Jahrbuch internationale Politik: Band 29 Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise 9783486855104, 9783486716092

Treiber oder Getriebene? Wir stehen am Scheideweg unserer künftigen wirtschaftlichen, politischen und internationalen

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German Pages 495 [496] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort des Bundesaußenministers
Einleitung: Interdependenz von Wirtschafts-, Staatsund internationaler Ordnung
I. Grundlegende Perspektiven
Chancen eines „guten“ Kapitalismus
Globale Ungleichgewichte und Governance
Governance internationaler Finanzmärkte nach der Krise
Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte
Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung
Green Economy: „Grüne“ Wirtschaftskonzepte zur Krisenbewältigung
Aufgaben für eine internationale Rohstoff-Governance
Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen
II. Analyse der G20-Staaten
Argentiniens Krisenerfahrung
Wetterleuchten in Australien
Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht
Kerninteressen chinesischer Außen- und Sicherheitspolitik
Deutschland: Gestaltungsmacht wider Willen
Frankreich: Grundlagen der Grandeur
Großbritanniens doppelte Krise
Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen
Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht?
Italien: Der Euro als Rettungsanker, Hängematte und gefährliche Klippe
Japans Katastrophe
Handels- und Energiemacht Kanada
Mexiko: Mittelmacht ohne Mittel
Russland: Begrenzte politische Ressourcen
Saudi-Arabien: Im „Auge des Taifuns“
Südafrika: Historische Lasten
Südkorea: Krise als Gelegenheit für neue globale Ausrichtung
Türkei: Aufsteiger am Rande Europas
USA: Handlungsschwäche der globalen Ordnungsmacht
III. Analyse internationaler Organisationen und Strukturen
G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements
Der IWF unter Reformdruck
WTO: Kampf dem Protektionismus
ASEAN, EAS, APEC – regionale Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum
Vom Staatenverbund zur Föderation: Zur Krise des Projekts Europa
Die Europäische Union vor der Zerreißprobe
Die Euro-Zone: Integrationsdynamiken und Spannungspotenziale
Europäische Währungsunion: Thesen und notwendige Schritte zur Krisenbewältigung
Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Prüfstand
Lastenteilung in der NATO
Krise als Katalysator für Kooperation zwischen UN, NATO und EU?
Vereinte Nationen: Globale Entwicklungsziele – Umsetzung und Perspektiven
IV. Problemwahrnehmung und Lösungsansätze der operativen Politik
BMF: Vom Ende des nationalen Regulierungsmonopols zur Global Governance
BMWi: Aktive Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Krise
BMZ: Entwicklungspolitik zur globalen Zukunftsgestaltung
CDU/CSU: Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt
SPD: Solidarität und Verantwortung in der Krise
FDP: Die Chancen der Krise
Die Linke: Signale einer neuen Weltordnung
Grüne/EFA: Bauplan für ein demokratisches und handlungsfähiges Europa
Bundesverfassungsgericht und Euro-Krise
V. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Stärkung nationaler und internationaler Governance
VI. Anhang
Autorinnen und Autoren
Fragenkataloge für die Fallstudien
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Jahrbuch internationale Politik: Band 29 Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise
 9783486855104, 9783486716092

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Jahrbücher Forschungsinstituts der deutschen gesellschaFt Für auswärtige Politik des

band 29

Außenpolitik in der Wirtschafts- und Finanzkrise Jahrbuch Internationale Politik Band 29 Herausgeber Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider Redakteur Josef Braml Autoren Marianne Beisheim, Aldo Belloni, Roland Berger, Sebastian Bersick, Klaus Bodemer, David Bosold, Josef Braml, Franziska Brantner, Karl-Ernst Brauner, Eckhard Cordes, Heribert Dieter, Susanne Dröge, Sebastian Dullien, Sebastian Elischer, Henrik Enderlein, Gero Erdmann, Henner Fürtig, Wolfgang Gehrcke, Bastian Giegerich, Katharina Gnath, Felix Heiduk, Hanns Günther Hilpert, Stefan Hirche, Jürgen Hofmann, Dirk Ippen, Karl-Heinz Kamp, Gero Kellermann, Fritz Kempter, Hubert Knirsch, Meinhard Knoche, Michael Kozikowski, Heinz Kramer, Uwe Kranenpohl, Günther Maihold, Stefan Mair, Stefanie Mandt, Klaus Mangold, Stefan Meister, Thomas Meyer, Georg Milbradt, Stormy-Annika Mildner, Philipp Mißfelder, Almut Möller, Rolf Mützenich, Detlef Nolte, Tobias Piller, Henning Riecke, Alexander Rittweger, Dirk Roßmann, Bettina Rudloff, Dirk Schattschneider, Wolfgang Schäuble, Stefan Schirm, Claudia Schmucker, Daniela Schwarzer, Hans-Werner Sinn, Dieter Soltmann, Bernhard Speyer, Wolfgang Sprißler, Rainer Stinner, Antje Stobbe, Christina Stolte, Heinz Hermann Thiele, Markus Tidten, Henrik Uterwedde, Johannes Varwick, Ulrich Volz, Peter-Alexander Wacker, Christian Wagner, Silke Weinlich, Georg von Werz, Guido Westerwelle, Kirsten Westphal, Otto Wiesheu, Heinrich August Winkler, Manfred Wittenstein, Ewald Woste, Junhua Zhang, Maria Ziegler

R. Oldenbourg Verlag München 2012

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) versteht sich als nationales Netzwerk für deutsche Außenpolitik an den Schnittstellen zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Medien. Sie begleitet als unabhängiger, überparteilicher, gemeinnütziger und privater Verein mit mehr als 2500 Mitgliedern aktiv die politische Meinungsbildung zu allen relevanten außenpolitischen Themen. Ihre international besetzten Vortragsveranstaltungen, Konferenzen und Studiengruppen sind ein wichtiges Berliner Debattenforum. Im Forschungs­ institut der DGAP arbeitet ein Team von Wissenschaftlern an praxisbezogenen Analysen. Seit über 50 Jahren ist das vom Auswärtigen Amt geförderte Jahrbuch Internationale Politik in zweijährigem Turnus erschienen, nunmehr in 29 Bänden. Das neu konzipierte Standardwerk der internationalen Politik bietet systematisch vergleichende Analysen aktueller Themen; dieser Band beleuchtet die Auswirkungen der Wirtschafts­ und Finanzkrise auf die Außenpolitik. Exekutivausschuss der DGAP Dr. Arend Oetker, Präsident; Paul Freiherr von Maltzahn, Geschäftsführender stellvertretender Präsident; Christopher Freiherr von Oppenheim, Schatzmeister; Jutta Freifrau von Falken­ hausen, Syndikus; Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff­Direktor des Forschungs­ instituts; Prof. Dr. Joachim Krause, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Direktoriums; Dr. Elke Dittrich, Leiterin der Bibliothek und Dokumentationsstelle; Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik; Prof. Dr. h. c. Hans­Dietrich Genscher; Dr. Tessen von Heydebreck; Dr. Werner Hoyer; Hans­Ulrich Klose; Philipp Mißfelder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, Rosenheimer Straße 145, 81671 München www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: hauser lacour Foto: © Thinkstock Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen­Scheppach ISBN 978­3­486­71609­2 / ISSN 1434­5134

V

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Bundesaußenministers

1

Guido Westerwelle

Einleitung: Interdependenz von Wirtschafts-, Staatsund internationaler Ordnung

5

Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider

I.

Grundlegende Perspektiven Chancen eines „guten“ Kapitalismus

11

Sebastian Dullien

Globale Ungleichgewichte und Governance

18

Henrik Enderlein

Governance internationaler Finanzmärkte nach der Krise

27

Bernhard Speyer

Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte

34

Stefan A. Schirm

Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung

41

Thomas Meyer und Antje Stobbe

Green Economy: „Grüne“ Wirtschaftskonzepte zur Krisenbewältigung

49

Susanne Dröge

Aufgaben für eine internationale Rohstoff-Governance

57

Stormy-Annika Mildner, Bettina Rudloff und Kirsten Westphal

Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

71

Ulrich Volz

II.

Analyse der G20-Staaten Argentiniens Krisenerfahrung Klaus Bodemer

83

VI Wetterleuchten in Australien

95

Heribert Dieter

Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht

104

Detlef Nolte und Christina Stolte

Kerninteressen chinesischer Außen- und Sicherheitspolitik

114

Junhua Zhang

Deutschland: Gestaltungsmacht wider Willen

125

Stefan Mair

Frankreich: Grundlagen der Grandeur

137

Henrik Uterwedde

Großbritanniens doppelte Krise

147

Bastian Giegerich

Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen

156

Christian Wagner

Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht?

164

Felix Heiduk

Italien: Der Euro als Rettungsanker, Hängematte und gefährliche Klippe

173

Tobias Piller

Japans Katastrophe

183

Markus Tidten

Handels- und Energiemacht Kanada

190

David Bosold

Mexiko: Mittelmacht ohne Mittel

198

Günther Maihold

Russland: Begrenzte politische Ressourcen

205

Stefan Meister

Saudi-Arabien: Im „Auge des Taifuns“

213

Henner Fürtig

Südafrika: Historische Lasten

223

Gero Erdmann und Sebastian Elischer

Südkorea: Krise als Gelegenheit für neue globale Ausrichtung

233

Hanns Günther Hilpert

Türkei: Aufsteiger am Rande Europas

246

Heinz Kramer

USA: Handlungsschwäche der globalen Ordnungsmacht Josef Braml

255

VII

III. Analyse internationaler Organisationen und Strukturen G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements

267

Katharina Gnath und Claudia Schmucker

Der IWF unter Reformdruck

275

Hubert Knirsch

WTO: Kampf dem Protektionismus

283

Stormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker

ASEAN, EAS, APEC – regionale Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum

292

Sebastian Bersick

Vom Staatenverbund zur Föderation: Zur Krise des Projekts Europa

299

Heinrich August Winkler

Die Europäische Union vor der Zerreißprobe

306

Almut Möller

Die Euro-Zone: Integrationsdynamiken und Spannungspotenziale

311

Daniela Schwarzer

Europäische Währungsunion: Thesen und notwendige Schritte zur Krisenbewältigung

317

Hans-Werner Sinn et al.

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Prüfstand

329

Johannes Varwick

Lastenteilung in der NATO

334

Karl-Heinz Kamp

Krise als Katalysator für Kooperation zwischen UN, NATO und EU?

340

Henning Riecke

Vereinte Nationen: Globale Entwicklungsziele – Umsetzung und Perspektiven

348

Marianne Beisheim und Silke Weinlich

IV. Problemwahrnehmung und Lösungsansätze der operativen Politik BMF: Vom Ende des nationalen Regulierungsmonopols zur Global Governance

357

Wolfgang Schäuble

BMWi: Aktive Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Krise

361

Karl-Ernst Brauner

BMZ: Entwicklungspolitik zur globalen Zukunftsgestaltung Dirk Schattschneider, Maria Ziegler und Stefan W. Hirche

368

VIII CDU/CSU: Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt

376

Philipp Mißfelder

SPD: Solidarität und Verantwortung in der Krise

382

Rolf Mützenich

FDP: Die Chancen der Krise

388

Rainer Stinner und Stefanie Mandt

Die Linke: Signale einer neuen Weltordnung

393

Wolfgang Gehrcke

Grüne/EFA: Bauplan für ein demokratisches und handlungsfähiges Europa

399

Franziska Brantner

Bundesverfassungsgericht und Euro-Krise

405

Gero Kellermann und Uwe Kranenpohl

V.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen Stärkung nationaler und internationaler Governance

413

Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider

VI. Anhang Autorinnen und Autoren

427

Fragenkataloge für die Fallstudien

433

Abbildungsverzeichnis

438

Literaturverzeichnis

439

1

Vorwort von Bundesaußenminister Guido Westerwelle Die Wirtschafts­ und Finanzkrise bleibt eine zentrale Bewährungsprobe deutscher und europäischer Politik. In Europa hat die Krise Fehlentwicklungen offengelegt und verstärkt, die schon vorher eingesetzt haben. Einzelne Volkswirtschaften kämpfen mit zu hohen Schuldenständen in Staatshaushalten und Bankenbilanzen. Zugleich haben sich innerhalb der Euro­Zone gefährliche Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit herausgebildet. Schließlich hat die Krise offenbart, dass unsere Währungsunion ohne engere Zusammenarbeit in der Wirtschafts­ und Finanzpolitik unvollkommen bleibt. Über diese Herausforderungen hat sich mitt­ lerweile eine Vertrauenskrise entzündet, wie sie das europäische Projekt in den vergangenen sechs Jahrzehnten noch nicht durchlebt hat. Die Bewältigung der Krise ist auch deshalb eine so dringliche Herausforderung, weil sich die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Rahmenbedingungen grund­ legend wandeln. In den ehemaligen „Schwellenländern“ erleben wir den beeindru­ ckenden Aufstieg neuer wirtschaftlicher und politischer Kraftzentren. Gleichzeitig verlieren Deutschland und die anderen Staaten Europas an relativem Einfluss in der Welt. Nur indem wir Allianzen mit diesen neuen Gestaltungsmächten schmie­ den, können wir die globalen Herausforderungen meistern, die sich in der Krise stellen, sei es bei der Regulierung der grenzüberschreitenden Finanzmärkte oder im Umgang mit globalen Ungleichgewichten. Deutschland und Europa stehen vor einer doppelten Gestaltungsaufgabe: Wir müssen der Schuldenkrise Herr werden, indem wir unser Haus in Europa in Ordnung bringen. Und wir müssen in einer immer stärker vernetzten Welt gemeinsam mit unseren strategischen Partnern, alten wie neuen, einen globalen Ordnungsrahmen schaffen, um künftige Krisen zu verhindern. Um der Krise Herr zu werden, müssen wir in Europa die Grundlage für neues Vertrauen legen, Vertrauen in das gemeinsame europäische Projekt und Vertrauen unter den europäischen Nachbarn. Dass sich der gefährliche Ungeist der Renationalisierung in Europa breit macht, dürfen wir nicht zulassen. Eine gute Zukunft für unser Land wird es ohne das geeinte Europa nicht geben. Den Gestaltungsaufgaben des globalen Zeitalters wird Deutschland im Alleingang ebenso wenig gewachsen sein wie seine europäischen Nachbarn.

2 Vorwort des Bundesaußenministers

Deshalb lautet das Gebot der Stunde: Mehr Europa! Es ist gut, dass in dieser ent­ scheidenden Frage trotz aller Meinungsverschiedenheiten über die Einzelheiten des Krisenmanagements in der deutschen Politik große Einigkeit herrscht. Wir müssen die Krise durch eine europäische Politik der Konsolidierung, des Wachstums und der Solidarität bewältigen. Aus der eigenen Erfahrung der letz­ ten Jahre wissen wir Deutsche, wie steinig dieser Weg ist. Wir haben aber auch erlebt, dass sich selbst schwere Krisen mit entschlossenen Reformen überwinden lassen. Das muss uns in Europa ermutigen, den Weg fortzusetzen, den wir mit der Unterzeichnung des Fiskalpakts und der Schaffung des Rettungsschirms ESM eingeschlagen haben. Die Geschichte der Integration ist eine der gemeisterten Krisen. So haben Binnenmarkt und Schengener Abkommen ihre Wurzeln in den berüchtigten Krisenjahren der „Eurosklerose“. Diese Erfahrung sollte uns ermutigen, die Krise zu nutzen, um das europäische Projekt entschieden voranzutreiben. Über kluges Krisenmanagement hinaus müssen wir dabei auch eine gemeinsame euro­ päische Debatte über die Zukunft Europas führen. Zu diesem Zweck haben wir die Zukunftsgruppe europäischer Außenpolitik ins Leben gerufen. Drei Punkte sind dabei entscheidend: Erstens müssen wir die Währungsunion zukunftsfest machen, indem wir sie durch engere Zusammenarbeit in der Wirtschafts­ und Fiskalpolitik ergänzen. Dies wird auch eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten auf die euro­ päische Ebene erforderlich machen. Auch künftig wollen wir dabei Solidarität mit denjenigen Nachbarn üben, die besonders von der Krise betroffen sind. Mehr Solidarität auf europäischer Ebene ist aber nur möglich, wenn dort auch ein ent­ sprechendes Mehr an Kontrolle erfolgt. Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass Europa auch künftig über handlungs­ fähige und demokratisch legitimierte Institutionen verfügt. Bürger und Staaten werden der europäischen Ebene weitere Rechte nur übertragen, wenn dieses Europa ihre Belange kraftvoll vertritt und sich zugleich ihrer vollen demokrati­ schen Kontrolle unterwirft. Drittens müssen wir Europa zu einer weltpolitischen Gestaltungsmacht ent­ wickeln. Ohne ein starkes Europa wird sich auch unser eigenes Gewicht in der Welt von morgen verringern. Die Herausforderungen unserer Zeit müssen uns Antrieb sein, Europa zu einer geeinten weltpolitischen Gestaltungskraft zu ent­ wickeln. Denn anders als seine Mitgliedstaaten alleine hat das geeinte Europa das Potenzial zum globalen Spieler. Damit das gelingt, müssen wir einen umfassenden Ansatz europäischer Außenpolitik entwerfen. Dafür müssen wir die Kohärenz des außenpolitischen Handelns der EU steigern, insbesondere durch Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Zudem müssen wir beispielsweise das Instrument der „Strategischen Partnerschaften“ mit den Gestaltungsmächten der Zukunft ausbauen. Die Kräfteverhältnisse in der Welt verschieben sich. Diesen Umbruch hat die Wirtschafts­ und Finanzkrise nicht verursacht, wohl aber hat sie ihn be­ schleunigt. Der Anteil Europas an der Weltbevölkerung schrumpft. China ist

Guido Westerwelle

3

zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden. Schwellenländer besitzen mittlerweile mehr Devisenreserven als Industrieländer. Auch in der Krise liegt ihr Wachstum noch über dem der Industrieländer. Dieser gewaltige wirtschaftliche Aufschwung in immer mehr ehemaligen Schwellenländern ist eine der zentralen Veränderungen in den internationalen Beziehungen. Als Bundesregierung haben wir daher das „Gestaltungsmächtekonzept“ ver­ abschiedet. Dieses Konzept definiert unsere Ziele in der globalen Politik. Es macht passgenaue Angebote an die Partner, wie eine vertiefte Zusammenarbeit aussehen kann. Und es sorgt für größere Kohärenz in den Außenbeziehungen Deutschlands. Mehr denn je gilt: Wir müssen neue Formate zur Global Governance schaf­ fen und bestehende reformieren. Die Krise ist auch eine Chance, die weltweiten Anstrengungen für eine regelbasierte Globalisierung zu verstärken. Nur durch einen modernisierten Multilateralismus bleiben Staaten außen­ politisch handlungsfähig. Viele Probleme können zum Beispiel nur gelöst werden, wenn mindestens die in der G20 organisierten Länder dazu beitra­ gen. Es ist daher nicht nur verständlich, sondern ausdrücklich zu begrüßen, wenn diese Staaten einen Anspruch auf Mitwirkung erheben. Mehr Mitsprache bedeutet auch mehr Verantwortung. Bei der Bekämpfung der Finanz­ und Wirtschaftskrise haben die G20 bereits zur Stabilisierung der Weltwirtschaft beigetragen und beispielsweise eine Aufstockung der IWF­Ressourcen durch eine Beteiligung der Schwellenländer erreicht. Diese konstruktive Rolle gilt es nun auch auf andere globale Politikfelder wie Handel­, Energie­ oder Rohstofffragen zu übertragen. Das Herzstück einer Weltpolitik, die auf Kooperation setzt, sind aufgrund ihrer universellen Legitimität weiterhin die Vereinten Nationen. Wir setzen uns daher auch dafür ein, dass die Arbeit der G20 enger an die Vereinten Nationen angebunden wird. Deutschland ist ferner dafür eingetreten, die Stimmrechte der Schwellenländer in IWF und Weltbank zu erhöhen. Generell haben wir ein starkes Interesse an handlungsfähigen und legitimen internationalen Institutionen. Und wir kämpfen dafür, dass Errungenschaften wie ein liberalisierter Welthandel im Rahmen der WTO nicht in der Krise dem Protektionismus zum Opfer fal­ len. Freihandel und der weitere Abbau von Handelsschranken können ent­ scheidend zur Gesundung der Weltwirtschaft beitragen. Denn Handel ist kein Nullsummenspiel. Wenn ein Land von der Globalisierung profitiert, geht das nicht auf Kosten anderer. Den Beitritt Russlands zur WTO begrüßen wir daher als ermutigendes Signal. Die Krise hat unsere gegenseitige Abhängigkeit deutlich gemacht. Zu hohe Devisenreserven eines Landes in einer bestimmten Währung etwa können zu einem Problem für den Gläubiger wie für den Schuldner wer­ den. Die Industrieländer sind auf die Exportnachfrage weiterhin wachsender Schwellenländer angewiesen. Diese wiederum profitieren besonders vom europä­ ischen Know­how in innovativen Bereichen wie regenerative Energien, Umwelt­ und Klimaschutz. Stärkere Zusammenarbeit ist daher ein offensichtlicher Weg aus der Krise, den wir konsequent gehen müssen.

4 Vorwort des Bundesaußenministers

Staatliche Außenpolitik muss einen modernisierten institutionellen und recht­ lichen Rahmen schaffen, der unseren wettbewerbsfähigen Unternehmen eine globale Ausrichtung erlaubt. Und wir müssen weiterhin sicherstellen, dass unser Modell von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im Prozess der „Globalisierung der Werte“ diesen modernisierten Rahmen prägt. Die Wirtschafts­ und Finanzkrise ist längst nicht überwunden. Weiterhin werden große Herausforderungen auf die Weltwirtschaft zukommen. Über das akute Krisenmanagement hinaus müssen wir die Weltwirtschaft dauerhaft wider­ standsfähiger gegen Krisen machen und auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren. Dies können wir durch bessere Global Governance, einen Abbau globaler Ungleichgewichte, durch erhöhte Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung sowie durch einen nachhaltigen Ressourcen­ und Rohstoffeinsatz erreichen. Politik ist mehr als staatliche Macht. Neben einer geografischen Machtverschiebung führt die globale Vernetzung auch zu einer stärkeren in­ ternationalen Rolle von Zivilgesellschaft, politischen Stiftungen, engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen. Uns liegt viel an dem intensiven Dialog mit Vertretern der Wirtschaft darüber, wie unternehmerische Interessen berücksichtigt, Unternehmen aber gleichzeitig in die Pflicht genommen werden können, um zu einer verantwortungsvollen „Global Governance“ beizutragen. Deutsche Unternehmen haben nicht nur wegen ihrer hochwertigen und innova­ tiven Produkte einen hervorragenden Ruf, sondern auch weil sie Werte vorleben – zum Beispiel bei der Gesundheitsversorgung von Arbeitnehmern oder wenn es um Umweltstandards geht. Dieses Potenzial können wir noch aktiver nutzen. Europa steht als Modell für die Fähigkeit von Staaten und Gesellschaften, im eigenen Interesse Souveränität zu teilen und zu gemeinsamen Lösungen zu gelan­ gen. Es steht für die Bereitschaft, sich über Grenzen hinweg zusammenzuschlie­ ßen, ohne andere auszuschließen. Die Finanz­ und Wirtschaftskrise hat einmal mehr demonstriert, dass es auf beides in den internationalen Beziehungen der Zukunft entscheidend ankommen wird. Diesem Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik kommt das Verdienst zu, die Entwicklung der EU in der Finanz­ und Wirtschaftskrise ebenso wie zentrale weltweite Machtverschiebungen darzustellen, zu analysieren und Handlungsempfehlungen zu formulieren. Systematische Betrachtungen der Krise und möglicher Lösungsansätze werden durch eine vergleichende Analyse der G20­Staaten und einen kritischen Blick auf Chancen und Grenzen des Multilateralismus ergänzt. Zu Wort kommen Vertreter von Politik, Wissenschaft, Think­Tanks, Wirtschaft und Journalismus. Dieser facettenreiche Ansatz wird der zunehmenden Komplexität von Außenpolitik im 21. Jahrhundert gerecht und verleiht dem Nachdenken über Deutschlands Rolle in einer sich verändernden Welt interessante Impulse. Über die Finanz­ und Wirtschaftskrise hinaus verheißt dieses Jahrbuch, zu einer konstruktiven Debatte um Herausforderungen zur Zukunft der Europäischen Union und der Globalisierung in der interessierten Öffentlichkeit beizutragen.

5

Einleitung: Interdependenz von Wirtschafts-, Staats- und internationaler Ordnung Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider Die soziale Marktwirtschaft gründet auf der Idee, dass Wirtschafts­ und Staats­ ordnung sich wechselseitig beeinflussen, ja bedingen. Diese „Interdependenz der Ordnungen“, wie sie Walter Eucken und seine Schüler in den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland begriffen,1 kann auch weiterhin unsere Gedanken ordnen: Freie Märkte ja, aber ohne „konstituierende und regulierende Prinzipien“, sprich staatliche Rahmensetzung, funktionieren sie nicht bzw. nur suboptimal. Wem das nicht klar war oder in Vergessenheit geriet, erhielt durch die jüngste Wirtschafts­ und Finanzkrise ein weiteres drastisches Anschauungsbeispiel: Sie erschütterte den Glauben an die weitgehende Selbstregulierung der Märkte und schmälerte die Handlungsfähigkeit vieler Regierungen sowie das Zutrauen ihrer Bevölkerungen, dass ihre Repräsentanten Unterstützenswertes leisten.2 Wir er­ leben zeitgleich drei Legitimationskrisen: der wirtschaftlichen, politischen und internationalen Ordnungen. Die Auswirkungen der größten Wirtschafts­ und Finanzkrise seit den 1930er Jahren zwingen viele, vor allem westliche Länder, nicht nur die Balance zwi­ schen Wirtschaft und Politik neu auszutarieren. Dieses Ereignis markiert zu­ dem eine Zäsur in den internationalen (Wirtschafts­)Beziehungen. Bis dahin galten möglichst wenig regulierte Märkte und eine Minimierung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft als der Maßstab, an dem sich der Rest der Welt auszurichten hatte, wollte er ebenfalls so erfolgreich sein wie die Protagonisten dieser Politik. Nunmehr gilt in weiten Teilen der Welt das Wirtschaftsmodell der liberalen Führungsmacht USA als gescheitert; stattdessen konnten staatlich gelenkte Volkswirtschaften, allen voran China, die Krise schneller überwin­ den beziehungsweise wurden kaum von ihr berührt. Allerdings beweist auch die bisher hohe Krisenresistenz Deutschlands, dass eine an internationaler 1 2

Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952 bzw. Stuttgart (UTB) 2008. Vgl. die klassische Legitimationsdefinition von Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, Teil 1, Kapitel 1.

6 Einleitung

Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete soziale Marktwirtschaft sehr wohl ein erfolg­ reiches Ordnungsmodell ist. Schwellenländer treten heute umso selbstbewusster auf, zumal sie auch – an­ ders als ihre ehemaligen Lehrmeister des Westens – nach dem weltweit aus­ schlagenden Debakel von 2007/08 wieder schneller Fuß fassen und höhere Wachstumsraten vorweisen konnten. Dementsprechend stärker sind ihre in­ nenpolitische Handlungsfähigkeit und außenpolitischen Machtansprüche bei bilateralen Verhandlungen, aber auch auf multilateraler Ebene in internationa­ len Gremien und Organisationen geworden. Dass die G8, der exklusive Club der alten Industrieländer, komplementiert wurde durch die neue G20, in der die Schwellenländer ein mächtiges Wort mitreden, ist nur eines von mehreren Indizien einer sich ändernden internationalen Architektur. Wie wirken sich die anhaltende Wirtschafts­ und Finanz­, ja mittlerweile Staatsschuldenkrise auf die innen­ und außenpolitische Handlungsfähigkeit von Staaten sowie – in der Folge – auf internationale Organisationen und Strukturen aus? Diese Leitfrage strukturiert auch den vorliegenden Band. Indem das Erkenntnisinteresse des Jahrbuch Internationale Politik von der bisherigen historischen Dokumentierung des weltweiten Geschehens hin zu einer systematisch­themenfokussierten Analyse aktueller innen­ und außenpo­ litischer Herausforderungen angepasst wurde, kann die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) einen Beitrag leisten, der auch der praktischen Politikgestaltung dient. Der vorliegende Band 293 soll einen für die deutsche und europäische Politik relevanten Themenkomplex behandeln: wirtschaftliche und soziale Grundlagen politischer Handlungsfähigkeit. Im ersten Grundlagenteil wird die Analyseperspektive skizziert, indem Begriffe, Konzepte und Zusammenhänge erläutert werden. Länderexperten analysieren dann im zweiten Hauptkapitel nach einem vorgegebenen Fragenkatalog (si­ ehe Anlage 1, Seite 433 ff.) in Fallstudien die Auswirkungen der Wirtschafts­ und Finanzkrise auf die (außen)politische Handlungsfähigkeit ausgewählter Staaten, namentlich der 19 in der G20 vertretenen führenden Industrie­ und Schwellenländer.4 Im dritten Hauptkapitel werden dann mithilfe eines weite­ ren Fragenkatalogs (siehe Anlage 2, Seite 437) die Herausforderungen, Hand­ lungsspielräume und Entwicklungsmöglichkeiten von einem Dutzend supra­, trans­ und internationaler Akteure ausgewertet.

3 4

Informationen zu den beiden bisherigen Bänden neuer Prägung, Band 27 (Weltverträgliche Energie­ sicherheitspolitik) und Band 28 (Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit), sind abrufbar unter: . Sicherlich wäre es interessant, noch mehr Fallstudien zu untersuchen. Doch das würde den Umfang des Bandes sprengen. Ohnehin verspricht die Analyse der wichtigsten Industrie­ und Schwellenländer der G20 aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit sowohl Varianz als auch Repräsentativität. Gemeinsam erwirtschaften sie etwa 90 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) und bestreiten knapp 80 Prozent des Welthandels. Laut Website der G20: (abgerufen am 27.10.2012).

Josef Braml, Stefan Mair und Eberhard Sandschneider 7

Diese systematische Vorgehensweise bietet den Herausgebern im Schlusskapitel die Möglichkeit, Strukturen und Außenpolitiken einzelner Staaten und inter­ bzw. supranationaler Akteure zu vergleichen, um Schlussfolgerungen zu ziehen und politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dabei wird neben der Expertise wirtschaftlicher Praktiker auch die Perspektive politisch Verantwortlicher mitgedacht, indem maßgeblichen Repräsentanten der operativen Politik, namentlich des Bundeskanzleramts, der Bundesministerien und des Deutschen Bundestags, die Möglichkeit geboten wird, ihre Problem­ wahrnehmung und Lösungsansätze darzulegen. So können nicht nur Wirtschaft, Politik und Wissenschaft in einen konstruktiven Dialog gebracht werden, son­ dern – in Zusammenarbeit mit den Medien und anderen Multiplikatoren bei der Vermarktung – auch gesellschaftliches Verständnis und Unterstützung für die gewachsene Verantwortung und Rolle Deutschlands generiert werden. Neben der wechselseitigen Beratung zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ist diese zweite Funktion der Öffentlichkeitsberatung nicht min­ der wichtig. Angesichts der immer komplexer werdenden Probleme und mit Blick auf die gestiegenen Anforderungen an die deutsche Außenpolitik wird es immer wichtiger, dass wirtschaftliche und politische Entscheidungen nicht nur informiert getroffen werden können, sondern dafür auch gesellschaftliches Verständnis und Unterstützung geschaffen werden. Mit dem neuen Band 29 will die DGAP dazu einmal mehr ihren Beitrag leisten. Ohne finanzielle und intellektuelle Unterstützung wäre dieses Unternehmen nicht möglich. Wir danken dem Auswärtigen Amt, insbesondere dem Planungs­ stab, für seine mittlerweile über 50 Jahre währende Grundfinanzierung. Ebenso danken wir dem Daimler­Fonds und der Klöckner­Stiftung, dass sie nun schon mehrere Jahre unsere Aktivitäten bei der Vermarktung des Jahrbuchs finanziell unterstützen. Die Herausgeber danken insbesondere den 80 im In­ und Ausland tätigen Kolleginnen und Kollegen, die trotz ihrer ohnehin hohen Arbeitsbelastungen ihre fachkundigen Jahrbuchartikel innerhalb einer im Vergleich zu anderen Sammelbänden sehr knappen Frist beigetragen haben. Wir danken Verena Schrader von der Bibliothek und Dokumentationsstelle der DGAP für die Erstellung des Literaturverzeichnisses und Charlotte Merkl sowie Thorsten Kirchhoff für die Gestaltung der Tabellen, Grafiken und des Gesamtlayouts. Besonderer Dank gilt Uta Kuhlmann­Awad für ihre professionelle Lektoratsarbeit. Ihre langjährige Erfahrung, gute Laune und fürsorgliche Art haben wesentlich zum Gelingen dieses Bandes beigetragen. Berlin, im Oktober 2012

Die Herausgeber

I.

Grundlegende Perspektiven

11

Chancen eines „guten“ Kapitalismus Sebastian Dullien Die globale Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 hat in vielen Ländern die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung in die Kritik gebracht: Auf der einen Seite wird die Legitimität des real existierenden Kapitalismus in Frage gestellt, der über die vergangenen Jahrzehnte in den meisten Industrieländern die verfügbaren Einkommen und den Lebensstandard bestenfalls einer kleinen Minderheit erhöht hat. Die „Occupy“­Bewegung bringt diese Kritik deutlich auf den Punkt, wenn sie gegen das obere „1 Prozent“ agitiert, dessen Einkommen und Vermögen sich von denen der breiten Bevölkerung völlig abgekoppelt haben. Auf der anderen Seite wird auch die Effizienz der bestehenden Wirtschafts­ ordnung angezweifelt: Kann die aktuelle Form des Kapitalismus die Ver­ sprechungen der marktwirtschaftlichen Ordnung einlösen? Generiert unser Wirtschaftssystem jenseits aller Verteilungsfragen nachhaltig stabilen Wohlstands­ zuwachs? Wir erinnern uns: Ökonomische Lehrbücher, aber auch historische Erfahrungen mit planwirtschaftlichen Experimenten in sozialistischen und kommunistischen Ländern hatten eigentlich darauf hingedeutet, dass der Kapitalismus die überlegene Wirtschaftsordnung sei, gemessen an der nach­ haltigen Verbesserung des Lebensstandards. Wenn heute in vielen Ländern Rekorde bei Armut und Arbeitslosigkeit verbucht werden und in den meisten Ländern Bevölkerungsmehrheiten über das vergangene Jahrzehnt per Saldo kaum Kaufkraftzuwächse erlebt haben,1 wird diese Schlussfolgerung unglaubwürdig. So attraktiv Kapitalismuskritik auf den ersten Blick erscheint, man sollte sich den­ noch vor Pauschalisierungen hüten.

1

Die USA sind ein gutes Beispiel: 2010 lebten dort mehr Menschen in Armut als jemals seit Beginn der Zeitreihen in den 1950er Jahren. Die Haushaltsmedianeinkommen lagen 2010 kaufkraftbereinigt ge­ rade einmal 0,75 Prozent über jenen aus dem Jahr 1996. Vgl. U.S. Bureau of Census, Income, Poverty, and Health Insurance Coverage in the United States: 2010, Washington DC 2011.

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Chancen eines guten Kapitalismus

Finanzkapitalismus im historischen Kontext Zum Teil werden nun – auch ohne plausible Alternative – die marktwirtschaftliche Ordnung und der Kapitalismus an sich in Frage gestellt. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Kapitalismus tatsächlich das Versprechen des „Wohlstands für alle“ zu erfüllen vermag. So hat der Kapitalismus der 1950er und 1960er Jahre makroökonomisch wesentlich bessere Ergebnisse erbracht als die zunehmend de­ regulierte Wirtschaftsordnung seit den 1980er Jahren. In den 1950er und 1960er Jahren erlebten die OECD­Länder ein zuvor ungekanntes Wirtschaftswachstum bei niedriger Arbeitslosigkeit und mäßiger Inflation. Dabei war die Entwicklung dieser Jahrzehnte mehr als nur ein Wiederaufbau der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Nach gängigen Schätzungen waren die inflationsbereinigten Pro­ Kopf­Einkommen in Westeuropa Ende der 1960er Jahre rund doppelt so hoch wie vor 1939.2 Die Wirtschaftsordnung dieser Jahrzehnte war national wie international geprägt von wirksamen regulatorischen Eingriffen des Staates. Wechselkurse der wichtigsten Währungen waren im Bretton­Woods­System fest aneinan­ der gekoppelt; internationale Kapitalströme waren stark begrenzt und kon­ trolliert. Auf nationaler Ebene regulierten Regierungen nicht nur die Finanz­, sondern auch die Arbeits­ und Produktmärkte. In den meisten Ländern hatten die Gewerkschaften mehr Einfluss auf die Lohnfindung als heute und insbe­ sondere Telekommunikations­ und andere Dienstleistungsmärkte waren durch Eintrittsbarrieren abgeschottet. Gleichwohl waren die Wirtschaftsordnungen der OECD­Länder der 1950er und 1960er Jahre kapitalistische Systeme. Der zentrale Innovationstreiber des Kapitalismus, nämlich die Möglichkeit, dass ein Unternehmer mit einer guten Idee diese dank der Akzeptanz seiner Kunden umsetzen kann, war ebenso erhalten wie die grundsätzliche Trennung zwischen Vermögenseigentümern und Unternehmern. Deregulierungs-Ideologie als Krisenursache Wie aber konnte es von dem stabilen, „guten“ Kapitalismus der 1950er und 1960er Jahre zu dem inhärent instabilen Finanzmarktkapitalismus mit nur weni­ gen Gewinnern der 1990er und frühen 2000er Jahre kommen? Natürlich ist völlig richtig, dass die Praktiken im US­Subprime­Hypothekenmarkt (bei denen einige Hypotheken nicht einmal das Bedienen der monatlichen Zinszahlungen, geschwei­ ge denn eine Tilgung vorsahen und zum Teil nicht einmal Verdienstnachweise der Antragsteller überprüft wurden) irgendwann zu Problemen im Bankensektor führen mussten. Unbestritten ist auch, dass eine bessere Aufsichts­ und Regulierungspraxis die gröbsten Exzesse hätte verhindern können. Auch die Rolle, die neuartige Verbriefungsinstrumente für die Ausbreitung der Krise gespielt haben, ist bekannt. 2

Siehe die Daten der Maddison­Datenbank, (abgerufen am 17.4.2012).

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In der öffentlichen Debatte wird häufig die jüngste Wirtschafts­ und Finanzkrise ausschließlich auf diese falschen Anreize im Finanzsektor zurückgeführt. Einiges spricht jedoch dafür, dass es nicht nur die seit den 1990er Jahren forcierte Deregulierung der Finanzmärkte war, die die jüngste Krise verursacht hat, sondern dass bereits zuvor, seit den 1980er Jahren, mit einer breiten Deregulierungsagenda der Boden bereitet wurde.3 Zudem muss man sich auch die Frage stellen, wie es zu der eklatanten Unterregulierung gekommen ist – und wie einige Regulierungsfehler die Weltwirtschaft in eine jahrelange Krise stoßen konnten. Zwei grundlegende Ursachen waren ausschlaggebend: Zum ersten nationale und internationale makroökonomische Ungleichgewichte, die Finanzinnovationen als einfachen Ausweg für Politik und Notenbanken auf dem Weg zu Vollbeschäftigung und Wachstum erscheinen ließen; zum zweiten die vorherrschende ökonomische Theorie, die ausgehend von der These effizienter Finanzmärkte (die immer den „richtigen“ Preis von Finanzprodukten bilden) den Glauben an weitgehende Selbstregulierung der Märkte förderte. In vielen OECD­Ländern führte seit den 1980er Jahren die Deregulierung insbesondere der Arbeitsmärkte zu einem Auseinanderklaffen der Einkommen. Während die Einkommen der oberen Schichten immer weiter stiegen, musste die untere Hälfte der Bevölkerung stagnierende oder gar fallende Realeinkommen hin­ nehmen. Diese Einkommensschere führte zu makroökonomischen Problemen: Da Besserverdiener üblicherweise einen kleineren Anteil ihrer Einkommen für den Konsum verwenden als Niedriglohnempfänger, entstand eine strukturelle Schwäche des Konsums und damit der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Darauf gab es unterschiedliche Reaktionen: Während diese Entwicklung etwa in Deutschland weitgehend schulterzuckend hingenommen wurde, kam eine solche Haltung für die US­Politik nicht in Frage: Zum einen verfügt die amerikanische Notenbank (Fed) über ein über die Geldwertstabilität hinaus­ gehendes Mandat, auch für einen hohen Beschäftigungsstand zu sorgen; zum anderen ist in den USA die finanzielle Absicherung von Arbeitslosen weit schlechter als in Europa, sodass steigende Arbeitslosigkeit dort schnell zum brennenden politischen Thema wird. Statt also die Nachfrageschwäche und steigende Arbeitslosigkeit hinzunehmen, akzeptierten oder förderten die US­ Regierungen mithilfe der Fed, dass immer neue Kreditinstrumente und ­märkte entstanden. Statt Konsum aus steigenden verfügbaren Einkommen zu finanzie­ ren, begannen die US­Bürger nunmehr, ihren Konsum über Kredite zu finan­ zieren. Und weil damit die Endnachfrage in den USA stärker wuchs als etwa in Deutschland, wuchsen auch die globalen Ungleichgewichte in den Handels­ und Leistungsbilanzen. Die USA verzeichneten Rekorddefizite, während Deutschland Rekordüberschüsse verbuchte. 3

Vgl. Joseph E. Stiglitz, The Stiglitz Report: Reforming the International Monetary and Financial Sys­ tems in the Wake of the Crisis, New York und London 2011; Sebastian Dullien, Christian Kellermann und Hansjörg Herr, Decent Capitalism, London 2011.

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Innerhalb Europas gab es ähnliche Entwicklungen. Allerdings wurde, hier Verschuldung und Immobilienblasen in Ländern der Peripherie wie Spanien oder Irland nicht durch aktive Politik hervorgerufen, sondern ergaben sich aus der Funktionslogik der Währungsunion – in der die Zinsen für einige Länder eigent­ lich immer zu hoch und wachstumsfeindlich und für andere immer zu niedrig und damit wachstums­ und schuldenfördernd sind. Das Ergebnis waren eine steigende Verschuldung der amerikanischen, spa­ nischen und irischen Privathaushalte sowie eine steigende Verschuldung ganzer Volkswirtschaften wie den USA, aber auch Spaniens, Portugals oder Griechenlands gegenüber dem Ausland. Kapital aus den Überschussländern wie Deutschland floss damit in die USA und Spanien und finanzierte dort die Immobilienblasen. Es war so das Zusammenspiel aus globalen Ungleichgewichten und schlecht regulierten Finanzmärkten, das die Krise von 2008/09 erst möglich machte. Ohne die Kapitalzuflüsse aus Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen nach Spanien und in die USA hätte die Blase am Immobilienmarkt in diesen Ländern kaum das beobachtete Ausmaß annehmen können. Ohne die Blasen und ihr Platzen wäre es kaum zur Überschuldung von Haushalten und zu Kreditausfällen gekom­ men. Und ohne Überschuldung und Zahlungsausfälle wäre es kaum zur globalen Bankenkrise gekommen. Warum aber wurde diese Entwicklung über Jahre trotz entsprechender Warnungen ignoriert? Die Antwort ist im vorherrschenden Paradigma der Wirtschaftswissenschaften zu suchen, insbesondere in der Annahme effizienter Finanzmärkte. Unter diesem Begriff verstehen Ökonomen Finanzmärkte, in denen die Preise bereits alle relevanten Informationen korrekt abbilden. Glaubt man an diese These, dann kann es ebenso wenig Preisblasen am Immobilienmarkt geben wie gefährliche Verschuldungstrends, weil all dies von Schuldnern und Gläubigern, Käufern und Verkäufern von Anfang an erkannt würde. Der frühere US­Notenbankchef Alan Greenspan, in dessen Amtszeit das enorme Wachstum von Finanzinnovationen ebenso wie das Anschwellen der Immobilienpreisblase fielen, verwies wiederholt darauf, dass Notenbanken kaum besser als der Markt wissen könnten, welches der angemessene Preis für Immobilien, Aktien oder andere Anlageformen sei. Auch deshalb lehnte er lange Zeit Eingriffe in die Finanzmärkte ab. Inzwischen wird das Paradigma effizienter Finanzmärkte al­ lerdings auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften angezweifelt, sodass Greenspans Laisser­faire­Haltung von immer mehr Vertretern der Zunft als Fehler angesehen wird. Elemente eines „guten“ Kapitalismus Wenn aber die aktuelle Ausprägung des kapitalistischen Modells mit seinem starken Fokus auf die Finanzmärkte als Steuerungselement nicht nur in seiner Legitimität, sondern auch in seiner Effizienz als Wohlstandsmotor zu Recht angezweifelt wird, ist eine Reform unabdingbar, um mittelfristig die Stabilität unserer Wirtschafts­ und Gesellschaftsordnung wiederherzustellen. Und wenn

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die Ursache für die mangelnde Effizienz und Krisenanfälligkeit des Systems eben nicht nur die Finanzmarktregulierung, sondern auch die makroökono­ mischen Ungleichgewichte sind, so muss für dieses Reformprojekt an beiden Stellschrauben angesetzt werden. Bei der Reform des Finanzsektors sollte es vor allem darum gehen, diesen Sektor wieder zu seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Funktion zu bewegen, nämlich der Finanzierung produktiver Investitionen, seien es Anlagen, Ausrüstungen oder Ausgaben für Forschung und Entwicklung von den Unternehmen oder sei es Wohnraum, für den tatsächlich nachhaltiger Bedarf und Nachfrage be­ stehen. Dabei soll verhindert werden, dass sich künftig Regierungen erneut ge­ zwungen sehen, mit Steuermitteln Banken zu retten, weil ein Zusammenbruch des Bankensystems gesellschaftlich inakzeptable wirtschaftliche Folgen mit sich brächte. Konkret bedeutet dies, eine Vielzahl komplexer, aber volkswirtschaftlich unnützer Finanzinstrumente und ­praktiken zu verbieten oder zumindest äußerst unattraktiv zu machen. Beim Abbau der makroökonomischen Ungleichgewichte muss es vor allem darum gehen, nichtnachhaltige Verschuldungstrends zu verhindern – sei es die Verschuldung einzelner Sektoren einer Volkswirtschaft wie dem Staat, den Privathaushalten oder den Unternehmen oder sei es die Verschuldung ganzer Länder. Dies kann nur gelingen, wenn ein Ordnungsrahmen dafür sorgt, dass möglichst in allen Ländern die Endnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ähnlich stark zulegt wie das Produktionspotenzial. Diese Endnachfrage darf zu­ dem nicht auf Dauer über wachsende Kredite finanziert sein, sondern muss aus laufenden Einkommen gedeckt werden. Gelingen kann dies nur, wenn der Trend der Einkommensspreizung um­ gedreht wird und die Einkommen der breiten Masse ähnlich schnell zulegen wie das Produktionspotenzial. Hier sind Eingriffe sowohl in die Verteilung der Primäreinkommen als auch in die Steuer­ und Transfersysteme notwendig. Bei den Primäreinkommen sollten gesetzliche Mindestlöhne und eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerseite die weitere Erosion der Löhne ins­ besondere im unteren Bereich verhindern. Zudem wäre ein stärker progressives Steuersystem wichtig. Der Staat ist auch gefragt, über aktive Konjunkturpolitik den Wachstumspfad zu stabilisieren und über öffentliche Investitionen auch in Bildung und Forschung die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum zu verbessern. Zudem sollten Wechselkurse stabilisiert sowie internationale Kapitalströme kontrolliert werden. In den vergangenen Jahren haben sich flexible Wechselkurse eher als Schockgenerator für die Realwirtschaft denn als sinnvolles Anpassungsinstrument ergeben. Internationale Kapitalströme haben regelmäßig Spekulationsblasen verstärkt. Diese Kosten stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen freier Kapitalströme. Ein derart ausgeprägter „guter“ Kapitalismus hätte den Charme, dass er Legitimität und Effizienz vereinen würde, dass er moralisch wünschenswert und ökonomisch zweckmäßig wäre: Er wäre legitim, weil er Wohlstandsgewinne für

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die breite Masse der Bevölkerung bringen würde. Und er wäre effizient, weil er zu einem stetigen und nachhaltigen Zuwachs des Wohlstands führen würde. Die Deutungsmacht gegen den „guten“ Kapitalismus Welche Chancen aber gibt es, einen solchen „guten“ Kapitalismus umzuset­ zen? Zunächst sah es nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 und der tiefen Rezession in den OECD­Ländern 2009 so aus, als würde sich die Politik tatsäch­ lich hin zu einem besseren Kapitalismus bewegen. In der Abschlusserklärung des G20­Gipfels in Pittsburgh schwingt die Stimmung eines „never again“ mit – die feste Absicht der G20­Regierungen, die Wirtschaftsordnung nach der Krise ein für alle Mal so zu reformieren, dass ähnliche Krisen für die Zukunft verhindert werden und nicht wieder die Politik in Geiselhaft des Finanzsektors genommen werden kann. So wurden in dem Abschlusskommuniqué sowohl umfangreiche Re­Regulierungen der Finanzmärkte als auch ein entschiedener Abbau der globa­ len Ungleichgewichte gefordert.4 In der Folgezeit gab es durchaus Fortschritte bei der nationalen Umsetzung die­ ser Absichten: Auch wenn es in der Öffentlichkeit häufig anders wahrgenommen wird, sind die Regeln für den Finanzsektor bereits deutlich verschärft worden. Andere Re­Regulierungsvorhaben befinden sich derzeit im Gesetzgebungsprozess. Von den Detailvorschlägen der G20 zur stärkeren Finanzmarktregulierung ist mittlerweile der größte Teil umgesetzt worden.5 Das Problem ist, dass die übergeordneten Ideen der G20­Beschlüsse in der Umsetzung weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Es gibt keiner­ lei international koordinierte Maßnahmen oder Initiativen zum Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte. Zwar werden im Finanzsektor einige Praktiken nun stärker reguliert, aber das Grundproblem ist geblieben, dass spekulative oder hochkomplexe Aktivitäten des Finanzsektors attraktiver bleiben als das einfache, aber volkswirtschaftlich wichtigere Kreditgeschäft. Das Auseinanderdriften von Einkommen auf nationaler Ebene wird zwar immer wieder thematisiert, ist aller­ dings bisher in keinem bedeutenden Industrieland wirklich angegangen worden. Erschwerend kommt hinzu, dass inzwischen die ökonomische Debatte über diese Ungleichgewichte fast verstummt ist und damit auch der Impetus zur Korrektur der zugrunde liegenden Ursachen nachgelassen hat. Die Elemente zur Reform hin zu einem guten Kapitalismus würden einen starken und hand­ lungsfähigen Staat erfordern. Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise im Euro­ Raum 2010 hat sich jedoch die öffentliche Debatte gedreht. Angesichts der 4

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Damit wurden wichtige Elemente des Stiglitz­Berichts aufgegriffen. Vgl. G20, Leaders’ Statement: The Pittsburgh Summit. September 24­25, 2009, (abgerufen am 4.4.2012); Vgl. Stiglitz, The Stiglitz Report: Re­ forming the International Monetary and Financial Systems in the Wake of the Crisis, a.a.O. (Anm. 3). Vgl. Sebastian Dullien, Anspruch und Wirklichkeit der Finanzmarktreform: Welche G20­ Verspre­ chen wurden umgesetzt? Bewertung der Politikmaßnahmen nach der Finanzkrise 2008/09, IMK Stu­ dies, Nr. 26, Düsseldorf.

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Finanzierungsprobleme der Staatshaushalte einiger Euro­Staaten werden inzwi­ schen allerorts Austeritätsprogramme und ein Rückschnitt des Staatseinflusses gefordert. Auch in den USA und Großbritannien wird die Euro­Krise inzwischen als drohendes Beispiel für die Gefahren hoher Defizite angeführt und weniger Staat gefordert. Dabei wird oft übersehen, dass die Ursache der Finanzprobleme in Ländern wie Irland oder Spanien mitnichten unverantwortliche Regierungen sind, die seit Jahren zu viel Geld ausgegeben und zu wenig Steuern eingetrieben haben (die beiden Länder hatten vor der Krise tatsächlich Budgetüberschüsse), sondern dass vielmehr die Folgen der Immobilienblase und der Finanzkrise die Staatshaushalte ruiniert haben. Die Interpretation der Euro­Krise als ein Staatsversagen hat dabei für den künftigen Reformpfad wichtige Implikationen. George Orwell schrieb in seinem Roman „1984“: „Who controls the past controls the future.“ Wird nun die ak­ tuelle Krise als Folge von übermäßigen Staatseingriffen interpretiert, so werden die Reformen in Richtung eines kleineren und weniger handlungsfähigen Staates gehen. So schön die Vision eines „guten“ Kapitalismus sein mag, unsere Welt ist leider derzeit nicht auf dem Weg dorthin.

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Globale Ungleichgewichte und Governance Henrik Enderlein Auch vier Jahre nach dem Kollaps der Lehman­Bank und dem Beginn der „großen Rezession“ sind einige der zentralen Ursachen der Krise nicht beseitigt. Das gilt vor allem für die Ungleichgewichte in den internationalen Wirtschafts­ und Finanzbeziehungen. Schon ehe die Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten offensichtlich wurden, war absehbar, dass die Schieflage in den Weltfinanzbeziehungen nicht nachhaltig sein konnte und immense Risiken barg. Dieses Problem ist durch die Finanzmarktkrise keineswegs verschwun­ den. Zwar sind in einzelnen Bereichen Trendveränderungen festzustellen, die zu einem Rückgang der Ungleichgewichte beigetragen haben, insgesamt besteht die Schieflage aber weiter. Die globale Wirtschaftskrise wird fortdauern, wenn nicht die globalen Ungleichgewichte durch Global Governance weiter reduziert werden. Globale Ungleichgewichte vor der Rezession Die aktuelle Krise ist nicht etwa eine kurzfristig entstandene Immobilien­ und Finanzkrise, sondern das Ergebnis von zwei parallel aufgetretenen Strukturphänomenen, deren Präsenz und Risiken lange vor dem Beginn der Krise bekannt waren.1 Einerseits hatten sich in den zehn Jahren vor der Krise immense Ungleichgewichte in den globalen Finanzmärkten entwickelt, die letzt­ lich eine Überversorgung mit Liquidität in den USA zur Folge hatten und damit ein entscheidender Mit­Auslöser der Krise waren. Andererseits setzten US­ und internationale Banken im Kontext dieser Überversorgung mit Liquidität im­ mer häufiger auf direkte Anlagen in vermeintlich sichere Wertpapiere, die über Immobilienkredite abgesichert schienen, anstatt das klassische Kreditgeschäft als wichtigste Einnahmequelle zu behalten. Beide Strukturphänomene und die mit ihnen verbundenen Risiken waren seit Jahren bekannt und insbesondere 1

Die folgenden Ausführungen sowie die Ausführungen im abschließenden Teil „Aussichten auf den „Währungskrieg?“ stützen sich auf Henrik Enderlein, Global Governance der Internationalen Finanz­ märkte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8/2009, S. 3­8.

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der Internationale Währungsfonds beschrieb sie mehrfach detailliert, ohne dass Konsequenzen gezogen wurden.2 Kurz vor dem Beginn der Finanzkrise im Sommer 2007 bestand folgende Konstellation: Während die USA ein Leistungsbilanzdefizit von 6,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufwiesen, waren die großen asiatischen Volkswirtschaften zu ihrem Finanzier geworden. China schickte fast jeden zehn­ ten erwirtschafteten Yuan außer Landes (je nach Berechnung ca. 240 Mrd. Dollar pro Jahr oder 10 Prozent des chinesischen BIP). Japan kam auf einen nur gering­ fügig geringeren Wert (167 Mrd. oder 3,7 Prozent des BIP). Die Erdöl expor­ tierenden Länder legten noch einmal knapp 300 Mrd. drauf, um den immensen Kapitalhunger der USA zu stillen. Diese Leistungsbilanzüberschüsse und ­defizite reflektierten massive Ungleich­ gewichte in den Außenhandelsbeziehungen. 2007 importierten die USA Güter im Wert von 7300 Dollar pro Kopf. Bedient wurde die Nachfrage vor allem durch China. Mit keinem Land der Welt (auch nicht mit Europa) war das Handelsdefizit der USA größer. Die klassische ökonomische Lehre von Angebot und Nachfrage würde bei einem so ausgeprägten Bedarf an Kapital durch die USA davon aus­ gehen, dass der Preis für Kredite, also der Zins, steigen müsste. Dies war nicht der Fall. Die Preise von US­Anleihen blieben weiterhin sehr hoch. Da sich der Zins einer Anleihe umgekehrt proportional zum Preis entwickelt, waren die Kreditkonditionen für die USA weiterhin sehr günstig. Es gab zwei Hauptgründe für die hohen Preise und deshalb niedrigen Zinsen von US­Anleihen. Erstens kauften asiatische Zentralbanken einen Großteil der Anleihen auf dem Markt. Ihr Ziel war es, durch die monumentalen Summen, die dabei in der Landeswährung auf die Kapitalmärkte geworfen wurden, die eigenen Währungen gegenüber dem Dollar künstlich unter Druck zu setzen. Dadurch hielten sie ihre besonders gute Exportsituation gegenüber den USA auf­ recht. Zweitens hatte sich außerhalb der USA ein massiver Liquiditätsüberschuss entwickelt. Die Weltgeldmenge stieg zwischen 1998 und 2007 rasant an. Dies lag an einer Kombination aus einer hohen Sparquote außerhalb der USA und an niedrigen Zentralbankzinsen nicht nur in den OECD­Ländern, sondern auch in vielen Entwicklungsländern. Die chinesische Volkswirtschaft sparte rund die Hälfte ihres Sozialprodukts an, während in den USA durchschnittlich jeder Privathaushalt mit 0,5 Prozent des Nachsteuereinkommens Schulden hatte. Die Ungleichgewichte waren eine direkte Konsequenz sehr rationaler natio­ naler Wirtschaftspolitiken, die in ihrer Kombination eine fast paradoxe „Win­ win“­Konstellation für die beteiligten Staaten bedeutete. Für die USA war die asiatische Liquiditätsspritze eine wichtige und willkommene Komponente der Wirtschaftspolitik George W. Bushs. Als der Internetboom in den USA am Anfang 2

Zu den Ungleichgewichten in der Weltwirtschaft siehe zum Beispiel Kapitel 2 des IMF World Eco­ nomic Outlook, September 2002 mit dem Titel „How Worrisome are External Imbalances?“ und Kapitel 3 des IMF World Economic Outlook, April 2005 mit dem Titel „Globalization and External Imbalances“. Zu den Bankenrisiken siehe die Financial Stability Review 2007 des Internationalen Währungsfonds.

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des Jahrtausends zusammenbrach und die Wirtschaft in eine längere Rezession zu gleiten drohte, startete die Regierung Bush einen keynesianischen Rettungsplan alter Schule. Aus dem von der Vorgängerregierung geerbten Haushaltsüberschuss wurde innerhalb kürzester Zeit eines der größten Defizite der jüngsten US­ Geschichte – übrigens nicht primär wegen der hohen Militärausgaben, sondern vor allem aufgrund der massiven Steuersenkungen. Die hohe Verschuldung hätte höhere Kapitalmarktzinsen zur Konsequenz haben müssen, doch weil sich die asiatischen Zentralbanken mit Schuldentiteln eindeckten, kam es nicht dazu. Der Dollar wurde stärker (obwohl er eigentlich hätte fallen müssen), die US­ Verbraucher kamen in den Genuss günstiger Importe aus China, die gleichzeitig auch die Inflationsentwicklung dämpften. Der beeindruckenden Wachstumsphase der US­Wirtschaft vor dem Beginn der Finanzkrise bei geringem Preisauftrieb und niedrigen Zinsen war der Weg bereitet. Durch die günstigen Kreditkosten boomte der US­Immobilienmarkt bis zum Beginn der Krise in historisch einzig­ artiger Weise. Das postkommunistische Regime Chinas folgte wie einige asiatische Nachbarländer der Strategie des vom Export getriebenen Wachstums. Dieser Ansatz war bislang vor allem in relativ kleinen Ländern (zum Beispiel Südkorea, Hongkong, Taiwan, Singapur) erfolgreich gewesen. Noch bis in die 1990er Jahre waren Ökonomen deshalb davon ausgegangen, dass China mit dieser Strategie niemals ausreichendes Wachstum erzeugen könne. Das Argument lautete: Bei der immensen Größe der Volksrepublik müssten deutlich mehr Waren exportiert werden, als die Industrieländer zu importieren in der Lage wären. Doch China wählte diesen Weg und unterstützte ihn mit der oben beschriebenen Strategie der Unterbewertung des Yuan. Die Landeswährung wurde fest an den Dollar gekoppelt, um Außendirektinvestitionen anzuziehen und gleichzeitig einen mas­ siven Preisvorteil für chinesische Waren auf dem US­Markt zu garantieren. Der Schlüssel zum Erfolg war die massive Intervention der chinesischen Zentralbank auf den US­Anleihemärkten und die resultierenden Dollarreserven in vorher nicht gekanntem Ausmaß. Bis zum Beginn der Finanzkrise war also für die USA und China aus der jewei­ ligen Akteursperspektive das System in Ordnung. Die merkwürdig symbiotische Konstellation von trügerischer Stabilität, oft passend „Chimerica“ genannt,3 war eine der zentralen Ursachen der großen Rezession. Denn durch die niedrigen US­Zinsen konnten die spekulativen Blasen im Immobilienmarkt und in vielen anderen Bereichen der Volkswirtschaft ja erst entstehen. Die riesigen Schuldensummen sowohl des Staates als auch des Privatsektors waren eine direkte Konsequenz der globalen Ungleichgewichte. Auch wenn die US­Geldpolitik sicherlich mehr hätte tun können, um die Kreditblase in den USA früher zum Platzen zu bringen – der wirkliche Auslöser 3

Der Begriff „Chimerica“ – eine Kombination aus „China“ und „America“ – wurde von Niall Ferguson und Moritz Schularick geprägt: dies., ‚Chimerica‘ and the Global Asset Market Boom, in: Internatio­ nal Finance, 10 (2007) 3, S. 215­239.

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für die Überhitzung des US­Kreditmarkts lag im internationalen Währungs­ und Finanzsystem. 2006 erreichte die Spekulationswelle am US­Immobilienmarkt ih­ ren Höhepunkt. Als die Preise dann schließlich zu fallen begannen und die Krise über die den Immobilienkrediten zugrunde liegenden Wertpapierkonstruktionen schnell Banken und dann das gesamte Finanzsystem erreichte, nahm die globale Finanzmarktkrise ihren Lauf. Diese extrem verkürzte Skizze des Anteils globaler Ungleichgewichte an den Ursachen der Krise kann nur andeuten, von welcher grundlegenden Bedeutung globale Finanzmarktbeziehungen für die Stabilität der Weltkonjunktur sind. Zwar können die Kausalitäten nicht eindeutig geklärt werden: Während aus der US­ Perspektive immer wieder von „Währungsmanipulation“ durch asiatische Länder und vor allem China die Rede ist, verweist die Volksrepublik immer wieder auf die zügellose Schuldenpolitik der USA. Doch ganz unabhängig von der Frage des Auslösers der globalen Ungleichgewichte kann festgehalten werden, dass eine übermäßige Divergenz zwischen einzelnen wirtschaftspolitischen Strategien, die sich in makroökonomische Ungleichgewichte überträgt, letztlich wohl immer eine Bedrohung für die Stabilität der globalen Volkswirtschaft darstellt. Wer eine sta­ bile Entwicklung der Weltkonjunktur befürwortet, muss ein schlüssiges Konzept zur Bewältigung der globalen Ungleichgewichte vorlegen. Krisenmanagement globaler Ungleichgewichte Im internationalen Krisenmanagement spielte die Bekämpfung globaler Ungleichgewichte in den ersten Jahren der Krise nur eine untergeordnete Rolle. Die zentralen Maßnahmen nationaler Regierungen nach dem ersten Starkbeben auf den internationalen Finanzmärkten im September 20084 konzentrierten sich auf die Rekapitalisierung von Banken und die Abfederung der Rezession durch Konjunkturpakete. Die globale Ebene war zwar von Beginn an eines der häufig benannten Themen in den Beratungen der G20; eine echte Strategie zur Rückführung globaler Ungleichgewichte wurde aber nie entwickelt. Das lag vor allem am weiter schwelenden Konflikt zwischen den USA und China über die Ursachen der Ungleichgewichte. Die gegenseitige Schuldzuweisung beider Länder brachte die vor allem vom Internationalen Währungsfonds immer wie­ der angestoßene Diskussion wiederholt zum Stocken und endete schließlich mit einem Kompromiss zur Erhebung von Daten, die zur Identifikation von globalen Ungleichgewichten herangezogen werden sollten: Im Frühjahr 2011 einigten sich die G20­Finanzminister auf eine Methode zur Messung von Problemen in der Leistungsbilanz sowie dem privaten und öffentlichen Schuldenstand eines jeden Landes. Doch spätestens zu diesem Zeitpunkt musste jedem Beobachter klar sein,

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Die ersten Symptome der globalen Wirtschaftskrise waren bereits im August 2007 zu erkennen und führten zu einer koordinierten Antikrisenstrategie der Zentralbanken. Den Kern der Tagespolitik er­ reichte die Finanzmarktkrise jedoch erst mit der Lehman­Pleite im September 2008.

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dass die offensichtlichen Gefälle, vor allem zwischen den USA und Asien, weiter verschleppt werden würden, anstatt offen diskutiert zu werden. Das Herzstück des globalen Krisenmanagements zu Ungleichgewichten zwi­ schen Ländern und Regionen ist deshalb ein reines Datenabgleichskonstrukt: der so genannte „Mutual Assessment Process“ (gegenseitiger Evaluierungsprozess). Er liegt den Einschätzungen zugrunde, die bei den jährlichen Herbsttreffen der G20 zum Zustand der globalen Ungleichgewichte beschlossen werden. Bislang kam es allerdings nicht zu direkten und koordinierten Empfehlungen, welche nationalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen notwendig wären, sondern nur zu generellen Einschätzungen, dass sich alle Länder am Abbau der Ungleichgewichte beteiligen würden. Die Abschlusserklärung des G20­Treffens in Cannes vom 3./4. November 2011 spricht Bände. Darin wird im ersten Absatz festgestellt: „Globale Ungleichgewichte bestehen fort.“ Konkrete Maßnahmen zur Beseitigung der Ungleichgewichte über generelle Einschätzungen hinaus (etwa die Forderung nach „stärker marktbestimmten Wechselkurssystemen“ oder „Vermeidung von Protektionismus“) werden jedoch nicht benannt. Und so ist es nicht überra­ schend, dass auch im Jahr 2012 die Forderungen nach einem „Re­Balancing“ der Weltwirtschaft nicht leiser werden.5 Denn die globalen Ungleichgewichte, insbesondere zwischen den USA und China, haben sich seit dem Beginn der großen Rezession nur wenig verändert. Die Kurve der chinesischen Devisenreserven seit 1998 zeigt deutlich, dass vor der Krise ein fundamentales Problem vorlag, das sich im Zuge der Krise nur teil­ weise veränderte. Die chinesischen Devisenreserven verdoppelten sich seit 1998 alle zwei Jahre. Diese exponentielle Steigerung war notwendig, um den Yuan unter Druck zu halten. Zu Beginn der Krise erreichte das monetäre Arsenal der chinesischen Zentralbank den Wert von zwei Billionen Dollar, stagnierte während der ersten Krisenmonate erstmals seit Jahren, nahm dann aber bis 2011 wieder phänomenal an Fahrt auf. Erst 2012 drosselte die Regierung der Volksrepublik den Devisenankauf wieder. Es ist aber noch nicht abzusehen, ob sich dadurch die Strategie der chinesischen Außenwirtschaftspolitik grundsätzlich verändern wird. Die US­Seite zeigt ein korrespondierendes Bild. Nachdem sich die US­ Außenhandelsbilanz im Krisenjahr 2009 auf 2,8 Prozent des BIP verbessert hat­ te, vergrößert sich das Defizit seitdem wieder stetig und steuert im Jahr 2012 auf 4 Prozent des BIP zu. Auch der Kapitalbedarf der USA hat sich wieder erhöht: Die USA werden 2012 ein Leistungsbilanzdefizit von rund einer halben Billion Dollar aufweisen. Chimerica lebt also weiter. Die Nachfrageseite der Weltökonomie wird weiter­ hin maßgeblich von den USA getragen, während die Angebotsseite in Asien liegt – und dort insbesondere in China. Niemand sollte die Risiken dieser trügerischen Arbeitsteilung gerade nach der Krise unterschätzen. Es ist unwahrscheinlich, dass die US­Nachfrage beim hohen Schuldenstand sowohl im öffentlichen als auch 5

Vgl. zum Beispiel die Rede der IWF­Direktorin Christine Lagarde bei der Brookings Institution am 12. April 2012.

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im privaten Bereich in den kommenden Jahren beibehalten werden kann. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass die asiatische Strategie des so genannten export­ led growth noch lange weitergehen kann. Überwindung globaler Ungleichgewichte als öffentliches Gut Die Schwierigkeiten bei der Überwindung der globalen Ungleichgewichte deu­ ten auf ein Paradoxon und ein Desiderat im Bereich der Global Governance von Finanzmärkten hin. Das Paradoxon lautet, dass die finanzielle Globalisierung nicht primär die Nationalstaaten in ihrer wirtschaftspolitischen Autonomie geschwächt hat. Sie hat vielmehr die Regierbarkeit des globalen Finanzsystems unterminiert. Nationalstaaten werden in ihrem Bestreben, national präferierte wirtschaftspolitische Lösungen unilateral durchzusetzen, nicht wirklich be­ hindert, globale Kapitalflüsse haben die Effektivität bestimmter Strategien unter Umständen sogar gestärkt. Dagegen sind die Möglichkeiten in der in­ ternationalen Finanzarchitektur, mit koordinierten Mitteln gegen unilaterale Destabilisierungen des Gesamtsystems vorzugehen, wohl eher zurückgegan­ gen: Trotz engerer finanzieller Verknüpfungen zwischen den Nationalstaaten und der dadurch schnelleren Übertragung von Krisen von einem Land auf das andere ist eine globale Krisenprävention im Bereich der Finanzmärkte nicht vorhanden. Eine Erweiterung der G8­Struktur in eine Gruppe der 12, mit China, Indien, Brasilien und Südafrika, wäre eine staatszentrierte, aber unter Umständen ef­ fektive Lösung. Allerdings müsste diese Gruppe sich auf ein unabhängiges Sekretariat mit einem unabhängigen Generalsekretär stützen können. Ähnlich wie im Kontext der Welthandelsorganisation oder auch im Kontext der Europäischen Kommission der frühen Jahre könnte sich ein solches Sekretariat zu einer echten supranationalen Organisation entwickeln. Global Governance ist im Bereich der internationalen Finanzbeziehungen weitaus weniger ausgebildet als in vielen anderen Bereichen. Oft wird argu­ mentiert, erfolgreiche Global Governance gehe mit Globalisierung einher. Demgegenüber könnte man die Global Governance der Finanzmärkte als einen Verlierer der Globalisierung bezeichnen. Vielleicht kann die aktuelle Finanzkrise bei allen zerstörerischen Effekten wenigstens dazu beitragen, einen Konsens darüber zu bilden, dass die internationalen Finanzbeziehungen weiterhin im Zentrum der globalen Politik stehen und keine abstrakt gebildeten Resultate zahlloser Marktvektoren sein können. Gibt es im internationalen Finanzsystem Möglichkeiten, die Entstehung von Marktexzessen zu verhindern? Welche Governance­Leistung hätte vom internationalen System erbracht werden müs­ sen, um auf die Problemlage zu antworten? Am besten lässt sich die Herausforderung wohl über Zeitinkonsistenzen be­ schreiben: Notwendig wäre im Gesamtsystem gewesen, kurzfristig Gewinne

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preiszugeben, um mittel­ bis langfristig Verluste zu vermeiden.6 Hierzu sind eigentlich nur unabhängige Instanzen in der Lage. Da die internationalen Finanzbeziehungen kurzfristig stark einem Nullsummenspiel ähneln, also jeglicher Eingriff in die nationale Wirtschaftspolitik zudem eine direkte Einschränkung nationaler Souveränität bedeutet, sind die Grundlagen für den Aufbau von Institutionen oder Instanzen, die ein solches Problem hätten lösen können, aller­ dings nur schwer vorstellbar. Dieses besondere Charakteristikum der internatio­ nalen Finanzbeziehungen ist nicht neu.7 Tatsächlich sind die internationalen Finanzbeziehungen seit dem Zu­ sammenbruch des Bretton­Woods­Regimes derjenige Bereich gewesen, in dem sich die internationale Kooperation in den vergangenen Jahrzehnten am we­ nigsten herausgebildet hat. Zwar gab es gerade im Bereich der Bankenregulierung durchaus Abkommen wie Basel II, die eine Grundlage für Kooperation sein konnten,8 doch selbst in diesem Bereich sind die nationalen Unterschiede erhalten geblieben,9 nicht nur wegen der Entscheidung der USA, das Basel­II­Abkommen nicht oder erst verspätet umzusetzen. Der Problemkontext der aktuellen Finanzkrise lässt sich also vor dem Hintergrund betrachten, dass es im internationalen Finanzsystem keine oder nur sehr eingeschränkt wirkende Steuerungsinstanzen gibt. Dennoch handelt es sich nicht um einen regelfreien Raum, was die Anwendung des Governance­ Konzepts geradezu herausfordert. Denn Steuerung wird meist mit der klas­ sisch­hierarchischen Autoritätsausübung verbunden, die sich letztlich immer auf die Einhaltung von Regeln (compliance) im Kontext institutionalisierter Durchsetzungsinstrumente (enforcement) stützt. Governance hebt sich dagegen maßgeblich von der eng definierten Steuerungstheorie ab.10 Der Begriff bezieht sich breit gefasst auf die Gesamtheit der vielfältigen kollektiven Regelungsformen gesellschaftlicher Sachverhalte.11 Präziser lässt er sich am besten wie folgt de­ finieren: „Governance bezieht sich auf institutionalisierte Modi der sozialen Handlungskoordination, die auf die Herstellung und Implementierung kollektiv 6

Jon Elster nennt dies „deferred gratifications“. Vgl. ders., Ulysses and the Sirens: Studies in Rationality and Irrationality, Cambridge 1979. 7 Robert Keohane hat in seinem grundlegenden Werk „After Hegemony“ schon 1984 darauf hingewie­ sen, dass der Aufbau eines „Regimes“ im Bereich der internationalen Finanz­ und Währungskoordi­ nierung ungleich schwieriger erscheint als im Bereich der globalen Handelsbeziehungen. Vgl. Robert O. Keohane, After Hegemony: Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton 1984. 8 Beth Simmons, International Politics of Harmonization. The Case of Capital Market Regulation, in: International Organization 55 (2001) 3. 9 Susanne Lütz, Convergence within National Diversity – the Regulatory State in Finance, in: Journal of Public Policy 24 (2004) 2. 10 Zu einer aktuellen Analyse des Governance­Begriffs und der Diskussion darüber siehe Folke Schup­ pert und Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, in: Politische Vierteljah­ resschrift Sonderheft 41 (2008) 8. 11 Vgl. Renate Mayntz, Governance im modernen Staat, in: Arthur Benz (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 65­76, hier S. 66.

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verbindlicher Regelungen bzw. auf die Bereitstellung kollektiver Güter für eine bestimmte soziale Gruppe abzielen.“12 Aus Sicht der Finanzkrisenproblematik ist die definitorische Debatte deshalb so spannend, weil sie die Frage hervorbringt, ob der Markt selbst in der Lage ist, die beschriebenen Leistungen zu erbringen, das heißt, ob Marktmechanismen selbst als Governance­Modi zu sehen sind. Wäre der Markt selbst in der Lage gewesen, eine Entkopplung von Finanz­ und Realwirtschaft zu vermeiden? Die ökono­ mische Literatur hat lange argumentiert, dass individuelle Nutzenmaximierung innerhalb eines Marktkontexts durchaus in der Lage ist, Governance­Leistungen zu erbringen. Sie weist darauf hin, dass allein aufgrund der Präsenz von Marktstrukturen selbst in Abwesenheit intentionaler Planung Kollektivgüter ent­ stehen können.13 Entscheidend dabei ist allerdings, dass keine auf das Kollektivgut ausgerichtete Intentionalität vorliegt. Kann ein rein marktbasiertes internationales Finanzsystem in ähnlicher Form seine eigene Stabilität sichern und Blasenbildungen oder übermäßige Instabilität vermeiden, wenn alle Akteure ihrer eigenen Rationalität folgen? Oder sind für die Erbringung des Kollektivguts internationale Finanzmarktstabilität intentionale Eingriffe notwendig? Die oben skizzierte Ursachenanalyse der Krise weist darauf hin, dass eben gerade diese intentionalen Eingriffe gefehlt haben. Und so mag die Zeit für eine Neustrukturierung der Regelsysteme im in­ ternationalen Finanzsystem in der Tat gekommen sein. Doch niemand sollte unterschätzen, wie schwierig Global Governance gerade in diesem Bereich ist. Denn die Entstehung von Strukturen von Global Governance charakte­ risiert sich gemeinhin durch ein oft opakes Zusammenspiel von staatlichen, privaten, internationalen und regionalen Akteuren, das erfolgreiche Formen der Handlungskoordinierung hervorbringen kann – aber eben nicht zwingend hervorbringen muss. Aussichten auf den „Währungskrieg“? Die Jahre nach der globalen Rezession zeigen deutlich, dass selbst eine Jahrhundertkrise noch keine Handlungskoordinierung nach sich zieht. Die globa­ len Ungleichgewichte zwischen den USA und den asiatischen Volkswirtschaften (insbesondere China) bestehen fort. Die wirtschaftspolitischen Turbulenzen in Europa mögen vorerst das Augenmerk des globalen Krisenmanagements auf sich gezogen haben. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis deutlich werden wird, dass auch die Euro­Krise nur ein Element des weiterhin tief im Ungleichgewicht befindlichen Weltwirtschafts­ und Weltfinanzsystems ist.

12 DFG Sonderforschungsbereich 700: SFB­Governance Working Paper Series, Nr. 8, Berlin, Oktober 2007. 13 Vgl. Oliver E. Williamson, The Mechanisms of Governance, Oxford 1996.

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Schon macht wieder das Wort des „Währungskriegs“ die Runde.14 Auch wenn die Terminologie völlig überzogen ist, so wird doch deutlich, dass das Risiko eines globalen Wettbewerbs der kompetitiven Abwertungen von Währungen gerade aufgrund der weiter schwelenden Krise nicht abgenommen hat. In den USA ist mittlerweile die dritte Runde der so genannten quantitativen Lockerung (also des direkten Ankaufs von Anleihen durch die US­Notenbank) eingeläutet, während Europa die Krise auch durch direkte Zentralbankinterventionen in den Griff zu bekommen versucht. Die Ungleichgewichte in den internationalen Währungs­ und Finanzmärkten bergen immense Risiken, die mittelfristig eine weitere Krise oder die Fortsetzung der immer noch andauernden Krise zur Folge haben könnten. Es stellt sich die Frage, ob die finanzielle Globalisierung, die der Welt im Durchschnitt sicherlich mehr Wohlstand und Wachstum ermöglicht hat, zumin­ dest zeitweilig Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden ist. Die Industrienationen sehen sich mit der Problematik konfrontiert, ob ihre gemeinsame Regierungs­, Regulierungs­ und Kooperationskapazität noch ausreicht, um temporären Exzessen des von ihnen geschaffenen Phänomens freier Kapitalflüsse einigerma­ ßen Herr werden zu können.

14 Der brasilianische Finanzminister Guido Mantega warnte im September 2010 vor einem „curren­ cy war“ und wiederholte diese Warnung seitdem mehrfach (siehe zum Beispiel: Financial Times, 6.7.2011).

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Governance internationaler Finanzmärkte nach der Krise Bernhard Speyer Die 2007 einsetzende Finanzkrise war nicht nur die schwerste Wirtschaftskrise seit der Zeit der Großen Depression, sondern auch eine Wegscheide in der internationalen Finanzmarktpolitik: Erstens etablierte sie die Gestaltung des Ordnungsrahmens für die internationale Finanzmärkte endgültig als Gegenstand der „high politics“1 auf der Ebene der Staats­ und Regierungschefs. Zweitens wur­ de Finanzmarktpolitik auch innenpolitisch zu einem wahlentscheidenden Thema. Drittens änderte sie die Philosophie der internationalen Finanzmarktpolitik weg von Liberalisierung und Internationalisierung hin zu Re­Regulierung und Re­ Nationalisierung der Finanzmärkte. Viertens beschleunigte sich mit der Krise die Verschiebung der geopolitischen und geoökonomischen Machtbalance zu Gunsten der Schwellenländer. Neue Governance Die Neuausrichtung der Governance der Finanzmärkte durchlief mehrere Phasen. Die erste Phase nach dem Weltfinanzgipfel in Washington im November 2008 war geprägt vom gemeinsamen Interesse aller G20­Staaten, die akute Krise zu überwinden und das Weltfinanzsystem zu stabilisieren; nationale Interessen traten dabei in den Hintergrund. In einer zweiten Phase, die ihren Höhepunkt im zweiten Weltfinanzgipfel in London im April 2009 hatte, ging es neben der akuten Krisenbewältigung, insbesondere der Stabilisierung des Bankensystems, auch darum, das Weltfinanzsystem durch gemeinschaftliche Regeln, also durch einen Ordnungsrahmen, widerstandsfähiger zu machen. In einer dritten Phase schließlich, die der G20­Gipfel in Toronto im Juni 2010 markierte, erweiterte sich nicht nur das Spektrum der Themen, sondern auch das Meinungsspektrum der beteiligten Akteure. 1

Einen umfassenden Überblick über Finanzmarktfragen als Gegenstand der „high politics“ aus Sicht der USA geben Benn Steil und Robert E. Litan, Financial Statecraft, New Haven 2006.

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Die Krise veränderte auch die institutionelle Governance der globalen Finanzmärkte. Sie unterminierte die ökonomische und ideologische Vorherrschaft des Westens und beeinträchtigte damit seine Fähigkeit, „harte“ und „weiche“ Macht auszuüben.2 Dies gilt insbesondere für die von der Staatsschuldenkrise gebeutelten europäischen Staaten. Viele von ihnen haben noch nicht das Vorkrisenniveau ihrer Volkswirtschaften erreicht, sie sind immer noch mit sich selbst, nationalen bzw. innereuropäischen Fragen, beschäftigt.3 Umso stärker traten nunmehr die Schwellenländer in den Vordergrund. Beim Weltfinanzgipfel von Pittsburgh 2009 vereinbarten die Staats­ und Regierungschefs, dass die G20 die G7 als „premier forum for international economic coopera­ tion“ ablösen solle. Zudem wurden die wesentlichen Standardsetzungs­ und Überwachungsgremien der internationalen Finanzdiplomatie auf eine breitere Basis gestellt: Im Baseler Ausschuss für Bankenregulierung sowie im Financial Stability Board (FSB)4 sind seitdem alle G20­Mitglieder vertreten; damit sitzen die Schwellenländer als gleichberechtigte Partner am Tisch. Nichtsdestoweniger bleibt die Bilanz der G20 als effektives Steuerungsgremium für die Weltfinanzmärkte bisher recht überschaubar. Das Forum der G20 erwies sich zumeist als ungeeignet, Interessengegensätze zu überwinden.5 Auch bei der Neugestaltung der Weltfinanzordnung ging es um Machtfragen. Um ihren Einfluss zu sichern und zu vermeiden, dass die Schwellenländer zu viel Gestaltungsmacht gewinnen, lag es für die alten Industrieländer nahe, die Verhandlungen zur Neugestaltung des Ordnungsrahmens der internationa­ len Finanzmärkte auf die Ebene des FSB zu verlagern und nicht etwa beim IWF anzusiedeln, wo die Schwellenländer im Rahmen der Quotenreformen an Gewicht gewinnen. Interessen und Akteure USA und EU: Der Reformeifer der transatlantischen Partner war zweifach moti­ viert: Durch umfassende Reformen sollten politische Handlungsfähigkeit demons­ triert und so auch das Vertrauen in die Finanzmärkte der USA und Europas wieder hergestellt werden. Darüber hinaus ging es den USA und den EU­Staaten darum, 2 3

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Der chinesische Vizepremierminister Wang Qishan brachte dies mit den Worten auf den Punkt: „The teachers now have some problems.“ Zitiert in Roger C. Altman, The Great Crash, 2008 – A Geopoli­ tical Setback for the West, in: Foreign Affairs, 88 (2009) 1, S. 2­14, hier S. 9­11. So urteilte etwa Hank Paulson, der ehemalige US­Finanzminister in der Regierung von George W. Bush: „It is also clear that the strength of the relationship between the U.S. and China will be critical to the functioning of the G­20 and global cooperation.“ Die EU findet keine Erwähnung. Hank Paulson, On the Brink, New York 2010, S. 450. Das FSB ist aus dem Financial Stability Forum (FSF) hervorgegangen, das nach der Asien­Krise als informelles Koordinationsgremium der G8 und der internationalen Finanzorganisationen gegründet wurde. Vgl. Katharina Gnath, Stormy­Annika Mildner und Claudia Schmucker, G20, IWF und WTO in turbulenten Zeiten – Legitimität und Effektivität auf dem Prüfstand, SWP­Studie S9, Berlin 2012, S. 13.

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die zukünftige Governance des internationalen Finanzsystems in einer multipo­ laren Welt noch in ihrem, westlichen Sinne zu gestalten, solange sie aufgrund des Gewichts ihrer Finanzmärkte und ­institutionen dazu noch in der Lage sind.6 Schwellenländer: Trotz ihrer ökonomischen Stärke und verbesserten Präsenz in der institutionellen Governance waren die Schwellenländer bei der inhalt­ lichen Gestaltung der neuen Finanzmarktregeln passiv geblieben. Offensiver haben sich insbesondere die BRICS­Staaten, (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) dabei positioniert, das internationale Währungssystem neu zu ordnen. Wiederholt forderten sie mehr Einfluss im IWF und stellten die Rolle des US­Dollars als globale Leit­ und Reservewährung in Frage. Bei Fragen der Finanzmarktregulierung schmälerten die fehlende institutionelle Verankerung und mangelnde technokratische Expertise ihren Einfluss. Auch konnten die Schwellenländer noch nicht das Gewicht ihrer internationalen Währungsreserven (von denen sie etwa zwei Drittel besitzen) in die Waagschale legen, weil ihre Finanzmärkte kleiner sind als jene der USA und Europas. Gleichwohl zeichnet sich bereits eine Machtverschiebung zugunsten der Schwellenländer bei der Sicherung internationaler Liquidität und der Mittelausstattung des IWF ab. Die Schwellenländer trugen im Frühjahr 2009 erheblich zur Erhöhung der Mittel des IWF bei. Illustrativ ist der Vergleich zur Nachkriegszeit und zur Krise in Mexiko Mitte der 1990er Jahre: In beiden Fällen hatten die USA aus strategischem Interesse selber umfangreich Finanzmittel für Rettungspakete bereitgestellt.7 Heute werden die betroffenen Länder entweder auf sich selber oder auf den IWF verwiesen.8 Privater Sektor: Waren private Akteure in den Jahren vor der Krise aktiv in den Regulierungsprozess eingebunden,9 so wurden sie seitdem wieder mehr in die Rolle des passiven Regelnehmers zurückgedrängt. So attraktiv es für Politiker vorher war, die Finanzindustrie in die Regulierung einzubeziehen, so opportun wurde es nach der Krise, aufgrund der veränderten öffentlichen Meinung eine konfrontative Haltung gegenüber der Finanzindustrie einzunehmen. Die Rolle des Privatsektors bei der Finanzmarktgesetzgebung bleibt aber je nach Land weiterhin unterschiedlich ausgeprägt. Entscheidend dafür, wie gut private Akteure ihren Einfluss wahren konnten, ist die Kombination verschie­ dener Faktoren. Erstens das Ausmaß, in dem der Finanzsektor auf staatliche Hilfen angewiesen war: Je höher diese waren, desto größer war der politische Widerstand gegen eine Einflussnahme der Finanzindustrie auf die Gestaltung 6

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Vgl. für die USA Stephen G. Brooks und William C. Wohlforth, Reshaping the World Order – How Washington Should Reform International Institutions, in: Foreign Affairs, 88 (2009) 2, S. 49­63; für eine Diskussion von Optionen (für die EU), in einer multipolaren Welt Einfluss zu wahren vgl. Eber­ hard Sandschneider, Der erfolgreiche Abstieg Europas, München 2011, S. 107, 156­172. Für eine Darstellung der außenpolitischen Interessen der USA bei diversen Finanzkrisen vgl. Steil und Litan, Financial Statecraft, a.a.O. (Anm. 1), S. 134­151. Vgl. Roger C. Altman, The Great Crash, a.a.O. (Anm. 2), S. 10. Ausführlicher zu den Motiven der Einbindung des privaten Sektors vgl. Bernhard Speyer, Governing Financial Markets – Basel I and II: The Role of Non­State Actors, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Global Governance and the Role of Non­State Actors, Baden­Baden, S. 101­116, hier S. 107­109.

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des Ordnungsrahmens. Zweitens die institutionelle Verankerung des privaten Sektors im Rahmen der Finanzmarktgesetzgebung: So ist etwa in der EU das Prinzip der Konsultation des Privatsektors kodifiziert.10 Drittens ist schließlich entscheidend, wie relevant der Sektor für die jeweilige Volkswirtschaft ist: Ist wie in Großbritannien sein Beitrag zur Wirtschaftsleistung hoch, gelingt es den pri­ vaten Akteuren eher, Einfluss zu bewahren. Rolle der Staaten: Die reduzierte Rolle des privaten Sektors korrespondiert mit der größeren Verantwortung des Staates im Finanzsystem. In westlichen Staaten war das zunächst eine Nebenwirkung der Rettungsaktionen. Keine der Regierungen, die den Banken mit Kapitalspritzen halfen, hatte die Absicht, diese zu verstaatlichen. Sie gerieten vielmehr unabsichtlich in die Eigentümerrolle und müssen diese zumindest in Europa länger einnehmen als ihnen recht ist. Solange die Lage im Bankensektor prekär bleibt, ist es jedoch kaum möglich zu reprivatisieren. Die Lage ist anders in den Schwellenländern: Die Finanzkrise als (vermeintliche) Krise des westlichen Finanzmarktmodells hat jene Kräfte gestärkt, die eine größere Rolle des Staates in der Wirtschaft allgemein und im Finanzsystem im Besonderen befürworten.11 Dieser ideologischen Alternative des Staatskapitalismus entspra­ chen auch die Instrumente der Staatsfonds (Sovereign Wealth Funds, SWF) zur Gestaltung des Finanzsystems.12 Es ist bemerkenswert, dass die Abkehr von der Doktrin der freien Märkte und vom so genannten Washington Consensus weitgehend ohne den Widerstand der westlichen Mächte und des IWF erfolgte. Beispielhaft ist die Kehrtwende in der IWF­Politik bezüglich der Kapitalverkehrsliberalisierung: Vor der Krise war vollständige Kapitalverkehrsfreiheit die Zielvorgabe. Nach der Krise wurde (nicht zuletzt wegen der negativen Auswirkungen der lo­ ckeren US­Geldpolitik auf Schwellenländer mit flexiblen Wechselkursen) akzep­ tiert, dass Kapitalimportkontrollen legitime, ja sogar sinnvolle Instrumente der Wirtschaftspolitik sein können. Inhaltliche Dimension Mikroökonomische Aspekte: Mit dem Aktionsplan des Financial Stability Forum (FSF) lag ein umfassender Katalog an Reformmaßnahmen vor, um die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems zu verbessern.13 Dazu zählen die 10 Vgl. Bernhard Speyer, EU Securities Markets Regulation – Problems, Policies and Processes, in: Xavier Freixas et al., Handbook of European Financial Markets and Institutions, Oxford 2008, S. 645­667, hier S. 656f. 11 Zum Aufstieg des Staatskapitalismus vgl. Ian Bremmer, State Capitalism Comes of Age – The End of the Free Market?, in: Foreign Affairs, 88 (2009) 3, S. 40­55; The Visible Hand, Special Report: State Capitalism, in: The Economist, 21.1.2012. 12 Zur Rolle von Staatsfonds während der Finanzkrise und die Diskussion um die regulatorische Behand­ lung vgl. Steffen Kern, Staatsfonds und Investitionspolitik: Der aktuelle Stand; Aktuelle Themen Nr. 449, Deutsche Bank Research, Frankfurt am Main 2009. 13 Vgl. Financial Stability Forum, Report of the Financial Stability Forum on Enhancing Market and Institutional Resilience, Basel 2008.

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Reform der Eigenkapitalvorschriften, Liquiditätsregeln, die Regulierung der Derivate­ und Verbriefungsmärkte, die Intensivierung der Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden und die Erhöhung der Transparenz. Um Ansteckungseffekte zu vermeiden, sollen insbesondere so genannte zentrale Kontrahenten bei der Abwicklung von Derivatekontrakten fungieren, Einlagensicherungssysteme ge­ stärkt sowie Abwicklungsregime etabliert werden. Bei der Umsetzung des FSB­Maßnahmenkatalogs folgten die beiden wich­ tigsten Finanzmärkte – die USA und die EU – inhaltlich weitgehend vergleich­ baren Ansätzen. Dies reflektiert zum einen eine große Übereinstimmung bei der Analyse der mikroökonomischen Ursachen der Krise, zum anderen den etab­ lierten Konsens der technokratischen Eliten in den Gremien der internationalen Standardsetzung. Leichte Unterschiede in den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen gab es bei der Frage der Regulierung von Rating­Agenturen. Die USA setzten 2010 im Rahmen des Dodd­Frank Act den Schwerpunkt darauf, die Rolle exter­ ner Ratings in den Regelwerken für die Finanzmärkte zu reduzieren, wohingegen die EU stärker auf eine Beaufsichtigung von Methoden und Arbeit der Rating­ Agenturen setzt. Beide Ansätze haben bisher gleichermaßen wenig Erfolg erzielt. Konzentrierten sich die politischen Akteure in den Jahren 2008/09 noch stark auf den technokratisch geprägten Katalog des FSF, so verlagerte sich der Fokus danach auf eher politisch motivierte Diskussionspunkte. Hierzu zählen insbe­ sondere die Frage von Vergütungsbeschränkungen in der Finanzindustrie, die Regulierung von Hedgefonds und die Besteuerung von Finanztransaktionen. Je mehr Regierungen wegen steigender Arbeitslosigkeit und Fiskaldefiziten innenpolitisch unter Druck gerieten, desto wichtiger wurden diese symbo­ lischen Politikinitiativen. Denn schwer verständliche technokratische Themen wie Derivate, Restrukturierung und Liquidität sind nicht geeignet, um beim Wähler zu punkten. Hingegen lässt sich mit der Finanztransaktionssteuer die Wählerschaft gut mobilisieren. Die Finanzkrise bot zudem Gelegenheit, bereits früher erfolglos verfolgte Ziele wie die Regulierung von Hedge Fonds erneut zu thematisieren. Bei diesen politisch motivierten Zielen konnte jedoch im Kreise der G20 kein Konsens erzielt werden. Der Versuch einiger, vornehmlich europäischer Staaten (allen voran Frankreich und Deutschland), diese Themen dennoch auf der in­ ternationalen Politikagenda zu verankern, kostete daher wertvolles politisches Kapital ohne Aussicht auf Erfolg, ja beeinträchtigte durch die damit einher­ gehenden atmosphärischen Störungen die Kooperationsbereitschaft innerhalb der G20. Makroökonomische Aspekte: Es ist bemerkenswert, dass sich die inhaltliche Antwort auf die Lehren aus der Krise fast ausschließlich auf die mikroökono­ mischen Krisenursachen bezog. Zwei der wesentlichen makroökonomischen Ursachen wurden von den Regelsetzern wenig beachtet, nämlich die Geldpolitik und die globalen Ungleichgewichte. Es ist unstrittig, dass die zu großzügige Liquiditätsversorgung durch die US­ Notenbank sowie die weltweite Ausweitung dieser lockeren Geldpolitik aufgrund der Dollarbindung vieler Währungen der Schwellenländer eine der wesentlichen

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Ursachen der Finanzkrise waren. Dieses Problem wird jedoch durch keine der vereinbarten Reformen adressiert. Massive Zahlungsbilanz­Ungleichgewichte in den Jahren zuvor trugen zur Schwere der Krise bei. Ohne die Alimentierung der US­amerikanischen Schuldenblase durch unter anderem chinesische und deutsche Ersparnisse wäre das Ausmaß der Krise zwangsläufig geringer ausgefallen und wären die internatio­ nalen Ansteckungseffekte deutlich kleiner gewesen. Anders als bei der Geldpolitik wurde dieses Problem zwar diskutiert – wohl auch deshalb, weil es einigen betrof­ fenen Regierungen erlaubte, einen Teil der Schuld auf ausländische Akteure zu schieben. Die Staatengemeinschaft unternahm denn auch erste Schritte, um die Ungleichgewichte zu beheben. Mit dem so genannten Multilateral Assessment Program (MAP) wurde der IWF mandatiert, die internationalen makroökono­ mischen Verflechtungen zu untersuchen und Vorschläge zur Krisenprävention zu unterbreiten. Analytisch war das zweifelsohne ein Fortschritt. Dabei wurden jedoch auch die Grenzen bei der politischen Umsetzung deutlich: Aufgrund des Widerstands der Überschussländer (unter anderem Chinas, Deutschlands und der Schweiz) bleibt die Rolle des MAP auf das Überwachen und die Analyse beschränkt; es gibt bislang keinen automatischen Korrekturmechanismus, der Defizit­ und Überschussländer gleichermaßen darauf verpflichten würde, über­ mäßige Ungleichgewichte abzubauen. Dies überrascht nicht, ist doch die Frage einer Vereinbarung über automatische und symmetrische Anpassung ein wie­ derkehrendes Element der Historie der internationalen Währungsordnung, die bereits das gesamte Bretton­Woods­System begleitete. Herausforderung: Erhaltung internationaler Finanzmärkte Mit der Krise wurde für Regierungen deutlich, dass liberalisierte Finanzmärkte, Finanzmarktstabilität und nationale Aufsicht eine „impossible trinity“, also unvereinbare Ziele, bilden. Die Offenheit nationaler Finanzmärkte für grenz­ überschreitende Kapitalflüsse und die Existenz grenzüberschreitend agie­ render Finanzkonzerne implizieren das Risiko von Ansteckungseffekten, die nationale Finanzmärkte auch ohne Versäumnisse der nationalen Aufsichts­ und Regulierungspolitik beeinträchtigen können. Regierungen versuchen, (vermeintliche)14 Handlungsautonomie zurückzuge­ winnen. So üben die Aufsichtsbehörden Druck auf Banken aus, Zweigstellen in Tochtergesellschaften umzuwandeln, und verlangen, dass Banken lokal Eigenkapital und Liquidität vorhalten. Auch bei den Eigenkapitalvorschriften versuchen die Regierungen, nationale Spielräume zu bewahren, um etwa lokal höhere Anforderungen festlegen zu können. Ungeachtet ihrer im Rahmen der G20­Verhandlungen gegebenen Verpflichtung auf ein möglichst einheitliches 14 Die Handlungsautonomie ist insoweit vermeintlich, als selbst im Fall eines vollständig abgeschotteten nationalen Finanzmarkts Krisen in Partnerstaaten über die Verflechtung im Außenhandel Rückwir­ kungen auf die nationale Volkswirtschaft hätten.

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Regelwerk sahen sich die Regierungen der G20­Staaten, vor allem in den USA und Europa, daher angehalten, auf innenpolitische Zwänge Rücksicht zu nehmen. Diese nationalen Initiativen stehen im offensichtlichen Widerspruch zum Ziel einer internationalen Integration der Finanzmärkte. Offizielle Leitlinie der G20 ist der international abgestimmte und harmonisierte neue Ordnungsrahmen. Die Schaffung eines gemeinschaftlich festgelegten Ordnungsrahmens ist ganz im Sinne des liberalen Internationalismus – der Versuch der Staatengemeinschaft, durch das Bündeln von Souveränität und gemeinschaftliches Vorgehen politische Handlungsmacht zurückzugewinnen. Fazit: Reform, aber kein Systemwechsel Mit der weitgehenden Umsetzung des Aktionsplans zur Reform der Aufsicht und Regulierung der Finanzmärkte vom April 2009 gelang es der G20, den Ordnungsrahmen für das Weltfinanzsystem zu festigen und sei­ ne Widerstandsfähigkeit zu stärken. Allerdings wird erst die tatsächliche Implementierung vieler Regeln den Lackmustest erbringen, und die Gefahr einer Fragmentierung der Märkte bleibt hoch. Bereits heute wird deutlich, dass trotz der Schwere der Krise die Veränderung in der Governance des internationalen Finanzsystems nicht annähernd so um­ fassend ist wie die Neuordnung des Wirtschafts­ und Währungssystems nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Bretton­Woods­System geschaffen wurde.15 Zwar vollzog sich ein Umdenken in der Philosophie im Vergleich zu den Jahren der Deregulierung und Liberalisierung vor der Krise, hin zu Regulierung, einer grö­ ßeren Rolle für den Staat und einer Verschiebung der Einflussrechte zu Gunsten der Schwellenländer. Diese Veränderungen addieren sich gleichwohl aber nur zu einer Reform des Systems, nicht zu einem Systemwechsel. Die zurückhaltende Veränderung ist als Kombination mehrerer Einflussfaktoren zu interpretieren: Offensichtlich waren bei allen Beteiligten die Interessen, den Status quo zu erhalten, noch stark genug, um größere Veränderungen auszu­ schließen. Anders als 1944 fehlte es auch an den intellektuellen Vorarbeiten für einen Systemwechsel. Zudem gab es keine Führungsmacht, da die aufstrebenden Schwellenländer (noch) nicht in der Lage und willens waren, Führung zu über­ nehmen und einen radikaleren Regimewechsel herbeizuführen. Die aufstrebenden Mächte haben überdies kein Interesse daran, sich in eine Governance einbinden zu lassen, deren Gestalt sie nicht selber bestimmen können.

15 So auch Stewart Patrick, Irresponsible Stakeholders? The Difficulty of Integrating Rising Powers, in: Foreign Affairs, 89 (2010) 6, S. 44­53, hier S. 50.

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Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte Stefan A. Schirm1 Anders als die Krisen der 1980er Jahre in Lateinamerika und der 1990er Jahre in Asien hat die aktuelle Krise ihre Ursachen und zeigt ihre Wirkungen vornehm­ lich in den Industrieländern der G7. Deshalb ist sie nicht nur eine Banken­, Verschuldungs­ und Konjunkturkrise, sondern auch eine Krise des marktwirt­ schaftlichen Modells der etablierten Industrieländer und der von ihnen wesentlich getragenen internationalen Wirtschaftsordnung, vor allem der Weltfinanzordnung. Es geht daher nicht nur um die unmittelbare Krisenbewältigung auf nationa­ ler Ebene, sondern auch darum, internationale Organisationen zu reformieren und globale Märkte besser zu regeln. Angesichts globalisierter Finanzmärkte sowie der Fernwirkungen der US­Krise auf andere Länder und der heutigen Verschuldungskrise im Euro­Raum ist die Wirksamkeit nationaler Maßnahmen ohne internationale Kooperation eingeschränkt. Neue nationale Regeln und ihre Einbettung in ein multilaterales Regelwerk berühren aber nicht nur eine Frage der Effizienz marktwirtschaftlicher Ordnung, sondern auch ihrer Legitimität, das heißt ihrer Akzeptanz durch die Bevölkerung.2 Ursachenforschung: Mangel an Effizienz und Legitimität Mit Blick auf Effizienz­ und Legitimitätsfragen lassen sich drei Hauptursachen der gegenwärtigen globalen Finanz­ und Wirtschaftskrise skizzieren:3 Erstens kann die allzu lockere Geldpolitik der US­Notenbank unter Alan Greenspan sowohl als illegitim betrachtet werden, da sie de facto von keinem rechenschafts­ 1 2 3

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und aktualisierte Version von Stefan A. Schirm, Koordinierte Weltwirt­ schaft? Neue Regeln für effizientere und legitimere Märkte, in: Zeitschrift für Internationale Beziehun­ gen 2/2009, S. 311­324. Vgl. u.a. Wolfgang Streeck und Jens Beckert, Die Fiskalkrise und die Einheit Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2012. Ausführlicher dazu: vgl. u.a. Thomas Hartmann­Wendels, Bankenkrise. Ursachen und Maßnahmen. Geringe Kapitaldecke, mangelhafte Transparenz und Fehlanreize, in: Wirtschaftsdienst 11/2008, S. 707­711.

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pflichtigen Aufsichtsorgan überwacht wurde, als auch als ineffektiv und wenig nachhaltig, da sie US­Bürgern eine Konsum­ und Kreditschwemme erlaubte, die in eine Überschuldungsblase mündete. Die Folge waren Konsum auf Pump und die Vergabe von Subprime­Krediten an nichtkreditfähige Hauskäufer durch Banken. Die Politik der niedrigen Zinsen ist von den Regierungen Bill Clinton und George W. Bush befürwortet worden, da sie Strohfeuerkaufkraft unter die Wähler brachte. Der kreditfinanzierte Konsum entsprach den Profitinteressen des Finanzsektors und der Strategie von Exportnationen wie China. Neben der Verschuldungsblase entstand somit auch ein hohes Handelsdefizit. Zweitens waren staatliche Aufsicht und private Evaluierungen von Banken durch Ratingagenturen ungenügend. So konnte das Ausfallrisiko der Subprime­ Kredite durch Verbriefungen in Collateralized Debt Obligations (CDOs), Credit Default Swaps (CDSs) und Zertifikate systematisch verschleiert werden. Dass jene, die zuvor durch dieses Schneeballsystem profitiert hatten, dann auch noch mit Steuermitteln unterstützt wurden, stört das Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürger. Staatliche Rettungspakete so genannter systemrelevanter Banken und Versicherungen (Stichwort: „too big to fail“), etwa für die Hypo Real Estate (HRE) in Deutschland und für die American International Group (AIG) in den USA, sind der Bevölkerung schwer zu vermitteln. Die Beteiligung der deutschen Landesbanken am Handel mit CDOs, CDSs und US­Zertifikaten sind besonders eklatante Fälle unverantwortlichen, ineffizienten und illegiti­ men Handelns von Bankern, da sie im öffentlichen Auftrag vornehmlich zur Mittelstandsförderung hätten arbeiten sollen. Zu niedrige Eigenkapitalquoten und mangelhafte Umsetzung selbst der moderaten Basel­II­Standards haben vor allem US­Banken anfälliger für den Ausfall von Forderungen gemacht. Drittens wurde das Effizienz­ und Legitimitätsdefizit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung verschärft durch die Entlohnungssysteme von Bankern und Unternehmensvorständen. Auf weitgehendes Unverständnis stößt sowohl im konsensual­egalitären Deutschland als auch in den wettbewerbsorientierten USA, dass Bonuszahlungen und Abfindungen unabhängig von der langfristigen Unternehmensentwicklung gezahlt werden. Die in beiden Ländern zu den ide­ ellen gesellschaftlichen Grundlagen gehörende individuelle Leistungsorientierung wird aber nicht nur durch leistungsunabhängige bzw. auf Spekulationsgewinne ausgerichtete Boni ad absurdum geführt, sondern auch durch den explosionsar­ tig gewachsenen Abstand der Vorstandsbezüge zu den Durchschnittsgehältern. Diese Problematik wird ergänzt durch die offenbar nachteilige Wirkung der an kurzfristigem Profit ausgerichteten Boni­Systeme auf die für die Effizienz des Marktes relevanten öffentlichen Güter nachhaltiger Wohlstand und Stabilität. Was tun? Die zentrale Herausforderung der Wirtschafts­ und Finanzkrise an die Politik ist daher, diesen Mangel an Effizienz und Legitimität durch bessere Regeln und wirk­ samere Beaufsichtigung der Finanzmärkte zu erreichen. Diese Aufgabe stellt sich

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nationalen Gesellschaften und Regierungen ebenso wie der Global Economic Governance. Regierungen sollten folgende Bereiche besser regulieren, ohne dabei jedoch die Wachstumsdynamik des Wettbewerbs durch einen reglementierenden Staat zu stark zu beschneiden: – Banken sollten künftig wesentlich höhere Eigenkapitalquoten erfüllen, um einen Ausfall von Forderungen verkraften zu können, ohne dem Steuerzahler zur Last zu fallen. Auch die in Basel III festgeschriebenen Eigenkapitalanforderungen sind bei weitem nicht ausreichend und wurden hinsichtlich ihrer Höhe und ihres langen Implementierungszeitraums von der Bankenlobby verwässert. Banken sollten außerdem einen Prozentsatz der von ihnen verkauften Papiere (etwa Zertifikate und CDOs) selber halten müssen. – Für Finanzprodukte sollte eine staatliche Prüfstelle eingerichtet werden, die im öffentlichen Interesse – ähnlich der Medikamentenzulassung – Finanzprodukte auf grundlegende Standards, Transparenz und Risiken über­ prüft. Diese Maßnahme zielt insbesondere auf CDSs, CDOs, Zertifikate und auf die Tätigkeit von Ratingagenturen. Letztere hatten die Produkte ihrer Auftraggeber oftmals falsch bewertet und zeigen somit die engen Grenzen der Effizienz privatwirtschaftlicher Selbstkontrolle. – Höhere Transparenz sollte erreicht werden durch die Verpflichtung aller Finanzakteure (auch der Hedge Fonds), alle Aktivitäten in der Bilanz aufzu­ führen und nicht wie bisher Aktivitäten in Zweckgesellschaften auslagern bzw. außerhalb der Bilanz zu tätigen. – Wenn der Zusammenbruch einer Bank das Finanzsystem gefährdet, gewinnt diese Bank ein Erpressungspotenzial gegenüber Staat und Gesellschaft – „too big to fail“ lautete das Argument. Daher ist eine Zerschlagung von bzw. eine Obergrenze für Großbanken dringend geboten. – Gehälter und Bonuszahlungen von Bankern und Vorständen sollten auf den längerfristigen Unternehmenserfolg ausgerichtet sein und nicht an kurzfri­ stigen, zur Spekulation anregenden Profitzielen. – Eine Steuer auf Finanztransaktionen könnte Finanzmärkte insgesamt verlang­ samen und kurzfristige spekulative Transfers besonders verteuern. – Internationale Ungleichgewichte wie beispielsweise die enormen Handelsüberschüsse Chinas und Deutschlands, das dramatische US­ Handelsdefizit und daraus resultierende asymmetrische Kapitaltransfers sollten ausgeglichen werden. Dabei wird jedoch deutlich, dass nationale Lösungsansätze zu kurz greifen. Deshalb müssen diese neuen bzw. reformierten nationalen Regeln, etwa höhere Eigenkapitalanforderungen für Banken und die Schaffung von öffentlichen Aufsichtsagenturen für die Kontrolle neuer Finanzprodukte, international veran­ kert werden, um gegenüber Finanzmärkten wirksamer zu werden. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) sollten als so genannter lender of last resort gestärkt werden. Die Legitimation und Effizienz internationaler Organisationen wie des IWF können verbessert werden, indem aufsteigende Mächte wie China, Brasilien und Indien darin bes­

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ser repräsentiert sind. Schließlich sollte auch deutlich geworden sein, dass die Effizienz und Legitimität eines zunehmend globalisierten Marktes nicht mehr durch die G7 getragen werden können. Eine flachere Hierarchie im internationa­ len System durch Erweiterung der Koordinationsgruppe und eine Reform beste­ hender Organisationen sind dringend nötig. Die G20 sollte als ständiger Global Economic Council etabliert werden.4 Bescheidene Ergebnisse der G20 Die Bilanz der zur Krisenbewältigung ins Leben gerufenen Gipfeltreffen der Staats­ und Regierungschefs der G20 fällt jedoch enttäuschend aus. Zwar konnte man sich auf Absichtserklärungen einigen: etwa die Konjunktur zu beleben, Protektionismus zu vermeiden, den IWF moderat zu reformieren, Bonuszahlungen nach Leistung zu orientieren und Eigenkapitalanforderungen leicht zu erhöhen. Doch konkrete, weitergehende Beschlüsse wurden nicht gefasst. Verbindlich einigten sich die G20­Staaten nur auf eine Umverteilung von 6 Prozent der Stimmquoten im IWF zugunsten bislang unterrepräsen­ tierter Schwellenländer. Wichtige Kernprobleme wie etwa die durch die ame­ rikanische und europäische Notenbank verursachte Geldschwemme, gefähr­ liche Finanzprodukte und die Größe einzelner Banken wurden ausgeklammert. Ebenso wenig wurde das Problem behandelt, dass die derzeitigen staatlichen Rettungsnetze für Banken falsche Anreize geben, einen so genannten moral ha­ zard darstellen, indem sie Banker zu risikoreichem Verhalten und weiterhin exor­ bitanten Gewinnerwartungen verleiten. Offensichtlich hat die Reformbereitschaft nachgelassen, seitdem die umfang­ reichen nationalen Rettungspakete den jeweiligen Bankensektor stabilisiert haben und in einigen Ländern die Talsohle der Krise anscheinend durchschritten wurde. Das Zeitfenster des Krisenausbruchs schließt sich, auch wenn nur teilweise neue Regeln gesetzt wurden, um künftige Krisen zu verhindern. Der nachlassende Reformwille ist allerdings problematisch, weil einige Banken immer noch gefährdet und die Verschuldungs­ sowie Fiskalkrisen in einigen Euro­Staaten und den USA nicht gelöst sind. Gerade die hilflose Überflutung der Finanzmärkte mit billigem Geld durch die EZB und die Federal Reserve zur Bekämpfung der Kreditklemme und die Spekulation gegen hochverschuldete Euro­Staaten zeugen von weiterem Handlungsbedarf der Politik. Das gefährliche Verschuldungsniveau der USA scheint auch aufgrund der engen Verflechtung zwischen Wall Street und Washington (noch) nicht zu größeren Turbulenzen ge­ führt zu haben. Trotz gemeinsamer Absichtserklärungen lagen die Positionen der Regierungen der G20 oftmals derart weit auseinander, dass eine Einigung auf verbindliche 4

Vgl. u.a. Stefan A. Schirm, The G20, Emerging Powers and Transatlantic Relations, Policy Paper Transatlantic Academy, Washington DC 2011, (abgerufen am 5.7.2012).

