staaten? 8. Werden autokratische Regime aufgrund wirtschaftlicher Interessen, realoder geopolitischer Überlegungen unterschiedlich behandelt? Wie wird das gerechtfertigt? 9. Welche autokratischen Staaten stehen im besonderen Fokus der Außenpolitik? 10. Welche Rolle spielen historische Vorbelastungen, etwa eine koloniale Vergangenheit oder bisherige Interventionen, beim Umgang mit autokratischen Regimen? Mittel und Wege 1. Entsprechen die vorhandenen bzw. aufgebrachten (materiellen und institutionellen) Ressourcen den Zielen? 2. Werden die Mittel mehr unilateral, bilateral oder verstärkt über multilaterale Strukturen eingesetzt? 3. Gibt es Mechanismen oder Bestrebungen zur internationalen/multilateralen Koordination?
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Anlagen
4.
Inwiefern gelingt es, nationale Vorstellungen in multilaterale Handlungen einzubeziehen? 5. Welche Mittel (Dialog, Verhandlungen, Wirtschafts- bzw. Exportförderung, Entwicklungshilfe, Sanktionen etc.) werden eingesetzt? 6. Werden Sanktionen verhängt bzw. mitgetragen? Wenn ja, in Form eines Abbruchs diplomatischer Beziehungen, von Handelsbeziehungen, Waffenlieferungen, Einfrieren von Konten oder Einreiseverboten? 7. Pflegt man neben den Beziehungen zu autokratischen Führern auch den Kontakt zu oppositionellen Gruppen? Wenn ja, über welche offiziellen oder informellen Kanäle? 8. Werden oppositionelle Gruppen mit Ressourcen, etwa Know-how, Kommunikationstechnologien oder Waffen ausgestattet? Mit welcher Begründung? 9. Werden Know-how, Kommunikations-/Überwachungstechnologien oder Waffen an Führer autoritärer Staaten gegeben? Wenn ja, mit welcher Begründung? 10. (Wie) Sind die Beziehungen und Mittel innenpolitisch zu rechtfertigen? 11. Sind die Instrumente eher außen- oder innenpolitisch motiviert, d.h. an der Lage im Zielland orientiert oder eher an die eigene Bevölkerung bzw. Interessengruppen adressiert? Wirkung 1. (Wie) Werden die Wirkungen der angewendeten Mittel bewertet? 2. Sind Sanktionen wirksam? Verursachen Sanktionen auch wirtschaftliche und politische Kosten bei den Ländern, die sie verhängen bzw. mittragen? 3. Gelingt es, andere Länder in eine Sanktionskoalition einzubinden? Wenn ja, zu welchem Preis? Sind Zugeständnisse in anderen Bereichen nötig? 4. Sind Demokratisierungsbemühungen bei der eigenen Bevölkerung und in den Zielländern glaubwürdig? 5. Wie „konkurrenzfähig“ ist der westliche Staat beim Verhandeln mit Autokratien im Vergleich zu anderen Regimen, die keine Vorbedingungen (z.B. an gute Regierungsführung) stellen? 6. Wird das autoritäre Regime durch Wirtschaftskooperation gestützt? Oder kann durch wirtschaftliche Integration das Regime auch verändert, sprich geöffnet und demokratisiert werden? 7. Wird in der Existenz einer Autokratie ein kleineres Übel im Vergleich zum möglichen Staatszerfall oder einer (regionalen) Destabilisierung gesehen? 8. Wird die Herrschaft autokratischer Partnerländer als stabil oder fragil angesehen?
Fragenkataloge für die Fallstudien
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Anlage 3: Fragenkatalog zu autokratischen Staaten und interbzw. supranationale Foren und Organisationen Einflussnahme autokratischer Staaten 1. Haben autokratische Länder Interessen an der Kooperation mit inter- bzw. supranationalen Foren und Organisationen (im Folgenden kurz IFOs genannt)? Wenn ja, welche? 2. Gibt es für autokratische Staaten Alternativen in Form anderer IFOs? Bestehen Konkurrenzverhältnisse und/oder Kooperationsbeziehungen zu einzelstaatlichen oder anderen multi-/transnationalen Akteuren? 3. Wie wird Kooperation organisiert – ad hoc oder über Institutionen? 4. Üben autokratische Staaten Einfluss auf die Entscheidungen des IFOs aus? Hat dieser zu- oder abgenommen? Aus welchen Gründen? 5. Hat sich das IFO in seiner Mission und Struktur weiterentwickelt? Welches sind die Triebkräfte? 6. Wer sind die sogenannten Stakeholder/Interessenvertreter? 7. Werden Entscheidungen des IFO nach dem Mehrheits- oder Konsensprinzip getroffen? 8.
Sind die Entscheidungen (allgemein-)verbindlich?
Beeinflussung autokratischer Staaten 1. Wer legt welche Kriterien mit welcher Zielsetzung zugrunde? 2. Welche Mittel, Instrumente und Strategien werden zur Erreichung der Ziele eingesetzt? 3. Wie werden die Aufgaben und Lasten verteilt? 4. Welche Prioritäten werden gesetzt (Sicherheit, Festigung bzw. Etablierung politischer Institutionen, ökonomische, zivilgesellschaftliche und rechtstaatliche Entwicklung)? 5. Stehen Wirtschafts-, Sicherheitsinteressen oder menschenrechtliche Beweggründe im Vordergrund? 6. Welche Aufgaben und Funktionen erfüllt das IFO? 7. Sind die Maßnahmen erfolgreich oder kontraproduktiv? 8. Fördert das Wirken des IFO die Stabilität autokratischer Staaten und/oder hilft es, das Verhalten und/oder deren Regime zu verändern? 9. Inwiefern beeinflussen die Entscheidungen des IFO den Handlungsspielraum autokratischer Staaten?
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Anlagen
10. Pflegt das IFO ausschließlich Umgang mit Regierungen und Parlamenten oder auch mit zivilgesellschaftlichen Vertretern autokratischer Staaten? 11. Wie reagieren die Führer autokratischer Staaten auf die Angebote oder das Wirken des IFO? 12. Welche Lehren werden aus Erfahrungen (Erfolgen und Fehlern) im Umgang mit Autokratien gezogen?
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Weltweite Verteilung von Regimetypen Abbildung 2: Die drei Säulen der Stabilität autokratischer Regime
10 46
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11:
Deutschlands wichtigste 50 Handelspartner 2013 Stabilisierung und Destabilisierung autokratische Regime tragender Säulen Dimensionen der Souveränität und ihre Operationalisierung Innere Souveränität: Grad der Staatlichkeit Innere Souveränität: Governance-Leistungen Interdependenz-Souveränität: Grad der Globalisierung Drei Säulen autokratischer Stabilität Entwicklung der offiziellen Entwicklungshilfe (ODA) Japans für China Entwicklung der japanischen Direktinvestitionen in China Polens Exporte und Importe Schwerpunktländer der spanischen Entwicklungszusammenarbeit
12 15 35 39 40 41 51 197 198 233 261
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