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Regeln und Aufsichtsbehörden nicht gelang. Ausschlaggebend waren vor allem die unvereinbaren Positionen der Industrieländer – beispielsweise jene der USA und Großbritanniens auf der einen und jene Deutschlands und Frankreichs auf der anderen Seite. Nationale Präferenzen versus Global Governance Die Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen nationaler Politik zeigt, dass un­ terschiedliche materielle Interessen und ideelle Wertvorstellungen die (inter­) nationalen Positionen der Regierungen prägen.5 Eines der zentralen Themen auf der G20­Agenda war beispielsweise die Frage nach der Form und Höhe na­ tionaler schuldenfinanzierter Konjunkturförderprogramme. Während die USA von anderen G20­Ländern eine substanzielle Erhöhung ihrer Programme durch deficit spending und lockere Geldpolitik forderten, kritisierte eine Gruppe aus Industrie­ und Schwellenländern, zuvorderst Deutschland, die verschuldungs­ trächtige Fiskalpolitik und die Ausweitung der Geldmenge in den USA durch so genanntes quantitative easing (QE). Deutschland verwies zudem darauf, dass sein konjunktureller Stimulus überwiegend in Form automatischer Stabilisatoren, na­ mentlich über Transfers in den Sozialsystemen und andere Regelungen wie etwa Kurzarbeit, erfolgte. Diese Regierungspositionen korrespondierten deutlich mit gesellschaftlich vorherrschenden ideellen Mustern und Praktiken: Sie entsprachen der relativ stärkeren Akzeptanz von mit Schulden finanziertem privaten Konsum und in­ flationsträchtiger Politik in den USA; der vergleichsweise wesentlich niedrigeren historischen privaten Sparquote in den USA; sowie der Art und Weise, wie Stimulus­Ressourcen verteilt werden – in den USA überwiegend über den Markt bzw. durch den Staat in Deutschland. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Sozial­ und Arbeitsmarktsysteme in Deutschland (als coordinated market econo­ my) und den USA (als liberal market economy) organisiert.6 Ein weiteres Beispiel für G20­Kontroversen ist die Wechselkursthematik. Hier prangerten vor allem die USA die Unterbewertung des chinesischen Renminbi als wettbewerbsverzerrend an, während China die USA für die Dollar­Abwertung durch QE kritisierte. Deutschland und Schwellenländer wie Brasilien kritisierten sowohl die USA als auch China für ihre Wechselkursmanipulationen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble beschwerte sich über die „Inkonsistenz“ der US­Politik, da die USA Chinas Wechselkurspolitik kritisierten, aber gleichzeitig sel­ ber die eigene Währung durch die Ausweitung der Geldmenge abwerten würden.7 5 6 7

Zur Rolle gesellschaftlicher Ideen und Interessen in der internationalen Politik vgl. Stefan A. Schirm, Ideas and Interests in Global Financial Governance. Comparing German and US Preference Formati­ on, in: Cambridge Review of International Affairs, 3/2009, S. 501­521. Vgl. Peter A. Hall und David Soskice, An Introduction to Varieties of Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001, S. 1­68. Wolfgang Schäuble zitiert in: The Economist, The Ghost at the Feast, 12.11.2010.

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Die Regierungen begründeten ihre Positionen in der G20 mit den materiellen Interessen ihrer Wirtschaftssektoren: Während die US­Regierung ihre Industrie vor Importen schützen und deren Exportchancen verbessern wollte, verwies die deutsche Regierung auf die Nachteile, die ihre exportorientierten Industriezweige durch die Abwertungen des Dollar haben würden. Die Regierungspositionen entsprachen denn auch den Forderungen der jeweiligen Interessengruppen – etwa der US Chamber of Commerce bzw. dem Deutschen Industrie­ und Handelskammertag (DIHK), die ihre Interessen massiv artikuliert und intensives Lobbying betrieben hatten. Ebenso sind die unterschiedlichen britischen und deutschen Antworten auf die globale Finanzkrise nach 2008 auf gesellschaftliche Präferenzen zurückzuführen.8 Die britische Regierung folgte in ihren internationalen Positionen gesellschaftlich vorherrschenden Mustern einer liberal market economy; der Skepsis der Briten gegenüber staatlicher Regulierung und ihrem – im Vergleich zu den Deutschen – größeren Vertrauen in Marktkräfte sowie dem Lobbydruck der Londoner Finanzdienstleister, die mehr als doppelt so viel zum Bruttosozialprodukt beitragen wie der deutsche Finanzsektor. Konsequenterweise wandte sich die britische Regierung international gegen verbindliche neue Regeln und Aufsicht und interpretierte die Krise nicht als Versagen des Marktes bzw. sei­ ner Regulierung, sondern als Fehler einzelner, die sich nun ethisch verantwor­ tungsvoller verhalten sollten. Zielsetzung waren daher keine neuen Regeln – ein Appell an Unternehmensvorstände sollte reichen. Hinsichtlich einer erweiterten Kontrolle von Steueroasen und Hedgefonds blieb die britische Regierung auch bei Empfehlungen und verweigerte sich einer Regulierung. Großbritanniens Regierung verhinderte auch einen Souveränitätstransfer bei der Schaffung der neuen EU­Aufsichtsbehörden für Banken, Börsen und Versicherungen sowie des European Systemtic Risk Board. Die deutsche Regierung entsprach den hierzulande vorherrschenden ide­ ellen Mustern einer coordinated market economy; der größeren Skepsis der Deutschen gegenüber Marktwettbewerb und ihrem – im Vergleich zu Anglo­Amerika – stärkeren Vertrauen in staatliche Regulierung sowie dem Lobbydruck des in Deutschland größeren Industriesektors und der mit ihm verbundenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Dementsprechend setzte sich die deutsche Regierung für neue verbindliche internationale Regeln ein, beispielsweise für eine Steuer auf Finanzmarkttransaktionen, die strikte Kontrolle von Hedgefonds und Steueroasen sowie für die Stärkung interna­ tionaler Organisationen. So forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel bessere Sanktions­ und Überwachungskompetenzen für den IWF und plädierte für einen Weltwirtschaftsrat, der analog zum Weltsicherheitsrat der UN eingerichtet werden soll. Die deutsche Regierung war bei der Schaffung der EU­Aufsichtsbehörden 8

Zu diesem Fallbeispiel vgl. Stefan A. Schirm, Varieties of Strategies. Societal Influences on British and German Responses to the Global Economic Crisis, in: Journal of Contemporary European Studies 1/2011, S. 47­62.

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auch bereit, einem Souveränitätstransfer zuzustimmen, konnte sich aber gegen den Widerstand Großbritanniens nicht durchsetzen. Im Gegensatz zur bri­ tischen Regierung interpretierten die deutsche Bundeskanzlerin und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück die Krise nicht als Folge eines Fehlverhaltens einzelner Unternehmensvorstände, sondern als Versagen des gegenwärtigen „anglo­amerikanischen“ marktwirtschaftlichen Modells und demzufolge als „Epochenwende“.9 Die anhaltende Krise als Reformkatalysator? Die globale Wirtschaftskrise hat offenbar innenpolitische Einflüsse auf Global Governance gestärkt und langjährige internationale Allianzen wie die G7 ge­ schwächt. In der G20 handeln Regierungen primär nach innenpolitischen Erwägungen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und Ideen folgen. Auch Leitbegriffe wie Legitimität und Effizienz ökonomischer Steuerung werden selbst in Industrieländern entsprechend der jeweils dominanten gesellschaft­ lichen Ideen und Interessen unterschiedlich verstanden. Zu den Divergenzen der Industrieländer kommen eigene Vorstellungen von Schwellenländern. Da es aber auch in der Gruppe der Schwellenländer unterschiedliche Positionen gibt, ist in der G20 bislang eine Blockbildung „Industrieländer versus Schwellenländer“ ausgeblieben. Diese Pluralität bzw. Multipolarität, die auch innerhalb der EU offensichtlich wird, erschwert jedoch die Aufgabe, effiziente und legitime Regeln für globale Märkte zu etablieren. Optimistisch kann höchstens der nach wie vor bestehende Reformdruck stimmen. Schließlich sind die Finanz­, Fiskal­, Verschuldungs­ und Bankenkrisen keineswegs gelöst und hält die Skepsis vieler Wähler gegenüber der Macht der Banken weiter an. Eine Verschärfung der Krisen könnte dazu beitra­ gen, die bislang zaghaften nationalen und globalen Schritte in Richtung besserer Regeln langfristig doch noch zu einer weiterreichenden, effizienteren und legi­ timeren Steuerung von Märkten auszubauen.

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Peer Steinbrück, Die Krise als Zäsur, Rede vom 21.4.2009 bei der Karl­Schiller­Stiftung.

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Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung Thomas Meyer und Antje Stobbe Innovationen sind kein Instrument zur Krisenbekämpfung.1 Ihre Bedeutung ist vielmehr mittel­ bis langfristiger Natur: In modernen Industriegesellschaften be­ stimmen Innovationen den langfristigen Wachstumstrend über Konjunkturzyklen hinweg. Natürlich gibt es zahlreiche Wechselbeziehungen zwischen Innovationen und Krisen: Forschung und Entwicklung (F&E) können in Krisenzeiten zurück­ gefahren werden, wodurch das Wachstumspotenzial leidet. Gleichzeitig können Krisen aber auch ein Katalysator für stärkere Innovationsanstrengungen sein: Die 1930er Jahre gelten rückblickend als eine der innovativsten Dekaden – trotz der Großen Depression.2 Technischer Fortschritt durch Innovation Die überragende Bedeutung von Innovationen lässt sich historisch ver­ anschaulichen:3 Vor 200 Jahren lag das durchschnittliche Pro­Kopf­Einkommen in Westeuropa rund doppelt so hoch wie in Ostasien. Trotz bemerkenswerter Fortschritte in China, Indien und anderen aufstrebenden Ländern Asiens ist der 1

2

3

Innovationspolitik ist keine Konjunkturpolitik, sondern wirkt mittel­ bis langfristig. Innovationen können sogar kurzfristig Krisen verschärfen, indem etwa effizientere Maschinen zu zusätzlichen Ent­ lassungen führen. Innovationen können auch Unsicherheit schaffen, wenn unklar ist, welche Techno­ logie sich durchsetzen wird. In normalen Zeiten fördert das den Wettbewerb um die beste Lösung. In Krisenzeiten kann es Abwarten und Investitionszurückhaltung auslösen. Schließlich können techno­ logische Durchbrüche einen Prozess der kreativen Zerstörung starten, der weite Teile der Wirtschafts­ struktur durcheinander wirbelt. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Alexander Field hat beispielsweise gezeigt, dass die 1930er Jahre neben der Großen Depression eben auch eine Dekade besonders schnellen technologischen Fort­ schritts waren – in ihr wurden zumindest in den USA viele Grundlagen für die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit gelegt. Alexander Field, The Most Technologically Progressive Decade of the Century, in: American Economic Review, 93 (2003) 4, S. 1399­1413. Das belegen die Daten des Wirtschaftshistorikers Angus Maddison, Historical Statistics of the World Economy: 1­2008 AD, University of Groningen.

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Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung

Abstand bis heute auf etwa das Zehnfache gewachsen. Die Ursache für diese er­ staunliche Kluft liegt besonders in dem schnelleren technischen Fortschritt, der seit der Industriellen Revolution in Europa entfesselt wurde. Moderne Industriegesellschaften können nach wie vor ihren Wohlstand erhö­ hen, wenn sie ihre Ressourcen klüger einsetzen, zum Beispiel indem sie effizienter produzieren oder begehrenswertere Produkte anbieten. Ökonomen nennen das den technischen Fortschritt. Die unterschiedliche Entwicklung in Westeuropa und Ostasien zeigt, dass technischer Fortschritt kein Naturgesetz ist, sondern Ergebnis einer Vielzahl wichtiger Faktoren und Entscheidungen. Dazu gehören die allgemeinen Rahmenbedingungen – etwa der Schutz von Eigentumsrechten, die Qualität der Infrastruktur sowie des Bildungs­ und Forschungssystems – aber auch die individuelle Bereitschaft, in die Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen in kommerziell erfolgreiche Produkte zu investieren. In Deutschland werden die Investitionen in F&E 2012 wohl rund 75 Mrd. Euro betragen, wovon Staat und Hochschulen typischerweise ein Drittel und Unternehmen rund zwei Drittel bei­ steuern werden. Unternehmerische Forschung und Entwicklung Die höchsten F&E­Budgets haben in Deutschland große Industrieunternehmen wie der Volkswagen­Konzern, Daimler und Siemens. Die 200 forschungsstärk­ sten Unternehmen investierten 2010 insgesamt fast 48 Mrd. Euro in F&E. Dabei zählen die Unternehmen auch Ausgaben an Standorten außerhalb ihres jeweiligen Heimatlands, die in das oben genannte Aggregat nicht mit einfließen. Weltweit halten zwei Pharmakonzerne die Spitzenposition: Die schweizerische Roche und die US­amerikanische Firma Pfizer. Junge Technologieunternehmen investieren ebenfalls erhebliche Summen in die Forschung: Microsoft ist welt­ weit die Nummer drei; Google investiert inzwischen ebenso viel in F&E wie der Flugzeugbauer Boeing.4 Die Investitionen der Unternehmen in F&E sind grundlegend für einen sys­ tematischen Innovationsprozess: Wer heute nicht in neue Ideen investiert, dem fehlen morgen erfolgreiche Produkte. Selbst Zufallsentdeckungen bedürfen meist aufwendiger Entwicklungsarbeit, bevor sie sich als fertige Produkte am Markt beweisen können. Forschung ist natürlich keine Lizenz zum Gelddrucken. Neue Ideen können aus technischen oder kaufmännischen Gründen scheitern. F&E produzieren also keine sicheren Einnahmen, sondern bieten eine Option auf zukünftige Erträge. Es ist der Wert dieser Option, die den Unternehmenswert erhöht. Freilich spielen neben potenziellen Gewinnen auch konkrete Einnahmen eine Rolle: Großzügig ausgestattete F&E­Abteilungen lassen sich nur aufrechterhal­ 4

Alle Aussagen zu den F&E­Budgets der Unternehmen beziehen sich auf das Jahr 2010 und basieren auf: Europäische Kommission, Monitoring Industrial Research: The 2011 EU Industrial R&D Invest­ ment Scoreboard, Joint Research Centre (JRC) 2011.

Thomas Meyer und Antje Stobbe

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ten, wenn der Erfolg stimmt. Daher gibt es eine positive Rückkoppelung von Gewinnen auf F&E. Bleiben in Krisenzeiten hingegen Gewinne aus, werden auch F&E­Budgets nicht immer verschont. Demnach ist es für Entscheidungsträger höchst interessant, herauszufinden, ob sich Investitionen in F&E auszahlen. Messbare Erfolge Eine Analyse von über 1000 forschungsstarken Unternehmen weltweit ver­ deutlicht interessante Zusammenhänge.5 In dieser Studie konnte der Einfluss von betrieblichen F&E­Investitionen auf unternehmerische Erfolgskennzahlen gemessen werden – mithilfe der so genannten F&E­Elastizität: Sie gibt an, wie sich der Börsenwert forschungsstarker Unternehmen gegenüber jenen vergleich­ barer Unternehmen mit nur durchschnittlichen F&E­Investitionen verhält. Je höher die F&E­Elastizität, desto stärker steigt der Börsenwert infolge von F&E­ Investitionen – unter ansonsten gleichen Bedingungen. Die F&E­Elastizität zeigt also, wie stark der Kapitalmarkt die betrieblichen F&E­Investitionen honoriert.6 Grundsätzlich beobachten wir eine positive F&E­Elastizität, das heißt Investitionen in F&E werden vom Kapitalmarkt mit einem Aufschlag auf den Börsenwert belohnt. Die Anleger antizipieren damit die zukünftigen Erlöse oder Einsparungen, die sich aus neuen Produkten und Verfahren ergeben können. Zwar gibt es keine Garantie für erfolgreiche Innovationen, aber die Aussicht auf neue Einnahmequellen rechtfertigt einen Zuschlag bereits heute. Erfindergeist zahlt sich also messbar aus. Neben der Marktkapitalisierung gibt es andere relevante Erfolgskennzahlen. Besonders interessant ist die Rendite: Wie wirken sich F&E auf die Gewinnspanne aus? Hier sind die Ergebnisse weniger überzeugend. Ein robuster Zusammenhang zwischen F&E­Investitionen und Umsatzrendite lässt sich nicht feststellen.7 Wie kann aber der Unternehmenswert steigen, wenn die Umsatzrendite unver­ ändert bleibt? Dies gelingt über wachsende Marktanteile. Kunden haben offen­ bar eine Präferenz für innovative Produkte und Verfahren, wodurch diese sich gegenüber herkömmlichen Produkten am Markt durchsetzen und sie verdrän­ gen. Forschungsstarke Unternehmen erzielen durch Innovationen ein höheres 5 6

7

Zur genaueren Darstellung vgl. Thomas Meyer und Philipp Ehmer, Kapitalmärkte belohnen F&E, DB Research, E­conomics 83, Frankfurt am Main 2011. In der Literatur werden Investitionen in F&E grundsätzlich als ein Mittel zur Steigerung des Unter­ nehmenswerts angesehen (für eine Literaturübersicht siehe ebd.), wobei durchaus auch Fälle beob­ achtet werden, in denen Unternehmen zu viel in F&E investieren und nur eine unterproportionale Wertsteigerung erfahren. Skeptischer sind dagegen Jaruzelski et al., die keinen belastbaren statistischen Zusammenhang zwischen den F&E­Investitionen und verschiedenen unternehmerischen Erfolgs­ kennzahlen erkennen. Sie argumentieren, dass das Management der F&E­Budgets – nicht ihre Höhe – für den unternehmerischen Erfolg entscheidend sei. Allerdings leidet die Präzision ihrer Analyse unter einer vergleichsweise groben Branchenabgrenzung; siehe Barry Jaruzelski, Kevin Dehoff und Rakesh Bordia, Money Isn’t Everything, in: Strategy+Business, Nr. 41 (2005). Je nachdem, wie die Stichprobe zusammengestellt wird, ergibt sich ein positiver, negativer oder insig­ nifikanter Zusammenhang; Meyer und Ehmer, Kapitalmärkte belohnen F&E, a.a.O. (Anm. 5).

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Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung

Umsatzwachstum und steigern somit ihre Erträge – dieser Effekt wird von den Investoren in Form einer höheren Marktkapitalisierung antizipiert. Unterschiedliche Wertschätzung Kapitalmärkte reagieren in verschiedenen Regionen mitunter sehr unterschiedlich auf F&E­Investitionen. Angelsächsische Börsenplätze, aber auch skandinavische sind dabei deutlich innovationsfreundlicher als etwa der deutsche und japanische Markt.8 Das hat Auswirkungen auf die Forschungsanreize und spiegelt sich ceteris paribus in insgesamt höherem Produktivitätswachstum als etwa in Deutschland. Woher kommt dieser Zusammenhang? In Ländern mit hoher F&E­Elastizität wie in den USA und Großbritannien ist der Anreiz größer, Geld für Forschung auszugeben. Infolgedessen investieren zum Beispiel US­Firmen im Schnitt mehr in F&E als ihre europäischen Wettbewerber. Zudem begünstigt eine hohe F&E­ Elastizität die Entwicklung forschungsstarker Branchen. Auch hier gilt: In vielen zukunftsorientierten Branchen – Informationstechnik, Pharma, Biotechnologie – haben US­Firmen die Nase vorne. Für junge Technologiefirmen bedeutet eine hohe F&E­Elastizität zudem einen hohen potenziellen Erlös bei einem späteren Börsengang. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die F&E­Elastizität eng mit den Investitionen im Bereich Venture Capital korreliert.9 Auch hier geben die USA mit dem Silicon Valley und anderen Gründerzentren den Ton an.10 F&E-Elastizität in der Krise Allerdings zeigen sich Deutschland und Japan in der Krise resistenter: Während weltweit die F&E­Elastizität sinkt, steigt sie in Deutschland und Japan (siehe Abbildung 1). Das heißt Innovationen werden vom Kapitalmarkt als Teil der Lösung gesehen, nicht als entbehrlicher Kostenfaktor.11 Die F&E­Elastizität ist im 8

Es findet sich keine statistisch signifikante F&E­Elastizität für Unternehmen mit Sitz in Italien. Frank­ reich ist in dieser Analyse ein Sonderfall. Die F&E­Elastizität für Firmen mit Sitz in Frankreich ist zwar überdurchschnittlich hoch – ähnlich hoch wie in Skandinavien – aber gilt nur für relativ kleine Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten. Daher hat das Ergebnis für Frankreich zu wenig Aussagekraft. 9 Eigene Berechnungen der DB Research auf folgender Datengrundlage: JRC, OECD, PwC, 2011. 10 Hinweise für die Rolle moderner Kapitalmärkte als Katalysator für Innovationen konnten bereits in früheren Studien gefunden werden. Beispielsweise zeigen Hartmann et al., dass sich ein modernes, leistungsfähiges Finanzsystem dadurch auszeichnet, besonders schnell Ressourcen von stagnierenden in aufstrebende Unternehmen und Branchen umzuleiten. Das fördert den Prozess der kreativen Zer­ störung und beschleunigt den technischen Fortschritt. Dabei wird die Führungsrolle angelsächsischen Kapitalmärkten zugeschrieben und Kontinentaleuropa Nachholbedarf bescheinigt. Freilich führt aber die Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 zu einem skeptischeren Blick auf Finanzmärkte; siehe Phil­ ipp Hartmann, Florian Heider, Elias Papaioannou und Marco Lo Duca, The Role of Financial Market and Innovation in Productivity and Growth in Europe, European Central Bank, Occassional Paper No. 72 / 2007, Frankfurt am Main. 11 Thomas Meyer, Innovationskraft nach der Krise: Deutsche Unternehmen setzen auf F&E, DB Re­ search, E­conomics 80, Frankfurt am Main 2010; Thomas Meyer und Philipp Ehmer, Kapitalmärkte belohnen F&E, a.a.O. (Anm. 5).

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Krisenjahr 2009 besonders in Großbritannien eingebrochen. Sie ist nach wie vor positiv, Investoren zahlen einen Aufschlag für forschungsstarke Unternehmen, aber dieser Aufschlag ist deutlich kleiner als vor der Krise. Auch in der europä­ ischen Peripherie (Irland ausgenommen) ist ein deutlicher Rückgang der F&E­ Elastizität zu verzeichnen: wie in Griechenland, Portugal und Spanien.12 Abbildung 1: Finanzkrise schleift Innovationsanreiz F&E-Elastizität (Veränderung 2009 gegenüber langfristigem Durchschnitt) Großbritannien

-53

GR/ES/PT

-22

Welt

-11

Skandinavien

-9

USA

-5

Benelux

-3

Irland

3

Deutschland

3

Japan

20

(in %) -80

-60

-40

-20

0

20

40

Quelle: Deutsche Bank Research, 2012.

Damit werden die langfristigen Wachstumsaussichten und somit die Schuldentragfähigkeit beeinträchtigt. Würde die Krise 2009 zu dauerhaft nied­ rigen F&E­Anstrengungen führen, wären der langfristige Wachstumstrend ge­ mindert und die Schuldentragfähigkeit reduziert. Anders sieht die Lage in Irland aus, wo die F&E­Elastizität in der Krise von bereits hohem Niveau weiter gestie­ gen ist. Dies ist ein deutlicher Hinweis dafür, dass Irland eine gute Ausgangsbasis für eine innovationsgeführte Wachstumsstrategie hat.13

12 In Italien gibt es keinen statistisch signifikanten Zusammenhang. 13 Die Aussagen zu Irland basieren auf einer geringen Stichprobengröße. Sie sind aber konsistent mit anderen Forschungsergebnissen; siehe zum Beispiel Antje Stobbe und Peter Pawlicki, Griechenland, Irland, Portugal: Mehr Wachstum durch Innovationen, DB Research, EU­Monitor 89, Frankfurt am Main 2011.

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Innovation durch unternehmerische Forschung und Entwicklung

Europäische Schuldenkrise: Peripherie muss aufholen Gerade für die europäischen Länder, die aktuell mit hohen Schulden und schwa­ cher Wirtschaftskraft zu kämpfen haben, würde eine langfristig schwächere F&E­Elastizität in die falsche Richtung weisen. Griechenland und Portugal, aber auch Spanien und Italien haben im europäischen Vergleich erhebliche Schwächen in ihren Innovationssystemen.14 Wie das Innovation Union Scoreboard der Europäischen Kommission zeigt (siehe Abbildung 2), werden alle vier Länder nur als moderate Innovationsstandorte eingeordnet, in der dritten von vier Kategorien. Irland ist hingegen einer der Innovationsnachfolger, das zu den Technologie­ und F&E­starken Ländern wie Schweden oder Deutschland auf­ schließt. Die bereits existierenden komparativen Vorteile irischer Unternehmen bei IT­Dienstleistungen, Medizintechnik oder Pharmazie bieten gute Ansatzpunkte, um die Innovationstätigkeit und die Vernetzung der Unternehmen untereinander weiter zu fördern. Abbildung 2: Geringe Innovationskraft in südeuropäischen Ländern Moderate Innovatoren

Innovationsnachfolger

Innovationsführer

0,8

0,6

0,4

0,2

Po l Gr Slow en ie ch ake en i la Un nd ga Sp rn Ts an ch ien ec h Po ien rtu g I al No tali rw en Sl eg ow en en ie n Fr an EU kr ei ch Ös Irlan t N err d Gr iede eic oß rl h br an ita de nn i Be en lg F ie De inn n ut lan sc d Dä hlan ne d Sc ma hw rk ed Sc en hw ei z

0,0

Quelle: European Commission, Innovation Union Scoreboard 2011, Brüssel 2012, (abgerufen am 24.10.2012).

14 Eine tiefergehende Analyse bieten ebd.

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Bei den Ländern, die als moderate Innovatoren eingeordnet werden, ist die Schwäche bei der Innovationstätigkeit der Unternehmen besonders augenfäl­ lig. So liegen die F&E­Ausgaben der portugiesischen Unternehmen (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) nach wie vor deutlich unter dem EU­Schnitt. Auch bei den Patentanmeldungen fällt Portugal weit hinter den Durchschnitt zu­ rück. Die Übersetzung von Forschungsergebnissen in konkrete Anwendungen, die sich patentieren lassen, scheint schwierig. Obwohl das portugiesische Innovationssystem in der letzten Dekade deutliche Fortschritte gemacht hat, for­ dert die EU weitere Anstrengungen, innovative Unternehmen aus den Segmenten der Hoch­ und Mitteltechnologie anzusiedeln. Dazu braucht es auch verbes­ serte Finanzierungsmöglichkeiten, zum Beispiel über Venture Capital. Weitere Ansatzpunkte gibt es bei der Vernetzung der Forschung wissenschaftlicher Institute mit der von Unternehmen. Hier haben auch Länder wie Spanien und Italien im europäischen Vergleich Nachholbedarf, wie sich an der noch relativ geringen Zahl wissenschaftlicher Ko­Veröffentlichungen von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen ablesen lässt. Griechenlands nationales Innovationssystem weist besonders viele Schwächen auf. Der EU Innovation Competitiveness Report betont den aufholenden Charakter der griechischen Innovationstätigkeit mit starker Abhängigkeit von importierten Technologien und Know­how.15 Im Gegensatz zu Portugal lässt sich in den ver­ gangenen Jahren nur eine leichte Verbesserung des Umfelds ausmachen. Es man­ gelt insbesondere an gesamtwirtschaftlichen F&E­Ausgaben. Die Defizite auf der Ebene der Unternehmen lassen sich ebenfalls mit einem geringen Anteil unter­ nehmerischer F&E­Ausgaben oder der niedrigen Zahl der Patentanmeldungen belegen. Zudem konzentrieren sich die F&E­Investitionen der Unternehmen auf wenige Wirtschaftszweige. Maßnahmen zur Förderung des griechischen Innovationssystems hängen stark von der Finanzierung durch EU­Strukturfonds ab. Allerdings ist die Absorptionsfähigkeit des Forschungs­ und Innovationssystems für Fördermittel gering: So gibt es zu wenig förderwürdige Projekte. Rahmenbedingungen verbessern Die Beispiele zeigen, dass besonders in den europäischen Peripherieländern das Thema Innovation im Hinblick auf eine künftige Stärkung des gesamt­ wirtschaftlichen Wachstumspotenzials besondere Bedeutung hat. Hier sind zunächst einmal die Unternehmen selbst gefordert. Aber es sollte auch oben auf der politischen Agenda stehen, um die besten Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu schaffen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Unterstützung und die Verbesserung der Infrastruktur für Innovationen, sondern auch um die Verbesserung der regionalpolitischen Kompetenzen in der Verwaltung, die Entwicklung von Förderkonzepten und ­projekten oder die Effizienz des Bildungswesens. 15 Europäische Kommission, Innovation Union Competitiveness Report, Brüssel 2011.

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Eine zentrale Herausforderung ist darüber hinaus, die F&E­Aktivitäten innovativer kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) zu stärken. Eine bessere Vernetzung von KMU mit wissenschaftlichen Instituten hilft, Forschungspartnerschaften zu etablieren. Zudem sollten Unternehmensnetzwerke gestärkt werden, zum Beispiel durch den Aufbau von Technologiezentren. Auch die Entwicklung von unternehmerischem Know­how ist wichtig. Fazit: Innovationen als Teil der langfristigen Lösung Aktuelle Forschung bestätigt, dass moderne Finanzmärkte großen Einfluss auf die Innovationskraft einer Volkswirtschaft haben, denn sie entscheiden, welche Anreize mit F&E­Investitionen verbunden sind und wohin Ressourcen fließen. Grundsätzlich gilt, dass der Börsenwert forschungsstarker Unternehmen höher ist als jener vergleichbarer Firmen mit geringeren F&E­Budgets. Kapitalmärkte sprechen forschungsstarken Firmen also einen Aufschlag auf den Börsenwert zu und bieten somit einen Anreiz, in F&E zu investieren. Angelsächsische Börsen sind dabei innovationsfreundlicher als etwa der deutsche Finanzplatz. Die Finanzkrise 2009 war eine Zäsur. Der Aufschlag, den Investoren für in­ novative Unternehmen zahlen, sinkt weltweit (bleibt aber positiv). Damit signali­ siert der Kapitalmarkt Einsparungen bei F&E – ein Signal, das von den Firmen gut verstanden wird. In einigen Ländern wie Japan, Irland und Deutschland ist dagegen der Aufschlag gestiegen. Hier werden von den Unternehmen verstärkt Innovationen erwartet, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Der starke Rückgang der F&E­Elastizität in der europäischen Peripherie (Ausnahme: Irland) könnte sich negativ auf den langfristigen Wachstumstrend auswirken und somit die Schuldentragfähigkeit zusätzlich reduzieren. Er ist auch ein Hinweis dafür, dass Investoren die Chancen für Unternehmen aus diesen Ländern noch weniger als früher an der Technologiefront sehen. Stattdessen gilt es, die bestehenden komparativen Vorteile auszubauen, die traditionellen Industrie­ und Dienstleistungsbranchen aufzuwerten und zu der Technologiefront aufzuschließen. Die Schuldenkrise in Europa ist unmittelbar in der Sorge begründet, dass das Wachstum in Europas Peripherie nicht ausreichen könnte, um die Schuldenlast zu bedienen. Da technischer Fortschritt den Wachstumstrend maßgeblich be­ einflusst, kommt ihm eine wichtige Rolle bei der Rückkehr zu einer tragfähigen Schuldenquote in Europa zu. Innovation ist vorrangig eine Aufgabe der Unternehmen. Sie brauchen dafür aber die Unterstützung der Politik: Das bedeutet vor allem Strukturreformen und Modernisierung sowie bessere Innovationsbedingungen, vor allem in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. In Irland sind die Rahmenbedingungen günstiger – hier setzen die Finanzmärkte verstärkt auf F&E. Dabei bleibt Innovationspolitik ein langfristiges Instrument, das eine unmittelbare Stabilisierungspolitik ergänzen, aber nicht ersetzen kann.

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Green Economy: „Grüne“ Wirtschaftskonzepte zur Krisenbewältigung Susanne Dröge Die anhaltende Wirtschafts­ und Finanzkrise hat kurzfristige Rettungsmaßnahmen in den Vordergrund gerückt. Nachhaltige Politikansätze, die soziale und Umwelt­ aspekte in den Mittelpunkt stellen, gingen bisher nicht aus dem internationalen Krisenmanagement hervor. Vordenker eines umweltfreundlichen und sozialver­ träglichen Wirtschaftens haben auch in der Vergangenheit auf die konjunkturelle Lage Rücksicht nehmen müssen. Doch dieser Ansatz ist kurzsichtig. Denn die wiederkehrenden Krisen sind Zuspitzungen struktureller Schieflagen, die vor allem auch darauf zurückzuführen sind, dass unzureichend in nationale und glo­ bale öffentliche Güter investiert wird: etwa in Infrastrukturen, Forschung und Entwicklung oder Klimaschutz. Vielerorts mangelt es an politischen Visionen, mit denen überholte – weil rohstoffintensive, auf fossiler Energie fußende, an kurzfristig hohen Renditeerwartungen orientierte – Rezepte überwunden werden können. Doch in einigen Ländern und auf multilateraler Ebene1 gilt die Idee einer „grünen Wirtschaft“ bereits als zukunftsweisend. Was genau aber bein­ haltet die Green Economy im Gegensatz zur herkömmlichen Wirtschaftsweise? Welche Rolle kann sie für die wirtschaftlichen Prozesse auf nationaler und glo­ baler Ebene spielen? Kann das Konzept, ressourceneffizient und umweltfreund­ lich zu konsumieren und zu produzieren, für die Mehrheit der Staaten dauerhaft attraktiv werden?

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2011 verabschiedete die OECD ihre Green Growth Strategy, 2012 wurde auf der Rio­Konferenz über Nachhaltige Entwicklung (United Nations Conference on Sustainable Development, UNCSD) die „Grüne Wirtschaft im Kontext von Nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung“ (Green Economy in the Context of Sustainable Development and Poverty Eradication, GESDPE) für eine künftige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik der Mitglieder der Vereinten Nationen eingeführt. Vgl. OECD, Towards Green Growth, Paris 2011, (ab­ gerufen am 11.7.2012); UNCSD, The Future We Want, Outcome Document Adopted at Rio 2012, (abgerufen am 11.7.2012).

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Green Economy – ein vielfältiger Ansatz In den Wirtschaftswissenschaften wird seit über 20 Jahren darüber diskutiert, wie eine umwelt­ und ressourcenfreundliche Wirtschaftsweise mit den gängigen Konzepten der Wirtschaftsentwicklung und des ­wachstums vereinbar sein könnte (Stichwort: „ökologische Modernisierung“) bzw. ob sie es denn über­ haupt sein kann.2 Der Begriff „Green Economy“ wurde zum ersten Mal im Nachgang zum Brundtland­Bericht von 1986 verwendet. Mit der Besteuerung umweltschädlicher Praktiken sollten diese negativen externen Effekte vermie­ den werden.3 Unter dem Titel „The Green Economy“ wurde 1991 eine umfas­ sende Integration von Nachhaltigkeit in ökonomische Konzepte gefordert.4 Im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen über Nachhaltige Entwicklung (UNCSD) 2012 erhitzte sich die Debatte wieder einmal – vor allem an der Rolle einer Green Economy für den Schutz globaler öffentlicher Güter, insbesondere des Klimas.5 In der politischen Praxis versteht man unter dem Schlagwort „Green Economy“ die Idee, dass eine Volkswirtschaft ökologisch nachhaltig, also vor allem kohlen­ stoffarm und ressourceneffizient ist, und dass diese Ausrichtung auch zu einer stabilen Konjunkturentwicklung beiträgt, somit Arbeitsplätze sichert und schafft sowie die Armut mindert.6 Staaten wie Südkorea, die in den vergangenen Jahren eigene Strategien zur Green Economy konzipiert haben, wollten einerseits akuten konjunkturellen Einbrüchen begegnen, Arbeitsplätze schaffen und den wachsen­ den Energiebedarf decken, andererseits aber auch den Klimaschutz voranbringen und wertvolle Ökosysteme nicht überlasten.7 2 3 4 5 6

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Arthur P. J. Mol, David A. Sonnenfeld und Gert Spaargaren, The Ecological Modernisation Reader: Environmental Reform in Theory and Practice, London 2010. David W. Pearce, Anil Markandya und Edward B. Barbier, Blueprint for a Green Economy, London 1989. Michael Jacobs, The Green Economy: Environment, Sustainable Development, and the Politics of the Future, London/Concord, Mass. 1991. Vgl. z.B. Ottmar Edenhofer, zitiert in: Eva Mahnke, Gefährliche Green Economy, 5.6.2012, , (abgerufen am 11.7.2012). Vgl. z.B. United Nations Environment Programme, Towards a Green Economy: Pathways to Sus­ tainable Development and Poverty Eradication, Nairobi 2011; Henrik Selin und Adil Najam (Hrsg.), Beyond Rio+20: Governance for a Green Economy, Boston, Mass. 2011, (abgerufen am 11.7.2012); Hannah Stoddart, Sue Riddles­ tone und Mirian Vilela, Principles for the Green Economy: A Collection of Principles for the Green Economy in the Context of Sustainable Development and Poverty Eradication, Stakeholder Forum, 2011, (abge­ rufen am 11.7.2012). Vgl. Susanne Dröge und Nils Simon, Green Economy – ein Wirtschaftskonzept für alle?, in: Marian­ ne Beisheim und Susanne Dröge (Hrsg.), UNCSD Rio 2012, Zwanzig Jahre Nachhaltigkeitspolitik – und jetzt ran an die Umsetzung? (SWP­Studie 2012/S 10), Berlin, Mai 2012, S. 18­32; David Shim, Green Growth, Green Economy und Green New Deal. Die „Vergrünung“ nationaler Politik in Südkorea (GIGA Focus, Nr. 10), Hamburg 2009; Republic of Rwanda, Green Growth and Climate Resilience. National Strategy for Climate Change and Low Carbon Development, Kigali, Oktober 2011.

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Wachstum definieren und messen Mit der Green Economy sollen die Zielgrößen für die Wirtschaftspolitik erweitert werden, indem Naturerhalt, Klimaschutz oder Ressourceneffizienz einbezogen wer­ den. Dies wird von Kritikern des klassischen Wachstumsmodells seit langem gefor­ dert. Wenn bei nationalen Politiken die Konzepte grünen Wachstums berücksichtigt werden sollen, stellt sich die Frage, welches Wachstumsmaß denn die relevanten Kenngrößen liefert, um die Nachhaltigkeit der Politikmaßnahmen zu beurteilen. Seit 2007 führt die EU erneut eine Debatte darüber, welchen Stellenwert das Bruttoinlandsprodukt für die Umsetzung und Messung einer grünen Wirtschaftspolitik hat.8 Indikatoren für den Naturverbrauch und Umweltzerstö­ rung fehlen in einigen Staaten gänzlich, während sie in anderen Ländern in­ folge der Nachhaltigkeitsstrategien bereits gut etabliert sind. In Deutschland zum Beispiel existieren die Umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR) sowie 21 Nachhaltigkeitsindikatoren des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE), die auch Bildungsentwicklung, Gesundheit oder Zukunftsvorsorge mit abbilden.9 Auf internationaler Ebene haben die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und die internationalen Umweltabkommen dazu beigetragen, dass sich der Stand des Wissens über die Entwicklung der na­ türlichen Umwelt und der Ressourcen kontinuierlich verbessert. In Studien werden die wirtschaftlichen Aspekte der Nutzung dieser Ressourcen ana­ lysiert.10 Die Green­Growth­Strategie der OECD schlägt für die Messung der Green­Economy­Umsetzung 25 Indikatoren vor.11 Diese werden fünf Kategorien zugeordnet: sozioökonomischer Kontext und Charakteristika des Wachstums (zum Beispiel Arbeitsmarkt, Außenhandel, Inflation), Umwelt­ und Ressourcenproduktivität, Naturkapitalbasis, umweltbezogene Lebensqualität so­ wie wirtschaftliche Aussichten und Politik. Dahingehend sind auch die Sustainable Development Goals (SDGs) relevant, die bei der Rio­Konferenz der UNCSD 2012 auf den Weg gebracht wurden und 8

Vgl. Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean­Paul Fitoussi, Report by the Commission on the Measu­ rement of Economic Performance and Social Progress, 14.9.2009, (abgerufen am 11.7.2012); Europäische Kommission, Das BIP und mehr. Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Brüssel, 20.8.2009, KOM(2009) 433 endg. 9 Vgl. die Daten des Statistischen Bundesamts unter (abgerufen am 10.7.2012). 10 Vgl. z.B. den so genannten TEEB­Report (TEEB: The Economics of Ecosystems and Biodiversity): Pavan Sukhdev, Heidi Wittmer, Christoph Schröter­Schlaack, Carsten Nesshover, Joshua Bishop, Patrick ten Brink, Haripriya Gundimeda, Pushpam Kumar und Ben Simmons, The Economics of Ecosystems and Biodiversity: Mainstreaming the Economics of Nature. A Synthesis of the Approach, Conclusions and Recommendations of TEEB, 2010, (abgerufen am 11.7.2012). 11 Vgl. OECD, Towards Green Growth, a.a.O. (Anm. 1).

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über die sich in den nächsten Jahren eine intensive Auseinandersetzung entwi­ ckeln wird, wenn sie mit den 2015 auslaufenden Millennium Development Goals (MDGs) integriert werden sollen.12 Zwar werden diese Ziele im internationalen Konsens festgelegt und somit wenig verbindlich erscheinen, doch sie können dazu beitragen, die Vielfalt an möglichen Indikatoren für die Messung einer grünen Wirtschaftsweise zur reduzieren. Will man die Green Economy an einen erweiterten Wachstumsbegriff knüpfen, können SDGs diesen Weg erleichtern, weil dem Bruttosozialprodukt als einzigem international etablierten Indikator für die Wachstumsmessung weitere Messgrößen an die Seite gestellt werden. Allerdings haben die Erfahrungen mit dem Human Development Index der Vereinten Nationen gezeigt, dass gerade bei einer Erweiterung der Indikatorik die Interpretation der Ergebnisse auseinandergehen und neue Konflikte um den Gebrauch solcher Messgrößen auftreten können.13 Umsetzung grüner Wirtschaftspolitik Mit der Diskussion über die Eckpunkte einer Green Economy und ihrer Um­ setzung hat auch der Konflikt zwischen Umweltschutz­ und Wirtschaftsinteressen neue Nahrung bekommen. Die Idee des grünen Wirtschaftens, das heißt vor allem die Ausrichtung wirtschaftspolitischer Instrumente auf Umwelt­ und Ressourcenschutz, beschreibt allerdings kein Paradigma oder eine Vision der künf­ tigen Wirtschaftsordnung, sondern ist vor allem ein Instrument zur Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele. Diese Ziele werden von den nationalen Regierungen sehr unterschiedlich aufgegriffen und umgesetzt. Die Wahl der wirtschaftspolitischen Instrumente hängt von grundlegenden Faktoren wie der Rolle des Staates und des Marktes in der nationalen Wirtschaftsordnung ab. Viele Entwicklungsländer haben zu­ dem nur begrenzte Kapazitäten, um neue Politikziele durchzusetzen. In vie­ len Ländern mangelt es an unzureichenden Eigentumsrechten, fiskalischen Strukturen, Kenntnissen oder Anreizen in der öffentlichen Verwaltung oder an Informationen über die zu erwartenden Kosten.14 Gerade im Vorlauf der Rio­Konferenz 2012 wurde klar, wie stark die natio­ nalen Interessen an einer Festschreibung einer Green Economy auseinanderfal­ len. Bei Ländern aus der Gruppe der G77, die sich von anderen Staaten weder die Instrumente für ihre Wirtschaftspolitik noch deren „grüne“ Ausrichtung im Sinne eines globalen Einheitskonzepts vorschreiben lassen wollten, haben insbe­ 12 Vgl. UNCSD, The Future We Want, a.a.O. (Anm. 1); Birgit Lode, Sustainable Development Goals: Eine erneuerte Verpflichtung zur Umsetzung globaler Ziele für nachhaltige Entwicklung?, in: Marian­ ne Beisheim und Susanne Dröge (Hrsg.), UNCSD Rio 2012, a.a.O. (Anm. 7), S. 33­43. 13 Vgl. UNDP, Human Development Report 2011, (aufgerufen am 11.7.2012). 14 Vgl. OECD, Tools for Delivering on Green Growth, Paris, Mai 2011, (abgerufen am 11.7.2012); OECD, Towards Green Growth, a.a.O. (Anm. 1).

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sondere die EU­Vorschläge für eine Green Economy Roadmap für Unruhe ge­ sorgt. Die EU hatte für Rio 2012 gefordert, dass ein Fahrplan für die Mitglieder der Vereinten Nationen verabschiedet werden soll, der konkrete Schritte und Ziele für die Green Economy vorsieht.15 Die bisherige nationale Ausgestaltung ist jedoch höchst unterschiedlich – ganz im Sinne der in Rio 2012 verabschiedeten Einigung.16 Die Umsetzungsvorschläge für ein grünes Wachstums­ bzw. Wirtschaftsmodell setzen auf marktwirtschaftliche Politikinstrumente wie Besteuerung, Handel mit Umweltzertifikaten (zum Beispiel Emissionshandel), aber auch Regulierungen und Standards. Diese umweltpolitischen Instrumente werden bereits seit den 1970er Jahren in den USA und seit den 1980er Jahren in der EU praktiziert. Als Vorreiter bei der Steigerung von Energie­ und Ressourceneffizienz gelten rohstoffarme Industrieländer wie Deutschland und Japan. Sie setzten ebenfalls zunächst stark auf Standards und Regulierungen, etwa in Form so genannter Top­Runner­Programme:17 Der Verbrauch des effizientesten Geräts in einer Kategorie (zum Beispiel Computer) wird zum Standard für die Branche erhoben, welcher zu einem vorgegebenen späteren Zeitpunkt erreicht werden muss. Der Top­Runner­Ansatz hat in Japan zu großen Fortschritten bei der Energieeffizienz von Konsumgütern geführt. Preisanreize verändern, Staatshaushalte entlasten Zwei Instrumente werden in Studien zur Green Economy immer wieder be­ sonders hervorgehoben: die Veränderung des Preisgefüges durch Bepreisung umweltschädigender Aktivitäten, insbesondere der Ausstoß von Treibhausgasen, und die Subventionierung von erwünschten Investitionen. Zudem wurde die lang­ jährige Diskussion um den Abbau von Subventionen, die einen besonders hohen Anreiz zur Übernutzung natürlicher Ressourcen bieten, wieder intensiviert. In der Energie­ und Klimapolitik haben die Mitgliedsländer der EU in den letz­ ten Jahren auch auf Eingriffe in das Preisgefüge gesetzt. In Deutschland wurde 1999 mit dem Erneuerbare­Energien­Gesetz (EEG) eine prioritäre Einspeisung von Strom aus regenerativen Quellen zu garantierten Einspeisevergütungen etabliert – eine indirekte Subvention, die über die Stromversorger auf die Endverbraucher umgelegt wird. Die EU hat 2005 den Emissionshandel für CO2 eingeführt, bei dem Industrieanlagen und die Stromerzeuger einen Preis für ihre 15 Vgl. Europäische Kommission, Fahrplan für den Übergang zu einer wettbewerbsfähigen CO2­armen Wirtschaft bis 2050, Brüssel, 8.3.2011, KOM(2011) 112. 16 Vgl. Artikel 56 des Rio­Abschlussdokuments, UNCSD, The Future We Want, a.a.O. (Anm. 1): „Wir bekräftigen, dass es verschiedene Herangehensweisen, Visionen, Modelle und Instrumente gibt, die jedem Land zur Verfügung stehen, je nach seinen nationalen Bedingungen und Prioritäten, um nachhaltige Ent­ wicklung in ihren drei Dimensionen zu erreichen, welche unser aller Ziel ist.“ (Übersetzung der Autorin). 17 Vgl. z.B. Martin Jänicke, Das Innovationstempo in der Klimapolitik forcieren!, in: Günter Altner, Heike Leitschuh, Gerd Michelsen, Udo E. Simonis und Ernst U. von Weizsäcker (Hrsg), Jahrbuch Ökologie 2011, Die Klima­Manipulateure. Rettet uns Politik oder Geo­Engineering?, Stuttgart 2011, S. 138­147.

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Emissionen zahlen müssen. Einzelne EU­Staaten wie Schweden, Dänemark und Großbritannien haben CO2­Steuern eingeführt. Inzwischen haben sich sowohl das EEG als auch der Emissionshandel als Exportschlager entwickelt. 2012 ha­ ben bereits über 30 Staaten weltweit einen Preis für CO2 erhoben, Südkorea wird ab 2013 den Emissionshandel etablieren, Südafrika plant ebenfalls für 2013 eine CO2­Steuer einzuführen, China führt den Emissionshandel als Pilotprojekt in mehreren Provinzen ein. Trotz der fehlenden US­weiten Initiative hat Kalifornien 2012 sein Emissionshandelssystem gestartet.18 Diese Maßnahmen sind überwiegend national bzw. lokal begründet und nicht auf die internationale Klimapolitik zurückzuführen, wie dies beim Emissionshandel der EU der Fall war. China versucht etwa, seinen Energie­ und Rohstoffverbrauch zu senken und testet daher verschiedene Politikinstrumente. Australiens Gesetzgebung wurde durch einen Regierungswechsel auf den Weg gebracht, bei dem die Klimapolitik eine wichtige Rolle spielte. Südafrika möchte seine Abhängigkeit von Kohle langfristig senken. Diese nationalen und regionalen Maßnahmen stehen denn auch im Widerspruch zu der Zurückhaltung einzelner Länder in den internationalen Klimaverhandlungen, einer höheren, völkerrecht­ lich bindenden Verpflichtung zuzustimmen. Die Einnahmen aus dem Emissionshandel und den Umweltsteuern können künftig zu einer bedeutenden Quelle für die Konsolidierung der Staatshaushalte werden. Der Trend zu mehr Besteuerung von Emissionen wurde 2012 auch vom Internationalen Währungsfonds begrüßt. Denn diese Mittel könnten dazu bei­ tragen, dass die klimaschutzorientierten Finanzzusagen an Entwicklungsländer eingehalten werden.19 Eine weitere Maßnahme, die sich positiv auf die öffentlichen Haushalte und auf die Umwelt auswirken würde, wäre der Abbau von umweltschädlichen Subventionen. Laut Weltbank besteht weltweit ein Potenzial von etwa 1,1 Trillionen Dollar. Dies setzt sich zusammen aus Subventionen für fossile Energieträger (455 bis 485 Mrd. Dollar) – den Löwenanteil nehmen Preissubventionen in Entwicklungsländern ein (409 Mrd. Dollar), Subventionen für Wassergewinnung und Bewässerung (200 bis 300 Mrd. Dollar), Fischereisubventionen (10 bis 27 Mrd. Dollar) sowie Agrarsubventionen (etwa 370 Mrd. Dollar allein in der OECD).20 Auch die G20­Staaten haben sich schon seit geraumer Zeit mit dem Abbau von Energiesubventionen befasst. Allerdings wurde dieses Projekt nicht vorangetrieben, denn die Subventionierung ist in vielen Schwellenländern weiter­ 18 Vgl. Für eine aktuelle Übersicht: Australia World News, , (abgerufen am 11.7.2012); Informationen über das kalifornische System finden sich unter (abgerufen am 11.7.2012). 19 Die IWF­Direktorin Christine Lagarde wies darauf hin, dass eine CO2­Steuer von 25 Dollar pro Tonne CO2 für Luftfahrt und Schiffsverkehr (ein Anstieg von 0,22 Dollar pro Gallone Benzin) zu Einnahmen von mehr als einer Trilliarde Dollar über ein Jahrzehnt hinweg führen könne. Vgl. CO2 Price Central to Economic Stability, Reuters News, 13.6.2012. 20 Vgl. Weltbank, Inclusive Green Growth. The Pathway to Sustainable Development, Washington, DC 2012.

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hin eine Maßnahme, um weite Teile der Bevölkerung vor dem hohen bzw. stark schwankenden internationalen Ölpreis zu schützen.21 In die Zukunft investieren Das Tempo der Umsteuerung hin zum nachhaltigen Wirtschaften hängt auch da­ von ab, ob die mit neuen Steuern und Abgaben auf die Umweltnutzung einherge­ henden Staatseinnahmen nur für die Schuldentilgung eingesetzt werden, oder ob sie auch dazu dienen, die notwendigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung aufzustocken und in Zukunftssektoren zu investieren. In ihrer Roadmap 2050 veranschlagt die Europäische Kommission Investitionen in Höhe von 1,5 Prozent des EU­Bruttoinlandsprodukts, die für den Umbau der Wirtschaft in der EU nötig wären. Errechnet wurde auch der Nutzen, etwa 1,5 Mio. zusätzliche Arbeitsplätze allein bis 2020 sowie Wachstumsimpulse und Wettbewerbsvorteile für die Wirtschaft. Im 2011 veröffentlichten Green Economy Report des UNEP heißt es, dass dauerhaft ein Betrag in Höhe von 2 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung (das entspräche gegenwärtig etwa 1,3 Billionen Dollar) in zehn Schlüsselsektoren inve­ stiert werden müsste, um die Transformation zu einer kohlenstoffarmen und res­ sourceneffizienten Weltwirtschaft in Gang zu setzen. Die Schlüsselsektoren sind die Landwirtschaft, Gebäude, Energie, Fischerei, Wälder, Industrie, Tourismus, Verkehr, Wasser und Abfallmanagement. Zum Schutz wertvoller Ökosysteme sollte ein Viertel dieser Summe in Naturkapital investiert werden, um wichtige Funktionen (so genannte Ökosystem­Dienstleistungen) aufrechtzuerhalten, da­ runter Luft­ und Wasserfiltrierung oder die Bereitstellung von Nahrungsmitteln.22 Perspektiven für eine grüne Wirtschaftspolitik Die Green Economy ist vor allem eine Gestaltungsoption für nationale Wirtschaftspolitik in jenen Ländern, die die nachhaltige Bekämpfung der Wirtschaftskrise mit neuen Ansätzen der Umweltbesteuerung, Investitionsförderung oder Infrastrukturpolitik erproben wollen oder – wie in der EU der Fall – diese Ansätze bereits verfolgen und sie nun breiter integrieren möchten. Einige große Wirtschaftsmächte zeigen sich indes zurückhaltend, Elemente der Green Economy bei der Bewältigung der Finanz­ und Wirtschaftskrise stärker zu nutzen. Zwar wurde in den USA 2009 auch ein so genannter Green New Deal aus­ gerufen, aber er erschöpfte sich in einem kurzfristig angelegten Konjunkturpaket. Dieses Beispiel gibt Anlass zu der Sorge, dass das Konzept wenig tragfähig, seine Instrumente nicht umsetzbar sein könnten. Bisher haben die von der OECD ent­ 21 Vgl. Tobias Belschner und Kirsten Westphal, Die G20 und der Abbau von Energiesubventionen, Das Übel der Preisverzerrungen an der Wurzel gepackt? (SWP­Aktuell 2011/A 37), Berlin, August 2011. 22 Vgl. Millennium Ecosystem Assessment, Ecosystems and Human Well­being. Synthesis, Washington, DC 2005.

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wickelten Ansätze und die Initiativen der EU oder auch Südkoreas kaum dazu bei­ getragen, dass eine Mehrzahl der Industrieländer die Green Economy ernst nimmt. Auch die energie­ und rohstoffreichen Länder wie Russland oder arabische Ölstaaten verhindern, dass die Green Economy ein Projekt der G20 werden könnte. So war es bei der Rio­Konferenz 2012 nicht möglich, alle Mitglieder der G20 für die Green Economy zu gewinnen. Die fehlende Konkretisierung auf internationaler Ebene kann aber auch ein Zeichen dafür sein, dass die Chancen und Gefahren erkannt worden sind, die eine Neuausrichtung der Wirtschaft auf neue Kenngrößen und Schlüsselsektoren mit sich bringt. Denn die Green Economy bedeutet vor allem steigenden Wettbewerb zwischen den Ländern. Mithilfe der Green Economy will zum Beispiel China wettbe­ werbsfähiger werden. Der aktuelle Fünfjahresplan (2011–2015) betont die Qualität des chinesischen Wachstums.23 Neben fossilen Ressourcen will die Regierung ziel­ strebig erneuerbare Energien nutzen, Energie­ und Ressourceneffizienz steigern und den Treibhausgasausstoß der Wirtschaft senken. Peking ist auch bereit, die neuen chinesischen Industrien, etwa Anlagen zur Produktion von Solarpanels, von der internationalen Konkurrenz abzuschirmen. Einige ölreiche Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate investieren bereits in Hochtechnologien, inklusive erneuerbare Energien, um ihr Image auf­ zubessern und ihre Wirtschaft zu diversifizieren.24 Gerade in den so genannten Rentenökonomien, deren Staatshaushalte größtenteils aus Rohstoffexporten gespeist werden, bremst der Ressourcenreichtum den Aufbau von Hoch­ technologiesektoren. Doch die zentralen Bausteine einer Green Economy, koh­ lenstoffarme und umweltfreundliche Technologien, werden im internationalen Innovationswettbewerb immer wichtiger.25 Sollen die neuen Technologien global zur Wirkung kommen, gilt es Wege zu finden, wie sie auch den Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt werden können. Die aus der Umwelt­ und Klimadebatte bekannten und sehr unterschied­ lichen Auffassungen zum Technologietransfer und zu dessen Finanzierung spie­ geln sich in den nationalen Positionen zu den Prioritäten einer Green­Economy­ Politik wider. Das Augenmerk der Entwicklungsländer ist einerseits auf die umwelt­ und ressourcenschonenden Strategien und Technologien einiger OECD­ Staaten gerichtet. Andererseits wollen sie nicht einseitig nur als künftige Märkte für diese Technologien angesehen werden.

23 Vgl. Gudrun Wacker, China in den Klimaverhandlungen: Zentrale Rolle zwischen den Stühlen, in: Susanne Dröge (Hrsg.), Die internationale Klimapolitik: Prioritäten wichtiger Verhandlungsmächte (SWP­Studie 30/2009), Berlin, Dezember 2009, S. 49­60. 24 Vgl. German Trade and Invest, 2010, (abgerufen am 11.7.2012). 25 Vgl. Roger Pielke, Jr., The Climate Fix, New York 2010.

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Aufgaben für eine internationale Rohstoff-Governance Stormy-Annika Mildner, Bettina Rudloff und Kirsten Westphal Die Entwicklungen auf den Rohstoffmärken sind turbulent und schwer vorher­ sehbar. Preise schwanken und neue Anbieter­ und Nachfragestrukturen lösen altbekannte Muster ab. Die Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 sowie die europäische Staatsschuldenkrise 2011/12 sind dabei nur zwei von zahlreichen Faktoren, die die aktuellen Trends an den Rohstoffmärkten beeinflussen. Dies stellt Unternehmen und Politik gleichermaßen vor große Herausforderungen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten Nicht nur zwischen den drei Rohstoffklassen der energetischen, metallischen und agrarischen Rohstoffe, sondern auch innerhalb dieser drei Kategorien fin­ den sich große Unterschiede. Die Märkte unterscheiden sich sowohl im Grad ihrer Internationalisierung als auch in der Preisbildung. Beispielsweise un­ terliegen energetische Rohstoffe und Buntmetalle kurzfristig sehr stark kon­ junkturellen Einflüssen. Sinkt die weltweite Produktion von Industriegütern, geht auch die Nachfrage nach diesen Rohstoffen zurück und ihr Preis fällt. Dahingegen gilt Gold gerade in konjunkturellen Krisenzeiten und Phasen hoher Wechselkursschwankungen als attraktive, weil sichere Anlage und steigt somit im Wert. Kurzfristig reagieren die Preise von Agrarrohstoffen mehr als jene anderer Rohstoffe sehr stark auf Wetterereignisse.1 Dennoch ist es sinnvoll, die drei Rohstoffgruppen zusammen zu analysie­ ren. Denn trotz der Unterschiede finden sich viele Gemeinsamkeiten: Seit der Jahrtausendwende sind die Preise, mit Ausnahme der Zeit während der Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09, stark gestiegen. Preistreiber gleichermaßen auf den Märkten für energetische, metallische und agrarische Rohstoffe sind das hohe Wirtschaftswachstum in vielen Schwellenländern und die wachsende 1

Udo Rettberg, Trübe Aussichten bei Rohstoff­Investments, in: Handelsblatt, 28.2.2012.

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Aufgaben für eine internationale Rohstoff-Governance

Weltbevölkerung. Neben hohen bzw. steigenden Preisen charakterisieren zudem teils starke Preisschwankungen die Rohstoffmärkte. Abbildung 3: Preissteigerungen bei Metallen 2000 –2012 250

200

150

100

50

0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Index für Agrarrohstoffe

Index für Metalle

Index für Energie

Anmerkung: Index: 2005=100; die Indices basieren auf laufenden Preisen. Quelle: IWF, Primary Commodity Prices, (abgerufen am 31.8.2012).

Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Preismechanismus oftmals nicht richtig funktioniert. Rohstoffunternehmen sind anfällig für den so genann­ ten Schweinezyklus. Das zentrale Problem dieses typischen Angebotsmusters ist die zeitliche Verzögerung der Produktion und die Verzerrung von Investitionsentscheidungen. Letztere werden zudem durch die Intransparenz der Rohstoffmärkte und teils widersprüchliche Signale aus der Politik erschwert. Gemeinsam ist den drei Rohstoffgruppen auch, dass ihre Preise nicht mehr nur durch die Realwirtschaft, sondern immer mehr auch durch die Finanzmärkte be­ stimmt werden. Überdies lassen sich zahlreiche wechselseitige Beziehungen zwischen den Rohstoffmärkten feststellen. So beeinflussen beispielsweise die Energiekosten über Produktion, Verarbeitung und Transport auch die Preise von Agrarrohstoffen, Mineralien und Metallen. Mineralienpreise, etwa für Phosphor (ein wichtiges

Stormy-Annika Mildner, Bettina Rudloff und Kirsten Westphal

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Düngemittel), treiben die Produktionskosten im Agrarsektor in die Höhe. Preistreibend auf den Agrarmärkten ist zudem der steigende Einsatz von Agrarrohstoffen als Energieträger. Schließlich sind alle drei Märkte zwar – wenn auch zu unterschiedlichen Graden – international, doch eine globale Regulierung fehlt bislang oder funk­ tioniert nur in Ansätzen, wobei diese bei den Agrarrohstoffen am weitesten fortgeschritten ist. In den vergangenen Jahren wurden die internationalen Regelungsbemühungen zwar intensiviert – die Erfolgsbilanz ist jedoch gemischt. Um die Unsicherheiten auf den Rohstoffmärkten zu meistern, muss die inter­ nationale Kooperation weiter verbessert werden und zwar sowohl rohstoffspezi­ fisch als auch Märkte übergreifend. Trends auf den Rohstoffmärkten Energierohstoffe

Die Preise für Erdöl kletterten in der vergangenen Dekade in immer neue Höhen (von 25 Dollar pro Fass auf ein Rekordhoch von 147 Dollar im Juli 2008). Das Jahr 2008 markiert eine Zäsur, da die Ölpreise in Folge der Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 binnen Halbjahresfrist um 100 Dollar auf 40 Dollar pro Fass fielen. Trotz dieser und auch der europäischen Staatsschulden­ und Wirtschaftskrise 2011/12 lagen die Preise der Sorte Brent schnell wieder über der einstmals magischen Hundert­Dollar­Marke pro Fass. Neben dem hohen Preisniveau bleibt auch Volatilität ein Thema: Aufgrund weltweit eingetrübter Konjunkturerwartungen war der Ölpreis im Juni 2012 auf 90 Dollar pro Fass ge­ sunken, hatte aber binnen zwei Monaten wieder um 30 Prozent zugelegt. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die Energiemärkte verengt. Hauptgrund ist die auch 2012 ungebrochen hohe Nachfrage der aufstrebenden Mächte China und Indien. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen; bis 2030 werden über 90 Prozent des Nachfrageanstiegs aus Nicht­OECD­Ländern und dabei vor allem aus Asien und dem arabischen Raum kommen.2 Dagegen reagiert die Nachfrage in den OECD­Ländern mittlerweile elastischer auf Preisanstiege, denn Effizienzsteigerungen und Einsparmaßnahmen beim Verbrauch machen sich bemerkbar. Zwischen 2009 und 2012 waren die Energiemärkte zudem durch eine Reihe von geopolitischen Krisen, Schocks und Veränderungen geprägt: 2009 führte der russisch­ukrainische Gasstreit für fast zwei Wochen zu einem kompletten Lieferausfall der russischen Gasexporte über die Ukraine. Zum Jahreswechsel 2010/11 begannen die Umbrüche in Nordafrika und Nahost. Im März 2011 ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Fukushima. 2012 geriet das Nadelöhr für den globalen Öl­ und Flüssiggas­(LNG)­Handel ins Visier der Weltpolitik: 2

International Energy Agency (IEA), World Energy Outlook 2011, Paris 2011; BP, BP Energy Outlook 2030, London 2011, S. 17.

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die Straße von Hormus. Diese Ereignisse erhöhten die Unsicherheiten in der so genannten strategischen Ellipse, in der sich 71 Prozent der konventionellen Weltölreserven und 69 Prozent der Weltgasreserven konzentrieren.3 Sie umfasst Westsibirien, die Kaspische Region und Zentralasien sowie die Staaten des Nahen und Mittleren Osten. Die Internationale Energie­Agentur (IEA) wies in ihrem World Energy Outlook 2010 auf „beispiellose Ungewissheiten“ hin.4 Die unklare weltwirt­ schaftliche Entwicklung, mögliche, aber schwer abschätzbare Technologiesprünge sowie die damit verbundenen Risiken tragen dazu bei. Die größte Unsicherheit sieht die IEA jedoch in der (geo)politischen Entwicklung sowie der offenen Frage, wann, wie und in welcher Konstellation die Länder auf den Klimawandel reagie­ ren werden. Der Beschluss zur deutschen Energiewende bedeutet dabei noch ein zusätzliches politisch induziertes Risiko, das aber bei konsequenter Umsetzung langfristig dazu beitragen kann, die Risiken einzuhegen. Da die USA seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 konsequent die Strategie der Energieunabhängigkeit, vor allem von arabischen Ländern, verfolgen und insbesondere seit 2003 im nordamerikanischen Markt in neue Vorkommen investiert haben, ist die Weltmacht heute weniger stark von mög­ lichen Engpässen durch die Umbrüche in der arabischen Welt betroffen als die EU. Besonders die südeuropäischen Länder wurden von den Entwicklungen in Ägypten, dem Krieg in Libyen sowie den Sanktionen gegen Libyen, Syrien und den Iran empfindlich getroffen. In der Folge haben sich zwischen 2010 und 2012 die Preise für die Ölsorte West Texas Intermediate und die Nordseesorte Brent auseinanderentwickelt. Auf den Gasmärkten hat die so genannte Shale Gas Revolution, eine durch neue Bohrtechniken mögliche Gewinnung von Gas aus Schiefergestein, in den USA fundamentale Auswirkungen: Sie führte in Europa seit 2009 zu einer re­ gelrechten Gasschwemme, da ursprünglich für den US­amerikanischen Markt vorgesehenes LNG nach Europa gelenkt wurde, dort aber die Nachfrage wegen der Wirtschaftskrise sank. In Deutschland, aber auch in der EU, hatte dies weit­ reichende Auswirkungen auf die Marktorganisation und die Preisstrukturen.5 Global stehen die Gasmärkte an einem entscheidenden Punkt: Während immer mehr LNG global gehandelt wird, konterkariert die Shale Gas Revolution in Nordamerika paradoxerweise die Entwicklung zu einem globalen Gasmarkt. Denn sie trägt zu einer Abkopplung des nordamerikanischen Marktes bei, die sich auch in historisch einmaligen Preisdifferenzen ausdrückt: Die Teilung der Märkte spiegelt sich in sehr günstigen Gaspreisen in den USA, mittleren Gaspreisen in Europa (etwa dreimal so hoch wie in den USA) und sehr ho­ 3 4 5

Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Energierohstoffe 2009. Reserven, Ressourcen, Verfügbarkeit, Hannover 2009, S. 253. IEA, World Energy Outlook 2010, Paris 2010. Ausführlich zu den Auswirkungen in Deutschland und Europa: Kirsten Westphal, Versorgungssicher­ heit beim Erdgas. Ein Schlaglicht auf vier Herausforderungen für die Politik, SWP­Aktuell 24, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2012.

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hen Gaspreisen in Japan und Südkorea (etwa sechsmal so hoch wie in den USA) wider.6 Zwei bahnbrechende Entwicklungen sind denkbar: Wenn China seine Shale­Gas­Reserven entwickelt, hätte das große Auswirkungen für den europäisch­asiatischen Markt für pipelinegebundenes Gas und den LNG­ Handel im pazifischen Raum. Von ebenso entscheidender Bedeutung wird sein, dass die USA mit Shale Gas zum LNG­Exporteur werden und darüber eine Rückkopplung an die Märkte stattfindet, mit allerdings preissteigernden Effekten auf dem nordamerikanischen Markt.7 Insgesamt kennzeichnen drei Trends das globale Energiesystem: Erstens wird in Zukunft kein fossiler Energieträger mehr dominieren, sondern Erdöl, Erdgas und Kohle werden zu etwa gleichen Teilen im Energiemix zu finden sein, ergänzt durch erneuerbare Energiequellen. Zweitens wird bei Erdgas die Nachfrage am stärksten steigen, auf über 50 Prozent des heutigen Bedarfs bis 2030. Die IEA sagt deswegen ein „goldenes Zeitalter für Erdgas“ voraus.8 Drittens revolutio­ niert die so genannte De­Konventionalisierung die fossilen Brennstoffmärkte.9 Die verstärkte Gewinnung unkonventioneller Energieträger (Shale Gas, Tight Gas, Kohleflözgas, Ölsande, Schieferöl etc.) sowie neue Techniken verbreitern das Angebot zusehends, abhängig vom Preis und technologischer Entwicklung. Mineralien und Metalle

Der jüngste Hochpreiszyklus für Mineralien und Metalle (2003 bis Jahreswechsel 2011/12) ist der längste der Nachkriegsgeschichte. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Preise nahezu aller metallischen Rohstoffe stark angestiegen. Im Zuge der Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 gingen die Preise zwar kurzfristig zurück, kletterten aber nur wenig später wieder auf neue Höhen. Dies veranschaulicht der Index des Internationalen Währungsfonds für Metallpreise (auf Dollarbasis zu laufenden Preisen; siehe Abb. 3), der von durchschnittlich 54,3 Punkten im Jahr 2002 auf durchschnittlich 229,7 Punkte im Jahr 2011 anstieg. Seinen Höchststand erreichte der Index im Februar 2011 bei 256,2 Punkten; nach einem Preisrückgang seit Ende des Jahres 2011 notierte er im Juli 2012 bei 183,2 Punkten.10 Kostete beispielsweise eine Tonne Kupfer im Januar 2002 noch rund 1508 Dollar, stieg dieser Preis bis Februar 2011 auf rund 9880 Dollar. Im Juli 2012 notierte die Tonne Kupfer bei 7584 Dollar, was einem Preisverlust von 23 Prozent entspricht. Der Preis für eine Tonne Eisenerz stieg im selben Zeitraum von 12,7 Dollar auf 187,2 Dollar; bis Juli 2012 sank der Preis um rund 32 Prozent wieder auf 127,9 Dollar. 6 7 8 9

Commerzbank, Rohstoffe kompakt Energie, 15.8.2012. Matthew Hulbert, Why America Can Make or Break a New Gas World, in: Forbes, 5.8.2012. IEA, World Energy Outlook 2011. Special Report: Are We Entering a Golden Age of Gas?, Paris 2011. Leonardo Maugeri, Oil: The Next Revolution. The Unprecedented Upsurge of Oil Production Capaci­ ty and What it Means for the World, Discussion Paper 10­2012, Geopolitics of Energy Project Belfer Center for Science and International Affairs 2012. 10 Der Index basiert auf den Preisentwicklungen bei den Metallen Aluminium, Blei, Eisenerz, Kupfer, Nickel, Zink und Zinn.

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Verantwortlich für die Preishausse war allen voran die wachsende Rohstoffnachfrage Chinas und anderer Schwellenländer. Der Aufbau der Infrastruktur gerade in China und die wachsende Industrieproduktion trieben die Nachfrage nach Eisenerz, der Basis für die Stahlproduktion, sowie Kupfer und Zinn nach oben. China hat sich im vergangenen Jahrzehnt von einer Exportnation mit relativ geringem Rohstoffbedarf zum mit Abstand größten Verbraucher von Aluminium (39,8 Prozent des Weltverbrauchs 2010), Blei (44 Prozent), Kupfer (38 Prozent), Nickel (39 Prozent), Zink (43 Prozent), Zinn (41 Prozent) oder auch Stahl (45 Prozent) gewandelt. Darüber hinaus hat im Laufe der vergangenen Jahre der Metallbedarf in Wirtschaftszweigen wie der Informationstechnologie, der Telekommunikation oder auch den erneuer­ baren Energien stark zugenommen. Die Nachfrage nach Umwelttechnologien und den dafür benötigten Industrierohstoffen wird durch den Klimawandel – und im Falle Deutschlands insbesondere auch durch die 2011 eingeleitete Energiewende – weiter vorangetrieben. Weitere langfristige Trends, die auch in Zukunft zu einer erhöhten Nachfrage nach Ressourcen beitragen können, sind der rapide Anstieg der Weltbevölkerung, die zunehmende Urbanisierung und der damit verbundene höhere Verbrauch von Materialien, der höhere Bedarf an Konsumgütern und das veränderte Mobilitätsverhalten im Zuge der Einkommenssteigerungen insbesondere in Schwellenländern. Neben diesen langfristigen, strukturellen Faktoren treiben auch einige kurzfristig wirkende Faktoren die Preise in die Höhe, darunter die geografische und unternehme­ rische Angebotskonzentration, politische Interventionen in die Märkte wie Exportkontrollen und ökologisch, politisch oder sozial bedingte Konflikte in vielen Förderländern. Überdies sind Rohstoffe ein beliebtes Anlage­ und Spekulationsobjekt geworden. Die sinkenden Preise seit der Jahreswende 2011/12 zeigen, wie stark die Preise für Mineralien und Metalle von Konjunkturaussichten beeinflusst werden. Viele Investoren warten ab, ob sich die Staatsschuldenkrise in Europa und die welt­ weite konjunkturelle Abschwächung fortsetzen werden. Kritisch werden auch die Entwicklungen in China beobachtet. So hat sich mittlerweile der Bauboom deutlich abgeschwächt. Gleichwohl rechnen die meisten Analysten mit einem Ende der Abwärtsbewegung der Rohstoffnotierungen im zweiten Halbjahr 2012 – unter der Voraussetzung, dass sich die Euro­Krise entschärft und die Schwellenländer wieder eine höhere Wachstumsdynamik entwickeln. Wie schnell die Preise wieder in die Höhe schießen können, zeigte sich jüngst bei Platin nach den Unruhen in der südafrikanischen Lonmin­Platinmine westlich von Pretoria im August 2012. An diesem Beispiel offenbart sich ein zentrales Problem der Märkte für Mineralien und Metalle: Zwar ist anders als im Falle von Öl keine Erschöpfung der meisten metallischen Ressourcen zum jetzigen Zeitpunkt absehbar. Problematisch ist allerdings die teilweise sehr hohe geografische Konzentration der Vorkommen und Produktion vieler Mineralien und Metalle. So stammen drei Viertel des welt­ weiten Platinangebots aus Südafrika. Schätzungen zufolge sind 80 Prozent der

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globalen Platinreserven in dem afrikanischen Land zu finden.11 50 Prozent der weltweiten Seltenen Erden Reserven (ohne Yttrium) befinden sich in China, ge­ folgt von Russland (17 Prozent) und den USA (12 Prozent). In der Produktion verfügt China mit einem Weltmarktanteil von über 95 Prozent ein Quasi­ Monopol in der Produktion und Weiterverarbeitung.12 Die hohe geologische und unternehmerische Konzentration stellt insofern ein Problem dar, als sie das Risiko von Lieferengpässen infolge von Naturkatastrophen, politischen Konflikten oder auch politischen Interventionen in die Märkte – beispielsweise durch Exportbarrieren – deutlich erhöht. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass es sich dabei um eine Momentaufnahme handelt. Durch neue Erkundungen und die (Wieder­)Erschließung von Vorkommen kann sich das Bild zumindest mittel­ fristig wieder ändern. Gerade im Fall der Seltenen Erden wird zurzeit stark in die Erschließung neuer Vorkommen in den USA und Australien investiert. Agrarrohstoffe

Aufgrund des enormen technischen Fortschritts sind im Laufe des letzten Jahrhunderts die Agrarpreise merklich gesunken.13 Seit etwa 2000 scheint sich jedoch eine Wende abzuzeichnen, und auch die Prognosen weisen auf weiterhin steigende oder zumindest höhere Preise als noch vor 20 Jahren hin.14 Dieser lang­ fristige Trend wurde in den vergangenen Jahren durch starke Preisschwankungen begleitet, insbesondere in Form von Ausschlägen nach oben: So stieg 2008 der Preisindex der UN­Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO)15 auf 200 Punkte (gegenüber 90 im Jahr 2000). Dieser erreichte 2011 mit 232 Punkten den bislang höchsten Wert seit dessen Erfassung. Die jüngsten Preisexplosionen hatten unterschiedliche Ursachen:16 2008 gab angesichts sinkender Getreidereserven die mehrjährige Dürre in Australien, einem der weltweit größten Produzenten, einen merklichen Ausschlag für den Höhenflug der Preise. Als die fünf größten Reisproduzenten (Thailand, Vietnam, Myanmar, Kambodscha und Laos) ein Preiskartell ankündigten, schnellten in­ nerhalb weniger Stunden die Reispreise in die Höhe. Auch Bewegungen auf den Finanzmärkten beschleunigten die Preissteigerungen, da im Zuge der Immobilienkrise in den USA viele Anleger Immobilien abstießen und dafür Rohstoffe, vor allem Agrarrohstoffe, kauften. 2011 kam es dann zu Dürren und 11 Claudia Bröll, Südafrikas Regierung plant Roadshow bei Investoren, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 24.8.2012. 12 U.S. Geological Survey (USGS), Mineral Commodity Summaries 2012, (abgerufen am 1.9.2012). 13 William Cochrane, Farm Prices: Myth and Reality, Minneapolis 1958. 14 Vgl. OECD­FAO, Agricultural Outlook 2012­2021, Paris 2012, S. 32ff. 15 Dieser setzt sich aus Indizes unterschiedlicher Agrarprodukte zusammen wie dem Cereals Price, dem Meat Price, dem Dairy, dem Oil and Fat und dem Sugar Price Index. FAO Food Price Index Juni 2012, 5.7.2012. 16 Joachim von Braun und Getaw Tadesse, Global Food Price Volatility and Spikes: An Overview of Costs, Causes, and Solutions, ZEF­Discussion Papers on Development Policy No. 161, Januar 2012.

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Bränden in Russland, einem großen Getreideproduzenten. Die Preise für Weizen und Reis stiegen, auch weil einige Staaten mit Exportverboten reagierten. Zwar fielen 2012 die Preise zunächst im Vergleich zum Vorjahr. Doch einmal mehr ha­ ben seitdem Dürren – in den USA, Indien, Russland und der Ukraine – vor allem die Preise für Mais, Weizen, Soja und Reis wieder in die Höhe getrieben. Für die Preissteigerungen bei den verschiedenen Rohstoffen waren zwar unterschiedliche kurzfristige Faktoren ausschlaggebend, doch liegen ihnen sy­ stematische Änderungen der Märkte zugrunde, die diese auch in Zukunft an­ fälliger für Schwankungen machen werden:17 Die Agrarmärkte verengen sich zunehmend, das heißt, die Überhänge des Angebots gegenüber der Nachfrage nehmen ab. Hierdurch wird der ohnehin schwankungsanfällige Agrarmarkt noch sensibler: Das Angebotswachstum durch technischen Fortschritt hält mit dem Nachfragewachstum aufgrund von Bevölkerungs­ und Wirtschaftswachstum (vermehrt getreideintensive Fleisch­ und Milchprodukte) nicht mehr Schritt. Angebotsreduzierende Schocks etwa durch Großwetterereignisse wirken sich dann besonders stark aus. Dies gilt umso mehr, wenn die Angebotslücke nicht mehr durch Reserven geschlossen werden kann. 2008 erreichten die globalen Getreidebestände ihr bisher niedrigstes Niveau.18 Auch 2012 liegen diese Reserven nur bei einem Drittel des Niveaus der 1980er Jahre. Agrarsubventionen und andere politische Maßnahmen der EU und der USA verstärken die Verengung der Märkte noch. So wird auch die Gewinnung von Bioethanol und ­diesel (aus Agrarrohstoffen) bis 2021 voraussichtlich die Engpässe gegenüber 2010 verdoppeln.19 Anders als bei anderen Rohstoffen sind von steigenden Nahrungsmittelpreisen insbesondere importabhängige Entwicklungsländer betroffen, die sich aufgrund fehlender Finanzkraft die teurer werdenden Importe immer weniger leisten kön­ nen. Alleine in der Hochpreisphase des Jahres 2008 stieg die Zahl der Hungernden um 100 Millionen auf fast eine Milliarde Menschen. Umgang mit Rohstoffunsicherheiten Wie reagieren nun Deutschland, Europa und die internationale Staatengemeinschaft auf die beschriebenen Trends an den Rohstoffmärkten? Energiemärkte

Deutschland wie auch die EU verfolgen außenpolitisch die Strategie enger Energiepartnerschaften mit Schlüsselländern wie Russland, Norwegen, Nigeria und jüngst Marokko und unterstützen internationale Governance­Initiativen, 17 FAO, Price Volatility from a Global Perspective, Technical Background Document for the High­level Event on: „Food Price Volatility and the Role of Speculation“, FAO Headquarters, Rom, 6.7.2012. 18 So die Schätzungen des Earth Policy Institute, Eco­Economic Indicators, Grain Harvest, 11.1.2012. 19 OECD­FAO, Agricultural Outlook 2012­2021, a.a.O. (Anm. 14), S. 16.

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die auf das Funktionieren der Märkte gerichtet sind. Hier gab es 2009 einen Rückschlag, weil Russland die provisorische Anwendung des Energiecharta­ Vertrags beendete und damit klar wurde, dass es den Vertrag nicht ratifizieren würde. Damit fehlt ein entscheidender Vertragspartner. Bei den erneuerbaren Energien verzeichnete die deutsche Diplomatie hingegen einen Erfolg: Die International Renewable Energy Agency (IRENA) wurde 2009 gegründet und nahm im April 2011 ihre Arbeit auf. Die Erfahrung realer Versorgungskrisen und Lieferausfälle führte dazu, dass die Krisenmechanismen in der EU gestärkt wurden. Nach dem russisch­ukrai­ nischen Gasstreit 2009 wurde die Gasversorgungsrichtlinie Nr. 994/2010 ver­ abschiedet, die neue Krisenmechanismen und Vorkehrungen vorsieht. Bereits im September 2009 war die Richtlinie Nr. 11/2009 über strategische Ölvorräte veröffentlicht worden. Governance­Strukturen im Energiebereich sind bislang noch sehr fragmentiert und segmentiert. Multilaterale Ansätze zur Regulierung und Steuerung sind in der internationalen Energiepolitik zumeist auf Teilmärkte, bestimmte Aspekte oder einen exklusiven Teilnehmerkreis beschränkt. Eine Weltenergie­Organisation gibt es also nicht. Hingegen gibt es seit 1960 die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) und seit 2001 das Forum Gas exportierender Länder (GECF) – Produzentenorganisation mit Tendenzen zur Kartellbildung. Die Internationale Energie­Agentur (IEA) wurde 1974 von Ländern der OECD als Antwort auf den ersten Ölpreisschock ins Leben gerufen. Die Krisenvorsorge und das ­manage­ ment gehören zu ihren Kernaufgaben. Seit 1991 gibt es mit dem Internationalen Energie­Forum (IEF) eine Plattform für Konsumenten­, Produzenten­ und Transitländer, der mittlerweile 89 Staaten beigetreten sind. Die Erfahrung hoher volatiler Preise und die Ungewissheit der weite­ ren Entwicklungen der Energiemärkte haben der Kooperation zwischen Produzenten und Verbrauchern neuen Auftrieb gegeben. Preisvolatilitäten wurden verstärkt Thema im IEF, aber auch bei den Foren der G20­Staaten. Im Mittelpunkt stand dabei die Joint Oil Data Initiative (JODI) des IEF, die als entscheidender Beitrag zu mehr Transparenz auf den Öl­ und künftig auch den Gasmärkten gesehen wird. In der Datenbank werden monatlich anhand eines Fragebogens standardisiert die 42 Schlüsselkennzahlen für den Ölsektor jedes Mitgliedslands erhoben.20 Mit der Unterzeichnung der IEF­Charta im Februar 2011 wurden auch der Dialog über die globale Energiesicherheit bekräftigt und das Forum langfristig gestärkt. Seit 2010 zeichnet sich eine Verschiebung der Energiefragen von den G8 zu den G20 ab. Die G8 haben eine wichtige Rolle als so genannter Agenda­Setter und als Forum für die integrierte Behandlung von Klima­ und Energiefragen gespielt und mit den G5 im Heiligendamm­L’Aquila­Prozess wichtige Schritte getan, um die aufstrebenden Mächte in die internationale Energie­Governance zu integrie­ 20 G20 Leaders’ Declaration, 18.­19.6.2012, via: G20 Information Centre, University of Toronto, (abgerufen am 25.7.2012).

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ren. Ob die G20 diese Rolle ausfüllen können und möchten, ist noch offen.21 So machten 2009 die G20 auf Drängen der USA den Vorstoß, die „ineffizienten Subventionen für fossile Brennstoffe“ auslaufen zu lassen.22 Wie wenig wirksam die Initiative bisher war, zeigen allerdings die Zahlen vom Herbst 2011: Laut IEA wurde die Gewinnung fossiler Energieträger weltweit mit 409 Mrd. Dollar geför­ dert, und das waren 110 Mrd. Dollar mehr als 2009.23 Rückschläge bei der Abstimmung gab es auch innerhalb der OPEC und zwischen OPEC und IEA im Sommer 2011, als sich die OPEC trotz der Förderausfälle in Libyen nicht auf eine Erhöhung der Förderquoten einigen konnte. Das veranlasste die IEA dazu, zur Beruhigung der Märkte einen Teil ih­ rer strategischen Reserven anzuzapfen. Dahinter steht ein Paradigmenwechsel, der künftige nachteilige Wirkung zeitigen könnte, da er die Anreize für die Vorhaltung freier Produktionskapazitäten durch die OPEC­Länder und allen voran durch Saudi­Arabien senkt. Innerhalb der IEA wird seit 2012 weiter da­ rüber diskutiert, ob man strategische Reserven freigeben soll, um die Ölmärkte zu entspannen. Mineralien- und Metallmärkte

Die Bundesregierung legte Ende 2010 eine umfassende Rohstoffstrategie vor; Anfang 2011 folgte die EU­Kommission mit einer Rohstoffstrategie für die Europäische Union. Die beiden Strategien ähneln sich grundlegend – mit der Ausnahme, dass sich die europäische Strategie nicht allein auf Mineralien und Metalle, sondern auch auf Agrarrohstoffe bezieht. Die zentralen Säulen der Strategien für die Mineralien­ und Metallmärkte sind: (1) Diversifizierung der Bezugsquellen unter anderem durch eine stärkere Nutzung heimischer Rohstoffquellen, Investitionen in den Bergbau im Ausland und den Abschluss von Rohstoffpartnerschaften, (2) Verbesserung der Materialeffizienz, Ent­ wicklung von Substituten und Verbesserung des Recyclings, (3) Verbesserung der Informationslage und Ausbildung für Tätigkeiten im Rohstoffsektor so­ wie politische Flankierung der Tätigkeit deutscher/europäischer Unternehmen und (4) Unterstützung von Maßnahmen für gute Regierungsführung und Korruptionsbekämpfung in rohstoffreichen Ländern. Wie erfolgreich diese Strategien sein werden, bleibt abzuwarten. Denn im Alleingang sind die geschil­ derten Probleme auf den Märkten für Mineralien und Metalle nicht zu lösen. 21 Vgl. Dries Lesage, Thijs van de Graaf und Kirsten Westphal, Global Energy Governance in a Multi­ polar World (Global Environmental Governance), Farnham und Burlington 2010; Thijs van de Graaf und Kirsten Westphal, The G8 and G20 as Global Steering Committees for Energy: Opportunities and Constraints, in: Global Policy 2, Special Issue, 2011, S. 19­30. 22 Tobias Belschner und Kirsten Westphal, Weltweite Energiesubventionen auf dem Prüfstand, in: Ener­ giewirtschaftliche Tagesfragen, 62 (2012) 3, S. 51­58. 23 EurActiv, IEA Top Economist Calls for Bonfire of the Fossil Fuel Subsidies, 24.10.2011, (abgerufen am 1.9.2012).

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Multilaterale Governance­Ansätze für die Mineralien­ und Metallmärkte gibt es bislang allerdings so gut wie keine. Internationale Organisationen wie die Welthandelsorganisation (WTO), die OECD oder auch die Weltbank befassen sich lediglich mit Teilaspekten. Das Regelwerk der WTO ermöglicht zumindest eine gewisse Disziplinierung bei quantitativen Exportrestriktionen. Mengenmäßige Beschränkungen durch Quoten oder Verbote sind untersagt. Ausnahmeregeln lassen gleichwohl viel Spielraum: Zulässig sind Exportbeschränkungen im Falle interner Versorgungskrisen, wenn sie dem Schutz natürlicher, erschöpfbarer Ressourcen, der Umwelt und Gesundheit von Mensch und Tier dienen oder auch, wenn sie zur Wahrung der nationalen Sicherheit notwendig sind. Exportzölle, die den großen Importländern ein besonderer Dorn im Auge sind, sind hinge­ gen gestattet. Auf den Abbau ihrer Exportzölle haben sich bislang nur wenige Länder in ihren Beitrittsabkommen verpflichtet, China gehört dazu. 2009 er­ hoben die EU und die USA, zusammen mit verschiedenen Drittländern, Klage bei der WTO gegen Zölle und Quoten Chinas auf den Export von zahlreichen Mineralien und Metallen – und bekamen 2012 Recht. Wenig später klagten die EU, USA und Japan gegen Chinas Exportbeschränkungen bei Seltenen Erden. Ein Schiedsspruch steht noch aus. Sowohl die EU als auch die USA setzen sich für strengere Regeln für Exportbarrieren ein, sind bislang aber am Widerstand der Schwellen­ und Entwicklungsländer gescheitert. Mit dem International Resource Panel (IRP) der Umweltorganisation der Vereinten Nationen (UNEP) soll das globale Management von Rohstoffen verbes­ sert werden. Seine Aufgabe besteht darin, wissenschaftlich fundierte Informationen zum nachhaltigen Umgang mit Rohstoffen zu vermitteln sowie Informationen über die Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Wachstum und Vermeidung von Umweltschäden durch Ressourcennutzung bereitzustellen. Ein wichtiges Thema ist zum Bespiel das Recycling von Metallen. Die Rolle des IRP ist es jedoch nicht, bindende Standards zu entwickeln; seine Wirkungskraft bleibt daher begrenzt. Ähnliches gilt für das Intergovernmental Forum on Mining, Minerals, Metals and Sustainable Development, das als Dialogforum und Beratungsinstitution den Beitrag des Minensektors an nachhaltiger Entwicklung fördern soll. Zu ei­ nigen Metallen haben sich zudem so genannte Studiengruppen formiert: die International Lead and Zinc Study Group (ILZSG), die International Copper Study Group (ICSG) und die International Nickel Study Group (INSC). Die Studiengruppen sind offen für Länder, die maßgeblich an Produktion, Verbrauch oder internationalem Handel der jeweiligen Rohstoffe beteiligt sind. Dies sind in der Regel Industrie­ und Schwellenländer, neben wenigen rohstoffreichen Entwicklungsländern. Die Gruppen sollen Informationen zu Angebot und Nachfrage auf den internationalen Märkten bereitstellen und Lösungsansätze für Probleme im Rohstoffhandel entwickeln. Das Thema Mineralien und Metalle hat bislang kaum Platz auf der Agenda der G20 erhalten. Und die G8 haben sich nur mit einem Teilaspekt befasst: der Transparenz von Zahlungen im Rohstoffsektor (neben Mineralien und Metallen betrifft dies auch energetische Rohstoffe wie Öl und Gas). 2007,

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beim Gipfel in Heiligendamm unter deutschem Vorsitz, kamen die G8­Länder überein, die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) stärken zu wollen. Ihr Ziel ist es, Korruption zu bekämpfen und gute Regierungsführung zu befördern.24 Beim Gipfel in Deauville im Mai 2011 verpflichteten sich die G8 darüber hinaus „zur Einführung von Gesetzen und sonstigen Vorschriften über Transparenz oder zur Förderung freiwilliger Standards, die Unternehmen im Öl­, Gas­ oder Bergbausektor auffordern oder ermu­ tigen, ihre Zahlungen an Regierungen offenzulegen“.25 Sowohl die USA als auch die EU haben Konsequenzen aus dieser Absichtserklärung gezogen und Transparenzinitiativen vorgelegt, die sich zurzeit im Prozess der Umsetzung (USA) und Abstimmung (EU) befinden. Dass die G20 unter russischem Vorsitz das Thema Mineralien und Metalle aufgreifen werden, ist eher unwahrscheinlich. Die Problemwahrnehmungen und Interessen der G20­Länder sind zu unterschiedlich, als dass eine Einigung in Kernfragen erzielt werden könnte. Sehen einige der G20­Staaten das Problem vor allem in Spekulationsgeschäften und entfesselten Finanzmärkten, prangern ande­ re die staatlichen Interventionen in den Märkten an. Viele stark importabhängige Industrieländer wie Deutschland, Frankreich, Japan oder auch Südkorea fürchten angesichts der hohen Preise um die sichere Versorgung und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrien. Andere G20­Mitglieder wie Australien, Brasilien, Kanada und Russland, die zu den weltweit stärksten Produzenten und Exporteuren von Mineralien und Metallen gehören, erfreuen sich hingegen an den steigenden Preisen und sehen darin eine Chance für ihre Entwicklung.26 Agrarmärkte

Positiv auf EU­Ebene ist zu vermerken, dass in der erweiterten, nunmehr integ­ rierten europäischen Rohstoffinitiative, anders als in der Vorgängerstrategie, erst­ malig auch Agrarrohstoffe erfasst sind.27 Die Transparenzinitiative der EU bezieht jedoch Agrarrohstoffe nach wie vor nicht ein. Auch die Deutsche Rohstoffstrategie klammert die Agrarrohstoffe aus.28 Das hat mit der Aufteilung der Kompetenzen 24 G8­Erklärung: Wachstum und Verantwortung in Afrika, G8­Gipfel 2007 Heiligendamm, (abgerufen am 1.9.2012). 25 G8 Declaration: Renewed Commitment for Freedom and Democracy, Deauville 2011, via: University of Toronto, (abgeru­ fen am 25.7.2012). 26 Hanns Günther Hilpert und Stormy­Annika Mildner, Die Rohstoffpolitiken der G20­Länder, SWP Studie (im Erscheinen). 27 EU­Kommission, Tackling the Challenges in Commodity Markets and on Raw Materials, Mitteilung COM(2011)25 final, 2.2.2011, (abgerufen am 20.10.2011). 28 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Rohstoffstrategie der Bundesregierung – Siche­ rung einer nachhaltigen Rohstoffversorgung Deutschlands mit nicht­energetischen mineralischen Rohstoffen, Berlin, Oktober 2010.

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für die unterschiedlichen Rohstoffe zwischen Wirtschafts­ (Energie, Mineralien, Metalle) und Landwirtschafts­ und Entwicklungsministerium (Agrarrohstoffe) zu tun. Problematisch ist, dass unbeabsichtigte Effekte daraus resultieren können, etwa durch Zugangsregelungen zu Minen oder zu Wirtschaftswäldern, die dann auch für den Agrarsektor Normencharakter erzielen könnten. Globale Regulierungen haben bei Agrarrohstoffen eine lange Tradition, insbe­ sondere in Bezug auf die Versorgungsabsicherung: Die Vereinten Nationen (UN) haben seit Ende der 1940er Jahre vor der Erfahrungskulisse des Hungers in der Kriegs­ und Nachkriegsphase Nahrungshilfen und Entwicklungsprogramme be­ fördert. Das stetig weiter entwickelte System der UN­Agrarorganisation (FAO) zur globalen Marktbeobachtung und Ernteprognose ist zudem ein wertvolles Frühwarnsystem für Preisentwicklungen. Auf WTO­Ebene wurde mit dem Agrarabkommen von 1994 ein multila­ teraler Konsens gefunden, der den bis dahin hochgradig protektionistischen Agrarhandel öffnete, indem extreme Zölle und Importbegrenzungen abge­ baut wurden. Damit können nunmehr auch Schocks wie Ernteausfälle besser ausgeglichen werden. Nach wie vor sind aber Exportverbote gestattet und im Agrarabkommen nochmals extra betont, sofern Versorgungskrisen auftre­ ten – wobei diese nicht weiter zu belegen sind. Diese wirken der initiierten Marktöffnung nach wie vor entgegen. Durch die Preiskrise 2008 rückten Preisschwankungen auch auf die mul­ tilaterale Agenda der G8­ und G20­Staaten: So befasste sich der G8­Gipfel 2009 in L’Aquila erstmalig spezifisch mit dem Thema Nahrungssicherheit, und auch die G20 widmeten sich 2011 dem Thema: Unter französischer Präsidentschaft konnten sowohl auf G20­ als auch auf EU­Ebene entschei­ dende Impulse gegeben werden. Im Ergebnis sollten die Funktionsfähigkeit der Märkte über mehr Transparenz und Wettbewerb sowohl auf den Real­ als auch den Finanzmärkten gestärkt werden: In diesem Rahmen wurde das Agricultural Market Information System (AMIS) angestoßen, das die viel­ zähligen, sehr unterschiedlichen Monitoring­Systeme für Agrarpreise auf globaler und nationaler Ebene koordinieren soll. Als besonderes Problem wurde die präzise Erfassung der Reserven von privaten Akteuren genannt, die bislang aus Angebots­ und Verbrauchsschätzungen erfolgt. Vermutungen über die Überschusssituation aber ziehen sofort Spekulation nach sich, was Preisausschläge verschärfen kann. Entsprechende Berichtspflichten müssten die marktrelevanten Akteure des gesamten Einzelhandels weltweit einbeziehen. Zudem sollte die Joint Oil Data Initiative (JODI) auf ihre Übertragbarkeit auf Agrarrohstoffe geprüft werden. Ein so genanntes Rapid Response Forum soll den Austausch von Informationen zwischen Entscheidungsträgern und die Politikkoordination fördern. Hierdurch soll verhindert werden, dass einzelne Staaten etwa durch ein Exportverbot alle Bemühungen gegen Preisexplosionen zunichte machen.

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Fazit: Schwierige Aufgaben für die globale Governance Die Märkte für energetische, metallische und agrarische Rohstoffe sind seit ei­ nigen Jahren durch hohe Unsicherheiten geprägt. Dass beispielsweise die USA – Nettoimporteur von Energierohstoffen und über Dekaden hinweg der weltweit größte Energiekonsument – 2011 zum ersten Mal seit mehr als 60 Jahren zum Netto­ Energieexporteur würden, haben die wenigsten Analysten vorhergesagt. Zahlreiche Faktoren sind für die hohen Unsicherheiten auf den Weltrohstoffmärkten ver­ antwortlich, darunter auf der einen Seite die Rohstoffnachfrage gerade seitens der aufstrebenden Schwellen­ und Entwicklungsländer, auf der anderen Seite die Erkundung und Erschließung neuer Rohstoffvorkommen wie die enormen Schiefergasvorkommen in den USA. Auch die konjunkturellen Schwankungen und Spekulationen an den Rohstoffmärkten sowie Intransparenz erschweren die Prognose. Nicht zuletzt hat die Politik selbst, wie beispielsweise die deut­ sche Energiewende, die Förderpolitik von Biokraftstoffen in der EU oder auch Exportbeschränkungen bei einigen Metallen gerade seitens Chinas, die Märkte verunsichert. Damit stehen Wirtschaft und Politik gleichermaßen vor großen Heraus­ forderungen. Im nationalen Alleingang werden sich die genannten Probleme nicht beseitigen lassen. Vielmehr geht es darum, gemeinsam Lösungsansätze zu erarbeiten. Wichtig ist, stärker als in der Vergangenheit, über den Tellerrand einzelner Märkte zu schauen. So können wichtige Lehren aus ihrer Regelung ge­ zogen werden. Ein Beispiel dafür ist die Transparenzinitiative JODI im Ölmarkt: Angesichts der mangelhaften Transparenz über Marktakteure, gehandelte Mengen und Preise bei Mineralien und Metallen wäre eine vergleichbare Initiative hier er­ forderlich. Zudem sollte der Einfluss der Finanzmärkte auf die Preisbildung bei energetischen, metallischen und agrarischen Rohstoffen gleichermaßen analysiert werden. Schließlich müssen auch die Wechselwirkungen der Märkte stärker in den Blick genommen werden.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen Ulrich Volz 1965 beschrieb der damalige französische Finanzminister und spätere Präsident Valéry Giscard d’Estaing die Sonderstellung des Dollar als „privilège exorbitant“, das es den USA ermöglichen würde, sich international günstig zu verschulden und das die weltweite Vorherrschaft der amerikanischen Finanzwirtschaft sichern wür­ de. Seit dem Ende des Dollar­zentrierten Systems fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse von Bretton Woods 1973 wurde das Ende der Dollardominanz mehrfach vorhergesagt. In den 1980er Jahren – bis zum Platzen der japanischen Immobilienblase 1990 – wurden der Aufstieg Japans zur größten Ökonomie der Welt und die Ablösung des Dollar als internationale Leitwährung durch den japa­ nischen Yen prophezeit.1 Mit der Einführung des Euro 1999 schien es erstmals seit der Ablösung des britischen Pfund als Weltwährung eine überzeugende Alternative zum Dollar zu geben.2 Zwar konnte sich der Euro schnell als zweitwichtigste internationa­ le Reserve­ und Anlagewährung etablieren. Doch der Optimismus, er könne den Dollar als Weltwährung ablösen, hat sich seit 2010 mit der europäischen Banken­ und Schuldenkrise verflüchtigt. 2012 wird vielmehr ein mögliches Auseinanderbrechen der Eurozone diskutiert. Nunmehr gilt eine andere Währung als Rivale zum Dollar: der chinesische Renminbi.3 Viele fragen sich heute nicht mehr ob, sondern wann der Renminbi zur wichtigsten internationalen Währung aufsteigen wird.4 Können die USA ihr „exorbitantes Privileg“ verteidigen, wird 1 2 3 4

Vgl. Daniel Burstein, Yen! Japan’s New Financial Empire and Its Threat to America, New York 1988. Vgl. Menzie D. Chinn und Jeffrey A. Frankel, Will the Euro Eventually Surpass the Dollar as Leading International Reserve Currency?, in: Richard Clarida (Hrsg.), G7 Current Account Imbalances: Sus­ tainability and Adjustment, Chicago und London 2007, S. 283­322. Renminbi („Volkswährung“) ist der offizielle Name der Währung der Volksrepublik China. Yuan be­ zeichnet eine Einheit der Währung. Weitere Einheiten sind Jiao und Fen. So vertritt etwa Arvind Subramanian die Ansicht, dass der Renminbi noch innerhalb dieser Dekade den Dollar als weltweit wichtigste Reservewährung ablösen wird. Vgl. Arvind Subramanian, Renminbi Rules: The Conditional Imminence of the Reserve Currency Transition, PIIE Working Paper Nr. 11­ 14, Peterson Institute for International Economics, Washington, DC 2011.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

China seine Währung weiter internationalisieren und welche Veränderungen in der internationalen Währungshierarchie sind zu erwarten? Vor- und Nachteile der Dollar-Dominanz Seit der Dollar das britische Pfund Sterling Mitte der 1920er Jahre als wichtigste Reservewährung abgelöst hat,5 ist er die unangefochtene führende Währung für internationale Finanztransaktionen und die Abwicklung von Handel. Etwa 85 Prozent der Währungstransaktionen an den Devisenmärkten werden derzeit unter Beteiligung des Dollar abgewickelt, während der Euro als zweitwichtigste Währung nur an knapp 40 Prozent der Devisentransaktionen beteiligt ist (siehe Tabelle 1). Der Anteil des Dollar an den weltweit von Zentralbanken gehaltenen Devisenreserven betrug 2011 62 Prozent (siehe Tabelle 2). Etwa 25 Prozent der globalen Zentralbankreserven werden derzeit in Euro gehalten, wobei der Euro seit der Intensivierung der europäischen Schuldenkrise internationale Anteile verloren hat. Der in Dollar denominierte amerikanische Anleihenmarkt ist mit Abstand der Größte der Welt, und auch die Anleihen anderer Länder werden oft­ mals in Dollar ausgegeben (siehe Tabelle 3). Nicht zuletzt wird auch ein Großteil des internationalen Handels in Dollar abgewickelt. Tabelle 1: Anteil einzelner Währungen an den durchschnittlichen täglichen Umsätzen an den globalen Währungsmärkten (in %) Währung

2001

2004

2007

2010

US Dollar

89,9

88,0

85,6

84,9

Euro

37,9

37,4

37,0

39,1

Japanischer Yen

23,5

20,8

17,2

19,0

Pfund Sterling

13,0

16,5

14,9

12,9

Australischer Dollar

4,3

6,0

6,6

7,6

Schweizer Franken

6,0

6,0

6,8

6,4

Kanadischer Dollar

4,5

4,2

4,3

5,3

Hongkong Dollar

2,2

1,8

2,7

2,4

18,7

19,3

24,9

22,4

200,0

200,0

200,0

200,0

Andere Währungen Gesamt

Da jeweils zwei Währungen an einer Transaktion beteiligt sind, beträgt die Summe der Anteile der einzelnen Währungen 200 %. Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Triennial Central Bank Survey of Foreign Exchange and Derivatives Market Activity in 2010, Dezember 2010.

5

Barry J. Eichengreen und Marc Flandreau: The Rise and Fall of the Dollar (Or When Did the Dollar Replace Sterling as the Leading Reserve Currency?), in: European Review of Economic History, 13 (2009), S. 377­411.

Ulrich Volz

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Die internationale Bedeutung des Dollar bringt eine Reihe von Vorteilen für die amerikanische Wirtschaft. Zunächst einmal erhöht die internationale Nutzung der eigenen Währung die so genannte Seigniorage, also den Gewinn, den eine Zentralbank durch die Emission von Zentralbankgeld macht.6 Tabelle 2: Offizielle Währungsreserven 2011 (in %) Währung

2011

US Dollar

62,12

Euro

25,04

Japanischer Yen

3,71

Schweizer Franken

0,13

Pfund Sterling

3,88

Andere Währungen

5,12

Gesamt

100,00

Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten der IMF COFER Datenbank, April 2012.

Tabelle 3: Ausstehende internationale Anleihen (Dezember 2011) Währung

US Dollar (Mrd.)

Anteil (%)

Euro

11.733,1

42,2

US Dollar

11.310,9

40,7

2.068,6

7,4

Japanischer Yen

760,7

2,7

Schweizer Franken

389,4

1,4

Kanadischer Dollar

357,9

1,3

Pfund Sterling

Australischer Dollar

344,9

1,2

Schwedische Krone

106,2

0,4

2.816,6

2,7

27.819,7

100,0

Andere Währungen Gesamt

Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.

6

Laut Schätzungen betrugen die US­amerikanischen Seigniorage­Einnahmen allerdings selten mehr als 3 Prozent der gesamten Steuereinnahmen oder 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Da seit den 1990er Jahren etwas mehr als die Hälfte der amerikanischen Dollar­Noten im Ausland zirkuliert, dürfte der internationale Anteil der Seigniorage­Einnahmen etwa 1,5 Prozent der gesamten Steuerein­ nahmen oder 0,25 Prozent des BIP ausmachen. Vgl. Philip N. Jefferson, Seigniorage Payments for Use of the Dollar: 1977­1995, Economics Letters, 58 (1998) 2, S. 225­230.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

Wichtiger ist, dass der Status des Dollar als „Weltwährung“ die internationalen Handelstransaktionen amerikanischer Firmen vereinfacht, weil diese bei einer Abwicklung ihrer Handelstransaktionen in Dollar das Wechselkursrisiko auf ihre Handelspartner übertragen; sie können sich teure Absicherungsgeschäfte erspa­ ren. Zudem haben amerikanische Unternehmen durch heimische Banken verein­ fachten Zugang zu Handelskrediten. Die starke internationale Nachfrage nach Dollar­Anlagen, nicht zuletzt nach amerikanischen Staatspapieren, impliziert wiederum, dass sich sowohl die ame­ rikanische Regierung als auch die amerikanische Ökonomie als Ganzes günstig international verschulden können. Die USA konnten somit bislang mühelos ihr Handels­ und Leistungsbilanzdefizit finanzieren. Die Tatsache, dass die USA, eine der reichsten Ökonomien der Welt, seit 1982 kontinuierlich7 Leistungsbilanzdefizite verzeichnet hat (siehe Abbildung 4) und sich problemlos in eigener Währung international verschulden konnte, unter anderem bei Entwicklungs­ und Schwellenländern, ist das eigentliche Privileg der Dollar­Dominanz. Abbildung 4: Leistungsbilanz der USA 1960 – 2011 (in Mio. Dollar)

0

1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

200.000

-200.000

-400.000

-600.000

-800.000 Quelle: Eigene Darstellung mit Daten des US Bureau of Economic Analysis.

Da sich allerdings die internationale Verschuldung der USA durch die andau­ ernden Leistungsbilanzdefizite kontinuierlich erhöht und die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie durch die Aufwertungstendenzen des Dollar leidet, sprechen einige Experten statt von einem Privileg von einer „exorbitanten 7

Mit Ausnahme eines Jahres, 1991, in dem die USA einen geringen Leistungsbilanzüberschuss erwirt­ schafteten.

Ulrich Volz

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Bürde“:8 Die starke internationale Nachfrage nach Dollar­Anlagen hat einen aufwertenden Effekt auf den Dollar­Wechselkurs, was sich negativ auf die amerikanischen Exporte auswirken kann. Da außerdem zahlreiche Länder den Wechselkurs ihrer Währung gegenüber dem Dollar stabilisieren und hierzu in den Devisenmärkten intervenieren, kommt es von Seiten der amerikanischen Exportindustrie häufig zu Klagen über Wettbewerbsnachteile aufgrund einer angeblichen Überbewertung des Dollar. Das häufigste Ziel der Kritik war in der letzten Dekade China, das nach Ansicht vieler Mitglieder des US­Kongresses von der US­Regierung als „Währungsmanipulator“ gebrandmarkt werden sollte, da es seit den frühen 2000ern massiv in den Devisenmarkt interveniert und dadurch Fremdwährungsreserven in Höhe von 3,18 Billionen Dollar (Ende Dezember 2011) angehäuft hat (und gleichzeitig massive Überschüsse im Handel mit den USA erwirtschaftete). Von den chinesischen Devisenreserven sind schät­ zungsweise 65 bis 70 Prozent in Dollar angelegt, wovon wiederum ein Großteil in amerikanischen Staatsanleihen investiert ist. Nach den Statistiken des US­ Finanzministeriums hielt China Ende Dezember 2011 US­Staatsanleihen im Wert von 1,15 Billionen Dollar.9 Gleichwohl erschwert der Zufluss internationalen Kapitals auch die Arbeit der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve, da diese die langfristigen Zinsen weniger stark beeinflussen kann als dies in einer geschlossenen Ökonomie ohne internationale Währung der Fall wäre. So vertritt Alan Greenspan, der ehemalige Vorsitzende der Fed, die Ansicht, dass die starke internationale Nachfrage nach US­Finanzprodukten und die damit einhergehenden Kapitalimporte es der US­ Notenbank in den Jahren vor dem Ausbruch der Finanzkrise von 2008 unmöglich gemacht haben die langfristigen Zinsen zu erhöhen, was zu einer Verschärfung der Immobilienblase geführt hat.10 Dass die US­Regierung theoretisch die Möglichkeit hat, ihre nationalen wie in­ ternationalen Schulden über eine expansive Geldpolitik der Fed zu inflationieren, hat angesichts der derzeitigen Schwächen der US­Ökonomie bei internationalen Gläubigern die Sorge um die langfristige Stabilität des Dollar verstärkt und – wie bereits in den 1970er Jahren – eine Diskussion über mögliche Alternativen zum Dollar ausgelöst. Renminbi als Herausforderung für den Dollar? Die chinesische Diskussion um die Internationalisierung des Renminbi begann mit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008. In einem viel beachteten Essay kritisierte der chinesische Zentralbankgouverneur Xiaochuan Zhou im März 2009 die Dominanz des Dollar und die damit einhergehende Instabilität 8 9

Michael Pettis, Imbalanced: Trade, Capital Flows and the Exorbitant Burden, Princeton, NJ, i.E. Die tatsächliche Höhe ist nicht bekannt, da die chinesische Zentralbank US­Staatsanleihen auch auf den Sekundärmärkten kauft und die Zusammenstellung ihrer Devisenreserven nicht veröffentlicht. 10 Alan Greenspan, The Crisis, Brookings Papers on Economic Activity, Washington, DC, Frühjahr 2010, S. 201­246.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

des internationalen Währungssystems.11 Während Zhou 2009 noch eine supra­ nationale Währung wie die Sonderziehungsrechte (SZR) des Internationalen Währungsfonds (IWF) als Alternative zum Dollar vorschlug, wurde schnell deutlich, dass eine derartige Reform des internationalen Währungssystems auf absehbare Zeit nicht zu realisieren ist. Die chinesische Regierung hat sich daher zum Ziel gesetzt, die Abhängigkeit der chinesischen Wirtschaft vom Dollar peu à peu zu reduzieren und den Renminbi als internationale Währung aufzubauen.12 So wurde eine schrittweise – wenn auch vom Gesamtvolumen her bislang marginale – Öffnung des chinesischen Finanzsektors für „qualifizierte auslän­ dische institutionelle Investoren“ auf den Weg gebracht, die Verwendung des Renminbi in Hongkong wurde liberalisiert und die Möglichkeiten zur Emission von Anleihen in Renminbi (so genannte „Dim Sum Bonds“) wurden geschaffen. Zudem versucht die chinesische Regierung durch bilaterale Handelsabkommen und Währungsswaps die internationale Bedeutung des Renminbi zu erhöhen. Im März 2012 gab die chinesische Zentralbank (People’s Bank of China, PBoC) eine Aufhebung von Beschränkungen bei der Abwicklung des grenzüberschrei­ tenden Handels in Renminbi bekannt. Dies ist ein weiterer Schritt hin zu einer freien Nutzung der chinesischen Währung bei Leistungsbilanztransaktionen. Im Februar 2012 lancierte die PBoC einen neuen Drei­Stufen­Plan zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der nächsten zehn Jahre.13 Demzufolge würden in den kommenden drei Jahren die Kontrollen für ausländische Direktinvestitionen gelockert sowie Kapitalabflüsse aus China liberalisiert werden, damit chine­ sische Investoren von den gegenwärtigen niedrigen Bewertungen für westliche Unternehmen profitieren können. In den nächsten drei bis fünf Jahren sieht der Plan eine Deregulierung der kommerziellen Kreditvergabe und eine Zunahme der Vergabe von ausländischen in Renminbi denominierten Krediten durch chinesische Banken vor. Im dritten Schritt, in fünf bis zehn Jahren, würde sich China dann stufenweise für ausländische Investitionen in Immobilien, Aktien und Anleihen öffnen. Am Ende der dritten Phase wäre der Renminbi zudem frei konvertibel. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die Konvertierbarkeit des Renminbi sind zentrale Voraussetzungen für die Internationalisierung des Renminbi und seine Etablierung als weltweit führender Anlage­ und Reservewährung. Angesichts der Fülle neuer Initiativen der chinesischen Regierung zur Internationalisierung des Renminbi, des über die letzten Dekaden rasanten Wachstums der chinesischen Wirtschaft und der Schwächung der US­Wirtschaft seit dem Ausbruch der Subprime­Krise 2007 wundert es nicht, dass eine Vielzahl an Beobachtern nun ein Ende der Dollar­Dominanz und den Aufstieg des 11 Xiaochuan Zhou, Reform the International Monetary System, in: BIS Review 41/2009, (abgerufen am 1.7.2012). 12 Siehe z.B. Eswar Prasad und Lei Ye, The Renminbi’s Role in the Global Monetary System, IZA Dis­ cussion Paper Nr. 6335, Institut zur Zukunft der Arbeit, Bonn 2012. 13 Vgl. Haihong Gao und Ulrich Volz, Is China Ready to Open its Capital Account?, in: East Asia Forum, 29.3.2012, (abgerufen am 1.7.2012).

Ulrich Volz

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Renminbi vorhersagen. So habe die chinesische Wirtschaft die USA, gemessen in Kaufkraftparitäten, bereits 2010 als größte Volkswirtschaft der Welt überholt.14 Demzufolge könne der Renminbi den Dollar innerhalb einer Dekade als wich­ tigste Währung ablösen. In seinem jüngsten Buch „Exorbitant Privilege“ weist auch der Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen darauf hin, dass sich der US­ Dollar Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt von einer rein nationalen Währung zur führenden internationalen Währung entwickelt hat.15 Ähnlich schnell könnte sich der Renminbi als Leitwährung für die Abwicklung von Handelstransaktionen, als führende Währung für internati­ onale Finanztransaktionen und Anlagen sowie als wichtige Reservewährung für Zentralbanken etablieren. Aufgrund seiner Bevölkerungsgröße hat China zweifelsohne das Potenzial, nicht nur nach Kaufkraftparitäten, sondern auch nach nominalen Wechselkursen in absehbarer Zeit die größte Volkswirtschaft der Welt zu werden. Als größte Ökonomie und führende Handelsnation würde China zwei wichtige Kriterien er­ füllen, die in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur als Voraussetzung ange­ führt werden, damit ein Land Emittent einer führenden internationalen Währung sein kann.16 Mit Blick auf die politische und makroökonomische Stabilität, die unabding­ bar sind, um Vertrauen in eine Währung zu schaffen, die als internationale Transaktions­, Anlage­ und Reservewährung fungieren soll, gehen die Meinungen zu China jedoch auseinander: So ist die PBoC nicht unabhängig, und auch hin­ sichtlich der politischen Stabilität Chinas gibt es unterschiedliche Ansichten. Allerdings misst die politische Führung Chinas makroökonomischer Stabilität traditionell eine sehr große Bedeutung zu, so dass es der PBoC auch ohne klar definiertem Inflationsziel und politischer Unabhängigkeit gelingen kann, die Inflationserwartungen zu ankern und niedrig zu halten und somit auch das Vertrauen internationaler Anleger zu gewinnen. Dennoch bestehen auch bezüg­ lich der Eigentumsrechte und Rechtssicherheit Zweifel. Eine weitere, zentrale Voraussetzung dafür, dass die Währung eines Landes als internationale Anlage­ und Reservewährung genutzt wird, erfüllt China je­ doch bislang nicht: die Existenz eines großen und liquiden Finanzmarkts, der Anlagemöglichkeiten in Portfolioinvestitionen für private Investoren wie auch Zentralbanken bietet. Auch hier spricht theoretisch nichts dagegen, dass China seinen Finanzmarkt schnell entwickeln kann. In der Praxis erfordert dies aber weitreichende Reformen der chinesischen Wirtschaft und insbesondere des 14 Arvind Subramanian, Is China Already Number One? New GDP Estimates, in: Real Time Economic Issues Watch, 13.1.2011, Peterson Institute for International Economics, Washington, DC. Nach Schätzungen des IWF wird dies erst 2016 der Fall sein. 15 Barry J. Eichengreen, Exorbitant Privilege: The Rise and Fall of the Dollar and the Future of the Inter­ national Monetary System, Oxford 2011. 16 Die internationale Bedeutung des Schweizer Franken ist eine Ausnahme und vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich die kleine Schweiz als stabile, politisch neutrale Nation im Herzen Europas nicht zu­ letzt aufgrund ihres Bankgeheimnisses als sicherer Hafen für internationale Anleger etablieren konnte.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

Finanzsektors. Diese sind, genauso wie die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, in den politischen Zirkeln Pekings nach wie vor sehr umstritten. Obwohl eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs im 12. Fünfjahresplan steht, der die Politik der chinesischen Regierung für die Jahre 2011–2015 vorgibt, wird dieses Ziel noch kontrovers diskutiert, da es auch weitgehende Reformen des hei­ mischen Finanzsektors erfordern würde.17 Innerhalb der chinesischen Regierung ist ein Richtungsstreit über die zukünftige Reformpolitik entbrannt. Die PBoC ge­ hört zum Lager der wirtschaftlichen Reformer, die durch eine Flexibilisierung des Renminbi­Wechselkurses gegenüber dem Dollar mehr geldpolitische Autonomie erlangen möchten und die Exportabhängigkeit der chinesischen Industrie durch stärkere Binnennachfrage verringern wollen. Da die Vorstellung, dass China die neue Weltwährung stellen könnte, in der chinesischen Bevölkerung sehr populär ist, versucht die PBoC die Diskussion über die Internationalisierung des Renminbi zu nutzen, um die inländischen Finanzmarktreformen ebenso wie die Reform der Geld­ und Wechselkurspolitik voranzutreiben. Allerdings liegt ein Großteil der wirtschaftspolitischen Entscheidungsmacht bei der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform (National Develop­ ment and Reform Commission, NDRC), die wie die PBoC zum Staatsrat gehört und Wechselkurspolitik­ und Finanzmarktreformen sowie einer Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen bislang sehr skeptisch gegenübersteht. Die NDRC ist als Nachfolger der State Planning Commission auch für die staatseigenen Unternehmen zuständig und wenig gewillt, den Einfluss des Staates (und der Kommunistischen Partei) über die Wirtschaft zu verringern. Eine Liberalisierung der Kreditzinsen würde die Kreditallokation zu Gunsten von kleineren und mittleren Unternehmen verändern und somit die Macht der Staatsunternehmen (und des NDRC) schmälern. Sie würde auch die Gewinne der staatlichen Banken reduzieren, deren Zinsmargen derzeit etwa doppelt so hoch sind wie im inter­ nationalen Durchschnitt. Während die chinesische Privatwirtschaft mehrheitlich marktorientierte Finanzreformen unterstützt, zögern oder blockieren also jene staatlichen Sektoren, Banken und Unternehmen, die bislang sehr gut von den Subventionen und Privilegien leben. Doch auch die Regierung würde viel von ihrem bisherigen Einfluss auf das chinesische Bankensystem aufgeben müssen, bislang eines der wichtigsten staat­ lichen Instrumente zur Steuerung der Wirtschaft. Darüber hinaus birgt eine übereilte Liberalisierung des Kapitalverkehrs die Gefahr einer Finanzkrise, wie beispielsweise die Krisen in Ländern wie Südkorea und Mexiko kurz nach der Öffnung ihrer Finanzmärkte gezeigt haben. Eine Öffnung der Finanzmärkte ist besonders dann riskant, wenn der inländische Banken­ und Kapitalmarkt unter­ entwickelt ist, so wie dies derzeit noch in China der Fall ist. Da eine Finanz­ und Wirtschaftskrise zu sozialen Unruhen und politischer Instabilität führen könnte, 17 Vgl. Ulrich Volz, Prospects of the RMB to Become a Global Currency, Beitrag für den Workshop „All Politics is Local: Prospects of the Renminbi to Become a Global Currency“, 5.4.2012, University of Southern California, Los Angeles.

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ist es unwahrscheinlich, dass die Reformer in der Lage sein werden, die von ihnen angestrebte Liberalisierung rasch umzusetzen. Vielmehr dürfte die Öffnung des internationalen Kapitalverkehrs nur sehr langsam voranschreiten – wahrscheinlich sehr viel langsamer, als dies der PBoC­Plan vorsieht. Wie schnell der chinesische Finanzsektor internationale Bedeutung erlangen kann und ob Schanghai tatsächlich, wie von der Regierung geplant, bis 2020 ein führender internationaler Finanzplatz sein wird, hängt primär vom Tempo der wirtschafts­ und finanzpolitischen Reformen in Peking ab. Da die chinesische Regierung Risiken scheut und es keinen Druck gibt, die Kapitalbilanz rasch zu liberalisieren – vor allem nicht in Zeiten einer instabilen Weltwirtschaft und ex­ zessiver globaler Liquidität auf der Suche nach Rendite in den Schwellenländern – scheinen die Vorhersagen einer baldigen Renminbi­Dominanz übereilt.18 Allerdings gibt es bereits jetzt Anzeichen dafür, dass der Renminbi die Rolle einer regionalen Leitwährung in Ostasien übernimmt.19 Aufgrund der starken Verflechtung der chinesischen Wirtschaft mit den anderen Ländern Ostasiens und ihrer zentralen Rolle im ostasiatischen Handels­ und Produktionsnetzwerk ist auch kurzfristig eine weiter wachsende Bedeutung des Renminbi in Ostasien, vor allem im Handel, aber auch im Rahmen einer informellen regionalen Währungskooperation, zu erwarten.20 Ausblick: Multipolares Währungssystem Auch wenn der Renminbi an regionaler und internationaler Statur gewinnen dürf­ te – inwiefern und wie lange der Dollar seine führende Stellung in den interna­ tionalen Finanzmärkten behaupten kann, wird nicht nur von der Politik Chinas abhängen, sondern auch wesentlich von der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und der Politik der Federal Reserve. Wenn die US­Regierung ihre fis­ kalischen Probleme in den Griff bekommt und die Fed die interne und externe Stabilität des Dollar durch eine verantwortungsvolle Geldpolitik sichert, wird der Dollar auch in Zukunft eine zentrale Rolle in der Weltwirtschaft spielen. Die zukünftige internationale Rolle des Euro wird nicht nur dadurch entschie­ den, wie die europäischen Regierungen die gegenwärtige Krise meistern und ob sie das Vertrauen der Investoren wieder gewinnen. Sie wird auch davon abhängen, ob es zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Finanzmarkts kommt. Ohne eine weitgehende Integration der nationalen Finanzmärkte Europas – insbesonde­

18 Zu den Risiken exzessiver globaler Liquidität vgl. die Beiträge in Ulrich Volz (Hrsg.): Financial Stabi­ lity in Emerging Markets: Dealing with Global Liquidity, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Bonn 2012. 19 Marcel Fratzscher und Arnaud Mehl, China’s Dominance Hypothesis and the Emergence of a Tri­ polar Global Currency System, ECB Working Paper Nr. 1392, Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main 2011. 20 Ulrich Volz, Prospects for Monetary Cooperation and Integration in East Asia, Cambridge, MA, 2010.

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Das Dollar-Privileg und neue Machtwährungen

re der Anleihenmärkte, was letztlich auf die Schaffung gemeinsamer Euro­Bonds hinausliefe – wird der Euro kaum an globaler Bedeutung gewinnen können. Während der Dollar auf absehbare Zeit die wichtigste Währung der Welt bleiben und der Euro mit einem gewissen Abstand auf Platz zwei rangieren dürfte, ist mittelfristig eine größere Bedeutung der Währungen der wichtigsten Schwellenländer zu erwarten. Neben dem Renminbi, der sich langfristig neben dem Dollar und dem Euro als weltweit wichtigste Währung etablieren dürfte, werden in der zweiten Reihe regionale Leitwährungen in Afrika, im Mittleren Osten, Zentralasien und Lateinamerika eine wichtige Rolle einnehmen. Die Weltwirtschaft dürfte sich somit in Richtung eines multipolaren Währungssystems bewegen. Die Dominanz des Dollar neigt sich damit dem Ende entgegen. Es ist aber unwahrscheinlich, dass eine andere Währung – sei es der Euro oder der Renminbi – die Weltwirtschaft im gleichen Maße dominieren wird, wie dies der Dollar in den letzten Dekaden getan hat.

II.

Analyse der G20-Staaten

83

Argentiniens Krisenerfahrung Klaus Bodemer Krisen sind in der argentinischen Geschichte eher der Normalfall denn eine Ausnahme. Die jüngste internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Politik und Wirtschaft des Landes am Rio de la Plata stehen somit auch in ei­ ner Sequenz von Krisen, teils politischer, teils wirtschaftlicher oder sozialer Art, die die argentinische Geschichte seit der Unabhängigkeit von der spanischen Krone im Jahre 1910 durchziehen und deren Ursachen in der Regel eher inter­ ner denn externer Natur waren.1 Ungeachtet unterschiedlicher nationaler Akzente teilten die lateinamerika­ nischen Länder jedoch bezüglich der aktuellen internationalen Finanzkrise die Überzeugung, dass deren Schuldige im Norden zu suchen seien und dass die­ ser Norden nunmehr von den Erfahrungen des Südens lernen könne, mithin die bisherigen Rollen sich getauscht hätten. Die im „Verschuldungsjahrzehnt“ (den 1980er Jahren) häufig zu hörende Aufforderung des Nordens an den ver­ schuldeten Süden, „das Haus in Ordnung zu bringen“ („poner la casa en or­ den“), wurde nunmehr von diesem an den Norden gerichtet, dies nicht ohne Schadenfreude, dass es nunmehr die anderen erwischt habe. Verschont blieben die Länder Südamerikas jedoch auch nicht. Mit Blick auf die Zukunft stellen sich die lateinamerikanische Verwundbarkeit und das dazu taugliche Krisenmanagement differenziert dar. Grundsätzlich hat der Subkontinent die beiden internationalen Finanzkrisen bislang ohne substanziel­ le Blessuren überstanden, wobei dies dem südlichen Lateinamerika dank seines Ressourcenreichtums weit besser gelang als den ressourcenarmen Ländern Zentralamerikas und der Karibik.

1

Vgl. zusammenfassend Peter Waldmann, Argentinien. Schwellenland auf Dauer, Hamburg 2010; Bar­ bara Potthast und Sandra Carreras, Eine kleine Geschichte Argentiniens; Peter Birle, Klaus Bodemer und Andrea Pagni, Argentinien heute, Frankfurt 2010.

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Argentiniens Krisenerfahrung

Auswirkungen der Finanzkrise 2008/09 auf Lateinamerika Zunächst waren die lateinamerikanischen Volkswirtschaften umso stärker betrof­ fen, je mehr sie in den Weltmarkt integriert, den internationalen Finanzmärkten vernetzt und wirtschaftlich abhängig von den USA waren.2 Zur ersten unmittelbar betroffenen Gruppe zählten insbesondere die Länder des südlichen Lateinamerika, Brasilien und Argentinien, sowie Mexiko und die Anden­Länder Venezuela, Bolivien, Ecuador und Kolumbien, die wegen ihrer starken Abhängigkeit von mi­ neralischen und agrarischen Exporten (insbesondere Öl, Kupfer und Sojabohnen) unter der weltweit sinkenden Nachfrage zu leiden hatten. Politisch sensibel war dieser Rückgang auch deshalb, weil die (mit Ausnahme von Kolumbien und Mexiko) mehrheitlich sozialdemokra­ tisch bzw. linkspopulistisch ausgerichteten Regierungen dieser Länder die Exporteinnahmen oft für Sozialprogramme nutzten, um sich die Unterstützung der armen Bevölkerungssegmente zu sichern, die unter den neoliberalen Anpassungsprogrammen der 1990er Jahre am stärksten gelitten hatten. Auch Lohnerhöhungen für die organisierte Arbeiterschaft – die die Gewerkschaften in den letzten Jahren des wirtschaftlichen Booms (von 2004 bis 2008) ebenso einfah­ ren konnten wie die Rentner Erhöhungen ihrer Altersbezüge – stießen mit dem Rückgang der Staatseinnahmen nunmehr an ihre Grenzen. Die zweite Gruppe, die zentralamerikanischen und karibischen Staaten, pro­ fitierte zwar als Rohstoffimporteure vom Preisrückgang auf den Spot­Märkten. Doch sie mussten infolge ihrer Nähe zum und Verflechtung mit dem NAFTA­ Raum und des Rückgangs der Gastarbeiterüberweisungen aus den USA gleichfalls ihre Wachstumsprognosen nach unten korrigieren. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Region schrumpfte 2008/09 um 2,3 Prozent. Die städtische Arbeitslosigkeit stieg im ersten Quartal 2009 nach Angaben der UN­Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) um 0,6 Prozentpunkte.3 Das regi­ onale Pro­Kopf­Einkommen sank 2009 um fast 3 Prozent, die Warenexporte lagen um mehr als ein Fünftel unter dem Vorjahresniveau. Der Zufluss auslän­ discher Direktinvestitionen ging um über 30 Prozent zurück und die aggregierte Auslandsverschuldung Lateinamerikas stieg 2009 gegenüber dem Vorjahr um 23,3 Mrd. Dollar.4 Damit ging ein fünfjähriger „positiver Zyklus“ zu Ende. Die sozialen Auswirkungen bekamen insbesondere die schwächsten Bevölkerungssegmente zu spüren – infolge des Preisanstiegs bei Energie und Nahrungsmitteln und der Engpässe auf dem Arbeitsmarkt. 2 3 4

Vgl. Hartmut Sangmeister, Lateinamerikas Wirtschaft 2010 auf Erholungskurs, GIGA Focus Latein­ amerika, Nr.1, Hamburg 2010. Vgl. UN­Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Comisión Económica para América Latina, CE­ PAL), Internationale Arbeitsorganisation (Organización Internacional de Trabajo, OIT), Coyuntura laboral en América Latina y el Caribe: Crisis y Mercado de Trabajo, Santiago de Chile. CEPAL, Balance preliminar para América Latina y el Caribe, Santiago de Chile, Dezember 2009.

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Insgesamt war die Region jedoch gegen die negativen Folgen der interna­ tionalen Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 wesentlich besser gerüstet als bei vergleichbaren Situationen in früheren Epochen. Steigende Rohstoffpreise in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts hatten es den ressourcenreichen Ländern ermöglicht, erhebliche Devisenreserven anzuhäufen, ihre Geld­ und Währungspolitik flexibler zu gestalten und ihre Haushalte in Ordnung zu bringen. Innenpolitisch verfolgte die Mehrzahl der Länder in den vergangenen Jahren eine solide Wirtschaftspolitik.5 Dass Lateinamerika bei der Krise 2008/09 relativ glimpflich davon kam, spiegelt sich auch in den Wirtschaftsdaten. So betrug die Differenz des BIP­ Rückgangs der Region im Vergleich zu dem der Welt 2009 lediglich 0,1 Prozent und damit erheblich weniger als in den drei früheren Rezessionen (1980–1983: 0,7 Prozent; 1998–1999: 1,3 Prozent; 2001–2003: 0,9 Prozent).6 Auch widerstand die Region der Versuchung, den freien Warenverkehr durch protektionistische Maßnahmen einzuschränken. Vielmehr zielten einige Länder mit Zollsenkungen für Kapitalgüterimporte, Zwischenprodukte und Nahrungsmittel darauf ab, den Handel zu intensivieren. Andere Länder senkten die Exportsteuern für ausgewählte (vor allem Agrar­)Produkte, leisteten Hilfe bei der Finanzierung der Exporte oder ergriffen im Verbund mit anderen Ländern Maßnahmen zur Handelsfinanzierung, um so die Kreditengpässe im Gefolge der Finanzkrise abzumildern.7 Auf der operativen Ebene reagierten die Regierungen Lateinamerikas auf den Ausbruch der Finanzkrise mit der Ankündigung unterschiedlichster antizyklischer Strategien, um einerseits das Vertrauen und das Funktionieren der Finanzmärkte wiederherzustellen und andererseits die geschwächte Nachfrage zu stützen.8 Die Maßnahmen variierten, je nach Betroffenheit und Kapazitäten einzelner Länder der Region. Krisen als historisches Trauma Argentiniens Um die Auswirkungen der aktuellen internationalen Finanzkrise auf Argentinien und die politische Antwort seiner Regierung zu verstehen, muss an die Geschichte des Landes mit ihren Wechseln von Phasen der Stabilität und Instabilität, Militärregimen und Demokratien, Wirtschaftsboom und Rezession erinnert wer­ den, zumal diese Erfahrungen bis heute im kollektiven Gedächtnis der Argentinier tief verankert sind. Traumatische Erlebnisse der heute lebenden Generationen 5

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Bis zur Krise konnten europäische Banken, beispielsweise die spanischen Banken Santander und BBVA, die in der Region stark engagiert waren, mit ihrem Lateinamerikageschäft die Turbulenzen in der Heimat auffangen. Dies sollte sich jedoch mit dem Ausbruch der zweiten Finanzkrise (2010/11) ändern. Vgl. Christine Mai, Lateinamerika kann Krise nicht entwischen, in: Financial Times Deutsch­ land, 5.3.2009. Vgl. Vera Eidelman, Two Cheers for Latin America, in: International Economic Bulletin, 18.3.2010. Vgl. CEPAL, La reacción de los gobiernos de las Américas frente a la crisis internacional: una presen­ tación sintética de las medidas de política anunciadas hasta el 31 de marzo de 2009, Quinta Cumbre de las Américas, Puerto España, 17­19.4.2009, Santiago de Chile. Ebd., S. 3.

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verbinden sich insbesondere mit der Hyperinflation in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die den ersten Präsidenten nach dem Rückzug der Militärs in die Kasernen, Raúl Alfonsín von der Radikalen Bürgerunion (Unión Civica Radical, UCR), 1989 zum vorzeitigen Rücktritt zwang. Insbesondere die Finanz­ und Wirtschaftskrise 2001/02, die das Land an den Rand eines Systemkollapses führte, ist trotz der erstaunlich raschen Rückkehr zu politischer Normalität und wirtschaftlichem Wachstum den meisten Argentiniern noch sehr präsent. Die Ursprünge der Krise, die das Land seit 2001/02 von den internationalen Kapitalmärkten abschneidet, reichen bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre zu­ rück, das heißt die Jahre des letzten Militärregimes. Damals wurden unter Martínez de Hoz, dem ersten Wirtschaftsminister der Militärjunta, die Grundlagen für ein marktradikales Wirtschaftsmodell gelegt, das die technologisch rückständige ar­ gentinische Industrie schutzlos der internationalen Konkurrenz aussetzte und dessen Auswirkungen trotz mehrfacher wirtschaftspolitischer Schwenks der nach­ folgenden Regierungen noch heute zu spüren sind. Argentiniens Krisenbewältigungsstrategie Als im September 2008 in den USA die Immobilienblase platzte, reagierte die Regierung Cristína Fernández mit der These, Argentinien sei immun gegen Ansteckungsgefahren, zur Beunruhigung bestehe kein Anlass. Dies sei – Ironie der Geschichte – der Isolation des Landes nach dem Zahlungsstopp 2002 und der darauffolgenden makroökonomischen Gesundung zu verdanken, die auf einer protektionistischen Politik und fehlender Bindung an die internationa­ len Finanzmärkte gründete. Die Präsidentin erinnerte ergänzend daran, dass deren wichtigste Institutionen – IWF und Weltbank – in den Krisenmonaten 2001/02 gegenüber dem Land eine harte Linie verfolgt hatten und zu keinerlei Konzessionen bereit waren. Die argentinischen Medien, die in ihrer Mehrheit in Opposition zur peroni­ stischen Regierung standen, kritisierten umgehend die offizielle Deutung der Krise und mahnten, früher oder später werde die Krise auch die lateiname­ rikanischen Länder erreichen.9 Potenzielle Gefährdungselemente waren ins­ besondere, erstens, die sinkenden Preise der Rohstoffe angesichts niedriger Wachstumsraten der Weltwirtschaft; zweitens die Abwertung des brasilianischen Real und Wirtschaftsprobleme in Brasilien, dem wichtigsten Handelspartner Argentiniens; drittens eine deutliche Verlangsamung des inländischen Wachstums, das sich gegen Ende des Jahres 2008 bereits abzeichnete; viertens der unzu­ reichende Zugang zu Kreditmöglichkeiten, um den Verbindlichkeiten durch neue Schuldenaufnahme nachkommen zu können; fünftens abnehmende Devisenreserven angesichts der Notwendigkeit, eine Abwertung des argenti­ 9

Vgl. Martin Alfrédo Becerra und Guillermo Mastrini, Crisis. What Crisis? Argentina Media in View of the 2008 International Financial Crisis, in: International Journal of Communication, Nr. 4/2010, S. 621­623.

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nischen Peso durch entsprechende Interventionen der Zentralbank abzuwehren, und sechstens zunehmende Haushaltsschwierigkeiten in den Provinzen aufgrund des Rückgangs der Mittelzuteilungen der Zentralregierung. Dass die Krise auch vor Argentinien nicht Halt machte, belegen die makroökonomischen Daten. So erreichte die Kapitalflucht 2009 eine neue Höchstmarke – eine Folge der wach­ senden Unruhe auf den internationalen Kapitalmärkten. Ungeachtet der Versicherung, dass das Land gegenüber der internationalen Finanzkrise immun sei, ergriff die Regierung eine Reihe von Maßnahmen in zen­ tralen Politikfeldern, die insgesamt dafür sorgten, dass das Land mit einem blauen Auge davon kam:10 1. Geld­ und Finanzpolitk: Die Regierung Fernández verfügte eine Reduzierung der Dollareinlagen und sorgte für eine Verringerung der Einlagen in der nationalen Währung (Peso). Sie veranlasste den täglichen automatischen Rückkauf von Titeln mit einer Fälligkeit innerhalb der nächsten sechs Monate, die die argentinische Zentralbank (BCRA) emittiert hatte. Die Zentralbank verdreifachte ihre Kreditlinie für lokale Banken. Ferner garan­ tierte die Regierung den Rücktausch jener Darlehen, die die Regierung in der Krise 2001 als Schuldscheine ausgegeben hatte. Um die nach wie vor ungebremste Kapitalflucht zu stoppen, wurden Anreize zur Repatriierung geschaffen. 2. Fiskalpolitik: Gleichwohl wurden die seit 2000 geltenden Steuerermäßigungen auf Gewinne aufgehoben. Für alle Steuerrückstände und nicht bezahlte Sozialversicherungsbeiträge, die bis 31. Dezember 2007 fällig waren, wurde ein Moratorium verhängt. Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schufen bzw. bestehende irreguläre Arbeitsverhältnisse in reguläre umwandelten, kamen im ersten Jahr in den Genuss eines (im ersten Halbjahr um 50 und im zweiten um 75 Prozent) geminderten Beitragssatzes für Sozialabgaben. Die Importsteuerermäßigung für den Kauf von Kapitalgütern wurde um ein Jahr verlängert und Bonds für lokale Hersteller von Kapitalgütern wurden ausgegeben, die als Zahlungsmittel für Steuerzahlungen verwandt werden können. 30 Prozent der Exportsteuereinkünfte der Regierung für den Sojaexport gingen fortan an die Provinzen. Landwirte hatten indes für die Ausfuhr von Weizen anstelle der bisherigen 28 lediglich 23 Prozent Exportsteuern, für die Ausfuhr von Mais anstelle der bisherigen 25 nur 20 Prozent zu zahlen. Außerdem hatten die Produzenten für jede zusätzlich produzierte Million Tonnen (gemessen am letzten Fünfjahresdurchschnitt) 1 Prozent weniger Exportsteuern zu entrichten. Für den Export von Früchten und Gemüse betrug die Ermäßigung sogar 50 Prozent. 3. Wechselkurs­ und Außenhandelspolitik: Die Devisenkontrolle wurde ver­ schärft, der Wechselkurs flexibel gehalten, Schwankungen aber lediglich in einer bestimmten Bandbreite zugelassen. So kam es zu einer Abwertung des Peso im Vergleich zum Dollar: vom 3. September bis 31. Dezember 2008 um 10 Vgl. CEPAL, La reacción de los gobiernos, a.a.O. (Anm. 7), S. 8f.

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12,5 Prozent. Ergänzend wurde die Veräußerung von im Inland gekauften öffentlichen Titeln im Ausland stärker reglementiert. Der Zoll verschärf­ te die Importkontrollen bei „sensiblen Produkten nationaler Produktion“, zum Beispiel bei Textilien, Schuhen, Produkten des metallverarbeitenden Gewerbes und Motorrädern. Außerdem wurde für eine erweiterte Liste von Produkten ein System von Lizenzen eingeführt. 4. Sektorpolitiken: Die bisherigen Sekretariate für Industrie, Handel, Klein­ und Mittelindustrie, Land­ und Viehwirtschaft, Fischfang und Nahrungsmittel wurden zu einem neuen Ministerium für Produktion (als Nachfolger des bis­ herigen Ministeriums für Wirtschaft und Produktion) fusioniert. Für den Kauf von Automobilen und dauerhaften Konsumgütern wurden Kredite bereitge­ stellt, desgleichen für die Vorfinanzierung von Exporten. Der Investitionsplan im Bereich Infrastruktur gab lokalen Produzenten von Kapitalgütern fi­ nanzielle Anreize und umfasste insbesondere die Bereiche Wohnungsbau, Krankenhäuser, Abwassersysteme und Straßenbau.11 5. Arbeitsmarkt­ und Sozialpolitik: Höchst umstritten war die von der Regierung verfügte Reform des Rentensystems. Das bislang kapitalmarktfinanzierte Sozialversicherungssystem wurde verstaatlicht, das von AFJP (Administradores de Fondos de Jubilaciones y Pensiones) verwaltete Kapitalmarktsegment auf­ gelöst. Alle bislang von AFJP eingezogenen Beiträge (in einer Größenordnung von 1,5 Prozent des BIP) werden nunmehr vom Staat verwaltet. Alle Einlagen des Pensionssystems im In­ und Ausland (ca. 10 Prozent des BIP), davon etwa die Hälfte in privater Hand bzw. im Ausland, wurden dem Staat zugesprochen. Die Sozialbeiträge der Arbeitgeber wurden für ein Jahr um 10 Prozent redu­ ziert, im Folgejahr um 5 Prozent, zudem Anreize dafür geschaffen, bislang prekäre Arbeitsverhältnisse in feste Arbeitsverträge zu überführen. Den in die­ ser Form Beschäftigten wurden fünf Jahre Rentenbeiträge gutgeschrieben.12 Rentner sollten künftig einen Rentenzuschlag von monatlich etwa 60 Dollar erhalten. Um die Binnenkonjunktur zu stärken, legte die Regierung ein 33,21 Mrd. Dollar schweres Infrastrukturprogramm auf. Dank der antizyklischen Maßnahmen wurde zu keinem Zeitpunkt die Grenze zum Minuswachstum unterschritten. Die relativ rasche Rückkehr zur Normalität und zur positiven Entwicklung der Jahre vor der Krise war mehreren Faktoren zu verdanken: zunächst der positiven Handelsbilanz, die jedoch weniger Ergebnis gestiegener Exporte als vielmehr geschrumpfter Importe und beachtlicher Devisenreserven war. Damit verfügte die Regierung über den nötigen Spielraum, den Wechselkurs zu regulieren und ausreichend Liquidität bereitzustellen. So kam es nicht zu den befürchteten Finanzierungsengpässen. Als sich 2009 die internati­ onale Wirtschaftslage verbesserte, erhöhten auch Anleger wieder ihr Engagement 11 Vgl. Fabiola Mieres, Financing for Development and the Reform of the Financial Architecture: A View from Latin America, Friedrich­Ebert­Stiftung, Dialogue on Globalization, Briefing Paper Nr. 5, Buenos Aires, April 2009. 12 Vgl. CEPAL, La reacción de los gobiernos, a.a.O. (Anm. 7), S. 8f.

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in riskantere Anlagen in Schwellenländern. Trotz seines zweifelhaften Rufes, konnte auch Argentinien von dieser neuen Aufbruchstimmung profitieren.13 Hilfreich war auch, dass Argentinien mit 29 Prozent nach Brasilien (mit 36 Prozent) die höchste Steuerquote Lateinamerikas aufweist.14 Eine solche Einkommensquelle erweist sich für den Staat insbesondere dann von unschätz­ barem Wert, wenn der Zugang zu alternativen Finanzierungsquellen eher be­ schränkt ist. Parallel zur internationalen Erholung konnte dann in der zweiten Jahreshälfte 2009 auch Argentinien wieder an frühere Wachstumsraten anknüp­ fen. Erhebliche Lohnerhöhungen und die verbesserte Inlandsnachfrage führten zu einem Anstieg der Investitionen und des Kreditangebots. In Verbindung mit den gestiegenen Weltmarktpreisen für Rohstoffe wurden damit auch die Staatseinnahmen erhöht. Der positive Wachstumstrend setzte sich auch 2010 fort. Die Investitionsraten erhöhten sich ebenso wie die Einfuhr von Kapital­ und Zwischengütern und der einheimische Konsum. Die Produktion im Automobilsektor, der metall­ verarbeitenden Industrie, im Textilsektor und Weinanbau legte zu. Auch das Steueraufkommen stieg.15 Ferner hatte die Zentralbank nach offiziellen Angaben 2010 die 2009 zur Zahlung des Schuldendienstes an private Gläubiger abgezweig­ ten Reserven längst wieder über Exportsteuern aufgefüllt. Insgesamt stützte sich die argentinische Wirtschaftspolitik auch 2010 noch auf hohe Devisenreserven, eine geringe Abhängigkeit von externer Finanzierung und die Dynamik der in­ ternen Nachfrage. Im Laufe des Jahres 2011, seit dem Amtsantritt der zweiten Regierung Fernández, begann sich das Blatt jedoch zu wenden und mehrten sich Anzeichen eines Wachstumsrückgangs. Reaktion Lateinamerikas auf die zweite Krisenwelle 2010/11 Auch auf die zweite Krise 2010/11, die ihren Fokus stärker in Europa hatte und sich zu einer Krise des Euro, wenn nicht gar der europäischen Integration aus­ zuwachsen drohte, reagierte Lateinamerika wie schon 2009 mit einer Reihe anti­ zyklischer Maßnahmen. Dank des wiedergewonnenen Wachstumspfads hielt die positive Grundstimmung auch 2011 an. Dies bezeugen die Verlautbarungen auf dem 6. Gipfeltreffen der G20 in Cannes im November 2011. Die Krise in den USA und Europa schwäche zwar das Wachstum ab, könne aber, so der gemein­ same Tenor der an diesem Treffen teilnehmenden Regierungsvertreter Mexikos, Brasiliens und Argentiniens, das Wachstum nicht substanziell gefährden. Einmal mehr verwiesen die versammelten Staatschefs auf ihre hohen Devisenreserven, 13 So fiel beispielsweise im Mai 2009 der Aufschlag auf Anleihen Argentiniens über US­Staatsanleihen um 4,6 Prozent auf 13 Prozentpunkte. Vgl. Tobias Bayer und Christine Mai, Warum Milliarden in Schwellenländer fließen, in: Financial Times Deutschland, 29.5.2009. 14 Vgl. CEPAL, Desafíos fiscales en la crisis, Santiago de Chile, 2009. 15 So wurde etwa im Juni 2010 ein um 39,4 Prozent höheres Steueraufkommen registriert als im Ver­ gleichsmonat des Vorjahres. Vgl. o.V., El marco internacional y la recuperación de Argentina, Coyun­ tura y Desarrollo Nr. 330, S. 7, 30.7.2010, Buenos Aires.

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ihre gesunden Banken und eine Reihe antizyklischer Maßnahmen für den Fall, dass sich die Krise verschärfen sollte: im Falle Chile etwa Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung und Erhöhung staatlicher wie privater Investitionen; in Brasilien Steuer­ und Zinssenkungen sowie Konsum­ und Investitionsanreize. In Argentinien kündigte Fernández eine Kürzung der bisherigen Subventionen für den Energieverbrauch an, wobei jedoch offen blieb, wie dies mit dem gleichzei­ tigen Wunsch der Regierung, die bisherige Konsumlust der Argentinier nicht zu beeinträchtigen, vereinbar wäre.16 Prognosen des IWF bestätigten diesen Optimismus. Danach könne die Region für 2012 mit 3,7 und für 2013 mit 4,1 Prozent Wirtschaftswachstum rechnen (im Vergleich 2011: 4,5 Prozent).17 Dieses Wachstum werde allerdings von al­ ternativen Märkten im Rahmen der stark wachsenden Süd­Süd­Kooperation getragen und habe seinen geografischen Schwerpunkt im pazifischen Raum. Chiles Staatschef Sebastián Piniera versicherte, dass „das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Lateinamerikas und der Karibik“ sei. Etwas bescheidener sprach Felipe Calderón, damaliger Präsident Mexikos, vom „Jahrzehnt Lateinamerikas“.18 Mit der Zuspitzung der Euro­Krise meldeten sich jedoch seit Jahresbeginn 2012 in lateinamerikanischen Politikerkreisen und Medien vermehrt Stimmen zu Wort, die den bisherigen Optimismus dämpften und warnend auf das durch die Finanz­ und Wirtschaftskrise in Griechenland, Spanien und Italien erheblich eingetrübte weltweite Wirtschaftsklima verwiesen.19 Ansteckungsgefahr drohe Lateinamerika insbesondere an der Kreditfront. Falls der internationale Kredithahn zugedreht würde, war es in der Tat mehr als fraglich, ob die bisherigen antizyklischen Maßnahmen zur Krisenbekämpfung ausreichten. Schlechtere Aussichten für Argentinien Nach offiziellen Angaben wuchs das argentinische BIP zwar auch 2011 erneut um 8,5 Prozent, ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr (9,2 Prozent). Unabhängige Quellen bezifferten jedoch das Wachstum nur zwischen 5,8 und 6,5 Prozent.20 Die Regierung Fernández, die bei den Präsidentschafts­ und Kongresswahlen im Oktober 2011 die absolute Mehrheit gewinnen konnte, hatte im Wahljahr die expansiven Politiken beibehalten, um ein Übergreifen der Finanzkrise auf Argentinien zu bekämpfen. Dabei erwies sich der Dienstleistungssektor als dynamischer als der Fertigwarensektor, wenngleich auch dieser in den ersten neun 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Fondo Monetario Internacional (FMI), Perspectivas de la economía mundial. Reanudación del crecimiento, peligros persistentes, Washington, DC, April 2012. 18 Vgl. Rogelio Nuñez, América Latina apuesta de nuevo por las medidas anticíclicas, in: infolatam, 6.12.2011. 19 Vgl. Rogelio Nuñez, América Latina ante el agravimiento de la crisis de la EU, in: infolatam, 28.5.2012. 20 Vgl. Alejandra Rebossio, Que pasa con Argentina, Chile, Peru, Cuba y Dominicana?, in: El País, 7.1.2012, S. 2.

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Monaten 2011 gegenüber dem Vorjahr um 7,7 Prozent zulegte. Davon profi­ tierten in erster Linie der Automobilsektor – und hier die Exporte nach Brasilien. Ein Rückgang war demgegenüber im Agrar­ und Bergbausektor zu verzeichnen. Die Regierung griff zudem, wie schon 2010, auf die Reserven der Zentralbank und die Einlagen der Pensionskassen zurück, um die Haushaltslage zu verbessern. Kurz nach ihrem Wahlerfolg vom Oktober 2011 kündigte Fernández schließ­ lich die Streichung der bisherigen Subventionen für Strom und Gas für einige Wirtschaftssektoren und Haushalte mit mittlerem und hohem Einkommen an. Um den Anstieg der Kapitalflucht, die sich 2011 auf zehn Mrd. Dollar belief, zu bremsen, ergriff die Regierung im November 2011 Maßnahmen, die den Kauf von Devisen kontrollieren sollten. Des Weiteren verpflichtete sie die internatio­ nalen Öl­ und Bergwerksunternehmen, so den spanischen Ölkonzern REPSOL, ihre Exportgewinne auf dem lokalen Markt auszugeben, Importe zu annullieren und ihre Gewinnüberweisungen ins Ausland aufzuschieben. Diese Maßnahmen sollten im Verbund mit dem Anstieg der Zinsen eine Abwertung des Peso verhin­ dern. Ungeachtet dessen verlor die Zentralbank jedoch in diesem Jahr 10 Prozent ihrer Reserven, obwohl diese nach dem Urteil der CEPAL immer noch beträcht­ lich waren.21 Für 2012 prognostizierte das private Consultant­Unternehmen Consensus Economics lediglich noch ein Wachstum von 3,5 Prozent, die Bank JP Morgan Chase sogar nur noch 1 Prozent. Im Juni 2012 korrigierte auch die Weltbank ihre Wachstumsprognose für Argentinien von 3,8 auf 2,2 Prozent herab.22 CEPAL hingegen erwartet 5 Prozent; selbst unter dieser optimistischen Annahme würde sich das Haushaltsdefizit auf 1,3 Prozent des BIP erhöhen. Insgesamt – so die CEPAL­Projektion – würde sich die wirtschaftliche Abkühlung im Gefolge der sich verschlechternden Weltkonjunktur 2012 fortsetzen. Gleichwohl ermögliche der 2011 erreichte Haushaltsüberschuss (von 1,2 Prozent) auch 2012 weitere an­ tizyklische Maßnahmen.23 Bilanz und Perspektiven Von den beiden jüngsten Finanzkrisen war Lateinamerika vor allem mittelbar betroffen. Hier erwies es sich als Vorteil, dass die Banken der Region vornehm­ lich in das Wachstum der eigenen Volkswirtschaften investiert hatten, statt sich an faulen US­Immobilienkrediten zu beteiligen. Auch erwies es sich als Segen, dass die Bankensysteme wenig in die globale Finanzspekulation integriert wa­ ren und der Kontinent somit von spektakulären Bankenpleiten und staatlichen Rettungsaktionen verschont blieb.24 Stattdessen trafen die Finanzkrisen die ex­ 21 Vgl. ebd. 22 O.V., Banco Mundial afirma que Brasil y Argentina frenan crecimineto en América Latina, in: infola­ tam, 13.6.2012. 23 Vgl. Alejandra Rebossio, Que pasa con Argentina, a.a.O. (Anm. 20), S. 3. 24 Vgl. Anna Naab, Lateinamerika und die Auswirkungen der Finanzkrise, Centrum für Angewandte Politikforschung , München, 2.2.2009, S. 4.

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portabhängige Region durch Nachfragerückgang und Preisverfall bei Rohstoffen sowie durch den Rückgang der Auslandsinvestitionen und der Überweisungen von im Ausland lebenden Lateinamerikanern. Mittelfristig kann dies zu innenpolitischen Spannungen und verschärften sozia­ len Verteilungskämpfen führen, da den Staaten nunmehr die Mittel für eine aktive Sozialpolitik fehlen. Auch Energiekonflikte sind angesichts der ungleich verteilten Energiereserven in der Region und der Notwendigkeit zur Kooperation auf die­ sem Gebiet nicht auszuschließen. Insgesamt dürfte das Regieren in Lateinamerika angesichts einer geschrumpften Verfügungsmasse, einmal mehr, schwieriger werden. Aus der Krise kann jedoch auch gelernt werden, hat sie doch den lateinameri­ kanischen Regierungen deutlich vor Augen geführt, wie wichtig ein solides ma­ kroökonomisches Management für die Krisenbewältigung ist. Dies allein genügt jedoch nicht, zumal die Krise auch den erheblichen Wettbewerbsrückstand der Region sichtbar gemacht und verdeutlicht hat, dass gesunde Makropolitiken und deren positive Resultate allein nicht gegen die Krise immunisieren. Die wichtigste Lehre, die sich schon aus den lateinamerikanischen Erfahrungen der 1980er Jahre ableiten lässt, ist, dass man rund ein Jahrzehnt benötigte, um die Schuldenkrise zu überwinden und dass dies nicht mit antizyklischen Politiken gelang, sondern mit Strukturreformen, die den Produktivitäts­ und damit Wettbewerbsrückstand minderten. Das einzige, was man mit antizyklischen Politiken erreicht, ist die notwendigen Strukturreformen zu verschieben. Nach Moisés Naím, dem ehema­ ligen venezolanischen Handels­ und Industrieminister, lautet eine wichtige Lehre aus der Krise, anstelle von Teillösungen, wie Haushaltskürzungen und Austerität, Paketlösungen mit einer ausgewogenen Kostenverteilung vorzusehen. Dies sei die eigentliche Lehre aus den lateinamerikanischen Krisen der vergangenen Jahrzehnte.25 Für eine Post­Krisen­Agenda der Wirtschaftspolitik sind zwar weiterhin ein dauerhaft ausgeglichener Haushalt sowie ein regulierter Banken­ und Finanzsektor geboten. Gefordert sind nunmehr aber ein besser ausbalanciertes, auf exter­ ner und interner Nachfrage basierendes Wachstum sowie Exporte, die nach Produktarten und Märkten stärker differenziert sind, um die Verwundbarkeit gegenüber externen Schocks zu verringern.26 Reformen sollten auf den erwei­ terten Zugang zu Bildung und berufsbegleitende Ausbildung, eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, eine aktive Industrie­ und Technologiepolitik und auf die Erhöhung der Frauenquote auf dem Arbeitsmarkt setzen.27 Was den argentinischen Fall betrifft, so geben die jüngsten Entwicklungen wenig Anlass zu Optimismus. Argentinien hat zwar theoretisch die Chance, sei­ ne Wettbewerbsvorteile im agro­industriellen und agro­energetischen Bereich 25 Vgl. Rogelio Nuniez, América Latina dicta en economía a Europa, in: infolatam, 21.11.2011. 26 Vgl. Alejandro Foxley, Recovery: The Global Financial Crisis and Middle­Income Countries, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC 2009, S. vii und 10­12. 27 Vgl. ebd., S. 17­21.

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konstruktiv zu nutzen. Der Nachteil dieser Strategie ist jedoch, dass sie wenige Arbeitsplätze schafft. Zwar hat die Regierung Fernández in Reaktion auf die Internationalisierung der Finanzkrisen eine Reihe ambitionierter Maßnahmen ergriffen, die insgesamt und im Verbund mit einigen günstigen externen Rahmenbedingungen (so die nach wie vor starke Ressourcennachfrage Chinas) dafür sorgten, dass das Land von den internationalen Turbulenzen bis in die erste Jahreshälfte 2011 relativ verschont blieb. Mit dem Ausbruch der zweiten Welle der Finanzkrise in den USA und Europa wurde jedoch auch den regierenden Peronisten zunehmend deutlich, dass die Ansteckungsgefahr keineswegs gebannt war, zumal zahlreiche interne Probleme die Phase der Wiedererholung überdauert hatten und nunmehr, verstärkt durch die verschlechterten externen Kontextfaktoren, einer Lösung harren. Zu ihnen zählt die ungebremste Inflation, die nach seriösen Schätzungen nicht, wie von der Regierung behauptet, bei ca. 10 Prozent liegt, sondern zwischen 20 und 25 Prozent. Weitere Zeitbomben, die in Zukunft hochzugehen drohen, sind der Rückgang des Umfangs und Werts der Währungsreserven, die Höhe der Zinsen und die Entwicklung des Wechselkurses. Nach seriösen Schätzungen sind die Devisen, zieht man die fälligen Verbindlichkeiten ab, in den vergangenen Monaten von rund 47 Milliarden auf zehn Milliarden zurückgegangen, als Folge sinkender Nachfrage aus China und den krisengebeutelten USA und der EU sowie (vom Gesetz nicht gedeckter) Entnahmen aus dem Devisenbestand der Zentralbank seitens der Regierung. Hinzu gesellte sich in jüngster Zeit – als Reaktion auf die von der Regierung im Dezember 2011 verfügten Beschränkungen auf dem Devisenmarkt – ein sich beschleunigender Abzug von Dollar­Guthaben durch die argentinischen Bürger, deren „Depot“ zu Hause bzw. ihr Transfer ins Ausland – weil ihr Vertrauen in die heimische Währung, den Peso, schwindet: „Offiziell verzeichnete die Zentralbank [2011] Abflüsse von 10,2 Mrd. Dollar – 2010 hatte es noch Zuflüsse von fast drei Mrd. Dollar gegeben.“28 Einmal mehr in der argentinischen Geschichte flüchten die Bürger angesichts einer anhaltend hohen Inflation in den Dollar und sichere Anlagemöglichkeiten im Ausland. Während die Regierung das Festhalten am Dollar als gesellschaftliche Krankheit verurteilt, verschweigt sie, dass der argen­ tinische Peso seit 1970 13 Nullen an Wert verloren hat, die Flucht aus der loka­ len Währung somit durchaus rationale Züge aufweist. „Vielleicht“, so bemerkte hierzu die Tageszeitung La Nación am 3. Juni 2012 sarkastisch, „ist das Problem weniger der Patient als der Arzt“.29 Die jüngst zum Schutz der nationalen Industrie verfügten massiven Importbeschränkungen der Regierung Fernández lassen zudem Erinnerungen an die Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung der 1950er und 1960er 28 Vgl. Hildegard Stausberg, Cristina Kirchner treibt Argentinien in den Abgrund, in: Welt Online, 13.4.2012, (abgerufen am 20.7.2012). 29 Fernando Laborda, El dólar, la hipocrécia oficial y la sociedad enferma, in: infolatam, 3.6.2012.

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Jahre aufkommen. Nach Berechnungen der EU führten diese Beschränkungen im Jahr 2011 zu Exporteinbußen der EU in Argentinien im Wert von 500 Mio. Euro,30 was Brüssel zum Anlass für eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation (WTO) nahm. Auch in anderen Politikfeldern hat sich Argentinien isoliert – in Folge einer Außenpolitik, die sowohl unter der Präsidentschaft Nestor Kirchners wie der seiner Ehefrau Cristína Fernández de Kirchner sich durch einen hohen Grad an Volatilität, Rigidität und innenpolitischer Instrumentalisierung auszeichnet.31 Mit der überfallartigen Nationalisierung des spanischen Erdölunternehmens REPSOL im April 2012 hat Fernández weiteres außenpolitisches Porzellan zerschlagen.32 Das Dilemma der argentinischen Ökonomie besteht darin, ein Entwicklungsmodell zu definieren, das hohe und dauerhafte Wachstumsraten, eine stärkere Integration in den Welthandel durch eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und die Privilegierung arbeitsplatzschaffender Aktivitäten als politische Prioritäten vorsieht. Trotz gebetsmühlenartiger Beschwörung des „argentinischen Modells“ von Wachstum und sozialer Inklusion steht ein derar­ tiges Modell nach wie vor aus.33

30 Associated Press, 25.5.2012. 31 Vgl. Einzelheiten hierzu: Klaus Bodemer, Politik ohne Kompaß? Argentinische Außenpolitik im letz­ ten Jahrzehnt, in: Birle, Bodemer und Pagni, Argentinien heute, a.a.O. (Anm. 1). 32 Vgl. Carlos Malamud, La expropiación de YPF y América Latina, in: infolatam, 22.4.2012. 33 Vgl. Klaus Bodemer, Das argentinische Hegemonieprojekt „K“. Von Erfolg zu Erfolg, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 11, Hamburg 2011.

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Wetterleuchten in Australien Heribert Dieter Die 2008 einsetzende globale Wirtschafts­ und Finanzkrise, Down Under als GFC (Global Financial Crisis) bezeichnet, war aus australischer Perspektive eher ein Wetterleuchten als ein dramatischer Einbruch. Australien hat die Krise besser bewältigt als fast alle anderen OECD­Staaten. Eine Kombination von anhaltend hoher Inlandsnachfrage, geringem Engagement in der ameri­ kanischen Immobilienfinanzierung und robuster Nachfrage nach Australiens Rohstoffexporten haben dem Land geholfen, die globale Krise gut zu überstehen. Die weiteren Perspektiven der australischen Entwicklung sind dennoch nicht ungetrübt. Australien ist sehr stark von der Fortsetzung zweier Trends abhängig. Erstens setzt das Land auf das Anhalten der seit etwa zehn Jahren währenden Hochpreisphase bei Rohstoffen. Ein Rückgang der Rohstoffpreise würde die australische Wirtschaft empfindlich treffen. Zweitens würde Australien sehr un­ ter einer Korrektur der hohen Immobilienpreise leiden. Anders als in den USA, Spanien oder Irland hält die Boomphase bei australischen Immobilien noch im­ mer an. Ein Rückgang des Preisniveaus, möglicherweise ausgelöst durch einen Rückgang der Preise für australische Rohstoffexporte, würde die gefährlich hohe Verschuldung der australischen Privathaushalte deutlich werden lassen. Um die australische Entwicklung zu verstehen, sind folgende zentrale Problemfelder aufschlussreich: die Sozial­ und Bildungspolitik, die Wirtschafts­ und Finanzpolitik und aktuelle Charakteristika des politischen Systems. Zukunftsorientierte Sozial- und Bildungspolitik Australiens Sozial­ und Bildungspolitik weist erhebliche Unterschiede zum konti­ nentaleuropäischen Verständnis eines Wohlfahrtstaats auf. Die sozial­ und christ­ demokratisch geprägte Sozialstaatstradition europäischer Prägung – gekennzeich­ net durch obligatorische Systeme sozialer Sicherung für alle Einkommensgruppen – war in Australien nie sonderlich populär. Vor allem in der Sozialpolitik gibt es keine Förderung der Mittelschicht, sondern die Maßnahmen der Regierung rich­ ten sich in erster Linie an die Bedürftigsten. Besonders deutlich wird dies in der

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Rentenpolitik, wo neben der steuerfinanzierten niedrigen Grundrente auf private Vorsorge gesetzt wird. Das Ziel dieser Politik war und ist, die Steuerlast möglichst niedrig zu hal­ ten, und diese Politik wurde von den australischen Gewerkschaften unter­ stützt. Damit ist es den australischen Regierungen tatsächlich gelungen, die Besteuerung von Arbeitseinkommen im OECD­Vergleich niedrig zu halten. 2010 betrug die Steuerlast für einen Durchschnittsverdiener, einschließlich der Arbeitnehmer­ und Arbeitgeberanteile an der Sozialversicherung, in Australien nur 26,2 Prozent der Arbeitskosten. Das liegt deutlich unter dem OECD­ Mittelwert von 34,9 Prozent und ist nur wenig mehr als die Hälfte des Wertes für Deutschland (49,1 Prozent).1 Für die Vermarktung Australiens gegenüber potenziellen Einwanderern ist dieses Charakteristikum nützlich und hilfreich. Andererseits erwartet der aus­ tralische Staat eigenverantwortliches Handeln und sieht sich nur bedingt in der Verantwortung, etwa für die Finanzierung von Bildung. Eine durchschnittlich verdienende Familie zahlt in Australien zwar geringe Steuern, dafür aber hohe Schul­ und Studiengebühren. Insbesondere in der Alterssicherung hat die private Vorsorge einen hohen Stellenwert. Das australische Rentensystem basiert auf drei Säulen. Die erste und schwächste ist das staatliche Rentensystem. Die staatliche Altersrente sorgt für eine Minimalversorgung ohne Berücksichtigung früherer Einzahlungen. Ab 2014 wird das Eintrittsalter einheitlich bei 65 Jahren liegen, um dann im fol­ genden Jahrzehnt weiter zu steigen. Die zweite Säule, die so genannte superan­ nuation, basiert auf Zahlungen der Arbeitgeber, die 9 Prozent des Bruttolohns eines Arbeitnehmers an die Rentenversicherung abführen müssen. Diese Pension basiert nicht auf einem Umlageverfahren (die Renten werden von den aktuell Beschäftigten gezahlt), sondern es wird eine individuelle Ansparsumme gebildet. Die dritte Säule sind darüber hinausgehende private Maßnahmen, etwa der Kauf eines Eigenheims, das idealerweise bis zum Eintritt des Rentenalters schuldenfrei sein sollte. Gegenwärtig erhalten 80 Prozent aller Menschen im Rentenalter die staatli­ che Altersrente, deren Höhe unter Berücksichtigung des Einkommens und von Vermögenswerten festgesetzt wird. Mit anderen Worten: Diejenigen Pensionäre, die über eigene Ersparnisse verfügen, bekommen keine staatliche Rente. Das selbst genutzte Eigenheim wird aber nicht als Vermögen berücksichtigt. Schon seit einigen Jahren versucht die Regierung, Rentenempfänger zu ermutigen, ihre Renten durch Erwerbstätigkeit zu ergänzen.2 Die australische Regierung folgte vergleichbaren Entscheidungen in anderen OECD­Ländern und beschloss 2009, aus guten Gründen das Renteneintrittsalter

1 2

OECD Factbook 2011/2012, S. 261, (abgerufen am 24.7.2012). Vgl. Australian Bureau of Statistics, Year Book Australia 2008, S. 283.

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von 65 auf 67 Jahre ab 2023 anzuheben.3 Das Rentensystem des Landes musste der steigenden Lebenserwartung angepasst werden,4 trotz vergleichsweise günstiger demografischer Entwicklung – Australien weist sowohl eine hohe Geburtenrate als auch die anhaltende Zuwanderung junger, qualifizierter Menschen auf. Australiens Bildungssystem setzt ebenso in erheblichem Maße auf private Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter und auf Privatschulen. Rund ein Drittel der Schülerinnen und Schulen besucht eine Privatschule. Sowohl konfessionelle als auch nichtkonfessionelle Träger übernehmen gegen statt­ liche Gebühren die Bildung australischer Kinder. Die renommiertesten Schulen verlangen heute oft mehr als 25 000 australische Dollar (AUD) pro Jahr und Kind. Sydneys Kambala­Schule verlangt Gebühren von im Schnitt 26 172 AUD, während die teuerste Schule des Landes, Geelong Grammar, Gebühren von 27 700 AUD verlangt. Allerdings liegen die Gebühren auch bei weniger renom­ mierten Schulen selten unter 15 000 AUD pro Jahr.5 Die Universitäten hingegen sind zumindest formal gesehen in staatlicher Trägerschaft. Aber auch hier waren in den vergangenen 15 Jahren ein deutlicher Rückgang der staatlichen Zuwendungen und eine Zunahme des Anteils privater Mittel zu verzeichnen. Die australische Universitätslandschaft hat sich in den ver­ gangenen 40 Jahren in zweierlei Hinsicht radikal verändert. Die erste Zäsur war die Öffnung der Hochschulen für ein breiteres Publikum. Vor dieser Öffnung waren die Bundesstaaten für die Universitäten verantwortlich, und nur eine kleine Minderheit konnte die Hochschulen besuchen, die zudem noch Studiengebühren verlangten. In den frühen 1950er Jahren studierten gerade einmal 30 000 Personen in Australien. Heute studieren mehr als eine Million Menschen an aus­ tralischen Universitäten. Die zweite Zäsur war die Internationalisierung und die damit einherge­ hende Kommerzialisierung der Hochschulen seit den späten 1980er Jahren. Universitäten werden zunehmend als Wirtschaftsunternehmen verstanden, die Absolventen mit einem hohen Maß an Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt produzieren sollen. Gleichzeitig werden immer mehr asiatische Studierende angeworben, die zum einen hohe Gebühren zahlen müssen und zum ande­ ren durch ihr im Vergleich stark an Nützlichkeitserwägungen orientierten 3

4

5

Die Begründung für die Verkürzung des Rentenbezugs ist aus Debatten in anderen Ländern bekannt. Während Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts fünf Personen im erwerbsfähigen Alter einen Rentner zu versorgen haben, werden in Australien im Jahr 2047 nur noch 2,4 Menschen zur Versor­ gung eines Rentners zur Verfügung stehen. Vgl. die Rede des australischen Finanzministers Lindsay Tanner vom 27.8.2009, (abgerufen am 24.7.2012). 1909 betrug die mittlere Lebenserwartung eines Mannes in Australien lediglich 55 Jahre. Diejeni­ gen, die das Renteneintrittsalter erreichten, konnten im Schnitt elf Jahre lang eine Rente beziehen. 100 Jahre später erreichen 85 Prozent der männlichen Bevölkerung das Renteneintrittsalter und kön­ nen durchschnittlich 19 Jahre lang Rente beziehen. Vgl. ebd. Vgl. The Australian, Top Private Schools Lift Fees by 6 pc, 5.1.2010, (abgerufen am 24.7.2012).

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Erwartungen an die Universität zur allmählichen Entpolitisierung der austra­ lischen Hochschulen beitragen. Das Ideal einer umfassenden, breiten Bildung trat mit diesem zweiten Strukturbruch in den Hintergrund, der Erwerb von Fertigkeiten für das Berufsleben trat in den Vordergrund. Australiens Bildungsindustrie ist in den vergangenen 20 Jahren ein weltweit erfolgreich operierender Anbieter von Bildungsdienstleistungen geworden. Der Anteil der Einnahmen aller australischen Universitäten aus Studiengebühren von Ausländern stieg von 6,5 Prozent Mitte der 1990er Jahre auf 15 Prozent im Jahr 2006 an.6 Im Jahr 2009 nannte die Rekordzahl von 411 251 Besuchern Bildung als Hauptgrund für ihre Reise nach Australien. Diese in der australischen Statistik als Bildungsbesucher geführte Gruppe gab 6,1 Mrd. Dollar aus, was mehr als einem Drittel der Gesamtausgaben von Touristen in Australien entspricht.7 Risikoreiche Entwicklung der Wirtschaft In der Sozial­, Bildungs­, aber auch in der Finanzpolitik wird in Australien die Bedeutung einer nachhaltigen Politik betont. Beispielsweise haben es die austra­ lischen Regierungen geschafft, die staatlichen Schulden auf ein bemerkenswert niedriges Niveau zu senken. Umso überraschender ist es, dass die australische Wirtschaft einen wenig nachhaltigen Kurs verfolgt und einseitig auf das Anhalten des Rohstoffbooms setzt. Die australische Volkswirtschaft hat seit der Überwindung der letzten schwe­ ren Wirtschaftskrise in den Jahren 1990/91 eine lang anhaltende Phase ho­ hen Wachstums durchlaufen. In diesem nun schon über 20 Jahre währenden Boom stieg der Lebensstandard schneller als in anderen OECD­Ländern, die Arbeitslosigkeit sank auf ein Rekordtief und die Staatsverschuldung bewegte sich auf sehr niedrigem Niveau.8 Ähnlich wie in den USA und Großbritannien spielten jedoch auch Übertreibungen auf dem Immobilienmarkt für den Aufschwung eine zentrale Rolle. Zugleich hat Australien den Boom durch eine hohe Kreditaufnahme im Ausland finanziert. Australiens Wachstum fußte auf einer stetig hohen, zuneh­ mend kreditfinanzierten Binnennachfrage und, insbesondere in diesem Jahrzehnt, auf einer extrem hohen Nachfrage nach australischen Primärgütern, vor allem mineralischen Rohstoffen. Galt die australische Wirtschaft wegen der großen Bedeutung von Rohstoffexporten ehedem als rückständig, so machte sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts eine Art neuer Goldrausch breit. Der fünfte Kontinent hat vom Boom der Rohstoffpreise wirtschaftlich besonders profitieren können, da er über enorme Reserven an mineralischen Rohstoffen verfügt. Gold, Diamanten, 6 7 8

Vgl. OECD, Economic Outlook Australia 2008, S. 90. Vgl. Australian Government, Tourism Industry, Facts and Figures, Mai 2010, S. 25, (abgerufen am 24.7.2012). Vgl. OECD, Economic Survey Australia 2010, S. 11f.

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Mineralsände, Kupfer, Blei, Eisenerz, Bauxit, Öl und Gas werden in Australien gefördert. Das Land verfügt über 12 Prozent der bekannten Vorkommen von Eisenerz. Auch bei Blei (13 Prozent), Bauxit (12 Prozent) und Zink (10 Prozent) sind vergleichbar hohe Reserven zu verzeichnen.9 Zudem hat Australien große Vorkommen an Steinkohle und Uran. In den vergangenen Jahren wurden immer mehr Gaslagerstätten an den Küsten Australiens erschlossen. Die Gasvorkommen im Nord­West­Festlandssockel gehören zu den größten der Welt. Nahezu alle Rohstoffe, die Asiens rasch wachsenden Volkswirtschaften benötigen, kommen in Australien vor (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Rohstoffvorkommen und -exporte im Fiskaljahr 2008/09 Rohstoff

Exporte (in Mrd. AUD)

Anteil an Rohstoffexporten

Ergiebigkeit der bekannten Lagerstätten

(in %)

(in Jahren)

Weltranglistenplatz*

Steinkohle

54,7

33,9

90

6

Eisenerz und Stahl

35,6

22,0

70

3

Gold

16,1

10,0

30

2

Aluminium

10,9

6,8

85

2

LNG (Flüssiggas)

10,1

6,2

60

14

Rohöl

8,8

5,4

10

k.A.

Kupfer

5,9

3,6

85

2

Nickel

2,7

1,6

130

1

Zink

1,9

1,2

35

1

Mangan

1,4

0,9

20

4

Uran

1,0

0,6

125

1

12,5

7,8

/

/

161,6

100,0





Andere Gesamtexporte

* Position Australiens im Vergleich zu den Vorkommen anderer Länder. Quelle: OECD, Economic Survey Australia 2010, S. 44.

Während sich die Rohstoffpreise in den vier Dekaden vor 2000 auf einem niedrigen Niveau bewegten, stiegen sie in den letzten zehn Jahren deutlich an. Die australischen „terms of trade“ bewegten sich von 1959 bis 2000 in einem relativ schmalen Band mit Indexwerten zwischen 80 und 120 (1959 = 100). Im Jahr 2010 ist der Wert aber auf den historischen Rekord von über 170 gestiegen.

9

Vgl. The Economic Intelligence Unit, Country Profile Australia 2008, S. 17.

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Vereinfachend gesagt bedeutet dies, dass Australien immer weniger Rohstoffe für die gleiche Menge von Industriegüterimporten exportieren muss.10 Es stellt sich indes die Frage, ob der Rohstoffpreisboom anhalten wird. Historisch gesehen sind Rohstoffpreise stets stark schwankend und von einem längerfristigen Preisverfall geprägt gewesen. Seit den 1950er Jahren sind Preise für Metalle im Schnitt um 1,6 Prozent pro Jahr gefallen. Dieser Trend wurde zwar in der ersten Dekade des 21. Jahrhundert gebrochen, doch ist zu fragen, ob dies eine dauerhafte Wende oder eine durch mehrere Faktoren auf der Nachfrage­ und Angebotsseite hervorgerufene Ausnahmesituation ist. Zwei Faktoren könnten für einen Preisabschwung sorgen, der Australien empfind­ lich treffen würde. Erstens sind die Vorkommen der meisten Metalle enorm, und Knappheit besteht nicht wegen zu geringer Vorkommen, sondern we­ gen temporär zu geringer Förderkapazität. Die hohen Rohstoffpreise haben schon zu massiven Neuinvestitionen, vor allem in Afrika, Lateinamerika und Australien, geführt. Die zu erwartende Ausweitung des Angebots an minera­ lischen Rohstoffen und Metallen wird vermutlich zu fallenden Preisen füh­ ren. Zweitens sorgen die hohen Rohstoffpreise für die Entwicklung neuer, alternativer Technologien. Ein Beispiel ist der Ersatz von Kupferkabeln durch Glasfaserkabel, für deren Herstellung man im Wesentlichen nur den praktisch in unbegrenzter Menge verfügbaren Quarzsand benötigt. Auch im Bereich von Energierohstoffen wird in den Industrieländern mit Hochdruck an neuen Technologien und Einsparmöglichkeiten gearbeitet. Diese zwei Faktoren lassen mittelfristig die Rückkehr zur alten Tendenz der fallenden Rohstoffpreise wahr­ scheinlich werden.11 Auf eine mögliche Korrektur der Rohstoffpreise ist die australische Volkswirtschaft nur unzureichend vorbereitet. Unter dem Rohstoffboom haben sowohl die verarbeitende Industrie als auch die Tourismusbranche stark gelitten. Ein Faktor sind die hohen im Bergbau gezahlten Löhne, die Arbeitskräfte aus der Industrie abwandern lassen. Allerdings ist der Boom genutzt worden, um die australischen Staatsfinanzen zu sanieren. Australien unterscheidet sich von einigen rascher gewachsenen OECD­ Ländern – etwa Großbritannien, Island, Irland, Griechenland und Ungarn – vor allem dadurch, dass das Wachstum von einer extrem restriktiven Fiskalpolitik begleitet wurde. Während zahlreiche andere OECD­Länder im Boom die Staatsausgaben steigerten, hat die Regierung des von 1996 bis 2007 amtierenden Konservativen John Howard die Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs zum Abbau der Staatsverschuldung genutzt. Damit hat sich die Regierung selbst in die Lage versetzt, in einer Krise massiv die Nachfrage zu steigern. Erst die drastische Reduzierung der staatlichen Defizite unter der Vorgängerregierung versetzte die Labor Party dann später in die Lage, mit großzügigen Ausgabenprogrammen von 2008 an auf die Wirtschaftskrise zu reagieren (siehe Tabelle 5). 10 Vgl. OECD, Economic Survey Australia 2010, S. 24. 11 Vgl. ebd, S. 44.

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Tabelle 5: Entwicklung der australischen Staatsverschuldung 2004 Saldo der öffentlichen Haushalte

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

1,8

2,0

2,3

1,8

-0,8

-4,5

-4,7

-3,9

16,8

16,3

15,6

14,5

13,8

19,4

23,5

26,6

(in % des BIP)

Verschuldung der öffentlichen Hand (in % des BIP)

Quelle: OECD, Economic Outlook 91 Database, Tabellen 27 und 32.

Gerade angesichts der anhaltenden Schuldenkrise in Europa ist der austra­ lische Fall bemerkenswert. Während in der EU schon die Verringerung des staatlichen Finanzierungsdefizits als brutale Finanzpolitik charakterisiert wird, hat es Australien geschafft, hohes Wirtschaftswachstum mit sparsamer Haushaltspolitik und Budgetüberschüssen zu verbinden. Selbst nach den kredit­ finanzierten Konjunkturprogrammen seit dem Jahr 2008 bewegt sich die staatli­ che Gesamtverschuldung noch auf sehr niedrigem Niveau. Die Sparpolitik der Regierung Howard hatte hingegen auch erhebliche Nach­ teile. Vor allem in den Bereichen Bildung, öffentliche Verkehrssysteme und Infrastruktur weist Australien auch als Folge der Einsparungen heute erhebliche Defizite auf. Die Universitäten sind auf die Anwerbung von hohe Studiengebühren entrichtenden Ausländern angewiesen. Die öffentlichen Verkehrssysteme der großen Städte hinken weit hinter europäischen und inzwischen auch asiatischen Standards her. Dies gilt auch für die Verkehrswege zwischen den Metropolen. Die Steigerung der Leistungsfähigkeit der Infrastruktur ist eine der großen Herausforderungen für die australische Politik in den kommenden Jahren. Deutlich problematischer ist die Entwicklung der privaten Verschuldung im In­ und Ausland. Dies ist die wirtschaftliche Achillesferse Australiens. Über kurz oder lang wird die hohe Verschuldungsposition mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Wirtschaftskrise führen. Der verlässlichste Einzelindikator für die Gefahr einer Finanzkrise ist der Zuwachs von Krediten. Eine deutliche Zunahme der Verschuldung des privaten Sektors zu ignorieren ist für die Wirtschaftspolitik eines Landes gefährlich.12 In Island, Spanien und den USA hat man den Anstieg der durch ausländische Kredite finanzierten privaten Verschuldung nicht verhindert, und Australien läuft Gefahr, den gleichen Fehler wie diese Länder zu machen. Die umfangreichen Kapitalzuflüsse führten zu einem großen Angebot an bil­ ligen Krediten. Auf dem Immobilienmarkt hat sich eine Preisblase entwickelt. Hypotheken auf Immobilien wurden lange in erheblichem Maße direkt zur Finanzierung des Konsums eingesetzt. Mit dem Anstieg der Hauspreise ging die Sparquote deutlich zurück. Von 2003 bis 2005 war diese Quote negativ, das heißt, 12 Vgl. Moritz Schularick und Alan M. Taylor (2009), Credit Booms Gone Bust: Monetary Policy, Leve­ rage Cycles and Financial Crises, 1870–2008, NBER Working Paper Nr. 15512, 2009, S. 29.

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dass australische Privathaushalte mehr Geld ausgaben als sie einnahmen.13 Die Verschuldung der Haushalte ist drastisch angestiegen. Im Jahr 1985 lag sie im Verhältnis zum Jahreseinkommen bei lediglich 41 Prozent. Bis zum März 2010 war dieser Wert auf durchschnittlich 157,2 Prozent gestiegen und hatte sich damit nahe­ zu vervierfacht. Hauptursache hierfür ist die Kreditaufnahme für Immobilienerwerb. Das Verhältnis von Immobilienkrediten zum verfügbaren Einkommen stieg von 27,3 Prozent (1985) auf 139,5 Prozent (März 2010).14 Australier haben sich also massiv verschuldet, um die eigene Immobilie zu finanzieren. In der gesamten zurückliegenden Dekade waren Australiens Kapitalimporte hoch. 2007, dem letzten Vorkrisenjahr, wiesen nur wenige Länder in der OECD ein höheres Leistungsbilanzdefizit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung auf als Australiens Defizit von 6,2 Prozent des BIP. Dabei handelte es sich um Estland (­16,0 Prozent), Island (­15,7 Prozent), Griechenland (­14,6 Prozent), Portugal (­10,1 Prozent), Spanien (­10,0 Prozent) und das benachbarte Neuseeland (­8,2 Prozent).15 Wie dieser Vergleich zeigt, können hohe Kreditaufnahmen im Ausland für Volkswirtschaften sehr gefährlich werden. Ausländische Kreditgeber können recht kurzfristig ihre Einschätzung hinsichtlich einer Volkswirtschaft und deren Fähigkeit, die Schulden zu bedienen, ändern. Australien ist bislang von einem solchen Wandel der Wahrnehmungen verschont geblieben. Aber eine Garantie für die nächsten Jahre ist dies nicht, wie die Lage der in ihrer Handlungsfähigkeit massiv eingeschränkten griechischen Regierung zeigt. Entwicklung des politischen Systems Australiens politisches System gehört zu den stabilsten innerhalb der G20. Von 1983 bis 1996 regierte die Australien Labor Party (ALP), anschließend eine von John Howard, einem Konservativen, geführte Koalitionsregierung. Der Wahlsieg der Labor Party am 24. November 2007 war bemerkenswert, weil John Howard nicht nur als Premierminister abgelöst wurde, sondern auch seinen eigenen Wahlkreis an die Labor­Abgeordnete und frühere Journalistin Maxine McKew verlor. Der Wahlsieger Kevin Rudd war in vielerlei Hinsicht ein neues Gesicht in der australischen Politik. Der gelernte Diplomat war ein Seiteneinsteiger in die Politik, und seine Skepsis gegenüber den etablierten Zirkeln der Labor­Party brachte er unmittelbar nach dem Wahlsieg zum Ausdruck. Er brach mit der Tradition, dass die Regierungsmitglieder von der Führung der parlamentarischen Gruppen innerhalb der Labor­Party, den so genannten „factions“, benannt wurden und der Regierungschef nur noch die Verteilung der einzelnen Ministerien innerhalb dieser Gruppe vorzunehmen hatte.16 Rudd stellte die Regierungsmannschaft selbst zusammen – aus der Rückschau betrachtet, könnte schon diese Handlung 13 Vgl. OECD, Economic Outlook 87 Database, Tabelle 23. 14 Reserve Bank of Australia, Household Finances, Selected Ratios, (abgerufen am 24.7.2012). 15 Vgl. OECD, Economic Outlook 91, Tabelle 51. 16 Vgl. The Economic Intelligence Unit, Country Profile Australia 2008.

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der Beginn des Bruchs der Partei mit ihrem Regierungschef gewesen sein. Rudd wurde im Juni 2010 von seiner Stellvertreterin Julia Gillard gestürzt, nicht zuletzt wegen seines hierarchischen und wenig kooperativen Führungsstils.17 Die Ablösung Rudds erfolgte in einer Nacht­und­Nebel­Aktion, ohne Vorankündigung und ohne dass der geschasste Regierungschef die Möglichkeit gehabt hätte, die temporäre Schwäche der ALP in den Umfragen und sei­ ne Defizite im Regierungsstil zu überwinden. Premierministerin Gillard ist es gelungen, die Schwächen Kevin Rudds zu nutzen und die parlamentarischen Gruppen der Labor Party hinter sich zu scharen. Vielen Australiern erschien die Art der Ablösung Rudds – manche sprachen von einem Staatsstreich – wie ein Rückfall in die problematischsten Zeiten der ALP, in denen Ämter und Posten unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Parteimitglieder von einigen wenigen Akteuren – verharmlosend „power broker“ genannt – vergeben worden sind. Gillard ist heute selbst auf die Unterstützung der „factions“ angewiesen. Die Wahlen vom August 2010 führten nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Nach längeren Verhandlungen haben es die ALP und Premierministerin Gillard gleichwohl geschafft, die notwendige Zahl an unabhängigen Abgeordneten auf ihre Seite zu ziehen. Die Konservativen vermochten es nicht, die unabhängigen Abgeordneten zu überzeugen. Allerdings wird die Regierungsarbeit für Gillard in den nächsten Jahren steinig. Die Mehrheit im Repräsentantenhaus ist hauchdünn – 76 zu 74 Abgeordnete. Im Senat ist Gillard auf die Unterstützung der Grünen angewiesen, da sie dort ebenfalls keine Mehrheit hat. Australiens geostrategisch wichtige Lage Die fragile Machtbasis von Premierministerin Gillard hat zur Folge, dass Canberra in den vergangenen Jahren außenpolitisch wenig initiiert hat. Australien wirkt etwa in der G20 und zahlreichen Initiativen im asiatisch­pazifischen Raum mit, aber es hat kaum eigene Perspektiven zur Gestaltung der internationalen Beziehungen gezeigt. Zuletzt stand Australien gleichwohl mehrfach im Rampenlicht. Weniger mit aktueller Weltpolitik als mit der gemeinsamen Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit verbunden war das Treffen der Staats­ und Regierungschefs der Staaten des Commonwealth vom Oktober 2011 im west­ australischen Perth. Jenseits einer Vielzahl von unverbindlichen Empfehlungen wurden keine substanziellen, die internationale Politik verändernden Beschlüsse gefasst. Wichtiger für die Zukunft der Weltpolitik war der Besuch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama im November 2011. Um die langjährigen Alliierten auf die strategische Bedeutung des Militärbündnisses zwischen Australien und den USA einzuschwören, wies der Präsident der Schutzmacht USA unverhohlen auf die wachsende Rivalität zwischen Washington und Peking hin. 17 Vgl. The Economic Intelligence Unit, Country Report Australia July 2010, S. 4.

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Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht Detlef Nolte und Christina Stolte „Gott ist Brasilianer“ – dieser Ausspruch des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva nach der Wahl Brasiliens als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2016 steht stellvertretend für das Selbstbewusstsein der größten lateinamerikanischen Volkswirtschaft. Brasilien hat in den vergangenen zehn Jahren einen fulminanten ökonomischen und po­ litischen Aufstieg verzeichnet. Als Austragungsort der UN­Umweltkonferenz „Rio+20“, der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 zieht Brasilien verstärkt die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Als Mitglied der Staatengruppe der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), des IBSA­Dialogforums (ein Koordinierungsmechanismus der drei Schwellenländer Indien, Brasilien und Südafrika) und der Gruppe von vier gro­ ßen Schwellenländern (Brasilien, Südafrika, Indien und China/BASIC), die ihre internationalen Klimapolitiken abstimmen, gehört das Land zu den zentralen Akteuren der aufziehenden multipolaren Weltordnung. Und als dynamische Volkswirtschaft, die die Stürme und Turbulenzen der internationalen Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 ohne größere ökonomische Blessuren überstand, gehört Brasilien heute zu den weltweiten Anziehungspunkten für internationa­ les Finanzkapital und Investitionen. Noch vor 20 Jahren sah sich der heutige G20­Staat allerdings mit einer ande­ ren wirtschaftlichen Realität konfrontiert. In den ersten zehn Jahren nach der Demokratisierung des Landes 1985 wechselte Brasilien sechs Mal seine Währung, die monatlichen Inflationsraten betrugen zeitweise bis zu 80 Prozent. Das Land erlebte eine „verlorene Dekade“; der Economist bezeichnete Brasilien als „betrun­ ken“, so sehr strauchelte und taumelte die brasilianische Wirtschaft.1 Entsprechend groß war die Verwunderung, als der Ökonom Jim O’Neill, der seinerzeit den Begriff der BRIC­Staaten prägte, und damit neben Russland, Indien und China auch Brasilien als einen der vier vielversprechendsten Wachstumsmärkte defi­ 1

Drunk Not Sick. Brazil, the Blessed and the Cursed. Survey of Brazil, in: The Economist, 7.12.1991.

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nierte2 und der südamerikanischen Volkswirtschaft damit unverhofft – und für viele zum damaligen Zeitpunkt ungerechtfertigt – das Prädikat eines potenziellen globalen Aufsteigers verlieh.3 Erfolgreiche Bewährungsprobe in der Wirtschafts- und Finanzkrise Doch die Prognose des Goldman­Sachs­Ökonomen trat tatsächlich ein. Mitten in der globalen Finanz­ und Wirtschaftskrise lief das Land zu wirtschaft­ licher Höchstform auf – „Brazil Takes Off“ titelte der Economist nun voller Begeisterung.4 Hatte die südamerikanische Volkswirtschaft noch 2002 kurz vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden, schaute man wenige Jahre später schon wie­ der auf wachsende Devisenreserven und ein gesundes Wirtschaftswachstum.5 Während die traditionellen Wirtschaftszentren USA, Japan und Europa drama­ tische Einbrüche ihrer Wirtschaftsleistung verzeichneten, schrumpfte die brasilia­ nische Wirtschaft 2009 nur um 0,7 Prozent und trumpfte bereits im Folgejahr mit einem Wachstum von 7,5 Prozent wieder auf.6 Zwar hat sich das Wirtschaftswachstum im Laufe der andauernden Weltwirtschaftskrise inzwischen wieder deutlich verlangsamt und wird 2012 nur noch 2 Prozent betragen. Doch der 190 Mio. Einwohner zählende Staat ist mit einem aktuellen BIP von rund 2500 Mrd. Dollar in den vergangenen Jahren zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen, hat Großbritannien hinter sich gelassen und wird Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu­ folge Frankreich bis 2015 den Rang der fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt streitig machen. Zurzeit verfügt das Land über geschätzte Devisenreserven von mehr als 400 Mrd. Dollar.7 Zwei Entwicklungen waren für die Verwandlung vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht entscheidend: Zum einen trieb der Ressourcenhunger Chinas die Rohstoffpreise in die Höhe und bescherte dem Rohstoffproduzenten Brasilien rekordverdächtige Exporterlöse. Zum anderen erfuhr der traditionell starke brasi­ lianische Binnenmarkt, der rund zwei Drittel der Wirtschaftsleistung der südame­ rikanischen Volkswirtschaft ausmacht, durch die Armutsbekämpfungsprogramme der Regierung Lula eine weitere Stärkung. Durch das Sozialprogramm „Bolsa Familia“ waren rund 30 Mio. Brasilianer aus der Armut in die breitere Mittelschicht aufgestiegen und stellten ihre neu gewonnene Kaufkraft unter Beweis. Dank der Sozialtransfers an in Armut le­ bende Familien, die sich mit der Teilnahme an „Bolsa Familia“ verpflichten, 2 3 4 5 6 7

Goldman and Sachs, Dreaming with BRICS. The Path to 2050, in: CEO Confidential, Issue 12/2003. Jim O’Neill im Interview mit National Public Radio (NPR): Brazil Outshines other BRIC Economies, 21.12.2011, Transkript: (abgerufen am 8.5.2012). Brazil Takes Off, in: The Economist, 14.11.2009. Worldbank Datenset: (abgerufen am 8.5.2012). Economist Intelligence Unit, Brazil Country Report, August 2012. Ebd.

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ihre Kinder impfen zu lassen und regelmäßig zur Schule zu schicken, erzielte die Regierung Lula einen doppelten Effekt: Erstens hatte man eine neue Käuferschicht geschaffen, die trotz weltweiter Krisenstimmung konsumierte und damit das Land vor einem Wirtschaftseinbruch bewahrte. Zweitens hat­ te man es geschafft, die Armut im Land signifikant zu verringern und damit das Millenniumsziel der Halbierung der absoluten Armut bis 2015 vorzeitig erreicht. In Kombination mit der Schaffung von über zehn Millionen offiziellen Arbeitsplätzen seit 2003 und einer realen Steigerung des Mindestlohns um 50 Prozent im selben Zeitraum hat sich die Situation einer Vielzahl von Brasilianern in der letzten Dekade deutlich verbessert.8 So macht die breitere Mittelschicht (die so genannte Klasse „C“) in dem traditionell durch extreme Ungleichheit ge­ kennzeichneten Land heute rund 54 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.9 Trotz der effektiven Armutsbekämpfung und einer signifikanten Verringerung der Ungleichheit gehört Brasilien mit einem Gini­Koeffizienten von 54,7 (2009) aber weiterhin zu den Ländern mit der ungleichsten Einkommensverteilung der Welt.10 Als „junges Land“ mit einem Anteil zwei Dritteln der Bevölkerung unter 40 Jahren11 blickt Brasilien mit Hoffnung auf die Wirtschaftsentwicklung der kommenden Jahre, von der man sich angesichts der Austragung der sportlichen Großereignisse 2014 und 2016 sowie der Erschließung der Erdölvorkommen vor der brasilianischen Küste eine zusätzliche Dynamik erhofft. Schon jetzt ist die Arbeitslosenrate in Brasilien mit 6 Prozent auf einen historischen Tiefstand gesunken,12 in einigen Branchen herrscht derzeit sogar ein Mangel an qualifi­ zierten Arbeitskräften. Krisenbekämpfung zwischen Protektionismus und Privatisierungsmaßnahmen Während die brasilianische Bevölkerung überwiegend zuversichtlich in die Zukunft blickt, hat sich Regierungschefin Dilma Rousseff angesichts schrump­ fender Wachstumsraten bereits erneut der Krisenbekämpfung zugewandt. Im Zentrum stehen dabei Maßnahmen, die den Deindustrialisierungstendenzen in der brasilianischen Wirtschaft entgegensteuern und den Konsum lokal produ­ zierter Produkte steigern sollen. 8

Marcelo Cortes Neri, The Decade of Falling Income Inequality and Formal Employment Generation in Brazil, in: OECD (Hrsg.), Tackling Inequalities in Brazil, China, India and South Africa. The Role of Labour Market and Social Policies, Paris 2012, S. 57­107. 9 Governo do Brasil, Classe C já é maioria da população do país, 22.3.2012, (ab­ gerufen am 8.5.2012). 10 Weltbank, Washington, DC, 2011: (abgerufen am 8.5.2012). 11 Brasilianischer Zensus 2010: (abgerufen am 8.5.2012). 12 Economist Intelligence Unit, Brazil Country Report, a.a.O. (Anm. 6).

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Die brasilianische Industrie war von 2010 auf 2011 nur um 0,3 Prozent ge­ wachsen und in den ersten beiden Quartalen 2012 sogar um 3,8 Prozent ge­ schrumpft.13 Brasiliens Regierung greift angesichts dieser Entwicklungen zu Schutzmaßnahmen und versucht im Rahmen des Wirtschaftsförderprogramms „Brasil Maior“ (Größeres Brasilien) arbeitsintensive Industriesektoren durch temporäre Steuererleichterungen, Produktionsanreize und einen erleichterten Kreditzugang zu fördern. Die tieferen, strukturellen Probleme des brasilia­ nischen Industriesektors, wie etwa die niedrige Produktivität, hohe Lohn­ und Energiekosten sowie ein Mangel an Innovationskraft, die die Konkurrenzfähigkeit der brasilianischen Industrieproduktion gegenüber ausländischen Importpro­ dukten mindern, werden im Rahmen dieser punktuellen Maßnahmen jedoch nicht angegangen. So klagt der brasilianische Industrieverband, dass der stei­ gende Konsum im Lande trotz staatlicher Wirtschaftsförderung vor allem auslän­ dischen Importprodukten zu Gute käme, und verweist auf den stark steigenden Importanteil bei Industrieprodukten.14 Während Präsidentin Rousseff in der Industriepolitik verstärkt auf staatli­ che Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf setzt, schlägt sie beim Ausbau der Infrastruktur einen liberaleren Kurs ein. Die Modernisierung des maroden bra­ silianischen Verkehrsnetzes soll vor allem von privaten Investoren finanziert werden. 7500 Kilometer Straßennetz und 10 000 Kilometer Schienennetz sollen in den nächsten Jahren gebaut bzw. erneuert werden. Mithilfe von Staatskrediten sollen Privatfirmen mehr als umgerechnet 53 Mrd. Euro in die Infrastruktur des Landes investieren und Brasilien damit ein Verkehrsnetz verschaffen, das seinem Status als sechstgrößter Volkswirtschaft der Welt angemessen ist. Derzeit verfügt Brasilien über die schlechteste Infrastruktur aller BRICS­Staaten.15 Das defizitäre Verkehrsnetz setzt Brasiliens Wirtschaftswachstum spürbare Grenzen: So muss der Export von Rohstoffen, mit denen Brasilien den wesentlichen Teil seines Handelsüberschusses erwirtschaftet, über marode Straßen und überlastete Häfen abgewickelt werden, was den Prozess enorm verlangsamt und verteuert. Auch der inländische Konsum, der als das Rückgrat der brasilianischen Wirtschaft gilt, ist negativ betroffen. In Ermangelung eines Schienennetzes müssen alle Waren im fünftgrößten Land der Erde über ein völlig unzureichendes Straßennetz transportiert werden. Herausforderungen für die Zukunft Neben Industrie­ und Infrastrukturpolitik warten auch in anderen Bereichen zentrale Herausforderungen auf die südamerikanische Wirtschaftsmacht: Als 13 Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE), Pesquisa Industrial Mensal Produção Física – Brasil, 1.8.2012: Produção Industrial varia 0,2% em Junho: (abgerufen am 8.5.2012). 14 Confederação Nacional de Indústria, Coeficientes da Abertura Comercial, Nr. 2 (Oktober­Dezember 2011), São Paulo. 15 Peter Burghardt, Wende am Ende des Booms, in: Süddeutsche Zeitung, 22.8.2012.

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Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht

Schlüsselbereiche für eine konsolidierte Wirtschaftsentwicklung des Landes gelten vor allem die Reform des Steuer­ und des Bildungssystems. Brasilien hat nicht nur ein hochgradig regressives, kompliziertes und ineffizientes Steuer­ und Abgabewesen, sondern zeichnet sich auch durch eine extrem hohe Steuerbelastung aus. Mit einer Steuerrate von 36,7 Prozent liegt das Land nicht nur doppelt so hoch wie der Durchschnitt seiner lateinamerika­ nischen Nachbarn, sondern auch deutlich höher als Industriestaaten wie Japan (17,6 Prozent) oder die USA (26,9 Prozent).16 Auch im Bildungsbereich muss Brasilien aufholen, wenn es seine zukünftige Wettbewerbsfähigkeit sichern will. Denn der Qualifikationsmangel auf dem Arbeitsmarkt hat seine Wurzeln im defizitären Bildungssystem: Noch immer erfahren 15 Prozent der Mädchen und 22 Prozent der Jungen im schulfähigen Alter keine Sekundärbildung. Im Kreise der BRICS­Staaten ist Brasilien zudem das einzige Land ohne international anerkannte Spitzenuniversität.17 Mithilfe von staatlich finanzierten Stipendien im Rahmen des Programms „Ciências sem Fronteiras“ (Wissenschaft ohne Grenzen) sollen daher in den nächsten Jahren rund 100 000 brasilianische Studenten die Möglichkeit erhalten, im Ausland zu studieren. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf den Natur­ und Ingenieurswissenschaften, die für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Brasiliens als Schlüsselbereiche identifiziert wurden. Positive Energiebilanz Brasilien weist eine im Vergleich mit anderen Industrie­ und Schwellenländern positive Energiebilanz und ein hohes Ausmaß an Autonomie in der Energieversorgung auf. Die Wirtschaft ist wenig karbonintensiv, allerdings be­ lastet die illegale Abholzung im Amazonas­Gebiet immer noch die CO2­Bilanz. Obwohl die brasilianische Regierung sich international stärker dem Schutz des Amazonas­Regenwalds verpflichtet hat,18 bleibt die Politik widersprüchlich. So sieht der Gesetzesentwurf des neuen Waldschutzgesetzes Código Florestal beispielsweise einen Straferlass für zurückliegende Abholzungsmaßnahmen vor. Auf internationaler Ebene spielt Brasilien eine aktive Rolle bei den Klimaverhandlungen und unterstützt die Ausarbeitung von Kompromissen zwi­ schen Industrie­ und Entwicklungsländern, obgleich Brasilien im Gegensatz zur EU für freiwillige Selbstverpflichtungen und nicht für vertraglich vorgegebene Zielwerte eintritt. In Bezug auf seinen Energieverbrauch nimmt Brasilien hingegen eine „grüne“ Vorreiterrolle ein. Rund die Hälfte wird durch erneuerbare Energien abgedeckt: 16 Carlos Pereira, Tax Policy in Brazil. The Reform that Never Was, in: Brookings Institution, 8.9.2010. 17 The Times Higher Education’s 2010­2011 World Universities Ranking, London. 18 Im Rahmen des interministeriellen Planes zum Klimawandel 2008 verpflichtete sich die brasilianische Regierung auf eine Reduzierung der Abholzung des Amazonas­Regenwalds um 80 Prozent bis 2020. Vgl. Governo Federal Comite Interministerial sobre Mudanca do Clima, Plano Nacional sobre Muda­ nca do Clima (PNMC), Brasília 2008.

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Wasserkraft ist für ca. 75 Prozent der Stromerzeugung verantwortlich, 50 Prozent des Kraftstoffverbrauchs von PKWs entfällt auf Ethanol. Mit der Erschließung von Erdölfeldern vor seiner Küste hat Brasilien die Selbstversorgung bei Erdöl erreicht und wird zukünftig zu einem bedeutenden Exporteur des strategischen Rohstoffs aufsteigen. Eine Abhängigkeit besteht weiterhin bei Erdgas, dort sind Argentinien und Bolivien wichtige Lieferanten. Brasilien hält sich außerdem die Atomenergie als weitere Option offen. So sind derzeit zwei Atomkraftwerke in Betrieb, eines im Bau und vier weitere geplant. Diversifizierte Handelsbeziehungen In der vergangenen Dekade hat Brasilien seine Außenwirtschaftsbeziehungen deutlich ausdifferenziert. Mittlerweile ist China vor den USA der wichtigste bila­ terale Handelspartner. Der Anteil der USA an den brasilianischen Exporten liegt nur noch bei 10 Prozent. Die EU in ihrer Gesamtheit hat mit rund 20 Prozent einen stärkeren Anteil am brasilianischen Außenhandel, aber auch Lateinamerika ist mit einem Anteil von ca. 20 Prozent ein wichtiger Handelspartner, insbeson­ dere für brasilianische Industrieprodukte.19 Die jüngste Entwicklung des Außenhandels und der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu China werden in Brasilien nicht nur positiv gesehen. Durch die hohen Deviseneinnahmen aufgrund des Exportbooms für agrarische Rohstoffe und die expansive Geldpolitik der USA zur Konjunkturankurbelung erfuhr die brasilianische Währung in den vergangenen Jahren eine starke Aufwertung ge­ genüber dem Dollar. Mithilfe von Steuern auf Finanztransaktionen und ande­ ren Instrumenten versuchte die brasilianische Regierung daher dem Zustrom von spekulativem Kapital entgegenzuwirken. Gleichzeitig beklagt Brasilien die Unterbewertung des chinesischen Renminbi gegenüber dem brasilianischen Real, die zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen der brasilianischen Industrie führt. Im Hinblick auf die durch die Unterbewertung erzielten Handelsvorteile Chinas ver­ tritt Brasilien deshalb eine ähnlich kritische Haltung wie die USA und die EU. Brasilien ist dem Freihandel gegenüber zwar grundsätzlich aufgeschlossen, nimmt sich aber das Recht heraus, die nationale Industrie punktuell auch über Zölle zu schützen. Während Brasilien aktiv für eine weitere Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten eintritt und die Subventionspolitik der EU und der USA kritisiert, tritt es bei der Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen eher auf die Bremse. Was die Rolle des Staates in der Wirtschaft betrifft, gibt es deutliche Unterschiede zwischen den USA und Brasilien. Auch wenn man nicht so weit wie das Wirtschaftsmagazin Forbes gehen sollte, das von einer „Chinafizierung“ Brasiliens spricht,20 nimmt der Staat eine zentrale Stellung im Wirtschaftsprozess ein. 19 Ministério do Desenvolvimento, Indústria e Comércio Exterior, Balança Comercial Brasileira. Dados Consolidados, Brasília 2011. 20 Kenneth Rapoza, The ‚Chinafication‘ of Brazil, in: Forbes, 22.5.2012 (abgerufen am 23.8.2012).

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Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht

In Südamerika unterstützt Brasilien grundsätzlich eine Politik der Handelsliberalisierung und des Abbaus von Handelshemmnissen. Zusammen mit Argentinien hat Brasilien den Mercosur21 geschaffen und sich zuletzt aus wirtschaftlichen Interessen massiv für die Aufnahme Venezuelas in das süda­ merikanische Handelsbündnis eingesetzt. Brasiliens Politik in Bezug auf den Mercosur ist jedoch geprägt von starken Widersprüchen: Offiziell proklamiert die brasilianische Regierung nach wie vor die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, führt aber von Zeit zu Zeit auch unilateral Handelsbeschränkungen ein. Bestrebungen der USA zur Schaffung einer gesamtamerikanischen Freihandelszone blockierte Brasilien aus geoökonomischen und wirtschaftspo­ litischen Motiven. Südamerika den Südamerikanern – unter brasilianischer Führung Brasilien setzt sich verstärkt für die wirtschaftliche Integration in Südamerika und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Region ein. Die größte südamerika­ nische Volkswirtschaft verfolgt hierbei klare geoökonomische Interessen, wie die intensiven Aktivitäten brasilianischer Großunternehmen im südamerikanischen Bau­ und Energiesektor sowie das zunehmende Engagement der brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES – Banco Nacional do Desenvolvimento)22 in der Region zeigen. Brasilien spielte auch bei der Konstituierung Südamerikas als politische Region eine zentrale Rolle.23 Beginnend mit dem ersten Treffen der südamerika­ nischen Präsidenten im Jahr 2000 bemühte sich Brasilien, die südamerikanische Integration voranzutreiben. Präsident Lula verfolgte hierbei das Ziel, das Ausmaß der Koordination und Abstimmung zwischen den Ländern der Region zu erhö­ hen und Brasilien zu einem Knotenpunkt des Systems regionaler Kooperation zu machen.24 Mit der Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) 2008 und des Südamerikanischen Verteidigungsrats im gleichen Jahr, der ohne die Initiative und das Engagement der brasilianischen Regierung nie zustandegekom­ men wäre, hat dieser Prozess große Fortschritte gemacht. UNASUR und der Südamerikanische Verteidigungsrat können als Teil der brasilianischen Strategie bewertet werden, die regionale Integration zu nutzen, 21 Das südamerikanische Handelsbündnis Mercado Común del Sur (Mercosur) zählt neben den Grün­ dungsmitgliedern Brasilien und Argentinien auch Paraguay, Uruguay und Venezuela zu seinen Mit­ gliedern. 22 Das gesamte inländische und ausländische Kreditvolumen der BNDES übertraf 2010 das der Welt­ bank und der Inter­Amerikanischen Entwicklungsbank. Vgl. Council on Foreign Relations, Global Brazil and U.S.­Brazil Relations (Independent Task Force Report No. 66), Juli 2011, S. 57, (abgerufen am 10.8.2012). 23 Andrés Malamud, Moving Regions: Brazil’s Global Emergence and the Redefinition of Latin Ameri­ can Borders, in: Pía Riggirozzi und Diana Tussie (Hrsg.), The Rise of Post­Hegemonic Regionalism in Latin America, New York 2012, S.167­183. 24 Miriam Gomez Saraiva, Brazilian Foreign Policy Towards South America During the Lula Adminis­ tration, in: Revista Brasileira de Política Internacional, Special Issue (2010), S. 151­168.

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um im Rahmen einer „konsensualen Hegemonie“25 Südamerikas Autonomie zu wahren, die physische Integration – vor allem in den Bereichen Infrastruktur und Energie – voranzutreiben und den eigenen Einfluss auf globaler Ebene zu erweitern. Sie dienen auch als Instrumente einer Strategie der Machtbalance gegenüber den USA.26 Für Brasilien stellt die Region eine Art Achillesferse dar, da durch politische Instabilität externe Akteure (sprich vor allem die USA) zu Interventionen veranlasst werden könnten. Durch die Institutionalisierung der Sicherheitsbeziehungen in der Region will Brasilien Ad­hoc­Reaktionen auf Krisen oder Interventionen der USA, durch die brasilianische Interessen verletzt werden könnten, vorbeugen.27 In gewisser Weise ist Brasilien um eine Regionalisierung seiner eigenen Sicherheitsinteressen wie den Schutz des Amazonas, der Erdölvorkommen vor der Küste („blauer Amazonas“) und seiner maritimen Grenzen bemüht. In der bra­ silianischen Verteidigungsstrategie von 2008 wird unter den Konflikthypothesen explizit der Einsatz der Streitkräfte gegen die Bedrohung durch weit überlegene militärische Kräfte im Amazonas­Gebiet genannt.28 Innerhalb von UNASUR scheint es einen wachsenden Konsens zu geben, dass die regionale Integration zur Verteidigung der strategischen Ressourcen notwendig ist. Diese Aufgabe wird im Gründungsstatut des Südamerikanischen Verteidigungsrats ausdrücklich genannt. Ein besonderes Interesse Brasiliens bei der Schaffung des Verteidigungsrats und der Vertiefung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit in Südamerika besteht auch darin, diese als Sprungbrett zur Integration der südamerikanischen Rüstungsindustrie zu nutzen29 und auf diese Weise einen größeren Absatzmarkt für die eigene Rüstungsindustrie schaffen. Die brasilianischen Streitkräfte befin­ den sich nach einer langen Periode der Stagnation und Einsparungen in einem Modernisierungsprozess.30 Dabei besteht ein hohes Interesse daran, über Joint Ventures die Ausrüstung zu erneuern und gleichzeitig das technologische Niveau der brasilianischen Rüstungsindustrie zu verbessern. Trotz der Steigerung der Ausgaben für Verteidigung liegen diese nur bei 1,6 Prozent des BIP (2010)31 – in absoluten Zahlen liegt Brasilien damit weltweit an zehnter Stelle. 25 Sean Burges, Consensual Hegemony: Theorizing the Practice of Brazilian Foreign Policy after the Cold War, in: International Relations 1/2008, S. 65­84. 26 Hal Brands, Dilemmas of Brazilian Grand Strategy, Carlisle, PA 2010; Héctor Saint­Pierre, La Defensa en la Política Exterior del Brasil: el Consejo Suramericano y la Estrategia Nacional de Defensa, Madrid (Real Instituto Elcano, Documento de Trabajo 50) 2009. 27 Matias Spektor, Ideias de ativismo regional: a transformacão das leituras braslieiras da região, in: Re­ vista Brasileira de Política Internacional 1/2010, S. 25­44. 28 Ministry of Defense, National Strategy of Defense, Dezember 2008. (abgerufen am 10.8.2012). 29 Ebd.; Hal Brands, Dilemmas of Brazilian Grand Strategy, a.a.O. (Anm. 26); Héctor Saint­Pierre, La Defensa en la Política Exterior del Brasil, a.a.O. (Anm. 26). 30 João Fábio Bertonha, Brazil: an Emerging Military Power? The Problem of the Use of Force in Bra­ zilian International Relations in the 21st Century, in: Revista Brasileira de Política Internacional, 53 (2010) 2, S. 107­124. 31 The SIPRI Military Expenditure Database, (abgerufen am 28.8.2012).

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Brasilien: Aufstieg vom Schuldenstaat zur Wirtschaftsmacht

Neue Partner auf globaler Ebene Brasilien stellt die internationalen Machtstrukturen in Frage und fordert mehr Einfluss in den globalen Entscheidungsgremien. Trotz seines gewachsenen wirt­ schaftlichen und politischen Gewichts auf internationaler Ebene tritt Brasilien noch immer als Sprecher des Südens auf (etwa in der G­20+ und der G­77), um gegen die USA und Europa Position zu beziehen. Unter Präsident Lula hat Brasilien die Süd­Süd­Beziehungen mit einem Schwerpunkt in Afrika ausgebaut32 und die diplomatische Präsenz Brasiliens weltweit stark erhöht. Die südamerika­ nische Führungsmacht ist zudem bestrebt, ihren Einfluss in Zentralamerika und der Karibik auszuweiten – etwa über technische und humanitäre Hilfe. Seit 2004 leitet Brasilien die Stabilisierungsmission MINUSTAH in Haiti. Im Rahmen der Vereinten Nationen (UN) unterstützt Brasilien grundsätzlich den Schutz der Menschenrechte, räumt aber auch dem Prinzip der Souveränität große Bedeutung ein und bezieht bei humanitären Interventionen deshalb eher eine ablehnende Haltung, da es eine einseitige Interventionspolitik der USA und anderer westlicher Mächte befürchtet und doppelte Standards beklagt. So hat sich Brasilien beispielsweise bei der UN­Resolution gegen Libyen als nicht­ ständiges Mitglied im UN­Sicherheitsrat der Stimme enthalten. Im November 2011 hat Brasilien sein Konzept der „responsibility while protecting“ vorge­ stellt.33 Zwangsmaßnahmen stellen demnach nur das letzte Mittel dar, wenn alle Möglichkeiten der friedlichen Konfliktlösung erschöpft sind, sie sind im Rahmen der UN streng an den Auftrag und internationale Regeln gebunden, und es muss eine ständige Abwägung zwischen Nutzen und Kosten vorgenommen werden. Brasilien versucht sich in den Süd­Süd­Beziehungen in Bereichen zu profilieren, in denen das Land selbst Erfolge vorweisen kann, etwa bei der Unterstützung von HIV­Erkrankten und der Bekämpfung von tropischen Krankheiten, der Herstellung von Biokraftstoffen (Ethanol), der tropischen Landwirtschaft oder bei Programmen zur Armutsbekämpfung. Obwohl Brasilien noch immer Empfänger von Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ist, hat sich das Land in den vergan­ genen Jahren zu einem neuen Geber („emerging donor“) von EZ entwickelt.34 Für Brasilien ist die EZ Teil seiner außenpolitischen Strategie der Süd­Süd­ 32 Lula reiste während seiner beiden Amtszeiten insgesamt elf Mal nach Afrika und Brasilien verdoppelte in diesem Zeitraum die Zahl der Botschaften in Afrika auf 34; vgl. Council on Foreign Relations, Global Brazil and U.S.­Brazil Relations, a.a.O. (Anm. 22), S. 60. 33 Letter Dated 9 November 2011 from the Permanent Representative of Brazil to the United Nations, Maria Luiza Ribeiro Viotti, Addressed to the Secretary­General, (abgerufen am 28.8.2012). 34 Die EZ wird über die Agencia Brasileira de Cooperação (ABC) koordiniert. In den Jahren 2005 bis 2009 hat Brasilien EZ in Höhe von 1,6 Mrd. Dollar geleistet – im Jahresdurchschnitt 300 Millionen Dollar, das heißt 0,02 Prozent des BIP. Das Land beteiligt sich an Dreieckskooperationen mit etablier­ ten Gebern, obwohl Brasilien offiziell nicht die DAC­OECD­Kriterien akzeptiert. Vgl. ABC/IPEA, Brazilian Cooperation for International Development 2005­2009, Brasília 2011; Bruno Ayllón Pino, Contribuciones de Brasil al desarrollo internacional: coaliciones emergentes y cooperación Sur­Sur, in: Revista CIDOB d’afers internacionals, Nr. 97­98/2012, S. 189­204.

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Beziehungen. Das Gros der EZ geht nach Lateinamerika und nach Afrika (vor allem in die portugiesischsprachigen Länder). Brasilien sieht die EZ als Instrument von Soft Power, mit der auch das eigene erfolgreiche Entwicklungsmodell propa­ giert werden soll. Die Beziehungen zwischen Brasilien und den etablierten Mächten, insbeson­ dere zu den USA, haben sich in den vergangenen Jahren abgekühlt. Brasilien sieht Südamerika als seine Interessenszone und möchte diese von den USA respektiert bzw. sich zumindest von den USA im Hinblick auf geplante Initiativen in Südamerika informiert sehen. Da die USA für Brasilien auch als Wirtschaftspartner relativ an Bedeutung verloren haben, reagiert die süd­ amerikanische Führungsmacht zunehmend selbstbewusst auf wahrgenommene Regelverstöße der USA. In ihrem Bestreben um einen ständigen Sitz im UN­ Sicherheitsrat sah sich die brasilianische Regierung von den USA zudem nicht ausreichend unterstützt (etwa im Vergleich zur US­Haltung gegenüber Indien). 35 Auch gegenüber der EU gestalten sich die Beziehungen trotz der 2007 abge­ schlossenen strategischen Partnerschaft schwierig.36 Ebenso wie die USA hat auch die EU für Brasilien als Handelspartner an Bedeutung verloren. Dies mindert die Bereitschaft für Kompromisse gegenüber der EU, was die Agrarsubventionen als handelsverzerrendes Element betrifft. In Fragen der internationalen Politik ver­ treten die EU und Brasilien zudem häufig entgegengesetzte Positionen. Als aufstrebende Macht will Brasilien in wichtigen Fragen der globalen Politik konsultiert werden. Wie es der ehemalige brasilianische Außenminister Celso Amorim formulierte, sieht sich Brasilien zusammen mit China, Indien, Südafrika und weiteren Ländern den „new kids on the block“ unter globalen Mächten zu­ gehörig, die in zunehmendem Maße die internationalen Beziehungen prägen.37 Zu den Zielen brasilianischer Außenpolitik gehört auch ein ständiger Sitz im UN­Sicherheitsrat, der unter anderem von Deutschland unterstützt wird, in Lateinamerika selbst aber auf Vorbehalte stößt. Wie auch andere aufstei­ gende Mächte strebt Brasilien eine multipolare Weltordnung an. Diesem Ziel dienen die Abstimmung in Foren wie den BRICS oder dem IBSA­Forum so­ wie die Forderung nach einem stärkeren Stimmengewicht in internationalen Organisationen wie dem IWF (hier hat sich der Stimmenanteil Brasiliens bereits leicht erhöht). Mit der Beteiligung an der G20, die aus brasilianischer Sicht die G8 vollständig ersetzen sollte, sieht sich Brasilien seinem Anspruch, eine wichtigere Rolle auf internationaler Bühne zu spielen, bereits einen Schritt näher. 35 Council on Foreign Relations, Global Brazil and U.S.­Brazil Relations, a.a.O. (Anm. 22); Peter Ha­ kim; Brazil and the U.S.: Remaking a Relationship, in: Foreign Service Journal, Juni 2011, S. 27­31; Peter J. Meyer, Brazil­U.S. Relations, Congressional Research Service, Washington DC, 22.11.2011; Julia E. Sweig, A New Global Player: Brazil’s Far­Flung Agenda, in: Foreign Affairs, November/De­ zember 2010, S. 173­185. 36 Susanne Gratius, Brazil and the European Union: Between Balancing and Bandwagoning (ESPO Working Paper Nr. 2), Madrid (FRIDE) 2012. 37 Celso Amorim, Let’s Hear from the New Kids on the Block, in: New York Times, 14.6.2010 (abgerufen am 26.8.2012).

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Kerninteressen chinesischer Außenund Sicherheitspolitik Junhua Zhang Nach der erfolgreichen Bekämpfung der Finanzkrise 2008/09 gehen einige Beobachter davon aus, dass China inzwischen bereits das Ende des wirtschaft­ lichen Aufstiegs erreicht habe und sich zukünftig kaum mehr entfalten können werde.1 Die jüngsten Wirtschaftsdaten Chinas, die ein deutliches Abklingen des Hyperwachstums belegen, scheinen diese Annahme zu stützen. Andere hingegen bewerten Chinas wirtschaftliche Entwicklung seit 2010 positiver. So vertreten die chinesische Regierung und auch eine Reihe international renom­ mierter Ökonomen die Ansicht, dass China sich auf dem Weg einer gesunden Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft befinde.2 Auch im Hinblick auf die politische Zukunft, vor dem Hintergrund der ge­ genwärtigen Phase der Machtübergabe, die formell im November 2012 abge­ schlossen worden ist, bestehen ebenfalls zwei konkurrierende Einschätzungen: Für die einen ist das System der Kommunistischen Partei Chinas substanziell erkrankt; sie sehen keine Chance für ein langfristiges Überleben – nur eine massive Reform durch einen zweiten Deng Xiaoping oder gar eine Revolution könnten die Herrschaft der Kommunistischen Partei retten. Andere wiederum trauen der Partei Selbstkorrekturen zu, insbesondere der zukünftigen fünften Führungsgeneration unter Xi Jinping und Li Keqiang, und folgern daraus, dass sich China weiterhin reformfähig zeigen wird. Diese inneren Entwicklungen werden sich auch auf die Außen­ und Sicherheitspolitik der Volksrepublik aus­ wirken. Denn die so genannten „chinesischen Kerninteressen“ sind binnenö­ konomisch und innenpolitisch geprägt.

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So Amitai Etzioni, The End of China’s Rise, in: The National Interest, 25.7.2012, (abgerufen am 1.9.2012). Vgl. zum Beispiel den Chef von Morgan Stanley Asia, Stephen S. Roach, China is Okay, über (abgerufen am 22.8.2012).

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Kerninteressen 2009 hat der chinesische Staatsrat Dai Bingguo, Chinas oberster Außenpolitiker, bei einem Gespräch mit seiner amerikanischen Amtskollegin Hillary Clinton deutlich gemacht, dass die folgenden Punkte als Chinas Kerninteressen verstanden werden sollen: Das sind der Erhalt des politischen Systems Chinas, die Sicherung einer nachhaltigen ökonomischen und gesellschaft­ lichen Entwicklung, die Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität, der nationalen Sicherheit sowie der territorialen Integrität Chinas und das Interesse der nationalen Wiedervereinigung des Landes.3 Dabei spielt die Reihenfolge der genannten Interessen eine nicht unwichtige Rolle. Denn diese unterstrei­ cht, dass die Beibehaltung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei Chinas die höchste Priorität einnimmt. Zugleich wird aber auch unmissver­ ständlich herausgestellt, dass eine gute wirtschaftliche Leistung eine wichtige Legitimationsgrundlage der Herrschaft der Partei darstellt. Abschwächende Konjunktur Es ist einmalig in der modernen Wirtschaftsgeschichte, dass ein Land wie China über einen so langen Zeitraum, namentlich von 1978 bis 2010, ohne große Unterbrechung eine durchschnittliche Wachstumsrate von 9,8 Prozent erreicht hat. Aber nicht nur in der Phase des Wachstums, auch in der Finanzkrise hat China Kompetenz und Willen im Krisenmanagement gezeigt: Das chinesische Maßnahmenpaket im Umfang von vier Billionen Yuan (586 Mrd. Dollar) entsprach mehr als 13 Prozent des damaligen (2008) Bruttoinlandsprodukts (BIP) und war damit eines der umfangreichsten im internationalen Vergleich.4 Dieses massive Konjunkturpaket hat auf den ersten Blick die ihm zugedachte Wirkung erbracht: Das Wirtschaftswachstum Chinas blieb 2009 bei über 8 Prozent erhalten, was der staatlichen Zielvorgabe für die Eindämmung der Massenarbeitslosigkeit und den dadurch hervorgerufenen sozialen Spannungen entsprach. Aber die negativen Auswirkungen dieser Politik auf die Wirtschaft und Gesellschaft kamen erst 2011 zum Vorschein. 2012 hat sich die negative Tendenz noch deutlicher manifestiert und sich in den das Wachstum tragenden drei Säulen – Investition, Außenhandel und Konsum – niedergeschlagen. Trotz der Finanzkrise blieb China 2010 und 2011 eine attraktive Destination für ausländische Direktinvestitionen (Foreign Direct Investments, FDI). Sie sum­ mierten sich 2010 auf 105,7 Mrd. Dollar und erreichten 2011 die Rekordhöhe von 116 Mrd. Dollar. Von November 2011 bis zum September 2012 erlebte China 3 4

Michael D. Swaine, China’s Assertive Behavior – Part One: On ‘Core Interests’, S. 5, (abgerufen am 1.9.2012). Dirk Schmidt, China und die internationale Finanzkrise, Bundeszentrale für Politische Bildung, 1.10.2009, (abgerufen am 26.8.2012).

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Kerninteressen chinesischer Außen- und Sicherheitspolitik

jedoch einen Rückgang der FDI um knapp 7 Prozent.5 Da noch keine deutliche wirtschaftliche Erholung in den Industriestaaten absehbar ist, wird sich diese Tendenz wohl noch verstärken. Neben den FDI war der Anteil der durch die Regierung initiierten Investitionen ebenfalls beachtlich. Viele lokale Regierungen nutzten Pekings Rettungsmaßnahmen und zogen Vorschläge für lang gehegte Wunschprojekte aus der Schublade. Damit konnte das Wirtschaftswachstum schnell angekurbelt wer­ den.6 Im Vergleich dazu fielen die privaten Investitionen bescheidener aus. Erst seit 2011, dank der Auflockerung der Restriktionen für Investitionen, scheint der Privatsektor in China aktiver zu werden. Auf Anweisung der Regierung vergaben die staatseigenen Banken je­ doch in großem Umfang Kredite an lokale Regierungsstellen, die Aufträge für Investitionsprojekte hauptsächlich an staatseigene Unternehmen wei­ terreichten. Das Konjunkturpaket führte jedoch zur Überproduktion: Die Anlageinvestitionen in der Fertigungsindustrie sind in den Jahren 1999, 2009 und 2011 um jeweils etwa 30 Prozent gestiegen.7 Da es sich hier oft um kaum marktorientierte Wiederholungen von bereits getätigten Investitionen handel­ te, hat dieses Wachstum unmittelbar zu einer Überproduktion geführt. Nur an Wachstum und regionalem Eigennutz orientierte wiederholte Expansionen der Produktionskapazitäten lassen sich insbesondere in der Produktion von Zement, Windkraftturbinen, Fotovoltaikzellen, LEDs, in der Stahlindustrie, im Schiffsbau, Maschinenbau und in der Automobilindustrie erkennen. Die Überproduktion ist häufig durch falsche Anreize begründet: Die Unternehmen (meist die Staatsunternehmen) nehmen Investitionskredite auf, um damit die Subvention der Lokalregierungen zu bekommen. Oftmals fallen dabei die Summen der Subventionen wesentlich höher aus als die aufgenommenen Kredite. Die Subventionen führen indes zu steigenden Schulden der Lokalregierungen. Nach offiziellen Angaben betragen diese inzwischen 17 Billionen Yuan, was etwa 43 Prozent des BIP entspricht. Da viele lokale Verantwortliche ihre Angaben beschönigen, schätzen Experten, dass der reale Umfang der Schulden längst den Rahmen der tolerierten Fremdkapitalquote gesprengt hat.8 Gleichwohl wurde China dank seiner Produktionskraft 2010 zum größten Exportland der Welt. Die Abhängigkeit vom Export hat sich seit dem Eintritt Chinas in die Welthandelsorganisation (WTO) enorm verstärkt. 2006 ist der Abhängigkeitsgrad der chinesischen Wirtschaft auf 67 Prozent – und damit auf den Höchststand in Chinas Handelsgeschichte – gestiegen. Wegen der durch die Finanzkrise abgeschwächten und stark reduzierten Kaufkraft des Westens, 5 6 7 8

Website des Handelsministeriums, über (abgerufen am 28.8.2012). Dirk Schmidt, China und die internationale Finanzkrise, a.a.O. (Anm. 4). Xianling Zheng, Zhongguo Jinti Tiexiu Shidai Daolai, über (abgerufen am 1.9.2012). China‘s debt­GDP ratio hits 43%, in: Xinhua Nachrichtenagentur, 6.3.2012, (abgerufen am 1.9.2012).

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vor allem der USA und der EU­Länder, verringerte sich die Abhängigkeit 2011 auf rund 50 Prozent.9 Die anhaltenden Probleme der Industriestaaten, vor allem jene der Euro­Zone, werden Chinas Exporte weiterhin schwächen: Im Juli 2012 ist das Wachstum der Exportrate fast zum Stillstand gekommen. Sie lag bei nur 1 Prozent, während sie im Zeitraum 2002 bis 2008 im Durchschnitt 27,5 Prozent betragen hatte.10 Selbst wenn Premierminister Wen Jiabao im März 2012 in seinem Bericht über die Regierungsarbeit an die Industrie appellierte,11 das Außenhandelsvolumen um 10 Prozent zu steigern, wird das Land dieses Ziel, zumindest in diesem Jahr, nicht erreichen. Noch größere Probleme als die von der Zentral­ und den Lokalregierungen finanziell stark subventionierten Staatsunternehmen haben viele Privatunter­ nehmen. In der Provinz Zhejiang, in der die Exportindustrie den Hauptbestandteil der Wirtschaftsleistung ausmacht, stehen schon jetzt rund 60 Prozent der Privatunternehmen kurz vor der Insolvenz.12 Insgesamt werden laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Exportraten Chinas in den näch­ sten zwei Jahren weiter sinken.13 Neben Investitionen und Exporten bildet der Binnenkonsum schließlich die dritte Säule der chinesischen Wirtschaft. Lange Zeit blieben die Parolen, die Kaufkraft der eigenen Bevölkerung zu stärken, leere Versprechen. Weder Regierung noch Unternehmen haben etwas getan, um die breiten Massen wirtschaftlich in die Lage zu versetzen, die in China produzierten Waren auch konsumieren zu können. Um China als Billiglohnland zu präsentieren, wur­ de die Mehrheit der Chinesen drei Jahrzehnte lang auf einem sehr niedrigen Niveau bezahlt. Die Lohneinnahmen der Bevölkerung machen folglich nur 40 Prozent des chinesischen BIP aus, während in vielen anderen vergleich­ baren Ländern dieser Anteil rund 60 Prozent des BIP beträgt. Umso proble­ matischer ist, dass die Einkommen für die Mehrheit der Beschäftigten in den vergangenen zehn Jahren nicht erhöht wurden, sondern sogar geschrumpft sind.14 Dies hat zur Folge, dass der Konsum in China nur sehr bescheiden zur Gesamtwirtschaftsleistung beitragen konnte, in Zahlen etwa 36 Prozent des BIP im Jahr 2011.15 9 10 11 12 13 14 15

Statistikamt der Volksrepublik China, Zhongguo tongji nianjian 2011 (China Statistics Yearbook 2011), Peking 2012. Vgl. (abgerufen am 1.9.2012). Wen Jiabao, Report on the Work of the Government, März 2012, (abgerufen am 1.7.2012). Shuding Fung, Tuijing Gaige, in: Nanfang Zhoumo, 16.1.2012, (abgerufen am 1.7.2012). International Monetary Fund, China Economic Outlook 2012, Washington, DC 2012. Vgl. Shuding Fung, Tuijing Gaige, a.a.O. (Anm. 12). Erst im Jahr 2011 hat die Regierung die Löhne, vor allem den Mindestlohn, erhöhen lassen. Private Consumption to Take up 45% of GDP by 2015, in: Xinhua Nachrichtenagentur, 22.3.2011, (abgerufen am 1.7.2012).

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Zwang zur schwierigen sozioökonomischen Transformation Das bisherige Wirtschaftsmodell ist nicht mehr haltbar – zu dieser Erkenntnis ist Chinas Staatsführung längst selbst gekommen: Seit über zehn Jahren wird da­ rüber diskutiert, mehr Gewicht auf Binnenkonsum statt auf Exporte zu legen. Dennoch hat es bisher keine substanziellen Veränderungen gegeben. Die aktuellen Entwicklungen erhöhen jedoch den Problemdruck: Die Wirtschafts­ und Finanzkrise hat die Kaufkraft der USA und der Länder der Euro­Zone geschwächt. Zudem wurden in den betroffenen Industriestaaten Programme aufgelegt, welche die ehedem abgewanderten Industrien aus den Entwicklungs­ und Schwellenländern ins eigene Land zurückholen sollen. Ferner lauern viele süd­, ostasiatische und osteuropäische Länder auf einen Ortswechsel von multinationalen Unternehmen. Chinas exportorientierte Industrie erlebt ge­ rade, dass sie immer weniger Bestellungen von den (westlichen) Stammkunden erhält. Die in den arbeitskraftintensiven Fabriken tätigen Arbeitnehmer fangen ebenfalls an, um ihre Arbeitsplätze zu bangen, weil die Löhne in anderen Ländern mittlerweile noch geringer sind als in China. Ein anderer Zwang kommt nicht von außen, sondern von Chinas demogra­ fischer Situation. Wie Erfahrungen in Japan zeigen, wird China schon in 10 bis 15 Jahren mit der Herausforderung einer immer stärker alternden Gesellschaft konfrontiert werden. Die so genannte demografische Dividende, die Chinas Wachstum in den vergangenen drei Jahren in hohen Maß getragen hat, wird in absehbarer Zeit verschwinden. Der chinesischen Zeitung China Daily zufolge ist China im internationalen Vergleich das Land mit der größten Anzahl von Senioren und der am schnellsten alternden Bevölkerung.16 Viele Experten sorgen sich nun, dass China noch nicht einen Entwicklungsstand wie Japan in den 1980er und 1990er Jahren erreicht haben wird, bevor es die vollen Auswirkungen der Überalterung zu spüren bekommen wird. Wie die Statistik zeigt, wird der Anteil der älteren Menschen auch dank des höheren Lebensstandards immer größer, während demgegenüber der Anteil der Kinder, auch wegen der rigorosen staatli­ chen Familienplanung, immer kleiner wird. Nach der Prognose der chinesischen Bevölkerungsbehörde wird die Gruppe der jungen arbeitsfähigen Menschen (im Alter von 20 bis 29 Jahren) im Zeitraum von 2010 bis 2030 um 30 Prozent schrumpfen. Hingegen wird die Gruppe von Senioren ab 65 Jahren in demselben Zeitraum jährlich um 3,7 Prozent steigen.17 Die Weltbank warnt deshalb vor dem Schrumpfen der Anzahl chinesischer Arbeitskräfte ab 2015.18 Schon heute herrscht ein Mangel an Wanderarbeitern in der wirtschaftlich wichtigen Küstenregion Chinas. Denn dort ist ein nach dem Nobelpreisträger 16 Lianhe Zaobao, Zhongguo zheng baobu jinru laolinghua shehui, (abgerufen am 1.9.2012). 17 The Most Surprising Demographic Crisis ­ A New Census Raises Questions About the Future of China’s One­child Policy, in: The Economist, 5.5.2011. 18 The World Bank, China 2030: Building a Modern, Harmonious, and Creative High­income Society, Washington, DC 2012.

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Sir William Arthur Lewis benannter Wendepunkt (Lewis Turning Point)19 bereits erreicht: Die Industrie kann nicht mehr von den billigen Arbeitskräften ländlicher Agrarregionen profitieren und muss nunmehr höhere Löhne zahlen. Darüber hinaus ist dann noch ein spezifisch chinesisches Phänomen für die Wirtschaft sowie für die künftige Gestaltung der Sozialpolitik maßgebend: Wegen der Wirkungen der Ein­Kind­Politik entstehen immer mehr Mikro­Familien und zwar in einem Verhältnis von 1:2:4, das heißt, ein junges Ehepaar hat ein Kind zu ernähren und die Eltern beider Seiten mitzuversorgen: Mit den bescheidenen Gehältern wird ein junges Ehepaar dieser Art des Generationenvertrags auf Dauer nicht mehr gewachsen sein. Wegen der schlechten Lebensqualität (minderwertige Qualität der Luft, der Lebensmittel und der ungesunden Lebensart) sind in China 260 Mio. Menschen chronisch krank. Diese Situation wird sich bis 2030 noch verschlechtern.20 All diese Entwicklungen werden verheerende Folgen sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für den Aufbau eines tragfähigen Sozialnetzes und da­ mit auch für die gesellschaftliche Stabilität Chinas haben. Demgegenüber er­ scheint es paradox, dass es in China derzeit im Durchschnitt noch sehr viele junge arbeitsuchende Menschen gibt. Die Finanzkrise im Westen und die damit verbundene schwache Konjunktur in China führen dazu, dass seit 2011 mehr Hochschulabsolventen auf Jobsuche sind als es Arbeitsplatzangebote gibt. Nach offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosenquote derzeit 4,5 Prozent.21 Da China sich in einer strukturellen Transformation befindet, können die Universitäten je­ doch nicht den Bedarf von Privatunternehmen nach ausreichend qualifizierten Absolventen decken. In etwa 15 Jahren wird die Regierung allerdings mit einem anderen Problem konfrontiert sein, welches jetzt bereits in den Küstenregionen zutage tritt, näm­ lich dem unzulänglichen Sozialsicherungssystem einer vergreisenden Gesellschaft. Die chinesische Regierung hat 2002 den National Council for Social Security Fund (NCSSF) gegründet, um den zu erwartenden Engpässen entgegenzuwirken: Offiziellen Angaben zufolge verzeichneten die Einnahmen der fünf staatlichen Versicherungen (Renten­, Kranken­, Mutterschaftsschutz­, Arbeitslosen­ sowie Unfallversicherung) zwar zuletzt einen jährlichen Anstieg von 27,7 Prozent auf rund 2,4 Billionen Yuan, während die Ausgaben jährlich nur um 21,8 Prozent auf 1,81 Billionen Yuan stiegen.22 Hinter diesem scheinbar positiven Saldo verbirgt sich jedoch in grundlegendes Problem: Das chinesische Sozialversicherungssystem ist weder integriert noch wird das Geld in einer transparenten Art und Weise ver­ waltet. So hätte bis Ende 2011 die Rentenversicherung auf die Privatkonten ihrer 19 Yiping Huang, What Does the Lewis Turning Point Mean for China? A Computable General Equili­ brium Analysis, China Center for Economic Research, Working Paper Series, No. E2010005, Peking 2010. 20 Vgl. (ab­ gerufen am 22.8.2012). 21 Über (abgerufen am 20.8.2012). 22 Ebd.

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Versicherungsnehmer rund 2500 Mrd. Yuan übertragen sollen. In Wirklichkeit standen aber nur 270,3 Mrd. Yuan zur Verfügung.23 Der Rentenversichungsexperte Zheng Binwen spricht deshalb davon, dass unter dem jetzigen Verwaltungsmodell die Rente in 15 Jahren nicht einmal ausreichen wird, um sich jeden Tag ein ein­ faches Lunchpaket im Wert von einem Dollar leisten zu können.24 Zwei Optionen bestehen hinsichlich des Sozialsystems: Entweder es gelingt, die notwendige Reform zu implementieren; dann könnte nach Einschätzung der Experten von McKinsey der binnenstaatliche Konsum in ca. 13 Jahren wirklich die treibende Kraft des chinesischen Wachstums werden.25 Oder die Umgestaltung des Systems scheitert, dann würde China in einen Zustand eintreten, wie ihn Lateinamerika in den 1980er und 1990er Jahren erlebt hat, in die so genannte „Middle Income Trap“ fallen, wovor auch die Weltbank China warnt.26 Notwendige politische Reformen Neben der abschmelzenden demografischen Dividende besteht nun ein weiterer systemischer Faktor, der das Land daran hindert, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Chinas Wirtschaftswunder ist nicht nur wirtschaftlichen Reformen, sondern auch Deng Xiaopings mutigen Reformen im politischen Bereich zu ver­ danken. Nun sehen viele China­Experten, dass die Vorteile, welche die Reformen erbracht haben, inzwischen verbraucht sind. Auch innerhalb der Staatsführung wird der Ruf nach weiteren Reformen laut. Premierminister Wen Jiabao hat den Reformbedarf wiederholt artikuliert. Aber er selbst vermittelte gegenüber der Öffentlichkeit ein „Ich schaffe es nicht mehr“­Gefühl.27 Chinesische Medien und kritische Intellektuelle sprechen ebenfalls von Reformen, aber meistens in Form von Wunschdenken. Die Frage ist deshalb nicht mehr ob, sondern wie sich das politische System wandeln wird. Es liegt auf der Hand, dass trotz großer Fortschritte in der Wirtschaft das politische System des Landes immer noch ein ideologisch­ politischer Hybrid von teils leninistischem, teils chinesisch­traditionellem Autoritarismus und Marktwirtschaft geblieben ist. Auch deshalb ist es reine Selbstironie, dass China sich als ein Land der Marktwirtschaft tituliert, wenn es um die Anerkennung dieses Status seitens der EU und anderer westlicher Staaten geht. Nicht ohne Grund steht China im globalen Economy Ranking von 2011 hinsichtlich des Grades der Marktwirtschaft auf dem 91. Platz und liegt damit sogar hinter der Mongolei, Albanien und Belarus. Wie schwer es für chinesische Privatunternehmen ist, in ihrem eigenen Land Geschäfte zu ma­ chen, zeigen weitere Bewertungen aus der genannten Untersuchung: „Starting 23 Qi Wu Xianxing tizhixia shiwunianhou tuixiu chibuqi hefan, (abgerufen am 20.8.2012). 24 Ebd. 25 Yuval Atsmon, Meet the 2020 Chinese Consumer, McKinsey & Company 2012. 26 The World Bank, China 2030, a.a.O. (Anm. 18). 27 Vgl. (abgerufen am 26.7.2012).

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a business in China (151)“, „Paying tax (122)“, „Obtaining construction per­ mits (179)“.28 Der Skandal um das Mitglied des Politbüros Bo Xilai illustriert unter anderem auch diese dunkle Seite der chinesischen Vetternwirtschaft. Im Unterschied zur Amtszeit von Jiang Zemin bestehen die Probleme unter der Führung von Hu Jintao und Wen Jiabao darin, dass der Umfang der Korruption ein vorher nie dagewesenes Niveau erreicht hat29 und dass die Skandale immer „zufällig“, nicht aber durch die Medien oder andere institutionelle Wege „aufgedeckt“ wurden.30 Offensichtlich wollen Regierungsbehörden und die Führungskräfte der mäch­ tigen Staatsunternehmen weitere politische Reformen verhindern, weil diese ihren Interessen zuwiderlaufen könnten. Die größte Zielscheibe der politischen Reform ist nämlich die Regierung selbst: Das Regierungsbudget soll transparenter gemacht werden, um damit Kontrolle zu ermöglichen; der Zentralregierung und den Lokalbehörden soll eine Rechenschaftspflicht auferlegt werden, wenn sie beispielsweise Daten gefälscht haben, Ressourcen verschwendet oder benötig­ te öffentliche Dienstleistungen nicht erbracht haben; die Behörden sollen eine serviceorientierte Einnahmepolitik verfolgen. Zwischen der Zentralregierung und den Lokalbehörden soll eine gerechte Aufteilung der Steuereinnahmen und Gebühren etabliert werden. Kurz gefasst: Die uneingeschränkte Macht der Regierung bzw. der Kommunistischen Partei Chinas soll durch mehr Rechtsstaatlichkeit eingeschränkt werden, indem Gesetze und nicht wie bislang die Willkür eines Machthabers die letzte Instanz darstellen. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn die höchste Priorität der Kommunistischen Partei Chinas besteht ja in der Erhaltung ihres Machtmonopols.31 Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass die fünfte Führungsgeneration un­ ter Xi Jinping Rechtsstaatlichkeit fördern wird. Es ist jedoch möglich, dass die Staatseinnahmen zwischen der Zentralregierung und den Lokalbehörden neu verteilt werden, damit die Lokalbeamten „öffentliche Güter“ bereitstellen, sprich die Grundbedürfnisse der Bevölkerung besser befriedigen können. Das gegenwärtige politische System behindert nicht nur die Entfaltung der Marktwirtschaft und die Etablierung der Rechtsstaatlichkeit, sondern blockiert auch die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Die Internetzensur wurde in den vergangenen zehn Jahren wesentlich verschärft. Aus einer jüngsten Studie der Carnegie Mellon University geht hervor, dass China über die raffinierteste Zensurtechnologie für das Internet verfügt. Die Kommunikation im Internet 28 Über (abgerufen am 1.9.2012). 29 Xiaolu Wang, Zuijing shinian longduan fubai zengduo doushi gaige yanzhong tuibu, (abgerufen am 20.8.2012). 30 Ebd. 31 Vgl. Johnny Lin, Are China’s Reforms Still Going Anywhere?, (abgerufen am 20.8.2012).

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wird sofort blockiert, wenn sensible Wörter oder Begriffe eingegeben werden.32 Themen wie die 40 Selbstverbrennungen von tibetischen Mönchen (seit 2011) werden nie öffentlich diskutiert. Folglich hat die Bevölkerung keine Möglichkeit, um sich zu informieren und ihre Beschwerden publik machen zu können. Diese Unterdrückung führt wiederum zu Revolten: Jahr um Jahr steigt die Zahl der so genannten „Massenunfälle“ (Streiks, Demonstrationen etc.). Die Lokalbehörden reagieren darauf mit noch mehr Kontrolle, schärferen Überwachungsmethoden und harter Unterdrückung. Das hat wiederum zur Folge, dass die Kosten für die Maßnahmen der so genannten „politischen Stabilität“ ständig steigen. Im Jahr 2011 sollen die Ausgaben für die „Kasse für die Stabilitätserhaltung“ (weiwen jingfei) um 11,5 Prozent gestiegen sein und inzwischen insgesamt 701,8 Mrd. Yuan betragen. Im Vergleich dazu lagen die Militärausgaben in demselben Jahr nur bei 670,3 Mrd. Yuan.33 Sowohl Hu Jintao als auch sein Nachfolger Xi Jinping haben erkannt, dass dringend Reformen durchgeführt werden müssen. Allerdings wird eine ernsthafte Reform im politischen Bereich sehr unwahrscheinlich sein, weil damit zu viele Ungewissheiten für die Kommunistische Partei verbunden wären. China wird daher weiterhin auf seine wirtschaftspolitischen Instrumente setzen, indem die bisherigen Restriktionen gegenüber dem Privatsektor gelockert werden. Privatunternehmen werden mehr Türen für Investitionen geöffnet, in einem Teil der Sektoren, die bislang exklusiv von Staatsunternehmen bedient werden, etwa im Gesundheits­, Energie­ und Finanzbereich.34 Schon in der ersten Jahreshälfte 2012 ist das Investitionsvolumen durch die chinesische Privatwirtschaft um 26 Prozent angestiegen. 60 Prozent der Investitionen in China wurden im selben Zeitraum von der Privatwirtschaft getätigt.35 Zudem wird es weitere Steuererleichterungen für die von der Finanzkrise an­ geschlagenen Unternehmen geben, was für die Regierung, insbesondere für die Lokalregierungen eine merkliche Einbuße ihrer Einnahmen bedeuten wird. Teile der industriellen Produktion werden von der Küstenregion ins Landesinnere verlagert, sodass der Bedarf an billigen Arbeitskräften zumindest noch für wei­ tere 10 bis 15 Jahre befriedigt werden kann.36 Und schließlich hat die chinesische Regierung auch noch die Instrumente der Geldpolitik in der Hand, um bei Bedarf den Export und damit seine Wirtschaft zu fördern.

32 Vgl. (abgerufen am 26.8.2012). 33 The Cost of Stability Maintenance in China, (abgerufen am 26.8.2012). Die hier genannte Angabe ist auch durch viele wissenschaftliche Untersuchungen in China bestätigt worden. 34 Vgl. (abgerufen am 26.8.2012). 35 Ebd. 36 Vgl. (abgerufen am 26.8.2012).

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Suche nach einem Durchbruch: „Go Global Strategy“ Die chinesische Regierung wird weiterhin ihre „Go Global Strategy“ (zouchuqu zhanlue) forcieren. China hat Ende der 1990er Jahre damit angefangen, unter die­ ser Bezeichnung seine Außenhandelspolitik zu formulieren und zu praktizieren. Ursprünglich wurden Staatsunternehmen gefördert, damit diese gezielt Rohstoffe, insbesondere Öl und Gas, im Ausland erwerben, indem etwa Investitionen im Sudan oder in Angola getätigt wurden. Mit der Zeit wurde die Strategie auf wei­ tere Wirtschaftssektoren ausgedehnt. Ende 2011 hat China bereits insgesamt 380 Mrd. Dollar im Ausland investiert. Über 18 000 chinesische Unternehmen sind auf allen Kontinenten aktiv.37 Diese Zahlen scheinen im Vergleich zu den inter­ nationalen Aktivitäten westlicher Länder und Unternehmen zwar noch gering, aber die Wirkung der Strategie hat sich bereits in vielen Regionen gezeigt. China ist inzwischen Afrikas zweitgrößter regionaler Handelspartner geworden. Das chinesisch­afrikanische Handelsvolumen hat sich zwischen 2006 und 2011 auf 166 Mrd. Dollar verdreifacht.38 Die „Go Global Strategy“ ist heute also nicht mehr nur auf Rohstoffe, son­ dern vielmehr auf einen globalen Markt, insbesondere auch für chinesische Privatunternehmen, ausgerichtet.39 Für ein Land wie China mit exzessiver Überproduktion ist dieser Schritt enorm wichtig. Der Anteil der Exporte in Nicht­Industriestaaten wurde bereits um über 6 Prozent erhöht.40 Die „Go Global Strategy“ als Teil der nationalen Entwicklungsstrategie wurde in den ver­ gangenen Jahren auch auf die Hochtechnologiesektoren westlicher Länder ausge­ richtet. Chinas enorme Devisenreserven bieten hierfür gute Voraussetzungen. Da China innerhalb der nächsten fünf Jahre eine rasche Transformation von einer ex­ portorientierten zu einer vom Binnenkonsum getriebenen Wirtschaft voraussicht­ lich nicht schaffen kann, wird sein Wachstum von der Konjunktur seiner größten westlichen Handelspartner abhängen. Sollte sich die Lage in den USA und der EU in den nächsten ein bis zwei Jahren nicht verbessern, wird auch Chinas Wirtschaft noch weiter schrumpfen. Hinzu kommt, dass die weltweit stärker werdenden pro­ tektionistischen Tendenzen für China verheerende Folgen haben werden. Implikationen für die Außen- und Sicherheitspolitik Je unsicherer die chinesische Regierung die globale wirtschaftliche Lage wähnt, desto mehr strebt Peking in der Außen­ und Sicherheitspolitik danach, das Land 37 Zhongshu Zou, Zhongguo haiwai touzi jinshouyi wei fu 268 yiyuan, (abgerufen am 2.9.2012). 38 Chinese State Media Slam Hillary Clinton’s Speech in Africa, in: The Guardian, 3.8.2012, (abgerufen am 2.9.2012). 39 Chinese Government Encourages Private Enterprises to Invest in Overseas Market, in: Securities Dai­ ly, 4.7.2012, (abgerufen am 10.8.2012). 40 Vgl. (abgerufen am 10.8.2012).

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vor Risiken zu schützen. Der Streit um Hoheitsrechte im Südchinesischen Meer mit Vietnam und den Philippinen und die Spannungen mit Japan wegen der Senkaku­Inseln tangieren auf den ersten Blick das Kerninteresse der nationalen Souveränität Chinas. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich jedoch um die Frage der Ressourcen (Öl, Gas und Fischerei), welche die Grundlage der wirt­ schaftlichen Prosperität Chinas bilden. Gleichwohl gibt es auch interne Unterschiede und Konflikte bei der Interpretation (der Hierarchie) der Kerninteressen, welche die Interessenlagen verschiedener Institutionen innerhalb der Volksrepublik China widerspiegeln. Während das Handelsministerium daran interessiert ist, mit den ASEAN­Staaten einschließlich Vietnam und den Philippinen gute Handelsbeziehungen zu pflegen, will das Verteidigungsministerium den Herausforderern (Vietnam, Philippinen und Japan) lieber die Faust zeigen. Die Drohgebärde, die vor kurzem zur Schau gestellt wurde, hat der Weltöffentlichkeit Sorgen bereitet. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass China leichtsinnig Krieg schürt, zumal nicht in einer Phase, in der das Land weiterhin Spielraum hat und braucht, um sich wirtschaftlich weiterzuentwickeln. Die USA können mit ihrer Präsenz und einer klugen Diplomatie dafür sor­ gen, dass der Asien­Pazifik­Raum kurz­ und mittelfristig friedlich bleibt. China wird sich wohl auch in der Amtszeit von Xi Jinping darauf besinnen müssen, dass es so wenig treue Freunde unter den Nachbarländern hat. Zwar wurde die chinesische Marine unter der Führung von Hu Jintao massiv aufgerüstet,41 aber noch nicht so weit, dass sie imstande wäre, einen Krieg erfolgreich zu führen. Es besteht also noch Zeit, um den Frieden in der Region auf diplomatischem Wege zu sichern. Die Weltöffentlichkeit wird sich aber auch daran gewöhnen müssen, dass China von seinem von Deng Xiaoping geprägten „unauffälligen Profil in der Weltöffentlichkeit“ Abschied nimmt und immer selbstbewusster als „Großmacht“ in der Welt auftreten wird.

41 China Announces Formal Handover of First Aircraft Carrier, in: Reuters, 25.9.2012, (abgerufen am 27.9.2012).

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Deutschland: Gestaltungsmacht wider Willen Stefan Mair Seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat Deutschland in eine Position gerückt, in der von der Bundesrepublik innerhalb und außerhalb Europas Führung erwar­ tet wird. Nach anfänglichem Zögern hat die Bundesregierung diese Rolle auch akzeptiert. Allerdings werden ihr darin in zweierlei Hinsicht wesentliche innenpo­ litische Grenzen gesetzt. Die eine ist in einem Fortbestand der historisch gewach­ senen Haltung zu sehen, dass sich Deutschland international und auch auf euro­ päischer Ebene zurückhalten solle. Die andere, wichtigere, besteht in der Frage, wo die Belastungsgrenzen für die deutsche Volkswirtschaft und Gesellschaft bei der Übernahme von europäischen und internationalen Verpflichtungen liegen. Gesellschaftliche Akzeptanz Die deutsche Gesellschaft ist eine der am schnellsten alternden weltweit.1 Kein Land kann einen derartig raschen demografischen Wandel spurlos verkraften. Umso überraschender ist, dass bisher das Thema Generationenkonflikt in der öffentlichen und politischen Debatte eine eher sekundäre Rolle spielt. Zwar gibt es zum Teil durchaus hitzig verlaufende Diskussionen über eine künftige gerechte Lastenverteilung zwischen den Generationen, die sich häufig an den Themen Rentensystem oder öffentliche Verschuldung entzünden. Doch haben sich bislang keine nennenswerten politischen oder gesellschaftlichen Kräfte in dieser Debatte klar auf der einen oder anderen Seite positioniert. Einer der Hauptgründe hierfür dürfte die hohe gesellschaftliche Akzeptanz für ein dichtes und leistungsfähiges System sozialer Sicherung sein. Sozialausgaben 1

2050 wird voraussichtlich ein Drittel der Bevölkerung 65 Jahre und älter sein (2008: 20,4 Prozent). Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, Wiesbaden 2009, Excel­Datei, Ta­ bellenblatt Variante 1­W1 AQ, , (abgerufen am 30.8.2012). Das Durchschnittsalter wird dann 50,3 Jahre betragen, die derzeitige (2008) Bevölkerung von 82 Mio. auf 69,4 Mio. gesunken sein. Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Deutschland in Zahlen 2012, Köln 2012, S. 7.

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nehmen den weitaus größten Anteil der Ausgaben öffentlicher Haushalte ein. Es gibt ein umfassendes Netz, das Risiken der Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit sowie Aufwendungen für Ausbildung und Altersversorgung absichert.2 Das überdurchschnittlich große Volumen der Sozialbeiträge (15,9 Prozent) resultiert jedoch auch in einer im internationalen Vergleich ho­ hen Abgabenbelastung insgesamt (2011: 38,7 Prozent des BIP).3 Zwar ist das Netz sozialer Sicherung durchaus an einigen Stellen gelo­ ckert und den Erfordernissen des demografischen Wandels angepasst wor­ den.4 Trotz dieser Maßnahmen befürchten Kritiker, dass in den kommenden Jahrzehnten demografisch bedingt Kosten der sozialen Sicherung erwachsen, die von der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung und der unter internationa­ lem Wettbewerbsdruck stehenden Wirtschaft kaum mehr zu tragen sein wer­ den. Weitere Reformen bei den staatlichen Sozialleistungen erscheinen deshalb unumgänglich. Die bisherige Reform der sozialen Sicherungssysteme hat zu deutlichen Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen. Von 2006 bis 2011 ist die Arbeitslosenquote von 12 auf 7,1 Prozent gesunken.5 Dabei gelang auch eine Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit um fast 50 Prozent.6 Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten hat im April 2012 mit fast 29 Mio. den Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht.7 Die Arbeitsmarktreformen von 2003 bis 2005, die Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung und die Entschlossenheit der Unternehmen, ihren Bestand an Arbeitskräften im Wesentlichen über die Krisenphase hinweg zu halten, ha­ ben dazu geführt, dass auch in der bisher kritischsten Periode der Finanz­ und Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht wesentlich anstieg. In der Erholungsphase gelang es sogar, die Arbeitslosenrate schneller als in den vergangenen 20 Jahren zurückzuführen. Dieses Jobwunder hat erheb­ lich dazu beigetragen, dass die Krisenjahre 2007/08 weitgehend ohne soziale Verteilungskonflikte abliefen.

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Weitere Transferleistungen wie das Betreuungsgeld sind in der Diskussion. Die Sozialleistungsquote (Sozialleistungen insgesamt im Verhältnis zum BIP) lag 2010 bei 30,4 Prozent. Vgl. Statistisches Bun­ desamt, (abge­ rufen am 30.8.2012). IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 72. Die so genannten Hartz­Reformen haben die Restriktionen für den Bezug von Arbeitslosengeld er­ höht und stärker an die Leistungsbereitschaft des Arbeitssuchenden rückgebunden. Das Rentenein­ trittsalter wird schrittweise von 65 auf 67 Jahre erhöht und kann nach entsprechender Überprüfung durchaus weiter steigen. Durch die Einführung der Pflegeversicherung 1995 sollen besondere Risiken des Alterns abgesichert werden. IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 15. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank von 1,7 Mio. im Juni 2006 auf 886 000 im Juni 2011. Bun­ deagentur für Arbeit, (abgerufen am 30.8.2012). IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 13.

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Die Einkommensungleichheit ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten leicht gestiegen.8 Auch die Verteilung der Vermögen ist zwischen 2002 und 2007 etwas ungleicher geworden, bei deutlich höheren Ausgangswerten als bei der Einkommensungleichheit.9 Allerdings sind diese Werte immer noch deut­ licher niedriger als bei anderen vergleichbaren Industrieländern (USA, Japan, Großbritannien und Italien). Umstritten ist, wie sehr diese Verschiebungen zur Erhöhung der relativen Armut in Deutschland beigetragen haben. 2009 galten 15,6 Prozent der deutschen Bevölkerung als armutsgefährdet.10 Besonders be­ troffen sind Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Personen mit Migrationshintergrund.11 Die erstmals 2001 veröffentlichte internationale Vergleichsstudie der OECD zum Bildungssystem (Programme for International Student Assessment / PISA) löste in Deutschland eine umfassende Debatte über die Qualität der Bildung aus. Die im internationalen Vergleich unzureichenden Leistungen deutscher Schüler in Mathematik, Naturwissenschaften und beim Leseverständnis sowie der starke Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Abschneiden der Schüler im Test standen im Mittelpunkt der Diskussion. Seither wurden Anstrengungen zur Förderung von Kindern im Vorschulalter und mit Migrationshintergrund, zur Reduzierung der Regelschuldauer in den Gymnasien und zur Angleichung der Qualitätsstandards zwischen den Bundesländern gemacht, in deren Hoheit Schulbildung nach wie vor fällt. Die deutschen Werte der PISA­Erhebung haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Nach wie vor gibt es aber erhebliche Kritik an der Länderhoheit über die Schulbildung, am drei­ gliedrigen Schulsystem in vielen Bundesländern und an der geringen Zahl von Ganztagsschulen. Ein Spezifikum des deutschen Bildungssystems kommt allerdings kaum in internationalen Vergleichen zur Geltung: das duale Berufsbildungssystem, das Abschlüsse offeriert, die mit dem Bildungsniveau höherer Schulen vergleichbar sind. Erst in jüngerer Zeit findet dieses System international wieder erhebliche Anerkennung, da es als eine der Grundlagen der Qualität deutscher Facharbeiter und damit auch industrieller Fertigung gilt.

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Der Wert des Gini­Koeffizienten hat sich für Deutschland von 0,25 (Mitte der 1980er Jahre) auf nahezu 0,3 (Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts) erhöht. OECD, Dataset: Income Distri­ bution, Poverty, Inequality, Germany, (abgerufen am 30.8.2012). 9 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Auszug aus dem Jahresgutachten 2009/10, Analyse zur Einkommens­ und Vermögensverteilung in Deutschland, S. 322­325. 10 Elfter Rang im OECD­Vergleich; es handelt sich hier aber um relative und nicht absolute Armut: Die Armutsdefinition umfasst jene Bevölkerungsteile, die bis zu 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beziehen. Wirtschaft und Unterricht, Nr. 6 (2012), S. 2f. 11 Ebd., S. 4.

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Wirtschaftskraft Trotz der Qualität des Berufsbildungssystems ist in einigen Sektoren und Regionen wachsender Fachkräftemangel deutlich spürbar. Vermehrt können Stellen für höher Qualifizierte insbesondere in den technischen Berufen nicht besetzt werden. Der Fachkräftemangel ist zunehmend ein Grund dafür, dass deutsche Unternehmen ihre Investitionsstandorte ins Ausland verlagern, führt aber auch zu verstärkten Anstrengungen, höher Qualifizierte aus dem europäischen Ausland, vor allem aus Süd­ und Mittelosteuropa, anzuwerben. Der Fachkräftemangel wird auch den verstärkten Einsatz kapitalintensiver Produktion begünstigen. Insgesamt ist die Produktivität deutscher Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren ge­ stiegen, blieb aber dennoch beträchtlich hinter den Produktivitätszuwächsen an­ derer Industrieländer zurück.12 Aufgrund einer an der Produktivitätsentwicklung angepassten Lohnpolitik entwickelten sich die Lohnkosten besonders im euro­ päischen Vergleich moderat, wodurch Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessern konnte.13 Die Löhne (und nötigenfalls Sozialleistungen) reichen aus, um in Deutschland seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die deutsche Sparquote betrug in den vergangenen Jahren um die 11 Prozent, deutlich mehr als in ande­ ren OECD­Ländern.14 2010 waren deutsche Haushalte im Schnitt mit annä­ hernd 100 Prozent ihres verfügbaren Einkommens verschuldet. Dieser Wert ist 15 Prozentpunkte geringer als 2003 und deutlich unter dem Niveau in den USA, Japan und Großbritannien.15 Trotz der hohen Belastungen des deutschen Bankensystems in Folge der interna­ tionalen Finanzmarktkrise und der Schuldenkrise in der Euro­Zone kann weder für Privatpersonen noch für Unternehmen generell von einer Kreditklemme gespro­ chen werden. Die Zinssätze sind gegenwärtig außerordentlich niedrig – sowohl für 12 Zwischen 2001 und 2007 stieg die Arbeitsproduktivität jährlich um 1,4 Prozent, 2007 bis 2009 sank sie um 1,2 Prozent, 2009 bis 2010 stieg sie erneut um 1 Prozent. Die Vergleichszahlen für den OECD­ Durchschnitt lauten 1,9 Prozent, 0,1 Prozent und 2 Prozent; für die USA: 2 Prozent, 2 Prozent und 2,9 Prozent; für Japan 2,1 Prozent, ­0,9 Prozent und 3,2 Prozent; für die G7­Staaten insgesamt: 1,8 Prozent, 0,4 Prozent und 2,2 Prozent. OECD iLibrary, Excel­Datei BIP­Wachstum je geleistete Arbeitsstunde (302011041P1G088.xls), (abgerufen am 30.8.2012). 13 Gemessen am Basisjahr 2005 (= 100) erhöhten sich die Lohnstückkosten von 99,9 in 2001 auf 104,6 in 2011. IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 51. 14 OECD iLibrary, Household Saving Rates, (abgerufen am 30.8.2012). 15 OECD iLibrary, Household Wealth and Indebtedness, (abgerufen am 30.8.2012).

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Kredite als auch für Spareinlagen. Die Inflationsrate hat sich zwar unmittelbar nach der Finanzmarktkrise (2007: 2,3 Prozent, 2008: 2,6 Prozent) und jüngst (2011: 2,3 Prozent) deutlich erhöht,16 blieb aber im Mittel (1,6 Prozent) seit Einführung des Euro deutlich unterhalb der von der EZB definierten Obergrenze von 2 Prozent.17 Insgesamt hat sich die deutsche Wirtschaft von der Wirtschafts­ und Finanzkrise 2007 bis 2009 sehr viel schneller und kräftiger erholt, als allgemein erwartet.18 Der schnelle Aufschwung nach 2009 wurde in der Anfangsphase vor allem von einem kräftigen Anstieg der Exporte getragen, erst 2011 zog dann die Binnennachfrage an. Die hohen Exportzahlen sind Ausdruck der deutlichen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Diese ist vor allem auf vier Faktoren zurückzuführen: auf die Strukturreformen des Arbeitsmarkts 2005, auf die an Produktivitätszuwächsen orientierte moderate Lohnpolitik der Sozialpartner, auf ein stabiles währungspolitisches Umfeld und – last but not least – auf die Anstrengungen der Unternehmer, gerade während der Krisenphase Produktionsprozesse zu optimieren, neue Märkte zu erschließen und ihren Mitarbeiterstand zu halten. Im Vergleich zu anderen klassischen Industrieländern ist der Anteil in­ dustrieller Wertschöpfung an der Entstehung des BIP in Deutschland mit 25,6 Prozent (ohne Baugewerbe) noch immer relativ hoch.19 Eine umfassende Wertschöpfungskette, eine Mischung aus großen multinationalen Unternehmen und einem breiten Mittelstand sowie die Orientierung am globalen Wettbewerb zeichnet die deutsche Industrie aus. Dagegen gilt der Dienstleistungssektor noch immer als ausbaufähig, obwohl er mittlerweile 69 Prozent des BIP erzeugt20 und 73,8 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt.21 Die Staatsquote hat sich in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren leicht verringert und lag zuletzt deutlich niedriger als im Schnitt der Euro­Zone und in Großbritannien.22 Mit dem Verkauf von Anteilen an Unternehmen des Telekommunikations­, Post­, Verkehrs­ und Energiesektors hat sich der Staat aus der Wirtschaft zum Teil zurückgezogen, hat aber im Banken­ und Sparkassenbereich und bei ausgewählten Unternehmen nach wie vor großen Einfluss. 16 IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 65. 17 Statistisches Bundesamt, Preise – Fast zehn Jahre Euro, Wiesbaden 2011, S. 4. 18 Nach dem höchsten Rückgang des BIP seit Gründung der Bundesrepublik um 5,1 Prozent 2009 konnte die deutsche Volkswirtschaft 2010 ein Wachstum von 3,7 Prozent verzeichnen und 2011 ei­ nes von 3 Prozent (vgl. IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 21). 2012 wird mit einem konjunkturell bedingt mäßigen Wachstum von unter 1 Prozent gerechnet, während für 2013 wieder 1 Prozent prognostiziert wird. Vgl. Bundesregierung, Deutschland bleibt auf Wachstumskurs, (abgerufen am 22.10.2012). 19 IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 25. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 26. Die Landwirtschaft spielt gemessen an volkswirtschaftlichen Kennzahlen eine vernachlässig­ bare Rolle, die allerdings nicht ihre beträchtliche politische und gesellschaftliche Bedeutung widerspiegelt. 22 2002: 48 Prozent, 2011: 45,3 Prozent. OECD StatExtracts, National Accounts at a Glance: 5. General Government, (abgerufen am 30.8.2012).

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Politische Gestaltung Die Bundesregierung vertritt national und auf Europaebene eine klare Haltung: Hauptursache der Krisen in der Euro­Zone ist die Überschuldung öffentlicher Haushalte. Sie löste das Misstrauen an den internationalen Finanzmärkten aus, ob eine Reihe hoch verschuldeter Staaten ihre Kredite nach wie vor bedie­ nen könnten. Sie engt die künftigen Verteilungs­ und Gestaltungsspielräume staatlichen Handelns ein und belastet schließlich in kaum verantwortlichem Maße künftige Generationen. Diese Analyse wird von wesentlichen Teilen der parteipolitischen Opposition mitgetragen. Entsprechend gelang es be­ reits im Juni 2009, eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, bis 2016 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Sie verfolgt ihren stabilitätsorientierten Kurs konsequent auf europäischer Ebene und wird auch hierin weitgehend von der politischen Opposition unterstützt. Nichtsdestotrotz hat sich die Bundesregierung zu weiteren Ausgabenpro­ grammen verpflichtet, etwa für Bildung.23 Kontrovers diskutiert werden hingegen weitere Sozialausgaben, wie das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder unter drei Jahren nicht in eine Kindertagesstätte geben wollen. Auch die sektorale und regionale Prioritätensetzung bei den Investitionen in die physische Infrastruktur, die mittlerweile spürbare Verfallserscheinungen aufweist, ist umstritten. Die wichtigsten Wirtschaftsförderprogramme zur Überwindung der Krise 2007/08 waren die Ausweitung des Kurzarbeitergelds und die so genannte Abwrackprämie, die zur PKW­Neuanschaffung ermutigen sollte. Während die erste Maßnahme gemeinhin als großer Erfolg gilt, wird der Beitrag letz­ terer zur Krisenüberwindung kontrovers diskutiert. Unmittelbare staatliche Interventionen in der Wirtschaft zur Beilegung der Krise konzentrierten sich auf den Bankenbereich, für dessen notleidende Institute ein Rettungsfonds aufgelegt wurde. Die zweitgrößte Bank Deutschlands wurde teilverstaatlicht, eine system­ kritische Hypothekenbank vollkommen in Staatsbesitz überführt. Der staatliche Handlungsspielraum in der Krise war größer, weil zuvor, zwischen 2005 und 2008, das Wachstum der Staatsverschuldung abgebremst werden konnte. Gemessen am BIP sank sie in diesem Zeitraum von 68,6 auf 66,7 Prozent. Infolge der Finanzmarktkrise stieg diese Quote jedoch bis 2010 auf 83 Prozent. Aufgrund der schnellen Erholung der deutschen Wirtschaft gelang es allerdings, den Haushalt früher als erwartet auf einen Konsolidierungskurs zurückzuführen. 2013 betrug die gesamte Staatsverschuldung fast zwei Billionen Euro und damit noch immer 80,3 Prozent des BIP. 24 Zwei Faktoren waren bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen hilfreich. Zum einen haben niedrige Zinsen den Schuldendienst verbilligt: Die Flucht 23 Die 2011 mit einem Anteil von 9,4 Prozent an den Staatsausgaben den viertgrößten Posten einnah­ men. Vgl. IW, Deutschland in Zahlen, a.a.O. (Anm. 1), S. 74. 24 Bundesministerium der Finanzen (BMF), Monatsberichte des BMF, Juli 2012, Berlin, S. 90.

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deutscher und ausländischer Anleger aus Staatsanleihen der hochverschuldeten Euro­Staaten erlaubte es der Bundesrepublik, ihre Staatsanleihen zu äußerst gün­ stigen Konditionen am Markt zu platzieren. Zum anderen haben die im Zuge der wirtschaftlichen Erholung höheren Steuereinnahmen25 dazu beigetragen, die Verschuldung zurückzufahren. Nicht zuletzt aufgrund ihres sozialen Netzes ist die Bundesrepublik von einem hohen Niveau sozialer und politischer Stabilität gekennzeichnet. Dies könnte sich allerdings ändern, wenn die Garantiesumme von 211 Mrd. Euro, mit denen Deutschland die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität für hoch­ verschuldete Euro­Länder sichert, fällig wird.26 Nimmt man das Jahr 2011 zum Maßstab, würden diese Garantien 58 Prozent des Bundeshaushalts in Anspruch nehmen und damit auch die staatliche Handlungsfähigkeit stark einschränken.27 Entsprechend defensiv und vorsichtig verhält sich die Bundesregierung bei der Ausgestaltung und Bereitstellung dieser Stützungsmaßnahmen. Zudem würde bei einer Ausweitung der Hilfsmaßnahmen der Druck auf die Schuldnerländer gemindert werden, notwendige Strukturreformen umzusetzen. Außenpolitisches Handeln Die deutsche Politik steht vor der schwierigen Aufgabe, internationalen Erwartungen an ihrer Führungsrolle in Europa gerecht zu werden, ohne die Abneigung weiter Teile der Bevölkerung gegenüber einer solchen Rolle viru­ lent werden zu lassen. Zwar zeigen die Bundesregierung und wesentliche Teile der Opposition verstärkt Führungswillen. Eine Strategie, diese neue Rolle der Öffentlichkeit zu vermitteln, ist allerdings bisher kaum erkennbar. Es wird eher der Eindruck vermittelt, die Bundesregierung lasse sich von europäischen und internationalen Partnern nur so weit in die Pflicht nehmen, wie es für die Bundesbürger noch erträglich ist. Außenwirtschafts-, Handels- und Währungspolitik

Deutschland wetteifert seit langem mit den USA und Japan und seit kurzem mit der VR China um den inoffiziellen Titel des Exportweltmeisters. Die hohen Exporte bescheren Deutschland seit 1952 einen stetigen, seit 2000 einen kräftig ge­

25 Sie stiegen von 524 Mrd. Euro (2009) auf 573 Mrd. Euro (2011). Vgl. Statistisches Bundesamt, (abgerufen am 30.8.2012). 26 Anteile der Euro­Länder am erweiterten Euro­Rettungsschirm EFSF, in: Statista 2012, (abgerufen am 30.8.2012). 27 Eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt, (abgerufen am 30.8.2012).

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wachsenen Handelsbilanzüberschuss,28 machen die Wirtschaft aber auch stark von internationalen Faktoren abhängig. Unter den größeren Industrieländern ist die Außenabhängigkeit der deutschen Wirtschaft am augenfälligsten. Spätestens seit der Finanzmarktkrise, die Deutschland nicht zuletzt aufgrund seiner Ausfuhren relativ schnell überwinden konnte, hat dieser Überschuss auch eine internationale Diskussion darüber forciert, ob die globalen Handelsungleichgewichte nicht nur ein Verschulden der strukturellen Defizit­, sondern auch der Überschussländer seien. Dabei rückten vor allem China und Deutschland in den Fokus. Allerdings kann Deutschland zur Erzielung der Exporte keine Währungsmanipulation unterstellt werden. Die Beeinflussung des Euro­Kurses unterliegt der politisch unabhängigen Europäischen Zentralbank. Der Euro gilt weder als stark unter­ noch überbewertet. Zudem ist Deutschland im internationalen Vergleich ein Hochlohnland. Die hohen Exportzahlen sind zum einen der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie geschuldet, die wiederum Resultat von makroökonomischen Strukturreformen, einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und angepassten Unternehmensstrategien sind. Zum anderen profi­ tiert Deutschland von seinem Mix aus weltweit vertretenen großen und flexiblen mittelständischen Unternehmen, die mit ihrer Stärke im Investitionsgüterbereich und im Premiumsegment der Konsumgüter besonders in den aufstrebenden Märkten reüssieren konnten. Gleichwohl wird der Hauptteil des deutschen Außenhandels nach wie vor in Europa abgewickelt. Wichtigste Handelspartner sind Frankreich, die Niederlande, gefolgt von China und den USA. Bemerkenswert ist die Entwicklung des Handels mit China, das mittlerweile nicht nur an zweiter Stelle der deutschen Importländer steht, sondern sogar bei den Exporten den fünften Rang einnimmt.29 Starkes Wachstum hat auch der Handel mit weiteren aufstrebenden Märkten wie Russland (Rang 11 der Handelspartner), Türkei (Rang 17), Brasilien (Rang 20), Südkorea (Rang 21) und Indien (Rang 23) erfahren. Die Handelsbilanzüberschüsse näh­ ren die erheblichen deutschen Währungsreserven (Juli 2012: 199 Mrd. Euro), die vor allem aus Gold und Goldforderungen (72 Prozent) sowie Wertpapieren (13 Prozent) bestehen.30 Mit dem außerordentlich hohen Außenbeitrag an seiner Wirtschaftsleistung ist Deutschland stark an internationalem Freihandel interessiert. Nach wie vor ist es die Position der deutschen Politik und Wirtschaft, dass der Königsweg dahin der Abschluss der Doha­Verhandlungsrunde im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) ist. Allerdings kann sich auch Deutschland nicht vor der Erkenntnis verschließen, dass eine Auflösung der fundamen­ talen Blockaden selbst im zweiten Jahrzehnt der Verhandlungen gänzlich un­ 28 Statistisches Bundesamt, (abgerufen am 30.8.2012). 29 Statistisches Bundesamt, Außenhandel, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundes­ republik Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 1. 30 Deutsche Bundesbank, (abgerufen am 30.8.2012).

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wahrscheinlich ist. Deshalb trägt Deutschland die Global­Europe­Strategie der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2006 mit, die als zweitbeste Lösung für die Verbesserung der internationalen Handelsposition Europas den Abschluss von bilateralen Freihandelsabkommen anstrebt. Mit wem und in welcher Form diese Abkommen geschlossen werden sollen, ist allerdings zwischen den EU­Mitgliedsländern, innerhalb der Bundesregierung und in der deutschen Wirtschaft umstritten. Da die Handelspolitik in der EU ver­ gemeinschaftet ist, spielt bei deren Ausgestaltung und bei der Vertretung nationaler Interessen die Brüsseler Ebene die zentrale Rolle. Dort bezieht die Bundesrepublik meist eine mittlere Position zwischen den sehr stark of­ fensiv geprägten Handelsinteressen Skandinaviens, der Benelux­Staaten und Großbritanniens einerseits und den meist defensiv bestimmten Interessen der Mittelmeer­Anrainer. Im Fokus dieser Positionsbestimmungen stehen derzeit die Freihandelsverhandlungen mit Indien und die geplante Aufnahme von Verhandlungen mit Japan und den USA. Deutschland wendet sich international vehement gegen protektionistische Maßnahmen, sieht sich allerdings auch mit dem Vorwurf konfrontiert, dass die EU selbst nicht frei von Protektionismus sei, insbesondere im Bereich der nichttarifären Handelshemmnisse. Aufgrund der Zuständigkeit der EU trägt Deutschland alleine keine bilateralen Handelskonflikte aus. Die EU war bisher an 157 Streitbeilegungsverfahren im Rahmen der WTO als Kläger (87 Verfahren) oder als Beklagter (70) beteiligt.31 Die aus deutscher Sicht wich­ tigsten dieser Verfahren in jüngster Zeit betrafen den transatlantischen Streit um die Subventionierung der Luftfahrtindustrie und die Auseinandersetzung mit China über dessen Exportrestriktionen für Rohstoffe. Generell rückt China immer mehr in den Mittelpunkt handelspolitischer Anstrengungen Deutschlands. Auch hier befindet sich Deutschland in einer nicht einfachen Position. Einerseits ist China für viele deutsche Unternehmen zu einem herausragenden Handelspartner und Investitionsstandort geworden, so­ dass man Handelskonflikte mit dem Land keineswegs eskalieren will. Andererseits haben Beschwernisse deutscher Unternehmen bei einer ganzen Reihe von Themen – etwa geistige Schutzrechte (Patente und Markenschutz), öffentliches Auftragswesen, Anti­Dumping und Rohstoffsicherheit – ein Ausmaß erreicht, das eine schwerwiegende Wettbewerbsverzerrung bedeutet. Rohstoff-/Energiepolitik

Energieimporte sind ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Außenhandels und ein zentraler Faktor für das Funktionieren der deutschen Wirtschaft. Hauptsächlich müssen Öl (2010: 33,3 Prozent des Primärenergieverbrauchs) und Gas (21,9 Prozent) importiert werden, zunehmend auch Steinkohle 31 Welthandelsorganisation (WTO), (abgerufen am 30.8.2012).

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(12,2 Prozent).32 Die deutsche Importstruktur von Öl ist relativ diversifiziert und kaum geeignet, besondere Abhängigkeitsverhältnisse zu begründen – was nicht bedeutet, dass das Volumen der Ölimporte keine volkswirtschaftlichen Risiken birgt. Sie liegen vor allem in der Höhe und Volatilität des Ölpreises, die Inflationsdruck und rezessive Tendenzen auslösen können. Da der Ölpreis international gilt, ergeben sich hieraus allerdings keine spezifischen Belastungen für die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Umstrittener ist die Frage, ob aus den Gasimporten Deutschlands Abhängig­ keiten resultieren. Der Großteil deutscher Gasimporte wird über Pipelines ge­ pumpt, die jeweils zu einem Drittel in Russland und in Norwegen gespeist wer­ den. Einige Beobachter leiten daraus eine besondere wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands von Russland ab, die politisch instrumentalisiert werden könnte. Gegenstimmen sehen die Abhängigkeit wechselseitig. Der teure Pipelinebau definiert nicht nur eine enge Bindung des Kunden an den Lieferanten, sondern wirkt auch umgekehrt. Die Entdeckung weiterer Gasvorkommen und erhöhte Verfügbarkeit von Flüssiggastransporten haben die Intensität dieser Debatte zwi­ schenzeitlich deutlich abklingen lassen. Eine grundlegende politische Entscheidung hat indes diese Debatte wieder befeuert: Die Kernkraftunfälle von Fukushima veranlassten die Bundesregierung, im Juni 2011 die Energiewende zu verkünden, die den Ausstieg aus der Kernkraft bis 2022 und die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien an der Energieversorgung auf 35 Prozent bis 2020 vorsieht. Diese äußerst ambi­ tionierten Ziele bedingen, dass in einer Übergangsphase die Verlässlichkeit der Energieversorgung in Frage gestellt sein wird und zugleich der Einsatz von Gas und Kohle zur Energiegewinnung deutlich zunehmen wird. Dies bedeutet zum einen höhere Gas­ und Kohleimporte, zum anderen aber auch eine Erhöhung des Kohlendioxid­Ausstoßes. Dies dürfte es wiederum Deutschland außerordentlich erschweren, seinen Teil zur Erreichung des unilateral verkündeten EU­Ziels beizusteuern, bis 2020 den Kohlendioxid­Ausstoß im Vergleich zu 1990 um 20 Prozent zu ver­ ringern. Dessen ungeachtet gibt es in Deutschland starke gesellschaftliche und politische Kräfte, die noch ambitioniertere Ziele zur Abmilderung des Klimawandels propagieren. Die Umsetzung der Energiewende, ihre Vereinbarkeit mit klimapolitischen Zielen und die daraus resultierenden Belastungen bergen ein enorm hohes Konfliktpotenzial im Verhältnis zwischen Umweltbewegung, Industrieunternehmen, Energieproduzenten und privaten Verbrauchern. Die Umlage zur Förderung der erneuerbaren Energien hat mittlerweile zu deut­ lichen Belastungen von privaten Verbrauchern und Unternehmen geführt, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie insgesamt gefährden und zur Abwanderung energieintensiver Unternehmen führen kann. 32 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, (abgerufen am 30.8.2012).

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Weniger dramatisch, aber durchaus signifikant ist die Entwicklung bei der Verfügbarkeit und Preisvolatilität mineralischer Rohstoffe. Anbieterkonzentration, erhöhte Nachfrage aus den Schwellenländern, geografische Konzentration, oli­ gopole Anbieterstrukturen und Exportrestriktionen (insbesondere Chinas stra­ tegische Rohstoffsicherung) haben dazu geführt, dass der Preis einiger, für die industrielle Produktion und Hochtechnologie kritischer und wichtiger Rohstoffe (Seltene Erden, Kupfer, Aluminium, Indium, Platin­Gruppe, Tantal, Beryllium, Kobalt etc.) stark gestiegen ist bzw. enormen Schwankungen unterliegt. Die Bundesregierung reagierte darauf mit einer Rohstoffstrategie und die deutsche Wirtschaft mit Überlegungen, sich den Zugang zu Rohstoffen unmittelbar zu si­ chern und sich nicht mehr allein auf den Bezug aus den Weltmärkten zu verlassen. Die Sicherung der Handelswege für den Rohstoffimport, aber auch für deutsche Güterexporte ist in dieser Debatte noch immer ein Randaspekt. Dennoch war die Entscheidung der Bundesregierung, sich an der EU­Mission Atalanta zur Sicherung der Seewege im Golf von Aden zu beteiligen, nicht nur altruistischen, humanitären Erwägungen geschuldet, sondern dient zu­ mindest mittelbar auch der Sicherung von Handelswegen. Laut Weißbuch des Bundesverteidigungsministeriums aus dem Jahr 2006 gehört dies auch explizit zu den Aufgaben der Bundeswehr. Sicherheitspolitik und humanitäre Interventionen

Die Bedrohungen der nationalen Sicherheit in Deutschland sind weniger militä­ rischer Natur. Eingebettet in die EU und in einem partnerschaftlichen Verhältnis mit Russland sieht sich Deutschland militärisch nicht unmittelbar bedroht. Die Weiterverbreitung von Atomwaffen und die mögliche Regierungsübernahme islamistischer Kräfte in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten wird zwar mit Aufmerksamkeit und einiger Sorge von der deutschen Öffentlichkeit verfolgt, aber in ihren direkten Auswirkungen auf Deutschland eher als gering eingeschätzt. Ähnliches gilt für die Prozesse des Staatszerfalls oder das Wirken organisierter Kriminalität. Entsprechend schwer fällt es der Bundesregierung, besondere Verteidigungsanstrengungen zu begründen. Der Kurs der gegenwärtigen und der beiden vorangegangenen Bundes­ regierungen, die historisch bedingte Zurückhaltung in der internationalen Politik graduell aufzugeben und die Streitkräfte den neuen sicherheitspolitischen Aufgaben entsprechend anzupassen,33 stößt in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch auf große Skepsis – weniger aufgrund der damit verbundenen ge­ sellschaftlichen und wirtschaftlichen Lasten. Sie spielen sicherlich eine Rolle, jedoch kaum mehr als in anderen Staaten. Vielmehr ist es eine Mischung aus historischen Lehren und mangelnder Einsicht in die Notwendigkeit internatio­ nalen Engagements, die eine besondere Abneigung gegen das Eingehen außen­ 33 War bis 1990 deren alleinige Raison d’Être die Verteidigung innerhalb der Grenzen des nordatlantischen Bündnisses, wird ihre Struktur zunehmend an der Bewältigung von Auslandseinsätzen ausgerichtet.

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politischer Risiken begründet. Weite Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit leben in dem Gefühl, das Land sei nur von Freunden umgeben, die Einmischung in die Angelegenheiten Dritter berge mehr Gefahren als Chancen und die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der globalen Ordnung liege bei ande­ ren, mächtigeren Staaten, primär den USA. Die Abhängigkeit des Wohlstands in Deutschland von weltwirtschaftlichen Entwicklungen und die Bedeutung si­ cherheitspolitischer Interdependenzen werden häufig ausgeblendet. Der Einsatz militärischer Mittel zur Erreichung außenpolitischer Ziele wird äußerst kritisch hinterfragt. Eher akzeptiert sind Not­ und Entwicklungshilfe. Sicherheitspolitische Initiativen werden von der Bundesregierung weniger mit der unmittelbaren Bedrohung der nationalen Sicherheit als mit der Wahrnehmung weltpolitischer Verantwortung und bestehender Bündnisverpflichtungen be­ gründet. Entsprechend werden militärische Maßnahmen nur im multilateralen Rahmen ergriffen, vorzugsweise im Rahmen der NATO, mit Abstrichen inner­ halb der EU, in Ausnahmefällen innerhalb der UN. Deutschlands Dilemma Die deutsche Außenpolitik bekennt sich mittlerweile offen dazu, nationale Interessen zu verfolgen, doch wird dies kaum in Prioritätensetzungen oder Handlungsfeldern und Instrumenten operationalisiert. Zwar ist ein Bemühen deutscher Außenpolitik erkennbar, konzeptionelle Grundlagen für internatio­ nales Handeln zu schaffen – nicht nur im Auswärtigen Amt, sondern auch im Wirtschafts­, Umwelt­ und im Entwicklungshilfeministerium. Doch werden nur wenige dieser Konzepte dem Anspruch einer Strategie gerecht, indem sie klare Ziele und Maßnahmen zu deren Umsetzung benennen. Ein neues Dilemma tritt im Falle der Schuldenkrise in der Euro­Zone deut­ lich zutage: Zum einen fordern die USA und europäische Partner nachdrücklich eine Führungsrolle Deutschlands; zum anderen ist aber die Kritik massiv, wenn Deutschland in eine Richtung führt, die diese Staaten für falsch halten. Deutsche Außenpolitik läuft durchaus Gefahr, sich von den wichtigsten Partnern zu ent­ fremden und von kleineren Staaten als hegemonial wahrgenommen zu werden. Doch die Antwort auf dieses Dilemma kann nicht Rückzug aus der Verantwortung heißen, sondern verstärktes Bemühen, die eigene Politik zu erklä­ ren, Partner für diese Politik zu finden, diplomatisches Fingerspitzengefühl walten zu lassen und souverän mit Kritik umzugehen. Deutschland ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner staatlichen Handlungsfähigkeit unvermeidlich europäische Führungs­ und globale Gestaltungsmacht. Die Frage ist nicht, ob es diese Rollen spielt, sondern wie.

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Frankreich: Grundlagen der Grandeur Henrik Uterwedde Im 2008 verfassten Weißbuch zur französischen Außen­ und Europapolitik heißt es, das außenpolitische Gewicht des Landes hänge von „zwei strategischen Aktionslogiken“ ab: Zum einen sei es im Zuge der Globalisierung notwendig, Einflussstrategien im Bereich der Öffentlichkeit, der transnationalen Netzwerke und der internationalen Organisationen zu verfolgen; zum anderen blieben die traditionellen militärischen und diplomatischen Instrumente weiterhin wich­ tig, um gegebenenfalls auch ein Kräftegleichgewicht herstellen zu können. Die Autoren fahren jedoch fort: „Im Kern dieser beiden Logiken bleiben die klas­ sischen ökonomischen Parameter entscheidend. Demografie, Wachstum, sozi­ aler Zusammenhalt, Ausbildungsstand und Vitalität der inhaltlichen Debatten, Dynamik der Unternehmen mit Marktführern auf europäischer und globaler Ebene und einem Netzwerk kleiner und mittlerer Unternehmen, die nach außen geöffnet sind, Innovationsfähigkeit und technologischer Vorsprung: Dies sind weiterhin die unentbehrlichen und einzig dauerhaften Fundamente der Macht und des Einflusses in der Welt.“1 Um ein genaues Bild von der sozioökonomischen Lage Frankreichs als Bestimmungsfaktor seiner Außenpolitik zu gewinnen, ist es notwendig, die kon­ junkturelle Perspektive zu erweitern und den Blick auf fundamentale Stärken und Schwächen der Wirtschaft zu richten. Denn die weltweite Finanzkrise so­ wie die Turbulenzen im Euro­Raum sind nicht die Ursache der gegenwärtigen französischen ökonomischen Schwierigkeiten; sie haben vielmehr vorhandene strukturelle Probleme in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht und verstärkt. Der Fokus auf die zurzeit überwiegend diskutierten Schwächen darf jedoch nicht die vorhandenen Stärken ausblenden. Sonst wäre kaum erklärbar, dass Frankreich nach wie vor die fünftstärkste Ökonomie der Welt und (nach Deutschland) die zweitstärkste in Europa ist, das weltweit fünftstärkste Exportland ist und auch 1

La France et l’Europe dans le monde. Livre blanc sur la politique étrangère et européenne de la France, 2008­2020, Paris 2008 (Übersetzung des Autors). Die Kommission wurde vom früheren Premiermi­ nister Alain Juppé sowie von dem Renault­Manager Louis Schweitzer geleitet.

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bei den Auslandsdirektinvestitionen weltweit den dritten (als Aufnahmeland) bzw. den zweiten Platz (als Herkunftsland) belegt. Modernisierung oder Dekadenz Das Thema der sozioökonomischen Fundierung der internationalen Rolle Frankreichs hat die außenpolitischen Debatten und Entscheidungen des Landes in der Nachkriegszeit wiederholt geprägt. Ein zentraler Ausgangspunkt war da­ bei das Trauma der demütigenden Niederlage 1940 im Zweiten Weltkrieg und die anschließende deutsche Besatzungszeit bis 1944. Als wichtige Ursachen dieser nationalen Katastrophe wurden damals der seit den 1870er Jahren kumu­ lierte wirtschaftliche Entwicklungsrückstand und das ausgesprochen schwache demografische wie ökonomische Wachstum identifiziert. Eine grundlegende Erneuerung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, zuallererst die ökonomische Modernisierung sowie eine gezielte Bevölkerungspolitik, wurden nach der Befreiung Frankreichs 1944 zur nationalen Aufgabe erklärt: „Modernisierung oder Dekadenz“ lautete das Motto des ersten französischen Rekonstruktions­ und Modernisierungsplans. Als 14 Jahre später General Charles de Gaulle, der Staatspräsident der neuen, maßgeblich von ihm konzipierten Fünften Republik, seine Politik der „Größe“ und der „nationalen Unabhängigkeit“ verfolgte, war die Frage der notwendi­ gen ökonomischen Basis einer derartigen Ambition für jedermann offenkundig. De Gaulle verordnete dem Land eine ökonomische Stabilisierung und forcierte in colbertistischer Manier die industrielle Modernisierung, auch und gerade im Bereich der als „strategisch“ angesehenen Hightech­Industrien (wie der Computerindustrie, Nuklearenergie, Luft­ und Raumfahrt).2 Seither wurde jedoch immer wieder kritisch hinterfragt, ob Frankreich denn auch über die (vor allem ökonomischen) Ressourcen verfüge, um dem hohen Anspruch einer „mittleren Weltmacht“3 gerecht zu werden. Heute, angesichts der fortschreitenden Globalisierung und Europäisierung sowie unter dem Eindruck der gegenwärtigen Finanzkrise, stellt sich diese Grundfrage in neuer Dringlichkeit. Frankreich in der Wirtschafts- und Finanzkrise Wie alle OECD­Staaten war auch Frankreich von der weltweiten Finanz­ und Wirtschaftskrise 2008/09 betroffen. 2009 wurde ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,5 Prozent verzeichnet. Das war der stärk­ 2

3

Vgl. Elie Cohen, Le colbertisme high­tech, Paris 1992; Henrik Uterwedde, Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik. Vom Etatismus zur gouvernance à la française?, in: Joachim Schild und Henrik Uterwedde (Hrsg.), Frankreichs V. Republik. Ein Regierungssystem im Wandel. Festschrift für Adolf Kimmel, Wiesbaden 2005, S. 165­186, hier 165ff. Jean Chesnaux, La France, puissance mondiale moyenne, in: Politiques 3/1992, S. 11­32.

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ste Einbruch seit 1945.4 Innerhalb eines Jahres stieg die Arbeitslosenquote von 7,2 Prozent (1. Quartal 2007) auf 8,7 Prozent (1. Quartal 2008) und liegt seit Ende 2009 bei 10 Prozent. Das Beschäftigungsniveau ist damit auf dem nied­ rigsten Stand seit 2000.5 Dennoch war die französische Wirtschaft noch vergleichsweise glimpf­ lich davongekommen, wenn man etwa den starken Einbruch in Deutschland (­5,4 Prozent 2009 zu 2008) berücksichtigt. Das lag zum großen Teil daran, dass ihr wesentlicher Motor in der Binnennachfrage besteht und der Export (mit einem Anteil am BIP von 23 Prozent) nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielt; insofern hat sich die weltweite Nachfragekrise in Frankreich weniger stark ausgewirkt als in Deutschland. Hilfreich waren auch die sozialstaatlichen Umverteilungsmechanismen und staatliche Ausgaben, die als robuste automa­ tische Stabilisatoren wirken. Insbesondere hilft die hohe Sozialleistungsquote von über 30 Prozent, die Haushaltseinkommen in Krisenzeiten zu stabilisieren. Der gleiche Effekt geht von der hohen Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor (öffentlicher Dienst, staatliche Unternehmen) aus. Dies führte zunächst zu optimistischen Urteilen über die Fähigkeit der fran­ zösischen Wirtschaft, sich trotz der Turbulenzen behaupten zu können: „Das französische Modell hält stand“, urteilte die Wirtschaftszeitschrift Alternatives économiques;6 „Das letzte noch aufrechte Modell ist Frankreich“, titelte das Magazin Newsweek zu Jahresbeginn 2009, und der Economist urteilte im Mai 2009 unter der Überschrift „Vive la différence“, dass der französische Weg recht gut aussehe – „zumindest in diesen turbulenten wirtschaftlichen Zeiten“.7 Bald kehrte jedoch wieder Ernüchterung ein, weil die französische Wirtschaft – anders als beim deutschen Nachbarn – sich von der Krise nur sehr langsam er­ holte und nicht wirklich den Weg zurück zu einer neuen Dynamik gefunden hat. Die Präsidentschaftswahl im April/Mai 2012 fand in einem Klima stagnierenden Wachstums, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, roter Zahlen der Handelsbilanz und hoher Finanzierungsdefizite der öffentlichen Hand statt. Entsprechend düster war die Stimmung der Franzosen. Ihre pessimistische Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ging einher mit einer starken Ablehnung der Globalisierung. Fast zwei Drittel der Befragten beurteilten die Folgen der Globalisierung für Frankreich als „extrem negativ“; bei den Arbeitern waren es gar drei Viertel. Auch gegenüber der europäischen Integration zeigten sich die Franzosen reserviert: Eine Mehrheit von 54 Prozent sprach sich dafür 4 5

6 7

Im Vergleich waren die Rezessionen nach dem ersten Ölschock 1973/74 mit ­1 Prozent (1975) und in der letzten Rezession 1993 mit ­0,9 Prozent deutlich milder ausgefallen. Auf Einzelnachweise der verwendeten Zahlen wird hier verzichtet. Vgl. dazu die Angaben in Henrik Uterwedde, Zeit für Reformen: Frankreichs Wirtschaft im Wahljahr, DGAP Analyse 5, April 2012; ferner Coe­Rexecode: Mettre un terme à la divergence de compétitivité entre la France et l’Allemagne, Paris, 14.1.2011; Coe­Rexecode, Faiblesses et atouts de la France dans la zone euro, Paris, März 2012. Guillaume Duval, Le modèle français fait de la résistance, in: Alternatives économiques 282, Juli­ August 2009, S. 7­14. Newsweek, 19.1.2009; Economist, 7.5.2009.

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aus, die nationale Souveränität in Fragen der Wirtschaftspolitik beizubehalten, selbst wenn dies auf Kosten der europäischen Entscheidungsfähigkeit ginge.8 Gleichwohl geht es der französischen Gesellschaft nach Einschätzung von Experten nicht so schlecht, wie behauptet wird, wenn man objektive Kriterien wie Einkommens­, Lebens­ und Bildungsniveau, soziale Absicherung und Geburtenrate zugrunde legt. Es gibt aber einen „Graben zwischen der real ge­ sehen relativ günstigen Situation und ihrer ausgesprochen düsteren kollektiven Wahrnehmung“.9 Viele Franzosen stehen den unvermeidlichen Veränderungs­ und Erneuerungsprozessen ihres Sozialmodells defensiv, teilweise misstrauisch gegenüber. So ist Frankreichs neuer Präsident François Hollande seit Sommer 2012 politisch dafür verantwortlich, eine Herkulesaufgabe zu bewältigen. Er muss entgegen der ängstlichen, am Status quo festhaltenden Grundstimmung sei­ ner Landsleute das historisch bewährte, aber wenig zukunftstaugliche sozi­ ale und wirtschaftliche Modell Frankreichs behutsam reformieren, um die Wettbewerbsschwächen der Industrie zu überwinden und neue Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben. Sozialmodell auf dem Prüfstand Frankreichs nach 1945 geschaffenes, stark ausgebautes System der sozia­ len Sicherung ist wesentlicher Teil der nationalen Identität Frankreichs. Die Sozialquote (Anteil der Sozialausgaben am BIP) ist mit über 30 Prozent eine der höchsten im OECD­Raum. Die schrittweise ausgebaute, nach allen inter­ nationalen Standards durchweg großzügige soziale Absicherung aller Franzosen hat ihren Teil zur Wachstumsdynamik und zur Vermeidung bzw. Begrenzung von Armut und Prekarisierung geleistet. Mit der seit den 1930er Jahren kon­ stant verfolgten facettenreichen Familienpolitik (Familienbeihilfen als Leistung der Sozialversicherung, familienfreundliches Einkommensteuerrecht, Ausbau frühkindlicher Betreuung, Ganztagsschulen usw.) wurden die Erwerbstätigkeit der Frauen nachhaltig gefördert und Kinderarmut erfolgreich bekämpft. Diese Politik hat wesentlich dazu beigetragen, die demografische Situation Frankreichs zu verbessern: Die Bevölkerungsdynamik ist heute die stärkste in Europa. Die demografische Entwicklung eröffnet der französischen Wirtschaft enormes Wachstumspotenzial.

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9

Vgl. Jérôme Fourquet, De 1992 à 2011: De Maastricht à la crise de l’euro. Permanences et muta­ tions des clivages socio­politiques sur la question européenne, Paris, Fondation Jean Jaurès, Note 112, 9.12.2011, (abgerufen am 20.9.2012); Meinungsumfrage Sofres, (abgerufen am 20.9.2012). Philippe Estèbe, Entstehung und Niedergang eines Sozialmodells, in: Adolf Kimmel und Henrik Uter­ wedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, Bonn 2012, S. 220.

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Demgegenüber ist es trotz hoher Ausgaben für Bildung und Beschäftigung nicht gelungen, die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Sie ist eine der höchsten in Europa; nur in Spanien sind noch mehr Jugendliche arbeitslos. Der Übergang von der Schule bzw. Ausbildung in den Beruf bleibt eine große Schwachstelle. Zudem wird im Zuge der Schuldenkrise das Problem der Finanzierung der Sozialversicherung immer dringlicher. Da die Regierung am Modell einer öf­ fentlich finanzierten und organisierten „Sozialversicherung für alle Franzosen“ festhält, gleichzeitig aber die bereits sehr hohe Abgabenbelastung nicht noch weiter nach oben schrauben will, sind Reformen der sozialen Sicherungssysteme unvermeidlich geworden. So wurde in mehreren Etappen die Rentenversicherung angepasst, um diese auf den wachsenden Anteil alter Menschen in den kommen­ den Jahrzehnten vorzubereiten. In der Krankenversicherung wurden Leistungen eingeschränkt. Die Versicherten müssen mehr zahlen, auch um die gekürzten Leistungen durch Zusatzversicherungen zu kompensieren. Diese Maßnahmen reichen jedoch nicht aus; eine Reform der Finanzierung der Sozialversicherung steht auf der Tagesordnung: Indem vermehrt der Verbrauch oder andere Einkommensarten als die Löhne besteuert werden,10 sollen die Sozialabgaben sinken, die den Faktor Arbeit und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen belasten. Reform des Wirtschaftsmodells Frankreich war nach 1945 das herausragende Beispiel eines etatistischen Wirtschaftsmodells: Um die nachholende Modernisierung des Landes gezielt vo­ rantreiben zu können, wurde die Steuerung der Wirtschaft dem Staat anvertraut, der über zahlreiche Instrumente verfügte (nationalisierter Bankensektor, indikative Wirtschaftsplanung, Protektionismus, ausgedehnte Preiskontrollen, Kreditsteuerung, Industriepolitik usw.). Allerdings ist dieses Instrumentarium seit Beginn der euro­ päischen Integration 1958 schrittweise reduziert worden. Spätestens in den 1980er Jahren ist eine weitgehende ordnungspolitische Konvergenz mit den Nachbarländern im Sinne einer sozialen, regulierten, offenen Marktwirtschaft vollzogen worden.11 Dennoch bleibt der Staatseinfluss auf die Wirtschaft hoch. In gewissem Widerspruch zu der erfolgten Liberalisierung sind auch die Diskurse (und die Erwartungen der Wähler) weiterhin interventionistisch geprägt. Dies schlägt sich in einer Staatsquote (Anteil der öffentlichen Ausgaben am BIP) nieder, die mit 56,6 Prozent (2011) eine der höchsten in Europa ist (EU­Durchschnitt: 50,1 Prozent). Dementsprechend zählt auch die Abgabenquote (Anteil der Steuern und Abgaben am BIP) mit 42,2 Prozent zu den höchsten im Rahmen der 10 Zur Debatte standen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder, derzeit favorisiert, die weitere Erhö­ hung der Sozialversicherungssteuer. Vgl. zur sozialen Sicherung Dominik Grillmayer, Frankreichs Wohlfahrtsstaat im Umbruch, in: Kimmel und Uterwedde (Hrsg), a.a.O. (Anm. 9), S. 222f.. 11 Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Zwischen Staat und Markt. Frankreichs Wirtschaftssystem im Wandel, in: ebd., S. 172­190.

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OECD. Der öffentliche Sektor im weiteren Sinne (Staat, Gebietskörperschaften, Sozialversicherung, Krankenhäuser, öffentliche Unternehmen) beschäftigt mit 6,4 Mio. Personen jeden vierten Franzosen. Sinnvolle und notwendige Anpassungen des öffentlichen Dienstes, etwa durch eine Staats­ und Verwaltungsreform, sind immer wieder durch starre Regelungen und durch den starken Widerstand der Gewerkschaften verhindert worden. Bis 2008 ist die Zahl der öffentlich Beschäftigten unaufhaltsam gestiegen, bevor Präsident Nicolas Sarkozy erstmals die Zahl der Beamten um 150 000 inner­ halb von fünf Jahren gesenkt hat – ein unpopuläres Programm, das von seinem Nachfolger François Hollande umgehend gestoppt wurde. Auch das französische Wachstumsmodell basiert im Wesentlichen auf ei­ ner – durch kreditfinanzierte staatliche Impulse genährten – Dynamik der Binnennachfrage. Bis in die jüngste Zeit hat dieser nachfrageorientierte, keyne­ sianische Grundansatz die französische Wirtschaftspolitik geleitet. In die gleiche Richtung gingen eine eher expansive Lohnpolitik, eine Beschäftigungspolitik, die sich auf die Schaffung von öffentlich finanzierten Arbeitsplätzen in wenig pro­ duktiven Sektoren (Dienstleistungen an Haushalte, öffentlicher Sektor) konzen­ trierte, und das ausgedehnte System der sozialen Sicherung. Eine makroökonomische Nachfragestimulierung ist aufgrund der Schwächen der französischen Produktionsstruktur jedoch nur bedingt wirksam. Künftiges Wachstum wird sich stärker als bisher auf eine Angebotspolitik stützen müssen, die über die Förderung von Bildung und Ausbildung, Forschung und Entwicklung sowie Innovationen und Investitionen die qualitative Wettbewerbsfähigkeit und damit das Wachstumspotenzial Frankreichs erhöht. Zwar konnten durch staatliche Interventionen lange Zeit die Binnennachfrage gefördert und auch die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise 2008/09 ge­ mildert werden. Der hohe Anteil des öffentlichen Sektors vermag Krisenfolgen abzumildern und hat insofern eine stabilisierende Wirkung auf die wirtschaft­ liche Entwicklung. Auch die Fähigkeit, rasch auf Krisen reagieren zu kön­ nen, ist angesichts der vorhandenen Steuerungsinstrumente des Staates (so­ wie des Funktionieren als Mehrheitsdemokratie ohne gewichtige institutionelle Vetospieler) relativ hoch, wie sich in der Krise gezeigt hat. Doch die Kehrseite ist, dass das solchermaßen erzeugte Wachstum (finanziell) nicht nachhaltig ist. Die staatlichen Maßnahmen haben immer mehr Kosten ver­ ursacht, die nicht durch Einnahmen gedeckt waren, und damit zu einer wachsen­ den Schuldenlast beigetragen. Gleichwohl ist die Abgabenbelastung für Bürger und vor allem die Unternehmen ständig gestiegen, was ihre Kosten, Ertragslage und preisliche Wettbewerbsfähigkeit zunehmend beeinträchtigt hat. Der Ökonom Patrick Artus fasst die Auswirkungen wie folgt zusammen: „Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der abhängig Beschäftigten, strukturelles öf­ fentliches Defizit, weitere Verschuldung des Privatsektors“.12 12 Patrick Artus, La dynamique économique de la France et de l’Allemagne révèle bien des effets à attend­ re des politiques de la demande et de l’offre, Natixis Flash Economie 642, 1.9.2011, S. 1 (Übersetzung des Autors).

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Das Defizit des Staatshaushalts erreichte 2009 ­7,5 Prozent, 2011 ­5,8 Prozent und wird 2012 voraussichtlich ­4,6 Prozent des BIP betragen. Das engt nicht nur den künftigen Handlungsspielraum für nationale Wirtschaftspolitik ein, son­ dern verstößt auch gegen die Stabilitätsregeln der Europäischen Währungsunion (EWU) und schwächt damit die Glaubwürdigkeit und den Einfluss Frankreichs innerhalb der EU und der EWU. Früher oder später wird die Schuldenpolitik des Staates – über den Mechanismus des so genannten crowding out – den Kostendruck auf die Unternehmen erhöhen und ihre Gewinne, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Internationale Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs außenwirtschaftliche Position ist ambivalent. Seit den 1970er Jahren wird sie in der Fachliteratur als „intermediär“ beschrieben: schwächer als die dominanten Ökonomien wie Deutschland und die USA (oder zeitweise Japan), aber stärker als die übrigen Volkswirtschaften, etwa jene Südeuropas. Daran hat sich, trotz zwischenzeitlich ehrgeiziger industriepolitischer Anstrengungen, nichts Wesentliches geändert: Frankreich „nimmt oft eine mittlere Position ein, zwischen einer Gruppe nordeuropäischer Länder (unter ihnen Deutschland) und einigen Ländern Südeuropas (darunter Italien und Spanien)“.13 Nach zwischenzeitlichen Erfolgen hat sich die Handelsbilanz Frankreichs seit 2000 ständig verschlechtert und weist seit 2004 permanent rote Zahlen auf. Im internationalen Wettbewerb, aber auch innerhalb der EU, sind die Marktanteile der französischen Exportindustrie deutlich zurückgegangen: Zwischen 2000 und 2010 sank der Anteil Frankreichs an den Gesamtexporten der Euro­Zone um 3,6 Prozentpunkte. Dies geht einher mit einem Rückgang der Industrie. Der Anteil der Industrie an der französischen Wertschöpfung ist schwächer als in allen anderen europäischen Ländern. Im französischen Industriesektor gingen in den vergangenen zehn Jahren 500 000 Arbeitsplätze verloren. Damit wird der Anspruch Frankreichs infrage gestellt, über eine breit aufgestellte, diversifizierte Industriestruktur zu verfügen. Die Ambivalenz wird auch sichtbar in den Stärken und Schwächen des französischen Produktionssystems.14 Die Wirtschaft weist eine Reihe von Stärkepositionen auf, die in einem Sachverständigenbericht zur Situation der Industrie wie folgt beschrieben werden: Frankreich ist „gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Deutschland eines der drei Länder, die eine starke Automobilindustrie und eine mächtige Luftfahrtindustrie unterhalten; diese zwei Branchen haben eine strukturierende Wirkung auf die Gesamtheit der Industrie. Frankreich ist Marktführer im Kernkraftsektor und gut aufgestellt in 13 Michel Didier, Le défi de la reconvergence, in: Coe­Rexecode (Hrsg.), Faiblesses et atouts de la France dans la zone euro, a.a.O. (Anm. 5), S. 3 (Übersetzung des Autors). 14 Vgl. zum Folgenden auch Pascal Kauffmann, Die französische Wirtschaft in der Globalisierung, in: Kimmel und Uterwedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, a.a.O. (Anm. 9), S. 191­207.

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anderen strukturbestimmenden Industriezweigen wie dem Hoch­ und Tiefbau, der Wasserversorgung, der Müllbeseitigung, dem Eisenbahnbau oder der Nahrungsmittelindustrie.“15 In der Rangliste der 500 weltweit größten Unternehmensgruppen sind franzö­ sische Konzerne mit 40 (gegenüber 39 für Deutschland und 26 für Großbritannien) ebenfalls gut vertreten. Zahlreiche Unternehmen sind unter den Weltmarktführern: u.a. Danone (Lebensmittel), Veolia (kommunale Dienstleistungen), LVMH (Luxusgüter), L’Oréal (Kosmetik), Alstom (Schienenfahrzeugbau) und Decaux (Werbung), EDF (Energie). Frankreich ist ferner, neben den USA und Großbritannien, weltweit einer der größten Exporteure von Dienstleistungen und weist dort eine Reihe von Stärken auf (Banken, kommunale Dienstleistungen, Hypermärkte, Tourismus, Filmindustrie u.a.). Demgegenüber gibt es allerdings strukturelle Schwächen. Erstens steht die gute internationale Präsenz französischer Großunternehmen in einem eigentüm­ lichen Kontrast zur notorischen Schwäche mittlerer Unternehmen. Das Fehlen eines leistungs­ und exportstarken Mittelstands in der Unternehmenslandschaft – Ergebnis einer jahrzehntelangen, einseitig auf die Großunternehmen konzen­ trierten Industriepolitik – ist mittlerweile ein Dauerthema in der französischen Debatte. Denn die Zahl der exportierenden Unternehmen ist mit 95 300 nur halb so groß wie in Italien und beträgt nur ein gutes Viertel der deutschen Exporteure (364 000; Zahlen für 2008); davon realisiert 1 Prozent an die 70 Prozent der ge­ samten Ausfuhren.16 Zweitens führen die hohen Lohnnebenkosten17 zu geringeren Gewinnspannen der französischen Unternehmen als in fast allen anderen europäischen Ländern, was ihre Möglichkeiten zu Investitionen begrenzt.18 Dies führt, drittens, zu Defiziten in der Innovationsfähigkeit: Seit Ende der 1990er Jahre stagniert der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) an der Wirtschaftsleistung und erreichte 2009 2,2 Prozent, während er sich in Deutschland von 2,2 Prozent (1996) auf 2,8 Prozent (2009) ge­ steigert hat. Es sind vor allem die sehr geringen unternehmerischen FuE­ Aufwendungen, die den Unterschied ausmachen. Dies hat Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen: Die Produktpalette französischer Firmen ist nicht ausreichend auf hochwertige Qualitätsprodukte konzen­ triert, was die französische Exportindustrie anfälliger für die (weltweit ver­ schärfte) Preiskonkurrenz macht. Ferner sind die Firmen zu wenig auf den Wachstumsmärkten außerhalb Europas präsent.

15 Etats généraux de l’industrie française. Bilan de la concertation. Rapport final, Paris, 1.2.2010, S. 30 (Übersetzung des Autors). 16 Crédit Agricole, Perspectives France, 31, Januar 2012, S. 6. 17 Die Steuer­ und Abgabenlast der französischen Unternehmen betrug 2008 im Durchschnitt 14,5 Pro­ zent ihrer Wertschöpfung, was einen europäischen Spitzenwert darstellt und doppelt so hoch war wie in Deutschland (7,8 Prozent). 18 Coe­Rexecode, a.a.O. (Anm. 5), S. 146.

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Folgen für das außenpolitische Handeln Der skizzenhafte sozioökonomische Überblick ergibt ein ambivalentes Bild: Frankreich zählt zu der Spitzengruppe der wohlhabenden, sozial und ökonomisch hoch entwickelten Nationen und hat auch, was in der französischen Debatte oft übersehen wird, von der Globalisierung profitiert. Gleichzeitig steht es vor der schwierigen Aufgabe, einige Strukturprobleme durch Reformen zu überwinden und sein Wirtschafts­ und Sozialmodell zu erneuern.19 Dennoch überwiegen die kritischen, pessimistischen Töne; Untergangsszenarien haben immer wieder Konjunktur. Oft ist es auch der direkte Vergleich mit dem deutschen Nachbarn, der fast zwangsläufig französische Defizite überhöht, die in einem weiteren Kontext (EU, OECD) stark zu relativieren wären.20 Ungeachtet seiner ökonomischen Stärken und Schwächen wird im außenpo­ litischen Diskurs der Anspruch Frankreichs als „mittlere Weltmacht“ in erster Linie durch seine Soft­Power­Ressourcen (Positionierung in internationalen Institutionen, kulturelle Ausstrahlung über das Netzwerk der Frankophonie usw.) und seinen diplomatisch­militärischen Status (Ständiges Mitglied im UN­ Sicherheitsrat, Nuklearmacht) begründet. Hinzu kommt ein historisch genährter selbstbewusster Diskurs zur weltpolitischen Rolle Frankreichs, der seine eigene Wirkung entfaltet. Es ist daher Kolboom und Stark zuzustimmen, wenn sie da­ rauf verweisen, dass „eine nur auf ‚Fakten‘ konzentrierte politikwissenschaftliche Analyse französische Außenpolitik nur bedingt erfassen dürfte“.21 Zwar rechtfertigen die ökonomischen Ressourcen des Landes auf den ersten Blick die außenpolitischen Ambitionen; doch die dargestellten ökonomischen Schwächen und finanziellen Probleme verdeutlichen den Anpassungsdruck.22 „Fakt ist: Frankreich weist Schwächen und Verzögerungen bei Strukturanpassungen auf. Aber es verfügt auch über mächtige Trumpfkarten: eine demografische Dynamik, geringe Beschäftigungsquoten und Arbeitszeiten, die ein hohes Potenzial an Wachstum und Kaufkraft bieten, ein Staat, dessen finanzielle Glaubwürdigkeit weiterhin sehr hoch ist. Einige der bisherigen Schwächen kön­ nen zu wirklichen Chancen werden, natürlich unter der Voraussetzung, dass die notwendigen Reformen weiter verfolgt, verstärkt und zu Ende geführt werden.“23 Die bisherigen Antworten der Verantwortlichen in Paris sind eine Politik der Reformen und Strukturanpassungen im Inneren – diese haben immer auch die Motivation, Frankreichs Führungsanspruch ökonomisch abzu­ 19 Vgl. Philippe Aghion et al., Mondialisation: les atouts de la France. Rapport du Conseil d’Analyse Economique, Paris 2007. 20 Zu Untergangsszenarien vgl. Nicolas Baverez, La France qui tombe, Paris 2003; jüngstes Beispiel eines bilateralen Vergleichs Coe­Rexecode, a.a.O. (Anm. 5), 14.1.2011. 21 Ingo Kolboom und Hans Stark, Frankreich in der Welt. Weltpolitik zwischen Wirklichkeit und An­ spruch, in: Kimmel und Uterwedde (Hrsg.), Länderbericht Frankreich, a.a.O. (Anm. 9), S. 301­317, hier S. 301. 22 Vgl. La France et l’Europe dans le monde, a.a.O. (Anm. 1), S. 103ff (Reform des außenpolitischen Handelns), S. 54ff (stärkere ökonomische Interessenvertretung durch die auswärtige Politik). 23 Michel Didier, Le défi de la reconvergence, a.a.O. (Anm. 13), S. 3 (Übersetzung des Autors).

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sichern. Zum anderen engagiert sich Frankreich für eine politisch und wirtschaftspolitisch handlungsfähige EU und versucht dabei, die franzö­ sischen Prioritäten und Präferenzen in der europäischen Politik zu veran­ kern: „Die Verteidigung und der Fortbestand unseres Gesellschaftsmodells geht über die Stärkung Europas“, brachte es der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy auf den Punkt.24 Dazu soll die EU zu einem wirklichen wirtschafts­ und währungspoli­ tischen Akteur weiterentwickelt werden. Frankreich sieht die Europäische Währungsunion auch als strategisches Mittel zur ökonomischen Selbst­ behauptung Europas und fordert überdies seit Jahren den Ausbau ge­ meinschaftlicher Politiken im Bereich der Konjunktur­, Industrie­ und Außenhandelspolitik sowie eine aktive Rolle der EU bei der Regulierung der Weltwirtschaft. Frankreich hat vor allem im Bereich der Industrie­ und Außenwirtschafts­ politik nach stärkeren Schutzmechanismen gerufen, auch um die eigene Wirtschaft zu entlasten: zum Beispiel eine offensivere Wechselkurspolitik, um einem zu hohen Kurs des Euro entgegenzuwirken, oder wiederholte Forderungen nach handelspolitischen Restriktionen (Forderung einer „kultu­ rellen Ausnahme“ von der Handelsliberalisierung für kulturelle Güter bei den GATT­Verhandlungen 1993; Forderung nach „europäischer Präferenz“ und Anti­Dumping­Maßnahmen gegen Drittländer).25 „L’Europe puissance“, Europa als Machtfaktor in der Weltpolitik – das ist die französische Vision, um den eigenen Anspruch einer mittleren Weltmacht zu stützen und zu erweitern, um Europa als „Resonanzkörper französischer Weltpolitik“ zu nutzen.26 Dass diese europäische Idee immer wieder in Konflikt gerät mit dem Ziel, die nationale Rolle Frankreichs in der Weltpolitik zu behaupten, steht auf einem anderen Blatt.

24 Präsident Sarkozy im Interview mit L’Express, 4.­10.5.2011, S. 23; zitiert nach Kolboom und Stark, Frankreich in der Welt, a.a.O. (Anm. 21), S. 303. 25 Zu den Traditionslinien der Außenwirtschaftspolitik vgl. Henrik Uterwedde, Frankreich, in: Michael Neu, Wolfgang Gieler und Jürgen Bellers (Hrsg.), Handbuch für Außenwirtschaftspolitiken. Länder und Organisationen, Münster 2004, Bd. 2, S. 662­668. Zu den europapolitischen Grundvorstellun­ gen ders., Welche Vision(en) für die europäische Wirtschaft? Französische und deutsche Ansätze, in: Lothar Albertin (Hrsg.), Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union, Tübingen 2010, S. 133­147. 26 Kolboom und Stark, Frankreich in der Welt, a.a.O. (Anm. 21) S. 307.

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Großbritanniens doppelte Krise Bastian Giegerich Die im Mai 2010 ins Amt gewählte Koalitionsregierung, bestehend aus der Konservativen Partei um Premierminister David Cameron und den Liberaldemokraten um seinen Stellvertreter Nick Clegg, ist seit Beginn der Legislaturperiode damit beschäftigt, den traditionell stark ausgeprägten bri­ tischen sicherheitspolitischen Handlungsanspruch mit den Realitäten beträcht­ licher Haushaltsschwierigkeiten in Einklang zu bringen. Zunächst wurde noch die Losung ausgegeben, dass Großbritanniens Gewicht auf der Weltbühne keines­ falls schrumpfen dürfe. Die Hoffnung auf eine rasche wirtschaftliche Erholung, die sich ab 2015 auch wieder in erhöhten Verteidigungsausgaben niederschlagen sollte, ist mittlerweile verflogen. Am Ende des ersten Quartals 2012 musste die Regierung eingestehen, dass sich Großbritannien erneut in einer Rezession be­ fand. Wesentliche Merkmale des Anpassungsprozesses sind bisher die rhetorische Bekräftigung eines aktiven globalen Handlungsanspruchs, ein Fokus auf bilate­ rale (im Gegensatz zu multilateralen) Beziehungen und eine starke Ausrichtung der Außenpolitik auf Handel und wirtschaftliche Fragen. Auf militärischer Seite wurden allerdings von der Regierung im Zuge der Strategic Defence and Security Review (SDSR) 2010 merkliche Einschnitte vorgenommen, die bedeuten, dass Großbritannien in Zukunft weniger leisten können wird als bisher. Fragile sozioökonomische Lage Im Frühjahr 2012 erreichte die Arbeitslosigkeit in Großbritannien mit 8,4 Prozent den höchsten Stand seit Mitte der 1990er Jahre. Zeitgleich wurde verkündet, dass sich das Land nach 2008/09 erneut in einer Rezession befindet: Sowohl im letzten Quartal 2011 als auch im ersten Quartal 2012 schrumpfte die britische Wirtschaft; das Gespenst der so genannten „double­dip“­Rezession, in Großbritannien zuletzt in den 1970er Jahren gesichtet, wurde Wirklichkeit.1 Die anhaltende Schwäche hat dabei alle wesentlichen Wachstumskategorien erfasst. Die pri­ 1

Britain’s Stuttering Economy: Double­Dip Trouble, in: The Economist, 28.4.2012, S. 30­31.

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vaten Haushalte scheuen sich vor großen Ausgaben, die Verbraucherausgaben gingen 2011 um 0,8 Prozent zurück, nachdem sie schon 2008 um 1,4 Prozent und 2009 um 3,5 Prozent gesunken waren. Staatsausgaben sind im Zuge der Haushaltskonsolidierung ebenfalls rückläufig.2 Der Außenhandel spürt die wirt­ schaftliche Schwäche des Euro­Raums trotz der Abwertung des britischen Pfund um zeitweise bis zu 20 Prozent seit Beginn der Finanzkrise. Das Investitionsniveau der Privatwirtschaft liegt noch immer hinter dem Stand von 2008. Über das Jahr gesehen betrug das Wirtschaftswachstum 2011 lediglich 0,8 Prozent und verlangsamte sich somit gegenüber 2010 deutlich (1,8 Prozent). 2008 war die britische Wirtschaft um 1,1 Prozent geschrumpft, 2009 sogar um 4,4 Prozent. Zum Vergleich: Im Zeitraum von 2000 bis 2007 wuchs die bri­ tische Wirtschaft um durchschnittlich 2,5 Prozent pro Jahr, sodass die Krise auf eine relativ langanhaltende stabile Wachstumsphase folgte.3 Die Reallöhne sind nun gefallen, da die Löhne 2011 lediglich um 2 Prozent gestiegen sind, die Verbraucherpreisinflation im gleichen Jahr aber bei 4,5 Prozent lag. Das Haushaltsdefizit lag 2011 bei 8,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der Schuldenstand näherte sich 70 Prozent des BIP, wohingegen er vor der Krise, 2007, lediglich 44 Prozent betrug. Laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird die Schuldenlast 2014 fast 100 Prozent des BIP erreichen, bevor sie in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts langsam zurückgeführt werden kann.4 Im internationalen Vergleich steht Großbritannien, was die Staatsverschuldung angeht, damit keineswegs übermä­ ßig schlecht da. Betrachtet man allerdings die Verschuldung der öffentlichen Hand und der privaten Haushalte in der Gesamtschau, stellt sich die Lage als wesentlich dramatischer dar. 2011 betrug sie über 500 Prozent des BIP und eine klare Tendenz zur Entschuldung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erken­ nen. In Deutschland und den USA betrug die Quote zum gleichen Zeitpunkt ca. 280 Prozent.5 Mehrere Rating­Agenturen haben angekündigt, dass die für die Neuaufnahme von Krediten so wichtige AAA­Bewertung des Landes auf dem Prüfstand steht und bis 2014 auch dort bleiben wird.6 Die britische Notenbank hält den Leitzins seit März 2009 auf dem historischen Tiefstwert von 0,5 Prozent und betreibt eine Politik der Geldmengenlockerung (quantitative easing). Von Februar bis Mai 2012 2 3 4

5 6

HM Treasury, Public Expenditure, Statistical Analysis 2011, London, (abgerufen am 30.7.2012); PWC, UK Economic Outlook, March 2012, S. 38. Ebd., S. 38. International Monetary Fund, World Economic Outlook: Growth Resuming, Dangers Remain, April 2012, Washington, DC, S. 204; Richard Anderson, Is UK Government Debt Really That High?, in: BBC News, 22.12.2009, (abgerufen am 30.7.2012). Karen Croxson, Susan Lund und Charles Roxburgh, Working Out of Debt, in: McKinsey Quarterly, Januar 2012. Chris Giles, Fitch Warns on UK’s Triple A Rating, in: Financial Times, 14.3.2012, (abgerufen am 30.7.2012).

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wurden nochmals Maßnahmen in Höhe von 50 Mrd. Pfund (GBP) ergriffen, so­ dass sich die Gesamtsumme der Maßnahmen nun auf 325 Mrd. GBP beläuft.7 Im Zuge der Wirtschaftskrise scheinen sich die Einstellungen zu Migrationsfra­ gen zu verändern. Es zeichnet sich eine Tendenz ab, Nicht­EU­Bürgern den Zugang zu Großbritannien zu erschweren. Der Anteil der Bevölkerung in Großbritannien, der im Ausland geboren wurde, stieg zuvor noch, von 1991 bis 2011, von 5,8 auf 11,8 Prozent der Gesamtbevölkerung (ca. 63 Mio.).8 2010 betrug die Nettomigration 252 000, wovon der überwiegende Teil (217 000) aus Nicht­EU­Ländern stammt.9 Die Regierung hat nunmehr angekündigt, dass sie die Visaregeln verschärfen will, um den Migrationsfluss nach Großbritannien einzudämmen. Anfang 2012 unterstützten 78 Prozent der Befragten in ei­ ner Bevölkerungsbefragung das Ziel der Regierung, die Nettomigration auf „einige Zehntausend“ zu reduzieren.10 So wird es künftig auch für qualifi­ zierte Kräfte schwieriger werden, ein Visum zu erhalten oder, nach längerem Aufenthalt, die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Diese Regelungen werden auch Studentenvisa erfassen, obwohl das britische Universitätssystem in der Vergangenheit stark von der relativen Offenheit Großbritanniens profitiert hat und laut Schätzungen alleine durch die ausländischen Studenten, die nicht aus anderen EU­Ländern stammen, ca. neun Mrd. GBP in die britische Wirtschaft fließen. Der für Migrationsfragen zuständige Minister, Damian Green, taxiert, dass Großbritannien von nun an ca. 70 000 Studentenvisa pro Jahr weniger ver­ geben werde. Auch eine Regelung, die es ausländischen Studierenden mit Visum erlaubte, nach ihrem Studienabschluss bis zu zwei Jahre in Großbritannien zu arbeiten, wurde im April 2012 eingestellt.11 Größere soziale Unruhen entzündeten sich im August 2011 am Tod des ver­ meintlichen Drogenhändlers Mark Duggans, der von der Polizei zwei Tage zuvor beim Versuch, ihn zu verhaften, erschossen worden war. Sie breiteten sich von London auf weitere Städte wie Birmingham, Liverpool und Manchester aus, führten zum Tod von fünf Menschen und verursachten Sachschäden in Höhe von mehr als 200 Mio. GBP. Die Unruhen legten ein beträchtliches Potenzial für Gewalt und kriminelle Energie bloß, was von vielen Beobachtern aber nur zum Teil auf die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zurückgeführt wird.12 7 8

PWC, UK Economic Outlook, a.a.O. (Anm. 2), S. 13. Office of National Statistics, Estimated Population Resident in the United Kingdom by Country of Birth, 2011, (abgerufen am 30.7.2012). 9 Office of National Statistics, Long Term International Migration, 2011, (abgeru­ fen am 30.7.2012). 10 YouGov, The Sunday Times Survey Results, 5.­6.1.2012, (abgerufen am 30.7.2012). 11 BBC News, Visa Rules Must Not Deter Indian Students, Says Oxford, 12.4.2012, (abgerufen am 30.7.2012). 12 In einer Umfrage vom August 2011 gaben nur 5 Prozent der Befragten an, dass sie die hohe Arbeitslo­ sigkeit für den Hauptfaktor hielten, während ebenfalls lediglich 8 Prozent auf die Ausgabenkürzungen der Regierung verwiesen. YouGov, The Sun Survey Results, 10.8.2011, (abgerufen am 30.7.2012).

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Gesellschaftliche Spannungen sind zwar deutlich geworden, haben die innere Handlungsfähigkeit der Regierung aber bisher nicht merklich eingeschränkt. Die Außenpolitik Großbritanniens hingegen wird sehr wohl durch sozioökonomische Faktoren beeinträchtigt. Handelsreisende statt Flugzeugträger Die britische Regierung ist bemüht, zwei einander direkt widersprechende Tendenzen zu einem neuen außen­ und sicherheitspolitischen Paradigma zu for­ men. Auf der einen Seite steht der nach wie vor selbstverständliche Anspruch, eine Führungsmacht mit globalem Handlungsanspruch zu sein. Auf der anderen Seite wird der Rückgang der zur Verfügung stehenden Mittel immer offensicht­ licher. Angesichts der Engpässe solle sich London auf seine Kernkompetenzen besinnen, empfahl die britische Wochenzeitung The Economist kürzlich treffend. Schließlich sei Großbritannien eine „ernstzunehmende Macht, die einige schwie­ rige Dinge gut macht“ – etwa die Projektion militärischer Kräfte.13 In der gegenwärtig erkennbaren außenpolitischen Vision der Regierung fallen die Streitkräfte allerdings weniger stark ins Gewicht. Außenminister William Hague verweist darauf, dass seine Generation die erste sei, die das britische Empire nicht mehr erinnern kann bzw. nicht erlebt hat. Anstatt überkommenen Ansprüchen nachzuhängen, solle sich Großbritannien lieber darauf konzentrie­ ren, sich in einer schnell wandelnden Welt zu vernetzen, um Märkte zu erschlie­ ßen und so seine Wirtschaft zu stärken. Auf einer Asien­Reise im April 2012 sagte Hague: „Arbeitsplätze und Wachstum in unserer Wirtschaft ... werden überwiegend von expandierendem Handel und Investitionen abhängen – und wir wissen, dass ein Großteil dieser Möglichkeiten in den riesigen Märkten dieser Region liegt.“14 Um dieser Ansicht Nachdruck zu verleihen, wird Großbritannien das Netz seiner diplomatischen Vertretungen in Asien (personell) ausbau­ en – mit besonderer Ausrichtung auf die Stärkung der jeweiligen bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. In seiner Außen­ und Sicherheitspolitik präferiert Großbritannien generell ei­ nen bilateralen Ansatz, während multilaterale Institutionen ihre Nützlichkeit erst einmal durch die Lösung von Kooperationsproblemen beweisen müssen. Bei bilateralen Partnerschaften sei es laut britischer Regierung notwendig, dass man grundlegende sicherheitspolitische Ansichten teilt, denn nur bei ähnlicher strate­ gischer Weltsicht sei eine enge Zusammenarbeit vielversprechend.15 Aus dieser pragmatischen Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass Frankreich als europä­ 13 Travels with a Salesman. Friendliness Mixed with Self­interest: William Hague’s Vision for British Diplomacy, in: The Economist, 5.5.2012 (Übers. d. Verf.). 14 William Hague, Britain in Asia, IISS­Fullerton Lecture, Fullerton Hotel, Singapur, 26.4.2012, (abgerufen am 30.7.2012; Übers. d. Verf ). 15 HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty: The Strategic Defence and Security Review, London 2010, S. 59.

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ischer Wunschpartner identifiziert wurde, was noch im November 2010 mit einem französisch­britischen Kooperationsvertrag im Bereich der Verteidigungspolitik untermauert wurde.16 Diese positive Interpretation des Spannungsverhältnisses aus Handlungsan­ spruch und Ressourcen fällt im engeren Bereich der britischen Sicherheits­ und Verteidigungspolitik allerdings schwerer. Die am 19. Oktober 2010 veröffent­ lichte Strategic Defence and Security Review (SDSR) trifft die Aussage, dass Großbritannien sich auch in Zukunft aktiv für seine Werte einsetzen wird.17 Die einen Tag zuvor publizierte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) formuliert noch klarer: „Großbritanniens nationales Interesse verlangt von uns, dass wir jeden Gedanken an das Schrumpfen unseres Einflusses zurückweisen.“18 Der damalige Verteidigungsminister Liam Fox versuchte denn auch, tiefe Einschnitte in seinen Etat unter anderem zu verhindern, indem er argumentierte, diese seien internatio­ nalen Partnern, die ein leistungsfähiges Großbritannien erwarten, nicht zu vermit­ teln. Die „internationale Reaktion wird brutal“ ausfallen, so der Minister in einem an die Öffentlichkeit gelangten Brief an Premierminister Cameron.19 Die Entscheidungen, die dann in der SDSR verkündet wurden, fallen aller­ dings zunächst hinter diese Rhetorik zurück. Der Verteidigungshaushalt soll über den Zeitraum von 2011 bis 2015 um 7,5 Prozent schrumpfen. Finanzminister George Osborne hatte ursprünglich ein Minus von 10 bis 20 Prozent gefor­ dert und das Verteidigungsministerium hatte auch mit Planungen für derar­ tige Einschnitte begonnen.20 Gemessen an diesen Voraussetzungen sind die Kürzungen also am moderateren Ende des Spektrums angesiedelt, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass die britische Haushaltsplanung für den genannten Zeitraum durchschnittliche Kürzungen in den Ressorts von 19 Prozent vorsieht. Allerdings spiegeln diese Zahlen nicht die vollständige Realität wider, da der Verteidigungshaushalt durch zwei weitere Aspekte noch viel stärker belastet wird. Die anfallenden Modernisierungskosten für das britische Nukleararsenal werden auf 15 bis 25 Mrd. GBP geschätzt. Die 2010 abgewählte Labour­ Regierung wollte diese Kosten aus allgemeinen Mitteln des Regierungshaushalts bestreiten und den Verteidigungshaushalt nicht direkt belasten. Die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten wird diesem Ansatz nicht folgen, sodass die Modernisierungskosten auf den Verteidigungshaushalt zurückfallen werden. Eine endgültige Entscheidung diesbezüglich steht spätestens 2016 an, da die 16 Gemeinsame Erklärung der beiden Regierungen vom 2.11.2010, (ab­ gerufen am 30.7.2012). 17 HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 3. 18 HM Government, A Strong Britain in an Age of Uncertainty: The National Security Strategy, London 2010, S. 10 (Übers. d. Verf.). 19 Telegraph, Defence Cuts: Liam Fox’s Letter in Full, 28.9.2010 (Übers. d. Verf ). 20 Bastian Giegerich und Alexandra Jonas, Not Simply a Cost­saving Exercise? Großbritanniens neue Sicherheits­ und Verteidigungspolitik nach der Strategic Defence and Security Review, 2011, SOWI Thema 1/2011, Strausberg, S. 13.

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Lebensdauer der nun eingesetzten U­Boote der Vanguard­Klasse begrenzt ist und dann eine Entscheidung für deren Ersatz getroffen werden muss, um einen nahtlosen Übergang zu gewährleisten. Darüber hinaus hatten die Regierungen der Premierminister Blair und Brown im Verteidigungshaushalt ein strukturelles Defizit von ca. 38 Mrd. GBP angehäuft21 – das heißt sie waren vom Haushalt nicht gedeckte Verpflichtungen in dieser Höhe eingegangen, die zwischen 2010 und 2020 fäl­ lig geworden wären. Diese ungedeckten Kosten müssen nun abgebaut werden, da die Regierung klargestellt hat, dass keine zusätzlichen Mittel neben dem Verteidigungshaushalt zur Verfügung gestellt werden. Somit sind die effek­ tiven Kürzungen wesentlich höher, als der 7,5­Prozent­Schnitt im offiziellen Haushalt zunächst vermuten lässt. Daraus erklärt sich auch, dass die moderat anmutenden Sparauflagen deut­ liche Auswirkungen auf die britischen militärischen Fähigkeiten haben werden. Die Zahl der für Auslandseinsätze zur Verfügung stehenden Soldaten wird um ca. 20 bis 30 Prozent zurückgehen. Selbst diese Zielvorstellung basiert auf der Annahme, dass der Verteidigungshaushalt von 2015 an wieder steigen wird, was aufgrund der oben skizzierten wirtschaftlichen Lage immer unwahrschein­ licher wird.22 Die SDSR sah vor, dass die Streitkräfte bis 2015 um insgesamt 17 000 Soldaten verkleinert werden sollen. Bei der Marine sollen 5000 Posten (von 35 000) und bei der Luftwaffe ebenfalls 5000 (von 38 000) Posten abge­ baut werden. Mit Blick auf den laufenden Afghanistan­Einsatz wurde das Heer zunächst vergleichsweise geschont – hier sollten 7000 (von 102 000) Posten abgebaut werden.23 Schon 2011 wurden Korrekturen vorgenommen, die beim Heer weitere Einschnitte vorsehen und nun eine Zielgröße von 82 000 bis 2020 einplanen.24 Die SDSR gibt als nationale Zielvorstellung für Auslandseinsätze vor, dass Großbritannien in der Lage sein soll, gleichzeitig eine dauerhafte Stabilisierungsoperation in Brigadegröße (ca. 6500 Soldaten) sowie zeitlich be­ grenzte Interventionen mit jeweils 2000 und 1000 Soldaten durchzuführen. Für kurze Zeit soll eine Interventionsstreitmacht von bis zu 30 000 Soldaten zur Verfügung stehen, sofern laufende Einsätze dies zulassen.25 Der Vergleich dieser Zielvorgaben mit dem Irak­Krieg von 2003 zeigt die Wucht der Einsparungen: 2003 konnte Großbritannien für kurze Zeit noch ungefähr 45 000 Soldaten in das Einsatzgebiet verlegen. Die britische Beteiligung an der Operation Unified Protector zum Schutz der libyschen Bevölkerung vor dem Gaddafi­Regime 2011

21 22 23 24 25

HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 15. IISS, The Military Balance, Abingdon 2012, S. 81. HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 32. IISS, Military Balance, a.a.O. (Anm. 22), S. 83. HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 19.

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weist allerdings nochmal darauf hin, dass Großbritannien noch immer entschlos­ sen eingreifen kann und will.26 Die SDSR deutet zudem an, dass der Einsatz der britischen Streitkräfte in Zukunft selektiver ausfallen könnte. Sie sollen nur dann eingesetzt werden, wenn „entscheidende nationale Interessen des Vereinigten Königreichs auf dem Spiel stehen“.27 Damit einher geht die Betonung von Konfliktprävention, die unter Umständen wesentlich teurere Interventionen vermeiden helfen kann. Die bri­ tische Haushaltsplanung sieht außerdem vor, dass der Entwicklungshilfeetat bis 2015 um fast 40 Prozent anwachsen soll. Zugleich soll die Entwicklungshilfe immer mehr in konfliktanfällige und stabilisierungsbedürftige Länder fließen. Der von der Regierung verfolgte Ansatz, Entwicklungsmaßnahmen im di­ rekten Zusammenhang mit Sicherheitspolitik zu sehen, wird in den Reihen der Opposition als unsachgemäße Instrumentalisierung dieses Politikbereichs ge­ wertet.28 Die Regierung hatte verkündet, die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) anzuheben. In der Regierungserklärung vom Mai 2012 fehlte allerdings die erwartete Gesetzesinitiative zu diesem Punkt, auch wenn der Grundsatz rhetorisch bestätigt wurde.29 2011 gab Großbritannien ca. 0,56 Prozent des BNE für offizielle Entwicklungshilfe aus, was im Vergleich zu 2010 einen minimalen Rückgang bedeutete.30 Trotz der angespannten Haushaltslage wurde aber auch im Zuge der SDSR an einigen kostenträchtigen Prestigeprojekten festgehalten, die wiederum den britischen Anspruch auf eine globale Rolle unterstreichen. Die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung stand niemals zur Disposition und war somit von den Debatten über die SDSR ausgenommen. Großbritannien wird außerdem über fünf Mrd. GBP für den Bau von zwei neuen Flugzeugträgern aufwenden, die aber erst nach 2020 in Dienst gestellt werden sollen. Werden die Kosten für die auf den Trägern zu stationierenden Flugzeuge mit eingerechnet, erhöhen

26 Die britischen Streitkräfte beteiligten sich mit rund 4000 Soldaten, 37 Flugzeugen und vier Schif­ fen am Einsatz. Britische Piloten flogen über 3000 Einsätze, von denen über 2100 Kampfeinsätze waren. Gemessen an der Zahl der geflogenen Kampfeinsätze betrug der britische Beitrag zur Ope­ ration Unified Protector über 20 Prozent. Laut UK Ministry of Defence, The UK’s Contribution to Freeing Libya, 5.1.2012, (abgerufen am 30.7.2012); NATO, Operation UNI­ FIED PROTECTOR: Final Mission Stats, 2.11.2011, (abgerufen am 30.7.2012). 27 HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 17. 28 Nicholas Watt, Protests as UK Security Put at Heart of Government’s Aid Policy, 29.8.2010, The Guardian, (abge­ rufen am 30.7.2012). 29 Tim Ross, Queen‘s Speech 2012: 0.7 % of Income Will Go on Overseas Aid, 9.5.2012, The Telegraph, (abgerufen am 30.7.2012). 30 OECD, Net Official Development Assistance from DAC and Other OECD Members in 2011, 4.4.2012, (abgerufen am 30.7.2012).

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sich die Gesamtkosten auf ca. 15 Mrd. GBP.31 Da der bisherige Flugzeugträger HMS Ark Royal im Zusammenhang mit dieser Entscheidung Ende 2010 aus dem Dienst genommen werden musste, besteht hier nun eine Fähigkeitslücke, die mindestens eine Dekade bestehen bleiben wird. Einer der sich im Bau be­ findlichen Flugzeugträger soll eventuell zum Verkauf angeboten oder zunächst nicht in Betrieb genommen werden. Die Regierung hatte angekündigt, dass der in Betrieb zu nehmende neue Flugzeugträger entgegen der ursprünglichen Planung mit einer Katapultstartvorrichtung und Fangseilen ausgerüstet werden soll. Dies hätte es ermöglicht, die leistungsfähigere Variante F­35C des Joint Strike Fighter anstatt der eigentlich von der Vorgängerregierung geplanten senkrechtstartenden F­35B einzusetzen. Außerdem hätte diese Umrüstung die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Frankreich und den USA erhöht, die ebenfalls auf derartige Vorrichtungen setzen. Da sich nach erneuter Prüfung allerdings herausgestellt hat, dass die Kosten für Umrüstung und die leistungs­ fähigere Flugzeugvariante höher liegen würden als erwartet und zudem die Einsatzfähigkeit des Flugzeugträgers um bis zu drei Jahre verzögern würde, wurden diese Pläne im Mai 2012 wieder verworfen; die Regierung kehrte zu den Plänen ihrer Vorgänger zurück.32 Einer der wenigen Bereiche, für den Investitionen trotz des Sparprogramms vorgesehen sind, ist Cyber­Sicherheit. Die britische Regierung stellt hierfür 650 Mio. GBP an neuen Mitteln zur Verfügung. Die Bedrohung entwickle sich in diesem Bereich besonders schnell und sei in ihrer Bedeutung stark zunehmend.33 Welche Methoden einzelne Regierungen anwenden, um Sicherheitsrisiken zu analysieren und zu bewerten, ist oft nicht transparent. Großbritannien stellt eine Ausnahme dar. Hier wird seit 2005 eine Übersicht nationaler Risiken in Form eines National Risk Registers erstellt. Seit 2008 wird diese Übersicht öffentlich zugänglich gemacht. Im Zuge des Prozesses, der zur na­ tionalen Sicherheitsstrategie von 2010 führte, wurden die zugrundeliegenden Analyseschritte von einem National Risk Assessment zum National Security Risk Assessment ausgeweitet (zuvor war die Analyse auf die innere Sicherheit beschränkt). Während die detaillierten Analysen unter Verschluss bleiben, ist die aus diesem Prozess abgeleitete Priorisierung der Sicherheitsrisiken in

31 Britain and the Joint Strike Fighter: Back to Plan B, in: The Economist, 10.5.2012, (abgerufen am 30.7.2012). 32 Douglas Barrie und Christian Le Miere, Britain Does U­Turn on F­35 Jet Decision, 10.5.2012, (abge­ rufen am 30.7.2012). 33 Der Informationsraum stellt die gewohnten Vorstellungen von Risiko und Konflikt auf den Prüfstand. Erstens können die Identität und Herkunft von Akteuren relativ effektiv verdeckt werden. Zweitens sind durch die rasante Ausbreitung notwendiger Technologien die Zugangsbarrieren gesunken und, drittens, die Geschwindigkeit und Menge an Kommunikation explodiert. Daraus ergibt sich, dass der Informationsraum sowohl enorme Handlungsmöglichkeiten als auch bedeutende Verwundbarkeiten darstellt. HM Government, Securing Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 15), S. 47­49.

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der britischen Sicherheitsstrategie ersichtlich.34 Als Sicherheitsrisiken erster Ordnung werden der internationale Terrorismus, Cyber­Angriffe, schwere Unfälle und Naturkatastrophen sowie internationale militärische Krisen ge­ nannt. Diese Risiken werden als die wahrscheinlichsten Gefahren mit den größ­ ten Auswirkungen bewertet. Die Hierarchisierung der Bedrohungslandschaft erstreckt sich noch auf zwei weitere Ebenen absteigender Priorität, auf denen sich Risiken wie ein großangelegter konventioneller Angriff auf Großbritannien oder die Unterbrechung der Energieversorgung finden. Fazit Die wesentliche Herausforderung für Großbritannien wird in Zukunft darin liegen, einen sicherheitspolitischen Handlungsanspruch zu formulieren, der mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen in Einklang zu bringen ist. Der bilate­ rale Ansatz der britischen Regierung ist vom starken Pragmatismus angetrieben, der Kooperation dann befürwortet, wenn er britischen Wirtschaftsinteressen dient und ein Mittel ist, sicherheitspolitische Probleme mit geringerem Ressourceneinsatz zu lösen. In militärischer Hinsicht wird dies bedeuten, dass Großbritannien auf ab­ sehbare Zeit weniger Fähigkeiten zur Verfügung stehen werden. Bisherige Planungen basieren auf der Annahme, dass ab der zweiten Hälfte dieser Dekade eine wirtschaftliche Erholung einsetzt, welche die langsame Regenerierung der militärischen Handlungsfähigkeit im kommenden Jahrzehnt ermöglicht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist jedoch nicht abzusehen, ob dieser Spielraum tat­ sächlich bestehen wird.

34 Die britische Konzeption von Risiko beinhaltet sowohl Naturrisiken als auch auf menschliches Han­ deln zurückzuführende Gefährdungen, sofern sie eine Reaktion der nationalen Regierung erfordern. Der Prozess findet in drei Stufen statt: Risikoidentifizierung, Risikobewertung (Eintrittswahrschein­ lichkeit und Auswirkungen) und relativer Vergleich der Risiken. Eine Beschreibung der Methodologie des National Security Risk Assessment findet sich in HM Government, A Strong Britain in an Age of Uncertainty, a.a.O. (Anm. 18), S. 37.

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Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen Christian Wagner Indien war lange Zeit kaum von der internationalen Wirtschafts­ und Finanzkrise betroffen.1 Es zählte zusammen mit China zu den Wachstumslokomotiven der Weltwirtschaft und verzeichnete selbst in den Hochzeiten der Finanzkrise 2008/09 ein Wirtschaftswachstum von über 6 Prozent. Eine Ursache hierfür war die vergleichsweise geringe Integration Indiens in die Weltwirtschaft und die Weltfinanzmärkte, die das Land bereits vor den negativen Konsequenzen der Asien­Krise 1997 bewahrte. Doch die nachlassende Weltkonjunktur, der Rückgang der Exporte, hohe internationale Energiepreise, Defizite in der Infrastruktur, eine Reihe von Korruptionsskandalen sowie die schleppende Umsetzung dringender innenpolitischer, wirtschaftlicher und sozialer Reformen haben sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung ausgewirkt. Gesellschaftliche Dynamik Indien wird spätestens Mitte des 21. Jahrhunderts die Volksrepublik China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholen. Indien verfügt darüber hinaus im Unterschied zu China über eine vergleichsweise junge Bevölkerung. Je nach Definition liegt der Anteil der Bevölkerung unter 25 Jahren gegenwärtig bei 51 Prozent, der Anteil unter 35 Jahren bei 66 Prozent. 2020 wird das durch­ schnittliche Alter der indischen Bevölkerung 29 Jahre betragen, wohingegen es in China bei 37 Jahren liegen wird.2 Die Frage, ob die demografische Entwicklung eine Dividende oder eine Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes darstellt, hat eine leb­ hafte Debatte ausgelöst. In der Vergangenheit galt die wachsende Bevölkerung eher als Fluch denn als Segen. Der positive Ertrag der demografischen Dividende wird nur zustandekommen, wenn es deutliche Verbesserungen im Bildungsbereich 1 2

Vgl. India Relatively Unaffected by Global Economic Crisis: U.S., in: The Hindu, 9.7.2010. Vgl. Rajiv Gandhi National Institute of Youth Development, (abgerufen am 12.6.2012).

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gibt: 65 Jahre nach der Unabhängigkeit von 1947 liegt die Alphabetisierungsrate bei lediglich 70 Prozent und damit deutlich hinter jener der Schwellenländer in Ost­ und Südostasien. Soziale Sicherungssysteme greifen zumeist nur im organisierten Sektor, der aber weniger als 10 Prozent der Beschäftigten umfasst. Für die über 90 Prozent der Beschäftigten im nichtorganisierten Bereich bleibt die Familie weiterhin das wichtigste soziale Sicherungsnetz. Die offizielle Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent für 2010 liefert deshalb kein repräsentatives Bild, da sie die mannig­ faltigen Formen von Unterbeschäftigung im informellen Sektor weitgehend ausblendet.3 Zwar haben sich die Einkommen seit den 1990er Jahren erhöht. 2010 lag das Pro­Kopf­Einkommen bei 1270 Dollar, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Kaufkraftparität bei 3425 Dollar.4 Das Wirtschaftswachstum hat auch zu einem Rückgang der offiziellen Armutsziffern geführt. Doch seit der Liberalisierung 1991 hat die Ungleichheit deutlich zugenommen. Indien zählt zusammen mit China und Indonesien zu den Staaten in Asien mit der größten Ungleichheit.5 Rang 134 von 187 Staaten auf dem Human Development Index und Platz 129 von 147 Staaten im Gender Inequality Index belegen die sozialen Defizite des indischen Wirtschaftswachstums.6 Wirtschaftliche Strukturschwächen Das Wirtschaftswachstum betrug im Finanzjahr 2011/12 nur noch 6,5 Prozent, nachdem es im Jahr zuvor noch bei 8,4 Prozent lag. Im ersten Quartal 2012 ver­ zeichnete die indische Wirtschaft sogar nur noch ein Wachstum von 5,3 Prozent, was deutlich unter den Zielvorgaben der Regierung von 7 bis 8 Prozent lag.7 Im März 2012 ging die industrielle Produktion um 3,5 Prozent zurück, während sie im März 2011 noch um über 9 Prozent angestiegen war.8 Der schlechte Monsun 2012 hat die wirtschaftliche Lage vor allem für die ländliche Bevölkerung wei­ ter eingetrübt.9 Die Regierung hat deshalb ihre optimistischen Prognosen und Zielvorgaben für den laufenden 12. Fünf­Jahres­Plan (2012–2017) von 9 Prozent Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert.10 3

Vgl. Asian Development Bank, India Factsheet, 2011, (abgerufen am 21.5.2012). 4 Vgl. World Bank, World Data Bank, 2012, (abgerufen am 11.5.2012). 5 Vgl. Mani Shankar Aiyar, Is Rising India a Just Society? If Not, What Must Be Done?, in: The Hindu, 15.8.2007; Changyong Rhee, Inequality is the Real Threat to Asia’s Growth Miracle, in: Financial Times, 8.5.2012. 6 Vgl. Anahita Mukherji, Growth Pangs, in: The Times of India, 4.6.2012. 7 Vgl. Vikas Bajaj, Strains on India’s Government Grow After Sharp Economic Slowdown, in: The New York Times, 1.6.2012. 8 Vgl. Industrial Production Contracts 3.5 Per Cent in March, in: The Hindu, 12.5.2012. 9 Vgl. Poor Monsoon to Pull Down Economic Growth to 6 pc: Montek, in: The Hindu, 3.8.2012. 10 Vgl. 9% Growth Unlikely for 5 Years: Montek, in: The Hindu, 6.7.2012.

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Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen

Die wirtschaftliche Entwicklung Indiens wird vom Dienstleistungssektor getra­ gen, der mittlerweile mehr als 50 Prozent des BIP erwirtschaftet. Problematisch ist, dass eine industrielle Entwicklung wie in China bislang nicht in Gang gekom­ men ist. Die Mehrheit der Beschäftigten arbeitet weiterhin in der Landwirtschaft. Der Zensus 2001 zeigte, dass nur ca. 3 Prozent der Beschäftigten eine Tätig­ keit hatten, die einen Hochschulabschluss voraussetzte, über 60 Prozent der Beschäftigten hingegen Arbeiten nachgingen, die keinerlei Schulabschluss er­ fordern.11 Die indische Softwarebranche genießt zwar weltweit einen guten Ruf, bietet aber nur etwa drei Mio. Menschen Arbeit, was nicht einmal 1 Prozent des indischen Arbeitsmarkts entspricht, der über 400 Millionen Beschäftigte zählt. Die Unternehmen beklagen seit vielen Jahren den Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Zwar verlassen jedes Jahr mehrere zehntausend Ingenieure die Universitäten des Landes, doch entspricht deren Ausbildungsniveau nur selten den Qualifikationsanforderungen der Unternehmen.12 Hinzu kommt, dass gut ausgebildete Fachkräfte seit vielen Jahren von den USA abgeworben werden. Die indische Diaspora in den USA zählt mittler­ weile zu den wohlhabendsten nichtweißen Minderheiten. Darüber hinaus sind indische Gastarbeiter in den Golf­Staaten tätig. Die mehr als 27 Mio. Inder außerhalb Indiens haben in den vergangenen Jahren immer mehr Geld in ihre Heimat überwiesen. Zwischen 2003 und 2010 stieg der jährliche Gesamtbetrag um über 160 Prozent von 21 auf 55 Mrd. US­Dollar.13 Indien ist aber auch das Ziel von Migranten – vor allem aus den ärmeren Nachbarstaaten Nepal und Bangladesch –, die ihr Auskommen im informellen Sektor suchen. Die Frage der Energiesicherheit ist eine weitere zentrale Herausforderung. Der Stromausfall im Juli 2012 legte nicht nur große Teile des öffentlichen Lebens in Nordindien lahm, sondern offenbarte auch die Verwundbarkeit der wirtschaftli­ chen Entwicklung. Indien verfügt zwar über große Kohlevorräte, ist jedoch schon heute zu über 70 Prozent von Öl­ und Gaseinfuhren, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten, abhängig. Diese Importabhängigkeit wird, Prognosen zufol­ ge, noch weiter zunehmen und 2030 vermutlich 90 Prozent betragen. Die indische Regierung kontrolliert zwar den Energiepreis, kann aber die höheren Kosten für Öl und Gas auf dem Weltmarkt nur begrenzt an die Verbraucher weitergeben.14 Aufgrund der Subventionen, die die Belastungen für die Bürger mindern, steigt jedoch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Indien zählt zu den wenigen Staaten, die sowohl ein Leistungsbilanzdefizit als ein Haushaltsdefizit aufweisen. Das Leistungsbilanzdefizit lag im letzten Quartal 2011 bei 4,3 Prozent des BIP und damit um 2 Prozentpunkte höher als im ver­ 11 Vgl. Pawan Agarwal, Aligning Higher Education with the Labour Market, in: Yojana, September 2009, S. 12. 12 Ebd., S. 13. 13 Vgl. Anahita Mukherji und Ashley D’Mello, Indian Diaspora Tops Remittance List, in: The Times of India, 23.7.2011. 14 Aufgrund der steigenden Energie­ und Nahrungsmittelpreise lag die Inflation im März 2012 bei über 9 Prozent.

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gleichbaren Quartal 2010. Das Haushaltsdefizit stieg im Finanzjahr 2011/12 auf 5,9 Prozent und lag deutlich über der von der Regierung anvisierten Marke von 4,6 Prozent.15 Eine der Ursachen ist eine Steuerquote von lediglich zehn Prozent.16 Nur 3 Prozent, schätzungsweise 35 Mio. Personen, zahlen Einkommensteuer, und die Erträge aus der landwirtschaftlichen Produktion werden zumeist nicht besteu­ ert.17 In Reaktion auf diese schlechtere Haushaltslage stufte die Rating­Agentur Standard & Poor’s (S&P) Ende April 2012 den Ausblick für Indien von „stabil“ auf „negativ“ herab.18 Angesichts der sich verschlechternden nationalen und in­ ternationalen Rahmenbedingungen kündigte S&P dann im Juni 2012 an, dass Indien als erstes Land der wirtschaftlich aufstrebenden BRICS­Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) seinen Investmentstatus verlieren könnte.19 Politische Neuordnung Trotz seiner sozialen und wirtschaftlichen Probleme verfügt Indien über ein vergleichsweise stabiles demokratisches System. Umfragen zeigen regelmäßig ein hohes Vertrauen in die demokratischen Institutionen, auch wenn der in­ dische Staat weiterhin Probleme hat, der Bevölkerung in ausreichendem Maße öffentliche Güter wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit bereitzustellen. Seit den 1990er Jahren verändern sich die Strukturen und Spielregeln der indischen Demokratie grundlegend. Die Parteienlandschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Die großen nationalen Parteien wie die Kongresspartei oder die hindu­nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) verlieren zugunsten von kleineren Regionalparteien. Bei der Wahl 2009 erhielten die beiden großen Parteien zusammen weniger als 50 Prozent der Stimmen. Diese Regionalisierung der Parteienlandschaft wird Koalitionsregierungen, die sich um eine der beiden großen Parteien gruppie­ ren, künftig zum Normalzustand machen. Seit Mitte der 1980er Jahre sind auf nationaler Ebene nur zwei Regierungen wiedergewählt worden. Die politischen Mehrheiten auf nationaler Ebene hängen immer stärker von den Erfolgen der 15 Vgl. Menace of Twin Deficits, in: The Hindu, 5.4.2012, (abgerufen am 30.4.2012). 16 Vgl. India’s Tax­GDP Ratio Still Less than Half OECD’s, in: The Economic Times, 21.4.2011, (abgerufen am 12.6.2012). 17 Vgl. Christoph Hein, Arme indische Steuerflüchtlinge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.8.2009, (abgerufen am 29.8.2009). 18 Vgl. S&P Downgrades India Outlook, Markets Hit, in: Hindustan Times, 25.4.2012 (abgerufen am 30.4.2012). 19 Vgl. More Economic Trouble Ahead? India in Danger of Becoming the First Developing Economy to Lose Investment­Grade Rating, Warns S&P, in: India Today, 11.6.2012, (abge­ rufen am 12.6.2012).

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Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen

regionalen Koalitionspartner ab, wie die BJP bei ihrer Wahlniederlage 2004 schmerzlich erfahren musste. Zugleich wandeln sich auch die Spielregeln der indischen Demokratie. Institutionen wie das Oberste Gericht und der Rechnungshof haben die Kontrolle der Politik erhöht. Durch neue Gesetze wie das Recht auf Information hat die Transparenz zugenommen. Ebenso schreitet die Dezentralisierung voran, unter anderem durch die verfassungsrechtliche Aufwertung von Dorf­ und Stadträten in den 1990er Jahren oder durch neue Sozialprogramme wie das 2005 verabschiedete Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act (MGNREGA).20 Allerdings gab es innerhalb der UPA Widerstände gegen eine weitere wirt­ schaftliche Liberalisierung. So führten die Reformen im September 2012, unter anderem die Erhöhung des Dieselpreises und eine weitere Liberalisierung des Einzelhandels, zum Rückzug des Trinamool Congress aus der Regierung. Die UPA verlor damit ihre Mehrheit im Parlament, doch fürchtete auch die Opposition vor­ gezogene Neuwahlen – angesichts der anhaltenden Debatte über Korruption und Patronage in den Parteien. Die Aufdeckung einer Reihe großer Korruptionsfälle entfachte im Sommer 2011 eine außerparlamentarische Protestbewegung, die die Regierung unter Druck setzte. Die wachsende Sensibilisierung für das Thema Korruption, die in Indien nahezu alle Lebensbereiche durchdringt, wird vermut­ lich auch bei den Wahlen 2014 eine zentrale Rolle spielen. Bei einer Reihe von Landtagswahlen, zum Beispiel in Bihar 2010, standen Themen wie Korruption und gute Regierungsführung im Mittelpunkt. Mit ihrem Mantra „Inclusive Growth“ hat die UPA­Regierung (United Progres­ sive Alliance / Vereinigte Fortschrittliche Allianz) unter Führung der Kongress­ partei seit 2004 eine Reihe von Sozialprogrammen aufgelegt, um mehr Menschen am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben zu lassen. So soll MGNREGA vor allem in den vernachlässigten ländlichen Regionen Arbeits­ und Einkommensmöglich­ keiten für die ärmeren Gesellschaftsschichten schaffen. 2010 wurde nach jahre­ langen Debatten endlich ein Gesetz zur Schulpflicht (als „Right to Education“) verabschiedet. Dessen Umsetzung obliegt jedoch den Bundesstaaten, die bereits in der Vergangenheit für eine Reihe von Defiziten im Bildungsbereich verant­ wortlich waren. Für besonders vernachlässigte Gruppen wie unberührbare Kasten (Scheduled Castes), Stammesbevölkerung (Scheduled Tribes) und Muslime hat sich die soziale Situation in den vergangenen Jahren etwas verbessert. Vor allem in den ärmeren Bundesstaaten in Nordindien hat sich der Abstand zum nationalen Durchschnitt in Bereichen wie Bildung und Einkommen verringert. Bislang keine nachhal­ tigen Verbesserungen zeigten sich für diese Gruppen hingegen in Bereichen wie Ernährung und Zugang zu sanitären Anlagen.21 20 Vgl. Pratap Bhanu Mehta, How India Stumbled. Can New Delhi Get Its Groove Back? In: Foreign Affairs, 91 (2012) 4, S. 64­75. 21 Vgl. Santosh Mehrotra und Ankita Gandhi, India’s Human Development in the 2000s. Towards Social Inclusion, in: Economic and Political Weekly, 7.4.2012, S. 59­64.

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Die prekäre soziale Lage in weiten Teilen des Landes, verbunden mit der traditionellen Vernachlässigung des ländlichen Raumes, hat militanten maois­ tischen Gruppen (Naxaliten) in den letzten Jahren weiteren Zulauf beschert. Die Regierung sieht in ihnen die größte innenpolitische Herausforderung – neben traditionellen Krisenherden wie in Kaschmir und im Nordosten des Landes. Außen(wirtschafts)politik Indiens innere Probleme stehen im Gegensatz zu seinen außenpolitischen Ambitionen. Seit seiner Unabhängigkeit 1947 versteht sich Indien als Großmacht, auch wenn dieser Anspruch bislang kaum formell anerkannt wurde, etwa durch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Gleichwohl hat Indien mit dem Abkommen zur zivilen nuklearen Zusammenarbeit mit den USA seit 2008 einen besonderen Status im Kontext des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) erhalten.22 Indiens gestiegene internationale Rolle zeigte sich auch bei den Reformen der Weltbank und des Währungsfonds (IWF) 2010. Im IWF ist Indien seitdem der achtgrößte Anteilseigner, in der zur Weltbank zählenden International Bank for Reconstruction and Development (IBRD) hat Indien jetzt einen Anteil von 2,91 Prozent.23 Aufgrund seines binnenorientierten Entwicklungsmodells spielten wirtschaft­ liche Fragen in der Außenpolitik bis 1991 kaum eine Rolle. Trotz einer Reihe spektakulärer Erfolge, zum Beispiel im Bereich der Informations­ und Softwaretechnologie, liegt Indiens Anteil am Welthandel unter 2 Prozent.24 Im Zuge seiner wirtschaftlichen Liberalisierung wurde die internationale Rolle indes deutlich aufgewertet. Im Rahmen seiner „Look East“­Politik hat Indien seit Mitte der 1990er Jahre seine Handels­ und Wirtschaftsbeziehungen zu den Industrie­ und Schwellenländern in Ost­ und Südostasien ausgebaut. China ist mittlerweile Indiens größter bilateraler Handelspartner. Indien hat im Zuge seiner wirtschaftli­ chen Liberalisierung nach 1991 seine traditionelle Importsubstitution aufgegeben und setzt seitdem verstärkt auf eine Politik der Exportförderung und der auslän­ dischen Direktinvestitionen, um das Wachstum anzukurbeln und die Armut zu verringern. Nach den Erfahrungen des Beinahe­Bankrotts im Frühjahr 1991, als die Einfuhren nur noch für zwei Wochen finanziert werden konnten, hat sich Indien ein Devisenpolster zugelegt, das im Juni 2012 knapp 290 Mrd. Dollar betrug.25 Die indische Regierung plant auch einen Staatsfonds aufzulegen, um 22 Vgl. Siddharth Varadarajan, In P­5 Statements, Gradual Recognition of India’s Nuclear Status, in: The Hindu, 23.12. 2010. 23 Vgl. Government of India, Ministry of Finance, Annual Report 2011–2012, India, New Delhi 2012, S. 37. 24 Vgl. Christian Wagner, India’s Gradual Rise, in: Politics, Nr. 30, Dezember 2010, S. 63­70. 25 Vgl. India’s Forex Reserves Grow to $287.37 Billion, in: The Times of India, 17.6.2012, (abgerufen am 18.6.2012).

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Indien: Ein Koloss auf tönernen Füßen

vor allem indische Energieunternehmen bei ihren Investitionen im Ausland zu unterstützen.26 Bereits heute betreibt die indische Entwicklungspolitik eine ge­ zielte Wirtschaftsförderung für indische Unternehmen, zum Beispiel bei ihrem Engagement in Afrika. Indien hat zwar in den vergangenen Jahren seine Zölle deutlich gesenkt, schützt aber seine einheimische Industrie und Landwirtschaft weiterhin vor globaler Konkurrenz. So scheiterte die Welthandelsrunde in Doha 2008 am Konflikt zwischen Indien und den USA über die Liberalisierung des Agrarsektors. Die in­ dische Regierung nutzte bislang relativ erfolgreich die Streitkonfliktmechanismen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Von den elf Verhandlungen gegen Industriestaaten konnte Indien bis auf eine alle für sich entscheiden bzw. eine einvernehmliche Regelung erzielen.27 Gleichwohl hat Indien im Zuge seiner wirtschaftspolitischen Liberalisierung eine Reihe von Freihandelsinitiativen unterstützt. Mittlerweile hat es – mit Ausnahme Pakistans – mit allen Nachbarstaaten der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) bilaterale Handelsabkommen unterzeichnet28 und gewährt Nachbarn wie Nepal einseitige Handelszugeständnisse. Indien war zusammen mit Sri Lanka maßgeblich an der Schaffung der SAARC Free Trade Area (SAFTA) 2006 beteiligt. Darüber hinaus hat Indien Freihandelsabkommen mit Sri Lanka, dem Golf­Kooperationsrat und Thailand sowie umfassende Wirtschaftsabkommen (Comprehensive Economic Agreements), unter anderem mit Mauritius, Singapur, Japan, Südkorea und der Association of South East Asian Nations (ASEAN) vereinbart. Die wirtschaftliche Liberalisierung und die Neuausrichtung der Parteienlandschaft haben den außenpolitischen Entscheidungsprozess verän­ dert. Die wachsende wirtschaftliche Interdependenz unterhöhlt die lange ge­ hegten Vorstellungen außenpolitischer Unabhängigkeit und damit verbundene Normen wie Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten. So führten im Sommer 2008 die Verhandlungen über das Nuklearabkommen mit den USA zum Bruch der Regierungskoalition, da die Communist Party of India­ Marxist / CPI(M) darin einen Ausverkauf nationaler Interessen sah. Die Anliegen der Regionalparteien wirken sich mittlerweile auch stärker auf die Außenpolitik aus, vor allem gegenüber den Nachbarstaaten. Im September 2011 verweiger­ te Mamata Banerjee, Ministerpräsidentin des Bundesstaats Westbengalen, ihre Zustimmung für ein Abkommen zur Wasserregulierung mit Bangladesch.29 Im 26 Vgl. Prasanta Sahu, India Moots $10 Billion Sovereign Wealth Fund, in: The Wall Street Journal, 8.9.2011,

(abgerufen am 18.6.2012). 27 Vgl. Anwarul Hoda, Dispute Settlement in the WTO, Developing Countries and India, in: ICRIER Policy Series, Nr. 15, April 2012, S. 18­21. 28 Vgl. Asian Studies Center, Key Asian Indicators: Book of Charts, Washington, DC 2012, S. 11. 29 Vgl. Priya Sahgal und Partha Dasgupta, CM Pours Cold Water Over PM, in: India Today, 10.9.2011, (abgerufen am 30.4.2012).

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März 2012 stimmte die indische Regierung im Menschenrechtsrat der UN erst­ mals für eine Resolution der westlichen Staaten gegen Sri Lanka aufgrund des Drucks tamilischer Regionalparteien auf die Regierung in Neu­Delhi.30 Ausblick: Reformhemmnisse Angesichts der noch immer relativ geringen weltwirtschaftlichen Integration Indiens sind seine Probleme eher innen­ als außenpolitischer Natur. Der Rückgang des Wachstums hat den wirtschaftlichen Ambitionen der Regierung einen deutlichen Dämpfer versetzt. Zwar hatte die 2009 wiedergewählte Regierung der United Progressive Alliance (UPA) unter Premierminister Manmohan Singh gute Ausgangsbedingungen. Die beiden größten Oppositionsparteien, die hindu­nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) und die Communist Party of India­Marxist / CPI(M) wa­ ren geschwächt und die Zahl der Koalitionspartner war geringer als in der vorangegangenen Koalitionsregierung. Der UPA gelang es selbst unter die­ sen vergleichsweise günstigen Konstellationen nicht, grundlegende Reformen zum Beispiel im Bereich Infrastruktur, Arbeitsgesetzgebung oder ländliche Entwicklung durchzusetzen. Die nächste Regierung wird kaum bessere Startbedingungen vorfinden. Gleichwohl verbindet die Führung der großen parteipolitischen Blöcke – Kongresspartei, BJP, Kommunisten – der Konsens, die Wachstumsstrategie fortzusetzen, um die Armut zu verringern. Das macht weitere Reformen not­ wendig, um Entwicklungs­ und Sozialprogramme finanzieren und im globalen Wettbewerb attraktiv bleiben zu können. Die Erfolge der Liberalisierung haben Indien mittlerweile zu einem „lower middle income country“ gemacht. Die Fragmentierung der Parteienlandschaft setzt aber großen Reformentwürfen enge Grenzen. Politisch ist Indien damit vermutlich schon in der „middle in­ come trap“ gefangen.31

30 Vgl. India Votes for Resolution Against Sri Lanka, in: The Hindu, 23.3.2012, (abgerufen am 30.4.2012). 31 Vgl. Asian Development Bank, Asia 2050: Realizing the Asian Century, Manila 2011.

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Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht? Felix Heiduk Nahezu unbeeindruckt von der Weltwirtschaftskrise verzeichnet Indonesien seit Jahren ein kontinuierlich starkes Wirtschaftswachstum. Mehr als zehn Jahre nach dem Übergang zur Demokratie hat sich auch die politische und gesellschaftliche Situation weiter gefestigt. Dank seiner prosperierenden Wirtschaft und der sta­ bilen politischen und gesellschaftlichen Lage hat Indonesien in den vergangenen Jahren an außenpolitischem Einfluss in der Region gewonnen. Dies ist umso be­ merkenswerter, zumal das Land Ende der 1990er Jahre – im Kontext der Asien­ Krise und dem Sturz des Suharto­Regimes – noch als zerfallender Staat galt. Allerdings zeigt die Analyse der aktuellen Entwicklung durchaus problematische gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Tendenzen. Bevölkerungsreichtum und Armut Mit einer Bevölkerungszahl von 237 Mio. Menschen ist Indonesien nicht nur der viertgrößte Staat und die drittgrößte Demokratie der Welt, sondern auch das bevölkerungsreichste mehrheitlich muslimische Land. Für 2012 prognos­ tizierte die Weltbank ein Bevölkerungswachstum von 1 Prozent. 2011 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf 4700 Dollar und stieg im Vergleich zum Vorjahr um 5 Prozent. Die Einkommen sind jedoch sehr ungleich verteilt: Während die 100 reichsten Indonesier 2010 ihr Vermögen um durchschnittlich 75 Prozent steigern konnten, leben etwa 120 Millionen Indonesier von weniger als zwei Dollar pro Tag. Gleichwohl ist die Armutsrate, die 2004 noch knapp 17 Prozent betrug, mittlerweile auf 14 Prozent gefallen.1 Auch die offizielle Arbeitslosigkeit hat sich verbessert, von über 11 Prozent (2005) auf derzeit 7 Prozent. Obschon auch die Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu 2005 stark gesunken ist, beträgt sie immer noch 30 Prozent und liegt damit weit über dem

1

The World Bank, Indonesia at a Glance, (abgerufen am 12.8.2012).

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internationalen Durchschnitt.2 Allerdings erfassen die offiziellen Statistiken nicht den informellen Sektor, in dem schätzungsweise 60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt sind. Demnach sind „nur“ etwa 40 Mio. Indonesier ohne Arbeit. Jene Indonesier, die im informellen Sektor arbeiten, sind von der ohnehin schwach ausgeprägten sozialen Sicherung ausgeschlossen.3 Nach einem nunmehr seit 2004 andauernden Reformstau soll diesem Mangel abgeholfen werden. Am 28. Oktober 2011 haben Parlament und Regierung dem Gesetz zur Bereitstellung sozialer Sicherheit zugestimmt, wodurch vom 1. Januar 2014 an eine allgemeine Gesundheitsversorgung und ab Juli 2015 eine allgemeine Rentenversorgung ein­ gerichtet werden sollen. Allerdings ist die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems weiter unklar. Trotz steigender Ausgaben der Regierung im Bereich der Gesundheitsvorsorge ist deren Anteil an den Staatsausgaben immer noch sehr gering, wohingegen über ein Drittel des Staatshaushalts für Subventionen und die Bezüge der Staatsbediensteten verwendet wird. Mit Blick auf den Staatshaushalt fällt jedoch positiv auf, dass die Regierung ihr Versprechen, 20 Prozent des Budgets in Bildung zu investieren, weitgehend eingelöst hat. Für 2012 sehen die Haushaltspläne Investitionen in den Bildungssektor von umgerechnet ca. 23 Mrd. Euro vor. Durch staatliche Förderung konnte die Zahl der Hochschulabgänger in den letzten fünf Jahren von 3,8 auf 5,2 Mio. erhöht werden. Problematisch sind nach wie vor die großen Niveauunterschiede zwischen einzelnen Bildungseinrichtungen und die fehlende staatliche Kontrolle privater Bildungsanbieter, insbesondere isla­ mischer Religionsschulen, der so genannten madrassa. Wirtschaftsentwicklung Im Zuge der demografischen Entwicklung drängen jedes Jahr drei bis vier Mio. junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Experten gehen davon aus, dass ein jährliches Wirtschaftswachstum von 3 bis 4 Prozent benötigt wird, um den Lebensstandard der wachsenden Bevölkerung zu sichern.4 Um das künftig nötige Wirtschaftswachstum zu unterstützen, senkte die indo­ nesische Zentralbank den Leitzins auf 5,75 Prozent.5 Die indonesische Wirtschaft 2 3 4 5

International Labour Organization (ILO), Bersama Bisa ‚Together It’s Possible‘: 10 Years of Work on Youth Employment in Indonesia, Jakarta, März 2012; Shirley Christie, High Rate of Youth Unem­ ployment Presents Big Challenge: World Bank, in: Jakarta Globe, 27.3.2011. International Labour Organisation (ILO), Labour and Social Trends in Indonesia 2010 – Translating Economic Growth into Employment Creation, Jakarta 2011. Alex Flor, Indonesien – Traumziel für Investoren?, Watch Indonesia, Informationen und Analyse, Berlin, 9.5.2012. Aufgrund der sinkenden Inflationsrate hatte die Notenbank dafür Spielraum: Mit 5,9 Prozent hatte sich die Inflationsrate gegenüber den Vorjahren verbessert. Die Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin, die 2010 kräftig angezogen hatten, sanken nach landesweiten Protesten 2011. Vgl. World Bank, Indonesia Economic Quarterly – Enhancing Preparedness, Ensuring Resilience, Jakarta, De­ zember 2011.

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Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht?

konnte 2011 ein ausreichendes Wirtschaftswachstum von über 6 Prozent erzielen. Da über zwei Drittel des Wachstums vom Binnenkonsum getragen werden, war das Land weitgehend immun gegenüber der Weltwirtschaftskrise. Massenkonsumorientierte Bereiche wie der Telekommunikationssektor ha­ ben ihre starken Wachstumsraten vor allem der gestiegenen Nachfrage nach Computern und Mobiltelefonen durch eine wachsende Zahl junger Indonesier aus der Mittelschicht zu verdanken.6 Industrie und Dienstleistungssektor tra­ gen mit 46 bzw. 39 Prozent (2011) auch am meisten zur gesamtwirtschaft­ lichen Wertschöpfung bei: Der Anteil der Landwirtschaft beträgt nur knapp 15 Prozent. Hingegen arbeiten immerhin noch 38 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 49 Prozent im Dienstleistungssektor und nur 13 Prozent in der Industrie.7 Ähnlich wie in Deutschland führte auch in Indonesien die Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 zu einem Kurswechsel in der Energiepolitik. Zuvor gab es noch Pläne, die rückläufige Ölförderung durch zusätzlichen Atomstrom zu kompensieren. Dafür hatte Indonesiens Präsident Yudhoyono den Bau von zwei Atomkraftwerken in dem stark erdbebengefährdeten Land geplant.8 Diese Pläne, so scheint es, sind nach Fukushima nunmehr vom Tisch. Das Handelsblatt zitierte Yudhoyono bei einem Besuch in Japan mit den Worten „Was in Japan im März geschehen ist, kann auch in Indonesien geschehen.“9 Auf lange Sicht will Indonesien verstärkt alternative Energiequellen wie Wind­, Sonnen­ und Thermalenergie gewinnen. Bislang spielen erneuerbare Energiequellen eine untergeordnete Rolle. Dabei verfügt Indonesien mit über 129 aktiven Vulkanen, die schätzungsweise 40 Prozent des globalen Erdwärme­ Potenzials darstellen, über sehr gute Möglichkeiten. Wenn diese Ressourcen zur Stromerzeugung genutzt würden, könnte damit der gesamte Energiebedarf des Landes gedeckt werden. Seit 1997 ist in Indonesien jedoch kein neues Geothermiekraftwerk ans Netz gegangen. In den vergangenen Jahren wurden nur neue Kohlekraftwerke gebaut und mehr als 230 Mio. Tonnen Kohle pro Jahr gefördert.10 Auch für die nahe Zukunft plant Jakarta den Bau zahlreicher neuer Kohle­ und Gaskraftwerke, um den wachsenden Strombedarf zu decken. Neben der Kohle dominieren auch die um­ fangreichen Gasvorkommen den Energiemix. Indonesien ist zwar Mitglied der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC), verfügt aber nur noch über geringe Erdölvorkommen, die beim derzeitigen (rückläufigen) Fördervolumen nur noch geschätzte 20 Jahre reichen werden. Seit 2004 kann Indonesien den ei­ genen Ölbedarf nur noch über Importe decken. 6

International Monetary Fund (IMF), Indonesia: 2011 Article IV Consultation—Staff Report, IMF Country Report No. 11/309, Jakarta, Oktober 2011. 7 Asian Development Bank (ADB), Asian Development Outlook 2011: Update – Preparing for Demo­ graphic Transition, Manila 2011, S. 121. 8 Vgl. Sulfikar Amir, Nuclear Revival in Post­Suharto Indonesia, in: Asian Survey, 2/2010, S. 265­286. 9 Urs Wälterlin, Indonesien sagt „Nein“ zur Atomkraft, Handelsblatt, 19.6.2011. 10 Moritz Kleine­Brockhoff, Energie aus Feuerbergen, Frankfurter Rundschau Online, 1.7.2009.

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Viel (neue) Energie im mehrfachen Wortsinn wird auch nötig sein, um die ehrgeizigen Pläne zur Entwicklung der indonesischen Wirtschaft umzuset­ zen. 2011 veröffentlichte die Regierung den Masterplan for the Acceleration and Expansion of Indonesia’s Economic Development. Der so genannte Masterplan benennt als zentrale Zielvorgabe den Aufstieg Indonesiens zu ei­ ner der zehn stärksten Volkswirtschaften der Welt und einen Anstieg des Pro­ Kopf­Einkommens auf 15 000 Dollar bis 2025. Mit umfassender staatlicher Infrastruktur­, Bildungs­ und Technologieförderung will Jakarta von 2015 bis 2025 jährliche Wachstumsraten von 8 bis 9 Prozent erreichen und damit auch verstärkt ausländische Direktinvestitionen anziehen.11 Inwiefern jedoch das derzeitige Wirtschaftswachstum auch mittelfristig Bestand haben wird, darf bezweifelt werden. Zum einen basiert das Wachstum vor allem auf der wenig nachhaltigen Ausbeutung einheimischer Ressourcen wie Holz und Kohle sowie auf dem Einsatz billiger Arbeitskräfte. Zum anderen sind die erkannten Strukturprobleme wie schlechte Infrastruktur, mangelnde Energieversorgung, schlecht ausgebildetes Personal und endemische Korruption von der Politik noch nicht wirklich angegangen worden. Staatsschwäche Nach 30 Jahren Diktatur unter General Suharto folgten bislang drei freie und faire Wahlen und eine weitreichende Dezentralisierung politischer Macht, ohne dass dabei das Land in politische Instabilitäten abrutschte. Allerdings ist trotz florierender Wirtschaft unter dem seit Oktober 2004 amtierenden Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono der demokratische Reformprozess ins Stocken gera­ ten – wie schon zuvor in der Amtszeit seiner Vorgängerin Megawati Sukarnoputri. Obwohl Yudhoyono im Ausland immer noch als reformfreudiger Präsident gilt, ergibt eine genauere Betrachtung, insbesondere seiner mittlerweile zweiten Amtsperiode, ein weniger positives Bild. Dabei fallen zunächst die gezielten Versuche der Regierung und des Parlaments auf, demokratische Kontrollinstitutionen zu unterminieren bzw. zu blockieren. Vor allem die 2003 in dem von Korruption geplagten Land eingerichtete Anti­ Korruptionsbehörde (Komisi Pemberantasan Korupsi, KPK) ist Teilen der herrschenden Eliten ein Dorn im Auge. Seit 2003 wurden von der KPK über 1000 Korruptionsfälle untersucht und schon einige Minister, Gouverneure und Parlamentarier verurteilt. Wiederholt gab es daraufhin Initiativen im Parlament, um die Machtbefugnisse der KPK wieder zu beschneiden – auch indem die Posten der Behörde nicht mehr wie bisher an parteilose Akademiker und Technokraten vergeben werden und zu kritische Beamte selbst der Korruption verdächtig ge­ macht wurden. Ähnliche Angriffe, allerdings in geringerem Umfang, wurden auch 11 Coordinating Ministry for Economic Affairs, Masterplan for Acceleration and Expansion of Indonesia Economic Development, Jakarta 2011; Josh Franken, Indonesia: Thinking Big, in: The Jakarta Post, 13.6.2011.

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Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht?

auf die Wahlaufsichts­ und die Justizaufsichtsbehörde gerichtet. Schließlich wurde der Dezentralisierungsprozess, der seit dem Sturz Suhartos fester Bestandteil der Demokratisierung des Landes ist, in Frage gestellt. So werden die Direktwahl von Gouverneuren und Gemeindevorstehern als Schwächung der Steuerungsfähigkeit der Zentralregierung in Jakarta kritisiert und die Rückkehr zum zentralistischen Wahlsystem der Suharto­Ära gefordert. Eine dahin führende Gesetzesvorlage soll bald dem Parlament vorgelegt werden.12 Auch im Bereich der Minderheitenrechte und der religiösen Toleranz sind in Indonesien Rückschritte zu verzeichnen. Obschon in einigen Teilen des Landes immer wieder religiöse Intoleranz und religiös motivierte Gewaltanwendung für Instabilität sorgen, wird Indonesien von westlichen Medien und Think Tanks als Musterbeispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gepriesen.13 Doch Indonesiens Staatsmacht diskriminiert religiöse Minderheiten und be­ schneidet deren verfassungsrechtlich garantierte Rechte, etwa durch Bauverbote für Kirchen, buddhistische Tempel und Moscheen vermeintlich häretischer Muslime. Diese zumeist auf kommulaler Ebene erlassenen Verbote haben oftmals keine rechtliche Grundlage, werden aber von der Zentralregierung stillschweigend toleriert. 2008 wurden die Mitglieder der Ahmadiyah, eine angeblich muslimische „Sekte“, die von der Mehrheit der indonesischen Muslime als „ketzerisch“ angesehen wird, durch ein Regierungsdekret in ih­ ren religiösen Freiheiten massiv eingeschränkt.14 In der Folge kam es verstärkt zu Übergriffen auf Ahmadiyah­Mitglieder. 2011 beispielsweise wurden drei Mitglieder der „Sekte“ von einem mehr als 1000 Mann starken Mob totgeschla­ gen, während die lokale Polizei tatenlos zuschaute. Über die rapide steigende Zahl von Übergriffen auf religiöse Minderheiten in Indonesien wurde in der Folge auch in westlichen Medien berichtet,15 insbesondere der Angriff auf eine Ahmadiyah­Familie 2011 in Banten machte wegen der Filmaufnahmen brutaler Szenen international Schlagzeilen. Nachdem das Jemaah Islamiyah Netzwerk, welches unter anderem die Anschläge von Bali 2002 verübt hatte, durch staatliche Sicherheitsmaßnahmen geschwächt werden konnte und in Indonesien zwischen 2005 und 2009 kei­ ne weiteren Terroranschläge mehr verübt wurden, haben seit 2009 islamis­ tische Gewalt und Terrorakte wieder stark zugenommen. Waren die Ziele zuvor vor allem Symbole westlicher Macht und Lebensweise wie Botschaften, Luxushotels und Nachtclubs, so zielten die seit 2009 verübten Anschläge vor allem auf lokale und nationale Ziele, wie Polizisten oder liberale islamische Gelehrte, die von den Attentätern als „unislamisch“ gebrandmarkt wurden. 12 Greg Fealy, Indonesian Politics in 2011: Democratic Regression and Yudhoyono’s Regal Incumbency, in: Bulletin of Indonesian Economic Studies, 3/2011, S. 333­353. 13 Vgl. Freedom House, Freedom in the World 2011: Country Report Indonesia, Washington, DC 2011. 14 Felix Heiduk, Die Renaissance des politischen Islams in Indonesien ­ Der Erlass gegen die Ahmadiyah: Anfang vom Ende interreligiöser Toleranz? SWP Aktuell A 60, Berlin 2008. 15 Vgl. Sentences in Indonesian Killings Draw Criticism, in: Wall Street Journal, 28.7.2011.

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Ein geplantes Attentat auf Präsident Yudhoyono konnte 2011 vereitelt wer­ den.16 Die Reaktionen der Regierung auf die neue Welle islamistischer Gewalt war unterschiedlich: Während man gegen islamistische Terroristen mit einer Verhaftungswelle resolut vorging, wurden lokale islamistische Milizen von staat­ lichen Sicherheitskräften bislang kaum behelligt. Die Sicherheitskräfte nehmen vor allem sezessionistische und kommunale Gewaltkonflikte als Bedrohungen für Indonesiens Sicherheit und Stabilität wahr. In der Provinz Aceh, die bis zum Tsunami 2004 Schauplatz eines blu­ tigen Sezessionskonflikts zwischen der Bewegung Freies Aceh (Gerakan Aceh Merdeka, GAM) und der indonesischen Zentralregierung war, kam es im Vorfeld der Gouverneurswahlen zu einer Reihe von Anschlägen mit Toten gegen Anhänger des amtierenden Gouverneurs Irwandi Yusuf.17 Die am 9. April 2012 abgehaltenen Wahlen verliefen jedoch friedlich.18 In West­Papua, das seit Ende der 1960er Jahre Schauplatz eines Bürgerkriegs zwischen der für die Unabhängigkeit West­Papuas kämpfenden Organisation Freies Papua (Organisasi Papua Merdeka, OPM) und der Regierung in Jakarta ist, haben in den letzten Monaten Guerillaoperationen gegen Polizei­ und Militärposten zugenommen, auf die Jakarta mit Militäroperationen gegen OPM­Stützpunkte antwortete.19 Eine Papua­Friedenskonferenz, an der Vertreter der papuanischen Zivilgesellschaft sowie Vertreter der indonesischen Regierung teilnahmen, ver­ lief ergebnislos.20 Auch auf Ambon, eine der Hauptinseln der Molukken, wo zwischen 1999 und 2002 bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen statt­ gefunden hatten, flammte im September 2011 die Gewalt zwischen den beiden Religionsgruppen wieder auf. Der Tod eines muslimischen Taxifahrers, der laut Gerüchten von Christen ermordet worden war, löste auf Ambon die schwers­ ten Auseinandersetzungen seit Jahren aus, in deren Folge mehrere Menschen starben und mehr als 4000 aus ihren Häusern vertrieben wurden.21 Obwohl durch das schnelle Eingreifen mehrerer lokaler Graswurzelorganisationen sowie die Stationierung mehrerer Hundert Sicherheitskräfte auf Ambon wei­ tere Gewalttaten verhindert werden konnten, verdeutlichte die Eskalation der Gewalt die weiterhin fragile Sicherheitslage auf der Insel.

16 Felix Heiduk, Between a Rock and a Hard Place: Radical Islam in Post­Suharto Indonesia, in: Interna­ tional Journal of Conflict and Violence, 1/2012, S. 26­40. 17 International Crisis Group, Averting Election Violence in Aceh, Asia Briefing No. 135, Jakarta/Brüs­ sel, 29.2.2012. 18 Hotli Simanjuntak und Nani Afrid, Aceh Sails Through Election, in: Jakarta Post, 10.4.2012. 19 Vgl. The Last Frontier – In West Papua Indonesian History is Repeating Itself as Tragedy, in: The Economist, 30.6.2012. 20 International Crisis Group, Hope and Hard Reality in Papua, Asia Briefing No. 126, Jakarta/Brüssel, 22.8.2011. 21 International Crisis Group, Trouble Again in Ambon, Asia Briefing No. 128, Jakarta/Brüssel, 4.12.2011.

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Indonesien: Vom fragilen Staat zur Regionalmacht?

Außenpolitische Übungen Auf regionaler Ebene ist Indonesien ebenso ins Zentrum sicherheitspolitischer Debatten geraten –vor allem durch seine Lage an der Straße von Malakka. Rund 25 Prozent des maritimen Welthandels, inklusive geschätzter 70 Prozent der chi­ nesischen und 90 Prozent der japanischen Ölimporte, passieren diese Meerenge, die die direkte Verbindung zwischen dem Mittleren Osten und den asiatischen Märkten darstellt. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wer­ den neben Piratenüberfällen auf Handelsschiffe auch von Al Qaida geplante Terroranschläge in der Straße von Malakka befürchtet. Seitdem kooperieren die Anrainerstaaten Indonesien, Malaysia und Singapur bei Patrouillenfahrten. Wenngleich diese Zusammenarbeit international begrüßt wird und zu einem Rückgang der Piraterie geführt hat, hegen Beobachter dennoch Zweifel, ob die Sicherheitslage mit den mangelnden Kapazitäten, besonders der indonesischen Marine, auf längere Sicht verbessert werden kann.22 Eine weitere Unsicherheitslage in der Region provozierte das erneute Säbelrasseln zwischen China auf der einen und Vietnam und den Philippinen auf der anderen Seite wegen der weiterhin ungelösten Territorialkonflikte um mehrere Inselgruppen und Atolle im südchinesischen Meer. Zudem haben auch noch die USA die Navigationsfreiheit im südchinesischen Meer, über das ein großer Teil des Welthandels abgewickelt wird, zum nationalen Interesse erklärt. Seemanöver der Streitkräfte Chinas auf der einen sowie Militärübungen Hanois und Manilas zusammen mit den amerikanischen Streitkräften auf der anderen Seite haben die Angst vor einem militärischen Konflikt zwischen den USA und China erhöht.23 Indonesien hat einmal mehr versucht, eine regionale Vermittlerrolle einzuneh­ men. Allerdings sind seine diplomatischen Bemühungen gescheitert, während des ASEAN­Außenministertreffens im Juni 2012 eine Lösung herbeizufüh­ ren. Indonesien war überfordert, die zunehmende Spaltung der ASEAN in mit China (vor allem Kambodscha und Laos) und mit den USA (insbesondere die Philippinen und Vietnam) verbundene Staaten zu überbrücken.24 Während wegen der innenpolitischen Instabilität nach dem Sturz Suhartos das außenpolitische Engagement Indonesiens zunächst stark abnahm, entwickelt sich das Land dank seiner expandierenden Wirtschaft sowie politischen und gesell­ schaftlichen Stabilität seitdem wieder zu einem der führenden außenpolitischen Akteure in der Region. So hat Indonesien innerhalb der ASEAN bei der Lösung der Myanmar­Problematik eine wichtige Rolle gespielt. Dabei hat sich die seit Jahrzehnten geltende außenpolitische Doktrin Indonesiens, bebas­dan­aktif 22 Howard Loewen und Anja Bodenmüller, Straits of Malacca, in: Stefan Mair (Hrsg.), Piracy and Mari­ time Security: Regional Characteristics and Political, Military, Legal and Economic Implications, SWP Research Paper No. 3, Berlin 2008, S. 42­47; Marco Bünte, Piraterie in Südostasien – Neuere Ent­ wicklungen und Perspektiven, in: Journal of Current Southeast Asian Affairs, 2/2009, S. 87­99; David Brewster, The Relationship Between India and Indonesia, in: Asian Survey, 2/2011, S. 221­244. 23 Vgl. Till Fähnders, Unfallgefahr in der Badewanne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.4.2012. 24 Vgl. Chinese Checkers, in: The Economist, 21.7.2012.

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(unabhängig und aktiv), über die Transformationsphase hinweg nicht verändert. Indonesien ist bestrebt, seine internationale Politik frei von externen Mächten selbst zu gestalten und hierbei dem in der Verfassung verankerten Auftrag bei der Gestaltung einer gerechten und friedlichen Welt Folge zu leisten.25 Seine Unabhängigkeit – und damit auch Distanz gegenüber amerikanischen Annäherungsversuchen – muss Indonesien schon deshalb wahren, weil seine Exporte nicht verstärkt in westliche Länder, sondern hauptsächlich nach China, Japan, Indien und andere asiatische Länder gehen. Damit war Indonesien, ebenso wie seine Handelspartner in der Region, nicht direkt von der Wirtschafts­ und Finanzkrise betroffen.26 Indonesien exportierte 2011 Waren im Wert von 157 Mio. Dollar und im­ portierte Waren im Wert von 135 Mio. Dollar. Die Exporte wuchsen damit im Vergleich zum Vorjahr um 35 Prozent, die Importe um 40 Prozent. Letzteres war vor allem der steigenden Nachfrage nach Zwischenprodukten durch die verarbeitende Industrie geschuldet. Trotz wachsender Importe stieg so der Handelsbilanzüberschuss im Vergleich zum Vorjahr leicht auf 22 Mio. Dollar an. Im Exportsektor stach 2011 besonders die verarbeitende Industrie hervor, deren Ausfuhren um 5,6 Prozent auf den höchsten Wert seit fünf Jahren an­ stiegen. Des Weiteren konnten mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse und fossile Brennstoffe ausgeführt werden. Bis auf Weiteres bilden die extraktive Industrie und die Landwirtschaft den Schwerpunkt der indonesischen Außenwirtschaft. Neben dem Export von Erdgas und Kohle hat sich Indonesien zum größten Palmölproduzenten und ­exporteur weltweit aufgeschwungen. Dies ist vor allem auf die verstärkte globale Nachfrage nach Biokraftstoffen zurückzuführen. Indonesien produzierte 2010 fast die Hälfte des weltweit gehandelten Palmöls. Die exportierte Menge hat sich von 2003 bis 2010 mehr als verdoppelt.27 Ebenso stieg die Summe der ausländischen Direktinvestitionen 2011 um fast 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr und kletterte damit auf den höchsten Stand seit zehn Jahren.28 Die Investitionen stammten überwiegend aus Singapur, den USA, den Niederlanden, Japan und Südkorea und wurden hauptsächlich in den Bereichen Transport, Telekommunikation und Bergbau getätigt. Dank starker Kapitalzuflüsse aus dem Ausland haben die offiziellen Devisenreserven im März 2011 erstmals die 100 Mrd.­Dollar­Marke durchbrochen. Sie lagen Ende September 2011 sogar bei 114 Mrd. Dollar und haben sich seit 2009 mehr als 25 Howard Loewen und Hanns Günther Hilpert, Indonesien als Partner deutscher Außenpolitik, SWP Studie S 6, Berlin, Februar 2012. 26 B. Raksaka Mahi und Suahasal Nazara, Survey of Recent Developments, in: Bulletin of Indonesian Economic Studies, 1/2012, S. 7­31, hier S. 11. 27 Allerdings hat der Boom eine Reihe negativer Folgen, da durch die Brandrodung für den Palmölanbau große Mengen an CO2 freigesetzt, Regenwälder abgeholzt und vor allem indigene Bevölkerungsgrup­ pen von ihrem Land vertrieben werden. Vgl. Friedel Hütz­Adams, Palmöl: Vom Nahrungsmittel zum Treibstoff? Entwicklungen und Prognosen für ein umstrittenes Plantagenprodukt, Brot für die Welt und Vereinigte Evangelische Mission, Stuttgart, Februar 2011. 28 Asian Development Bank, Asian Development Outlook 2011: Update ­ Preparing for Demographic Transition, Manila 2011, S. 121.

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verdoppelt. Auch die indonesische Rupiah hat gegenüber dem Dollar deutlich aufgewertet. Trotzdem hinkt Indonesien direkten Konkurrenten in Asien wie China und Vietnam weiter hinterher – wegen der Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung als Produktionsstandort bzw. Beschaffungs­ und Absatzmarkt. Laut dem Doing Business­Bericht der Weltbank nimmt Indonesien nur Platz 129 von insgesamt 183 Staaten ein.29 Fazit Trotz des gegenwärtig robusten Wirtschaftswachstums und einer ge­ wissen politischen Stabilität hat Indonesien mittel­ bis langfristig nach wie vor mit gravierenden Strukturproblemen zu kämpfen – einer mangelnden Infrastruktur und Energieversorgung, ungelösten gesellschaftlichen Konflikten, Korruption, mangelnder Rechtssicherheit und einem an vielen Stellen blockier­ ten Demokratisierungsprozess – welche die weitere Wirtschaftsentwicklung behindern. Nichtsdestotrotz steht das Land im Vergleich zu anderen Ländern der G20 gut da, weil es von den negativen Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts­ und Finanzkrise relativ wenig betroffen wurde. Dies ist aber nicht seiner voraus­ schauenden Politik geschuldet, sondern vielmehr den größtenteils asiatischen Absatzmärkten für indonesische Produkte und der gestiegenen Binnennachfrage. Es bleibt fraglich, ob es mittelfristig gelingen wird, die politischen und ge­ sellschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, die einer nachhaltigen Stabilisierung im Wege stehen. Denn ohne einen solchen Ausgleich erscheint es schwierig, die neugewonnene, vor allem auf dem starken wirtschaftlichen Wachstum basierende innere Stabilität des Landes mittelfristig zu erhalten. Und diese neugewonnene Stabilität war es, die wiederum den außenpolitischen Aktivismus Indonesiens der vergangenen Jahre ermöglicht hat.

29 The World Bank, Doing Business 2012 – Doing Business in a More Transparent World, Washington, DC 2012, S. 102.

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Italien: Der Euro als Rettungsanker, Hängematte und gefährliche Klippe Tobias Piller Seit mehr als 20 Jahren dreht sich in Italiens Politik und Wirtschaft alles um den Euro. Anfangs schien der Euro, als Symbol der Europäischen Währungsunion, wie ein lange ersehnter Rettungsanker für die gebeutelten Staatsfinanzen und als willkommenes Instrument, um die italienische Wirtschaft zu stabilisieren. Inzwischen wird der Euro von rechten wie linken Populisten verteufelt als angeb­ liches Unterdrückungsinstrument der Finanzmärkte und der Deutschen. Für die Mehrheit der Parteien und für die Regierung Monti birgt die Währungsunion da­ gegen gefährliche Klippen, solange über ihr Auseinanderbrechen spekuliert wird. Italiens Regierungen haben die Vorteile der Währungsunion dazu missbraucht, das Sanierungstempo der Staatsfinanzen zu verlangsamen und zudem mit steigenden Staatsausgaben das Problem von Stagnation und wirtschaftlichem Niedergang in der globalen Wirtschaftswelt zuzudecken. Diese Fehlentwicklung wiegt nun doppelt schwer. Denn einerseits muss Italien bei der Sanierung der Staatsschulden wieder dort anfangen, wo man zuletzt in der Krise der 1990er Jahre gestartet war, mit einem Schuldenstand von 121,8 Prozent des BIP 1994. Zum anderen hat das Land aber nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung und nicht mehr die Wachstumskraft, um sich wie in der Vergangenheit mit Hilfe der unternehmerischen Erfolge Einzelner aus dem aktuellen Tief herauszuarbeiten. Rettungsanker Schon zu Beginn der 1990er Jahre schien Italien auf die Währungsunion an­ gewiesen. Wie sehr, hat der frühere Ministerpräsident, Schatzminister und Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi einmal nach dem Rückzug ins Privatleben zugegeben: „Wer den Euro heute kritisiert, der weiß nicht, wovon er redet. (…) Der hat nicht das Drama zu Beginn der neunziger Jahre erlebt, als Italien wirklich riskierte, wie Argentinien zu enden.“1 1

Interview mit der Zeitung La Repubblica, 30.12.2006.

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Italien: Der Euro als Rettungsanker, Hängematte und gefährliche Klippe

Als Italien 1991 an den Verhandlungen über die Gründung der Währungsunion teilnahm und als schließlich 1992 der Vertrag von Maastricht unterschrie­ ben wurde, glaubte niemand daran, dass die Italiener ernsthafte Chancen hätten, die Kriterien für die Aufnahme in die Währungsunion zu erfüllen. Zwar war im Vertragswerk von Maastricht auch auf Wunsch der Italiener festgeschrieben worden, dass nicht nur die Kriterien selbst, sondern auch die Entwicklungstendenzen berücksichtigt werden sollten. Doch davon schie­ nen Italiens Wirtschaftsdaten so weit entfernt, dass jegliche Hoffnung unge­ rechtfertigt schien: Das Haushaltsdefizit Italiens war seit 1981 oberhalb von 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gelegen, mit dem Rekordwert von 12,4 Prozent im Jahr 1985, und immer noch 11,4 Prozent im Jahr 1991.2 Der Schuldenstand war von 1980 bis 1991 von 60 Prozent auf 98 Prozent des BIP gewachsen und zeigte weiter kräftig steigende Tendenz.3 Die Referenzwerte eines Haushaltsdefizits von 3 Prozent und von Staatsschulden bei maximal 60 Prozent des BIP schienen unerreichbar. Das Gleiche galt für die Inflationsrate, die 1980 den Rekordwert von 21,2 Prozent erreichte und 1991 immer noch bei 6,3 Prozent lag – während sie für die Aufnahme in die Währungsunion nur 1,5 Prozentpunkte höher liegen durfte als der Durchschnitt der drei Kandidaten mit der niedrigsten Inflation.4 In den Jahren 1992 und 1993 schienen Italiens Politik und Wirtschaft dann ohne Halt zu taumeln. Die Staatsanwälte in Mailand begannen mit Ermittlungen über weitverbreitete Korruption zwischen Politik und Wirtschaft. Die sizilianische Mafia erschütterte das Land mit Bombenanschlägen, die zwei Symbolfiguren der Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen beseitigen und die staatlichen Institutionen gefügig machen sollten für die Forderungen der Mafia. Von den Wahlen Anfang April 1992 bis zum Antritt der Regierung von Ministerpräsident Giuliano Amato blieb das Land führungslos. Dem Kabinett – wegen Ermittlungen und Verhaftungen eine Art Ersatzmannschaft – fehlte die Kraft zu einem Kurswechsel, auch, als Italien dann bis zum September 1992 immer mehr in den Strudel von Abwertungsspekulationen geriet. Erst als die Zentralbank bei der Verteidigung des Lira­Kurses mehr als 20 Mrd. Dollar an Währungsreserven verloren hatte, ergab sich die Regierung in das Schicksal der Abwertung der italienischen Lira und eines Pakets von Haushaltskorrekturen über nominal 46 Mrd. Euro, nur um wenige Monate später wegen der Ermittlungen gegen weitere Politiker zu stürzen. Italien schloss das Jahr 1992 mit einem Defizit von 10,4 Prozent des BIP und einem Schuldenstand von 105,2 Prozent des BIP, auf die 1993 – trotz Haushaltskorrekturen – ein Defizit von 10 Prozent und ein Schuldenstand von 115,6 Prozent des BIP folgen sollten. In dieser 2 3 4

Zur wirtschaftlichen Entwicklung Italiens bis 1992: Salvatore Rossi, La politica economica italiana 1968–2007, Seconda Edizione, Roma­Bari 2008. Istat, Serie Storiche, Tavola 12.19 Rapporti caratteristici del conto economico consolidato delle Pubbliche Amministrazioni – Anni 1980­2009. Istat, Serie Storiche, Tavola 21.8 Variazioni percentuali degli indici nazionali dei prezzi al consumo per l’intera collettività – Anni 1955–2010.

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Situation mussten die Akteure an den Finanzmärkten weitere Abwertungen der Lira, weitere Wellen der Inflation (nach 5,3 Prozent 1992 und 4,6 Prozent 1993) fürchten, vor allem aber die Insolvenz des italienischen Staates. Wegen der Staatsschulden von umgerechnet 851 Mrd. Euro Ende 1992 und 960 Mrd. Euro Ende 1993, mit einer Laufzeit von durchschnittlich drei Jahren, musste Italiens Schatzministerium jährlich 400 bis 450 Mrd. Euro an Staatstiteln an den Finanzmärkten absetzen und fürchten, dafür keine Abnehmer mehr zu fin­ den. Die Zinsen für die zehnjährigen Staatstitel bewegten sich immer mehr in Richtung des Spitzenwertes von 14 Prozent im Jahr 1994, der Risikozuschlag wuchs in Richtung der Spitzenmarke von 6 Prozentpunkten. Die Worte von Carlo Azeglio Ciampi, Ministerpräsident von April 1993 bis April 1994, über den drohenden finanziellen Zusammenbruch Italiens „wie Argentinien“ lassen kritische Momente bei der Suche nach Abnehmern für die Staatstitel erahnen, die noch gar nicht endgültig beschrieben wurden. Auf jeden Fall musste Italien in diesen schwierigen Momenten Zinsrenditen bieten, die langfristig nicht finan­ zierbar waren und damit wieder die Zweifel an der wirtschaftlichen Zukunft des Landes verstärkten. Der Rettungsanker für diese Situation war die Hoffnung auf den Euro, später die Aufnahme in die Europäische Währungsunion. Nur auf diese Weise konn­ te die Spekulation gegen Italien gestoppt werden. Der Risikozuschlag auf die Zinsen der Staatstitel enthielt schließlich nicht nur zum einen eine Prämie für eine eventuelle Insolvenz Italiens, sondern auch zweitens für die Erwartung höherer Inflationsraten und drittens für künftige Abwertungen. Genau das zweite und dritte Risiko wurden durch die Aufnahme Italiens in die Währungsunion besei­ tigt. Weil damit wiederum die Zinsen und die Zinsaufwendungen kräftig sanken, wurde schließlich auch das Insolvenzrisiko Italiens kräftig gesenkt. Als Schatzminister von 1996 bis 1998 verstand es Ciampi meisterhaft, sich dieses Kalkül zunutze zu machen. Nachdem Ministerpräsident Romano Prodi im September 1996 mit dem Versuch gescheitert war, seinen spanischen Amtskollegen zu einer Allianz für die Aufweichung der Aufnahmekriterien der Währungsunion zu bewegen, kündigte Ciampi die entgegengesetzte Strategie an, mit einem Programm besonderer Anstrengungen für die Währungsunion. In dem vage beschriebenen Paket von rund 15 Mrd. Euro steckte auch ein kleinerer Anteil Sondersteuern für das Ziel der Währungsunion, doch haupt­ sächlich, wie sich später herausstellte, die Ersparnis an Zinsaufwendungen. Schließlich hatte die Erwartung sinkender Zinsen und die – später tatsächlich wahr gewordene Hoffnung – von schnellen Kurssprüngen der Staatstitel eine Welle von Investitionen in italienische Anleihen ausgelöst und dabei geholfen, das Haushaltsdefizit von 7,0 Prozent des BIP im Jahr 1996 auf 2,7 Prozent im Jahr 1997 zu senken. Und Carlo Azeglio Ciampi hängte nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten hinter seinem Schreibtisch auf einer Seite Leonardos Menschenporträt auf, auf der anderen Seite das eingerahmte Original der Pressemitteilung über das Haushaltsdefizit von 2,7 Prozent, das faktisch die Aufnahme in die Währungsunion bedeutete.

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Hängematte Sobald sich die Italiener aus der Krise gerettet sahen, fehlte auch wieder das Minimum an Einigkeit und Entschlossenheit für die Verfolgung von Reformzielen. Die Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi stürzte schon im Oktober 1998, gerade vier Monate nach dem Beschluss über die Aufnahme Italiens in die Währungsunion. Die kommunistischen Koalitionspartner wollten nicht mehr die Reform­ und Austeritätspolitik von Ciampi und Prodi mittragen, spalteten sich und verließen zu einem Teil die Regierung – der Auftakt für wei­ tere Regierungen im Jahreswechsel nach altem Stil. Schließlich verschaffte die Währungsunion der italienischen Staatskasse sehr viel neuen Spielraum: Für die Zinsen der Staatsschulden musste Italien im Jahr 1996 noch mehr als 110 Mrd. Euro aufwenden oder 11 Prozent des BIP, wenige Jahre später nur noch 70 Mrd. Euro oder 7 Prozent des BIP, selbst nach im Krisenjahr 2011 nicht mehr als 4,9 Prozent des BIP, was nach dem nominell kräftig gewachsenen Schuldenstand von 1900 Mrd. Euro schließlich nur 77 Mrd. Euro ausmachte.5 Diese Euro­Dividende nutzte Italien nicht, um besondere Infrastrukturprojekte, Steuersenkungen oder andere Fortschritte für die Wettbewerbsfähigkeit zu finan­ zieren. Vielmehr dienten die neuen, verbesserten Umstände einige Jahre für be­ quemeres Wirtschaften, sozusagen als Hängematte. Schatzminister Carlo Azeglio Ciampi hatte noch versprochen, Italien werde bis 2003 seine Staatsschulden auf 100 Prozent des BIP reduzieren,6 und von den Regierenden forderte er, sie sollten ohne Berücksichtigung der Zinsausgaben einen Überschuss (einen so genannten Primärüberschuss) von 4,5 Prozent des BIP erzielen, um dadurch die Finanzlage Italiens nachhaltig zu stabilisieren.7 Schon im Jahr 2000 geschah es jedoch, dass der damalige Ministerpräsident Giuliano Amato und sein Schatzminister Vincenzo Visco die günstige Kassenlage nicht etwa für strukturelle Fortschritte nutzten, sondern für vieler­ lei Wahlkampfgeschenke. Im mittelfristigen Haushaltsplan schrieben Amato und Visco damals, die Sanierung des Haushalts sei praktisch abgeschlos­ sen. Haushaltskorrekturen wurden daher nicht als nötig angesehen, und zum Haushaltsplan 2001 hieß es, die Lage sei so gut, dass man noch mehr ausgeben könne.8 Die folgende Regierung unter Silvio Berlusconi erbte dann 2001 mit dem Konjunktureinbruch ein größeres Haushaltsloch. Gleichwohl hat sie ebenfalls die Staatsausgaben erhöht. Die staatliche Ausgabenquote am BIP wuchs bis 2011 5 6 7 8

Istat, Serie Storiche, Tavola 12.19 Rapporti caratteristici del conto economico consolidato delle Pubbliche Amministrazioni – Anni 1980­2009, und eigene Berechnungen. Siehe auch Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 8.8.2012, S. 11. Ministero del Tesoro, Documento di Programmazione Economico­Finanziaria (DPEF) per gli anni 1999­2001, beschlossen vom italienischen Ministerrat am 17.4.1998, S. 52. Carlo Azeglio Ciampi hat diese Forderung oft wiederholt, zuletzt etwa in einem Interview mit Il Sole 24 Ore, 3.12.2010. Ministero del Tesoro, Documento di Programmazione Economico­Finanziaria (DPEF) per gli anni 2001­2004, hier als Parlamentsdokument LVII Nr. 5/1 der 13. Legislaturperiode. Vorwort, Seiten VII, XI. Siehe auch Il Sole 24 Ore, 5.10.2000.

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auf mehr als 50 Prozent.9 Die Finanz­ und Euro­Krise und der dadurch ausgelö­ ste Rückgang des Volkseinkommens brachten schließlich die Staatsschulden zu­ rück auf mehr als 120 Prozent und damit sozusagen zurück in die Zeit vor dem Eintritt Italiens in die Währungsunion. Beim Blick zurück zeigt sich, dass Italien 15 Jahre verloren hat, mit vordergrün­ digen, kurzsichtigen und nutzlosen Diskussionen, etwa um Silvio Berlusconis Prozesse und um die Frage, ob Berlusconi das Land regieren dürfe. Berlusconi seinerseits hat eine Erneuerung Italiens versprochen, ohne dass er nach insgesamt mehr als acht Jahren an der Regierung etwas vorzuweisen hätte. Gefährliche Klippe Italien hat daher seine wirtschaftlichen Grundprobleme noch immer nicht gelöst. Nun wird offenbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Landes in den vergangenen zehn Jahren abgenommen hat. Zusammen mit der mangelnden Entscheidungs­ und Reformfähigkeit des politischen Systems wird daraus wäh­ rend der Vertrauenskrise für Staatsschulden und Euro ein explosives Gemisch. Die Schwächen Italiens sind die alten geblieben: Die öffentliche Verwaltung ist teuer und ineffizient.10 Die Rankingliste der Weltbank „Doing Business 2012“ sieht den Rechts­ und Vertragsschutz von Investoren in Italien im Jahr 2011 auf Platz 158 von insgesamt 183 gewerteten Nationen und damit noch hinter dem Mittelfeld Afrikas.11 Grund für diese Wertung ist die lange Dauer von Zivilprozessen, die auf 7 bis 20 Jahre veranschlagt wird. Die offizielle italienische Statistik, die sich selbst zwei Jahre in Verzug befindet, berichtet für 2009 von über 3,4 Mio. anhängigen Verfahren.12 Die Unternehmer stöhnen über eine byzantinische Bürokratie und einen Dschungel von Regeln, einschließlich der Steuergesetze. Auf Italien lasten noch zusätzlich ungünstige makroökonomische Konditionen: Die Preise sind in Italien seit 2000 wegen rigider interner Märkte schneller ge­ stiegen als in Deutschland.13 Die Produktivität der wirtschaftlichen Faktoren stagnierte, die Lohnstückkosten nahmen um 30 Prozent zu.14 Wird in dieses Bild noch eine an Traditionen der 1970er Jahre, teilweise auf Konfrontation aus­ gerichtete Gewerkschaften eingefügt, daneben das Verharren von weiten Teilen Süditaliens in Unterentwicklung, verwundern nicht die Ergebnisse: Italien bleibt bei den Direktinvestitionen weit hinter den anderen großen Industrieländern zu­ rück. Nach der Krise von 2008 und 2009 konnte sich Italiens Wirtschaft nicht auf die gleiche Weise erholen wie die deutsche, im Gegenteil, die Industrieproduktion 9 Istat, Rapporto annuale 2012, Selezioni degli indicatori chiave, S. 2. 10 IMF Country Report No. 12/168, Juli 2012: Italy, Special Issues, S. 38. 11 World Bank. Doing Business 2012, (abgerufen am 29.8.2012). 12 Istat, Annuario Statistico 2011, S. 156. 13 Istat, Rapporto annuale 2012, S. 102f; Istat, Rapporto annuale 2010, S. 12­15. Vgl. auch Il Sole 24 Ore, 7.8.2010, S. 10. 14 Vgl. auch Mario Draghi, Considerazioni finali, in: Banca d’Italia, Assemblea Anno 2005, 31.5.2006, S. 7; OECD, Economic Surveys, Italy 2011, S. 28.

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liegt noch immer um 20 Prozent unter dem Niveau von 2007.15 Somit blieb Italien beim wirtschaftlichen Wachstum hinter den anderen Ländern Europas zurück. Von 2001 bis 2010 hat Italien im Schnitt nur ein reales Wachstum von 0,4 Prozent erreicht, gegenüber 1,1 Prozent der 15 westeuropäischen Länder der Europäischen Union.16 Schließlich beginnt auch die Beschäftigung zu sinken, von einem ohnehin niedrigen Niveau, das weniger als 39 Prozent der Bevölkerung als beschäftigt aus­ weist.17 Daran ändern auch die zuletzt wieder besseren Exportdaten nichts. Italiens Unternehmen sind zwar zahlreich, aber meist nur klein und schwach auf Exportmärkten. 2010 kamen auf 1000 Einwohner 63 Unternehmen, mit durchschnittlich 3,9 Beschäftigten. Kein Wunder, dass auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung niedrig sind und mit insgesamt 1,26 Prozent des BIP weniger als die Hälfte derjenigen in Deutschland betragen.18 Doch noch schwerer wiegen die Probleme der Kleinunternehmen, globale Marketingstrategien zu ent­ wickeln. Im Europäischen Binnenmarkt der 1990er Jahre konnten viele italienische Unternehmen, vor allem diejenigen in Clustern und Netzwerken, noch ohne größe­ re Probleme in Europa verkaufen – zudem begünstigt von der Abwertung der Lira nach 1992. Vor allem der Nordosten Italiens war damit ein Wachstumsmotor. Die Region Veneto erzielte doppelt so hohe Wachstumsraten wie das restliche Italien. Doch Kleinunternehmer, die mit Erfolg im nahen Deutschland und Frankreich verkauften, können diesen Erfolg nicht unbedingt in Asien und Amerika wie­ derholen. Umgekehrt bedeutete seit 2000 die Globalisierung für viele italienische Unternehmen in den bisher wichtigen Branchen von Mode und Design zusätzliche Konkurrenz. Natürlich kann Italien auch auf international erfolgreiche, exportie­ rende Unternehmen verweisen, doch werden deren Nöte im Wettbewerb auf dem globalen Markt nicht wahrgenommen, vielmehr bleiben sie oft auf sich alleine gestellt, während die italienische Politik in Rom mit interner Taktik beschäftigt ist. Das politische System Italiens befindet sich in einer Dauerkrise: Gerade in einem Moment, in dem Italiens Regierung unbequeme und unpopuläre Reformen durchsetzen müsste, um den wirtschaftlichen Niedergang zu stoppen und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern, zeigen sich die poli­ tischen Schwächen und auch die Versäumnisse an institutionellen Reformen. Jetzt wäre es besonders wichtig, ein politisches System zu besitzen, das einerseits Entscheidungen ermöglicht, andererseits aber auch den Entscheidungsprozessen so viel Legitimität zugesteht, dass sie von den Reformgegnern anerkannt werden. Doch Italien hat seit dem Niedergang der „ersten Republik“ 1992 noch nicht zu einem Konsens über Reformen des politischen Systems gefunden. Dem als politischen Außenseiter gestarteten Silvio Berlusconi wurde immer wieder die Legitimität für tiefgreifende Reformen abgesprochen; auf dem linken Flügel wie auch in Berlusconis Lager haben sich nach den Wahlsiegen die bunt gescheck­ 15 16 17 18

Banca d’Italia, Relazione Annuale 2011, S. 50. IMF Country Report No. 12/168, a.a.O. (Anm. 10), S. 4. Istat, Rapporto annuale 2012, S. 43, 63. Istat, Rapporto annuale 2012, Selezioni degli indicatori chiave, S. 4ff. Vgl. auch Banca d’Italia, Annual Report, Abridged Version, 2010, S. 74. Vgl. Banca d’Italia, Rapporto Annuale 2010, S. 112.

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ten Koalitionen immer wieder zerstritten. Es gab verschiedene Anläufe für Verfassungsreformen zur Stärkung der Position des Ministerpräsidenten (etwa für das Recht, Minister zu entlassen), für die Vereinfachung der langwierigen Doppelarbeit der zwei Kammern des Parlaments, zudem auch noch jahrelan­ gen Streit um das Wahlrecht. Herausgekommen ist dabei vorerst nichts, weshalb Italien nun im Moment größten Reformbedarfs kein stabiles politisches System besitzt und im alten System (vor allem wegen der Abschaffung der Wahlkreise) zudem der Abstand von Wählern und Politikern immer größer wird.19 Kein Wunder, dass Italien somit wieder zur Zielscheibe von Spekulationen auf den Finanzmärkten wurde. Das Land vereint auf sich viele neue Risikofaktoren: Fehlen von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum, der in Relation zum Volkseinkommen wieder angewachsene Schuldenberg, das mit Mängeln behaftete politische System. Hinzu kommen nun die Fragen zum künftigen Zusammenhalt der Euro­Zone, und schon kleine Zweifel an deren Zukunft führen dazu, dass manche Investoren fürchten, die Verbindung zum Rettungsanker Euro könnte irgendwann ge­ kappt werden. Schließlich berichtet der von Medien und Finanzmärkten ver­ folgte „Spread“ (Risikozuschlag) über den Unterschied zwischen den Zinssätzen von zehnjährigen italienischen Staatstiteln und den zehnjährigen deutschen Bundesschatzbriefen. Das bedeutet, dass die Anleger den Fälligkeitstermin 2022 im Auge haben müssen, und für Italien bleibt dabei schon ungewiss, wie das po­ litische System und das Wahlrecht 2013 aussehen werden, wie viele verschiedene Regierungen bis 2022 im Amtssitz des Ministerpräsidenten residieren werden und ob diese den Willen und die Macht für Reformen haben werden. Die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Euro birgt daher gefährliche Klippen für Italien und seine Regierung(en). Die 2008 ins Amt zurückgekehr­ te Regierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi erwies sich schließlich im Sommer 2011 als handlungsunfähig und nicht in der Lage, dem Erwartungsdruck für Reformen und Sanierungsprogramme gerecht zu werden, der an den Finanzmärkten und bei europäischen Gipfeln entstanden war. Mit dem Ministerpräsidenten und Wirtschaftsprofessor Mario Monti kam im November 2011 zum dritten Mal in 20 Jahren eine Regierung von Fachleuten ins Amt, von der die Lösung aller Probleme erwartet wird, die von den Berufspolitikern hinterlassen wurden. Mario Monti trat mit dem Anspruch des Krisenretters an und versuchte das italienische Haushaltsdefizit mit kräf­ tigen Steuererhöhungen auf Null zu reduzieren. Danach verließ ihn aber der Mut, und seither zeigt sich auch die Regierung von Montis Fachleuten nicht in der Lage, die Wachstumsschwäche Italiens an ihren Wurzeln zu packen. Zwar gab es viel Rhetorik um Liberalisierungen, eine Reform des Arbeitsrechts und ein Wachstumspaket, doch bisher waren noch keine Effekte zu sehen, und die Erwartungen für die Zukunft sind ebenfalls begrenzt, weil Montis Reformen so zaghaft waren, dass ihnen wenig grundlegende Auswirkungen zugetraut wer­ den. Denn der Ministerpräsident, der zunächst mit Verweis auf die Notlage 19 Vgl. Tobias Piller, Risikofaktor Politik, in: FAZ, 31.7.2012, S. 8.

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der Finanzkrise unbequeme Entscheidungen mit Vertrauensfragen durchsetzte, wurde bald darauf vorsichtiger und dann immer mehr von seiner heterogenen „Regierungskoalition“ konditioniert. In Italien spricht man von der „sonderbaren Koalition“, weil die sich eigentlich gar nicht als solche versteht, denn zu ihr ge­ hören Berlusconis früher regierende „Partei der Freiheit“, die früher oppositio­ nellen Demokraten und die früher mit Berlusconi verbündeten und später gegen ihn agierenden Christdemokraten der UDC. Je mehr Monti mit diesen einzelnen Stützen seiner Regierung verhandelte, desto mehr sah er seine Handlungsfreiheit für grundlegende Reformen in Italien eingeschränkt. Je weniger sich die Italiener und ihre Regierung in der Lage sehen, die grund­ legenden Probleme ihrer Wirtschaft selbst zu lösen, desto mehr wachsen die Erwartungen an die Europäische Union und die Europäische Zentralbank. Italien braucht dabei keine kurzfristigen Hilfen, denn im Gegensatz zu den 1990er Jahren beträgt die durchschnittliche Restlaufzeit für die italienischen Staatsschulden nun sieben Jahre. Damit muss das Schatzministerium jedes Jahr deutlich weniger Staatstitel absetzen als früher, und zudem schlagen Erhöhungen der Zinssätze aus spekulativen Gründen nicht sofort auf dramatische Weise in zusätzliche Lasten für die Staatskasse um. Dennoch kann es sich Italien auf Dauer nicht leisten, ohne reales Wachstum dazustehen und zugleich reale Zinsen von 4 Prozent auf die Staatsschuld zu finanzieren. Ministerpräsident Monti wünschte sich daher beim EU­Gipfel Ende Juni 2012 Interventionen zur Begrenzung der Risikozuschläge für die Zinsen der Staatstitel und setzte diesen Wunsch auch gegen die anfäng­ lichen Widerstände der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel durch. Monti ist der Meinung, dass Italien wegen der von ihm durchgesetzten Sanierungs­ und Reformschritte niedrigere Zinsen „verdient“ habe, von den Märkten und deren Zinsforderungen ungerecht behandelt werde und daher das Recht auf europä­ ische Interventionen zur Senkung der Zinsen verdient habe. Vernachlässigt wird von Monti dabei der Aspekt, dass zehnjährige Staatstitel von 2012 bis 2022 be­ fristet sind, seine Amtszeit aber spätestens im April 2013 ausläuft und über die folgenden Jahre Ungewissheit herrscht. Von der Europäischen Union und der Zentralbank erwartet sich ein Großteil der italienischen Politiker und Medien weitere Interventionen und vielfäl­ tige Mechanismen zur Eindämmung der Finanz­ und Vertrauenskrise und zur Belebung der Konjunktur. Von den Rettungsfonds wird erwartet, dass sie die Spekulation auf einen Zusammenbruch der Währungsunion oder auf ein Ausscheiden der südlichen Mitgliedsländer beenden würden, doch dafür schei­ nen die zur Verfügung gestellten Mittel nie ausreichend. Daher folgt der Wunsch, die Europäische Zentralbank mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln möge die Krise mit einer allgemeinen Garantie für alle Staatsschulden beenden. Schließlich gibt es die weitverbreitete Forderung nach einer zusätzlichen Welle von Zentralbankgeld als Instrument gegen die Rezession. Mit diesen Forderungen stellt sich die überwiegende Mehrheit der italie­ nischen Politiker, Ökonomen und Medien gegen die Vereinbarungen über die Währungsunion, in der ein Verbot der Staatenfinanzierung durch die Europäische

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Zentralbank und ein Verbot der Rettung von Krisenländern durch die anderen („no bail out“) festgeschrieben sind. Diese Vorschriften kamen unter anderem den deutschen Wünschen entgegen, denen zufolge der Euro der Währungsunion so „hart“ sein sollte wie die frühere Deutsche Mark. Daher war die direkte Finanzierung der Staatskasse ausgeschlossen, die sich als inflationstreibend erwie­ sen hatte; zugleich sollte das Prinzip „no bail out“ die Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedsländer in der Währungsunion stärken. In Deutschland sperrt sich ein Großteil der Akteure gegen die italienischen Wünsche, während in Italien – mit kurzfristigem Denken der vielen kurzlebigen Regierungen – die Finanzierung der Staatskasse durch die Zentralbank zu den Selbstverständlichkeiten gehörte, die bis in die 1980er Jahre Italiens Wirtschaft prägten und entsprechend für schädliche Folgen wie Inflation, Abwertungen und wirtschaftliche Unsicherheit sorgten.20 In Deutschland gibt es die Tradition, Nutzen und Kosten der Geldpolitik, auch der Inflation, in einem längerfristigen Zeitraum zu betrachten, was zur Ablehnung von kurzfristig angelegten und lang­ fristig schädlichen Aktionen führt. Die deutsche Ablehnung der italienischen Wünsche nach einer anderen Art von Verfassung der Zentralbank und einer anderen Geldpolitik wird in Italien – aus taktischen Gründen oder aus Überzeugung – als Ausdruck des deutschen Strebens nach Vorherrschaft in Europa gewertet. Umso mehr wird Deutschland damit zum Feindbild für Italien, bis hin zur Titelzeile „Quarto Reich“ der Zeitung Il Giornale. Dieses Feindbild wird seit Monaten unterfüttert mit Behauptungen, die nichts mit den Fakten und den ökonomischen Zusammenhängen zu tun ha­ ben, aber dennoch öffentliche Diskussionen und Medienkommentare prägen. Dazu gehört die Unterstellung, Deutschland profitiere von der Krise mit nied­ rigen Zinsen für seine Staatstitel, habe die Krise womöglich sogar mutwillig her­ beigeführt und wolle sie nun möglichst lange andauern lassen (wobei Anwärter auf deutsche Betriebsrenten oder Lebensversicherungen unter den niedrigen Zinsen leiden). Deutschland hat angeblich die Schuld an der Ausbreitung der Vertrauenskrise in den Euro, weil mit einem kleinen Betrag an Griechenland die Krise hätte abgewendet werden können (offen bleibt die Frage nach der struktu­ rellen Sanierung Griechenlands mit einem Haushaltsdefizit von über 15 Prozent des BIP im Jahr 2009). Deutschland zeige sich unsolidarisch, wo doch Italien über die Europäische Union den Aufbau Ost entscheidend mitfinanziert habe (eine zu­ mindest weit übertriebene Darstellung). Deutschland habe schließlich verhindert, dass Italien zu einem angemessenen Wechselkurs in die Währungsunion aufge­ nommen werde und damit die italienische Exportwirtschaft behindert (tatsächlich berichten OECD und IWF von dramatisch verschlechterter Wettbewerbsfähigkeit Italiens seit der Aufnahme in die Währungsunion). 20 Vgl. Mario Draghi, Rede zum 30. Jahrestag der Trennung der Kompetenzen von Zentralbank und Schatzministerium, bei einem Seminar am 15.2.2011, organisiert von Arel (Agenzia di Ricerche e Le­ gislazione), Roma, und dem italienischen Bankenverband Abi (Associazione Bancaria Italiana), Roma. Titel des Vortrags: L’Autonomia della politica monetaria, publiziert bei (abge­ rufen am 29.8.2012).

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Als Ausweg aus der Krise, aber auch aus den Konflikten mit Deutschland wird nun auch in Italien immer wieder ein weiterer Schritt zur europäischen Einigung beschworen. Nach den Erfahrungen seit der Aufnahme Italiens in die Währungsunion ergeben sich in Deutschland jedoch zwei strategische Fragen: Wie sinnvoll ist es, sich enger mit einer Volkswirtschaft zusammenzuschließen, die sich im wirtschaftlichen Niedergang befindet und nicht zu Reformen fähig ist? Und wie glaubwürdig ist der Vertragspartner Italien für neue Vertragsverhandlungen, wenn er nach der Aufnahme in die Währungsunion seine Versprechen nicht erfüllt hat? Denn die alten Verträge und Versprechungen werden im Moment von den meisten Italienern als ein zu enges Korsett empfunden. Doch andererseits wollten gerade Sanierer wie Ciampi, dass dieses Korsett von Regeln Italien zu grundlegen­ den Reformen zwingen würde. „Die Schaffung der gemeinsamen europäischen Währung, ein großes politisches und nicht nur wirtschaftliches Ereignis, gebietet uns, dafür zu arbeiten, dass die italienische Wirtschaft immer mehr dem Charakter des europäischen Entwicklungsmodells entspricht, das wir mit den anderen Ländern der Union entwickeln.“ Mit diesen Worten hat Staatspräsident Ciampi in der Rede nach seiner Wahl sein Land zu Reformen und zur Einhaltung der Regeln gemahnt.21 Doch seither hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der Italiener und ihrer Politikern zumindest des alten Regelwerks überdrüssig geworden sind. Der frühere Notenbankgouverneur, Ministerpräsident, Schatzminister und Staatspräsident Ciampi, der wie kein anderer in Italien für die europäische Integration und die Währungsunion geworben hat, zeigt sich über die Entwicklung eher verbittert. In einem autobiografischen Buch mit dem bezeichnenden Titel: „Das ist nicht das Land, das ich erträumt habe“22 berichtet Ciampi mehrfach darü­ ber, wie er andere Staatschefs und Minister davon überzeugt habe, dass in Italien die „Stabilitätskultur“ Einzug gehalten habe. Selbst der deutsche Finanzminister Theo Waigel habe 1998 bei der Diskussion über die Aufnahme Italiens in die Währungsunion gesagt, Carlo habe nie gelogen, sei klare Verpflichtungen einge­ gangen, und glaubwürdig. Und er sei zu ihm gekommen und habe ihn umarmt. „Doch gerade deswegen leide ich nun – als Mann der Institutionen, als Italiener, als Europäer – bei der Erkenntnis, dass meine feierliche Verpflichtung im Namen der Italienischen Republik verraten wurde, nämlich dass der Primärüberschuss, der Saldo zwischen Einnahmen und Ausgaben ohne Berücksichtigung der Zinsen für die Staatsschulden, weiterhin bei 4,5 Prozent des BIP bleiben würde. Die Krise hat sicher für alle die Haushaltspolitik durcheinandergebracht, doch wir hatten leider schon früher begonnen, die ‚virtuose Marge‘ zu reduzieren. Dieser Geist der Solidarität und des Vertrauens, der in Europa gegenüber unserer neuen Kultur der Stabilität geschaffen worden war, verdiente nicht diesen Verrat.“23 21 Carlo Azeglio Ciampi, Rede zur Amtseinführung im italienischen Abgeordnetenhaus. Giuramento e Messaggio al Parlamento del Presidente della Repubblica Carlo Azeglio Ciampi nel giorno del suo insediamento, Camera dei Deputati, 18.5.1999. 22 Ders., Non è il paese che sognavo, Colloquio con Alberto Orioli, Mailand 2011. Das Buch wurde geschrieben und veröffentlicht in der Amtszeit von Ministerpräsident Silvio Berlusconi. 23 Ciampi, Non è il paese che sognavo, a.a.O. (Anm. 22), S. 109.

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Japans Katastrophe Markus Tidten Die Auswirkungen der globalen Wirtschafts­ und Finanzkrise wurden in Japan durch eine dreifache Katastrophe überschattet: Am 11. März 2011 verursach­ ten ein Erdbeben und ein dadurch ausgelöster Tsunami große Zerstörungen im Nordosten des Inselreichs. Unzählige Menschen verloren ihr Hab und Gut, Tausende sogar ihr Leben. Das Erdbeben verursachte in zwei zuvor als sicher geglaubten Kernkraftwerken in Fukushima schwere Unfälle. „3/11“ bewirkte nicht nur ein Nachbeben in der politischen Landschaft, sondern hat auch gravierende wirtschaftliche und außenpolitische Auswirkungen. Insbesondere wird dem ressourcenarmen und exportorientierten Land deutlich, wie wichtig freie Seewege für Handel und (Energie­)Rohstoffe sind. In dieser Perspektive gewinnt die Sicherheitspartnerschaft mit den USA noch größeren Wert. Gleichzeitig muss Tokyo darauf achten, dass der ohnehin schon hohe Preis Washingtons für seinen militärischen Schutz nicht über Gebühr erhöht wird durch eine andere Machtwährung, namentlich den Dollar. So muss Japan seine währungspolitischen und wirtschaftlichen Interessen, die es mit China teilt, mit seinen sicherheitspolitischen Befürchtungen vor dem Reich der Mitte strate­ gisch austarieren. Gesellschaft und Wirtschaft Auch im Inneren steht Japans Gesellschaft, mehr noch als die der Bundesrepublik Deutschland, vor immensen demografischen Herausforderungen. Aufgrund schwacher Geburtenraten und der höheren Lebenserwartung1 müssen künftig immer weniger jüngere2 immer mehr ältere Japaner versorgen. Bereits heute ist gut ein Viertel der Bevölkerung Japans über 65 Jahre alt. Das belastet insbesonde­ 1 2

Sie liegt derzeit bei 82,2 Jahren. Daten entnommen aus: Statista: (abgerufen am 2.7.2012). Seit 2007 nimmt die Bevölkerung ab, jährlich um 100 000 im Durchschnitt. Zurzeit liegt die Bevöl­ kerungszahl noch bei 127 Mio. Vgl. Japan Statistical Yearbook 2012, (abgerufen am 2.7.2012).

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re die ohnehin erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs existierenden Rentenkassen und Gesundheitssysteme. Nicht zuletzt aufgrund der demografischen Perspektiven beginnt sich die „Geschlossenheit“ der Gesellschaft, sprich der deutliche Hang zur Ausgrenzung von Ausländern, zu verändern. Während sich 1995 insgesamt 1,3 Mio. Ausländer (Personen mit Aufenthaltsgenehmigungen über 90 Tage) legal in Japan aufhielten und einen Bevölkerungsanteil von 1 Prozent ausmachten, betrug ihr Anteil 2009 bereits knapp 2 Prozent. Nach europäischen Standards mag dies eine vernachläs­ sigbare Größe sein, das ist aber für ein Land in Insellage und ohne nennenswerte koloniale Vergangenheit durchaus eine bemerkenswerte Entwicklung. Auch sind die über die übliche Reisevisazeit von 90 Tagen hinausgehenden gesetzlichen Regelungen zur Aufenthaltsgenehmigung extrem streng. Das gesellschaftliche Leben, insbesondere der Arbeitsmarkt, stellen hohe, vor allem sprachliche Anforderungen an Ausländer. Der größte Sektor in der Wirtschaftsstruktur Japans ist der Dienstleistungs­ bereich. Hier sind zwei Drittel der Erwerbstätigen beschäftigt und erarbeiten 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gleichwohl ist Japan in vielen Industriebereichen, namentlich Elektronik, Pharmazie, Anlagenbau und Kfz­ Industrie, nach wie vor weltweit führend. Der Agrarsektor, der nur 1,5 Prozent des BIP erwirtschaftet und lediglich 4 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt, ist zwar ökonomisch eine vernachlässigbare Größe. Aufgrund der emotionalen Bindung des Landes an den Reisanbau spielt dieser Bereich in der Innenpolitik allerdings eine große Rolle.3 Die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011, von Erdbeben, Flutwelle und Kernreaktorunfall, hatte gravierende wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Im Gegensatz etwa zur Bundesrepublik Deutschland wurden Nutzen und Beherrschbarkeit der Kernenergie bis zum GAU nie ernsthaft in Frage ge­ stellt, wenngleich es in der Vergangenheit durchaus Unfälle und Versuche zur Verschleierung von Daten gab.4 Die insgesamt 54 Reaktoren in 17 Kernkraftwerken lieferten rund 30 Prozent des gesamten Strombedarfs des Landes; nach frü­ heren Plänen sollten es bis 2020 sogar 50 Prozent werden. Die kurzzeitige Totalabschaltung sämtlicher Atomkraftwerke wegen der Wartungsarbeiten hat dem Land vor Augen geführt, wie sehr Industrie und Privathaushalte (wegen der weitverbreiteten Klimaanlagen) von den Kernkraftwerken abhängig sind. Neben den Energiekonzernen wurden auch große Teile der Zulieferindustrie durch die Katastrophe von Fukushima beeinträchtigt, sodass ausbleibende Lieferungen etwa einen massiven Einbruch in der Kfz­ und Elektroindustrie 3 4

Die meisten Wahlen in der Vergangenheit wurden auf dem Land entschieden, da die Gewichtung der Stimmen und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Partei hier noch deutlich größer sind als in den Ballungsräumen. Bereits 1981 gab es im Kraftwerk Tsuruga Störfälle und Verschleierungsversuche – so ein Bericht der Nachrichtenagetur dpa bzw. des Handelsblatts, 2.5.2011, (abgerufen am 2.7.2012).

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bewirkten.5 Staatliche und private Investitionen sorgten dann wieder für einen inländischen Investitionsschub, der zu einem leichten Anwachsen des realen Wirtschaftswachstums, um zuletzt 2 Prozent, führte.6 Trotz der Entwicklung erneuerbarer Energiequellen7 ist ein totaler Aus­ stieg aus der Atomenergie nicht zu erwarten. Die Insellage Japans (keine Zukaufmöglichkeiten von Strom aus Nachbarländern) spricht ebenso dagegen wie der Druck aus der Industrie, die bereits droht, Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern, falls die heimische Energie zu teuer werden sollte. Die verhaltene Ankündigung von Premier Yoshihiko Noda, man plane keinen „Atomausstieg“, sondern einen „Ausstieg aus einer zu großen Abhängigkeit von Atomenergie“ umschreibt diplomatisch die Zwangslage Japans. So entschied die Regierung ge­ gen den Widerstand der örtlichen Bevölkerung, dass von den drei Reaktoren in Oi der erste Anfang Juli wieder ans Netz ging.8 Mittlerweile gewinnt allerdings die Anti­Atom­Bewegung immer größeren Zulauf. Politisches System Spätestens seit Japans „3/11“ ist das Interesse und Bestreben der Bevölkerung deutlich gestiegen, sich an wichtigen politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Anstelle eines traditionell in allen Schichten der Wählerschaft weit verbreiteten Grundvertrauens in die Richtigkeit und Angemessenheit von Entscheidungen der Obrigkeit oder ihr als nahe stehend betrachteter Institutionen sind tiefe Skepsis und Misstrauen getreten. Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen und organisierte Proteste gegen öffentliche Informationsveranstaltungen, die langsam, aber stetig wachsende Anti­Atombewegung, die Gründung einer „Grünen Partei Japans“ (am 27. Juli 2012) sind deutliche Anzeichen einer Politisierung der Bevölkerung. Die schon vor der Dreifachkatastrophe deutlich gewordene Verdrossenheit gegenüber den etablierten großen Parteienlagern der Regierung und der Opposition hat sich seitdem weiter verschärft. Vergleichbar mit Großbritanniens konstitutioneller Monarchie, die durch ein parlamentarisches Regierungssystem legitimiert ist, gibt es auch in Japan ein Zweikammerparlament, bestehend aus dem Oberhaus – das ehemalige „Herrenhaus“, in manchen Publikationen auch als „Senat“ bezeichnet – und dem Unterhaus. Politisch relevant ist jedoch das Unterhaus, das auch die maßgebliche 5 6 7

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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2012, S. 13. Die folgenden Wirtschaftsdaten sind entnommen aus: Statista: (abgerufen am 2.7.2012). Noch liegt der Anteil der erneuerbaren Energie in Japan bei lediglich 10 Prozent, was allerdings zum größten Teil Wasserkraft ist. In Zukunft ist eine drastische Reduzierung des Atomanteils an der Ener­ gieproduktion zu Gunsten der erneuerbaren Energien zu erwarten. Beobachter prognostizieren, dass Japan bis 2013 auf ca. 15 Prozent erneuerbare Energien kommen wird. Schwerpunkt wird dabei die Entwicklung der Solarenergie sein. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.5.2012, S. 10. Der Sicherheitstest im Kernkraftwerk Oi, Präfektur Fukui, war positiv verlaufen und der wichtigste Strom­ lieferant für den Großraum Osaka sollte wieder ans Netz gehen. Vgl. The Asahi Shimbun, 27.7.2012, (abgerufen am 27.7.2012).

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gesetzgebende Funktion hat. Bei fehlender Einigung zwischen beiden Kammern ist die Abstimmung im Unterhaus entscheidend. Von der Mehrheit des Unterhauses wird der Premier gewählt, der in der Regel der Vorsitzende der Regierungspartei ist. Insgesamt sind neun Parteien im Unterhaus vertreten. Die Demokratische Partei Japans (DPJ) ist mit 308 Sitzen die stärkste Gruppierung und stellt zusammen mit einer kleinen Splitterpartei, der Neuen Volkspartei, die 14­köpfige Regierung. Die Wahlen zum Unterhaus müssen spätestens nach Ablauf einer Legis­ laturperiode von vier Jahren stattfinden. Allerdings hat der Premierminister ein Auflösungsrecht, weshalb die gezielte Terminierung von Wahlen durch Auflösung des Unterhauses gängige politische Praxis ist. Hiermit erklärt sich auch zu einem großen Teil, warum die Liberaldemokratische Partei (LDP) das Land – mit einer kurzen Unterbrechung 1993 – insgesamt 54 Jahre lang regierte. Dieser Praxis konnte allerdings die DPJ in den Unterhauswahlen vom September 2009 ein Ende bereiten. Sie stellt seither die Regierung. Mit Yoshihiko Noda hat Japan bereits den dritten Premierminister seit dem 2. September 2011. Ein schneller Wechsel an der Regierungsspitze ist Tradition in Japan. Es gehört zum Paradoxon des politischen Systems, dass es sowohl hoch fluide als auch außergewöhnlich stabil ist. Die Stabilität dieser in Asien wohl erfolgreichsten Demokratie beruht auf einem politischen System, das eine ein­ zigartige Symbiose aus traditionellen Vorstellungen der frühen Samurai (Ritter)­ Gesellschaft und moderne, insbesondere seit 1945 durch die USA beeinflussten Demokratievorstellungen ist. Sicherheitspolitische Determinanten Die Verfassung, von Japan selbst „Friedensverfassung“ genannt, enthält in der Präambel in Artikel 9 auch das so genannte Streitkräfteverbot. Gleichwohl bemü­ hen sich Politiker und Verfassungsrechtler seit ihrem Inkrafttreten im Jahre 1946, verfassungskonform technisch hoch ausgerüstete „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ aufzubauen. Entstanden aus einer Bereitschaftspolizei zur Entlastung der US­ Besatzungsstreitkräfte (bei ihrer Verantwortung für die innere Sicherheit in Japan) ist schließlich, forciert durch das US­Engagement im Korea­ und Vietnam­Krieg, eine rund 240 000 Mann starke Streitmacht entstanden. Ihre Hauptaufgabe ist ausschließlich die Verteidigung des japanischen Territoriums, und das auch nur so lange, bis die Schutzmacht USA mit ausreichend eigenen Kräften vor Ort über­ nehmen kann.9 Die Beziehungen zu den USA sind seit Ende des Pazifischen Krieges (so wird der Zweite Weltkrieg in Asien genannt) denn auch die dominierende Determinante japanischer Außen­ und Sicherheitspolitik. Aus der ehemaligen 9

Umgekehrt ist eine militärische Hilfe für den Allianzpartner USA – also der militärische Einsatz in so genannten Kampfzonen außerhalb japanischer Territorien – nicht vorgesehen. Blauhelmeinsätze unter der Flagge der Vereinten Nationen sind Japan seit Erlass des Peacekeeping Law 1992 gestattet, sie sind aber streng begrenzt auf Hilfs­ und Infrastrukturmaßnahmen außerhalb von Kampfzonen.

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Besatzungsmacht ist eine Schutzmacht und schließlich – seitdem der 1952 ge­ schlossene japanisch­amerikanische Sicherheitsvertrag 1960 erneuert wurde – ein gleichberechtigter Allianzpartner geworden. Doch Chinas Aufstieg, die wach­ sende wirtschaftliche Interdependenz und die anhaltenden Spannungen auf der Koreanischen Halbinsel10 und die territorialen Streitigkeiten mit Südkorea11 lassen neben Washington auch Peking zu einem prominenten Faktor in der Bestimmung von Tokyos außenpolitischen Spielräumen werden. Wichtigste Säule in der Sicherheitsarchitektur der Region Nordostasien sind die beiden Allianzverträge der USA mit Japan und Südkorea. Der japanisch­ amerikanische Sicherheitsvertrag, der ursprünglich ein erneutes militärisches Erstarken des ehemaligen Kriegsgegners aus dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, ist heute für die USA wohl die wirksamste und, nach einigen innerjapa­ nischen Krisen, auch zuverlässigste Manifestation ihrer militärischen Präsenz in der Region Asien­Pazifik. Insgesamt rund 35 000 Soldaten sind dauernd in Japan stationiert, davon ca. 25 000 auf Okinawa. Der Preis, den Japan für diesen Schutz zahlt, ist allerdings recht hoch. Der so genannte Host Nation Support, das sind die Finanz­ und Dienstleistungen, die Japan an die USA für die Stationierung der Truppen leistet, gehört mit zu den höchsten Aufwendungen, die ein Land an die USA zu diesem Zweck leistet. Nach der letzten Vereinbarung, die im Januar 2011 von Vertretern beider Regierungen in Tokyo unterzeichnet wurde, wird Japan in den nächsten fünf Jahren jährlich 188,1 Mrd. Yen (2 Mrd. US­Dollar) an die USA zahlen.12 Ohnehin stellt Japan Grund und Boden für die acht großen Militärbasen und den Großteil des dort beschäftigten japanischen Personals.13 Japan hat versucht, diese wirtschaftlich wie auch innenpolitisch hohen Kosten zu vermindern. Doch das martialische Auftreten Chinas in der Region hat Washington geholfen, Tokyo den Wert seiner Schutzgarantie vor Augen zu füh­ 10 Pjöngjang liefert fast monatlich konkrete Anlässe sowohl für Südkorea als auch für Japan, eine Be­ drohung zu perzipieren: Unangekündigte Raketentests, tatsächliche oder behauptete unterirdische Nukleartests, der Beschuss von südkoreanischem Territorium, angebliches Versenken eines südkorea­ nischen Marineboots (ein überzeugender Nachweis steht allerdings noch aus) und der Waffenhandel mit prekären Regimen sind nur einige Beispiele, die den Regierungen Südkoreas, Japans und der USA willkommene Begründungen für eine robuste Sicherheitspolitik liefern. 11 So belastet die Frage nach der Souveränität über die kleine von Südkorea kontrollierte und von Ja­ pan beanspruchte Insel Takeshima (japanische Bezeichnung) bzw. Dokto (koreanische Bezeichnung) das japanisch­südkoreanische Verhältnis – also der beiden wichtigsten Allianzpartner der USA in der Region. Trotz weiterer historischer Erblasten könnte die gemeinsam empfundene Bedrohung, erzeugt durch das aggressive Verhalten und die säbelrasselnde Rhetorik Nordkoreas, zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit führen, die nicht zuletzt auch von den USA ermutigt wird. 12 Hana Kusumoto, U.S., Japan Sign New Five­year ‚Host Nation Support‘ Agreement, in: Stars and Stripes, 21.1.2011, (abgerufen am 31.7.2012). 13 Ca. 70 Prozent aller US­Militäreinrichtungen befinden sich auf Okinawa und belegen rund 10 Prozent der Landfläche der Präfektur. Christian Le Miere, The Long Goodbye to Okinawa, in: IISS Voices, 30.4.2012, (abge­ rufen am 4.5.2012).

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ren.14 Trotz der ökonomischen Interdependenz belasten die Vergangenheit15 und auch aktuelle Entwicklungen, insbesondere der Territorialkonflikt um die Senkaku­ (japanische Bezeichnung) bzw. Diaoyu­ (chinesische Bezeichnung) Inseln im Ostchinesischen Meer, das bilaterale Verhältnis. Zunächst wurde diese kleine unbewohnte Felsengruppe nach dem Krieg wieder unter japa­ nische Verwaltungshoheit gegeben. Seitdem jedoch in ihrem Umkreis Gas­ und Ölvorkommen entdeckt wurden, erhoben sowohl die Volksrepublik China als auch die Republik Taiwan Anspruch auf die Inselgruppe. Seit einigen Jahren kommt es öfter zu Zusammenstößen zwischen der japanischen Küstenwache und Fischerbooten der Volksrepublik China, die Japans Hoheit über diese Inseln nicht anerkennt. Eine Diskussion, die Inselgruppe seinem privaten japanischen Besitzer abzukaufen und damit endgültig die Territorialansprüche zu zementieren, sorgte in China erwartungsgemäß für heftige Anti­Japan­Stimmungen. Handels- und Währungspolitik Das ressourcenarme Japan ist auf den Import von Rohstoffen und Energie an­ gewiesen. Spannungen mit China gibt es auch wegen der dort fast exklusiv geför­ derten Seltenen Erden, deren Import für Japans Elektronikindustrie lebenswichtig ist. Neben Japan haben auch die EU und die USA vor der Welthandelsorganisation geklagt, denn für alle Industrienationen bedeuten die im Juni von Peking ver­ hängten Exportbeschränkungen erhebliche Einschränkungen. Japan ist als eine der wichtigsten Exportnationen auf den freien Handel von Gütern und Dienstleistungen angewiesen.16 2010 erreichten die Exporte einen bisherigen Höchststand von 767 Mrd. Dollar, was einem Wachstum von über 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Die Importe beliefen sich im selben Jahr auf 690 Mrd. Dollar bzw. 25 Prozent Steigerung zum Vorjahr. Im er­ sten Halbjahr 2012 verbuchte Japan allerdings erstmals seit seinem wirtschaftlichen Aufstieg ein Handelsdefizit, was vor allem eine Folge der Katastrophe vom 11. März 2011 war.17 So ist auch das bisher größte Handelsdefizit des Landes, im Fiskaljahr 2011 waren es 4,41 Billionen Yen, den steigenden Energieimporten – sie stiegen um 11,6 Prozent auf 69,7 Billionen Yen – geschuldet. Nur durch den Ankauf von 14 Zwar sind die kritischen Stimmen nicht verstummt, die insbesondere zu Beginn der neuen Regierung 2009 unter Yukio Hatoyama oder im Zusammenhang mit den so genannten Geheimabkommen (mit den USA über verdeckte Stationierung von Atomwaffen in US­Militäreinrichtungen) zu hören waren. Sie stellen aber das Grundkonzept von Japans Sicherheitspolitik, nämlich verfassungskonformer, ge­ ringstmöglicher Einsatz der eigenen Selbstverteidigungsstreitkräfte, umrahmt von massivem Militär­ schutz inklusive atomarem Schutzschirm durch die US­Streitkräfte in Japan, nicht wirklich in Frage. 15 Streitpunkt ist u.a. die regelmäßig auftretende Kontroverse über das Geschichtsbild japanischer Schul­ bücher. 16 Die folgenden Wirtschaftsdaten sind entnommen aus: Statista, (abgerufen am 2.7.2012); Vgl. auch das Außenwirtschaftsportal des Bundesanzeiger Verlags, (abgerufen 2.7.2012); Japan Statistical Yearbook 2012, (abgerufen am 2.7.2012). 17 Ebd. (Außenwirtschaftsportal des Bundesanzeiger Verlags).

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Flüssiggas (der um 52 Prozent erhöht wurde) und Rohöl (Steigerung um knapp 22 Prozent) konnte der Totalausfall der Kernenergie kompensiert werden.18 Bis Japan seinen neuen Energiemix gefunden hat, der neben den traditio­ nellen Wärmekraftwerken auch Solar­ und Windenergie enthalten soll, ist eine massive Ausweitung der Öl­ und Gasimporte nötig. Ohnehin sind die wich­ tigsten Primärenergieträger, die praktisch zu 100 Prozent importiert werden müssen, Öl und Gas. Über vier Fünftel davon kommen aus der spannungsgela­ denen Nahost­Region mit den Hauptlieferländern Saudi­Arabien (30 Prozent), Vereinigte Arabische Emirate (21 Prozent), Katar (12 Prozent), Iran (10 Prozent) und Kuwait (7 Prozent).19 Dort konkurriert Japan mit seinen beiden wichtigsten Handelspartnern, China und den USA, um die knappen fossilen Ressourcen. Noch bis Ende des 20. Jahrhunderts waren die USA der wichtigste Handels­ partner Japans. So gingen in den 1990er Jahren mehr als ein Zehntel der US­ Exporte nach Japan und über ein Drittel der japanischen Exporte in die USA. Seit 2007 ist China zum wichtigsten Handelspartner Japans geworden. Mit der Volksrepublik (einschließlich Hongkong) wurde ein Fünftel des Gesamthandels abgewickelt. Auch die Direktinvestitionen in China sind deutlich angestiegen. Fast ein Drittel aller japanischen Investitionen in Asien gehen mittlerweile nach China, vor allem in den Maschinen­ und Anlagebau. Die zumeist mit japanischen Maschinen ausgestatteten Fabriken in China exportieren einen Großteil der Waren wieder nach Japan. Japans Währungspolitik ist seit Jahren durch einen starken Yen20 und extrem niedrige Leitzinsen geprägt. Der Yen hat sich als eine Art Fluchtwährung für viele Anleger entwickelt, wofür zu einem großen Teil sowohl die verschuldeten Länder der Euro­Zone als auch die hohe Staatsverschuldung der USA ursächlich sind. Zwar trägt auch Japan nach wie vor schwer an seiner enormen Staatsverschuldung von immerhin 218 Prozent seiner Wirtschaftsleistung (BIP), was allerdings im Gegensatz zu anderen hochverschuldeten Ländern des Westens eine reine Inlandsschuld des Staates bei seinen Bürgern ist. Schließlich ist Japan nach China auch der wichtigste ausländische Kreditgeber der USA. Verunsichert durch das Finanzgebaren der Weltmacht haben Tokyo und Peking jedoch vereinbart, ihre Währungsreserven nicht mehr ausschließlich in amerikanische Staatsanleihen zu investieren, sondern sich ein wenig aus der so genannten Dollar­Falle zu lösen und in die Währungen und Infrastruktur der eigenen Region zu investieren. Wie Japan und die USA ihre sicherheitspolitische Rivalität zu China mit ihren wirtschaftpolitischen Interdependenzen mit dem Reich der Mitte in Einklang bringen werden, ist die zentrale offene Frage, deren Beantwortung die Wirtschafts­ und Sicherheitsarchitektur der Region und der Welt prägen wird. 18 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2012, S. 13. 19 Japan Statistical Yearbook 2012, a.a.O. (Anm. 16). 20 Zwar fordern insbesondere exportorientierte Teile der Wirtschaft ein nachhaltigeres Eingreifen der Regierung, da ein starker Yen die Exporte verteuert. Allerdings werden durch die Währungsstärke die für Japan seit dem Ausfall der Atomkraftwerke umso wichtiger gewordenen Energieimporte billiger.

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Handels- und Energiemacht Kanada David Bosold Bis in die jüngste Zeit konnten die Kanadier nur beim Pathos mit ihren süd­ lichen Nachbarn mithalten. „The true North, strong and free“, die Schlüsselzeile der Nationalhymne, klang lange Zeit eher nach dem Lebensmotto kerniger Waldarbeiter, denn nach zutreffender Beschreibung kanadischer Realitäten. Vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht eilte dem Land bis in die späten neunziger Jahre der Ruf voraus, dass es mit seinem europäisch geprägten Wohlfahrtsstaat, seiner hohen Staatsquote und streng regulierten Banken die wirtschaftliche Dynamik bremse. Im Angesicht der jüngsten Krise gilt es jedoch nunmehr – neben Deutschland – vielen als Vorbild unter den OECD­Staaten. Vorbild? Das Bild einer starken, sprich: robusten und freien Wirtschaft scheint auf den ersten Blick stimmig: Dank der Erfolge einer strengen Austeritätspolitik seit 19951 kam Kanada in der Wirtschafts­ und Finanzkrise mit einem blauen Auge davon. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreichte als erstes der G7­Länder Ende 2010 wieder das Vorkrisenniveau. Die Zahl der Arbeitsplätze war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls wieder so hoch wie vor der Rezession.2 Zugleich blieb der konservative Premierminister Stephen Harper dem Freihandelscredo treu, das er seit seinem Amtsantritt 2006 propagierte. Nicht von ungefähr: Kanada verfügt über enorme Ressourcen, nach Saudi­Arabien die zweitgrößten nachgewiesenen 1

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Die öffentliche Verschuldung wurde von 1995 bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 von 102 auf 66 Prozent des BIP reduziert, von 1997 bis 2008 erwirtschaftete die Zentralregierung jedes Jahr Haus­ haltsüberschüsse. Die Konsolidierung ging mit einer deutlichen Reduzierung der Staatsquote einher, die im Zeitraum 1992 bis 2002 von 53 auf 40 Prozent sank und zwischen 2004 und 2008 stets unter 40 Prozent lag. Vgl. International Monetary Fund (IMF), Canada 1990­2011, World Economic Out­ look Database, April 2012, Washington, DC. Nicht so die Arbeitslosenquote: Diese ist aufgrund der Zuwanderung junger Arbeitnehmer noch nicht wieder auf das Vorkrisenniveau gesunken, siehe Mark Carney, Economic Outlook, Vortrag des Vorsit­ zenden der Bank of Canada vor der Handelskammer Ottawa, Ottawa, 27.4.2012, S. 26; sowie Tavia Grant, Canada Leads G7 in Recession Recovery, in: The Globe and Mail, 14.1.2011.

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Ölreserven. Seine Ölsandvorkommen im Westen und arktische Rohstoffe ver­ sprechen weiteres, bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial. Entsprechend selbst­ bewusst gibt sich der Regierungschef, der Kanada am Beginn einer neuen Ära als Energiesupermacht, als „Emerging Energy Superpower“, wähnt.3 Die außenpo­ litischen Versäumnisse vergangener Jahre, Haushaltskürzungen und die zu sehr vom Privatkonsum abhängige wirtschaftliche Erholung stellen jedoch das neue Modell einer Handels­ und Energiemacht in Frage. Das Ende des außenpolitischen Autopilots Bis in die 1990er Jahre funktionierte die diplomatische Maschinerie Ottawas wie geschmiert. Die außenpolitischen Prioritäten deckten sich mit den geopolitischen Realitäten. Für einen kleinen kanadischen Beitrag subventionierten die Vereinigten Staaten die Sicherheit des Landes im Rahmen der NATO und der nordamerika­ nischen Luftabwehr NORAD. Dadurch konnte das Land sich auf außenpolitische Nischen wie UN­Blauhelmmissionen spezialisieren und auch ökonomisch von der Schutzmacht USA profitieren. Das bilaterale Freihandelsabkommen mit den USA aus dem Jahr 1987 wurde mit der NAFTA ab 1994 um Mexiko erweitert und intensivierte die bilateralen Handelsbeziehungen. Die Auswirkungen ließen sich in Ontario, Kanadas bevölkerungsreichster Provinz, am eindrücklichsten studieren. Durch die Automobil­ und Zuliefererindustrie wirtschaftlich besonders eng mit den Vereinigten Staaten verzahnt, belief sich ihr Exportanteil an den südlichen Nachbarn bis Anfang der vergangenen Dekade auf über 90 Prozent. Für das ge­ samte Land waren die Zahlen nur unwesentlich niedriger: 2001 gingen 86 Prozent der Ausfuhren in die USA, 65 Prozent der Einfuhren stammten von dort.4 Die amerikanische Reaktion auf die Terroranschläge von New York und Washington war rückblickend jene Zäsur, die zur Abschaltung des außenpoli­ tischen „Autopilot“5 in Ottawa führte. Kilometerlange LKW­Schlangen, die sich am 12. September 2001 auf kanadischer Seite aufgrund der Grenzabriegelung ihrer südlichen Nachbarn bildeten, wurden nördlich des 49. Breitengrads zum Sinnbild für die Abhängigkeit von Washington und die eigene Verwundbarkeit. Beginnend mit dem 32 Punkte umfassenden „Smart Border Accord“ von 2003 wurden bis zum Inkrafttreten des Beyond the Border Action Plan 2011 zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Personen­ und Güterabfertigung zu standardisieren und zu beschleunigen. Dennoch nimmt die Abfertigung von Gütertransportern 3

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So zuletzt im Februar 2012 in China, vgl. PM Delivers Address in Guangzhou, China, 10.2.2012, (abgerufen am 15.7.2012); vgl. auch David Bosold, Öldorado? Kanadas Aufstieg zur Energiemacht wird Wunsch­ denken bleiben (DGAPanalyse No. 5), Berlin 2009. Statistics Canada, Canada Year Book 2011, Ottawa, S. 289. Dieser habe, so ein asiatischer Kenner und Kritiker des Landes, eine strategische Neupositionierung verhindert und zum globalen Bedeutungsverlust Kanadas beigetragen. Vgl. Kishore Mahbubani, Will Canada Be the Next Argentina?, in: Fen Osler Hampson und Paul Heinbecker (Hrsg.), Canada Among Nations 2009­2010 – As Others See Us, Montreal/Kingston 2010, S. 145.

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heute dreimal mehr Zeit in Anspruch als vor 9/11. Dies ist wirtschaftlich nicht ohne Folgen geblieben: Der Anteil der Exporte in die USA ist unter 75 Prozent gesunken, die Suche nach anderen Absatzmärkten wurde seitdem intensiviert.6 Eine neue „dritte Option“? Erst mit dem Ausbruch der globalen Wirtschafts­ und Finanzkrise haben die Befürworter eines außenpolitischen Strategiewechsels auch am Sussex Drive, dem Amtssitz des Premierministers sowie des Außenministeriums, Gehör gefun­ den. Dieser Wandel beschränkt sich jedoch auf Wirtschafts­ und Handelsfragen. Außenpolitische Kompetenzen vergangener Jahrzehnte sind ohnehin in den Hintergrund gerückt. Zwar wurde in Expertenzirkeln bereits kurz nach Ende des Ost­West­Konflikts über das kommende asiatische Jahrhundert gesprochen. Eine Annäherung an den Pazifikraum erfolgte aber vor allem im Rahmen der Asia­Pacific Economic Cooperation (APEC), deren Vorsitz Kanada im Jahr 1997 hatte. Dass es erst jetzt zu einem zögerlichen außenpolitischen Richtungswechsel gekommen ist, beruht auf einer innenpolitischen Kontroverse in der Amtszeit Pierre Elliot Trudeaus, dem kanadischen Premierminister in den 1970er und 1980er Jahren. Dessen Idee, neue Absatzmärkte zu erschließen, um damit die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA zu reduzieren, ist historisch vorbelastet. Trudeau hatte sich nach der Veröffentlichung des damaligen außenpolitischen Weißbuchs entschieden, die darin formulierte „dritte Option“ zu verfolgen. Dies bedeutete: größeres außen­ politisches Engagement in Afrika, Asien und Europa sowie Diversifizierung der Handelspartner. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges scheiterte die Strategie kläglich. Mit dem konservativen Premierminister Brian Mulroney folgte ab Mitte der 1980er Jahre die Kehrtwende. Die in der Folge der beiden Freihandelsabkommen er­ zielten wirtschaftlichen Erfolge schienen jenen Kritikern Recht zu geben, die vor einem Abrücken von den USA gewarnt hatten. Dies erklärt, warum eine kana­ dische Kurskorrektur nicht unmittelbar nach 9/11 erfolgte. Es gibt jedoch einen weiteren Grund, der einen kanadischen Kurswechsel verzögerte: ein amputierter außenpolitischer Apparat – angefangen vom Außen­ und Handelsministerium über das Entwicklungshilfeministerium bis zum Verteidigungsministerium7 –, der durch die Haushaltseinsparungen der 1990er Jahre bis zu einem Viertel des Personals verlor und bis heute unter hoher perso­ neller Fluktuation leidet. Im Außen­ und Handelsministerium (DFAIT) kämpft man bis heute mit dem personellen Aderlass der späten 1990er Jahre, dessen Auswirkungen durch bürokratische Schildbürgerstreiche wie die Aufspaltung des Ressorts 2003 und seiner erneuten Zusammenführung 2006 noch ver­ 6 7

James Cowan, It’s Time for a New­world Border, Canadian Business, 11.8.2011. Die offiziellen Bezeichnungen lauten: Department of Foreign Affairs and International Trade (DFAIT), Canadian International Development Agency (CIDA) und Department of National Defence (DND).

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schlimmert wurden. Das DFAIT musste seitdem mit ansehen, wie weite Teile seines Zuständigkeitsbereichs vom Büro des Premierministers (Office of the Prime Minister, PMO) und dessen in einem separaten Ministerium angesie­ delten Beamtenapparat (Privy Council Office, PCO) übernommen wurden. Kernkompetenzen kanadischer Diplomatie wie Verhandlungsgeschick und das er­ folgreiche Schmieden von Allianzen, die zum Montrealer Abkommen zum Schutz der Ozonschicht 1987 oder dem Verbot von Antipersonenminen im Rahmen der Ottawa­Konvention zehn Jahre später führten, sind dabei verlorengegangen. Außenpolitischer Rückzug Der Verlust des institutionellen Gedächtnisses und diplomatischen Know­how in den Ministerien konnte nicht über Nacht kompensiert werden. Außenpolitisch war das vergangene Jahrzehnt ein verlorenes Jahrzehnt für die Kanadier. Die Mission der Internationalen Schutztruppe (ISAF) in Afghanistan band bis zum Abzug 2011 einen Großteil der Streitkräfte und bestimmte die sicherheitspoli­ tische Agenda (aus dem Irak­Krieg hatte Kanada sich wie die Deutschen und Franzosen herausgehalten). Die Canada First Defence Strategy (CFDS) aus dem Jahr 2008 deutete schon früher an, dass sich Kanadas außenpolitische Ambitionen zukünftig auf die amerikanische Hemisphäre beschränken würden.8 Die Zahl der Empfängerländer kanadischer Entwicklungshilfe wurde ebenso wie das ministeri­ elle Budget immer stärker zusammengestrichen. Das historisch gewachsene Selbstbild als multilateraler Musterschüler und Brückenbauer – kein Land ist Mitglied in mehr internationalen Organisationen und Foren – ist zwischenzeitlich merklich angekratzt. Ausschließlich multilate­ ral agiert die kanadische Regierung nur bei militärischen Einsätzen wie jüngst bei der Durchsetzung der Flugverbotszone in Libyen. Meinungsumfragen nach Ende des ISAF­Einsatzes zeigen selbst für kurze und budgetär bescheidene Operationen wie die NATO­Mission „Unified Protector“ im Frühjahr 2011 sinkende Zustimmungsraten und isolationistische Tendenzen.9 Ehemalige kana­ dische Spitzendiplomaten beklagen diese Entwicklung auf den Meinungsseiten der nationalen Tageszeitungen, allerdings ohne Erfolg. Im Vergleich zu früher ist seit Mitte der 2000er Jahre der vor allem auf die UN, NATO und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ausgerichtete Multilateralismus zugunsten eines primär wirtschaftlichen Interessen unterliegenden Bilateralismus aufgegeben wor­ den. Die Wahl der nichtständigen Mitglieder des UN­Sicherheitsrats, die Kanada 8

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Die in der CFDS vorgesehenen Mehrausgaben für die Streitkräfte umfassen Programme für strategi­ sche Verlegekapazität (C­17 Globemaster, C­130 Hercules und CH­47 Chinook­Helikopter), ark­ tische Patrouillenboote und die kanadische Variante der F35. Lediglich das erste Programm wurde bislang umgesetzt, obwohl diese Kapazitäten für die Umsetzung der CFDS nur von nachrangiger Bedeutung sind. Die für die Präsenz in der Arktis und die Landesverteidigung benötigten Flugzeuge und Schiffe sind hingegen noch nicht in Dienst gestellt worden. Abacus Data, Canadians Split over Mission in Libya, Ottawa, 23./24.6.2011, (abgerufen am 15.7.2012).

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gegen die Bundesrepublik und Portugal im Oktober 2010 verlor, war sicher ein­ drücklichster Beleg für diesen Wandel. Bis zu diesem Zeitpunkt war Kanada in sechs Fällen bei den Wahlen in das höchste UN­Gremium erfolgreich gewesen. Schmerzhafte Budgeteinschnitte Mochten einige inländische Beobachter dies anfangs für einen diplomatischen Unfall gehalten haben, der nun korrigiert werden würde, muss spätestens seit dem im März 2012 vorgestellten Haushaltsentwurf10 festgehalten werden, dass der Aufbau handelspolitischer Expertise auf Kosten außenpolitischer Kompetenzen und militärischer Fähigkeiten politisch gewollt ist. Die Regierung verfügte in diesem Frühjahr erstmalig über eine parlamentarische Mehrheit, ihre politischen Vorstellungen umzusetzen, da Kanada von 2004 bis 2011 trotz Mehrheitswahlrechts von drei (!) Minderheitsregierungen geführt wurde, die stets politische Kompromisse erfordern. Begünstigt durch die neuen Machtverhältnisse beabsichtigen Premierminister Harper und sein Kabinett nun, außenpolitisch ganz auf den Freihandel zu setzen. Kanada steht in den Verhandlungen eines Freihandelsabkommens mit der EU – dem Comprehensive Economic Trade Agreement (CETA) – kurz vor dem Durchbruch. Weitere Freihandelsabkommen mit Jordanien (2012), Kolumbien (2011), Peru (2009) und den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) sind in den vergangenen drei Jahren in Kraft getreten, die Verhandlungen mit Honduras und Panama wurden erfolgreich abgeschlossen. Gleichzeitig wird das Außen­ und Handelsministerium bis 2015 gezwungen, 170 Mio. kanadische Dollar11 einzusparen, die den internationalen Handelsbereich des Ministeriums jedoch nur marginal betreffen. So wird neben bereits um­ gesetzten Sparmaßnahmen, wie dem Verkauf von Vertretungen im Ausland und dem Ende von Stipendienprogrammen für ausländische Wissenschaftler, ernsthaft überlegt, kanadische Gemälde und Kunstgegenstände im Besitz des Ministeriums zu veräußern und die Mitgliedschaft in einigen internationalen Organisationen zu beenden, um einen Teil der Mitgliedsbeiträge in Höhe von 900 Mio. kanadischer Dollar einzusparen.12 Im Verteidigungsministerium sieht die Lage noch dramatischer aus. Die Regierung ist von früheren Plänen der Canada First Defence Strategy abgerückt, die Zahl der Streitkräfte in Höhe von 68 000 Soldaten und 27 000 Reservisten zu erhöhen und die Ausstattung signi­ fikant zu verbessern. Das Ministerium muss nun 1,1 Mrd. kanadische Dollar 10 Das kanadische Haushaltsjahr beginnt am 1. April eines Jahres und endet am 31. März des Folgejah­ res. 11 Der Wechselkurs des kanadischen zum US­Dollar bewegte sich in den vergangenen 24 Monaten zwi­ schen 95 US­Cent und 1,05 US­Dollar. 12 Andrew Cohen, A Diminished Canada at Home and Abroad, The Ottawa Citizen, 3.4.2012; Daryl Copeland, In Defense of DFAIT: Diminished Diplomatic Capacity Damages Canadian Interests, iPo­ litics, 6.7.2012, (abgerufen am 15.7.2012).

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pro Jahr zusätzlich zu den einmaligen, bereits für das Jahr 2015 angekündigten Einsparungen der „Strategic Review“ in Höhe von einer Milliarde einsparen. Dies entspricht 7 Prozent des Gesamtbudgets und bedeutet vor allem weniger Geld für die Anschaffung neuen Geräts und Instandhaltung der bestehenden Infrastruktur.13 Der Entwicklungshilfeetat wird darüber hinaus in den Jahren bis 2015 um 370 Millionen Dollar gekürzt. Der Weg aus der Krise … Weitere Einschnitte decken sich in vielen Punkten mit jüngsten Reformen in Deutschland. Das Rentenalter wird ab 2023 von 65 auf 67 Jahre angehoben, die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose wurden verschärft. Durch Einsparungen von insgesamt 5,2 Mrd. kanadischen Dollar pro Jahr und den Wegfall von 19 000 Stellen in Ministerien sollen ab 2016 ausgeglichene Haushalte ermöglicht wer­ den. Aufgrund eines vor Ausbruch der Wirtschafts­ und Finanzkrise bestehen­ den parteiübergreifenden Konsenses, zukünftig keine weiteren Haushaltsdefizite zuzulassen, könnte dies auch gelingen. Dieser Konsens war der Hauptgrund für eine im amerikanischen Vergleich maßvolle Konjunkturspritze, die die Staatsverschuldung seit 2008 von 71 auf 84 Prozent des BIP wachsen ließ.14 Auch die Stabilisierungsmaßnahmen der Bank of Canada fielen moderat aus. Bislang wurde die Geldpresse noch nicht angeworfen, der Leitzins wurde in drei Schritten vom April 2009 bis September 2010 von 0,25 auf 1 Prozent erhöht. Die Inflationsrate konnte so bislang stets unter 3 Prozent gehalten werden und ist mit dem Rückgang der Energiepreise wieder unter die 2­Prozent­Marke gerutscht.15 Weitere Indikatoren stimmen ebenfalls positiv: Die Arbeitslosenrate ist mit 7,5 Prozent im internationalen Vergleich niedrig, die Jugendarbeitslosigkeit liegt trotz leichten Anstiegs noch unter 15 Prozent, die Erwerbsquote ist mit 70 Prozent vergleichsweise hoch.16 Auch mit der (kontinental­)europä­ ischen Skepsis vor Einwanderern hat der kanadische Staat nicht zu kämpfen. Zuwanderung ist in Kanada als klassischem Einwanderungsland unumstritten, da sie einerseits den demografischen Wandel abfedert und zugleich junge, talentierte Menschen ins Land holt. So wächst die Bevölkerung aufgrund einer jährlichen Einwandererzahl von 250 000 stetig, obwohl die kanadische Geburtenrate mit 1,66 unter dem natürlichen Reproduktionsniveau liegt. Schätzungen gehen davon aus, dass die Einwohnerzahl von heute 34 Millionen auf bis zu 47 Millionen im 13 Carl Meyer, Budget 2012: DND Cuts Billions, Military Heads into ‚Lower Pace of Operations‘, Em­ bassy, 29.3.2012; David Perry, Defence after the Recession, Canadian Defence and Foreign Affairs Institute, Calgary/Ottawa, April 2012. 14 OECD, Economic Outlook 2012, Statistical Annex – Preliminary Version, S. 242; Statistics Canada, a.a.O. (Anm. 4), S. 119. 15 Ebd., S. 371. 16 Diese verteilt sich auf folgende Bereiche: 1,8 Prozent Agrarsektor, 20,1 Prozent Industrie, 78,1 Prozent Dienstleistung (davon 5,6 Prozent öffentliche Verwaltung), vgl. Statistics Canada, a.a.O. (Anm. 4), S. 301­320.

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Handels- und Energiemacht Kanada

Jahr 2036 steigen wird.17 Darüber hinaus sind derzeit 90 000, mehrheitlich asia­ tische Studenten an kanadischen Hochschulen eingeschrieben. Diese knapp 10 Prozent des universitären Nachwuchses stellen einen bedeutenden Personalpool für die kanadische Wirtschaft dar. Obwohl der kanadische Staat damit in vielen Bereichen die Weichen für weiteres Wachstum gestellt hat, bleibt eine gewisse Skepsis, ob das Wachstumsmodell der konservativen Regierung in Zukunft in­ nen­ und außenpolitisch auch wirklich greift. … und seine Hürden Der Aufschwung soll durch eine Politik ermöglicht werden, die auf weiteren Freihandelsabkommen, allen voran mit Indien, und einem investitionsfreundli­ cheren Regelwerk für den Rohstoffsektor beruht.18 Damit setzt die kanadische Regierung verstärkt auf den Export, vor allem von Energie­ und Hightech­ Produkten. Drei Hindernisse müssen bei einer erfolgreichen Umsetzung aus dem Weg geräumt werden: Das Wachstum seit Ende der Rezession stützt sich bislang auf die Binnennachfrage. Der private Konsum trägt derzeit die Konjunktur und sorgt da­ für, dass die Baubranche gegenwärtig mit den höchsten Zuwachsraten aufwartet. Der Bauboom hat dazu geführt, dass die privaten Haushalte zwischenzeitlich stär­ ker verschuldet sind als in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Billiges Geld, eine geringe Sparquote und die im Vergleich zu früher laxe Kreditvergabe kanadischer Banken haben die Gefahr einer Immobilienblase vergrößert. Dass die Lage als ernst eingestuft wird, lässt sich daran erkennen, dass Notenbankchef Mark Carney die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt als größte konjunk­ turelle Gefahr der kommenden Jahre sieht.19 Um den Exportmotor auf Touren zu bringen und die Abhängigkeit vom Binnenmarkt zu reduzieren, muss Kanada zusätzlich seine Handelsbilanz verbes­ sern. Erwirtschaftete Ottawa – wie für ölexportierende Staaten üblich – bis Mitte der vergangenen Dekade Außenhandelsüberschusse von über 20 Mrd. US­Dollar pro Jahr, so hat die Exportwirtschaft seit der Krise größere Probleme zu bewäl­ tigen: Das Außenhandelsdefizit seit 2009 bis heute ist von 40 auf fast 50 Mrd. US­Dollar gestiegen.20 Während mit Research in Motion (RIM), dem Produzenten des Smartphone Blackberry, eines der erfolgreichsten kanadischen Unternehmen in die Krise schlitterte, wird in der Provinz Alberta wieder umfangreich in Ölprojekte inves­ tiert. Wie das aus den Teersanden gewonnene Rohöl auf den Markt kommen soll und welche Staaten zu den Abnehmern gehören, ist zum heutigen Zeitpunkt 17 Ebd., S. 352­355. 18 Ministry of Finance, Jobs, Growth and Long­term Prosperity. Economic Action Plan 2012, Ottawa 2012, S. 14­25, (abgerufen am 15.7.2012). 19 Mark Carney, Economic Outlook, a.a.O. (Anm. 2), S. 118; Time for a Bigger Needle, The Economist, 30.06.2012. 20 OECD, Economic Outlook 2012, a.a.O. (Anm. 14), S. 244.

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noch völlig unklar. Die so genannte Keystone XL Pipeline, die das Öl quer durch die USA zu den Raffinerien am Golf von Mexiko transportieren soll, wird von Washington und einigen US­Bundesstaaten blockiert. Als möglicher Abnehmer ist China auf den Plan getreten. Hierfür wird jedoch ein Pipelinenetz benötigt, mit dem das Öl für die weitere Verschiffung an die Westküste ge­ pumpt werden kann. Die dort lebende indigene Bevölkerung, die weitreichende Autonomierechte besitzt, lehnt einen solchen Bau über ihr Territorium aber bislang ab. Der jüngste Kauf des kanadischen Ölriesen Nexen für 15 Mrd. US­Dollar durch die chinesische China National Offshore Oil Corporation (CNOOC) kann jedoch als Anzeichen gewertet werden, dass die asiatischen Investoren eine Realisierung der Pipeline für wahrscheinlich halten.21 Auswirkungen auf Europa Die Zunahme asiatischer Direktinvestitionen und der Kauf kanadi­ scher Unternehmen durch Firmen aus dem Pazifikraum deuten an, dass die Diversifizierung der Handelspartner – vor allem für die prosperierenden Westprovinzen – durch Ottawa nicht länger gebremst, sondern nunmehr unter­ stützt wird. Dieser Trend ist auch ein wichtiger außenpolitischer Indikator. Asien und dem Pazifikraum gilt in Zukunft neben den USA die außenpolitische Aufmerksamkeit. Mag die kanadische Regierung derzeit auch viel Energie in den erfolgreichen Abschluss der CETA­Verhandlungen stecken: Die Bedeutung Europas für die Außenpolitik Kanadas sinkt, obwohl die EU nach den USA und China drittgrößter Handelspartner ist.22

21 The Great Pipeline Battle, The Economist, 26.5.2012; Jeff Rubin, CNOOC’s Nexen Bid an Indication of How Far Goal Posts Have Moved, The Globe and Mail, 24.7.2012. 22 Statistics Canada, a.a.O. (Anm. 4), S. 289­291.

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Mexiko: Mittelmacht ohne Mittel Günther Maihold Präsident Felipe Calderón war 2006 mit dem Wahlspruch angetreten „mehr Mexiko in der Welt und mehr Welt in Mexiko“1 – ein Ziel, das er gerade mit der Durchführung internationaler Konferenzen auf mexikanischem Boden in besonderem Maße erfüllt sah. Unter der Führung Calderóns sieht sich Mexiko als Vermittler und Brückenbauer zwischen Nord und Süd, Industrie­ und Entwicklungsländern, rohstoffarmen und ­reichen Nationen sowie aufstrebenden Mächten.2 Mit der Übernahme der Präsidentschaft des Gipfels der G20, dem zen­ tralen Forum zur Bewältigung der internationalen Wirtschafts­ und Finanzkrise, erhielt Mexiko im Juni 2012 eine Bühne, um seinen Anspruch als weltpolitischer Akteur unter Beweis zu stellen.3 Vor dem Ende seiner Amtszeit, im November 2012, muss der mexikanische Präsident für sein Land jedoch auch ein bescheidenes wirtschaftliches Ergebnis verantworten. Mexiko wurde durch die von den USA verursachte Wirtschafts­ und Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogen und hat, anders als etwa Brasilien, größere Probleme, sich davon wieder zu erholen. Die Abhängigkeit des Landes von der anhaltenden Wirtschaftsschwäche des großen nördlichen Nachbarn beschränkt auch den außenpolitischen Handlungsspielraum der zweitgrößten Ökonomie Lateinamerikas. Wirtschaftliche Synchronisation mit den USA Wegen seiner Unfähigkeit, nach der massiven Abwertung des Peso 1995, sei­ ne Schulden zu bedienen, benötigte Mexiko den finanziellen Beistand der USA, der jedoch ohne den Ölreichtum des Landes und die Einbindung in die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) nur schwer vorstellbar gewesen 1 2 3

Felipe Calderón, Más México en el mundo y más mundo en México, (abgerufen am 6.9.2012). Vgl. die Einschätzung der mexikanischen G20­Sherpa Lourdes Aranda, México y el G­20, in: Foreign Affairs Latinoamérica, 12 (2012) 2, S. 2­7. Vgl. das programmatische Dokument „Presidencia Mexicana del G20“, (abgerufen am 6.9.2012).

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wäre. Das 1994 in Kraft getretene Freihandelsabkommen war der Rahmen für eine Hilfsaktion der USA und des Internationalen Währungsfonds (IWF).4 Nicht zuletzt das Auslaufen der noch von der Regierung Salinas de Gortari (1988–1994) emittierten kurzfristigen Schuldverschreibungen, die in Dollar konvertibel waren, machten für das Land einen Beistandskredit des IWF von 50 Mrd. Dollar not­ wendig, von denen 20 Mrd. seitens der USA bereitgestellt wurden. Als Garantie verpfändete Mexiko seine zukünftigen Erdöleinnahmen auf einem Konto bei der Zentralbank der USA5 – eine Entscheidung der Regierung Ernesto Zedillo (1994–2000), die der traditionellen Souveränität über den Sektor und dem Streben nach außenpolitischer Unabhängigkeit deutlich entgegenlief. Auch wenn diese Beziehung regional, je nach Tiefe der Einbeziehung in den NAFTA­Verbund, variiert,6 so beschränkt sie doch erkennbar Mexikos Handlungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zur Krise 1994/95 kann Mexiko heute, angesichts nunmehr endlicher Vorräte und sinkender Förderraten, im Falle einer weiteren Krise kaum mehr auf seine Ölreichtümer zurückgreifen.7 Die symbi­ otische Beziehung zwischen Mexiko und den USA im Rahmen des NAFTA­ Verbunds macht es für Mexiko demnach umso schwieriger, sich von den Krisenwellen in den USA abzukoppeln. Da Mexiko mehr als 75 Prozent seines Außenhandels mit den USA abwickelt, hat eine Veränderung des Wachstums in den USA um 1 Prozent in Mexiko einen Effekt von 0,6 Prozent zur Folge. Zwar werden nach jüngsten Berechnungen nur noch 0,2 Prozent Ausschlag erwartet; doch dieser Impuls schlägt sektoral und regional unterschiedlich zu Buche.8 Die Auswirkungen sind im Bereich der Automobil­ und Autoteileindustrie deutlich ausgeprägter als in anderen Sektoren. Die 2007/08 einsetzende Finanz­ und Wirtschaftskrise in den USA wirkte sich insbesondere auf die ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko aus: Sie fielen von 27,3 Mrd. Dollar (2008) auf 16,3 Mrd. Dollar (2009) und stiegen danach wieder auf 20,8 Mrd. Dollar (2010) bzw. 20,3 Mrd. Dollar (2011).9 Ein Blick auf die Herkunftsländer der Investitionen erklärt den Einbruch im Jahr 2009 recht deutlich, da diese fast zur Hälfte (48,5 Prozent) aus den USA stammen, gefolgt 4

5 6 7 8 9

Die Hilfsaktion wurde als Vorformung eines über den engen Freihandel hinausgehenden Koopera­ tionsrahmens unter dem Titel „NAFTAplus“ gewertet, was jedoch die USA traditionell immer ab­ gelehnt haben. Vgl. Nora Lustig, The United States to the Rescue: Financial Assistance to Mexico in 1982 and 1995, in: Cepal Review, April 1997, S. 41­62. Vgl. Ángeles Cornejo, Intervención del Estado en la industria petrolera, Mexiko­Stadt 2001, S. 99ff. So Marcelo Delajara, Sincronización entre los Ciclos Económicos de México y Estados Unidos. Nu­ evos Resultados con Base en el Análisis de los Índices Coincidentes Regionales de México, Mexiko­ Stadt: Banco de México 2012. Ausführlicher: Günther Maihold, Mexiko: Bilaterale Einbindung und multilaterale Handlungsoptio­ nen einer Ölmacht, in: Enno Harks und Friedemann Müller (Hrsg.), Petrostaaten. Außenpolitik im Zeichen von Öl, Baden­Baden 2007, S. 171­195. Vgl. Victor Manuel Juárez Neri, Globalización económica en México. Efectos sociales y territoriales, (abgerufen am 6.9.2012). Estadística oficial de los flujos de IED hacia México, (abgerufen am 6.9.2012).

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von den Niederlanden (32,5 Prozent), Spanien (13,4 Prozent), Deutschland (4,6 Prozent) und anderen Ländern (1 Prozent).10 Auch die Entwicklung der Wirtschaftsstruktur des Landes leidet unter den Krisenphänomenen: Im Gegensatz zum OECD­Durchschnitt entwickelt sich der Anteil der Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Mexiko rück­ läufig: So fiel dieser von 68 Prozent (2001) auf 61 Prozent (2010) – das ist ein Indiz dafür, dass das Land in seinen Bemühungen um eine Modernisierung der Produktionsstruktur kaum vorankommt.11 Das jährliche Wirtschaftswachstum Mexikos betrug ehedem, für die Dekade 1990–2000, im Durchschnitt noch 3,1 Prozent, in der folgenden Dekade sank es auf 2,1 Prozent, nicht zuletzt wegen des massiven Einbruchs 2009 (um ­6,1 Prozent). 2010 konnte ein erneuter Anstieg um 5,4 Prozent und 2011 um 4,5 Prozent verzeichnet werden. Für die Jahre 2010–2014 prognostiziert die Weltbank ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent.12 Doch dieses Wachstum reicht nicht aus, um die notwendigen Arbeitsplätze zu generieren. Das Problem wird umso gravierender, zumal arbeitswillige Mexikaner auch im reichen Norden keine Arbeit mehr finden und dort ausgegrenzt werden. Die Migrationsströme in die USA sind im Zuge der dortigen Wirtschaftskrise zum Erliegen gekommen. Abbildung 5: Migration von Mexiko in die USA 1991– 2010 (in Tausend) 800 700 600 500 400 300 200

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Quelle: Jeffrey Passel, D’Vera Cohn und Ana Gonzalez-Barrera, Net Migration from Mexico Falls to Zero – and Perhaps Less, Pew Hispanic Center, Washington, DC, 3.5.2012.

10 Cambios de la inversión extranjera directa en México, (abgerufen am 6.9.2012). 11 OCDE, México. Reformas para el cambio, Paris 2012, S. 13. 12 Vgl. Weltbank, Mexico at a Glance, (abgerufen am 6.9.2012).

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Die Nachfrage nach Arbeitskräften im Bausektor der USA ist seit dem Platzen der Immobilienblase eingebrochen. Immer mehr illegal arbeitende Migranten werden von den US­Behörden nach Mexiko abgeschoben: 2011 die Rekordzahl von knapp 400 000 Menschen.13 Zwar wurden übermäßig restrik­ tive Gesetze der an Mexiko angrenzenden Bundesstaaten (etwa jene Arizonas) durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA abgemildert, doch fürch­ ten viele Mexikaner weiterhin abgeschoben zu werden. Denn insbesondere die Republikaner, unter anderem auch ihr Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, drohen mit dem populistischen Schlagwort „Selbstabschiebung“ Druck auf mexikanische Migranten auszuüben, damit diese „freiwillig“ in ihr Heimatland zurückkehren. Entsprechend der zurückgehenden Migrationszahlen und der schlechten Arbeitsbedingungen in den USA sanken auch die Rücküberweisungen der im Ausland lebenden Mexikaner, die immerhin über 2 Prozent des mexikanischen BIP ausmachen: Flossen 2007 noch 26 Mrd. Dollar in die Heimat, so reduzierten sich die Überweisungen 2009 auf 21,2 Mrd. Dollar und stabilisierten sich seitdem auf einem Niveau von ca. 22 Mrd. Dollar.14 Aufgrund der verbesserten weltweiten Wirtschaftslage und seiner damit erhöhten Ölexporte konnte Mexiko seine Devisenreserven insgesamt deut­ lich aufstocken: auf 165 Mrd. Dollar (2012).15 Trotz vielfältiger Probleme ist es der mexikanischen Regierung in den letzten Jahren weitgehend gelun­ gen, das Image des Landes als so genannter Musterknabe der internationa­ len Finanzorganisationen aufrechtzuerhalten, indem die makroökonomischen Rahmendaten mehr oder weniger stabilisiert wurden. So liegt die öffentliche Auslandsverschuldung bei 5,4 Prozent des BIP. Auch die Inflationsrate ent­ wickelte sich ohne große Ausschläge. Sie stieg von 3,6 Prozent (2006) auf 5,3 Prozent (2009); seitdem ist sie wieder rückläufig (2011: 3,4 Prozent). Außenwirtschaftliche Stärke Mexiko will seinen Anspruch auf eine regionale Führungsrolle durch seine Stärke im internationalen Handel untermauern: In Lateinamerika ist Mexikos Wirtschaft nach Brasilien die zweitgrößte. Obwohl Mexiko nur einen Anteil von 1,6 Prozent des weltweiten BIP erwirtschaftet, beträgt sein Anteil am Weltaußenhandel über 2 Prozent – eine Zahl, die die OECD noch für steige­ rungsfähig erachtet.16 13 Vgl. die Statistiken des U.S. Immigration and Customs Enforcement Office, (abgerufen am 6.9.2012). 14 Vgl. Jesús Cervantes, Comportamiento reciente del ingreso de México por remesas familiares, Mexiko­ Stadt 2012, S. 3. 15 Vgl. Banco de México, Reporte sobre las Reservas Internacionales y la Liquidez en Moneda Extran­ jera, (abgerufen am 6.9.2012). 16 Vgl. OCDE, México. Reformas para el cambio, a.a.O. (Anm. 11), S. 11.

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Seinem Selbstverständnis als „Brückenland zwischen Regionen und Kulturen“17 während der beiden konservativen Regierungen von Vicente Fox (2000–2006) und Felipe Calderón (2006–2012) folgend, betreibt Mexiko eine aktive Politik der Diversifizierung seiner wirtschaftlichen Außenbeziehungen. Das Land schloss bi­ laterale Freihandelsverträge mit 43 Staaten weltweit, darunter Israel, Japan, Costa Rica, El Salvador, Uruguay, Chile, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Bolivien, sowie mit regionalen Vereinigungen wie der NAFTA, EFTA (Island, Norwegen Liechtenstein, Schweiz) und der EU.18 Seit 2005 stagniert jedoch die Umsetzung dieser Strategie. Neue Initiativen mit China, Indien und anderen Ländern des pazifischen Raumes konnten bislang nicht abgeschlossen werden. Es wird bereits beklagt, dass Mexiko trotz seiner langjäh­ rigen Mitgliedschaft in der APEC die Dynamik dieses Wachstumsraums verschla­ fe, da vor allem China Mexiko auf dem US­Markt mit seiner Billigproduktion im Bereich von Textilien, Schuhen etc. verdrängen könne, obwohl es nicht über die Präferenzen der NAFTA­Konditionen verfügt.19 Mit der Einladung Mexikos durch US­Präsident Barack Obama, als zehntes Land den Verhandlungen zum Transpazifischen Freihandelsabkommen beizutreten, hat die Regierung Calderón im Juni 2012 dann doch noch eine Zusage erhalten, die die internationale Position des Landes aufwertete.20 Diese stark auf bilaterale Vereinbarungen abzielende Handelspolitik wird erweitert durch multilaterale Bemühungen, nicht zuletzt auch im Bereich der internationalen Finanzarchitektur. Als Gastgeber des siebten G20­Gipfels im Juni 2012 in Los Cabos/Baja California hat Mexiko seinen Anspruch auf eine Gestaltungsrolle im Verbund der wirtschaftlichen Führungsmächte der Welt ein­ mal mehr dokumentiert.21 Auch in der Handelspolitik versucht Mexiko sein außenpolitisches Profil zu schärfen und seine Unabhängigkeit zu wahren. Bereits auf dem im eigenen Land ausgerichteten WTO­Gipfel 2003 in Cancún forderte Mexiko, dass die USA und die EU ihre Agrarmärkte öffnen und ihre Agrarsubventionen abbauen. Der Schulterschluss mit Brasilien, Indien und China bei Agrarthemen endet jedoch 17 Diese Konzeption wurde insbesondere von Präsident Vicente Fox befördert. Vgl. die Ansprache von Vicente Fox während der Generaldebatte der 56. UN­Vollversammlung am 10.11.2001: Como país puente entre regiones y culturas, México está decidido a desempeñar un papel activo y de vanguardia en la conformación de un sistema internacional que responda a los desafíos de los tiempos actuales, (abgerufen am 6.9.2012). 18 Vgl. Tratados comerciales, , (abgerufen am 6.9.2012). 19 Vgl. Jorge Alberto Lozoya, México ante el resurgimiento de Asia Pacífico, in: Guadalupe González und Olga Pellicer, Los retos internacionales de México. Urgencia de una mirada nueva, Mexiko­Stadt 2011, S. 129­144. 20 Vgl. Posición de México en el TPP, (abgerufen am 6.9.2012). 21 Bereits zuvor, von November bis Dezember 2010, war Mexiko Gastgeber der Weltklimakonferenz: der Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention (COP 16) und der 6. Vertragsstaatenkonferenz des Kyoto­Protokolls (CMP 6).

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beim Thema der Eigentumsrechte, da Mexiko diese Bereiche über die NAFTA bereits seit langem in die nationale Gesetzgebung integriert hat.22 Eine Mittelmacht auf der Suche nach ihrer Rolle Mexiko ist als „widerwillige“ oder „zögerliche“ Mittelmacht bezeichnet worden,23 andere sehen die Probleme, die Mexiko derzeit daran hindern, diese Mittelmachtrolle auszufüllen.24 Zwar wird immer wieder der Anspruch auf eine weltpolitisch aktive Rolle erhoben, dessen Einlösung jedoch an der begrenzten Leistungsfähigkeit und der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den USA scheitert. Im Verbund mit seinen südlichen Nachbarn will die mexikanische Regierung des­ halb eine aktive Rolle auf multilateraler Ebene einnehmen. Bereits nach der Krise 1994/95 hat Mexiko versucht, seine Handelspartner zu diversifizieren. Es schloss 2000 das Freihandelsabkommen mit der EU und pflegte Kontakte in den pazifischen Raum.25 Gleichwohl hat die Mitgliedschaft Mexikos in der NAFTA die Grundlagen für die Positionierung des Landes in der Welt verändert. So vertrat der frühere Außenminister Jorge Castañeda die These, dass sein Land zwar die Diversifizierung seiner Außenpolitik durch Verbindungen zu anderen Weltregionen – sei es Lateinamerika, sei es Europa – nicht aufgeben solle, aber der Realität seiner Bindung an die USA Rechnung tragen müsse: „Es gibt keine Möglichkeit, wie die strategische Beziehung zu den USA mit einem anderen Land oder einer Gruppe von Ländern ausbalanciert werden könnte; die grundlegenden ökonomischen und sozialen Daten unseres Landes reichen dafür einfach nicht aus. Dagegen könnten diese vielleicht hinreichend sein für eine regi­ onale und multilaterale Orientierung, um in Gestalt eines regelbasierten internati­ onalen Systems ein Gegengewicht oder ein Gleichgewicht zu bilden.“26 Wenn in dieser strategischen Bestandsaufnahme eine strukturelle Abhängigkeit Mexikos von den USA diagnostiziert wird, die nur durch eine starke multilate­ rale Einbindung des Landes ausgeglichen werden kann,27 dann entspricht die­ sem Argument in ökonomischer Sicht die Feststellung, dass beide Länder in einer zyklischen Synchronisation miteinander verbunden sind.28 Der Versuch, 22 Vgl. Enrique Dussel Peters und Günther Maihold, Die Rolle Mexikos in der globalen Strukturpolitik, Diskussionspapier Nr. 15 des DIE, Bonn 2007, S. 40. 23 Vgl. Olga Pellicer, Mexico – A Reluctant Middle­power? Mexiko­Stadt 2006. 24 So Günther Maihold, Außenpolitik im Schatten der USA: Kanada und Mexiko, in: Peter Birle, Detlef Nolte und Hartmut Sangmeister (Hrsg.), Demokratie und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt/ Main 2006, S. 341­388. 25 So Ana Covarrubias, La política exterior „activa“... una vez más, in: Foro Internacional, 48 (2008) 17, S. 13­34, hier S. 17. 26 Vgl. Jorge Castañeda, Política exterior en México, Conferencia Magistral del Secretario de RR.EE. en la Universidad Autónoma de Tamaulipas, Cd. Victoria, Tamps., 1.2.2002, S. 5, (abgerufen am 6.9.2012). 27 So auch Humberto Garza Elizondo, Crisis de la política exterior mexicana, in: Foro Internacional, 38/1998, S. 177­202, hier S. 186. 28 Vgl. Pablo Mejía Reyes und Jeanett Campos Chávez, Are the Mexican States and the United States Business Cycles Synchronized?, in: Economía Mexicana, Nueva Época, 20/2011, S. 79­112.

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eine Mittelmachtrolle anzunehmen, scheiterte aber letztlich auch am fehlenden Elitenkonsens über die strategische Ausrichtung und deren Kompatibilität mit den ökonomischen und politischen Interessen.29 Gegenwärtig hat Mexiko weder die Anerkennung noch die Kapazität, um in eine regionale Sprecherrolle für Lateinamerika hineinzuwach­ sen, die ohnehin schon von Brasilien besetzt ist. Diese sich immer wei­ ter verschärfende Konkurrenzkonstellation bietet für Mexiko gegenwärtig nur Gestaltungsmöglichkeiten im subregionalen Raum Zentralamerikas und der Karibik, wo es jedoch auf den anderen Konkurrenten Venezuela trifft, der mit Ölgeschenken seine Position aufzuwerten versucht.30 Angesichts dieser subregionalen Rivalitäten fällt Mexiko vielfach die Rolle eines Sachwalters der Interessen der USA zu, was die eigene Gestaltungsmöglichkeit er­ heblich durch Vorbehalte einiger Partner einschränkt. Die Staaten Zentralamerikas und der Karibik wünschen letztlich keine Mediatisierung Mexikos in ihren Beziehungen zu den USA. Ausblick Mit den Wahlen vom 1. Juli 2012 wurde in Mexiko wieder einmal ein Regierungswechsel eingeläutet, der von vielen Beobachtern als Wasserscheide angesehen wird: Nach zwölf Jahren Regierungsverantwortung der konservativen Partido Acción Nacional (PAN) kommt mit Enrique Peña Nieto am 1. Dezember 2012 wieder ein Vertreter der früheren Staatspartei, der Partido de la Revolución Institucional (PRI), ins Präsidentenamt.31 Der neue Präsident hat bereits deutlich gemacht, dass er das internationale Erscheinungsbild Mexikos verbessern will.32 Indem das Land mit Brasilien aufschließt, will sich die neue Regierung wieder als Regionalmacht in Lateinamerika positionieren.33 Um das dafür nötige wirtschaftliche Wachstum zu generieren, sucht Mexiko neue Partner. China nimmt dabei eine herausragende Stellung ein. Diese Diversifizierungsstrategie soll auch neue außenpolitische Möglichkeiten eröff­ nen. Entscheidend wird jedoch sein, ob es der neuen Regierung gelingt, tech­ nologische Innovation zu fördern, seine Wirtschaft zu modernisieren und so wettbewerbsfähig zu gestalten, damit die Wachstumspotenziale auch genutzt werden können. 29 Vgl. Guadalupe González und Olga Pellicer, Introducción, in: dies. (Hrsg.), Los retos internacionales de México. Urgencia de una mirada nueva, Mexiko­Stadt 2011, S. 9­16. 30 Vgl. etwa die präferenzielle Versorgung mit Öl im Rahmen von Petrocaribe. 31 Vgl. Günther Maihold, Auf der Schmalspur zur Macht: Die PRI kehrt in das Präsidentenamt von Mexiko zurück, in: Giga­Focus Lateinamerika , Nr. 7/2012. 32 Vgl. Enrique Peña Nieto, Recuperar el liderazgo de México en el mundo, in: El Universal, 25.6.2012, (abgerufen am 6.9.2012). 33 Vgl. Emilio Lozoya Austin und Jorge Montaño Martínez, Propuestas para la próxima política exterior de México: una visión de México para el futuro, in: Foreign Affairs Latinoamérica, 12 (2012) 2, S. 43­50.

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Russland: Begrenzte politische Ressourcen Stefan Meister Die globale Wirtschafts­ und Finanzkrise 2008/09 hat der russischen Führung zwei grundlegende Defizite aufgezeigt: Einerseits verdeutlichte sie, wie abhängig die russische Wirtschaft von der Entwicklung der Weltwirtschaft ist. Das betrifft in erster Linie die Abhängigkeit des russischen Budgets von hohen Öl­ und Gaspreisen sowie internationalen Krediten und Investitionen. Andererseits of­ fenbarte die Finanzkrise, wie wenig nachhaltig das russische Wirtschaftsmodell ist und wie wenig Spielraum in Krisensituationen für eine proaktive Innen­ und Außenpolitik besteht. Modernisierungsdruck Die Präsidentschaft von Dmitrij Medwedew (2008–2012) sollte in erster Linie dazu dienen, die wirtschaftlichen Beziehungen zur Europäischen Union als dem wichtigsten Wirtschaftspartner Russlands zu verbessern, um die Folgen der glo­ balen Finanzkrise abzufedern und Reformen anzustoßen. Jedoch konnte der Präsident in seiner vierjährigen Amtszeit nur wenige Reformakzente setzen; seine Modernisierungsrhetorik hat nicht zum politischen und ökonomischen Wandel geführt. Die russische Elite war letztlich nicht bereit, politische und wirtschaft­ liche Reformen durchzuführen, da diese zu einem Machtverlust geführt hätten. Die öffentliche Wahrnehmung Russlands als Energiegroßmacht und eines auf der Weltbühne nach Anerkennung suchenden Akteurs überdecken die eigent­ lichen Herausforderungen der russischen Führung: die Modernisierung seiner öffentlichen Infrastruktur sowie eine umfassende Reform seines Wirtschafts­ und Politiksystems. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion befindet sich die russische Gesellschaft in einem Transformationsprozess, mit dem politische Entscheidungen nicht Schritt halten können. Dem wachsenden gesellschaftlichen Druck einer Modernisierung von Politik und Wirtschaft steht das Interesse der politischen Elite entgegen, über die Einnahmen aus den Öl­ und Gasexporten zu verfügen. Der russische Staat ist aufgrund von Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit nicht in der Lage,

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Mittel effizient einzusetzen. Korruption ist ein Systemmerkmal dieses Staates. Sie dient dazu, Kanäle für die Bereicherung seiner Eliten und Klientelpolitik zu öffnen. Gleichzeitig fehlt das Interesse, tatsächlich umfassende Reformen zur Verbesserung des Bildungs­, Gesundheits­, Renten­ und Finanzsystems durchzuführen. Demografischer und sozialer Wandel Sozialpolitik unter Präsident Wladimir Putin dient dem Erhalt und der Förderung des russischen Volkes als Basis der internationalen Machtposition Russlands. Diesem Denken liegt ein geopolitischer Außenpolitikansatz zu Grunde, der vor allem über Größe (Land, Bevölkerung, Ressourcen) und Beherrschung des Raumes definiert ist. Aufgabe von Sozialpolitik ist es demnach, den physischen und moralischen Bestand des russischen Volkes zu fördern, was die demogra­ fische Frage in den Mittelpunkt rückt.1 Die Bevölkerung hat sich von 2002 bis 2010 von 145,2 auf 142,9 Mio. Ein­ wohner reduziert.2 Dieser Rückgang basiert auf einer im Vergleich mit anderen Industrieländern niedrigen Lebenserwartung,3 geringen Geburtenrate4 und der Abwanderung der Bevölkerung. Um diesen demografischen Trends zu begeg­ nen, leistet die russische Regierung seit 2007 zusätzliche staatliche Zahlungen an Eltern für Neugeborene und unterstützt durch finanzielle Anreize den Zuzug von Auslandsrussen. Mit 30 Millionen im Ausland lebenden Russen hat Russland die zweitgrößte Auslandsgemeinde nach China weltweit. Auch wenn aufgrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den 2000er Jahren sich einige Faktoren verbessert haben, konnte der negative Trend nicht aufgehalten werden. Immer weniger Kinder und Jugendliche stehen immer mehr älteren Menschen gegenüber – die russische Bevölkerung überaltert. Seit 1989 stieg das Durchschnittsalter der Bevölkerung von 32,8 auf 39 Jahre (2012).5 Seit 2005 geht die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung zurück, ein Trend, der sich aufgrund der geburtenschwachen 1990er Krisenjahre bis 2020 noch weiter verstärken wird. Diese Entwicklung ist in anderen entwickelten Staaten eben­ falls zu beobachten und führt auch in Russland dazu, dass Wirtschaftskreise fordern, mehr Arbeitsmigranten ins Land zu holen. Die Hauptquelle an aus­ 1 2 3

4 5

Jakob Fruchtmann, Sozialpolitik in der Krise, in: Russland­Analysen, 234, 24.2.2012, S. 16, (abgerufen am 9.8.2012). Bilanz der allrussischen Bevölkerungszählung 2010, (abgerufen am 9.8.2012). Lag die Lebenserwartung 1994 bei 71 Jahren für Frauen und 57 Jahren für Männer, so haben sich diese gravierenden Zahlen insbesondere für die Männersterblichkeit inzwischen erheblich verbessert: Männer liegen bei 64 Jahren und Frauen bei 76. Vgl. Stephan Sievert, Sergei Sacharow und Reiner Klingholz, Die schrumpfende Weltmacht. Die demografische Zukunft in Russland und den anderen postsowjetischen Staaten, Berlin­Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin 2011, S. 16­19. Zurzeit liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau bei 1,54. Um den Bestand der Bevölkerung zu halten, wären jedoch statistisch 2,1 Geburten pro Frau notwendig. Vgl. ebd. Ebd.

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ländischen Arbeitskräften liegt in Zentralasien und im Südkaukasus. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen halten sich in den Sommermonaten bis zu 7 Mio. Arbeitsmigranten in Russland auf, die zumeist aus den postsowjetischen Ländern kommen. Durch die fehlende bzw. restriktive Migrationspolitik und große Skepsis in der russischen Bevölkerung gegenüber Ausländern werden diese jedoch oft in die Illegalität getrieben. Es fehlt eine Politik, die gezielt hoch­ qualifizierte Arbeitskräfte anwirbt. Aufgrund des demografischen Wandels und der im internationalen Vergleich niedrigen Löhne und Gehälter sind die Sozialkassen grundsätzlich unterfinan­ ziert und müssen mangels Steuereinnahmen aus staatlichen Rohstoffeinnahmen beglichen werden. Die Finanzierung von Sozialleistungen hängt also nicht von einer gesunden nationalen Wirtschaftsbasis ab, sondern vielmehr von der exter­ nen weltwirtschaftlichen Konjunktur, die stark vom Ölpreis beeinflusst wird. Um eine Diversifizierung der Wirtschaft weg vom Rohstoffsektor zu ermög­ lichen und die sozioökonomische Entwicklung des Landes zu verbessern, hat die Regierung seit Mitte der 2000er Jahre mit Mitteln aus dem Staatsfonds vier nationale Projekte in den Schlüsselbereichen Bildung, Gesundheit, Wohnen und Landwirtschaft finanziert. Die Erfolge sind jedoch bisher begrenzt, da Korruption und Ineffizienz bei der Vergabe und Verwaltung der Mittel zu keinem strukturellen Wandel ge­ führt haben. Auch wenn mit der Stabilisierung des Staates und einem stetigen Wirtschaftswachstum (5 bis 8 Prozent) in den ersten beiden Präsidentschaften Wladimir Putins (2000–2008) Bereiche wie Bildung, Gesundheit und Demografie seit 1990 erstmals substanziell finanziert wurden, wären weiterhin strukturelle Reformen in der Sozialpolitik, insbesondere der Gesundheits­ und Rentensysteme, vonnöten. Auch im Bildungs­ und Wissenschaftsbereich verliert Russland weiter­ hin im internationalen Wettbewerb und ist nicht in der Lage, das Mehr an finan­ zieller Förderung gewinnbringend einzusetzen.6 Dabei hatte Russland von der Sowjetunion eine hochqualifizierte Bevölkerung und ein ausdifferenziertes Bildungs­ und Wissenschaftssystem geerbt. Wegen Unterfinanzierung und Reformstau in den 1990er Jahren ist das Land je­ doch im internationalen Bildungswettbewerb weit zurückgefallen. Trotz einer Vervierfachung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung zwischen 1998 und 2012 und massiver Förderung einiger Eliteeinrichtungen konnte dieser Trend nicht aufgehalten werden. Im anerkannten Times­Higher­Education­ Ranking befand sich 2012 unter den 200 besten Universitäten weltweit keine einzige russische Einrichtung. Russland hat einen Anteil von weniger als 0,5 Prozent am internationalen Markt innovativer Produkte und von 0,2 Prozent

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Der Staat spielt die Schlüsselrolle in der Wissenschafts­ und Innovationspolitik, indem er mehr als 70 Prozent der Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung trägt.

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an internationalen Hightech­Exporten. Es fällt bei international zitierten Publikationen und Patenten immer weiter zurück.7 Korruption, wenig Wettbewerb, Dominanz der Verwaltung, niedrige Löhne, Belohnung von Loyalität anstelle von Qualität sowie die geringe Autonomie von Bildungseinrichtungen verhindern die notwendigen Reformen des rus­ sischen Bildungswesens. Junge innovative Wissenschaftler, insbesondere aus den Natur­ und technischen Disziplinen, verlassen weiterhin das Land, da sie keine Perspektive in ihrer Heimat sehen. Die russische Akademie der Wissenschaft geht von ungefähr 100 000 im Ausland lebenden russisch spre­ chenden Wissenschaftlern aus.8 Trotz verschiedener Rückholprogramme konnte dieser Trend nicht aufgehalten werden. Strukturschwäche der Wirtschaft Probleme des Bildungssystems und Braindrain belasten die russische Wirtschaft: Ihre geringe Innovationsfähigkeit und ihre starke Fokussierung auf die Förderung und den Export von Öl und Gas lassen den Abstand Russlands im internationalen technologischen Wettbewerb wachsen. Russische Unternehmen sind weder inno­ vativ noch fragen sie Innovationen nach. Nur 2 Prozent der russischen produzie­ renden Firmen zielen auf den internationalen Markt, die große Mehrheit konzen­ triert sich auf den weniger umkämpften Inlandsmarkt.9 Insgesamt bestehen nur 13 Prozent der russischen Exporte aus Maschinen und Geräten, etwa zwei Drittel der Exporte dominieren Öl und Gas, Tendenz steigend. Die Öl­ und Gasindustrie steht für etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP).10 Russland hat laut BP Statistical Review of World Energy mit einen Anteil von 21 Prozent die größten Gasreserven weltweit, 18 Prozent der Weltkohlereserven und 5 Prozent der Weltölreserven.11 Es belegte 2011 jeweils Platz 2 – hinter Saudi­ Arabien bei der Ölförderung bzw. hinter den USA bei der Gasförderung. 7

Leonid Gokhberg und Vitaliy Roud, The Russian Federation: A New Innovation Policy for Sustainab­ le Growth, in: The Global Innovation Index 2012, Chapter 6, S. 121­130, hier: S. 125, (abgerufen am 9.8.2012). 8 Čemondan, vokzal, nauka, in: Kommersant‘, 15.11.2011, (abgerufen am 30.8.2012). 9 Ebd., S. 122. 10 Trotz einiger Äußerungen des ehemaligen Präsidenten Medwedew zur Bedeutung von erneuerbaren Energien und einiger Projekte im Bereich Energieeffizienz, unter anderem in Kooperation mit der Deutschen Energieagentur, steckt Russland in diesen Bereichen noch in den Anfängen. Russische Energieunternehmen verdienen aufgrund der hohen Weltmarktpreise ausgezeichnet mit Öl und Gas und sehen keinen Anlass für Investitionen in alternative Energien. Gleichwohl hatte Präsident Medwedew in seiner Modernisierungsinitiative fünf Schwerpunktbereiche festgelegt: Energieeffi­ zienz, alternative Energien inklusive Nukleartechnik, Informatik, Telekommunikation und Medizin­ technologie. Dmitrij Medwedew, Rossia vpered, in: Gazeta.ru, 10.9.2009, (abgerufen am 9.8.2012). 11 BP Statistical Review of World Energy, Juni 2012, (abgerufen am 30.8.2012).

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Dank der im vergangenen Jahrzehnt nachhaltig hohen Preise für Öl und Gas ist auch der monatliche Durchschnittslohn von 62 (1999) auf 844 Dollar (2012) erheblich gestiegen. Dieser Wohlstandsgewinn hat jedoch in der Bevölkerung zur Forderung nach weiterem Wachstum geführt. Das Wirtschaftswachstum lag 2011 bei 4,3 Prozent und im ersten Halbjahr 2012 bei 4,9 Prozent.12 Für 2013 sagt die Weltbank ein Wachstum von knapp 4 Prozent voraus. Dieses Wachstum ist jedoch zu gering, um einen signifikanten Wohlstandszuwachs zu ermöglichen. Insgesamt zeigt die Wachstumskurve der russischen Wirtschaft eine hohe Korrelation mit dem Ölpreis auf dem Weltmarkt.13 Umso härter wurde Russland von der Wirtschafts­ und Finanzkrise 2008/09 getroffen. Denn mit dem welt­ weiten Einbruch der Wirtschaft fiel der Ölpreis von seinem Höchststand von 147 Dollar im Juli 2008 auf zeitweise unter 60 Dollar, was auch die Einnahmen des Staates stark schmälerte. Schrumpfender innenpolitischer Handlungsspielraum Gleichzeitig musste der russische Staat jedoch den großen Unternehmen des Landes und einigen von einem zumeist nicht wettbewerbsfähigen Industriezweig vollständig abhängigen Monostädten finanziell unter die Arme greifen, um den Zusammenbruch seiner Wirtschaft zu verhindern. Das war umso nötiger, zumal die Auslandsinvestitionen massiv zurückgingen und Kapital aus Russland abfloss. Russische Unternehmen bekamen Finanzierungsschwierigkeiten, da sie am inter­ nationalen Kreditmarkt kein Geld aufnehmen konnten und Aktien ihrer Firmen massiv an Wert verloren. Die staatlichen Stützungsmaßnahmen waren dank des 2004 eingerichte­ ten Stabilitätsfonds möglich, in den seitdem Anteile der Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas geflossen waren. Dieser wurde im Februar 2008 in einen Reserve­ und in einen Wohlstandsfonds geteilt. Letzterer dient in erster Linie der Finanzierung sozialpolitischer Maßnahmen und der Auszahlung von Renten. Durch die Unterstützungsmaßnahmen in der Finanzkrise wurden erhebliche Mittel des Reservefonds aufgebraucht: Von September 2008 bis Februar 2012 wurde der Wert des Fonds von knapp 163 auf 60 Mrd. Dollar dezimiert. Auch der Wohlfahrtsfonds hatte im Juli 2012 nur noch knapp 86 Mrd. Dollar.14 Um den Staatshaushalt finanzieren zu können, ist Russland auf seine Einnahmen aus den Öl­ und Gasexporten angewiesen und deshalb vom Ölpreis abhängig. Inzwischen geht man von einem Preis von 120 Dollar pro Fass (159 Liter) Öl aus, der es dem russischen Staat ermöglicht, seine Ausgaben zu begleichen. Doch 12 Bank of Finland, BOFIT Russia Statistics, (abgerufen am 9.8.2012). 13 Vgl. Russland­Analysen, 234, 24.2.2012, S. 6, (abgerufen am 9.8.2012). 14 Ministerstvo Financii Rossijskoj Federacii, Sovokupny obem sredst rezervnogo fonda, (abgerufen am 30.8.2012).

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der Ölpreis lag Ende Juli 2012 bei nur 97,50 Dollar pro Fass, was ein defizitäres Budget bedeutet. Die aktuelle Fiskalpolitik ist nicht nachhaltig. Zwar ist die Auslandsverschuldung des russischen Staates mit 11 Prozent des BIP im Jahr 2011 im internationalen Vergleich (Deutschland 130 Prozent) verschwindend gering.15 Aufgrund der hohen Einnahmen aus Rohstoffexporten und einer konsequenten Rückzahlungspolitik fiel die Verschuldung von 67 Prozent des BIP 1999 auf diesen niedrigen Wert. Dennoch hat der russische Staat während der Finanzkrise seine Reserven hal­ biert und konnte sie trotz gestiegener Rohstoffpreise nicht wieder auf das Niveau vor der Krise auffüllen. Viel Geld befindet sich im Bankensystem und bei der Notenbank, die über eine lockere Kreditpolitik Wachstum vor allem durch privaten Konsum fördern sollen. Die im Vorfeld der Parlaments­ und Präsidentschaftswahlen 2011/12 erhöhten Sozialausgaben, Renten und Gehälter für Beamte belasten das Budget dauerhaft. Hinzu kommt, dass sich während Putins ersten beiden Präsidentschaften die Zahl der Beamten mehr als verdoppelt hat, was zu einer erheblichen Aufblähung des Budgets führte. Die Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, hohe Korruption, staatliche Kontrolle und die Dominanz von Staatsunternehmen in fast allen Schlüsselbereichen, die aufgeschobenen Reformen und der Mangel an Rechtsstaatlichkeit er­ schweren Investitionen in Russland. Mit Ausnahme von Rohstoff­ und Konsumgüterunternehmen investieren kaum ausländische Unternehmen in Russland. Beim Investitionsklima belegt Russland in allen relevanten Umfragen hintere Plätze. Im Doing­Business­Ranking der Weltbank (2012) liegt es auf Platz 120 von 183 Staaten. Im Korruptionsindex von Transparency International (2011) rangierte es auf Rang 143 von 183 Staaten. Diese Probleme führen zu einem anhaltend hohen Kapitalabfluss aus Russland. Laut russischer Zentralbank hat sich dieser von 2010 auf 2011 von 34,5 auf 80,5 Mrd. Dollar mehr als verdoppelt. Der stellvertretende Wirtschaftsminister Andrei Klepatsch prognostiziert für 2012 einen Kapitalabfluss von ungefähr 50 Mrd. Dollar. Einen wesentlichen Anteil machen Gelder russischer Staatsunternehmen aus, die keine guten Investitionsmöglichkeiten in ihrem Heimatland sehen. Ein großer Teil dieser Summe geht aber auch an die Moskauer Filialen ausländischer Banken der Euro­Zone zur Stärkung ihrer Liquidität während der Euro­Krise.16 Die Währungsreserven der russischen Zentralbank betragen heute (August 2012) immer noch 510 Mrd. Dollar, womit Russland nach China, Japan und Saudi­Arabien die viertgrößten Reserven weltweit besitzt.17 Jeweils 45 Prozent der russischen Reserven sind in Euro bzw. Dollar, 10 Prozent in Pfund angelegt. 15 Central Bank of the Russian Federation, External Debt, (abgerufen am 30. 8.2012). 16 Prognoz vysokoj ottočnosti, in: Kommersant‘, 7.8.2012, (abgerufen am 9.8.2012). 17 Central Bank of the Russian Federation, International Reserves August, 2012, , (abgerufen am 29.8.2012).

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Dies ist ein Grund dafür, dass die russische Führung sehr genau beobachtet, wie die Euro­Zone ihre Finanzkrise bewältigt und weshalb sie auch zu begrenzten Unterstützungskäufen bereit war. Außenpolitische Ambitionen versus weltwirtschaftliche Integration Die EU ist mit knapp 50 Prozent des Außenhandels und mit 75 Prozent der Direktinvestitionen (2011) mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner Russlands. Fast 80 Prozent der russischen Exporte in die EU sind Rohstoffe.18 Die starke Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Ölpreis und der wirtschaftlichen Situation in der EU zeigen die Schwächen des russischen Wirtschaftsmodells. Erst in den vergangenen Jahren hat Russland überhaupt angefangen, China und andere asiatische Länder als Wirtschaftspartner zu entdecken. Hierzu zählen der Bau einer Öl­Pipeline nach China, der im Januar 2011 begonnen wurde, und ein Gaslieferabkommen mit Peking, das ab 2015 über die nötige Infrastruktur verfügen soll. Ebenso positiv für die russische Wirtschaft und den Anstieg der Aus­ landsinvestitionen könnte sich der Ende 2011 beschlossene Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) auswirken. Insbesondere im Dienst­ leistungssektor sind aufgrund höherer Konkurrenz sinkende Preise zu erwarten. Vor allem die Metall­, Bergbau­ und Chemie­Industrien werden vom Beitritt profitieren, während die wenig konkurrenzfähigen Bereiche wie Landwirtschaft und Automobilindustrie unter wachsenden Konkurrenzdruck geraten wer­ den. Die russische Führung hat indes für bestimmte Industriebereiche Ausnahmeregelungen ausgehandelt, was nicht konkurrenzfähigen Branchen wie der Automobilindustrie noch einige Jahre Schutz gewährt. Russland hat die 18 Jahre währenden Verhandlungen für seinen WTO­ Beitritt nicht genutzt, um seine Wirtschaft für den internationalen Wettbewerb zu rüsten. Das gilt insbesondere für seine veralteten und zu großen Teilen durch Monostrukturen geprägten staatlichen Industriebetriebe, die bisher durch Protektionismus und Subventionen erhalten worden sind. Hier steht Russland erst am Anfang eines Modernisierungsprozesses, der auch aufgrund der sozialen Folgen seit Jahren immer wieder aufgeschoben wird. Außenpolitik dient im System Putin in erster Linie der Legitimierung der Innenpolitik. Im traditionellen Freund­Feind­Denken muss der vermeintlich negative westliche Einfluss herhalten, um die eigene Reformunfähigkeit zu überdecken. Dies wurde erneut deutlich, als Putin hinter den Demonstrationen nach den Parlamentswahlen 2011 westlichen Einfluss sah und nicht die Unzufriedenheit seiner Landsleute gegenüber der Regierung. Ein im Juli 2012 beschlossenes Gesetz verschärft nunmehr die Regeln für russische

18 European Commission, Bilateral Trade and Trade with the World, Russia, (abgerufen am 9.8.2012).

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Nichtregierungsorganisationen, die von ausländischen Geldgebern finanziert werden, und diffamiert diese als ausländische Agenten. Gleichzeitig internationalisiert sich die russische Rohstoffwirtschaft und dient der WTO­Beitritt einer weiteren Integration Russlands in die Weltwirtschaft. Dieser Widerspruch führt zu einer begrenzten Glaubwürdigkeit russischer Politik. Zwar sind wichtige russische Unternehmen in die Weltwirtschaft integriert, je­ doch ist das autoritäre Regime nicht dazu bereit, ein transparenteres und kom­ petitiveres Wirtschafts­ und Politikmodell zu entwickeln und so eine signifikante Erhöhung von Auslandsinvestitionen zu ermöglichen. Die Modernisierung der russischen Wirtschaft kann nur über eine Reform des politischen Systems funk­ tionieren. Ohne Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung kann es keine nachhaltige Entwicklung des Landes geben. Fazit: vertane Chance Präsident Medwedews Modernisierungs­ und Reformrhetorik während sei­ ner Präsidentschaft sollte in einer Phase der globalen Finanzkrise die Kooperationsbereitschaft Russlands gegenüber den westlichen Industrieländern signalisieren. Ein zentrales Ziel seiner Präsidentschaft war die Förderung des Technologietransfers nach Russland. Der EU kam hierbei die wichtige Rolle als zentraler Modernisierungspartner zu. Da die russischen Eliten jedoch nicht an grundlegenden ökonomischen und politischen Reformen interessiert sind, blieb es bei einer progressiven Rhetorik. Die Erholung der Weltwirtschaft seit 2010 und der erneute Anstieg der Rohstoffpreise schwächen den ökonomischen Druck auf die russischen Eliten, Reformen durchzuführen. Die Rückkehr von Wladimir Putin ins Präsidentenamt zeigt, dass die Elite nicht dazu bereit ist, eine nachhaltige wirtschaftliche und ge­ sellschaftliche Modernisierung zu betreiben, da diese nur auf Kosten eines politi­ schen Machtverlusts erfolgen kann. Um seine innen­ wie außenpolitische Macht zu stärken, kündigte Putin im Vorfeld seiner Wiederwahl an, dass mit enormen Investitionen von bis zu 575 Mrd. Euro bis 2022 die Militärindustrie künftig zum Modernisierungsmotor für die gesamte russische Wirtschaft werden soll.19 Hier deutet sich eine Prioritätenverschiebung an, bei der Russland in zivilen Technologien noch mehr den Anschluss im glo­ balen Wettbewerb verlieren wird, aber durch die Modernisierung der Armee und Waffenverkäufe weiterhin eine Rolle in der Weltpolitik spielen möchte.

19 Perevooruženie armii možet byt‘ otloženo, in: Vedomosti, 2.7.2012, (abgerufen am 30.8.2012).

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Saudi-Arabien: Im „Auge des Taifuns“ Henner Fürtig Die mit „Arabischer Frühling“ beschriebenen Umwälzungen haben Saudi­Arabien in besonderer Weise getroffen. Besonders, weil sich fast die gesamte regio­ nale Nachbarschaft in Aufruhr befindet. Im Westen fiel mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak der verlässlichste Partner in der arabischen Welt, im Süden bleibt die Lage im Jemen extrem gespannt, auch nachdem Riad dem entmachteten Präsidenten Saleh Asyl gewährte. Im Osten wird der tradi­ tionelle Gegenpart Iran scheinbar immer stärker. In Bahrain trafen regionale Vormachtambitionen Irans und Saudi­Arabiens so vehement aufeinander, dass sich die saudische Führung im März 2011 sogar – im Gegensatz zu ihrer sonst eher defensiven Außenpolitik – dazu entschloss, Truppen in das Emirat zu entsenden, um das sunnitische Herrscherhaus bei der Abwehr und Unterdrückung der wegen ihrer Dauerdiskriminierung aufgebrachten schiitischen Bevölkerungsmehrheit zu unterstützen. Im Norden wurde Syrien zu einer neuen Arena der Rivalität mit Iran. Besonders aber auch, weil die Protestwelle Saudi­Arabien selbst bisher aus­ gespart hat. Dabei hätten viele Faktoren eigentlich dafür gesprochen, das Königreich, wenn schon nicht im Zentrum, dann doch in herausgehobener Position innerhalb des arabischen Krisenkreises vorzufinden. Der König und seine engere Familie regieren autokratisch, ein rigides Regel­ und Gesetzeswerk reduziert die individuellen Freiheitsrechte der Bürger auf ein Minimum. Parteien und Gewerkschaften sind verboten, die Presse wird zensiert, die sogenannte Religionspolizei und andere Sicherheitsdienste sorgen für eine flächendeckende Überwachung der Bevölkerung. Gemessen an diesen Bedingungen blieb das Ausmaß von Unruhen in Saudi­Arabien bisher erstaunlich begrenzt. Am 11. März 2011 folgten zwar einige Tausend Protestierende den Aufrufen zu einem lan­ desweiten „Tag der Wut“, er blieb aber Episode, obwohl Sicherheitskräfte in die Menge schossen und etliche Demonstranten getötet wurden.1 Diese Position im „Auge des Taifuns“ ist mitnichten für alle Zeiten garantiert, gleichwohl existieren dafür gegenwärtig sowohl innen­ als auch außenpolitische Gründe. 1

Vgl. Al­Quds al­Arabi, 16.4.2011.

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Saudi-Arabien: Im „Auge des Taifuns“

Das politische System Als es der Familie Saud unter ihrem Oberhaupt Abd al­Aziz (genannt Ibn Saud) 1932 zum dritten Mal seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gelang, auf der Arabischen Halbinsel einen Zentralstaat unter ihrer Führung zu errichten, fußte auch diese Gründung auf einem nahezu symbiotischen Verhältnis mit der Geistlichkeit. Die Allianz geht auf das Jahr 1744 zurück, als der Dynastiegründer Muhammad Ibn Saud dem zur konservativen hanbalitischen Rechtsschule des Islams zählenden Reformer Muhammad Ibn Abd al­Wahhab zusicherte, des­ sen radikale, nur dem Text von Koran und Sunna verhaftete Religionsauslegung nicht nur als die allein gültige anzunehmen, sondern sie auch zu schützen und zu verbreiten. Auf diese Weise wurde der nach seinem Begründer benannte Wahhabismus faktisch Staatsreligion in Saudi­Arabien. Im Gegenzug versprach Abd al­Wahhab – auch für seine Nachkommen, die Al Shaikh –, die Herrschaft der Al Saud als einzig rechtmäßige zu proklamieren. Die Symbiose begünstigte nicht nur eine außergewöhnliche „weltliche“, sondern auch geistliche Machtfülle des Königs; in einem Land, in dem Koran und Sunna offiziell als Verfassung gel­ ten, verkörpert er als „Hüter der beiden Heiligen Stätten“ in Mekka und Medina die höchste religiöse Autorität. Aus dem Anspruch, in Übereinstimmung mit der wahhabitischen Rechtsauslegung zu herrschen, leitet sich eine Hauptsäule mon­ archischer Legitimität ab. Die andere tragende Säule fußt auf der Fähigkeit der Herrscher, ihren Untertanen ein hohes Maß an sozialen Leistungen zu garantieren. Zwar hat Saudi­Arabien gegenwärtig etwa 29 Mio. Einwohner, aber nur 20 Mio. verfügen über die Staatsbürgerschaft.2 Für diese gehört die staatliche Wohlfahrt allerdings zur Alltagserfahrung. Sie bleiben „von der Wiege bis zur Bahre“ alimentiert. Die Königsfamilie tauscht faktisch Wohlfahrt gegen Loyalität; der Wille zur Mitbestimmung wird den Bürgern abgekauft. Das setzt allerdings volle Kassen voraus und damit stetig sprudelnde Einnahmen aus dem Erdölexport. Zumindest die materiellen Voraussetzungen dafür sind vorerst gegeben. Mit 262,3 Mrd. Barrel verfügt Saudi­Arabien weltweit über die mit Abstand größten nachgewie­ senen Reserven an Erdöl3 und führt die globale Liste der Erdölexporteure mit großem Abstand an. Darüber hinaus fungiert das Königreich auch, nur selten und kurzzeitig unterbrochen, als weltgrößter Einzelproduzent von Erdöl. Zwischen 2004 und 2010 wurden täglich durchschnittlich zehn Mio. Barrel gefördert, in Spitzenzeiten bis zu 11,5 Mio..4 Im Gegensatz zu landläufigen Annahmen wirkt sich der enorme Erdölreichtum für Saudi­Arabien aber nicht nur vorteilhaft aus. Wegen seiner überragenden Bedeutung für das Wohlergehen des Landes erfüllt das „schwarze Gold“ glei­ chermaßen auch alle Nachteile einer „Monokultur“. Erdöl sorgt immer noch für 70 Prozent der Staatseinkünfte. Weil aber der globale Erdölmarkt – wie 2 3 4

Vgl. John Sfakianakis et al., Saudi Arabia Economics, Riyadh 2011, S. 11. (abgerufen am 17.7.2012). Middle East Economic Survey (MEES), Nr. 30/2005, S. 3.

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alle Warenmärkte – bestimmten ökonomischen Zyklen unterliegt, geriet Saudi­ Arabien durch die fast totale Abhängigkeit vom Export dieses Primärrohstoffs zum Spielball der Zyklen. Auf einen ersten Einnahmerekord von 101,81 Mrd. Dollar 1981 folgte nur fünf Jahre später ein Einbruch auf lediglich 13,55 Mrd. Dollar, der Saudi­Arabien zwang, bei in­ und ausländischen Banken Geld zu bor­ gen.5 In den 1990er Jahren lagen die Jahreseinnahmen zwischen 15 und 35 Mrd. Dollar. Im Gefolge explosionsartiger Preissteigerungen auf dem Welterdölmarkt – setzte dann auch wieder ein rapider Wirtschaftsaufschwung in Saudi­Arabien ein. Mit 106 Mrd. Dollar Einnahmen aus dem Erdölexport wurde 2004 der 23 Jahre alte Rekord aus dem Jahr 1981 erstmals gebrochen.6 Bis 2008 stiegen die Erdölexporterlöse auf eine Rekordhöhe von 281,4 Mrd. Dollar, nur um sich im Folgejahr aufgrund der internationalen Finanzkrise mit 134,2 Mrd. wieder zu halbieren. Schon 2010 wurden aber wieder Einnahmen in Höhe von 165 Mrd. Dollar erzielt,7 das Pro­Kopf­Einkommen stieg auf 16 039 Dollar,8 fast eine Verdoppelung innerhalb eines Jahrzehnts. Wenn die Fluktuationen auch als „Systemfehler“ erhalten bleiben, so schei­ nen die stark gestiegenen Exporterlöse seit 2004 den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gestaltungsspielraum des saudischen Staates und seiner Herrscherfamilie doch zu erweitern. Der weltweit stetig wachsende Bedarf an Erdöl und die zugleich tendenziell zur Neige gehenden Vorräte sprechen dafür, dass dieser Spielraum möglicherweise sogar noch größer wird: eine zu simple Rechnung, denn selbst hohe Erdöleinnahmen mindern nicht die Abhängigkeit an sich, sondern nur deren Folgen. Weltbankexperten empfehlen der saudischen Regierung deshalb seit Jahren Schritte zur weiteren Diversifizierung der Wirtschaft, zu Reformen im Finanzsektor und im öffentlichen Dienst, Subventionsabbau, Privatisierungen staatlicher Unternehmen, Stärkung der Privatwirtschaft und damit zur Erweiterung der Steuer­ und Einnahmequellen.9 Obwohl die Empfehlungen in der Regel in die Wirtschaftsplanung übernommen wurden, erfolgte die Umsetzung nur schlep­ pend. Das hat die Herrscherfamilie primär selbst zu verantworten, denn die Umsetzung der Ziele würde Kontroll­ und damit Machtverlust mit sich brin­ gen. Die Staatsausgaben zu senken hieße zum Beispiel, legitimationssichernde Alimente zu kürzen, auf Luxus zu verzichten und weniger an den – oft unsin­ nigen – Rüstungskäufen zu verdienen. Die enorme Einnahmefluktuation gebar allerdings auch ein bestimmtes Verhaltensaxiom der Herrscher: je höher der Erdölpreis, desto geringer ihr Wille zum Wandel. Dieses Axiom würde wohl noch auf unbestimmte Zeit gelten, wenn – insbesondere im vergangenen Jahrzehnt 5 6 7 8 9

BBC Summary of World Broadcasts, 16.5.2003. MEES, Nr. 4/2005, S. 17. Saudi Oil Income to Dip by $ 147 bn in 2009, (abgerufen am 17.7.2012). Vgl. John Sfakianaki et al., Saudi Arabia Economics, a.a.O. (Anm. 2), S. 11. MEES, Nr. 4/2005, S. 17.

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– nicht ein weiteres dringliches Problem entstanden wäre: Arbeitsplätze für die rasch wachsende Bevölkerung zu schaffen. Herausforderung Arbeitsmarkt Das Fortbestehen des „Gesellschaftsvertrags“ zwischen den Al Saud und ihren „Untertanen“ hängt vom Vermögen der Herrscher ab, genügend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Zwar liegt die offizielle Arbeitslosenquote nur bei verhältnismäßig moderaten 12 Prozent. Diese Zahl wirkt allerdings schon allein deshalb beschönigt, weil sie arbeitssuchende Frauen nicht berücksichtigt. Deshalb erreicht die tatsächliche Arbeitslosenquote mindestens 25 Prozent.10 Das starke Bevölkerungswachstum erzeugt nicht nur eine außerordentlich junge Gesellschaft (75 Prozent sind jünger als 30 Jahre11), sondern auch eine schnell wachsende Erwerbsbevölkerung. Gerade in der „sicherheitsrelevanten“ Altersgruppe der 20­ bis 29­Jährigen beträgt die Arbeitslosenquote fast 30 Prozent.12 Um sie in Arbeit zu bringen, versprach die Regierung, knapp eine Million Jobs neu zu schaffen. Der Staat könnte seine Versprechen natürlich mit Einstellungen im staatlichen Sektor und in der öffentlichen Verwaltung einlösen. In diesen beiden Bereichen waren in den 1990er Jahren fast 90 Prozent der saudischen Arbeitnehmer beschäftigt; 60 Prozent des staatlichen Etats flossen dadurch in Lohn­ und Gehaltszahlungen.13 Anhaltende Erdöleinnahmen auf dem Rekordniveau von 2004 bis 2011 könnten die Al Saud nun veranlassen, den Weg des gering­ sten Widerstands zu wählen und auf bewährte Weise fortzufahren, wenn das Bevölkerungswachstum nicht auf Dauer das Wachstum der Erdöleinnahmen übersteigen würde.14 Da genau dies aber der Fall ist, kann das Dilemma nur per Privatisierung bzw. „Saudisierung“ gelöst werden. Die „Saudisierungs“­Strategie wurde schon während der ersten Ölpreiskrise in den 1980er Jahren ersonnen, ohne wirklich umgesetzt worden zu sein. Gegenwärtig sind immer noch 65 Prozent aller Beschäftigten Ausländer,15 was bedeutet, dass die ursprünglichen Probleme des Programms fortbestehen. Selbst jüngste Umfragen belegen, dass die traditionelle Ablehnung manueller Arbeit fortbesteht und durch die üppige Wohlfahrt sowie den Einsatz „billiger“ Gastarbeiter sogar noch verstärkt wurde. Einheimische Berufsanfänger drängen nach wie vor in den staatlichen Sektor, namentlich in den Verwaltungsapparat, und lehnen Arbeit ab, die nicht mit einem Mindestmaß an Entscheidungsgewalt und sozialem Status verbunden ist. 1993 verlegte sich die Regierung auf staatli­ 10 Vgl. Saudi Arabia Economy Profile 2009, in: IndexMundi, online: (abgerufen am 17.7.2012). 11 Vgl. Handelsblatt, 8.3.1999. 12 Vgl. John Sfakianaki et al., Saudi Arabia Economics, a.a.O. (Anm. 2), S. 4. 13 The Guardian, 11.8.1999. 14 Vgl. Gerd Nonneman, Saudi Futures, in: ISIM­Newsletter, Nr. 6/2004, S. 54. 15 Vgl. Ibrahim Saif, The Oil Boom in the GCC Countries. Old Challenges, Changing Dynamics, Washington, DC 2009, S. 17.

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chen Dirigismus. Seitdem sind alle Unternehmen gehalten, den Anteil einheimi­ scher Beschäftigter jährlich um fünf Prozent zu erhöhen. Das aktuell geltende Arbeitsgesetz vom April 2006 verschärfte die Bedingungen weiter: Demnach soll sich jetzt die Belegschaft aller Unternehmen zu 75 Prozent aus Einheimischen zusammensetzen.16 Wo irgend möglich, versuchen Privatunternehmer trotzdem, sich den staatlichen Auflagen zu entziehen. Ausländische Arbeitskräfte gelten als billiger, besser motiviert, besser ausgebildet und leichter zu entlassen. Das Arbeitsmarktproblem wird also – zumindest mittelfristig – fortbestehen und seine Brisanz für die Stabilität des Regimes behalten. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der relativ starken Position einer Beschäftigtengruppe, die zwar saudische Staatsbürger sind, aber aus konfessi­ onellen Gründen diskriminiert werden: die Schiiten. Diese gelten der wahha­ bitischen Staatsreligion als Angehörige einer Sekte (rafida), die sich außerhalb des anerkannten Rahmens des Islam bewegt.17 Schiiten werden deshalb seit der Staatsgründung als Bürger zweiter Klasse behandelt, oft auch verfolgt. Obwohl die Schiiten nur zwischen 5 und 15 Prozent18 der saudischen Bevölkerung aus­ machen, kommt ihnen aber eine Bedeutung zu, die weit über ihren quantitativen Bevölkerungsanteil hinausgeht. Ihre Mehrzahl ist nämlich in der Ostprovinz, dem alten al­Hasa beheimatet. In dieser Provinz liegen die Hauptlagerstätten und Verarbeitungs­ bzw. Transportkapazitäten des saudischen Erdöls. Weil den in beduinischer Tradition lebenden Wahhabiten jegliche körperliche Erwerbsarbeit suspekt ist, wurden die als diskriminierend empfundenen robusten Arbeiten in der Erdölwirtschaft an die Schiiten delegiert; mit erheblichen Folgen. Schiitische Beschäftigte stellen das Rückgrat der Belegschaft in der Erdölproduktion – ihr wichtigster Trumpf im Verhältnis zu Riad. Schiitischer Widerstand gegen die allwaltende Unterdrückung und Diskriminierung organisierte sich ab 1975 un­ ter Führung des Rechtsgelehrten Scheich Hassan al­Saffar. Dieser hat unter­ dessen von revolutionärer Rhetorik Abstand genommen und fordert dagegen nachdrücklich eine demokratische Umgestaltung des Landes, die Einhaltung der Menschenrechte und die Annahme einer Verfassung.19 Damit gehören die Schiiten zu den wichtigsten Impulsgebern der Demokratie­ respektive der politi­ schen Reformbewegung in Saudi­Arabien. Gelenkte Reformen Es gehört zu den Markenzeichen des gegenwärtigen Königs Abdullah, Forderungen nach politischen Reformen nicht mehr – wie seine Vorgänger – a priori zurückzuweisen, sondern sie geschickt zu kanalisieren. 2003 lud er – damals 16 Vgl. Iris Wurm, In Doubt for the Monarchy. Autocratic Modernization in Saudi Arabia, Frankfurt/ Main 2008, S. 25f. 17 Vgl. dazu Madawi al­Rasheed, Political Legitimacy and the Production of History: The Case of Saudi Arabia, in: Lenore G. Martin (Hrsg.), New Frontiers in Middle East Security, Houndmills 1998, S. 40. 18 Vgl. Leigh Nolan, Managing Reform? Saudi Arabia and the King’s Dilemma, Doha 2011, S. 2. 19 Vgl. Mamoun Fandy, Saudi Arabia and the Politics of Dissent, New York 1999, S. 195­199.

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noch als Regent – erstmals die Verfasser einer Reformpetition zum Gespräch ein. Damit legte er den Grundstein für ein permanentes Forum des „Nationalen Dialogs“, das Ende November 2011 bereits zum achten Mal tagte.20 Ab der drit­ ten Sitzung erhielten auch die Medien Zutritt. Form und thematischer Zuschnitt der Foren zeigten, wie Abdullah gedachte, den Reformprozess zu gestalten. Der gelenkte Dialog mit auserlesenen Reformern gestattete es ihm, den Kurs und die Geschwindigkeit der Umgestaltungen selbst zu bestimmen, und demonstrierte der kritischen Weltöffentlichkeit gleichzeitig, dass er sich ernsthaft um Reformen bemüht. Eine reale Bewertung von Tempo und Intensität des Reformkurses und damit der Wahrscheinlichkeit, herrschaftsgefährdenden Umsturzversuchen zu entge­ hen, erfordert zwingend einen Blick in die inneren Strukturen der Königsfamilie. Zweifellos beeinflusst der König den Kurs und verkörpert ihn am Ende, in der Regel ist er jedoch das Produkt eines Familienkonsenses bzw. ­kompromisses. Die Familie Saud, die mehrere Tausend Personen umfasst, fungiert in Saudi­Arabien faktisch als staatstragende, unabwählbare herrschende Partei. Familienmitglieder finden sich in allen wesentlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, vom Staatsapparat über die Privatwirtschaft bis hin zu den Nischen der Kultur. Sie wirken als Transmissionsriemen und Multiplikatoren für die im Familienrat be­ schlossenen Vorgaben in die Gesellschaft und gleichzeitig auch als tausendfacher Seismograf für deren Stimmungen und Strömungen. Es versteht sich von selbst, dass alle sicherheitsrelevanten Positionen des Staates mit Familienangehörigen besetzt sind. Ein elementarer Nachteil der Familiengröße besteht jedoch in der Unmöglichkeit, vollständige Meinungskongruenz herzustellen. Neben direkten Rivalitäten um die Thronfolge geht es immer wieder um die Frage, wo politische Schwerpunkte gesetzt werden sollen. Das Kräfteverhältnis zwischen Gegnern und Befürwortern (maßvoller) poli­ tischer Reformen erscheint gegenwärtig faktisch ausgeglichen; jedenfalls ist es König Abdullah bis Mitte 2012 nicht gelungen, unter Einsatz seiner monarchi­ schen Vollmachten einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Perspektivisch wird der Machtkampf zunehmen, vor allem wenn die Angehörigen der Enkelgeneration von Staatsgründer Ibn Saud ihre Vorstellungen und Interessen nicht nur anmelden, sondern auch auf deren Durchsetzung pochen. Die sau­ dische Erbfolge wird auch im Ausland, vor allem von der Schutzmacht USA, mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. „Sonderbeziehungen“ mit den USA Saudi­Arabien unterscheidet sich in einem weiteren wesentlichen Merkmal von der Mehrzahl seiner Nachbarstaaten: Es war nie kolonial abhängig. Das machte es nicht zuletzt für die USA interessant. Nachdem die koloniale Aufteilung der arabischen „Erbmasse“ des 1918 untergegangenen Osmanischen Reiches durch 20 Arab News, (abgerufen am 17.7.2012).

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Großbritannien und Frankreich zwischen den Weltkriegen fast abgeschlos­ sen war, suchten die USA nach dem berühmten „Weißen Fleck“ in der durch Erdölfunde zunehmend interessanter gewordenen Region. Ein Jahr nach der Staatsgründung 1932 gewährte der chronisch „klamme“ Ibn Saud der „Standard Oil of California“ bzw. deren Tochterunternehmen „California­Arabian Standard Oil Co.“ (CASOC) eine Bohrkonzession für sein junges Königreich. Erst 1938 wurde aber mit „Dammam Nr. 7“ das erste große Erdölfeld in Saudi­Arabien entdeckt. 1944 benannte sich die CASOC daraufhin in Arabian American Oil Company (ARAMCO) um. Diese ging im Verlauf der 1970er Jahre in saudischen Staatsbesitz über. Der Erfolg beförderte zweifellos das beiderseitige Interesse an einem Ausbau der Beziehungen. Am 19. Februar 1945 begründete Ibn Saud bei einem Treffen mit US­Präsident Roosevelt ein außerordentlich enges, in vielen Aspekten fast symbi­ otisches Verhältnis. 30 Jahre später erhob Präsident Carter die Sonderbeziehungen sogar in den Rang einer Doktrin, als er der Golfregion eine „vitale Bedeutung“ für die USA zuschrieb. Diese Doktrin wurde einerseits von allen nachfolgenden US­ Präsidenten übernommen und bildete andererseits – formalisiert durch bilaterale Militärabkommen – auch die Grundlage für die Stationierung von US­Truppen in Saudi­Arabien nach 1990. Dazwischen und danach lagen Jahre des gemeinsamen Kampfes gegen Kommunismus, Nasserismus, Baathismus und Khomeinismus. Die Interessenübereinstimmung war so stark, dass sie außerordentlich unter­ schiedliche Wertvorstellungen in beiden Ländern überdeckte. Ein weiterer we­ sentlicher Grund für die gegenseitige Anziehung liegt in der enormen Summe von etwa 700 Mrd. Dollar, die saudische Investoren in den USA anlegten.21 Nach dem 11. September 2001 schien es bisweilen so, als würde alles in Jahrzehnten Gewachsene in Frage gestellt. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen bestanden zwar fort, aber Politiker und Medien in den USA fragten sich jetzt, wie zuverlässig ein verbündetes Land sein kann, aus dem 15 der 19 Attentäter stammten. Vor diesem Hintergrund fand auch die Verlegung von 6000 US­Soldaten aus Saudi­Arabien in die „gastfreundlicheren“ Emirate Kuwait und Katar statt. Zudem machte die US­Regierung unmissverständlich klar, dass sie von Saudi­Arabien eindeutige und nachhaltige Schritte im Kampf gegen den Terror erwartete. Ausloten des außenpolitischen Spielraums Angesichts dieses Drucks aus Washington durfte nicht überraschen, dass in Riad Überlegungen über eine strategische Umorientierung, zumindest aber über eine weitere Diversifizierung der Außenbeziehungen angestellt wurden. Aus sau­ discher Sicht zeigte sich China bereit, fast jeden Preis für seinen Erdölbedarf zu zahlen. Letztlich hatte hauptsächlich die enorme Energienachfrage in Asien und insbesondere in China die Preisexplosion auf dem globalen Erdölmarkt nach 21 Vgl. Moin Siddiqi, The Rise and Rise of an Equity Culture, in: The Middle East, Nr. 11/2005, S. 44.

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2004 ausgelöst. 2005 überholte China Japan als zweitgrößter Erdölimporteur nach den USA. Das „Reich der Mitte“ verblieb zwar hinter den USA, Japan, Südkorea und Indien noch auf Platz fünf der Importeure saudischen Erdöls, verzeichnete aber die mit Abstand größten Zuwachsraten. Die zeitweise sau­ dische Produktionserhöhung auf über elf Mio. Barrel pro Tag war ursächlich dem chinesischen Appetit geschuldet. Der bevölkerungsreichste Staat der Erde hat der Sicherung seiner Energieversorgung höchste Priorität eingeräumt. Insofern ermutigt er saudische Investitionen in seiner Wirtschaft (zum Beispiel petro­ chemischer Komplex in Fujian). Warum also nicht China als neuer Partner? Die asiatische Großmacht ist ebenfalls Atommacht und ständiges Mitglied des UN­ Sicherheitsrats, hat aber noch nie ein arabisches Land überfallen. Letztlich stellte auch Abdullah die strategische Partnerschaft mit den USA nicht ernsthaft in Frage. Das erklärt sich aus mindestens zwei Gründen. Zum einen konnte bisher noch keine andere Macht die von den USA abgegebene Garantiefunktion für die militärische Sicherheit Saudi­Arabiens übernehmen und zum anderen investierte Saudi­Arabien in keinem anderen Staat der Welt derart viel Geld wie in den USA. Durch diese hohe Kapitalbeteiligung ist Saudi­Arabien unmittelbar am Wohlergehen der US­Wirtschaft interessiert; es entstand quasi ein Kartell von Erzeugern und Verbrauchern. Mit dem Amtsantritt Präsident Obamas und dessen Abkehr von der kon­ frontativen Nah­ und Mittelostpolitik seines Vorgängers gewann Abdullahs ko­ operativer Politikansatz zudem deutlich an Gewicht in Washington. Allerdings sorgte das Verhalten des US­Präsidenten beim Schutz seines Verbündeten Hosni Mubarak erneut für Unmut in Riad. König Abdullah machte keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass die USA „versagt“ und nach dem Sturz des Schahs 1979 ein zweites Mal das fatale Signal im Nahen Osten ausgesandt hätten, dass auf ihre Bündniszusagen kein Verlass sei. Damit geriet Washington in die Defensive. Diversifizierung der Außenwirtschaftspolitik Saudi­Arabiens zunehmendes Selbstbewusstsein spiegelt sich auch in einer of­ fensiveren Außenwirtschaftspolitik wider. Mit der Einrichtung einer Börse 2004 wuchs der Kapitalmarkt binnen Jahresfrist um 85 Prozent; die Börse entwickelte sich zu einem der wichtigsten Instrumente, um der Kapitalflucht entgegenzuwir­ ken und im Westen, insbesondere in den USA investiertes Geld zurückzuholen. Ein Kapitalmarktgesetz gestattete ausländischen Anlegern überdies den direkten Börsenhandel in Riad.22 Auch die – nach langen Verhandlungen – vollzogene Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) spricht eine deutliche Sprache hinsicht­ lich der Nachhaltigkeit des neuen Wirtschaftskurses. Der WTO­Beitritt Saudi­ Arabiens am 11. Dezember 2005 beendete ein jahrelanges zähes Ringen um die Teilnahmemodalitäten. Ein Blick auf die Hauptgründe für den Dissens illustriert 22 Vgl. ebd., S. 52.

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die gewachsene Reformbereitschaft der Al Saud. Weil eine WTO­Mitgliedschaft den Status in der internationalen Finanzwelt erhöht, weitere Anreize für eine Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen (FDI) schafft und vor allem die lukrativen Märkte der EU für die saudische Produktpalette außerhalb der reinen Erdölexporte öffnen soll, war Saudi­Arabien per se schon seit Jahren für den Beitritt. Gleichzeitig sorgte das Land selbst für ständige Verzögerungen, weil es Sonderkonditionen verlangte. Die saudische Seite beklagte vor allem, dass ihr „besonderer islamischer Charakter“ zu wenig Berücksichtigung finde, der zum Beispiel die Einfuhr von Schweinefleisch oder Alkohol für alle Zeiten ausschlie­ ße.23 Außerdem müssten Waren und Dienstleistungen vom Import ausgenommen werden, die „unserer Religion und Kultur zuwiderlaufen“,24 wie Handelsminister Usama al­Faqih betonte: also etwa audio­visuelle Medien und Kinos. Die Argumente überzeugten schon deshalb kaum, weil die anderen, ebenfalls unzwei­ felhaft islamischen Golf­Monarchien alle längst Mitglieder der WTO waren. Die eigentliche Ursache für die saudischen Vorbehalte lag in der Schwierigkeit, den für den WTO­Beitritt notwendigen Gesetzesrahmen zu schaffen. Dazu mussten zum Beispiel einerseits die Transparenz und Berechenbarkeit von Regierungsentscheidungen erhöht und andererseits Handelsbarrieren und Subventionen für Staatsbetriebe abgebaut werden. Da Kronprinz Abdullah aller­ dings immer eine enge Korrelation zwischen der Mitgliedschaft in der WTO und dem Erfolg seines „Lieblingsprojekts“ – interner Reformen – sah, brachte seine Inthronisierung im August 2005 den Durchbruch. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Aufgrund des enormen Wirtschaftsaufschwungs, des gesunden Finanzhaus­ halts, substanzieller Reformschritte und verbesserter Managementfähigkeiten hat­ te die Ratingagentur Moody’s Saudi­Arabien schon 2004 den Status BAA2/stabil zuerkannt; der WTO­Beitritt führte umgehend (am 14. November 2005) zu einer weiteren Aufwertung auf A3.25 Seitdem ging es trotz internationaler Finanzkrise weiter bergauf. 2007 erreichte Saudi­Arabien A2, im März 2009 A1, aufgrund „sehr niedriger Inlandsschulden, hoher externer Liquiditätsreserven, großer geo­ strategischer Bedeutung als Dreh­ und Angelpunkt der OPEC sowie einem seri­ ösen Finanzsystem.“26 Der 2009 erreichte Wert wurde bis März 2012 stabilisiert.27 Saudi­Arabien wird damit zu einer erstklassigen Adresse für Direktinvestitionen. Die Freigabe des lukrativen Energie­ und Telekommunikationsmarkts für FDI und das parallel laufende Privatisierungsprogramm in diesen und anderen – erwähnten – Bereichen beschreibt ein Investitionsvolumen von 30 bis 40 Mrd. Dollar im kommenden Jahrzehnt. Das Auslandskapital nahm die Einladung gerne 23 24 25 26

Neue Zürcher Zeitung, 30.4.2002. Zit. in: Financial Times, 14.6.2000. MEES, Nr. 47/2005, S. 20. Moody’s Annual Credit Opinion on Saudi Arabia Shows ‘Very High’ Government Financial Strength, in: ameinfo.com, 21.3.2009, (abgerufen am 28.12.2011). 27 Moody’s Disclosures on Credit Ratings of Saudi Arabia, in: Cbonds.info, 13.3.2012, (abgerufen am 17.7.2012).

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an. Lagen die FDI in Saudi­Arabien 2001 noch bei 504 Mio. Dollar,28 so wuchsen sie binnen eines Jahrzehnts auf 28 Mrd. Dollar.29 Saudi­Arabien hat jedenfalls seinen internationalen Ruf als lukrativer Investitionsstandort erheblich verbessert. Im namhaften „Doing Business Report“ der Weltbank belegt das Königreich 2012 Rang 12 (Platz 1: Singapur) von 183 Staaten, nachdem es 2007 noch auf Rang 33 gelegen hatte.30 Ausblick Zweifellos ist die politische Szenerie Saudi­Arabiens von den dramatischen Umwälzungen in der arabischen Nachbarschaft nicht unbeeinflusst geblieben. Immer mehr Aktivisten nehmen Maßregelung und Inhaftierung, selbst Gefahr für Leib und Leben in Kauf, um ihren Forderungen nach freien Wahlen, der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie, der Respektierung der Menschenrechte (für alle, inklusive Frauen und Minderheiten), guter Regierungsführung und Einschränkung der Privilegien für das religiöse Establishment endlich Gehör zu verschaffen. Die Forderungen treffen auf ein Regime, dessen aus „religiöser Verantwortung“ und „Massenalimentierung“ abgeleiteter Herrschaftsanspruch nicht per se gegeben, sondern stetig erneuert werden muss. Da die Kassen derzeit gut gefüllt sind, fällt es der Regierung relativ leicht, Wohlfahrtsgeschenke zu verteilen. Im April 2011 veranlasste König Abdullah dafür die Bereitstellung der enormen Summe von 35 Mrd. Dollar.31 Trotz des großen Engagements Einzelner bleibt der Veränderungsdruck aus der Gesellschaft aber insgesamt nach wie vor schwach. Das liegt nicht nur an der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, sondern auch am tiefen Konservatismus der saudischen Gesellschaft, die im Zweifelsfall Bestand dem Wandel vorzieht.32 So vermag das Reformlager Denkanstöße zu vermitteln, auf Missstände aufmerksam zu machen und Reformideen aus dem Könighaus zu ermutigen, aber reale Veränderungen, substanzielle Reformen sind mittelfristig weiterhin nur denkbar, wenn sie von Reformkräften innerhalb des Königshauses ausgehen und verantwortet werden.

28 Vgl. Michael Sturm, The Gulf Coperation Council Countries: Economic Structures, Recent Develop­ ments and Role in the Global Economy, Frankfurt/Main 2008, S. 31. 29 Andy Sambidge, Saudi Arabia Tops Foreign Investment Flows at $28bn, in: arabianbusiness.com, 29.7.2011, (abgerufen am 17.7.2012). 30 Doing Business 2012, Saudi Arabia, Washington, DC 2011, S. 1. 31 Vgl. Financial Times, 21.4.2011. 32 Vgl. Nawaf Obaid, There Will Be No Uprising in Saudi Arabia, in: Marc Lynch (Hrsg.), The Saudi Counter­Revolution, Washington, DC 2011, S. 15­17.

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Südafrika: Historische Lasten Gero Erdmann und Sebastian Elischer1 Dank wachsender Exporte und steigender Binnennachfrage konnte die Wirtschafts­ und Finanzkrise 2007/08 in Südafrika schnell überwunden werden. Gleichwohl hat das Land weiterhin eine Hypothek der Vergangenheit abzutragen: Seit dem Ende der Apartheid kämpft die Regierung erfolglos gegen Ungleichheit und Armut. Eine weitere Erblast bildet der hohe Staatsanteil der südafrikanischen Wirtschaft. Außenpolitisch zog das Land Lehren aus der Erfahrung als internati­ onal isolierter „Pariastaat“, indem es sich wieder in die internationale Staatenwelt integriert hat und nunmehr als BRICS­Staat in der Weltpolitik eine einflussreiche Brückenrolle zwischen Nord und Süd einzunehmen sucht. Die Spuren der Apartheid Die jahrzehntelange systematische Unterdrückung und Benachteiligung von Schwarzen, Farbigen und Indern ist in Südafrika bis heute manifest. Das Land weist einen der höchsten Ungleichheitswerte auf.2 Betroffen von der Armut ist höchst einseitig die schwarze Bevölkerungsmehrheit. Insgesamt leben knapp ein Fünftel der rund 50 Mio. Bürgerinnen und Bürger von weniger als 1,25 Dollar am Tag.3 Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung sind vom formalen Sektor der Wirtschaft ausgeschlossen. Zwar weist das Land nur ein moderates Bevölkerungswachstum von jähr­ lich 1,5 Prozent auf, doch die Arbeitslosigkeit ist unter der jungen schwarzen 1 2

3

Wir danken Franza Drechsel für die sorgfältige Datenrecherche und ihre Aufbereitung. Der Einkommens­Gini­Index betrug von 2000 bis 2011 unverändert 57,8. Die hoch problematische soziale Situation wird auch darin deutlich, dass Südafrika auf dem Human Development Index (HDI, 2011) nur Platz 123 von 187 Ländern belegt und damit sehr deutlich schlechter positioniert ist als es von einem Land zu erwarten wäre, welches auf Platz 27 in der Bruttosozialproduktrangliste der Weltbank rangiert. Der HDI des Landes ist seit 1995 ständig rückläufig. United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Report 2011, New York 2011; World Bank, World Development Indicators Database, 9.7.2012, (abgerufen am 20.7.2012).

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Bevölkerungsgruppe extrem hoch. Während die offizielle Arbeitslosenquote wie­ der bei 24 Prozent liegt (2008 lag sie noch bei 22 Prozent),4 soll die Quote bei den 20­ bis 24­Jährigen bei 50 Prozent liegen – wobei Experten von einer wesentlich höheren Dunkelziffer von 40 Prozent Gesamtarbeitslosigkeit ausgehen. In der Wirtschafts­ und Finanzkrise sind etwa eine dreiviertel Million Arbeitsplätze ver­ loren gegangen, was etwa 5 Prozent der Beschäftigten entspricht.5 Die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich seit dem Krisentiefpunkt 2008 mit etwas über 13 Mio. (2011) offiziell Beschäftigten wieder etwas stabilisiert.6 Seit dem Ende der Apartheid versucht die Regierung, Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit durch immer neue Wirtschafts­ und Sozialprogramme zu bekämpfen – allerdings mit geringem Erfolg. Die Wachstumsraten, die von 2001 bis zur Rezession 2009 bei rund 4 Prozent lagen, und die Sozialpolitik seit 1994 reichten nicht aus, um Armut und Arbeitslosigkeit spürbar abzubauen. Gleichwohl ist Südafrika zum „größten Wohlfahrtsstaat der Entwicklungsländer“ geworden.7 2011 erhielt rund ein Drittel der Bevölkerung soziale Beihilfen, 2012 entfallen 58 Prozent des Staatsbudgets auf Sozialausgaben.8 Die Regierung sieht weiteren Nachholbedarf, der im jüngsten Investitionsprogramm vom Februar 2012 deutlich wird.9 Mit der neuen auf „Entwicklung“ ausgerichteten Strategie soll indes nachhaltiges Wirtschaftswachstum durch massive Infrastrukturinvestitionen erreicht werden, anstelle einer sozialkompensatorischen Politik. Dies trägt der Einsicht Rechnung, dass das hohe Niveau der Sozialausgaben – ein Steuerzahler finanziert drei Sozialhilfeempfänger – dauerhaft nicht tragbar ist. Die immensen Ausgaben für Sozial­ und Bildungsausgaben sind mitunter durch Missstände begründet, die wiederum den Erfolg der Investitionsprogramme infrage stellen. In vielen ländlichen und ärmeren Provinzen ist die Kommunalverwaltung ineffizient, weil korrupt und weitgehend überfordert. Die Auswanderung zahlreicher „weißer“ Fachleute hat die Situation in der öffentlichen Verwaltung noch verschärft. Die schlechte Qualifikation der öf­ fentlichen Angestellten spiegelt zudem das unzulängliche Bildungswesen wider. Trotz des hohen Stellenwerts der Bildung, für die die Regierung 2011 etwa ein 4 5 6 7 8

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Finanzminister Pravin Gordhan, 2012 Budget Speech, 22.2.2012, S. 7, (abge­ rufen am 20.7.2012). Nir Klein, Real Wage, Labor Productivity, and Employment Trends in South Africa: A Closer Look, IMF Working Paper, African Department (WP/12/92), April 2012, S. 4. Department of Trade and Industry, South Africa, Annual Report 2010­2011, S. 27; South African Reserve Bank, Quarterly Bulletin, März 2012, S. 16. Tightening the Welfare Belt, in: Africa Confidential, 51 (5.3.2010) 5, S. 3. Vor allem wurden das Gesundheits­ und Bildungswesen, die häusliche Wasserversorgung, sanitäre An­ lagen und die Elektrizitätsversorgung verbessert. Ferner wurden annähernd drei Millionen „low cost houses“ für arme Bevölkerungsgruppen gebaut. Hohe Sozial­ und Gesundheitskosten sind auch für die mehr als 5,7 Millionen HIV/AIDS­infizierten Menschen, mehr als 10 Prozent der Bevölkerung, aufzubringen. Vgl. Pravin Gordhan, 2012 Budget Speech, a.a.O. (Anm. 4), S. 32. Auch im 2010 verabschiedeten „Neuen wirtschaftlichen Wachstumspfad“, der im Kern die Schaffung neuer Arbeitsplätze zum Ziel hat, wird dies erkennbar. Vgl. South African Government Information, The New Growth Path: The Framework, 23.11.2010, (abgerufen am 20.7.2012).

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Fünftel des Staatsetats verwendet hat, fehlt es seit dem Ende der Apartheid an gut ausgebildeten Lehrern. Dem Mangel an Fachkräften in der staatlichen Verwaltung und in der Privatwirtschaft steht die Masse der unqualifizierten Arbeitskräfte gegenüber, die kaum eine Chance auf eine Beschäftigung in der formalen Wirtschaft hat. Die zahlreichen Einwanderer, vor allem aus dem benachbarten Simbabwe – Schätzungen gehen von drei bis fünf Millionen aus – verfügen zwar oft über eine relativ gute Ausbildung, finden aber aufgrund ihres illegalen Status zumeist nur Jobs in der informellen Wirtschaft, in der sie mit den schlechter ausge­ bildeten einheimischen Arbeitskräften konkurrieren, was teilweise xenophobe Reaktionen auslöst. Armut und die damit verbundenen sozialen Konflikte entladen sich in Protesten gegen unzureichende öffentliche Dienstleistungen,10 in Kriminalität, Ausländerfeindlichkeit bis hin zu gelegentlichen pogromartigen Ausschreitungen. Die wilde, teils hoch gewaltsame Streikwelle von August bis Oktober 2012 mit 34 getöteten Streikenden sind deutlicher Ausdruck davon. In der Kombination von weit verbreiteter sozialer Benachteiligung vor allem junger Menschen und radikalpopulistischen Politikern wird die größte politische Gefahr für Südafrika gesehen, die sich zudem an den ethnisch­sozialen Gegensätzen von überwiegend reichen Weißen und armen Schwarzen formieren kann. So konnte der Führer der Jugendorganisation des regierenden African National Congress (ANC), Julius Malema, nur mühsam aus seiner Führungsposition verdrängt werden, nachdem er mit radikalen linkspopulistischen und Gewalt verherrlichenden Parolen die Staats­ und Parteiführung wegen ihrer liberalen Wirtschaftspolitik angegriffen hatte. Staatswirtschaft Ein weiteres Erbe der Apartheid ist der vergleichsweise hohe Teil der staatlich kontrollierten Wirtschaft. In Südafrika dominieren zahlreiche halbstaatliche Monopolunternehmen, etwa bei der Wasser­, Gas­ und Elektrizitätsversorgung (Eskom), im Transportwesen (Transnet), bei der Telekommunikation und im Bergbau. In den 1990er Jahren wurden einige staatlich kontrollierte Unternehmen, vor allem ineffiziente, wenig rentable, privatisiert. Im Gefolge der Krise und mit Blick auf die Beschäftigungspolitik ist die Rolle der Staatsunternehmen in den Mittelpunkt einer kontroversen Debatte ge­ rückt. Die 2009 vom Präsidenten eingesetzte Kommission konnte dazu keinen Konsens herstellen. Die einen plädierten für einen Teilverkauf der Unternehmen, andere wiederum lediglich für eine Restrukturierung der Unternehmen. Vor allem die Gewerkschaften und der linke Flügel des ANC sind gegen weitere Privatisierungen, da sie den Verlust von Arbeitsplätzen und der wohlfahrtsstaatli­ chen Funktion dieser Unternehmen befürchten. In einer eigentümlichen Allianz gesellen sich dazu die neuen schwarzen Bergbauunternehmer, die durch das Black 10 Allein 2008 und 2009 gab es über 2000 öffentliche Demonstrationen dieser Art.

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Economic Empowerment (BEE)­Programm in den Besitz der Unternehmen ge­ kommen sind, aber ihre Schulden kaum bezahlen können und sich deshalb von der Verstaatlichung einen Gewinn versprechen. Die Wirtschafts­ und Finanzkrise 2007/08 traf die südafrikanische Wirtschaft vergleichsweise wenig und nur kurzzeitig. Die Wirtschaft war im vierten Quartal 2008 geschrumpft und im ersten Halbjahr 2009 weiter eingebrochen, aber bereits im dritten Quartal 2009 wieder auf Wachstumskurs eingeschwenkt, der bisher ungebrochen, wenngleich mit unterschiedlich hohen Wachstumsraten, angehalten hat.11 Die vergleichsweise rasche wirtschaftliche Erholung war den wachsenden Exporten12 und der steigenden Binnennachfrage zu verdanken. Denn trotz hoher Inflationsraten13 sind die Reallöhne weiter gestiegen.14 Gleichwohl konnten davon nicht alle profitieren – zumal viele überhaupt keine Arbeit haben. Die Lohnsteigerungen sind ungleich verteilt; während der Massenstreiks des Spätsommers 2012 forderten Arbeiter und Angestellte verschiedener Branchen über 20­prozentige Lohnsteigerungen. Die Krise hat die bestehenden Einkommensdisparitäten zementiert und politischen Handlungsbedarf umso deutlicher gemacht. Internationale Rating­Agenturen haben aufgrund der jüngsten Streikwelle und der zögerlichen Reaktion der Regierung die wirtschaftlichen Aussichten des Landes auf negativ herabgestuft und damit einen Abzug internationaler Investoren, höhere Zinslasten und eine Abwertung des Rand ausgelöst. Politischer Handlungsbedarf Mit ihrer Accelerated and Shared Growth Initiative for South Africa (Asgi­SA) identifizierte die Regierung bereits 2006 mehrere strukturelle Defizite. Neben der Anfälligkeit des Wechselkurses der eigenen Währung (Rand), unzulänglicher Infrastruktur, dem Fehlen von Investitionsgelegenheiten, schwierigen gesetz­ lichen Rahmenbedingungen und Defiziten in der öffentlichen Verwaltung wurde vor allem der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften als Hindernis für die wei­

11 2009 ist die Wirtschaft noch geschrumpft (­1,8 Prozent). 2010 konnte bereits ein Zuwachs von 2,9 Prozent, 2011 von 3,1 Prozent verzeichnet werden, während für 2012 nur noch 2,7 Prozent Wirt­ schaftswachstum erwartet wird. Pravin Gordhan, 2012 Budget Speech, a.a.O. (Anm. 4), S. 6; South African Reserve Bank, a.a.O. (Anm. 6), S. 4. 12 Aufgrund der wiederbelebten Weltwirtschaft, insbesondere Chinas und Indiens Nachfrage nach Berg­ bauprodukten. Economist Intelligence Unit, South Africa Country Report, Juli 2012, S. 9; Depart­ ment of Trade and Industry, a.a.O. (Anm. 6), S. 28. 13 Die Inflationsrate hatte 2008 mit 11,5 Prozent ihren Höhepunkt, um dann auf 4,3 (2010) bzw. 5 Pro­ zent (2011) zu fallen. 14 Der höchste Reallohnzuwachs wurde 2009 mit 8,5 Prozent verzeichnet, fiel aber in den beiden Fol­ gejahren mit 5,1 bzw. 3,4 Prozent deutlich geringer aus. Vgl. Labour Research Service, South Africa, ;

(abgerufen am 20.7.2012).

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tere Entwicklung genannt. Dem sollte mit der Joint Initiative on Priority Skills Aquisition (JIPSA) begegnet werden – bisher mit nur mäßigem Erfolg.15 Mit der 2009 angekündigten und 2010 verabschiedeten wirtschaftspoli­ tischen Strategie des „Neuen wirtschaftlichen Wachstumspfads“ reagierte die Regierung auf die weltwirtschaftliche Rezession und auf die anhaltenden struk­ turellen Entwicklungsprobleme. Mit massiven Investitionen in die Infrastruktur und Qualifizierung von Arbeitskräften sollen bis 2020 fünf Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden.16 Der Plan identifiziert fünf Schlüsselbereiche für die Infrastrukturinvestitionen: Energieversorgung, Transport, Kommunikation, Wasserversorgung und Wohnungsbau. Dabei wird in einzelnen Gebieten wie Green Economy, Landwirtschaft, Bergbau, Tourismus und bei der „Reindustrialisierung“ des verarbeitenden Gewerbes auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Staat und privater Wirtschaft gesetzt. Eine Nationalisierung von Schlüsselindustrien, Banken und Agrarland, wie sie vom linken Flügel des ANC und seiner Jugendorganisation gefordert wird, ist dabei nicht vorgesehen, auch wenn das Thema die öffentliche Diskussion zeitweilig beherrschte. Sowohl die Regierung als auch die nationale Konferenz der Bergarbeitergewerkschaft sprachen sich klar dagegen aus.17 Ganz auf der Linie des neuen Wachstumspfads lagen dann auch die Staatsausgaben in den Jahren seit 2009: Seitdem waren die jährlichen Staatshaushalte überwiegend defizitär.18 Die öffentliche Verschuldung blieb damit noch immer bei moderaten 38 Prozent des Bruttosozialprodukts (2011).19 Somit hat die Regierung noch reichlich Spielraum für eine ausgedehnte Investitionspolitik, wie sie im neuen Wachstumspfad vorgesehen ist. Zumal laut eines Infrastrukturberichts des Kabinetts 2010/11 nur 65 Prozent der Infrastrukturausgaben tatsächlich getätigt worden sind. Wegen gravierender Ineffizienz der Verwaltung hat sich ein massiver Investitionsrückstau gebildet. Auch staatliche Unternehmen blieben mit ihren Investitionen weit hinter der Planung zurück.20 Im Februar 2012 gab die Regierung im Parlament bekannt, über die näch­ sten drei Jahre 850 Mrd. Rand (ca. 112 Mrd. Dollar) in Energiegewinnung, Transport und Telekommunikation zu investieren. Daneben sind weitere 400 15 Office of the Deputy President of South Africa, Accelerated and Shared Growth Initiative for South Africa, Annual Report 2006; Joint Initiative on Priority Skills Acquisition Report on Activities in 2007, April 2008. 16 South African Government Information, The New Growth Path, a.a.O. (Anm. 9), S. 2­5, 8. 17 Allerdings schlägt ein ANC­Bericht, der die stark polarisierte parteiinterne Lagerdiskussion versöhnen soll, eine stärkere staatliche Beteiligung, Gewinnabschöpfung und Regulierung der Bergbaugesell­ schaften vor. Higher Taxes, Less Nationalisation, in: Africa Confidential, 53 (8.6.2012), 12, S. 1­2. 18 2009: ­1,1 Prozent, 2010: ­6,6 Prozent, 2011: ­4,2 Prozent, 2012: ­4,6 Prozent (vorgesehen). 19 Wobei die Auslandsverschuldung mit 111,5 Mrd. Dollar einem Anteil von 27,3 Prozent des Brutto­ sozialprodukts entsprach. South African Reserve Bank, Quarterly Bulletin, Juni 2012, S. 32; Pravin Gordhan, 2012 Budget Speech, a.a.O. (Anm. 4), S. 3; South Africa Government Budget, Trading Economics, (abgerufen am 20.7.2012). 20 How to Buy Growth – for $ 100 Billion, in: Africa Confidential, 53 (16.3.2012) 6, S. 6.

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Südafrika: Historische Lasten

Mrd. Rand (ca. 53 Mrd. Dollar) für den Bau von sechs neuen Atomkraftwerken bis 2030 vorgesehen.21 Damit sollen vor allem die Energieengpässe überwun­ den werden, welche die Industrie immer wieder behindern. In den nächsten zwei Dekaden sollen 30 Prozent der Energie aus grünen Energiequellen (Wind, Solar und Biobrennstoff) gewonnen22 und damit auch die CO2­Emissionen ver­ mindert werden, die durch massiven Einsatz der Kohle zur Energie­, vor allem Elektrizitätsgewinnung entstehen. Mit einem Weltbankkredit von über 1,9 Mrd. Rand finanziert Eskom seit 2011 den Bau einer 100­Megawatt­Solaranlage und eines Windparks gleicher Leistung. Zur Sicherung der Energieversorgung setzt die Regierung auch auf regionale Energieintegration wie etwa im Southern African Power Pool für die Verbesserung der Ausgleichsleitungen sowie für neue saubere Energien einschließlich Gas in Zentral­ und im südlichen Afrika.23 Außenpolitisches Handeln Die Erfahrung, als „Pariastaat“ der Apartheid international isoliert zu sein, bildete die Prämisse für die Reintegration des Landes in die Weltgemeinschaft durch Multilateralismus auf regionaler und globaler Ebene. Trotz tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte ist es der südafrikanischen Regierung seither gelun­ gen, eine facettenreiche außenpolitische Identität und Leitlinie zu formen, in der sich unterschiedliche innergesellschaftliche Interessen wiederfinden. Nach außen wird selbstbewusst eine Süd­Identität vertreten – das Selbstverständnis in der Weltpolitik, eine Brückenrolle zwischen Nord und Süd einzunehmen. Dieser außenpolitische Grundkonsens wird von den maßgeblichen politi­ schen Eliten einschließlich der Gewerkschaften getragen. Im Verbund mit den Unternehmerverbänden geben sie sich bei Verhandlungen über die Ausgestaltung von Freihandelsabkommen bisweilen protektionistisch, halten Menschenrechte hoch24 oder kritisieren Arbeitsplätze vernichtende Billigimporte aus China, stellen aber das Grundprinzip einer weltoffenen liberalen Außenpolitik nicht in Frage.25 Denn die Wirtschaft Südafrikas lebt von ihren Exporten.

21 Ebd., S. 6­7; Atomic Ambitions Race the Clock, in: Mail and Guardian, 4.5.2012, (abgerufen am 20.7.2012). 22 South African Government Information, The New Growth Path, a.a.O. (Anm. 9), S. 3. 23 Ebd., S. 25. 24 Ein Teil der Gewerkschaften setzt sich für Menschenrechte und Demokratie etwa in den Nachbarlän­ dern Simbabwe und Swasiland ein – deutlich entschiedener, als dies die südafrikanische Regierung tut. 25 Gero Erdmann, Verantwortung oder Interesse? Die Rolle Südafrikas in der Region, in: Werner Dist­ ler und Kristina Weissenbach (Hrsg.), Konsolidierungsprojekt Südafrika. 15 Jahre Post­Apartheid, Baden­Baden 2010, S. 216­218, 222; Stefan Mair, Die Stimme Afrikas. Südafrikas Rolle in der in­ ternationalen Politik, in: Werner Distler und Kristina Weissenbach (Hrsg.), Konsolidierungsprojekt Südafrika, s. oben, S. 227­245.

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Außenwirtschafts-, Handels- und Währungspolitik

Nach zwei defizitären Jahren verzeichnete das Land in der Folge, von 2009 bis 2011, wieder einen Handelsbilanzüberschuss.26 Seit dem letzten Quartal 2011 zeichnet sich jedoch erneut ein Handelsdefizit für 2012 ab, das vor allem durch das verlangsamte Wachstum der Euro­Zone, Großbritanniens und Chinas ausge­ löst wurde.27 Zwar ist die EU mit einem Anteil von 29,7 Prozent (2010) noch immer der wichtigste Handelspartner Südafrikas, doch ist China mit 13,4 Prozent längst vor die USA mit 8,4 Prozent gerückt. Mit dem 2011 erfolgten Beitritt zur Gruppe gro­ ßer Schwellenländer, die nunmehr als BRICS­Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) firmieren, wird sich dieser Trend wahrscheinlich fortset­ zen, zumal die fünf Mitgliedstaaten auf ihrem letzten Treffen im März 2012 in Neu­Delhi beschlossen haben, sich über die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus auch finanzpolitisch enger abzustimmen. Eine stärkere Orientierung an den anderen Schwellenländern als Exportmärkte aber auch als ausländische Investitionsquellen ist im neuen Wachstumsprogramm vorgesehen.28 In den vergangenen Jahren hat die Regierung relativ hohe und stabile Devisenreserven in Höhe von 50,7 Mrd. Dollar aufgebaut (März 2012),29 die als Sicherheitspolster gegen weltwirtschaftliche Krisenauswirkungen dienen sollen. Der Rand gilt zwar strukturell als fragile Währung, erholte sich aber nach einer deutlichen Abwertung 2008 in den Folgejahren auf ein relativ starkes Niveau gegenüber dem Dollar und Euro. Da die Exporte trotz des relativ starken Rand offenbar kaum beeinträchtigt wurden, gab es für die Regierung keinen Anlass, die Wechselkurse politisch zu beeinflussen, zumal der Rand seit 2011 erneutem Abwertungsdruck ausgesetzt ist, der auch 2012 und 2013 anhalten und damit die Exportchancen erhöhen könnte. Die Regierung blieb ihren wirtschaftsliberalen Grundprinzipien weitgehend treu. Bereits 2009, als ein Rückgang der Exporte um 20 Prozent erwartet wurde, hatte sich Pretoria gegen jeglichen Protektionismus ausgesprochen.30 Dies liegt ganz im Rahmen der seit dem Ende der Apartheid verfolgten Liberalisierung des Außenhandels. Seit 1995 ist Südafrika Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) und erfüllt alle Vertragsbestimmungen; mit der EU wurde 1999 ein Freihandelsabkommen geschlossen und seit 2007 ist Südafrika strategischer Partner der EU. Zugleich ist das Land Mitglied der Südafrikanischen Freihandelszone, der 26 2009: 2,3 Mrd. Rand, 2010: 27,2 Mrd. Rand und 2011: 16,4 Mrd. Rand. 27 South African Reserve Bank, Quarterly Bulletin, a.a.O. (Anm. 19), S. 26; Department of Trade and Industry, a.a.O. (Anm. 6), S. 28f.; ebd., South Africa, Annual Report 2009­2010, S. 10. 28 South Africa. EU Bilateral Trade and Trade with the World, 21.3.2012, ; South African Government Information, The New Growth Path, a.a.O. (Anm. 9), S. 7, 24. 29 South African Reserve Bank, Quarterly Bulletin a.a.O. (Anm. 19), S. 33. 30 Finanzminister Pravin Gordhan zitiert in: Gordhan: Protectionism a Risk to Global Growth, in: Mail and Guardian, 26.11.2009, .

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Southern African Development Community (SADC), und verfolgt dort aktiv die Zollunion. Allerdings weigerte sich Südafrika, zusammen mit den anderen SADC­ Mitgliedern ein Economic Partnership Agreement mit der EU abzuschließen, da das eigene Freihandelsabkommen mit der EU für Südafrika vorteilhafter ist. Sicherheitspolitik

Als stärkste Wirtschafts­ und Militärmacht auf dem afrikanischen Kontinent ist Südafrika keiner unmittelbaren sicherheitspolitischen Bedrohung ausgesetzt.31 Trotz der wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit betreibt das Land seit dem Ende der Apartheid keine klassische Hegemonialpolitik. Vielmehr versucht es, einer Zivilmacht sehr ähnlich, seine Interessen mit Soft Power zu verfol­ gen und durchzusetzen.32 Die Regierung zeigt dabei einen ausgeprägt koopera­ tiven Stil im Umgang mit anderen Staaten. Letzteres wird unter anderem in der BRICS­Mitgliedschaft deutlich sowie in der Rolle als nichtständiges Mitglied des UN­Sicherheitsrats, in den das Land in den vergangenen fünf Jahren zwei Mal gewählt wurde. In der Kontinentalpolitik ist Südafrika eine treibende Kraft. Es trug 2002 ent­ scheidend zur Umwandlung der Organisation of African Unity (OAU) in die African Union (AU) bei. So spielte Pretoria auch eine maßgebliche Rolle bei der Konzeption der New Partnership for Africa’s Development (NEPAD), dem 2001 verabschiedeten Entwicklungsprogramm der AU. Damit sollten vor allem die so­ zioökonomische und demokratische Entwicklung auf dem Kontinent gefördert und die Zusammenarbeit mit den Industrieländern effektiver gestaltet werden. Dabei konnten neue politische Schwerpunkte gesetzt werden, die bis dahin un­ ter afrikanischen Regierungen weitgehend sakrosankt waren: Menschenrechte, Demokratie und gute Regierungsführung als Ziele der AU und NEPAD. Ferner hat Südafrika an der Ausgestaltung des African Peer Review Mechanism (APRM), durch den auf freiwilliger Basis Entwicklungsfortschritte in Politik und Wirtschaft kontrolliert werden sollen, sowie der Sicherheitsarchitektur der AU mitgewirkt. Entsprechend seinem Führungsanspruch investiert das Land erhebliche Mittel: Zum einen versuchte die Regierung in den meisten Krisen auf dem Kontinent als Friedensvermittler zu agieren – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Südafrika stellt dafür auch regelmäßig Truppenkontingente für Friedensmissionen und teil­ weise große finanzielle Mittel bereit. Südafrikanische Truppen und Beobachter sind seit Ende der 1990er Jahre an Friedensmissionen in der Demokratischen Republik Kongo (seit 1999), in Eritrea/Äthiopien (seit 2000), Burundi (seit 31 Einzig mit Simbabwe hat Südafrika einen unruhigen Nachbarn. Die Flüchtlinge aus Simbabwe kon­ kurrieren zum größten Teil auf dem südafrikanischen Arbeitsmarkt mit den einheimischen Arbeits­ kräften. 32 Gero Erdmann, Verantwortung oder Interesse?, a.a.O. (Anm. 25), S. 207­226; Stefan Mair, Die Stim­ me Afrikas, a.a.O. (Anm. 25), S. 227­245; Gero Erdmann, Südafrika: Regionaler Hegemon, Mittel­ oder Zivilmacht?, in: Jörg Husar, Günther Maihold und Stefan Mair (Hrsg.), Neue Führungsmächte: Partner deutscher Außenpolitik?, Baden­Baden, S. 99­121.

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2004) und im Sudan (seit 2005) beteiligt; insgesamt waren es im Spitzenjahr 2006 rund 3400 Einsatzkräfte, inzwischen sind es unter 3000. Allerdings stößt die Bereitschaft zur weiteren Truppenentsendung inzwischen auf Grenzen, da ein nicht unbeträchtlicher Teil der Truppen aufgrund von HIV/AIDS­Infektionen als nicht mehr voll einsatzfähig gilt.33 Südafrika ist auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass das unverrück­ bare Souveränitätsprinzip der OAU, das jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaats verboten hatte, durch Artikel 4 (h) der AU­Charta eingeschränkt wurde. Demzufolge kann die AU bei schwerwie­ genden Menschenrechtsverletzungen in einem der Mitgliedsländer humanitäre Interventionen veranlassen. Ferner trägt Südafrika maßgeblich zur Finanzierung der AU und des Pan­ African Parliament bei, das seinen Sitz im südafrikanischen Midrand hat. Seit we­ nigen Jahren tritt Südafrika auch verstärkt als Entwicklungshilfegeber auf. Es stellt als eines der wenigen Länder mit regelmäßigen Beitragszahlungen sicher, dass die AU und ihre Organe ihre Operationsfähigkeit halbwegs bewahren können. Nicht nur wurde Südafrikas Außenministerin 2004 zur Vorsitzenden des neu gegrün­ deten Peace and Security Council (PSC) der AU gewählt,34 sondern im Juli 2012 auch die südafrikanische Innenministerin, Nkosazana Dlamini Zuma, nach einem Kampfabstimmungsmarathon zur neuen Chefin der AU­Kommission. Ohne in­ tensive Zusammenarbeit mit anderen einflussreichen Staaten auf dem Kontinent, etwa Nigeria und Äthiopien, wären diese Erfolge kaum möglich gewesen. Manche Beobachter sprechen deshalb von einer gezügelten „kooperativen Hegemonie“.35 Auch bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen zeichnet sich die Tendenz ab, dass Südafrika eher mit anderen Mächten aus dem Süden, insbesonde­ re mit den BRIC­Staaten, als mit den USA und Europa abstimmt. Vor dem Hintergrund, dass sich Südafrika als Stimme Afrikas und als ein Teil des Südens versteht, fällt das außenpolitische Handeln immer häufiger ambivalent aus. Gegenüber der Regierung von Myanmar setzte sich die südafrikanische Regierung für Menschenrechte und Demokratisierung ein. Pretoria stimmte 2007 wiederum gegen eine UN­Resolution, die das Militärregime verurteilen sollte, verlangte aber später die Freilassung von politischen Häftlingen. Besonders auffällig war im Falle Libyens 2011, dass sich Südafrika im Gegensatz zu den BRIC­Staaten für das Flugverbot der UN­Resolution 1973 (die Grundlage für den NATO­Einsatz, nicht aber für eine ausländische Besetzung) stimmte. Dies geschah ausdrücklich mit der Hoffnung, damit die Zivilbevölkerung zu retten. Später kritisierte die Regierung jedoch, dass die NATO ihren Einsatz für ihre eigenen Interessen aus­ nutze und damit die Mediationsbemühungen der AU verhindere. Ferner wies die Regierung darauf hin, dass das „Fehlverhalten“ der NATO Auswirkungen auf 33 Gero Erdmann, Verantwortung oder Interesse?, a.a.O. (Anm. 25), S. 220. 34 Ebd., S. 219­220; Stefan Mair, Die Stimme Afrikas, a.a.O. (Anm. 25). 35 Daniel Flemes, Regional Power South Africa: Co­operative Hegemony Constrained by Historical Le­ gacy, in: Journal of Contemporary African Studies, 27 (2009) 2, S. 137­157.

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Südafrika: Historische Lasten

Südafrikas Abstimmungen im Falle Syrien nach sich ziehen werde. Entsprechend enthielt sich Südafrika zusammen mit Brasilien und Indien einer Verurteilung Syriens und der Androhung von Sanktionen im Oktober 2011, wobei Russland und China ihr Veto bemühten. Den Sanktionen gegen den Iran hatte Südafrika 2008 zugestimmt, diese Zustimmung jedoch nachträglich mit der „Unkenntnis“ der UN­Regeln begründet und verlauten lassen, dass es den Sanktionen nicht mehr zustimmen würde. Entsprechend betonte die Regierung immer wieder die guten Beziehungen zum iranischen Regime. Im Hintergrund scheint, neben der Süd­Süd­Solidarität, unter anderem das Interesse an iranischem Öl zu stehen. Energieaußenpolitik

Im Hinblick auf die Sicherung der Ölversorgung scheint sich gegenüber den Ölproduzenten eine freundlichere Politik abzuzeichnen, vor allem gegenüber dem Iran und Angola. Südafrikanische Firmen haben in die Ölwirtschaft beider Länder investiert. Der Iran ist Südafrikas wichtigster Öllieferant und Südafrikas zweitgrößtes Industrieunternehmen, South African Synthetic Oil Limited (Sasol) mit rund 33 000 Beschäftigten weltweit, hält 50 Prozent der Anteile am iranischen Arya Sasol. Aufgrund der politischen Verhältnisse im autoritär regierten Angola waren die beiden Vorgängerregierungen Nelson Mandelas und Thabo Mbekis politisch auf Distanz, die jedoch mit Jacob Zumas Präsidentschaft geschwunden ist. Sowohl in Angola als auch in der Republik Kongo scheint Zumas Familie Geschäftsinteressen im Ölsektor zu haben.36

36 Foreign Policy Flip­flops, in: Africa Confidential, 52 (5.8.2011), 16, S. 6f.

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Südkorea: Krise als Gelegenheit für neue globale Ausrichtung Hanns Günther Hilpert In den vergangenen 15 Jahren musste die Republik Korea (RK) gleich zwei große ökonomische Finanzkrisen durchstehen, die Asien­Krise (1997/98) und die globale Finanzmarktkrise (2008/09). Beide Male stand eine Liquiditätskrise am Ausgangspunkt eines drastischen Rückgangs der gesamtwirtschaftlichen Produktion, fallender Haushalts­ und Unternehmenseinkommen und daraus re­ sultierenden sozialpolitischen Verwerfungen. Beide Male erholte sich die korea­ nische Volkswirtschaft aber auch erstaunlich schnell. Finanzkrise 2.0 Trotz dieser Gemeinsamkeiten überwiegen jedoch die Unterschiede bei Ursachen, Verlauf und Konsequenzen:1 Während 1997 die koreanischen Unternehmen und Banken stark überschuldet waren, präsentierte sich das Wirtschafts­ und Finanzsystem 2008 in einer robusten Verfassung. Während die spekulativen Attacken auf den Won 1997 aktiv die Verwundbarkeit Südkoreas ausnutzten, waren die Liquiditätsabflüsse 2008 vor allem ein Reflex der Kapitalschmelze auf den westlichen Finanzmärkten. Tatsächlich war Südkorea im Herbst 2008 nur für eine kurze kritische Phase auf externe Unterstützung befreundeter Zentralbanken angewiesen. Interventionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren nicht erforderlich. Im Dezember 1997 hingegen musste Südkorea bei dem IWF einen Beistandskredit in Höhe von 58 Mrd. Dollar beantragen, die zu diesem Zeitpunkt größte jemals vom IWF bewilligte Finanzhilfe. Der wirtschaftliche Einbruch, den Südkorea 1998 durchstehen musste, war tief und einschneidend. Über 10 000 Unternehmen meldeten Konkurs an, darunter Daewoo, die dritt­ 1

Für einen Vergleich der Finanzkrisen 1997/98 und 2008/09: Werner Pascha, South Korea’s Economic Policy Response to the Global Financial Crisis, in: Rüdiger Frank et al. (Hrsg.), Korea 2010: Politics, Economy and Society, Korea Yearbook Bd. 4, Leiden 2010, S. 159­161; OECD (Hrsg.), OECD Economic Surveys. Korea Volume 2010/12, Paris 2010, S. 44­47.

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Südkorea: Krise als Gelegenheit für neue globale Ausrichtung

größte Unternehmensgruppe des Landes. Die Wirtschaftsleistung sank um fast 7 Prozent und die Arbeitslosigkeit stieg auf 6,8 Prozent. Südkoreas Aufstieg zu einem modernen Industrieland wurde zurückgeworfen. Das Land musste poli­ tisch einen schmerzhaften Verlust an Prestige und Renommee hinnehmen. Legt man gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten als Maßstab zugrunde, mei­ sterte kein anderes OECD­Land die globale Wirtschafts­ und Finanzmarktkrise 2008/09 so gut wie Südkorea. Wirtschaft und Politik Südkoreas nutzten die auf die Krise folgende Anpassungsphase, um ihre internationale Position zu stärken. Als gleichberechtigter Teilnehmer der G20­Kooperation, als neues Mitglied des OECD­Ausschusses für Entwicklungshilfe und als Gastgeber zahlreicher hoch­ rangiger internationaler Konferenzen hat sich die RK als neuer einflussreicher Akteur der internationalen Politik gut etabliert. Südkoreas außergewöhnliche Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als sie sich vor dem Hintergrund spezifischer politischer und ökonomischer Beschränkungen und Verwundbarkeiten vollzieht. Für das Verständnis der (künftigen) Außenpolitik der RK ist die Kenntnis dieser inneren und äußeren Einflussfaktoren wesentlich. Die Geografie: Eine Garnele zwischen Walfischen2 Die zentrale geografische Lage Koreas im Herzen Nordostasiens birgt seit jeher Risiken für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der koreanischen Nation. Schon immer wurde in den Nachbarländern China und Japan die koreanische Halbinsel aufgrund ihrer exponierten Lage als potenzielle militärische Bedrohung gesehen. Zwangsläufig hatten und haben China und Japan ein Interesse an einem ihnen gegenüber freundlich gesonnenen oder gar politisch abhängigen Korea. Umgekehrt wurde und ist für das vergleichsweise kleinere Korea, das wie „eine Garnele zwischen Walfischen“ zwischen größeren und mächtigeren Nachbarländern eingezwängt ist, die Behauptung von Unabhängigkeit und eige­ ner Identität die entscheidende nationale Aufgabe. Der Eintritt der Sowjetunion/ Russlands und der USA in den nordostasiatischen Schauplatz hat Koreas Befürchtungen, zum Spielball in der Auseinandersetzung zwischen Großmächten zu werden, nicht vermindert. Im Gegenteil: Die auf die Kolonialisierung Koreas durch Japan (1905­45) folgende Teilung des Landes 1945 und der Korea­Krieg (1950­53) sind Belege dafür, dass die Ängste, zu einem hilflosen Objekt der Machtpolitik ferner Supermächte zu werden, nicht unbegründet sind. Koreas Teilung: Militärische, ökonomische und soziale Risiken Auch mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bestehen die machtpolitischen und ideologischen Gegensätze auf der koreanischen Halbinsel unvermindert fort. Für Südkorea selbst hat sich die Bedrohungslage gar verschärft, 2

Ausführlich hierzu: Hanns Günther Hilpert, Südkoreas außenpolitische Dilemmata, SWP­Studie Nr. 6/2007, Berlin 2007, S. 7­9.

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da die Demokratische Volksrepublik (Nord­)Korea (DVRK) Erstschlagfähigkeiten mit Massenvernichtungswaffen entwickelt hat und über Nuklearwaffen verfügt, der mäßigende Einfluss der Sowjetunion aber weggefallen ist. Zwar hat sich in den 1990er Jahren das innerkoreanische militärische Gleichgewicht zugunsten des Südens verschoben. Aber die DVRK hat an Handlungsautonomie gewonnen und zugleich an Berechenbarkeit eingebüßt. Aufgrund ihrer Nuklearrüstung ist die DVRK nicht nur ein regionales, sondern nun­ mehr auch ein globales Sicherheitsproblem. Für Südkorea haben vor allem die kon­ ventionellen Risiken zugenommen. An der Demarkationslinie am 38. Breitengrad befindet sich die weltweit größte militärische Streitkräftekonzentration. Die im Norden stationierten Artilleriewaffen und Raketenwerfer können ohne Vorwarnung das nur 40 Kilometer südlich gelegene Seoul erreichen und dort gewaltige Zerstörungen und Schäden anrichten. Auf welch brüchigem Eis Frieden und Stabilität in Nordostasien stehen, haben die Versenkung der Fregatte Cheonan und der Beschuss der exponierten Insel Yeonpyeong durch nordkorea­ nische Artillerie im Jahr 2010 gezeigt. Dabei ist Südkorea neben der militärischen Bedrohung mit den ökono­ misch­sozialen Risiken eines nordkoreanischen Zusammenbruchs konfrontiert. Angesichts der wirtschaftlich maroden Lage im Norden, einer Nord­Süd­ Bevölkerungsrelation von 1:2 und einer Pro­Kopf­Einkommensrelation von etwa 1:20 käme eine Wiedervereinigung Südkorea heute sehr viel teurer als im Jahre 1990 Westdeutschland. Aber der Süden ist weder auf Flüchtlingsströme vor­ bereitet noch verfügt er über das Kapital für die erforderlichen Investitionen in Infrastruktur, Altlastenbeseitigung, Kapitalstock und Humankapital im Norden. Ostasiens unvollkommene Friedens- und Sicherheitsordnung Seit Ende des Vietnam­Kriegs vor 40 Jahren ist Ostasien von größeren kriege­ rischen Auseinandersetzungen verschont geblieben; Frieden und Stabilität sind in der Region aber weit weniger gesichert als in Europa. Es existiert weder ein stabiles Mächtegleichgewicht, wie zu Zeiten der globalen Bipolarität, noch eine durch Friedensverträge und multilaterale Sicherheitsregime abgestützte regionale Friedensordnung. Zwar gewährt Amerikas weitverzweigtes System bilateraler Bündnisse und Verträge eine verlässliche strategische Stabilität im asiatisch­pa­ zifischen Raum. Aber ohne Einbindung Chinas bleibt das gegenwärtige System einer Pax Americana unvollkommen. Dieser Mangel in der asiatisch­pazifischen Friedensordnung wird angesichts des fortschreitenden machtpolitischen Aufstiegs Chinas zusehends problematisch. Unter den vorliegenden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ist für Südkorea die Militärallianz mit den USA maßgeblicher und zugleich kosten­ günstiger Garant für territoriale Integrität, äußere Sicherheit und außenpoli­ tischen Einfluss.3 Nur mit Amerikas politischer und gegebenenfalls militärischer 3

Ausführlich zur militärischen Allianz zwischen Südkorea und den USA: ebd., S. 17­25.

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Südkorea: Krise als Gelegenheit für neue globale Ausrichtung

Unterstützung ist eine wirksame Abschreckung gegen die wenig ausrechenbaren Bedrohungen der DVRK möglich. Erst der bilaterale Sicherheitsvertrag verleiht Seoul politisches Gewicht gegenüber Peking. Dennoch ist für den Juniorpartner die bilaterale Allianz auch Anlass zur Sorge. Die 60 Jahre alte Allianz hat Südkorea gelehrt, dass sich das Verhältnis zu den USA auch einmal eintrüben kann. So existiert ein grundsätzlicher Argwohn, in unge­ wollte Konflikte gegen Nordkorea oder China verwickelt zu werden, oder umge­ kehrt bei wesentlichen nationalen Fragen, etwa die Wiedervereinigung betreffend, nicht einbezogen zu werden oder gar in Konflikten im Stich gelassen zu werden. Innenpolitische Polarisierung Die Nordpolitik Südkoreas und das Verhältnis zu Amerika sind auch ein bestim­ mender Teil innenpolitischer Auseinandersetzungen. Während das liberal­pro­ gressive Lager Verständigung, Aussöhnung und Zusammenarbeit mit Nordkorea propagiert und gegenüber einer konfrontativen Antiproliferationspolitik der USA auf Distanz geht, setzt die konservative Seite gegenüber Nordkorea auf das Prinzip der Konditionalität und sucht den engen Schulterschluss mit Amerika. Infolge der harten innenpolitischen Auseinandersetzungen während der drei zu­ rückliegenden Präsidentschaften ist der einstige nationale Konsens in der Außen­ und Sicherheitspolitik des Landes verlorengegangen. Präsidentschaftswechsel markieren daher immer auch Brüche in der Außenpolitik Südkoreas. Aber auch bei inneren Angelegenheiten gibt es historisch gewachsene Gegen­ sätze. Während die regionalen Gegensätze zwischen dem Südosten und dem Südwesten des Landes historisch weit zurückreichen, sind die gesellschaftlich­po­ litischen Konflikte zwischen konservativen Modernisierern (posu) und progres­ siven Reformern (chinbo) Südkoreas erst um die Jahrtausendwende entstanden. In der Tendenz pflegen die Konservativen ein traditionelles Verständnis von Familie und Gesellschaft und befürworten die liberale, marktwirtschaftliche Steuerung des Wirtschaftsgeschehens. Die progressive Agenda hingegen zielt auf die Stärkung von partizipatorischen Demokratieformen und Arbeitnehmerrechten, die Verringerung der ökonomisch­sozialen Ungleichheit und auf eine Aufarbeitung der früheren antikommunistischen Entwicklungsdiktatur. Besonders heftig sind die Konflikte zwischen Jung und Alt und zwischen libe­ ralen und autoritär­konservativen Auffassungen. Doch diese Konflikte beruhen zu einem wesentlichen Teil auf sozialen und wirtschaftlichen Interessensgegensätzen. Außenwirtschaftliche Abhängigkeiten Südkorea ist ein junges Industrieland, das 2011 mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1116 Mrd. Dollar auf Rang 15 der weltgrößten Volkswirtschaften ran­ gierte und dessen Einkommensniveau in etwa dem Durchschnitt der EU entsprach.4 4

Angaben und Berechnungen auf Basis von IWF­Statistiken.

Hanns Günther Hilpert 237

Bemerkenswert sind der hohe Anteil des Außenhandels am BIP (2011: 97 Prozent) und die ausgeprägte industrielle Spezialisierung (Fahrzeugbau, Informations­ und Kommunikationstechnik, Stahlerzeugung, Anlagen­ und Schiffsbau). Die tiefe real­ und finanzwirtschaftliche Integration Südkoreas in die globa­ lisierte Weltwirtschaft hat Wachstum und Wohlstand Südkoreas mitbegründet, aber auch beträchtliche Dependenzrisiken geschaffen. Auf welch brüchigem Fundament der Wohlstand des Landes ruht, und wie sehr die eigene Existenz von volatilen weltwirtschaftlichen Entwicklungen abhängig ist, hatten zuletzt die wirt­ schaftlichen und sozialen Verwerfungen der Asien­Krise (1997/98) in drastischer Weise gezeigt. In einer globalisierten Weltwirtschaft ist das im Vergleich zu den USA, EU, China und Japan relativ kleine Südkorea gleich mit mehreren volkswirt­ schaftlichen und Risiken konfrontiert: Erstens: Bei einer hohen gesamtwirtschaftlichen Exportquote (2011: 50 Prozent) und einer Spezialisierung auf ein verhältnismäßig enges konjunktursensibles Produktportfolio sind Südkoreas inländische Produktion und Wachstum in hohem Maße von der weltwirtschaftlichen Konjunkturentwicklung abhängig. Jeder Abschwung auf ausländischen Absatzmärkten belastet unmittelbar die Konjunktur Südkoreas, insbesondere wenn die wichtigen Handelspartner EU, USA und China betroffen sind. Aus den gleichen Gründen ist Südkorea gegen­ über protektionistischen Marktabschottungen leicht verwundbar. Zweitens: Ohne nennenswerte eigene Energie­ und Rohstoffquellen ist Süd­ korea von den Importen aus Übersee abhängig. Ein Lieferausfall oder eine Unterbrechung der Handelswege könnte sehr rasch die heimische Industrie­ produktion lahmlegen. Drittens: Neben den vielfältigen Kreditverflechtungen mit dem Ausland begründen die umfangreichen Portfolio­ und Direktinvestitionen in den at­ traktiven koreanischen Markt eine hohe Verwundbarkeit bei finanzwirtschaft­ lichen Vertrauenskrisen. Sehr rasch können internationale Liquiditätsengpässe Kapitalflucht oder ein Austrocknen der heimischen Kreditmärkte nach sich ziehen. Viertens: Da Südkoreas Außenwirtschafts­ und Kapitalverkehr weitgehend auf Dollar­Basis abgewickelt werden, ist das Land ständig Währungsrisiken ausgesetzt, sowohl in Relation zum Dollar als auch zum japanischen Yen. Sehr rasch können sich über den Wechselkurs – je nach Richtungsverlauf – Wettbewerbsprobleme oder Inflationsdruck aufbauen. Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Finanzmarktkrise5 Als Weltfinanzsystem und Weltwirtschaft nach der Insolvenz der Lehman Investmentbank im Herbst 2008 in die größte Krise seit der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre stürzten, wog man sich in Südkorea gleichwohl in trügerischer 5

Ausführlich zur koreanischen Finanz­ und Wirtschaftspolitik in den Jahren 2008 bis 2010: Werner Pascha, South Korea’s Economic Policy Response, a.a.O. (Anm.1), S. 135­164; OECD (Hrsg.), OECD Economic Surveys. Korea, a.a.O. (Anm. 1), S. 45­93.

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Sicherheit. Denn zehn Jahre nach den traumatischen Erfahrungen der Asien­ Krise standen die Finanzmärkte Südkoreas unter strenger, neutraler Regulierung. Anders als viele amerikanische und europäische Banken hatte der koreanische Bankensektor kaum in toxische Finanzprodukte investiert. Die Banken und Unternehmen Südkoreas galten als solide finanziert. Gegen spekulative Attacken sah sich die Bank von Korea mit Devisenreserven in Höhe von ca. 200 Mrd. Dollar gut gewappnet. Dennoch wurde Südkorea von der globalen Finanzmarktkrise zunächst so hart getroffen wie nur wenige andere Industrieländer. Nur einen Monat nach der Lehman­Insolvenz hatte der KOSPI­Aktienindex fast ein Drittel seines Wertes verloren, der Won gegenüber dem Dollar um etwa ein Viertel abgewertet. Realwirtschaftlich sank die Wertschöpfung Südkoreas im vierten Quartal 2008 um 17 Prozent (auf das Gesamtjahr hochgerechnet). Südkoreas Exporte fielen von November 2008 bis April 2009 um durchschnittlich ein Drittel gegenüber dem Vorjahr. Nach anfänglicher Schockstarre zeigten sich die politisch Verantwortlichen aber äußerst entschlossen, einen Absturz wie 1997/98 zu vermeiden. Dabei sollte sich das auf den Staatspräsidenten und eine mächtige Exekutive zugeschnittene politische System als vorteilhaft erweisen. Mit präsidentieller Unterstützung und bei klaren parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen war es leicht möglich, die getroffenen Maßnahmen rasch und effektiv umzusetzen. Dringlich war zunächst eine finanzpolitische Stabilisierung. Daher intervenierte die Bank von Korea zur Überwindung der Liquiditätskrise und zur Dämpfung des Währungsverfalls massiv auf dem Devisenmarkt. Unterstützung erhielt Korea dabei durch kurzfristige Swap­Kredite der Zentralbanken Japans und Chinas (auf der Grundlage regionaler Kooperationsverträge) und der US­Zentralbank (als kurzfristige Beistandsgarantie) in Höhe von jeweils 30 Mrd. Dollar. Die heimischen Banken erhielten staatliche Garantien für ihre Auslandsschulden sowie Mittel in Höhe von 50 Mrd. Dollar für kurzfristige Außenhandelskredite. Während die Finanzpolitik den Liquiditätsabstrom ins Ausland so gut es ging ein­ dämmte, schlug die Geldpolitik einen stark expansiven Kurs ein. Die Bank von Korea senkte den Leitzins in mehreren Schritten von 5,25 auf 2,0 Prozent und flutete die Märkte mit Liquidität. Zusätzlich wurden zur Rekapitalisierung ange­ schlagener Banken umfangreiche Mittel bereitgestellt. In der Fiskalpolitik setzte die Regierung auf eine klassische keynesianische Ausgabenexpansion. So wurde im November 2008 ein beeindruckendes Konjunkturpaket angekündigt, dessen fiskalischer Gesamtimpuls bezogen auf das BIP mit 6,1 Prozent so hoch ausfiel wie in keinem anderen OECD­Land. Inhaltlich umfassten die Maßnahmen Steuersenkungen bei der Einkommens­ und der Körperschaftssteuer, Transferleistungen an Haushalte mit niedrigen Einkommen und an Selbstständige, verschiedene Beschäftigungshilfen und ein umfangreiches ökologisches Maßnahmenpaket. Das „Green New Deal“ genann­ te Paket fördert so unterschiedliche Bereiche wie Energieeffizienz, Transport und Mobilität, Wassermanagement, Flusssanierung, Aufforstung und Recycling

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in einer Höhe von 38 Mrd. Dollar. Mit den Maßnahmen bediente die Regierung sowohl die Interessen der mächtigen Baulobby als auch die politisch opportune Vision eines grünen Koreas. Ohnehin ist der Green New Deal zum großen Teil die praktische Umsetzung der langfristig ausgerichteten grünen Wachstumsstrategie Südkoreas (2009–2013). Neue grüne Technologien und Industrien sollen das Wachstum antreiben. Die Verbesserung der Energieeffizienz und die Reduzierung des CO2­Verbrauchs sollen zur Quelle von Innovation und Wachstum werden.6 Mit dem Schwerpunkt auf grüne Investitionsbereiche setzte Südkorea auch in­ ternational ein Signal und trug zur eigenen außenpolitischen Profilbildung bei. Für die Binnenwirtschaft Südkoreas erwiesen sich insbesondere die kurzfristigen Beschäftigungseffekte als bedeutsam. Zur Umsetzung der Maßnahmen wurden insgesamt 900 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Die massive geld­ und fiskalpolitische Stimulierung ist nicht ohne Wirkung geblieben. Trotz des krisenbedingt abrupten Nachfrageausfalls konnten das Hochschnellen von Unternehmensinsolvenzen, Bankenschieflagen und Arbeitslosigkeit vermieden werden – anders als noch während der Asien­Krise 1997/98. Dank der fiskalischen Mehrausgaben und der kräftig steigenden Exporte begannen schon ab dem zweiten Quartal 2009 die Bruttoanlageinvestitionen wieder anzusteigen, sodass über das Gesamtjahr 2009 sogar ein kleines gesamt­ wirtschaftliches Wachstumsplus verzeichnet werden konnte. 2010 schnellte das Wirtschaftswachstum dann auf die Rekordrate von 6,3 Prozent hoch. Begünstigt vom niedrigen Won­Wechselkurs und der räumlichen Nähe konnte Südkoreas Exportwirtschaft mehr als jedes andere Industrieland vom Nachfragesog aus China profitieren.7 Gemessen an makroökonomischen Leistungswerten (Wirtschaftswachstum, Binnennachfrage, Beschäftigung) war Südkoreas Finanz­ und Wirtschaftspolitik zweifellos ein großer Erfolg. Kein anderes OECD­Land konnte so rasch die Krise überwinden und so gestärkt aus ihr hervorgehen. Dabei ist die Staatsverschuldung nur unwesentlich (um 2 Prozentpunkte auf 39 Prozent des BIP) angestiegen und über den Green New Deal konnten erste Weichen für den notwendigen ökolo­ gischen Umbau der koreanischen Wirtschaft gestellt werden. Kritisch zu sehen ist allerdings, dass sich die strukturellen Defizite im Zuge der Krise zugespitzt haben. Zahlreiche Arbeitnehmer befinden sich in prekären Beschäftigungs­ und Arbeitsverhältnissen und die Ungleichheit in der Einkommens­ und Vermögensverteilung hat weiter zugenommen. Die Produktivität im koreanischen Mittelstand und Dienstleistungssektor bleibt nach wie vor unzureichend. Die für Rezessionsphasen typische strukturelle Bereinigung hat dieses Mal wegen der freigiebigen Staatshilfen aber nicht stattgefunden. 6 7

Vgl. United Nations Environment Programme (UNEP) (Hrsg.), Overview of the Republic of Korea’s National Strategy for Green Growth, Genf 2010. Zu Koreas wachsender Exportabhängigkeit von China vgl. Kang Du­yong, Lee Sang­ho und Hwang Sun­oong, Korea’s Post­crisis Economic Reliance on China and Policy Suggestions, in: Korea Focus, Dezember 2010, S. 106­115.

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Ungeachtet dieser ungelösten strukturellen Probleme hat die rasche, kraftvolle Bewältigung der Finanzmarktkrise Wirtschaft und Politik Südkoreas nachhaltig gestärkt. Südkoreanische Unternehmen haben ihren Anteil am Weltexport ausge­ baut (2008: 2,6 Prozent; 2011: 3,1 Prozent). Insbesondere Industrieunternehmen aus den Bereichen Informationstechnik, Fahrzeugbau und Anlagenbau konnten ihre internationale Marktstellung verbessern. Darüber hinaus haben koreanische Musik­, Film­ und Medienprodukte („Korean Wave“) in Asien an Popularität ge­ wonnen. Südkoreas ökonomischer Aufstieg während der Finanzmarktkrise bildete eine solide Grundlage für den Zuwachs an so genannter Soft Power, an internati­ onalem Einfluss und an globaler Sichtbarkeit. Außen- und sicherheitspolitischer Richtungswechsel In der RK ist der Staatspräsident maßgeblich für die Außen­ und Sicherheitspolitik verantwortlich (Artikel 73 der Verfassung). Auch wenn der Außen­ und Wirtschaftsminister sowie der für die Beziehung zu Nordkorea zuständige Wiedervereinigungsminister eine hervorgehobene Rolle im Kabinett einnehmen, ist die Außenpolitik eine Domäne des Staatspräsidenten. Dies gilt umso mehr bei klaren Macht­ und Mehrheitsverhältnissen. Insofern verfügte der im Dezember 2007 gewählte Präsident Lee Myung­bak nach den gewonnenen Parlamentswahlen vom Juni 2008 in seiner Amtszeit (2008­2012) über eine eindeutige Entscheidungs­ und Handlungskompetenz. Kraft dieser Kompetenzen initiierte er nach zehn Jahren demokratischer Regierungsführung unter den Präsidenten Kim Dae­jung und Roh Moo­hyun einen konservativen Richtungswechsel in zentralen Bereichen der Außen­ und Sicherheitspolitik:8 Erstens: Lees Priorität galt der Wiederherstellung eines einvernehmlichen Verhältnisses zu dem Bündnispartner USA. Logischerweise führte Lees erste Auslandsreise im April 2008 nach Washington, wo er mit US­Präsident George W. Bush eine strategische Allianz für das 21. Jahrhundert ausrief. Bushs Nachfolger, Barack Obama, bestätigte im Juni 2009 anlässlich des ersten Präsidententreffens formell das militärische Beistandsversprechen gegenüber der RK. Beide Seiten versicherten sich in einer Joint Vision for the Alliance ihrer strategischen Interessensidentität und installierten ein 2+2­Format für regelmä­ ßige Konsultationen der Außen­ und Verteidigungsminister. Mit gemeinsamen Militärmanövern demonstrierten beide Seiten mehrfach ihre Einigkeit, ihre über­ legenen Fähigkeiten und ihren Verteidigungswillen. Der Termin der Übertragung des militärischen Oberkommandos (von den USA auf Südkorea) der gemein­ samen Streitkräfte wurde einvernehmlich auf das Jahr 2015 verschoben. 8

Zur außen­ und sicherheitspolitischen Strategie der Präsidentschaft Lee Myung­bak: Cheong Wa Dae, Office of the President, the Republic of Korea (Hrsg.), Global Korea: The National Security of the Republic of Korea, Seoul 2008; zum Richtungswechsel in der südkoreanischen Außenpolitik vgl. Hanns Günther Hilpert, Die prekäre Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel, SWP­Aktuell Nr. 14/2011, S. 4.

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Zweitens: Im Zentrum der Nordkorea­Politik der RK stand nicht mehr das politische Streben nach Versöhnung, Zusammenarbeit und Verständigung auf der koreanischen Halbinsel, sondern die Forderung nach nuklearer Abrüstung. Die von Kim Dae­jung eingeführte Maßgabe, humanitäre Fragen und wirtschaft­ liche Zusammenarbeit von der Sicherheitspolitik zu entkoppeln, wurde fallen­ gelassen. An ihre Stelle traten die Prinzipien der Konditionalität und Reziprozität. Mit wirtschaftlichen und politischen Anreizen sollte Pyöngyang zur Aufgabe des Nuklearprogramms und zur wirtschaftlichen Öffnung bewegt werden. Als Nordkorea auf den südkoreanischen Politikwechsel aber konfrontativ reagierte, eskalierten die innerkoreanischen Beziehungen. Anstelle der Sonnenscheinpolitik war eine neue Eiszeit getreten. Drittens: Der außenpolitische Schwerpunkt war nicht mehr die koreanische Halbinsel, sondern die internationale Ebene. Die im Juni 2008 verkündete na­ tionale Sicherheitsstrategie setzte explizit das Ziel, internationale Sichtbarkeit, Anerkennung und Einfluss auszuweiten. Konsequent ergriff die koreanische Diplomatie globale Initiativen in so unterschiedlichen Politikfeldern wie Sicherheit, Entwicklung, Außenwirtschaft, regionale Integration, Umwelt und Klima. Dabei erwiesen sich die Rahmenbedingungen für den globalen Perspektivwechsel als aus­ gesprochen günstig. Denn zum einen hatte die globale Finanzmarktkrise eine po­ litische Aufwertung der großen und wichtigen Schwellenländer mit sich gebracht. Seit dem G20­Gipfel von Washington im November 2008 ist die G20, nicht mehr die G7 das maßgebliche politische Kooperations­ und Koordinierungsforum für Fragen der internationalen Finanz­ und Wirtschaftspolitik. In dieser Phase der politischen Neuorientierung traf die Globalstrategie der RK auf ein aufnahmebe­ reites Umfeld. Während viele traditionelle Industrieländer finanziell angeschlagen waren und ihr internationales Engagement herunterfuhren, war die koreanische Bereitschaft, wachsende Beiträge zur internationalen Lastenteilung zu leisten, höchst willkommen. Und zum anderen hatte die RK durch die Erneuerung und Stärkung ihrer bilateralen Allianz mit Amerika an außenpolitischer Flexibilität und Handlungsfähigkeit gewonnen. Bei grundsätzlichem Einvernehmen mit den USA wurde die Außenpolitik der RK frei, eine eigenständige Identität zu entwickeln. Internationalisierung der Sicherheitspolitik Südkoreas Bereitschaft, die eigenen globalen Ambitionen auch gegen die Interessen und Empfindlichkeiten Nordkoreas zu priorisieren, ist nirgendwo so deutlich sichtbar wie in der Sicherheitspolitik. Auf die Akte militärischer Aggression der DVRK reagierte die RK mit diplomatischen Internationalisierungsinitiativen. Sowohl nach den nordkoreanischen Nuklear­ und Raketentests (im Mai 2009) als auch nach dem Artilleriebeschuss der südkoreanischen Insel Yeonpyeong (im Dezember 2010) drängte die RK auf eine möglichst harte Verurteilung der DVRK im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) und forderte internati­ onale Sanktionen. Nach dem Untergang der Fregatte Cheonan im März 2010 setzte die Regierung eine internationale Untersuchungskommission ein, die

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tatsächlich einen nordkoreanischen Torpedoeinschlag feststellte. Mittels dieser Internationalisierungsinitiativen gelang es zwar gut, den politischen Druck auf Nordkorea zu erhöhen. Aber sowohl China als auch Russland verweigerten sich der von Seoul verfolgten Politik einer Isolierung der DVRK. Im Mai 2009 trat die RK der Proliferation Security Initiative (PSI) bei, unge­ achtet der nordkoreanischen Vorbehalte und Drohungen. Die DVRK hatte vorab erklärt, dass sie den Beitritt der RK oder gar die Durchsuchung nordkoreanischer Schiffe durch die südkoreanische Marine als Kriegserklärung auffasse. Die PSI ist eine internationale Kooperation von inzwischen 98 Staaten zur Verhinderung der Lieferung und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die insbeson­ dere nordkoreanische Proliferation zu unterbinden sucht. Ende März 2012 richtete die RK den zweiten internationalen Gipfel zur nuklearen Sicherheit aus, ein Follow­up des auf Initiative von US­Präsident Obama einberufenen Gründungsgipfels in Washington 2010. In Seoul kamen 58 Staatsoberhäupter, Regierungschefs und andere hochrangige Vertreter von Ländern und internationalen Organisationen zusammen, um über Maßnahmen zur Reduzierung des waffenfähigen Plutoniums, zum Schutz nuklearer Anlagen und Materialien und zur Verhinderung des illegalen Handels zu beraten. Da die DVRK für den folgenden Monat April 2012 Raketentests, in Bruch der UN­ Sicherheitsratsresolution 1874 vom 12. Juni 2009, angekündigt hatte, standen in Seoul die Diskussionen um Nordkoreas Nuklearpolitik im Mittelpunkt. Auch militärisch hat Südkorea internationale Verantwortung übernommen. Schon in Vietnam (1964–1973) und im Irak (2003–2008) hatten südkoreanische Truppen gekämpft, und auch die Beteiligung der RK an friedenserhaltenden Maßnahmen der UN hat Tradition. So wurde die zivile Unterstützung der Afghanistan­Mission, die 2007 nach der Entführung von 27 südkoreanischen Geiseln ausgesetzt worden war, 2008 wieder aufgenommen. An das Horn von Afrika entsandte Südkorea eine Fregatte zur Pirateriebekämpfung. Die Mehrzahl der derzeit unter UN­Befehl stehenden 760 Koreaner sind im Libanon (UNIFIL) und in Haiti (MINUSTAH) stationiert. Neu ist der Begründungszusammenhang von Südkoreas Auslandseinsätzen. Nicht mehr das Abtragen von „Schulden“ aufgrund der internationalen Unterstützung im Korea­Krieg steht im Mittelpunkt. Betont werden vielmehr die außenwirtschaftlichen Interessen Südkoreas an globaler Sicherheit und das Streben, durch effektive konkrete Eigenbeiträge als verantwortlicher und kompe­ tenter Sicherheitsakteur wahrgenommen zu werden.9 Außenpolitik im Dienste der Außenwirtschaft Seit den Erfahrungen der Asien­Krise spielt die wirtschaftliche Sicherheit eine mindestens ebenso große Rolle wie die militärische Sicherheit. Als institutionelle 9

Vgl. Philipp Olbrich und David Shim, Südkorea als globaler Akteur: Internationale Beiträge in Entwicklung und Sicherheit, in: GIGA Focus Nr. 1/2012, S. 4­5.

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Konsequenz der sozialen und ökonomischen Verwerfungen der Jahre 1997/98 wurden die Ministerien für Äußeres und Handel zusammengelegt. Sowohl die Absicherung gegen finanzwirtschaftliche Risiken als auch die Förderung der Außenwirtschaft wurden zu einem wichtigen außenpolitischen Schwerpunkt im 21. Jahrhundert. Südkorea, obwohl ein Spätstarter im internationalen handelspolitischen Bilateralismus­Wettlauf, nimmt hier inzwischen eine Spitzenposition ein. Präsident Lee, der als früherer Vorstandsvorsitzender der Hyundai Construction der korea­ nischen Wirtschaft nahesteht, hat unter dem Eindruck der globalen Finanzmarkt­ krise die außenwirtschaftliche Schwerpunktsetzung nochmals verstärkt. In seiner Amtszeit wurden die Verhandlungen für Freihandelsabkommen mit der EU (2009), Indien (2009), Peru (2011), Kolumbien (2012) und der Türkei (2012) ab­ geschlossen. Auch das auf beiden Seiten kontroverse Freihandelsabkommen mit den USA (KORUS FTA) konnte nach Neuverhandlungen in den umstrittenen Bereichen Auto und Rindfleisch abgeschlossen und ratifiziert werden. Sogar mit China haben im Mai 2012 die Verhandlungen begonnen. Es ist auch Lees Initiative zu verdanken, dass sich die Außenpolitik verstär­ kt der nationalen Versorgung mit Energie und Rohstoffen zugewandt hat. Die Kapitalausstattung der staatlichen Rohstoffkonzerne KORES und KNOC wur­ den substanziell erhöht, sodass sie in die Lage versetzt wurden, auf internationa­ len Märkten stärker zu expandieren. Unterstützend wirkte eine auf energie­ und rohstoffreiche Entwicklungs­ und Schwellenländer ausgerichtete Entwicklungspolitik. Diese soll einen privilegierten Zugang zu ausländischen Energie­ und Rohstoffquellen schaffen und den Boden für südkoreanische Unternehmen bereiten. Neues Entwicklungshilfegeberland Entwicklungshilfe ist das Politikfeld, in dem die außenpolitische „Global Korea“­Strategie am konsequentesten umgesetzt wurde.10 Die staatlichen Mittelaufwendungen wurden von 700 Mio. Dollar (2007) auf 1200 Mio. Dollar (2010) substanziell erhöht. Die RK wurde 2009 in den Ausschuss für Entwicklungshilfe (DAC) der OECD, in dem die Industrieländer ihre Hilfen ko­ ordinieren, aufgenommen. Aus dem einstigen Entwicklungshilfeempfängerland ist ein Geberland geworden. Zwar hat die Entwicklungshilfe der RK mit einem Anteil von 0,12 Prozent der Entwicklungshilfeaufwendungen am BIP (2010), den vergleichsweise geringen Anteilen von Schenkungen, von ungebundenen und multilateralen Hilfen und einer Konzentration auf außenwirtschaftlich interessante Partnerländer noch lan­ ge nicht das OECD­Niveau erreicht. Aber Südkorea hat durch das glaubwürdige Versprechen, die Hilfen bis 2015 auf einen Anteil von 0,25 Prozent am BIP zu 10 Vgl. ebd., S. 2­4; Sung­hoon Park, Quest for a Stronger Regional Leadership and an Upgraded Global Profile. Korea’s Opportunity in the Crisis, in: Asia Europe Journal Nr. 9/2011, S. 229­234.

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steigern, und durch sein diplomatisches Engagement in der Entwicklungspolitik Respekt gewonnen. Themen, die von der RK auf die internationale Agenda gesetzt wurden, sind die Rolle der Exportförderung in der Entwicklung, die Frage der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe und die Verwundbarkeit der Entwicklungsländer durch Finanzkrisen. Gegenüber den Empfängerländern empfiehlt sich Südkorea durch das eigene Beispiel einer raschen Transformation vom bettelarmen Entwicklungsland zum modernen Industrieland und von einer Militärdiktatur zur Demokratie. Neben dem allgemeinen Ziel, durch entwicklungspolitische Profilierung Reputation auf­ zubauen, verfolgt Südkorea auch außenwirtschaftliche Interessen. Anschub für trilaterale Kooperation in Nordostasien Auch im regionalen Kontext strebt die Lee­Administration nach mehr Einfluss und größerer Sichtbarkeit. Dabei wird gegenüber den Partnerländern Ostasiens gerne auf die Identität Koreas verwiesen als Brückenbauer und Vermittler zwi­ schen Entwicklungs­ und Industrieländern, zwischen Nordost­ und Südostasien, zwischen Japan und China. Tatsächlich haben sich die Beziehungen Südkoreas zu Südostasien im 21. Jahrhundert ökonomisch, kulturell und politisch enorm verdichtet.11 Dabei dominiert gegenüber den einzelnen Ländern Südostasiens das außenwirtschaft­ liche Interesse Südkoreas, sichtbar etwa in der Han­River­Declaration der Außenminister Südkoreas und der fünf Mekong­Anrainerstaaten Kambodscha, Laos, Myanmar, Thailand und Vietnam vom Oktober 2012. Gegenüber der ASEAN­Gemeinschaft hingegen besteht eher ein Verhältnis regionaler Rivalität. Während ASEAN bei wachsenden internen Gegensätzen seiner angestammten integrationspolitischen Führungsrolle immer weniger ge­ recht werden kann, versucht die RK, mit eigenen Initiativen im ostasiatischen Regionalismus eine größere Rolle zu spielen, und profiliert sich als Vertreter asi­ atischer Interessen auf der globalen Ebene. Beispielsweise geht der Auftrag der ASEAN+3­Staaten an eine Expertengruppe, der East Asian Vision Group II, konzeptionelle Überlegungen zur Zukunft der ostasiatischen Integration anzustel­ len, auf einen entsprechenden Vorschlag der RK zurück.12 Im Regionalismus Nordostasiens nimmt Südkorea eine Schlüsselposition ein. Zwar bilden die drei Volkswirtschaften China, Japan und Südkorea neben Europa und Nordamerika den dritten großen Weltwirtschaftsraum. Angesichts der histo­ rischen und politischen Gegensätze scheint es aber schon größerer Finanzkrisen zu bedürfen, um die drei Akteure erkennen zu lassen, welche regionalen Potenziale für finanzpolitische Schutzmechanismen oder außenwirtschaftliche Integrationsgewinne existieren. So kam es erst 1999 zu einem ersten informellen 11 Vgl. David J. Steinberg (Hrsg.), Korea’s Changing Roles in Southeast Asia: Expanding Influence and Relations, Singapore: ISEAS 2010. 12 Vgl. Sung­hoon Park, Quest for a Stronger Regional Leadership, a.a.O. (Anm. 10), S. 232.

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Treffen der drei Regierungschefs am Rande eines ASEAN+3­Gipfels. Erst im Dezember 2008 in Fukuoka fand ein erstes nordostasiatisches Gipfeltreffen au­ ßerhalb des ASEAN+3­Kontexts statt. Nachdem die beiden ersten Jahre der regi­ onalen Kooperation zwischen China, Japan und Südkorea vor allem der finanzpo­ litischen Krisenbewältigung und dem diplomatischen Vertrauensaufbau gewidmet waren, nahm auf dem dritten Gipfel 2010 in Jeju unter Vorsitz von Präsident Lee Myung­bak die trilaterale Kooperation Fahrt auf. Verabschiedet wurde die „Vision 2020“ einer trilateralen intergouvernementalen Zusammenarbeit auf der Ebene der Staats­ und Regierungschefs, der Minister und Staatssekretäre. Ein ständiges Sekretariat mit Sitz in Seoul koordiniert die Zusammenarbeit auf so unter­ schiedlichen Feldern wie Katastrophenschutz, Umwelt­ und Klimaschutz sowie Kulturbeziehungen. Langfristig soll in Nordostasien ein gemeinsamer Markt ent­ stehen. Bereits im Juni 2012 wurde ein trilaterales Investitionsschutzabkommen vereinbart. Die Verhandlungen für ein trilaterales Freihandelsabkommen sollen aufgenommen werden. Fazit und Perspektiven Die globale Finanzmarktkrise hat die Koordinaten der südkoreanischen Außenpolitik nicht verändert. Sie bot aber eine Chance, die neue globale Ausrichtung in die Tat umzusetzen. Wie kein anderes OECD­Land ging Südkorea ökonomisch und politisch gestärkt aus der Finanzmarktkrise hervor. Bei gleich­ zeitig wieder exzellenten Beziehungen zum Bündnispartner USA war Südkorea in der Lage, sich in den Politikbereichen Sicherheit, Entwicklung, Regionalismus, Außenwirtschaft und Umwelt international als entscheidungs­ und handlungsfä­ higer Akteur zu profilieren. In der neuen Konstellation ist Südkorea aber auch mit neuen Problemen und Risiken konfrontiert: Erstens ist die außenwirtschaftliche Abhängigkeit vom großen Nachbarn China enorm gewachsen. Damit ist Südkorea nicht nur neuen konjunkturellen Risiken ausgesetzt, sondern auch verstärkt durch chine­ sischen außenpolitischen Druck verwundbar. Zweitens sind parallel zur globalen Prioritätssetzung die Spannungen zum Nachbarn im Norden gestiegen. Nach dem Führungswechsel zu dem jungen, unerprobten Kim Jong­un haben die sicherheitspolitischen Ungewissheiten auf der koreanischen Halbinsel weiter zugenommen. Angesichts der insgesamt prekären außen­ und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ist es eher unwahrscheinlich, dass das Tor der globalen außenpolitischen Profilierung Südkoreas dauerhaft geöffnet bleibt. Selbst wenn nach den Präsidentschaftswahlen in den USA und Südkorea Ende 2012 das außer­ gewöhnlich einvernehmliche Verhältnis der Allianzpartner intakt bleiben sollte, werden die vielen ungelösten Probleme und Konflikte in den Beziehungen zu Nordkorea, China, Russland und Japan Südkoreas Außenpolitik wieder zu einer stärkeren Konzentration auf die Nachbarregion nötigen.

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Türkei: Aufsteiger am Rande Europas Heinz Kramer Die Türkei ist im vergangenen Jahrzehnt zu einem viel beachteten und ernst zu nehmenden außenpolitischen Akteur in ihrer Region und darüber hinaus gewor­ den. Diese Entwicklung beruht neben den seit der Jahrtausendwende eingetre­ tenen Veränderungen im internationalen System vor allem auf drei nationalen Faktoren: Erstens vollzog die seit 2002 regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) einen außenpolitischen Paradigmenwechsel, mit dem sie das Land auf der internationalen Bühne neu positionierte. Dabei konnte sie sich zweitens auf eine anhaltende innenpolitische Stabilität stützen, die aus der Dominanz der AKP in der türkischen Parteienlandschaft resultierte. Ein wei­ terer wesentlicher Grund für den politischen Erfolg war drittens die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Türkei nach 2001. Die gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts einsetzenden internationalen und europäischen Finanz­ und Wirtschaftskrisen konnten diese Entwicklung der Türkei zu einem wirtschaftlich und politisch interessanten Schwellenland und G20­Mitglied nicht wesentlich behindern. Die neue AKP-Außenpolitik Mit dem Regierungsantritt der AKP im November 2002 kam auch eine neue außenpolitische Doktrin zum Tragen: „strategische Tiefe“. Dieses Konzept war vom damaligen Professor für Internationale Politik Ahmet Davutog˘lu in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entwickelt worden.1 Davutog˘ lu wurde nach dem AKP­Sieg außenpolitischer Chefberater des Ministerpräsidenten. In dieser Funktion übernahm er immer häufiger auch operative Aufgaben und wurde dann im Mai 2009 zum türkischen Außenminister ernannt. 1

Davutoğlu hat seine Doktrin in einem nahezu 600 Seiten starken Werk mit dem Titel „Stratejik De­ rinlik. Türkiye’nin Uluslararası Konumu“ (Strategische Tiefe. Die internationale Position der Türkei) im Jahre 2001 veröffentlicht (Istanbul: Küre Yayınları). Einen Überblick der wesentlichen Punkte gibt Gérard Groc, Une nouvelle diplomatie turque. Présentation critique de la doctrine Davutoğlu à partir de son livre, Profondeur stratégique, et de quelques autres textes. Paris, Dezember 2011.

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Davutog˘ lus Doktrin stellt einen Bruch mit der bisherigen außenpolitischen Leitlinie dar. Er sieht die Türkei nach dem Ende des bipolaren Systems in ei­ ner internationalen Schlüsselrolle, die weit über ihre bisherige Position als „Außenposten des Westens“ hinausgeht.2 Geostrategisch besetzt sie eine der Schlüssellagen, die den Ausgang des eurasischen „Herzlands“ in den maritimen Bereich der Weltpolitik kontrollieren. Neben dieser geopolitischen Konstante kommt eine weitere Konstante jeder Außenpolitik zum Tragen: das geschichtlich­ kulturelle Erbe. Geografie und Geschichte sind die beiden wesentlichen Elemente der „strategischen Tiefe“ des Landes. Die neue „Schlüsselrolle“ verlangt heute von der Türkei und befähigt sie dazu, eine multipolare Außenpolitik zu betreiben, die nicht mehr allein auf die Westbindung des Landes und die damit verbundenen Interessen fixiert ist. Die Türkei ist ein „zentrales Land“ in der Mitte der weiten afro­eura­ sischen Landmasse mit einer multiplen Identität als gleichzeitig „mittelöstliches, Balkan­, Kaukasus­, zentralasiatisches, kaspisches, mittelmeerisches, Golf­ und Schwarzmeerland.“3 In dieser Sicht haben die Beziehungen zum Westen und zu Europa nach wie vor eine strategische Bedeutung, doch können sie keine absolute Priorität mehr verlangen und erhalten. Die Türkei „soll nicht mehr von irgendei­ nem Akteur abhängig sein und soll aktiv nach Wegen suchen, ihre Beziehungen und Allianzen im Gleichgewicht zu halten, sodass sie optimale Unabhängigkeit und Handlungsspielraum auf globaler und regionaler Ebene behaupten kann“.4 Als praktisch­politische Konsequenz folgt aus dieser Weltsicht eine Außenpolitik, mit der die Türkei danach strebt, regional und global aktiv zu Ordnung, Sicherheit und Frieden beizutragen. Das ist nur möglich, wenn in der Türkei ein Gleichgewicht zwischen Demokratie und Sicherheit herrscht; wenn in den Beziehungen zu den Nachbarn durch die aktive Nutzung türkischer Soft­ Power­Elemente nach einem dauerhaften Ausgleich der Interessen und einer Bereinigung bestehender Konflikte gesucht wird, damit diese Beziehungen von „null Problemen“ belastet werden; wenn die Türkei aktiv an der Gestaltung ih­ rer Beziehungen zu den benachbarten Regionen und darüber hinaus arbeitet; wenn sie dabei eine multidimensionale Außenpolitik betreibt und wenn sie sich dabei auch aktiv der Möglichkeiten bedient, die die Teilnahme an internationalen und multinationalen Institutionen und Foren bietet. Diese Prinzipien sind kei­ ne starren Leitlinien, sondern müssen, entsprechend der jeweiligen politischen Konstellation, flexibel gehandhabt werden.5 2 3 4 5

Vgl. auch Ahmet Davutoğlu, The Clash of Interests: an Explanation of the World (Dis)Order, in: Perceptions, 2 (1998) 4, S. 92­121. Ahmet Davutoğlu, Turkey’s Foreign Policy Vision: an Assessment of 2007, in: Insight Turkey, 10 (2008) 1, S. 77­96, hier S. 79. Englischsprachige Zitate wurden durchgängig vom Autor übersetzt. Joshua Walker, Introduction: The Sources of Turkish Grand Strategy – „Strategic Depth“ and „Zero Problems“ in Context, in: LSE IDEAS, Turkey’s Global Strategy, London 2010, S. 6­12, hier S. 10, (abgerufen am 24.7.2012). Ahmet Davutoğlu, Principles of Turkish Foreign Policy, Address by H.E. Foreign Minister of Republic of Turkey Ahmet Davutoğlu, Washington, DC, 8.12.2009, S. 2f. (abgerufen am 24.7.2012).

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Türkei: Aufsteiger am Rande Europas

In der westlichen Rezeption des Davutog˘luschen Konzepts ist daraus eine Überbetonung des Prinzips der „Null­Probleme­mit­Nachbarn“ geworden, die der Komplexität seines Ansatzes kaum gerecht wird. Ahmet Davutog˘lu ist ein au­ ßenpolitischer „Visionär“ mit einem ausgeprägten Sinn für Realpolitik. Doch wird man seinem außenpolitischen Handeln ohne Berücksichtigung seiner „Vision“ nur unvollkommen gerecht. Ausgehend von dieser konzeptionellen Basis hat die Türkei seit 2002 eine Außenpolitik betrieben, die ihre Stellung in der Region und auf der internationalen Bühne, aber auch ihr Verhältnis zu ihren westlichen Alliierten und ihren früheren „Feinden“ deutlich verändert hat. Sie hat sich unter anderem (mit mäßigem Erfolg) als vermittelnde Kraft in verschiedene regionale Konflikte eingeschaltet (Israel­ Syrien, Libanon, Sunniten­Schiiten im Irak, Palästina­Israel oder Fatah­Hamas in Palästina); hat ihr Verhältnis zu Syrien und anderen arabischen Staaten der Region grundlegend verbessert, bis hin zur Einrichtung von visafreiem Reiseverkehr und der vertraglichen Grundierung ausgedehnter Wirtschaftsbeziehungen; hat ihre Beziehungen zum Iran „normalisiert“ und sich im Konflikt um die iranische Atomanreicherung um einen Ausgleich zwischen Teheran und dem Westen be­ müht; hat die früher von einem tiefen Misstrauen geprägten Beziehungen zu Russland in ein „strategisches Verhältnis“ mit einem deutlichen Schwerpunkt bei den Wirtschaftsbeziehungen umgewandelt; hat sich (bis jetzt vergeblich) um einen Ausgleich mit Armenien bemüht und die Beziehungen zu den anderen Kaukasusstaaten ausgebaut; hat sich im Westbalkan als insbesondere von den Albanern, Mazedoniern und den Bosniaken geschätzter regionaler Akteur etabliert, der sich um gute Beziehungen auch zu Serbien und um Dialog und Vermittlung unter den Staaten des Westbalkans bemüht; hat sich nicht zuletzt auch mit Erfolg um eine Verbesserung ihres internationalen Status durch die Mitgliedschaft in der G20, einen temporären Sitz im UN­Sicherheitsrat und eine aktivere Rolle in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit sowie eine Ko­Führungsrolle in der UN­gesponsorten „Allianz der Zivilisationen“ bemüht. Daneben arbeitet Ankara daran, sich durch den Ausbau der bilateralen Beziehungen zu China, Indien und Brasilien einen Platz im Kreis der „emerging powers“ zu schaffen.6 Negativ schlägt unter anderem zu Buch, dass ihre neue Nah­/Mittelost­Politik zu einer tiefen Entfremdung von Israel geführt hat, die auch das Verhältnis zu den USA beeinträchtigt. Außerdem sind, nicht zuletzt aufgrund europä­ ischer Vorbehalte, die Beziehungen zur EU mit den seit Oktober 2005 lau­ fenden Beitrittsverhandlungen in eine Sackgasse geraten. Zudem zwingen die laufenden fundamentalen Veränderungsprozesse in der arabischen Welt die 6

Vgl. für Einzelheiten Ahmet Evin et al., Getting to Zero. Turkey, Its Neighbors and the West, Wa­ shington, DC 2010 (Transatlantic Academy of the German Marshall Fund of the United States), (ab­ gerufen am 24.7.2012); Heinz Kramer, The AKP’s „New“ Foreign Policy Between Vision and Pragma­ tism, Berlin, 2010 (Stiftung Wissenschaft und Politik, Working Paper, FG2, 2010/01), (abgerufen am 24.7.2012).

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Türkei zu einer Readjustierung ihrer regionalen Außenpolitik und haben zu einer Verschlechterung in den Beziehungen zum Iran und zu einem Bruch mit dem syrischen Regime geführt. Politische Voraussetzungen Der unbestrittene Erfolg der neuen türkischen Außenpolitik geht aber nicht nur auf Davutog˘lus „grand strategy“ zurück. Er ist auch Ergebnis einer klugen realpolitischen Reaktion auf die Veränderungen im internationalen System seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Ebenso einflussreich sind aber auch fundamentale innenpolitische und innergesellschaftliche Veränderungen in der Türkei während der AKP­Regierungszeit. Seit November 2002 wird die Türkei mit absoluter Mehrheit im Parlament von der AKP regiert, die die letzten drei Wahlen mit wachsender Zustimmung ge­ wann.7 Die dadurch ausgelöste politische Kontinuität ging einher mit einem fast totalen Machtverlust der bisherigen kemalistischen politischen, staatlichen und ge­ sellschaftlichen Eliten. Sie wurden durch dem Spektrum des türkischen Islam ent­ stammende Gruppen aus der AKP­Basis abgelöst, die häufig zentralanatolischen Ursprungs sind und eine konservativ­traditionelle Weltanschauung pflegen.8 Am spektakulärsten kommt dieser Elitenwechsel in der Zurückdrängung der politi­ schen Machtposition des Militärs zum Ausdruck.9 Doch auch die Wirtschaftselite wird heute nicht mehr ausschließlich von der im Raum Istanbul konzentrierten Großindustrie repräsentiert: „Islamische Calvinisten“ mit zentralanatolischen Wurzeln und ihre Organisationen spielen eine wesentliche Rolle.10 Alle die­ se Gruppen stehen wegen ihrer weltanschaulichen Grundorientierung einer Außenpolitik, die die absolute Westbindung zugunsten einer multidimensionalen Politik lockert und dabei zugleich dem osmanischen kulturell­historischen Erbe der Republik wieder zur Geltung verhilft, positiv gegenüber. Die AKP konnte ihre neue Außenpolitik aber nicht zuletzt auch deshalb etablieren, weil sie sich in der Anfangsphase ihrer Regierungszeit durch eine entschiedene EU­orientierte Reformpolitik das Wohlwollen weiter Kreise des großstädtischen Mittelstands und der etablierten Wirtschaftseliten sicherte. Sie unternahm enorme Anstrengungen, um die Voraussetzungen für den Beginn von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. In neun umfangreichen Gesetzespaketen sowie einer weit reichenden Änderung des Strafrechts setzte sie bis Ende 2004 7

Im November 2002 erhielt die AKP 34,4 Prozent der Stimmen, bei den Wahlen 2007 waren es 46,6 Prozent und im Juni 2011 bekam sie 49,9 Prozent. 8 Vgl. Ali Carkoğlu und Ersin Kalaycıoğlu, The Rising Tide of Conservatism in Turkey, Basingstoke 2009. 9 Vgl. für Einzelheiten: Ahmet T. Kuru, The Rise and Fall of Military Tutelage in Turkey: Fears of Isla­ mism, Kurdism, and Communism, in: Insight Turkey, 14 (2012) 2, S. 37­57. 10 Vgl. Europäische Stabilitätsinitiative (ESI), Islamische Calvinisten. Umbruch und Konserva­ tismus in Zentralanatolien, Berlin/Istanbul 2005, (abgerufen am 24.7.2012).

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die in den Kopenhagener Kriterien von 1993 definierten Vorgaben der EU zu einem großen Teil um.11 Damit wurde eine deutliche Annäherung der politischen und gesellschaftlichen Rechtslage der Türkei an EU­Verhältnisse bewirkt. Diese umfangreiche Europäisierung brachte dem Land ein Ausmaß an rechtlicher Liberalisierung und Demokratisierung, wie sie die primär kemalistisch geprägten Vorgängerregierungen in zwei Jahrzehnten nicht zustandegebracht hatten.12 Obwohl es nach wie vor gravierende Mängel in der türkischen Demokratie gibt, trug die „Europäisierungspolitik“ erheblich zur Konsolidierung der AKP­ Herrschaft bei. Darüber hinaus steigerte sie zusammen mit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 das Ansehen der Türkei und ihrer Führung in den Ländern der nah­ und mittelöstlichen Nachbarschaft: Die Türkei wurde als Land gesehen, das den Nachweis erbrachte, dass Europa­Orientierung und Demokratisierung auch in einem islamischen Staat möglich sind. Wirtschaftliche Grundlage Stabilität und Kontinuität ihrer Herrschaft, und damit auch der neuen Außenpolitik, verdankte die AKP aber vor allem dem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, der ab 2002 einsetzte. Davon profitierte die gesamte Bevölkerung, deren Wohlstand zwar recht ungleich verteilt ist (Gini­Koeffizient: 0,415), die aber den­ noch aufgrund des eingangs erwähnten Wirtschaftsaufschwungs insgesamt heute weitaus besser dasteht als vor einem Jahrzehnt. Vor allem die junge Generation, die die deutliche Mehrheit der Bevölkerung ausmacht (über die Hälfte der Bevölkerung von ca. 75 Millionen Menschen ist jünger als 30 Jahre), sieht an­ gesichts der guten Wirtschaftsentwicklung positive Perspektiven für die eigene Zukunft. Das ersparte der Türkei bisher größere soziale Unruhen. Daran ändert auch die hohe Rate der Jugendarbeitslosigkeit nichts, die in der Altersgruppe der 15­ bis 24­Jährigen im Jahr 2010 immerhin bei 25,9 Prozent lag. Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit in der Türkei nach der Krise von 2008/09 jedoch wieder spürbar zurückgegangen und 2011 wieder unter die 10­Prozent­Marke gefallen.13 Eine Ausnahme bildet der kurdische Teil der Bevölkerung. Aufgrund der politi­ schen Benachteiligung und des seit 30 Jahren andauernden „Krieges“ des Staates gegen alle Vertreter eines kurdischen Nationalismus sind Kurden, auch wegen der dadurch bewirkten schlechteren Bildungslage, in ihrer Mehrheit wirtschaftlich be­ nachteiligt. Das gilt auch für jene Kurden, die infolge der unhaltbaren Zustände im Südosten in die reichen Provinzen der Westtürkei migriert sind. Immer wieder aufflammende, teils gewaltsame kurze Auseinandersetzungen zwischen Kurden 11 Vgl. Ergün Özbudun, Democratization Reforms in Turkey 1993–2004, Istanbul 2004. 12 Vgl. Ioannis Grigoriadis, Trials of Europeanization: Turkish Political Culture and the European Union, Basingstoke 2009; Çiğdem Nas und Yonca Özer, Turkey and the EU: Processes of Europeanisation, Aldershot 2012. 13 Vgl. G20, Short­term Employment and Labour Market Outlook and Key Challenges in G20 Coun­ tries, Genf/Paris, September 2011, (abgerufen am 24.7.2012).

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und Türken in den Großstädten haben neben den politischen Ursachen deshalb auch immer eine soziale Komponente. Das ungelöste Kurdenproblem bildet die größte Gefahr für die längerfristige innenpolitische Stabilität der Türkei. Neben der relativ guten weltwirtschaftlichen Entwicklung in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts war die auf Strukturreformen und Stabilisierung der öffentli­ chen Haushalte gerichtete Wirtschaftspolitik der AKP­Regierungen eine wichtige Ursache für die überdurchschnittlich gute Wirtschaftsentwicklung der Türkei. Sie hielt damit an den vom IWF gemachten Vorgaben zur nachhaltigen Bekämpfung der Krise von 2001 fest.14 Dies fiel ihr umso leichter, als dadurch die internatio­ nalen Finanzmärkte kein Hindernis sahen, den erheblichen Bedarf an externen Kapitalzuflüssen bereitzustellen, sodass Wirtschaftsaufschwung und öffentliche Konsolidierung Hand in Hand gehen konnten. Dies machte sich auch in den entsprechenden Kennziffern bemerkbar. Die Wirtschaft wuchs seit 2002 im Durchschnitt jährlich über 4 Prozent, sodass das Land heute die 17.­größte Volkswirtschaft der Erde repräsentiert. Das Bruttosozialprodukt stieg zwischen 2002 und 2011 von 572 auf 1116 Mrd. Dollar. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf verdreifachte sich in diesem Zeitraum, auf 10 067 Dollar (2010, in laufenden Preisen). Wachstum und Pro­Kopf­Einkommen gingen zwar während der interna­ tionalen Finanzkrise 2008/09 stark zurück (BIP 2009 um 4,7 Prozent; BIP/ Kopf 2008 um 0,5 Prozent, 2009 um 5,8 Prozent), doch erholte es sich danach, vor allem infolge einer starken Binnennachfrage, überdurchschnitt­ lich gut (BIP 2010 um 8,9 Prozent, 2011 um 8,5 Prozent). Die Inflation der Verbraucherpreise ging in der letzten Dekade von hohen zweistelligen Ziffern auf eine Größenordnung von um die 10 Prozent zurück. Dies trug zu relativ stabilen Preiserwartungen der Verbraucher bei und war vor allem nach der internationa­ len Finanzkrise das Ergebnis einer unorthodoxen Politik der Zentralbank.15 Die Konsolidierungsbemühungen der Regierung schlugen sich auch in einem zurück­ gehenden Anteil der Binnenverschuldung am Bruttosozialprodukt nieder. Lag dieser 2001 noch bei ca. 50 Prozent, so betrug er 2008 nur noch etwa 30 Prozent, stieg aber in der Krise 2009 wieder auf etwa 35 Prozent an. Dies war nicht zuletzt auch eine Folge der Bemühungen der AKP­Regierung, jährlich einen positiven Primärhaushalt (ohne die Zinszahlungen) zu erreichen, was selbst im Krisenjahr 2009 gelang. Das gesamte Haushaltsdefizit betrug im selben Jahr 6,7 Prozent des BIP und lag damit deutlich unter den Zahlen vieler EU­Staaten. Zwar stieg die Auslandsverschuldung zwischen 2002 und 2009 von 130 auf 268 Mrd. Dollar, doch sank ihr Anteil am BIP infolge der guten Wirtschaftsentwicklung im selben Zeitraum von 56 auf 43 Prozent.16 14 Vgl. hierzu USAK, From Crisis to Recovery: Quo Vadis Turkish Economy?, Ankara 2008, (abgerufen am 24.7.2012). 15 Vgl. den Artikel des Präsidenten der Zentralbank Erdem Başçı, Monetary Policy of Central Bank of the Republic of Turkey after Global Financial Crisis, in: Insight Turkey, 14 (2012) 2, S. 23­26. 16 Vgl. Turkish Statistical Institute, Statistical Indicators 1923­2009, Ankara, Dezember 2010, S. 582­ 636.

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Insgesamt gingen so von der wirtschaftlichen Flanke keine Gefährdungen der AKP­Regierung aus, da es weder Anlass zu größeren sozialen Unruhen noch zu Misstrauen der internationalen Finanzmärkte in die türkische Politik gab. Damit konnte sie auch ihre neue Außenpolitik ohne größere innenpo­ litische Beeinträchtigungen betreiben. Diese trug darüber hinaus zu einer Ausweitung des außenwirtschaftlichen Horizonts der türkischen Wirtschaft bei. Die Annäherung an die nah­ und mittelöstlichen Nachbarstaaten und die Normalisierung der Beziehungen zu Russland schlugen sich auch in einer Ausdehnung der Handelsbeziehungen nieder. Diese wiederum schufen in tür­ kischen Wirtschaftskreisen „vested interests“, die auf eine Verstetigung und den Ausbau dieser Beziehungen drängten. Hauptnutznießer waren die AKP­nahen Kreise der aufstrebenden anatolischen Industrie und ihre Interessenorganisationen, während sich die etablierte Großindustrie aus dem Marmara­Raum eher auf ihre lange bestehenden Beziehungen zu den westlichen Märkten konzen­ trierte. Insgesamt jedoch wurden die verschiedenen Gruppen der türkischen Exportindustrie zu wichtigen Unterstützern der AKP­Außenpolitik.17 Der türkische Außenhandel ist während der AKP­Herrschaft ständig gestiegen, mit Ausnahme des Krisenjahres 2009, als die weltweite Rezession auch in der Türkei einen Rückgang der Exporte um 22,6 Prozent und der Importe um 30,2 Prozent auslöste. Doch schon 2010 stiegen die Exporte wieder um 11,6 Prozent, während die Importe infolge der hohen Binnennachfrage und einer überbewerteten Türkischen Lira (TL) gleich um 31,7 Prozent zunahmen. Das Handelsbilanzdefizit stieg auf ein Rekordhoch von 71,6 Mrd. Dollar; die Deckungsquote der Importe durch die Exporte sank auf 61,4 Prozent.18 Dieser Schnappschuss ist sympto­ matisch für die türkische Außenwirtschaftssituation: Das chronische Defizit der Handelsbilanz kann nicht durch andere Einnahmen gedeckt werden und zwingt zu einem ständigen Kapitalimport von den internationalen Finanzmärkten. Das Zahlungsbilanzdefizit bildet eine permanente latente Gefahr für die gesamtwirt­ schaftliche Stabilität, konnte aber bisher stets ohne größere Probleme finanziert werden, weil die allgemeine gute Wirtschaftsverfassung zusammen mit der politi­ schen Stabilität den Finanzmärkten ausreichend Vertrauen einflößte. Nach wie vor bilden die EU­Staaten mit um die 50 Prozent den größten Markt für türkische Exporte, während die 57 Mitgliedstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) zwischen 20 und 30 Prozent abnehmen, mit steigender Tendenz bis 2011. Bei den Importen sieht das Bild vergleichbar aus: Aus der EU kommen zwischen 40 und 50 Prozent der eingeführten Waren, aus den Staaten der OIZ zwischen 10 und 20 Prozent. Sie liegen damit klar hin­ ter der Gruppe der Neuen Unabhängigen Staaten (einschließlich Russland), die zu den wichtigsten Energielieferanten der Türkei zählen. Im Jahr 2010 führte 17 Vgl. Kemal Kirişçı, The Transformation of Turkish Foreign Policy: The Rise of the Trading State, in: New Perspectives on Turkey, 40 (2009) 1, S. 29­57; Shahin Vallée, Turkey’s Economic and Financial Diplomacy, in: Turkish Policy Quarterly, 9 (Winter 2010/2011) 4, S. 63­72. 18 Turkish Statistical Institute, Turkey’s Statistical Yearbook 2010, Ankara 2011, S. 289.

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Russland mit einem Anteil von 11,6 Prozent die Liste der Lieferländer an, ge­ folgt von Deutschland (9,5), China (9,3), den USA (6,6) und Italien (5,5). Bei den Abnehmern türkischer Produkte lag Deutschland mit 10,1 Prozent vorne, gefolgt von Großbritannien (6,4), Italien (5,7), Frankreich (5,3) und Irak (5,3).19 Ausblick Diese Daten zeigen die starke Anfälligkeit des türkischen Außenhandels von der Konjunkturentwicklung im EU­Raum, die durch die Handelsbeziehungen mit dem Nahen und Mittleren Osten zwar gemildert, aber nicht beseitigt wer­ den kann. Abzuwarten bleibt, wie sich die Folgen der politischen Umbrüche und die Unruhen in verschiedenen arabischen Staaten auf den Außenhandel mit den Ländern der Region auswirken. Die türkischen Exporte könnten in beide Regionen, Europa sowie Nah­ und Mittelost, in den nächsten Jahren zurückge­ hen, weil dort einmal infolge der zu erwartenden Rezession, zum anderen auf­ grund der politischen Unruhen die Nachfrage schwächelt. Auf die Regierung Erdog˘ an können wirtschaftlich schwierigere Jahre zukommen. Daher dürfte die Vision von Wirtschaftsminister Çag˘ layan, die Türkei beim 100­jährigen Republikjubiläum 2023 unter den zehn größten Volkswirtschaften der Welt mit einem Pro­Kopf­Einkommen von 25 000 Dollar und einem Exportvolumen von 500 Mrd. Dollar zu finden, unrealistisch sein.20 Dazu wäre es notwendig, dass das Land den Sprung vom jetzigen Status eines industriellen Schwellenlands zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft schafft. Dafür fehlen jedoch erhebliche Voraussetzungen. Der im OECD­Vergleich unterdurchschnitt­ liche Umfang der Ausgaben für Forschung und Entwicklung müsste deutlich steigen; er lag trotz unter der AKP deutlich gestiegener Anstrengungen im Jahr 2010 mit 0,84 Prozent des BIP an drittletzter Stelle der OECD­Staaten und weit von der OECD­Zielmarke von 2 Prozent entfernt.21 Außerdem müsste das natio­ nale Bildungswesen erheblich besser werden: 2009 lagen türkische Schüler in den PISA­Vergleichen mit einem Anteil von 0,8 Prozent aller Probanden bei den „top performers“ auf dem drittletzten Platz unter den OECD­Staaten; nur Chile und Mexiko schnitten noch schlechter ab.22 Außerdem steht die AKP­Regierung vor der Aufgabe, die politische Stabilität durch die Gewährleistung einer guten Wirtschaftsentwicklung zu si­ chern. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht, wenn es gelingt, die 19 Ebd., S. 298. 20 Vgl. Zafer Çağlayan, Turkey’s Vibrant Export Trends, in: Turkish Policy Quarterly, 10 (2011) 3, S. 27­33. 21 Vgl. OECD, Gross Domestic Expenditure on R&D (as a Percentage of GDP), Paris, März 2012, (abgerufen am 24.7.2012). 22 Vgl. OECD, PISA 2009 Results: What Students Know and Can Do – Student Performance in Reading, Mathematics, and Science, Vol. I, Paris, 2011, S. 231, (abgerufen am 24.7.2012).

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Zahlungsbilanzproblematik im Griff zu behalten und den angesichts des hohen Wachstums steigenden Energiebedarf zu vertretbaren Kosten zu decken. Ohne eigene Quellen ist die Türkei auf anhaltende und bezahlbare Energieimporte an­ gewiesen, solange sie ihren Bedarf primär über fossile Brennstoffe (Öl und Gas) deckt. Heute bezieht sie 60 Prozent ihres Erdgases aus Russland, ein weiterer Teil kommt aus dem Iran. Erdöl kommt hauptsächlich aus Aserbeidschan, dem Nordirak und anderen nahöstlichen Ländern. Die Türkei hat in ihrer Nachbarschaft erhebliche Energievorkommen, die sie veranlasst haben, für sich eine Rolle als Energiedrehscheibe zwischen Europa und dem Nahen/Mittleren Osten sowie dem kaspischen Raum anzustreben. Ihre außenpolitischen Bemühungen, dieses Ziel zu erreichen, sind bisher jedoch noch nicht weit vorangekommen und auch die künftige Entwicklung sieht wenig ver­ heißungsvoll aus.23 Zum einen zeigen sich auf dem europäischen Energiemarkt widerstreitende Interessen der großen Abnehmerstaaten in der EU, auf die die Türkei wenig Einfluss hat. Zum anderen ist die Lage in den Lieferländern des Nahen und Mittleren Ostens politisch höchst unstabil, die Beziehungen zum Iran haben sich wegen der regionalen Spannungen um Irak und Syrien abgekühlt24 und auch die „strategische Beziehung“ zu Russland tritt auf der Stelle, weil Ankara trotz vieler angekündigter Projekte keine klare Energieaußenpolitik zugunsten Moskaus betreibt.25 Im für die weitere Entwicklung der Türkei äußerst wichtigen Feld der Energieaußenpolitik zeigen sich deutliche Grenzen der „visionären Außenpolitik“, vorrangig durch den Einsatz von Soft Power und unter Betonung einer gegenüber allen Akteuren offenen Politik des Dialogs, der Diplomatie und des Ausgleichs, zum Entstehen einer stabilen, friedlichen und von Wohlstand geprägten regionalen Ordnung beizutragen. Die Bewältigung der regionalen Unordnung im Nahen/Mittleren Osten und ihrer internationalen Implikationen ist die große Bewährungsprobe der AKP­Außenpolitik.26 Ihr Gelingen wird auch für die Fortsetzung der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte von Bedeutung sein. Das umso mehr, wenn die etablierten Wirtschaftsbeziehungen zum OECD­Raum infolge der dort sich abzeichnenden schwächeren Entwicklung an Bedeutung verlieren. 23 Vgl. Heinz Kramer, Die Türkei als Energiedrehscheibe. Wunschtraum und Wirklichkeit, Berlin 2010 (SWP­Studie 9/2010). 24 Vgl. Gareth Jenkins, Tactical Allies and Strategic Rivals: Turkey’s Changing Relations with Iran, in: Turkey Analyst, 4 (5. Dezember 2011) 23, (abgerufen am 24.7.2012); Joshua W. Walker, Turkey’s 2012 Re­ad­ justment to Post­„Zero Problems“ in the Aftermath of the Arab Awakenings, in: Turkey Analyst, 4 (19. Dezember 2011) 24, (abgerufen am 24.7.2012). 25 Vgl. Cenk Sidar und Gareth Winrow, Turkey and South Stream: Turco­Russian Rapprochement and the Future of the Southern Corridor, in: Turkish Policy Quarterly, 10 (Sommer 2011) 2, S. 51­61. 26 Vgl. Ahmet Davutoğlu, Principles of Turkish Foreign Policy and Regional Political Structuring, Anka­ ra 2012 (TEPAV Policy Briefing 3/2012), (abgerufen am 24.7.2012).

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USA: Handlungsschwäche der globalen Ordnungsmacht Josef Braml In den USA nehmen die wirtschaftlichen Probleme infolge der andauernden Wirtschafts­ und Finanzkrise zu und verschärfen die soziale Ungleichheit. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme verstärken die von den Gründervätern angelegte Konkurrenz der politischen Gewalten so sehr, dass sie sich allmählich blockieren und die politische Gestaltungsmacht im Innern wie nach außen läh­ men. Die USA werden deshalb weiterhin versuchen, Alliierten und Konkurrenten immer mehr Last ihrer globalen Verantwortung aufzubürden, sei es über die gezielte Schwächung der amerikanischen Leitwährung, Protektionismus in der Handelspolitik oder Lastenteilung in der Sicherheitspolitik. Soziale Schieflage Die Wirtschafts­ und Finanzkrise hat bestehende Grundprobleme der ameri­ kanischen Wirtschaft verstärkt und das Land in dem Moment getroffen, als die ersten Baby Boomer, die „goldene Generation“ der zwischen 1946 und 1964 Geborenen, in den Ruhestand traten. Ausgestattet mit den bis dato exorbitant gestiegenen Vermögenswerten, freuten sie sich darauf, einen finanziell sorg­ losen Lebensabend zu genießen. Aber nun zeigte sich, dass die amerikanische Gesellschaft und Politik nicht auf die Wucht des demografischen Wandels und die damit verbundenen Kosten, insbesondere im Gesundheitswesen und in der Altersvorsorge, vorbereitet sind. Zwar verjüngt sich die Bevölkerung permanent durch die ins Land strö­ menden Einwanderer, aber dieser Zustrom kann die Überalterung inzwischen nur noch abschwächen. Die jüngeren Generationen werden künftig nicht mehr in der Lage sein, die älteren finanziell zu unterhalten. Infolge der drastisch gestiegenen Arbeitslosigkeit, die insbesondere jüngere Arbeitssuchende trifft, und der schlechten Ausbildung in den oftmals maroden Bildungseinrichtungen sind die Jüngeren gar nicht in der Lage, im erforderlichen Umfang zum Bruttonationaleinkommen beizutragen und damit überhaupt erst die Voraus­ setzung für Unterstützungsleistungen zu schaffen.

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Allmählich weicht die amerikanische Überzeugung, dass es der nächsten Generation besser gehen wird als der vorherigen, der Furcht, dass die Jugendlichen von heute einer „verlorenen Generation“ angehören könnten. Im Vergleich zu der „goldenen Generation“ der Baby Boomer wird die amerika­ nische Bevölkerung zukünftig im Durchschnitt merklich älter, außerdem größer, ethnisch heterogener,1 weniger gebildet und finanziell ärmer sein. Das wird sich belastend auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und damit auf den Wohlstand des Landes auswirken. Es gibt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Risiken einige, die von diesen Problemen überhaupt nicht, und andere, die davon umso mehr betrof­ fen sind. Sieht man sich die Verteilung der Einkommen2 und Vermögen3 in den USA genauer an, fallen einem sofort gravierende Unterschiede auf. 46 Millionen Amerikaner leben inzwischen in Armut.4 Besonders prekär ist die soziale Lage der Minderheiten: Die Armutsrate von Amerikanern afroamerikanischer und hispa­ nischer Herkunft ist fast dreimal so hoch (jeweils 27 Prozent) wie die der weißen Bevölkerung (10 Prozent).5 Zwar gibt es in den USA noch keinen Aufstand des Prekariats – die Protagonisten der gegen die soziale Ungleichheit und den Kasinokapitalismus gerichteten Occupy­Wall­Street­Bewegung sind im Vergleich zu den vielen in Armut leben­ den Afroamerikanern und Latinos besser situierte Jugendliche und Studenten –, aber die sozioökonomischen Konflikte haben das Land bereits tief gespalten und den amerikanischen Traum vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum durch Konsum auf Pump zerstört. Ungleichheit birgt sozialen Sprengstoff und verhin­ dert geradezu, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Wirtschaften auf Pump Wenn nämlich stimmt, dass die amerikanische Wirtschaft zu zwei Dritteln durch Nachfrage, also vom Privatkonsum, angetrieben wird, dann ist die soziale 1 2

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So Gregory Spencer, Leiter der Abteilung für Bevölkerungsprojektion im U.S. Census Bureau, zitiert in: Paola Scommegna, U.S. Growing Bigger, Older, and More Diverse, Population Reference Bureau, Washington, DC, April 2004. Der Gini­Index, ein statistisches Maß, das die ungleiche Verteilung innerhalb einer Gesellschaft misst, zeigt, dass die Ungleichheit der Einkommen in den USA seit den 1970er Jahren beständig zunimmt. Unter den OECD­Staaten weisen heute nur noch Mexiko und die Türkei schlechtere Werte auf. OECD, Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries, Paris 2008 (insbe­ sondere: Country Notes: United States). Bei den Vermögen ist die Ungleichheit noch ausgeprägter. Die Wirtschafts­ und Finanzkrise hat die ohnehin schon große Kluft noch vertieft. Die Vermögenswerte weißer Amerikaner sind jetzt 18 bzw. 20 Mal so hoch wie die der afroamerikanischen oder hispanischen Bevölkerung. Pew Research Center, Twenty­to­One. Wealth Gaps Rise to Record Highs between Whites, Blacks and Hispanics, Washin­ ton, DC, 26.7.2011. U.S. Department of Commerce und U.S. Census Bureau, Income, Poverty, and Health Insurance Coverage in the United States: 2010, Washington, DC, September 2011, S. 14­15. So die Pressemitteilung des Pew Hispanic Center, The Toll of the Great Recession: Childhood Poverty among Hispanics Sets Record, Leads Nation, Washington, DC, 28.9.2011.

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Schieflage Gift für die wirtschaftliche Erholung. Woher soll die Kaufkraft in ei­ ner Situation hartnäckig hoher Arbeitslosigkeit (von etwa 9 Prozent)6 kommen, wenn – wie bei der letzten Anhebung der Schuldenobergrenze vereinbart – der Schuldenabbau in erster Linie durch die Kürzung von Sozialleistungen und anderen nachfragewirksamen Ausgaben des Bundes und der Bundesstaaten er­ folgen soll? Im Vergleich zu anderen hochindustrialisierten Ländern ist in den USA die Umverteilung in Form von Arbeitslosengeld und Sozialabgaben recht gering.7 Das hat zur Folge, dass immer mehr Amerikaner immer weniger kau­ fen können, weil das Konsumieren auf Pump nicht mehr möglich ist. Die hohe private Verschuldung, die anhaltende Immobilienkrise, der (drohende) Verlust des Arbeitsplatzes und steigende Energiepreise senken die Kaufkraft der US­ Bürger. Das trifft auch die Politik, die keinen finanziellen Handlungsspielraum mehr hat für weitere Wirtschaftsförderprogramme. In dieser misslichen Lage müssen die USA obendrein – eher früher als später – die in den vergangenen Jahrzehnten angehäuften Schuldenberge abbauen, um ihre Kreditwürdigkeit aufrechtzuerhalten. Die inländische Sparquote trägt wenig zur Beseitigung des Problems bei, da sie traditionell niedrig ist und viele private Haushalte sogar hoch verschuldet sind. Und so wird der Staat seine Ausgaben umso drastischer senken müssen, je weniger das Ausland fähig oder bereit ist, Amerikas Staatsschulden zu finanzieren. Barack Obama hat ein schweres Erbe übernommen: eine miserable wirt­ schaftliche Lage und leere Haushaltskassen. George W. Bushs Butter­und­ Kanonen­Politik, also Steuersenkungen trotz immenser Kriegsausgaben, hat­ ten den Staatshaushalt stark belastet. Hinzu kamen dann auch unter Obamas Führung milliardenschwere Maßnahmen, um die größte Wirtschafts­ und Finanzkrise seit den 1930er Jahren zu beheben. Mit den Rettungs­ bezie­ hungsweise Konjunkturprogrammen wurde der ohnehin schon angespannte Staatshaushalt noch mehr belastet. Bereits das Haushaltsjahr 2008 markierte mit 459 Mrd. Dollar ein Rekorddefizit. 2009 war der Fehlbetrag mehr als dreimal so hoch: 1413 Mrd. Dollar. 2010 wurde der Staatshaushalt erneut um 1294 Mrd. Dollar überzogen. Und im vergangenen Haushaltsjahr, das am 30. September 2011 endete, belief sich das Haushaltsdefizit auf 1300 Mrd. Dollar.8 Auf die Wirtschaftsleistung bezogen hat das Defizit mit jeweils 9 bis 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den letzten drei Jahren

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Rechnet man noch jene hinzu, die ihre Jobsuche aufgegeben haben und in den offiziellen Statistiken nicht mehr erfasst werden, kann man davon ausgehen, dass einer von fünf arbeitswilligen Amerika­ nern (18 Prozent) ohne Beschäftigung ist. U.S. Bureau of Labor Statistics, Labor Force Statistics from the Current Population Survey, Monthly Seasonally Adjusted Household Data, Washington, DC, 8.1.2010. Nur 9 Prozent, während der OECD­Durchschnitt 22 Prozent der Haushaltseinkommen beträgt; OECD, Growing Unequal?, a.a.O. (Anm. 2). Gemäß den Daten des U.S. Department of the Treasury und des Congressional Budget Office, (abgerufen am 12.8.2012).

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bei weitem und wiederholt die 1983 erzielte frühere Rekordmarke von 6 Prozent übertroffen, die Präsident Ronald Reagan dem Land zugemutet hatte. Da sich Jahr für Jahr weitere Zig­Milliarden­Defizite anhäuften, musste die Gesamtschuldenobergrenze, die vom Kongress bereits im Februar 2010 auf 14 Billionen Dollar erhöht worden ist, im Jahr 2011 erneut angehoben werden. Dass dieser in der Vergangenheit routinemäßig abgewickelte Vorgang nunmehr in heftigen politischen Streit ausartete, der sich zwischen den Parteien und noch deutlicher innerhalb der beiden Lager abspielte, sagt viel aus über den Ernst der Lage. Nicht einmal die Drohung der Rating­Agenturen, die Kreditwürdigkeit der USA herabzustufen, weil die verantwortlichen Politiker sich unfähig zeigten, einen Kompromiss zu finden, brachte die politischen Kontrahenten zur Räson. So machte im August 2011 Standard & Poor’s (S&P) seine Ankündigung wahr und stufte die Kreditwürdigkeit der USA von AAA auf AA+ herab. Wegen der Unfähigkeit der Politik wird nunmehr ab dem Jahr 2013, also erst nach den Wahlen, ein automatischer Mechanismus in Kraft treten, der über alle Haushaltstitel verteilt, im sozialen wie im militärischen Bereich, Kürzungen nach dem Rasenmäherprinzip durchführen wird. Sollten sich die Protagonisten in Washington bis dahin nicht doch noch auf eine ausgewogenere gesetzliche Lösung einigen, um die Schulden abzubauen – was im Wahlkampf äußerst fragwürdig ist –, werden sich erneut finanzielle Abgründe auftun. Die bevor­ stehende Auseinandersetzung um das so genannte „fiscal cliff“ wird umso hef­ tiger, weil zum Jahresende 2012 auch die von George W. Bush initiierten und von der Regierung Obama verlängerten Steuererleichterungen auslaufen und der Kaufkraftentzug die Wirtschaft weiter zu schwächen droht. In dieser pre­ kären Lage werden dann Kongress und Präsident, gleich zu Beginn ihrer neuen Amtszeiten, einmal mehr angehalten sein, im Fokus der internationalen Märkte und der Rating­Agenturen das Schuldenlimit zu erhöhen. Politikblockade Bereits mit den heftigen Auseinandersetzungen um die Anhebung der Schuldenobergrenze im Sommer 2011 wurde deutlich, dass Amerikas Politik blockiert ist. Ideologische Gegensätze, der Einfluss von Interessengruppen und ein blockadeanfälliges politisches System schränken den Handlungsspielraum der Politik – und damit vor allem des amerikanischen Präsidenten – erheblich ein und erschweren das Vorhaben, die notwendigen Weichen für die Zukunft zu stellen. In der derzeitigen Machtkonstellation sind Präsident und Kongress kaum in der Lage, wenigstens die akuten Probleme zu lösen. Im Gegenteil: Die wirt­ schaftliche Schwäche vertieft die ideologischen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern. Das verstärkt die Dysfunktionalität und untergräbt die Legitimation des Regierungssystems. Wie sehr das Grundvertrauen der amerikanischen Bevölkerung in ihre Regierung inzwischen erschüttert ist, offenbart eine repräsentative Umfrage der Washington

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Post,9 wonach acht von zehn Befragten unzufrieden sind mit der Art und Weise, wie das politische System funktioniert bzw. nicht mehr funktioniert: Sieben von zehn Amerikanern stimmen der Begründung der Rating­Agentur S&P zu, dass ihr Regierungssystem „weniger stabil, ineffektiver und weniger berechenbar“ ge­ worden sei. Genauso viele potenzielle Wählerinnen und Wähler haben wenig oder keine Hoffnung, dass die Regierung in Washington die wirtschaftlichen Probleme des Landes lösen kann. Obama hat sehr wenig Handlungsspielraum, um Abhilfe zu schaffen. Sollte der Präsident versuchen, die Wirtschaft mit kreditfinanzierten Ausgaben anzu­ kurbeln, wird er am Kongress scheitern, denn dort verhindern die libertären, staatsfeindlichen Repräsentanten der republikanischen Tea­Party­Bewegung die Kreditaufnahme, unterstützt von den fiskalkonservativen Demokraten, den Blue Dogs. Auch in der Handelspolitik sind dem Präsidenten die Hände gebunden. Er wird kein Mandat für Freihandelspolitik erhalten – falls er diesen Machtkampf mit dem Kongress überhaupt wagen sollte. Zwar wird die Exekutive weiterhin in der Exportförderung ihr Heil für mehr Wirtschaftswachstum suchen müssen. Bereits im März 2010 hat Präsident Obama per Exekutivorder (das heißt ohne Mitwirken des Kongresses) die National Export Initiative initiiert. Demnach sollen innerhalb der nächsten fünf Jahre die amerikanischen Exporte verdop­ pelt werden. Hierbei wird der Präsident jedoch nicht auf die Unterstützung des Kongresses zählen können. Präsident Obama wird aufgrund der kritischen wirtschaftlichen Situation in den USA bis auf Weiteres keine Freihandelspolitik durchsetzen können, denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger Bush wird er vom Kongress wohl kaum mit der als Trade Promotion Authority (TPA) bezeichneten Handelsautorität ausgestattet werden. Die TPA, wonach der Kongress die vom amerikanischen Präsidenten vorgelegten internationalen Handelsabkommen nur noch als Ganzes, das heißt ohne Änderungsanträge, annehmen oder ablehnen kann, endete bereits in der Amtszeit George W. Bushs, im Juli 2007. Auf der internationalen Bühne wird der amerikanische Präsident aber nur ernst­, das heißt als verhandlungsfähig wahrge­ nommen, wenn er diese Autorität besitzt. Davon wird auch die Verhandlungsmacht des Präsidenten etwa im Rahmen der Doha­Runde der Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation berührt, wo Vereinbarungen ohne Wenn und Aber politisch durchgesetzt werden müssen. Da selbst die bilateralen Freihandelsabkommen mit Südkorea, Kolumbien und Panama, die Bush dem Kongress noch im Rahmen der TPA vorlegte und die trotz massiver Bemühungen erst nach Jahren, im Oktober 2011, gebilligt wur­ den, ist an darüber hinausgehende, umfangreichere Freihandelsinitiativen wie die Transpazifische Partnerschaft (TPP) schon gar nicht zu denken.

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Gemäß einer Umfrage der Washington Post vom 9.8.2011, (abgerufen am 12.8.2012).

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Vabanquespiel der US-Notenbank Bei all diesen fiskal­ und handelspolitischen Beschränkungen bleibt die Federal Reserve die einzige handlungsfähige Institution, die mit ihren monetären Maßnahmen das Land aus der aktuellen Wirtschaftskrise herauszuführen sucht. Notenbankchef Ben Bernanke wird bereits als „Helikopter Ben“ karikiert, der in Noteinsätzen Geld abwirft und mit dieser zusätzlichen Liquiditätsausstattung der Banken versucht, der amerikanischen Wirtschaft aus der Misere zu helfen. Indem die Federal Reserve weiter Geld druckt – der beschönigende Fachbegriff lautet quantitative easing –, setzt sie die amerikanische Währung unter Druck. Ein niedrig bewerteter Dollar bietet den USA zwar Vorteile: Er verringert die vom Ausland finanzierte Schuldenlast und hilft zugleich dem in handelspolitischen Fragen innenpolitisch eingeschränkten Präsidenten Obama, seine ehrgeizige Exportstrategie umzusetzen. Kurzfristig dürften die expansive Geldpolitik und der damit entwertete Dollar die amerikanischen Exportchancen durchaus för­ dern. Doch langfristig bleiben die Strukturprobleme der US­Wirtschaft bestehen, die mit der Wirtschafts­ und Finanzkrise offensichtlich geworden sind. Letztlich riskieren die USA mit ihrer lockeren Geldpolitik nicht nur Inflation und Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten, sondern untergraben auch das Vertrauen in ihre eigene Währung. Weltbankpräsident Robert Zoellick warnte seine Landsleute daher bereits im Sommer 2009, dass „die USA einem großen Irrtum erliegen, wenn sie weiterhin ein ehernes Gesetz darin sehen, dass der Dollar die Rolle der weltweit vorherrschenden Währung innehat“.10 Ebenso besorgt zeigten sich Abgeordnete und Senatoren im Kongress. Sie fürchten, dass das Grundvertrauen der Märkte in den Dollar als „sicherem Hafen“ in stür­ mischen Krisenzeiten und mit zunehmender Schuldenlast in Zweifel gezogen werden könnte und Investoren sich beim Kauf amerikanischer Staatsanleihen künftig mehr zurückhalten.11 „Ob wir mehr US­Staatsanleihen kaufen werden und wenn ja, wie viele, die­ se Entscheidung sollten wir nach Chinas eigenen Bedürfnissen und entspre­ chend unserem Ziel treffen, die Sicherheit und den Wert unserer Anlagen und Devisenreserven zu gewährleisten.“12 Mit dieser Äußerung gab Premierminister Wen Jiabao im Januar 2009 von London aus den USA deutlich zu verstehen, dass China Amerikas Staatsanleihen nicht unbegrenzt aufkaufen werde. Noch vor Jahresende 2011 haben sich die beiden Erzrivalen um die wirtschaft­ liche Vorherrschaft in Asien, Japan und China, darauf verständigt, eine beide Länder und Südkorea umfassende Freihandelszone zu etablieren. Um die Kosten für den regionalen Handel zu senken, will man künftig die Geschäfte nicht mehr über den Umweg des Dollar, sondern in den eigenen Währungen abrechnen, lau­ 10

Robert Zoellick zitiert in: Alexander Bolton, Lawmakers Show Worry over U.S. Dollar’s Dwindling Status, in: The Hill, 8.10.2009. 11 Ebd. 12 Wen Jiabao zitiert in: D. Ku, Treasuries Purchases Will Depend on Risk: China’s Wen, in: Reuters, 31.1.2009.

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tete die historische Vereinbarung vom 26. Dezember 2011 zwischen Yoshihiko Noda und Wen Jiabao anlässlich des Besuchs des japanischen Ministerpräsidenten in Peking. Indem China künftig mehr japanische Staatsanleihen kauft und umge­ kehrt auch Japan mehr in chinesische Staatspapiere investiert, können die zweit­ und drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ihre Währungsreserven, die sie bislang zu einem Gutteil den USA zur Verfügung gestellt haben, diversifizieren und zum Wohle der eigenen Volkswirtschaften und der regionalen Integration investieren. Selbst wenn China seine währungspolitischen Bemühungen, den Renminbi zu internationalisieren, vorerst in diesen multilateralen regionalen Rahmen stellen sollte, gäbe es neben dem Euro künftig auch eine asiatische (Gemein­)Währung, die die Dollar­Dominanz bedrohen und das damit verbundene „exorbitante Privileg“ der USA antasten könnte. Die „Dollar-Falle“ und das „exorbitante Privileg“ Solange jedoch weltweit staatliche und institutionelle Anleger amerikanische Staatsanleihen in ihren Portfolios halten oder gar den Bestand erhöhen, um den Wert ihrer Investitionen nicht zu gefährden, solange sie also in der „Dollar­Falle“ sitzen und die Alternativen – Geldanlagen in anderen Währungen und Ländern – noch riskanter erscheinen, werden der Dollar und amerikanische Staatsanleihen zwar nicht mehr als sicherer Hafen, aber als Rettungsanker in Zeiten gesehen, in denen die Finanzwelt ihre Nordung verloren zu haben scheint. Damit profitieren die USA bis auf Weiteres von ihrem „exorbitanten Privileg“, wie es bereits in den 1960er Jahren der damalige französische Finanzminister Valéry Giscard d’Estaing aus­ drückte. Mit dem Dollar als Leitwährung müssen die USA nicht wie andere Staaten einen Risikoaufschlag in Form höherer Zinsen zahlen, sondern können enorme Mengen Geld zu günstigen Konditionen leihen und damit viel höhere Gewinne er­ wirtschaften und – was in den vergangenen Jahren immer deutlicher wurde – ihren Konsum auf Pump finanzieren. Nicht zuletzt helfen viele Entwicklungsländer mit ihren Währungsreserven den USA, über ihre Verhältnisse zu leben. China, das die größten Währungsreserven besitzt und mit 1134 Mrd. Dollar den größten Anteil amerikanischer Staatsanleihen hält,13 würde eine Art multi­ laterale Zwischenlösung präferieren, weil auf diese Weise seine eigene Währung und damit seine Wirtschaft bis auf Weiteres nicht mit einer Aufwertung bela­ stet würden. Um den amerikanischen Dollar mittelfristig als Weltleitwährung abzulösen und Investoren eine Alternative zu eröffnen, haben allen voran die Regierungen in Peking und Moskau bereits 2009, nach dem Ausbruch der von den USA verursachten Finanz­ und Wirtschaftskrise, gefordert, die ins Wanken geratene Leitwährung Dollar mittel­ bis langfristig abzulösen und dafür Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds als supranationale Reservewährung aufzubauen. Da diese Initiativen am heftigen Widerstand nicht 13 Das entspricht einem Viertel (24 Prozent) aller ausländischen Forderungen. Siehe U.S. Department of the Treasury, Major Foreign Holders of Treasury Securities, Washington, DC, 15.12.2011.

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USA: Handlungsschwäche der globalen Ordnungsmacht

zuletzt auch Washingtons und Berlins scheiterten, muss Peking einen anderen gangbaren Weg aus der Dollar­Falle finden. Einige Entwicklungen deuten bereits darauf hin, dass China seine Währung, den Renminbi (Einheiten der Währung lauten auf Yuan), regionalisieren und später auch internationalisieren will. Durch Abrechnung von Handels­ und Investitionsgeschäften sowie durch Währungsswaps mit den Nachbarländern versucht Peking, den Renminbi bereits als Kernwährung in der Region zu etablie­ ren.14 Alles deutet darauf hin, dass die chinesische Regierung binnen zehn Jahren Schanghai als internationales Finanzzentrum etablieren und damit ihrer Währung zu internationalem Status verhelfen will. Barry Eichengreen, ein renommierter amerikanischer Währungsexperte mit historischem Weitblick, würde kein Geld dagegen wetten wollen:15 Nachdem die USA bereits im Welthandel ihre Dominanz eingebüßt haben, sei davon auszugehen, dass sich künftig auch die Finanzmärkte multipolar ordnen und von drei starken Wirtschaftsblöcken dominiert werden: den USA, Euro­Land und China. Der Euro­Raum böte eine Analagealternative – auch für chinesische Währungsreserven. Der Euro ist eine ernstzunehmende Herausforderung des ex­ orbitanten Privileg des Dollars. Solange jedoch Analysten und Medien mit ihrem Abgesang auf den Euro die europäische Sau durchs globale Dorf jagen, rückt die ökonomische Schieflage in den USA in den Hintergrund und aus dem Fokus der Rating­Agenturen. Doch die lockere Geldpolitik der Federal Reserve verschleppt nur die Strukturprobleme der US­Wirtschaft. Weitere transatlantische Spannungen sind vorprogrammiert. Die USA sind selbst nicht mehr in der Lage, ihre Wirtschaft mit Förderprogrammen zu stimu­ lieren. Also üben sie Druck auf europäische Staaten aus, um sie dazu zu bewe­ gen, globale Nachfrage zu schaffen, was wiederum mit neuen Schulden finanziert werden soll. Dagegen versuchen die Europäer, allen voran Deutschland, die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen, indem sie ihre Schulden abbauen. Damit wollen sie ihre nationale politische Handlungsfähigkeit auf­ rechterhalten und auch die europäische Währung und Integration retten. Diese grundlegend unterschiedlichen Auffassungen belasten nicht nur die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland, sondern verändern auch die Machtkonstellationen auf multilateraler Ebene. Dass Amerika seine wirtschaftliche Führungsrolle einbüßen könnte, wur­ de bereits auf dem G­20­Gipfel in Südkorea im November 2010 offensicht­ lich. Die USA scheiterten mit ihrem Vorstoß, exportlastige Volkswirtschaften wie China und Deutschland unter Druck zu setzen und Begrenzungen der Leistungsbilanzüberschüsse festzulegen. Vielmehr mussten sich die amerika­ nischen Regierungsvertreter scharfe Kritik an ihrer Wirtschafts­ und Geldpolitik 14 Vgl. Maximilian Mayer und Jost Wübbeke, Das Ende der Dollar­Dominanz, in: Internationale Poli­ tik, März/April 2010, S. 89; Sandra Heep und Hanns Günther Hilpert, Chinas währungspolitische Offensive. Renminbi und IWF­Sonderziehungsrechte – Alternativen zum Dollar?, SWP­Aktuell Nr. 65/2009, Berlin, S. 7. 15 Barry Eichengreen, What China is After Financially, in: East Asia Forum, 30.1.2011.

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von Seiten der Staatengemeinschaft gefallen lassen. Amerika wurde auf dem Gipfel der 20 weltweit größten Wirtschaftsnationen regelrecht vorgeführt und schonungslos mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Rolle als Lehrmeister der Welt nicht mehr erwünscht und die Machtfülle der USA aufgrund der chro­ nischen Schwäche seiner Wirtschaft spürbar geschrumpft waren. Machteinbußen und Lastenabwälzung Zwar wird in absehbarer Zeit die Militärmacht, die so genannte „harte“ Macht der USA, unangefochten bleiben, denn kein anderes Land der Welt verfügt über annähernd so viel militärische Schlagkraft wie die Supermacht. Doch diese Ausrüstung ist in den drohenden Währungskriegen wenig hilfreich, ja könnte sogar zu einer schweren Bürde werden. Um den Haushalt zu konsolidieren, müs­ sen die USA ohnehin umfangreiche Einsparungen im Militärbereich vornehmen. Der durch die Unfähigkeit der Politik in Gang gebrachte „Rasenmäher“ wird auch den Verteidigungsetat nicht verschonen. US­Verteidigungsminister Leon Panetta hat nun die Herkulesaufgabe, neben den ohnehin vorgesehenen 400 Mrd. weitere 600 Mrd. Dollar im nächsten Jahrzehnt zu kürzen. Das wird die ameri­ kanische Wirtschaft, die von diesem Sektor im hohen Maße abhängt, noch mehr schwächen. Amerika wird wohl versuchen, weitere Lasten seines internationalen Engagements auf seine Alliierten abzuwälzen. Der innenpolitische Druck in den USA wird die transatlantische Lasten­ teilungsdebatte anheizen und den europäischen Alliierten Gelegenheit geben, ihr „effektives“ multilaterales Engagement unter Beweis zu stellen. Wenn die Europäer schon nicht fähig und willens sind, die USA mit umfangreicheren Truppenkontingenten zu unterstützen, wenn sie sich also in der Sicherheitspolitik aufs Trittbrettfahren verlegen, so der Vorwurf Washingtons, dann sollten sie ei­ nen umso größeren finanziellen Beitrag zum langfristigen Wiederaufbau im Irak, in Afghanistan und in Libyen leisten. Auch die nächste amerikanische Regierung wird daran weiterarbeiten, aus George W. Bushs viel gescholtener „Koalition der Willigen“ eine „Koalition der Zahlungswilligen“ zu schmieden. Es wird für die Alliierten nicht leicht werden, der westlichen Führungsmacht zu folgen. Sollten sie nicht bereit sein, diese Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, wird Washington seine außenpolitischen Ziele auf anderen Wegen durchsetzen, wenn nötig im Alleingang oder eben mit einer Koalition der Willigen. Am – wenn es sein muss auch unilateralen – Einsatz militärischer Gewalt im Kampf gegen den Terrorismus und gegen so genannte Schurkenstaaten ist aus amerikanischer Sicht nicht zu rütteln. Selbst nach dem militärischen Fiasko im Irak und den Schwierigkeiten in Afghanistan sind die Amerikaner weit mehr als die Europäer geneigt, militärische Lösungen zu befürworten.16

16 Umfrage vom 25.5. bis 17.6.2011; German Marshall Fund of the United States, Transatlantic Trends 2011, Topline Data, Brüssel, Juli 2011, S. 69.

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USA: Handlungsschwäche der globalen Ordnungsmacht

Bereits der Präsidentschaftskandidat Obama machte kein Hehl daraus, dass er im Notfall auch ohne Billigung Islamabads und der internationalen Staatengemeinschaft auf dem souveränen Staatsgebiet Pakistans militärische Gewalt gegen Terroristen einsetzen werde. Als Präsident hat Obama den Einsatz von Raketenangriffen unbemannter Drohnen im afghanisch­pakista­ nischen Grenzgebiet forciert und auf Somalia und Jemen ausgeweitet, zum Teil mit Erfolg, denn es gelang, wichtige Anführer von Al Qaida gezielt zu töten. Washington riskiert damit, die Bevölkerungen dieser Länder gegen sich aufzu­ bringen, Terrorgruppen die Rekrutierung zu erleichtern und diplomatischen Kollateralschaden zu verursachen. Am Ende könnte es mit diesem aus innenpo­ litischen, weil Kosten sparenden Gründen gleichwohl opportunen Vorgehen ge­ rade jene Alliierten verprellen, mit denen es die Last der globalen Verantwortung teilen möchte, so die eindringliche Warnung eines langjährigen Sicherheitsberaters des amerikanischen Außenministeriums.17 Der Einsatz von Drohnen im Graubereich zwischen Krieg und Frieden ruft die völkerrechtlich problematischen Praktiken der Vorgängerregierung in Erinnerung. Im Zuge des „Globalen Krieges gegen den Terror“ hat Präsident George W. Bush als Oberster Befehlshaber vor allem beim Thema Sicherheit seine Handlungsmacht auf Kosten der Legislative und Judikative ausgeweitet. Zudem verdeutlichen die Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte, insbe­ sondere der Habeas­Corpus­Rechte mutmaßlicher Terroristen, partielle und ver­ mutlich temporäre Defizite der einstigen Vorbild­Demokratie USA. Diese – auch unter der Regierung Obama trotz gegenteiliger Versprechen bislang fortgeführte – Entwicklung ist umso prekärer, als der Zustand der amerikanischen, freiheitlich verfassten offenen Gesellschaft aufgrund ihres Vorbildcharakters die weltweite Perzeption demokratischer Rechtsstaatlichkeit und internationale Rechts­ und Ordnungsvorstellungen beeinflusst. Die „weiche“ Macht der USA, ihre Vorbildfunktion und Anziehungskraft auf kulturellem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet, ist schwer be­ einträchtigt. Vor allem der so genannte Washington­Konsensus, nach dem alle Länder ihre Gesellschaften und Märkte nach dem Vorbild Amerikas liberalisieren sollen, hat als Orientierungsmaßstab weltweit an Bedeutung verloren. Sogar in den USA selbst ist – wie schon so oft in der amerikanischen Geschichte – ein heftiger Streit darüber entbrannt, welche Rolle dem Staat im Verhältnis zur Wirtschaft und zur Einwanderungsgesellschaft beigemessen wer­ den soll. Diese grundsätzlichen Auseinandersetzungen werden Amerika insbe­ sondere im Wahljahr 2012 und auch darüber hinaus beschäftigen und die Welt in Atem halten, denn die Handlungsschwäche der einstigen Weltordnungsmacht droht die Welt in Unordnung zu bringen.

17 John B. Bellinger III, Will Drone Strikes Become Obama’s Guantánamo?, in: Washington Post, 3.10.2011.

III.

Analyse internationaler Organisationen und Strukturen

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G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements Katharina Gnath und Claudia Schmucker Die Finanzkrise erschütterte nicht nur die Weltwirtschaft, sondern stellt auch eine Herausforderung für die bestehende Architektur des globalen Krisenmanagements dar. Neue Foren und Politikinstrumente wurden geschaf­ fen: Allen voran wurde die Gruppe der 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen (G20) gegründet und mit einem breiten Spektrum an Krisenthemen betraut. Darüber hinaus war auch der Internationale Währungsfonds (IWF) besonders gefordert. Die beiden internationalen Organisationen haben sich zu Hauptforen der unmittelbaren Krisenbekämpfung auf internationaler Ebene herauskristal­ lisiert. Ihre Treffen und Gipfel bestimmen die internationale politische Agenda und strukturieren den Zeitplan der koordinierten Hilfsmaßnahmen und interna­ tionalen Debatten.1 Die G20 – Forum für internationale Wirtschaftskooperation Die G20 ist ein selbst ernannter, informeller Club, der sich aus 20 „systemisch wichtigen“ Industrie­ und Schwellenländern zusammensetzt. Die G20­Staaten umfassen rund 90 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, 80 Prozent des Welthandels (inklusive des intraeuropäischen Handels) sowie zirka 90 Prozent der globalen Bevölkerung.2 Ursprünglich wurde die G20 1999 als Reaktion auf die Asien­Krise auf Ebene der Finanzminister und Notenbankgouverneure ins Leben gerufen. Auf dem ersten Höhepunkt der globalen Finanzkrise (Insolvenz Lehman Brothers) lud der damalige US­Präsident George W. Bush im November 2008 die Gruppe zum ersten Mal auf Ebene der Staats­ und Regierungschefs zu einem Gipfel nach Washington ein. Ziel war es, die zugrundeliegenden Ursachen der Krise zu verstehen und gemeinsame Lösungsmöglichkeiten zu 1 2

Katharina Gnath, Stormy­Annika Mildner und Claudia Schmucker, G20, IWF und WTO in turbu­ lenten Zeiten, SWP­Studie 2012/S 09, März 2012. G20, About G20, (abgerufen am 9.7.2012).

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G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements

entwickeln. Auf dem dritten G20­Gipfel in Pittsburgh im September 2009 erklärte sich die G20 schließlich zum „wichtigsten Forum für internationale Wirtschaftskooperation“.3 In den ersten Jahren fungierte die G20 vor allem als Krisenmanager, indem sie eine Plattform für den gegenseitigen Austausch und die Kooperation von Krisenmaßnahmen auf höchster politischer Ebene bot. So wurde auf den ersten Gipfeln in Washington und London ein ambitionierter Aktionsplan verabschie­ det, um das Krisenmanagement zu stärken und das Finanzsystem zu reformie­ ren. Des Weiteren wurden die nationalen Konjunkturmaßnahmen auf interna­ tionaler Ebene koordiniert sowie Gelder für den IWF und andere multilaterale Finanzorganisationen bereitgestellt, um eine Ausweitung der Krise zu vermeiden. Als informeller Club haben die Absichtserklärungen der G20 keinen rechtlich bindenden Charakter. Allerdings entfalten die Deklarationen einen öffentlich­ keitswirksamen Druck auf die Mitgliedstaaten, die vereinbarten Ziele auch im Rahmen der Fristen umzusetzen. Der IWF – „Comeback Kid“ der Krise Der 1944 gegründete IWF befasst sich mit einem breiten Spektrum an makroöko­ nomischen Themen. Neben der Förderung internationaler Währungskooperation und Wechselkursstabilität hilft der Fonds seinen Mitgliedsländern bei Zahlungsbilanzschwierigkeiten. Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich der IWF vermehrt auch mit Fragen der globalen Finanzstabilität. Seine Aufgaben umfassen vor allem die Krisenprävention im Rahmen der wirtschafts­ und finanzpolitischen Überwachung („surveillance“) sowie das Krisenmanagement durch kurzfristige Kreditvergabe. Vor der Wirtschafts­ und Finanzkrise litt der IWF unter großen Akzep­ tanzproblemen: Er war mit seiner strikten Politik „vom Weg abgekommen“,4 hatte als Kreditgeber an Bedeutung verloren und befand sich zudem in einer prekären finanziellen Lage.5 Als der damalige IWF­Chef Dominique Strauss­ Kahn nach dem G20­Gipfel in London Anfang 2009 verkündete: „Der IWF ist zurück!“,6 war dies auch eine Kampfansage an all jene, die den IWF bereits abgeschrieben hatten. 3 4

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G20, Leaders Statement, The Pittsburgh Summit, 24.­25.9.2009, (abgerufen am 9.7.2012). Mervyn King, Reform of the International Monetary Fund, Rede des Gouverneurs der Bank of Eng­ land beim Indian Council for Research on International Economic Relations, Neu­Delhi, 20.2.2006, (abgerufen am 9.7.2012). Eigene Übersetzung. Der IWF finanziert sich neben regulären Quoteneinzahlungen seiner Mitglieder über seine Kreditver­ gabe, die vor der Krise stark eingebrochen war. Vgl. IWF, Past IMF Disbursements and Repayments for All Members, Washington, DC, 30.11.2011, (abgerufen am 9.7.2012). Zitiert in: Andrew Walker, The International Monetary Fund, BBC News, 29.4.2009, (abgerufen am 9.7.2012). Eigene Übersetzung.

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Mit der Krise wurde der IWF deutlich aufgewertet: Er war aktiv an der unmittelbaren Krisenbewältigung beteiligt, indem er kurzfristig Liquidität, Expertise und Informationen zur Verfügung stellte. Darüber hinaus wurde sein präventiver Arm gestärkt: Im Rahmen des Framework for Strong and Sustainable Growth beauftragte die G20 den IWF, die jeweiligen makroökono­ mischen Wirtschafts­ und Finanzpolitiken der G20­Mitglieder zu bewerten und Empfehlungen auszusprechen. Des Weiteren wurden die bis dahin freiwilligen Überprüfungen des Finanzsektors (so genannte „FSAP“) für 25 systemisch wichtige Länder verbindlich gemacht. Internationale Maßnahmen zur Krisenbekämpfung Was haben die beiden Organisationen, die G20 und der IWF, während der ersten Phase der Krise (2008 bis Ende 2011) unternommen? Was haben sie erreicht? Koordination erster Stimulus-Pakete

Bei den ersten G20­Gipfeln ging es vor allem darum, eine Ausweitung der Krise zu verhindern und unmittelbare Rettungsmaßnahmen zu beschließen. Hier zeichnete sich die G20 durch eine hohe Geschlossenheit aus. Alle Industrie­ und Schwellenländer vertraten die Ansicht, dass Krisenpakete sinnvoll seien, um die Rezessionsgefahr abzuwenden und das Vertrauen der Märkte wieder herzustellen: Fast 90 Prozent aller weltweiten Konjunkturprogramme wurden von G20­Staaten initiiert und kurz nach den ersten G20­Gipfeln in Washington und London Ende 2008 und Anfang 2009 verabschiedet. Obwohl die nationalen Krisenmaßnahmen aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne die G20 zustande gekommen wären, bot die G20 eine Plattform, um die jeweiligen Politiken zu koordinieren, „best practices“ auszutauschen und Differenzen über notwendige Maßnahmen beizulegen. So sollte ein konzertiertes Signal an die Märkte gesen­ det werden. Diese Einigkeit innerhalb der Gruppe hielt jedoch nicht lange an. Mit dem Abflauen der Krise im Jahr 2010 wurden die Unterschiede in der wirtschaft­ lichen Situation und den wirtschaftspolitischen Strategien zwischen den G20­ Staaten wieder deutlicher. Die Verschlechterung der Staatshaushalte, die mit dem Beginn der Griechenlandkrise an Bedeutung in der politischen Debatte gewann, führte dazu, dass die europäischen Staaten – insbesondere Deutschland – darauf drängten, aus den Stimuluspaketen auszusteigen (koordinierte Exitstrategien) und eine strengere Haushaltskonsolidierung anzustreben. Die USA und auch die Schwellenländer waren jedoch der Meinung, dass der zaghafte Aufschwung nicht durch Sparmaßnahmen gefährdet werden sollte, und dass die großen G20­ Staaten die Stimulusmaßnahmen fortführen sollten. Dies führte zu dem mageren Kompromiss des Toronto­Gipfels im Juni 2010, bei dem festgelegt wurde, dass die Industriestaaten ihre Defizite bis 2013 halbieren und die Staatsschulden bis 2016 deutlich reduzieren sollten. Gleichzeitig sollten jedoch die Maßnahmen

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nicht dazu führen, die Konjunktur abzuwürgen.7 Obwohl es die G20­Staaten schafften, durch diesen Kompromiss die Unstimmigkeiten zwischen der EU und den USA zu dämpfen, bleiben die grundlegenden Konfliktlinien weiter beste­ hen. Der transatlantische Konflikt über das richtige Krisenmanagement und die Notwendigkeit von Stimuluspaketen spitzte sich mit Verschärfung der Euro­Krise 2011 wieder zu. Durch die unterschiedlichen Lösungsansätze (Stimulus versus Haushaltskonsolidierung) hat die Einigkeit im Laufe der Krise merklich nachgelas­ sen, was eine erfolgreiche Koordinierung innerhalb der G20 erheblich erschwert. Krisenmanagement durch flexiblere Kreditvergabe

Gleich nach Ausbruch der Krise waren sich die Staaten der G20 einig, die Mittel des IWF und anderer multilateraler Finanzorganisationen aufzustocken. Neben den Rettungspaketen standen die IWF­Kredite im Zentrum des internationa­ len Krisenmanagements, mit dem Ziel, die unmittelbaren Auswirkungen der Wirtschafts­ und Finanzkrise zu bekämpfen. Vor der Krise war die Kreditvergabe des IWF stark zurückgegangen. Viele Schwellenländer, die vormals zu den Hauptkunden des Fonds gezählt hatten, hatten ihre Kredite frühzeitig zurück­ gezahlt und sich um unilaterale oder regionale Krisenversicherungen bemüht. Mit dem Beginn der Krise 2008 nahmen die Kreditaktivitäten des IWF wie­ der zu. Zwischen 2008 und Ende 2011 stellte der Fonds Kredite im Wert von 260 Mrd. Dollar an Länder bereit, die akut von der Krise betroffen waren. Zum ersten Mal waren auch wieder westeuropäische Länder dabei: 65 Prozent des Kreditvolumens flossen seit Beginn der Krise an europäische Länder; 40 Prozent allein an Euro­Zonen­Staaten.8 Die vermehrte Kredittätigkeit ging mit einer substanziellen Aufstockung der Kreditmittel des IWF einher: Im April 2009 beschlossen die G20­Staaten, die verfügbaren Ressourcen auf zirka 750 Mrd. Dollar zu verdreifachen.9 Mit der Aufstockung der Finanzmittel wurden auch die Kreditfazilitäten des IWF refor­ miert: Es wurden neue flexible bzw. vorbeugende Kreditlinien ins Leben gerufen, die ausgewählte Länder im Krisenfall jederzeit abrufen können. Über die Flexible 7 8

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G20, The G20 Toronto Summit Declaration, 27.6.2010, (abgerufen am 9.7.2012). Darüber hinaus stimmte Italien auf dem Gipfel in Cannes vierteljährlichen Überwachungen durch den IWF zu. Vgl. G20, Communiqué, Cannes, 3.­4.11.2011, (abgerufen am 9.7.2012), § 5. Das Gesamtkreditvolumen schließt Kredite im Rahmen des Poverty Reduction and Growth Trust für Entwicklungsländer aus. Bis Ende September 2011 wurden rund 95 Mrd. Dollar abgerufen. Eigene Berechnungen auf Basis von IWF­Daten. IWF, IMF Lending Arrangements, Wa­ shington, DC, 30.9.2011, (abgerufen am 9.7.2012). Auf dem G20­Gipfel in Cannes im November 2011 beauftragten die G20 ihre Finanzminister, weitere Finanzierungsoptionen, einschließlich freiwilliger bilateraler Einzahlungen, auszuloten. Im Juni 2012 auf dem G20­Gipfel in Los Cabos wurden dem IWF daraufhin 456 Mrd. Dollar an zusätzlichen Mitteln bereitgestellt.

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Credit Line (FCL) und die Precautionary Credit Line (PCL) wurden bis Ende 2011 bereits Kredite im Wert von 110 Mrd. Dollar bereitgestellt.10 Darüber hinaus wurden auch die Bedingungen der regulären Kredite erleichtert bzw. angepasst. Der IWF setzt nun nicht mehr uneingeschränkt auf eine strenge Sparpolitik und steht antizyklischen Politikmaßnahmen heute weniger negativ gegenüber als noch vor einigen Jahren. Zusätzlich achtet die Organisation nun auch verstärkt auf den Erhalt von Sozialausgaben und sozialen Sicherungssystemen.11 Durch die Ausweitung und Flexibilisierung seiner Kreditlinien hat der IWF seine umstrittene „one size fits all“­Politik abgemildert. Seit der Krise hat es des­ halb um die Rolle und Bedeutung von IWF­Maßnahmen weit weniger Konflikte gegeben als bei vorherigen Krisen.12 Nicht zuletzt aufgrund seiner substanziell aufgestockten Ressourcen war der IWF in der Krise wieder in der Lage, zügig auf Zahlungsbilanzschwierigkeiten und Finanzkrisen einzelner Länder zu reagieren und so effektiv zum internationalen Krisenmanagement beizutragen. Reduzierung makroökonomischer Ungleichgewichte

Die zuletzt stark angewachsenen globalen makroökonomischen Ungleichgewichte werden als mitverantwortlich für die Krise gesehen.13 Auf dem G20­Gipfel in Pittsburgh im September 2009 wurde deshalb beschlossen, die Bestrebungen zum Abbau globaler Ungleichgewichte in Form eines Mutual Assessment Process zu koordinieren. Mithilfe des IWF sollen die Wirtschaftspolitiken der G20­Mitglieder dahingehend überprüft werden, ob sie einen Einfluss auf globale Ungleichgewichte und globales Wirtschaftswachstum haben.14 10 Die FCL steht Ländern mit starken wirtschaftlichen Fundamentaldaten zur Verfügung. Der Fokus liegt hier auf Vorab­Qualifizierung und nicht auf nachträgliche, mit einem IWF­Programm verknüpften Konditionalitäten. Die Kriterien beinhalten die externe Position und den Marktzugang eines Landes; gesunde öffentliche Finanzen und einen stabilen geldpolitischen Rahmen; sowie einen gesunden Fi­ nanzsektor. Vgl. IWF, Factsheet: The IMF’s Flexible Credit Line (FCL), Washington, DC, 15.9.2011, (abgerufen am 9.7.2012). Die PCL verbindet einen Vorab­Qualifikationsprozess mit weiteren Konditionalitäten. Die Linie wurde für Länder mit mode­ raten Anfälligkeiten geschaffen. Auf dem Gipfel in Cannes wurde darüber hinaus eine Precautionary and Liquidty Line (PLL) ins Leben gerufen. Die PLL hat mittlerweile die PCL ersetzt. 11 Die geänderte Sichtweise spiegelt sich bereits in den neuen Kreditprogrammen für Pakistan und Lett­ land wider. Vgl. Suanne Lütz und Matthias Kranke, The European Rescue of the Washington Consen­ sus? EU and IMF Lending To Central and Eastern European Countries, LEQS Paper Nr. 22, London School of Economics, Mai 2010. 12 Vgl. Michael Bordo und Harold James, The Past and Future of the IMF Reform, 2009, (abgerufen am 9.7.2012). 13 Länder wie die USA haben große Leistungsbilanzdefizite angehäuft, während exportorientierte Länder wie Deutschland und China Überschüsse zu verzeichnen haben. Vgl. IWF, World Economic Outlook: Slowing Growth, Rising Risk, Washington, DC, September 2011, S. 25, (abgerufen am 9.7.2012). 14 G20, G20 Leaders Statement: The Pittsburgh Summit, Pittsburgh, PA, 24.­25.9.2009, (abgerufen am 9.7.2012); IWF, The G­20 Mutual Assessment Process and the Role of the Fund, Washington, DC, 2.12.2009, (abgerufen am 9.7.2012).

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G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements

Bereits im Vorfeld des Seoul­Gipfels im November 2010 kam es jedoch zu offen ausgetragenen Konflikten unter den Mitgliedern über eine mögliche quantitative Begrenzung von Leistungsbilanzdefiziten und ­überschüssen so­ wie über die Währungspolitik Chinas und der USA. Mit ihrem Vorschlag, die Leistungsbilanzüberschüsse und ­defizite auf 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen, ernteten die USA Kritik seitens der Exportländer wie Deutschland und China. Im Februar 2011 einigten sich die G20­Finanzminister schließlich in Paris auf eine Reihe von Indikatoren, nach denen globale Ungleichgewichte in Zukunft überprüft werden sollen.15 Die Indikatoren sind: Schuldenstand und öffentliche Defizite; private Sparquote und Verschuldung; sowie Elemente der Leistungsbilanz. Aufgrund der Weigerung Chinas schafften es die USA jedoch nicht, den Wechselkurs als eigenständiges Kriterium in den Indikatorenkatalog mit aufzunehmen. Wechselkurse werden lediglich im Rahmen der Leistungsbilanz ne­ ben der Finanz­, Haushalts­ und Geldpolitik bewertet. Auch wenn es richtig war, dass die G20 das Thema der Ungleichgewichte prominent auf die internationale Agenda gesetzt hat und die offenen Spannungen unter den G20­Mitgliedern mit dem Formelkompromiss beseitigt werden konnten, sind die Differenzen in die­ sem Punkt, der eng mit grundsätzlichen Fragen nationaler Wachstumsstrategien verknüpft ist, offenkundig. Eine langfristige Lösung für die Frage nach den globa­ len Ungleichgewichten bleibt also weiter auf der Tagesordnung der G20. Finanzmarktregulierung

Die Reform der Finanzmarktregulierung stand von Anfang an ganz oben auf der Agenda der G20, da eine zu laxe Regulierung als Hauptursache für die Finanzkrise gesehen wurde. Bereits auf dem ersten Gipfel in Washington wurde ein 47­Punkte­Plan mit Maßnahmen verabschiedet, um die bestehen­ de Finanzmarktregulierung zu verschärfen und die Gefahr einer neuen Krise einzudämmen: Der Plan umfasst zahlreiche Ziele, die unter anderem das Risikomanagement, die Vereinheitlichung von Rechnungslegungsstandards, die Regulierung von Steueroasen, die Beschränkung von Managerboni, die Eigenkapitalrichtlinien für Banken und die Überwachung von Ratingagenturen betreffen.16 Ein wesentlicher Erfolg der G20 war dabei der politische Impuls zur Entwicklung von Basel III: Mitte September 2010 stellte der Baseler Ausschuss 15 G20, Communiqué, Meeting of Finance Ministers and Central Bank Governance, Paris, 18.­ 19.2.2011, (abgerufen am 9.7.2012); vgl. Edwin M. Truman, The G­20 Indicative Guide­ lines: A New Improved Chapter of International Economic Policy Coordination?, RealTime Economic Issues Watch, Washington, DC (Peterson Institute for International Economics), 20.4.2001, (abgerufen am 9.7.2012). 16 Vgl. Progress Report on the Actions of the London and Washington G20 Summits, 5.9.2009, (abge­ rufen am 9.7.2012).

Katharina Gnath und Claudia Schmucker 273

für Bankenaufsicht eine Reform der Bankenregulierung vor, die dann auf dem G20­Gipfel in Seoul verabschiedet wurde.17 Basel III sieht eine verbesserte Qualität des harten Kernkapitals („core tier 1“) vor und zwingt die Banken dazu, das erforderliche harte Kernkapital von 2 auf 7 Prozent zu erhöhen. Gleichzeitig wurde als Reaktion auf die Krise eine neue Verschuldungsobergrenze („leverage ratio“) für Banken eingeführt.18 Die verschärften Regelungen sollen ab 2013 ein­ geführt und bis 2019 abgeschlossen sein. Auf dem G20­Gipfel in Cannes im November 2011 wurde die Finanz­ marktregulierung ergänzt. Der Finanzstabilitätsrat schlug vor, dass global agie­ rende systemrelevante Banken (so genannte „G­SiFis“) ab 2016 je nach Risiko und Umfang zwischen 1 und 2,5 Prozent mehr Eigenkapital vorbehalten sollen. Zusätzlich soll auch der Schattenbankensektor und der Derivatehandel stärker reguliert werden, um zu vermeiden, dass riskante Geschäfte vom regulierten Bankensektor in den Schattenbankensektor verlagert werden.19 Auch wenn es weiterhin einige Lücken in der Regulierung gibt, ist Basel III eine der wichtigsten Reformen, die die G20 als unmittelbare Krisenreaktion auf den Weg gebracht hat. Gleichzeitig zeigt sich jedoch die nachlassende Kooperationswilligkeit der Mitgliedstaaten: So wird Basel III nur mit langen Übergangsfristen bis 2019 eingeführt, die viel Zeit für dringende Reformen ver­ streichen lassen. Ferner haben sich mit der aktuellen Staatschuldenkrise in der Eurozone einige Bestimmungen von Basel III bereits überholt: Bislang werden Staatspapiere noch als risikofrei eingestuft. Daher besteht in diesem Punkt noch Überarbeitungsbedarf. Das Thema wird somit auf der G20­Agenda bleiben. Fazit: G20 und IWF – nur so stark wie ihre Mitglieder Der G20 ist es größtenteils gelungen, sich als zentrales Krisenforum der globa­ len Wirtschaftsgovernance zu etablieren. Um weiterhin zu bestehen, muss sich das Forum jedoch vom unmittelbaren Krisenmanager hin zu einem langfristigen Steuerungsgremium wandeln. Dies ist der G20 bisher nicht gelungen. Der Gipfel in Cannes war ursprünglich als Test für die zukünftige „Post­Krisen“­G20 ge­ sehen worden, doch auch hier beschäftigte sich die Gruppe vor allem mit der sich zuspitzenden Euro­Krise. In der Euro­Krise werden die zunehmenden Spannungen zwischen den Mitgliedern deutlich: Der ursprüngliche Zusammenhalt zu Beginn der Finanzkrise 17 Vgl. Bank for International Settlement, Basel III, (abge­ rufen am 9.7.2012). 18 Zum harten Kernkapital sollen in Zukunft nur noch Stammaktien und einbehaltene Gewinne fallen. Die vor allem für Deutschland wichtigen „stillen Reserven“ sollen nicht mehr dazugezählt werden. Bei der Anhebung des erforderlichen harten Kernkapitals auf 7% ist zusätzlich ein vorgeschriebener Kapitalpuffer eingerechnet. Bei der Verschuldungsobergrenze wurde festgelegt, dass die Summe der Kapitalforderungen das harte Kernkapital um nicht mehr als 33% übersteigen darf. 19 Vgl. G20, Cannes Summit Final Declaration – Building Our Common Future: Renewed Collective Action for the Benefit of All, 4.11.2011, (abgerufen am 9.7.2012).

274

G20 und IWF: Kerninstitutionen des globalen Krisenmanagements

löst sich langsam auf. Vor allem zwischen den transatlantischen Partnern besteht großes Konfliktpotenzial, unter anderem bei dem zentralen Thema globale Wachstumsstrategien: Während die USA davon ausgehen, dass die aktuelle Euro­ Krise durch zusätzliche Konjunkturmaßnahmen und eine Ausweitung der euro­ päischen Rettungsschirme gelöst werden sollte, sind vor allem die europäischen Staaten, allen voran Deutschland, der Ansicht, dass die hohen Staatsschulden abgebaut werden müssten. Mit der wachsenden Nachfrage nach Krediten – vor allem durch Industrieländer – stiegen die globale Präsenz und Bedeutung des IWF mit der Krise stark an. Er stellte umfangreiche Liquidität und Expertise bereit. Darüber hinaus hat er die Krise genutzt, sich von seiner strikten Kreditpolitik zu verabschieden, um somit seine Akzeptanz und Rolle als Krisenmanager auch über die unmittelbare Krise hinaus zu stärken. Schließlich führte die Aufwertung der G20 zum Ausbau des IWF­Überwachungsmandats. Hier ist es jedoch notwendig, dieses um weiterrei­ chende systemische und finanzsektorspezifische Aspekte zu stärken, damit der Fonds in Zukunft effektiver vor Krisen warnen kann. Die beiden Organisationen erfüllen im Zusammenspiel unterschiedliche Aufgaben im Krisenmanagement – und können sich dabei gegenseitig ergänzen: Die G20 kann als Steuerungsgremium auf höchster Ebene politische Führung übernehmen, Themen auf die internationale Agenda setzen und wichtige Impulse geben. Aufgrund ihrer Informalität kann sie schnell und flexibel auf neue Herausforderungen reagieren. Der IWF zeichnet sich im Gegensatz dazu durch sein umfangreiches Instrumentarium aus. Ferner besitzt er als internationa­ le Organisation mit fast universellem Mitgliederstatus die Legitimität, langfristige Regeländerungen vorzunehmen. Mit Blick auf das bisherige Krisenmanagement werden jedoch auch die Probleme der beiden Organisationen deutlich: Zeigen sich Uneinigkeiten zwi­ schen den Mitgliedern, kann die G20 nur eingeschränkt agieren. Trotz seines hohen Institutionalisierungsgrads sind auch dem IWF Grenzen gesetzt, wenn po­ litische Initiativen oder Instrumente gegen dominante Mitgliederinteressen gehen. Die G20 und der IWF können somit nur erfolgreiche Krisenmanager sein, wenn ihre Mitglieder bereit sind, sie mit den entsprechenden Mandaten auszustatten und auf internationaler Ebene Kompromisse einzugehen.

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Der IWF unter Reformdruck Hubert Knirsch Es ist bemerkenswert, dass sich gerade in der Finanzpolitik – die immer wie­ der die Souveränität von Staaten am Nerv berührt – mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Organisation etablieren konnte, die einen bemer­ kenswerten Grad an Handlungsautonomie aufweist. Der IWF ist fachlich hoch kompetent. In der Krise aber ist deutlich geworden, dass seine Fähigkeiten ebenso an Grenzen stoßen wie sein Einfluss auf die Politik von Mitgliedstaaten. Aus diesen Erkenntnissen erwächst Reformdruck – der am Ende vielleicht ei­ nen stärkeren IWF und ein besseres internationales Krisenmanagement hervor­ bringen wird. Die Krise vor der Krise Schon vor Ausbruch der Finanzkrise war der IWF mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Sein Bild in der Öffentlichkeit war schlecht. Immer wieder hatte der Fonds bereitwillig die Rolle des Zuchtmeisters gespielt, wenn nationale Politiker die Verantwortung für schmerzhafte Anpassungsprogramme abschieben wollten. Der IWF wurde zu einer Zielscheibe der Globalisierungskritik. Ihm wurde vorge­ worfen, alle Länder mit demselben Rezept zu behandeln – was sich aus der Sicht des Fonds dadurch erklärt, dass er immer in derselben Situation gerufen wird – nämlich dann, wenn ein Land höhere Verbindlichkeiten eingegangen ist als es sie aus seiner Zahlungsbilanz bedienen kann. Die großen Schwellenländer wiesen zu Recht darauf hin, dass die Aufteilung der Einlagequoten und damit der Stimmrechte ihren Aufstieg nur mit Verzögerung nachvollzog. Der Fonds stand in dem Ruf, eine westlich – oder amerikanisch – dominierte Organisation zu sein, die dem globalen Süden einen neoliberalen „Washington Consensus“ aufzwingen wolle. Unter unmittelbarem Druck stand der Fonds aber deswegen, weil die Nachfrage nach seinen Krediten in den 2000er Jahren immer weiter abnahm. Da der IWF seine Tätigkeit aus Kreditzinsen finanziert, war die Organisation zu Einsparungen und sogar zu Entlassungen gezwungen.

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Der IWF unter Reformdruck

Scheinbar waren die 2000er Jahre eine Zeit hoher finanzieller Stabilität. Tat­ sächlich aber bauten sich in eben jenen Jahren die Spannungen auf, die dann in der Finanzkrise von 2008 und in der europäischen Krise zum Ausbruch kamen. Dass nur wenige Schwellen­ und Entwicklungsländer in Zahlungsbilanzkrisen gerieten, hatte einen einfachen Grund: Eine Reihe von Industrieländern, allen vo­ ran die USA, kurbelte mit starker Nachfrage die Weltwirtschaft an. Verbraucher und Staat verschuldeten sich. Das Leistungsbilanzsaldo der USA entwickelte sich schon von der Mitte der 1990er Jahre an immer stärker negativ. Mit weitem Abstand folgten einige weitere Industrieländer, etwa Großbritannien, Irland und die südlichen Länder der Europäischen Währungsunion (EWU). Unterstützt von diesen Defiziten im Norden konnten die Schwellen­ und Entwicklungsländer von 2000 an insgesamt eine positive Leistungsbilanz erzielen. Im Rückblick wird deutlich, dass die eigentliche Herausforderung für den IWF in diesen Jahren eben nicht im Kreditgeschäft, sondern auf dem Gebiet der Überwachung lag. Die heraufziehenden Krisen hat er jedoch nicht erkannt. Bereits 2009 begann das Independent Evaluation Office des IWF damit, die Schwächen und Versäumnisse des Fonds aufzuarbeiten.1 Überwachung zur Krisenprävention Jeder Mitgliedstaat des IWF trägt nach Art. IV der Articles of Agreement die Verantwortung dafür, seine Finanz­ und Wirtschaftspolitik so zu gestalten, dass von ihr keine Risiken für die Partner ausgehen. Die Organisation selbst hat die Aufgabe der Überwachung („surveillance“).2 Trotz aller Möglichkeiten zur Überwachung, trotz seines Zugangs zu Informationen und der hohen fachlichen Qualität seiner Mitarbeiter hat der IWF weder die Finanzkrise von 2008 noch die Krise in der EWU vorhergesehen. Nur an einzelnen Stellen hat er Mitgliedstaaten vor Risiken gewarnt – und dies ohne Erfolg. Die Experten des IWF haben durchaus erkannt, dass die Schwachstelle der Wachstumsmaschine in dem sich ständig vertiefenden Leistungsbilanzdefizit der USA lag. Sie benannten dieses Risiko deutlich.3 Die Tatsache, dass der IWF die Subprime­Krise nicht hat kommen sehen, überschattet leider seine durchaus 1

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Der bemerkenswert offene und kritische Bericht der Independent Evaluation Office enthält die Stel­ lungnahmen des Stabs, des Geschäftsführenden Direktors und des Exekutivdirektoriums: „The failure of the fund to warn about a systemic crisis in a sufficiently early, pointed, and effective way is a hum­ bling fact that the institution has been frank about acknowledging.“ Independent Evaluation Office, IMF Performance in the Run­up to the Current Financial and Economic Crisis, Evaluation Report, Washington, DC 2011, S. 41. So entsendet der Fonds jährlich Missionen in alle Mitgliedstaaten, um mit ihnen Konsultationen nach Art. IV zu führen. Auf der Basis von Stabspapieren, die in aller Regel auch veröffentlicht werden, findet dann eine Diskussion im Exekutivdirektorium statt. Einen Überblick über die weltwirtschaft­ liche Entwicklung und ihre Stabilität gibt der IWF zweimal jährlich im World Economic Outlook. Regelmäßig äußert sich das Management des Fonds öffentlich zu weltwirtschaftlichen Fragen und zur Lage in einzelnen Volkswirtschaften. Independent Evaluation Office, a.a.O. (Anm. 2), S. 7.

Hubert Knirsch 277

wichtigen Hinweise auf das Leistungsbilanzdefizit. Die Gesprächspartner im Finanzministerium und in der Notenbank der USA waren eher ohnehin wenig dazu geneigt, die Ratschläge und Ermahnungen des IWF ernst zu nehmen.4 Auch in der Finanzwelt und der Wirtschaftswissenschaft war die beruhigende Devise „Defizite sind irrelevant“ weit verbreitet.5 Die Rolle des Fonds vor Ausbruch der Krise in der Europäischen Währungsunion hat das Institut Bruegel untersucht. Auch hier sind die Ergebnisse ernüch­ ternd. „Anstatt seinen komparativen Vorteil der internationalen Erfahrung in Krisenländern zu nutzen, fiel der IWF einer ‚Europa ist anders‘­Mentalität zum Opfer. Er versäumte es, Probleme zu benennen wie die Auseinanderentwicklung der Lohnstückkosten, der Kapitalströme und daraus folgend der nationalen Leistungsbilanzen.“6 Während der Fonds gegenüber den USA immerhin das Leistungsbilanzproblem deutlich zur Sprache brachte, geschah dies in Europa nicht – obwohl seit Anfang des Jahrzehnts die Leistungsbilanzen von Griechenland, Irland, Portugal und Spanien sich in einem ganz augenfälligen stetigen Abwärtstrend befanden. Nur vereinzelt – vor allem in Portugal – wie­ sen die Länderteams des IWF südeuropäische Regierungen darauf hin, dass ihre Länder seit dem Beitritt zur Währungsunion an Wettbewerbsfähigkeit verloren hatten. Dass hier ein grundsätzliches Phänomen vorlag, das zu einer Krise der Währungsunion führen konnte, ja musste, diese Warnung gab der IWF weder den Regierungen selbst noch ihren nördlichen Partnern oder den europäischen Institutionen. Die Intransparenz der Haushaltsdaten in Griechenland bemerkte der IWF, erkannte in ihnen aber nicht den möglichen Auslöser einer Krise. Ein strukturelles Problem lag – und liegt – darin, dass in der EWU die Geldpolitik zentralisiert ist, während die Wirtschafts­ und Finanzpolitik national geführt werden. Bei den Länderkonsultationen des IWF mit den Mitgliedstaaten musste die Geldpolitik ausgeklammert bleiben. Bei den Konsultationen mit der Kommission und der EZB war die Entwicklung der einzelnen Volkswirtschaften nur ein Nebenthema. Hier folgte die Darlegung des IWF dem Ton und der Thematik der innereuropäischen Stabilitäts­ und Konvergenzprozeduren. An keiner Stelle entstand ein Gesamtbild, das die wachsenden Divergenzen in der Währungsunion aufgezeigt hätte. Nach Ausbruch der europäischen Krise wies der IWF deutlich auf die Solvenzprobleme der europäischen Banken hin, auf einen Mangel an haf­ tendem Eigenkapital im Verhältnis zu den gestiegenen Kreditausfallrisiken. Er übte damit deutlichen Einfluss auf die europäische Krisenpolitik aus. 4

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„Die Amtsträger verhielten sich relativ optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit einer krisenhaften Anpassung.“ International Monetary Fund, Staff Report, Article IV Consultations USA, Washing­ ton, DC 2006, S. 16, (abgerufen am 27.6.2012). Vgl. die gewundene Argumentation bei Alan Greenspan, The Age of Turbulence, London 2007, S. 346ff. Jean Pisani­Ferry, André Sapir und Guntram B. Wolff, An Evaluation of IMF Surveillance in the Euro Area, Bruegel Blueprint Series Vol. XIV, Brüssel 2011, S. 2.

278

Der IWF unter Reformdruck

Nach mehreren Banken­„Stresstests“ beschloss die EU ein Programm zur Rekapitalisierung der Banken. Insgesamt ist die Überwachungstätigkeit des IWF in den Jahren vor der Krise deutlich hinter den Erfordernissen zurückgeblieben. Weder in den USA noch in Europa trug er entscheidend dazu bei, die mangelnde Vorausschau der na­ tionalen Autoritäten auszugleichen. Der IWF konnte sich vom ökonomischen Zeitgeist nicht hinreichend frei machen. Insbesondere große Staaten, die nicht befürchten müssen, IWF­Kredite zu brauchen, können die Warnungen des Fonds ignorieren. Neue Verantwortung in der Krise Der offene Ausbruch der Finanzkrise ließ das Geschäftsvolumen des IWF rasch ansteigen. Die IWF­Programme von 2008 und 2009 haben – neben den koordinierten Aktionen der G20­Länder – einen begleitenden Beitrag geleis­ tet, eine globale Ausbreitung der Krise zu verhindern.7 Der IWF bemühte sich insbesondere, den Absicherungsbedürfnissen von Mitgliedstaaten stärker entgegenzukommen. Er entwickelte neue Formeln der Kreditvergabe, die von dem ehernen Grundsatz abweichen, Gelder nur gegen Auflagen zur Verfügung zu stellen. Im Frühjahr 2009 wurde die Einrichtung der Flexible Credit Line beschlossen. Der Fonds kann Ländern vorsorglichen Kreditzugang gewäh­ ren, die sich gegen Ansteckungseffekte einer internationalen Krise wappnen wollen. Voraussetzungen für eine Zusage sind solide Fundamentaldaten und eine stabilitätsorientierte Wirtschafts­ und Finanzpolitik.8 Zudem wurde die Precautionary Credit Line etabliert, die weniger hohe Anforderungen an Daten und Politik stellt.9 Bald mussten die Ressourcen des IWF aufgestockt werden. Im September 2008 waren von dem Fondskapital in Höhe von 349 Mrd. Dollar immerhin 199 Mrd. Dollar frei verfügbar gewesen. Bis März 2009 war dieser Bestand auf 143 Mrd. Dollar abgeschmolzen. Der IWF erhält seine regulären Mittel als Einlagen von den Mitgliedstaaten. Die Aufteilung ist durch Quoten festgelegt, nach denen sich auch die

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Der Schwerpunkt lag zunächst in Ost­ und Mittelosteuropa. Große neue Programme waren für die Ukraine, Ungarn und Pakistan vereinbart worden, kleinere für Island, Lettland und Georgien. Die Auszahlungen erfolgten besonders schnell – „frontloaded“ – so dass in den vier Monaten bis zum Jahresende 2008 mehr als 10 Mrd. Sonderziehungsrechte (SZR) abflossen. Kurz nacheinander erhielten Mexiko (31,7 Mrd. SZR), Polen (13,7 Mrd. SZR) und Kolumbien (7 Mrd. SZR) Zusagen aus der Flexible Credit Line (FCL). Alle drei Programme sind regelmäßig verlängert worden, ohne dass die Mittel in Anspruch genommen wurden. Weitere Zusagen unter der FCL hat es bisher nicht gegeben. Sie ist bisher nur für Mazedonien genutzt worden.

Hubert Knirsch 279

Stimmgewichte der Staaten im Exekutivdirektorium richten.10 Die Quoten sol­ len dem wirtschaftlichen Gewicht der einzelnen Staaten entsprechen, das nach einer Formel aus Bruttoinlandsprodukt (BIP), Anteil am Welthandel und Höhe der Zentralbankreserven ermittelt wird. Anpassungen müssen eigens beschlossen werden, was in der Regel in Abständen von fünf Jahren geschieht. In den 2000er Jahren haben die Quoten den Aufstieg der neuen Schwellenländer und vor allem Chinas zunächst nur ungenügend nachvollzogen. Die BRIC­ Staaten drängen nunmehr auf einen größeren Anteil. Der hohe Mittelbedarf des Fonds in der Krise gibt ihnen dabei einen Hebel in die Hand. Ihre Bereitschaft, dem Fonds Mittel auf dem Kreditweg – also ohne Anspruch auf ein Stimmrecht – zur Verfügung zu stellen, wird in enger Verbindung mit den Fragen der Quotenreform behandelt. Noch vor Ausbruch der Krise war 2008 eine Reform der Quoten beschlossen worden – die 13. in der Geschichte des Fonds –, die im März 2011 in Kraft ge­ treten ist. Die Quoten aufstrebender Volkswirtschaften wurden um 20 Mrd. SZR erhöht.11 Das Basisstimmrecht, das auch den kleinsten Mitgliedstaaten zusteht, wurde verdreifacht. Auf dem Londoner Gipfeltreffen im April 2009 einigte sich die G20 auf eine erneute und tiefer greifende Quotenreform. Diese 14. Revision, die im Dezember 2010 verabschiedet wurde, verdoppelt das Grundkapital des IWF von 240 auf 480 Mrd. SZR, etwa 770 Mrd. Dollar. Damit einher geht eine Verschiebung von 6 Prozent der Anteile zugunsten aufstrebender Volkwirtschaften. China wird vor Deutschland und ganz knapp hinter Japan an dritter Stelle unter den Anteilseignern stehen, Brasilien und Indien werden zu den größten zehn gehö­ ren. Die Quoten der armen Staaten bleiben dabei unangetastet. Zwei europäische Industriestaaten sollen den Vorsitz von Stimmrechtsgruppen abgeben. Durch die 14. Reform verringert sich der Stimmanteil der USA von 16,7 auf 16,5 Prozent; der deutsche von 5,8 auf 5,3 Prozent. China steigt von 3,9 auf 6,0 Prozent; Indien von 2,3 auf 2,6 Prozent.12 Bereits 2015 soll eine weitere Quotenreform erfolgen, die dritte innerhalb von sechs Jahren. Dazu soll aber zunächst die Quotenformel selbst einer Revision unterzogen werden. 10 Zwar dürfen die Stimmgewichte nicht überbewertet werden – das Exekutivdirektorium trifft Kredit­ entscheidungen des IWF in aller Regel im Konsens. Zumindest informell aber spielen die Quotenan­ teile durchaus eine Rolle. Bestimmte Grundsatzentscheidungen erfordern ein Quorum von 85 Prozent der Anteile, so dass etwa die USA in diesen Fällen eine Sperrminderheit haben. Zu den Kontroll­ und Entscheidungsmechanismen des IWF vgl. International Monetary Fund, Independent Evaluation Office, Governance of the IMF – An Evaluation, Washington, DC 2008, (abgerufen am 27.6.2012); kritisch dazu Randall S. Stone, Controlling Institutions. International Organizations and the Global Economy, Cambridge University Press 2011. 11 Sonderziehungsrechte (SZR) sind eine künstliche Währungseinheit; der Wert entsprach im März 2011 wie im April 2012 1,55 Dollar. Historische Kurse sind abrufbar unter: imf.org – data and statistics. 12 International Monetary Fund, Quota and Voting Shares, (abgerufen am 27.6.2012). Die Revision ist von den USA bis zur Herbsttagung 2012 nicht ratifiziert worden.

280

Der IWF unter Reformdruck

Die schnellste Möglichkeit zur Verstärkung der Ausleihkapazität ist nicht eine all­ gemeine Erhöhung der Quoten, sondern eine Vereinbarung unter Zentralbanken, dem IWF Kreditlinien zur Verfügung zu stellen. Das entscheidende Forum ist die Gruppe der 20 (G20), der alle wichtigen Kreditgeberstaaten angehören. Sie beschloss zunächst auf ihrem Londoner Gipfeltreffen im April 2009, die freien Fondsressourcen um 250 Mrd. Dollar zu erhöhen. Zum großen Einsatzgebiet des Fonds entwickelte sich vom Frühjahr 2010 an die Europäische Währungsunion (EWU). Angesichts der Zuspitzung der Krise drängte die Geschäftsführende Direktorin Christine Lagarde auf neue zusätzliche Mittel in Höhe von 500 Mrd. Dollar. Obwohl noch mehr als 400 Mrd. Dollar an nutzbaren Ressourcen zur Verfügung standen,13 einigte sich die G20 am Rande der IWF­Frühjahrstagung 2012, dem Fonds weitere Kreditmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Unter Beteiligung der europäischen und der BRICS­ Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), aber nicht der USA, wurden 430 Mrd. Dollar zugesagt. Das Kapital des IWF und die Kreditlinien der Mitgliedstaaten, auf die er zugreifen kann, werden damit auf etwa 1300 Mrd. Dollar steigen – fast das Vierfache der Kapazität, die vor der Krise bestand. Abzüglich der bereits gebundenen Mittel werden mehr als 800 Mrd. Dollar für künftige Programme verfügbar sein. Die Rolle des IWF in der Europäischen Währungsunion Im April 2010 beschloss der IWF das erste Programm für Griechenland. Irland und Portugal folgten im Dezember 2010 und im Mai 2011. Im März 2012 wurde ein neues und erweitertes Programm für Griechenland verabschiedet. Der IWF trägt etwa ein Drittel zu den Rettungskrediten für die EWU­Staaten bei, zwei Drittel kommen aus europäischen Quellen. Mitarbeiter des IWF, der EZB und der Europäischen Kommission arbeiten in Ländertroikas zusammen. Europa nutzt die Erfahrung, die der IWF in jahrzehntelanger Arbeit mit konditionierten Kreditprogrammen aufgebaut hat. Der Kreditbedarf der Euro­Staaten ist hoch. Die IWF­Kredite erreichen, ge­ messen an den Einlagequoten der Schuldnerstaaten, präzedenzlose Höhen.14 Über den IWF sind Schwellen­ und sogar Entwicklungsländer indirekte Kreditgeber des alten Kontinents geworden. Die Tatsache, dass der IWF eine wichtige Rolle auch bei der Krisenbewältigung innerhalb der EU und der EWU spielt, erhöht zweifellos seine Bedeutung. Zugleich 13 Vgl. IMF’s Financial Resources and Liquidity Position, 2010 – Februar 2012, (abgerufen am 27.6.2012). 14 Nimmt man die vorsorglichen Programme für Polen, Mexiko und Kolumbien aus, dann entfallen mit dem neuen Griechenland­Programm jetzt drei Viertel der Kreditzusagen (67 von 88 Mrd. SZR – Grie­ chenland und Portugal je 24 Mrd. SZR, Portugal 19 Mrd. SZR) und zwei Drittel der ausstehenden Kredite (49 von 74 Mrd. SZR – Griechenland 19 Mrd. SZR, Portugal 16 Mrd. SZR, Irland 14 Mrd. SZR) auf die drei EWU­Staaten (Stand April 2012, aktuelle Stände, vgl. IMF, Financial Activities of the IMF, a.a.O. (Anm. 1).

Hubert Knirsch 281

aber hängt auch für den Fonds selbst sehr viel vom Erfolg dieser Programme ab. Seine Kreditrisiken haben sich sehr stark auf drei Länder konzentriert. Im Fall Griechenlands war der IWF mehrmals gezwungen, die Wachstumsannahmen nach unten zu revidieren, die dem Programm zugrunde lagen. Das Maß der Verschuldung ist sehr hoch – vor allem dann, wenn es an den Exporteinnahmen des Landes gemessen wird. Und seit der Umschuldung der privatwirtschaftlichen Gläubiger besteht ein besonders großer Anteil der Verschuldung aus Forderungen der europäischen Partnerstaaten, der EZB oder des IWF selbst. Notkredite wie die des IWF – und jetzt der europäischen Rettungsfonds – kaufen Zeit für Reformmaßnahmen. Damit die Konjunktur anspringt, müssen Investoren investieren, Konsumenten konsumieren, Nachfrager im Ausland neue Bestellungen aufgeben. Dies bewirkt ein Programm in der Regel nicht erst durch den Erfolg der Reformen, sondern dadurch, dass es die Erwartungen stabilisiert, also Vertrauen schafft. Im Kontext der Euro­Krise erweist sich dies als besonders schwierig. Eine neue systemische Rolle des IWF? Der IWF steht zusammen mit der G20 und den europäischen Institutionen im Zentrum des Krisenmanagements. Seine Rolle wird von den Mitgliedstaaten geschätzt, er erhält die finanziellen Ressourcen, die er braucht. Insbesondere die Schwellenländer, auf die der Fonds zunehmend angewiesen ist, akzeptieren ihn bei aller Kritik an dem Übergewicht westlicher Staaten als eine multilate­ rale Organisation, die auch ihren Interessen dient. Die öffentliche Kritik am „Zuchtmeister“ IWF ist angesichts der realen Herausforderungen der Krise nicht verstummt, aber in den Hintergrund getreten. Zwei Weiterentwicklungen stehen in der Diskussion: Der IWF könnte – mög­ licherweise zusammen mit regionalen Mechanismen – ein stärkeres „global fi­ nancial safety net“ knüpfen. IWF­Kredite müssten dann reichlich verfügbar und nicht an komplizierte Bedingungen gebunden sein – zumindest für Staaten mit guten Fundamentaldaten und stabilitätsorientierter Politik. Gestützt auf einen starken und großzügigen IWF könnten sich die Staaten ganz auf Wachstum kon­ zentrieren, ohne auf Sicherheit zu achten.15 Solche „Sicherheitsnetze“ könnten allerdings die Akrobaten dazu verleiten, ihre Übungen immer riskanter zu gestal­ ten. Gute Argumente sprechen daher für eine „constructive ambiguity“,16 bei der die Bereitschaft des IWF zum „Auffangen“ von Staaten nicht vorprogrammiert, sondern an deren eigenes verantwortungsvolles Verhalten und nötigenfalls an Korrekturen geknüpft ist. Konsens besteht dagegen bei der Verbesserung der „surveillance“. Vor allem soll die Überwachungstätigkeit globalisiert werden: Neben den Einzelanalysen 15 Ettore Dorucci und Julie McKay, The International Monetary System after the Crisis, ECB Occasional Paper Series, Frankfurt/Main, Februar 2011, S. 6. 16 Ebd., S. 37.

282

Der IWF unter Reformdruck

von Staaten soll vor allem die Stabilität der Weltwirtschaft insgesamt betrachtet werden. Alle Staaten haben ein Interesse an einem stabilitätsorientierten Verhalten aller anderen. „Wenn sie eine Plattform wollen, von der aus sie andere Staaten beeinflussen können, dann müssen sie auch anderen eine solche geben und sich selbst beeinflussen lassen.“17 Die G20 hat einen Mutual Assessment Process (MAP) entwickelt, zu dem der IWF durch spezielle Analysen maßgeblich beiträgt.18 Öffentlich legt der Fonds je­ weils zur Frühjahrs­ und Herbsttagung einen Consolidated Multilateral Surveillance Report vor.19 Dass aber auch dieses Dokument die globalen Zusammenhänge noch nicht ausreichend erfasst, wird schon daran deutlich, dass zusätzlich an einem Unified Spillover Report gearbeitet wird, der die Wechselwirkungen zwi­ schen den fünf wichtigsten Volkswirtschaften erfassen soll. Die globalen Ungleichgewichte haben sich in der Krise nur vorübergehend verringert. Der IWF prognostiziert der EWU für die kommenden Jahre einen Leistungsbilanzüberschuss, den USA einen neuerlichen Anstieg des Defizits und China eine spiegelbildliche Zunahme des Überschusses. Die stärkere Betonung der Binnenwirtschaft in China steht dieser Prognose allerdings entgegen. Bei alle­ dem aber werden die Folgen der Krise noch auf Jahre hinaus die Banken und die Staatshaushalte belasten und damit die Handlungsspielräume der Zentralbanken einschränken. Eine neue Krise würde auf geschwächte nationale Abwehrkräfte treffen – umso wichtiger könnte in Zukunft die Rolle des IWF sein. So sehr der IWF also seine Mittel und Fähigkeiten vervollkommnen muss und wird, bleibt er ein Instrument der Staatengemeinschaft. Die Mitgliedstaaten – und insbesondere die großen, für die Weltwirtschaft besonders wichtigen Volkswirtschaften – müssen entscheiden, ob sie auch in guten Zeiten bereit sein wollen, zur Vorbeugung von Krisen zusammenzuarbeiten. Dies kann bedeuten, national präferierte Wege hinterfragen zu lassen und mit Partnern, die durch Tun oder Unterlassen zum Aufbau von Ungleichgewichten beitragen, offene Diskussionen zu suchen. Der IWF muss alles daran setzen, auf der Basis erstklas­ siger Analysen auch gegenüber großen Mitgliedstaaten selbstbewusst und über­ zeugend aufzutreten, Krisengefahren frühzeitig und genau zu lokalisieren und politische Entscheidungen als Katalysator zu fördern.

17 Raghuram G. Rajan, Fault Lines – How Hidden Fractures Still Threaten the Global Economy, Prince­ ton University Press 2010, zitiert nach ebd., S. 41. 18 Dorucci und McKay, The International Monetary System after the Crisis, a.a.O. (Anm. 16), S. 41. 19 International Monetary Fund, Managing Director’s Consolidated Multilateral Surveillance Report to the International Monetary and Financial Committee, Washington, DC, April 2012, (abgerufen am 27.6.2012).

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WTO: Kampf dem Protektionismus Stormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker Als der Zusammenbruch zahlreicher Investmentbanken im Herbst 2008 die Weltwirtschaft in ihren Grundfesten erschütterte, fürchteten viele Beobachter nicht nur einen massiven Einbruch des Welthandels, sondern auch einen ra­ piden Anstieg des weltweiten Protektionismus, wie er in der letzten großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre zu beobachten war. Doch sowohl der Welthandel als auch das Welthandelssystem haben sich als stabiler erwiesen als viele vermuteten. Gleichwohl zeigten sich in der Krise auch die Grenzen der Welthandelsorganisation (WTO): In den Bereichen, in denen ihr Regelwerk schwach ist (zum Beispiel bei Exportrestriktionen, Subventionen oder auch nichttarifären Handelshemmnissen), war sie weit weniger in der Lage, protek­ tionistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Schließlich wurden auch diejeni­ gen enttäuscht, die sich durch die Finanz­ und Wirtschaftskrise einen Impuls für die seit Jahren stagnierenden Verhandlungen unter der Doha­Runde der WTO versprochen hatten. Seit Jahren zeigen die WTO­Mitglieder wenig Interesse für weitere Handelsliberalisierungen, während gleichzeitig angesichts der schleppenden wirtschaftlichen Erholung die Versuchung steigt, die hei­ matlichen Märkte vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Die Zahl der Handelskonflikte ist zwar noch nicht bemerkbar gestiegen, doch weht heu­ te ein schärferer Wind in den internationalen Handelsbeziehungen als noch vor der Wirtschafts­ und Finanzkrise, und die Drohgebärden haben deutlich zugenommen. Finanzkrise, Welthandel und Handelsfinanzierung Die Finanzkrise 2008 führte zu starken Einbrüchen im Handel, bei den Direktinvestitionen sowie den Finanzströmen. Während vor allem die west­ lichen Staaten von der Finanzkrise betroffen waren, litten auch die asia­ tischen Schwellenländer, in erster Linie unter der sinkenden Nachfrage aus den

284

WTO: Kampf dem Protektionismus

Industriestaaten (siehe Tabelle 6).1 2009 brach der Welthandel um 10,4 Prozent ein. Nach Angaben der WTO war dies der stärkste Einbruch des Welthandels seit Beginn der Messung der Handelsströme im Jahr 1965.2 Bereits 2010 erholte sich der Welthandel wieder und wuchs insgesamt um 12,6 Prozent, womit der Einbruch von 2009 innerhalb eines Jahres wieder wett­ gemacht werden konnte. Die Zuwachsraten waren allerdings vor allem China und anderen dynamischen Schwellenländern zu verdanken.3 Nicht nur, dass letztere deutlich weniger von der Krise betroffen waren, sie erholten sich auch schneller und verzeichneten wieder höhere Wachstumsraten. Durch diese Entwicklung hat sich der Abstand zwischen Industrie­ und Schwellenländern, gemessen am Anteil am Welthandel, verkleinert. Gleichwohl sind Weltwirtschaft und Welthandel nach wie vor fragil. So betrug das Wachstum des Welthandels 2011 nach Angaben des IWF nur 5,8 Prozent, und für 2012 wird ein Absinken auf 3,2 Prozent erwartet. Auch 2011 kam der Großteil des Exportwachstums aus den Entwicklungs­ und Schwellenländern. So konnten beispielsweise Brasilien und Indonesien 2011 das Volumen ihrer Güterexporte um 27 Prozent bzw. 29 Prozent steigern. China verzeichnete ei­ nen Anstieg von 20 Prozent.4 Tabelle 6: Der Welthandel in der Krise: Handelsvolumen 1993 –2013 Handelsvolumen: Exporte 1993–2003

2009

2010

2011

(Durchschnitt)

2012

2013

(Schätzung)

(Schätzung)

Industrieländer

6,2

-11,3

12,0

5,3

2,2

3,6

Schwellen- und Entwicklungsländer

8,4

-7,6

13,7

6,5

4,0

5,7

Industrieländer

7,0

-11,9

11,4

4,4

1,7

3,3

Schwellen- und Entwicklungsländer

7,2

-8,3

14,9

8,8

7,0

6,6

Handelsvolumen: Importe

Quelle: IMF, World Economic Outlook, Washington, DC, Oktober 2012, S. 203, (abgerufen am 22.10. 2012).

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IWF, World Economic Outlook: Slowing Growth, Rising Risks, September 2011, (abgerufen am 25.1.2012); vgl. Razeen Sally, Inter­ national Trade and Emerging Markets since the Crisis, African Institute of International Affairs, Oc­ casional Paper No 81, März 2011, S. 7, (abgerufen am 10.7.2012). WTO, World Trade Report, Genf 2010, S. 20, (abgerufen am 10.7.2012). IWF, World Economic Outlook, a.a.O. (Anm. 1). Vgl. IWF, Direction of Trade Statistics, www.imf.org (abgerufen am 31.10.2012).

Stormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker

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Der globale Handel litt zudem unter der Liquiditätsklemme an den Finanz­ märkten. Infolge des Zusammenbruchs von Lehman Brothers im September 2008 nahm die Risikobereitschaft der Banken deutlich ab, was sich auch nega­ tiv auf die Refinanzierungsmöglichkeiten von Exporteuren und Importeuren auswirkte. Handelsfinanzierung in Form von Exportkrediten, ­versicherungen und ­garantien ist jedoch eine wichtige Grundlage für den weltweiten Handel.5 Die tatsächliche Diskrepanz in der Handelsfinanzierung wurde in zahlreichen Studien und Befragungen auf weltweit rund 250 Mrd. Dollar geschätzt.6 Dass die Finanzierungs­ und Versicherungslücken auf den privaten Kapitalmärkten in Finanzkrisen größer werden, ist nichts Ungewöhnliches und zeigte sich zuletzt in der Asienkrise der späten 1990er Jahre. Das Besondere an der jüngsten Krise war jedoch, dass nicht nur die länderspezifischen Ausfallrisiken zunahmen, sondern private Banken und Versicherer aufgrund ihrer erheblichen Verbindlichkeiten insgesamt risikoscheuer wurden und ihre Kreditkonditionen verschärfen, indem sie Laufzeiten verkürzten, Prämien erhöhten und Volumina verkleinerten. Diese Entwicklung stellte vor allem ein Problem für die Entwicklungsländer dar. Es be­ stand die Gefahr, dass durch die rückläufige Handelsfinanzierung die Rezession in diesen Ländern verlängert und verschärft werden würde. Trotz eines Anstiegs des Handelsvolumens im Jahr 2010 hatten aber vor allem die ärmeren Länder auf­ grund der immer noch bestehenden Risiken nach wie vor Probleme beim Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten. Die WTO bemühte sich daher, den öffentlichen Sektor (insbesondere staat­ lich gestützte Exportkreditagenturen) zu mobilisieren, um die Diskrepanz in der Handelsfinanzierung wieder zu schließen. 2008 traf sich unter der Leitung von WTO­Generaldirektor Pascal Lamy eine Expertengruppe für Handelsfinanzierung, um einerseits kurzfristige Lösungen für das Problem zu finden und um andererseits technische Maßnahmen zu entwickeln, die eine ver­ besserte Interaktion zwischen privaten und öffentlichen Akteuren mittel­ und langfristig ermöglichen sollten.7 Auch die G20 reagierte auf die Krise in der Handelsfinanzierung. So einigten sich die Staats­ und Regierungschefs auf ihrem zweiten Gipfel in London im April 2009 darauf, 250 Milliarden Dollar für die Handelsfinanzierung bereitzu­ stellen, um den Welthandel zu stabilisieren.8 Die zusätzliche Handelsfinanzierung vor allem durch die G20­Staaten trug nach einer Erhebung der Internationalen Handelskammer (ICC) neben anderen Faktoren dazu bei, die Handelsschocks 5 6

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Laut Angaben der WTO sind rund 80 bis 90 Prozent des Welthandels von Handelsfinanzierung ab­ hängig, meistens kurzfristiger Art. Vgl. WTO, Trade Finance, (abgerufen am 10.7.2012). Mariem Malouche, Trade and Trade Finance Developments in 14 Developing Countries post Sep­ tember 2008: A World Bank Survey, Policy Research Working Papers, 5138, Washington, DC, 2009, (abgerufen am 10.7.2012), S. 5, 8, 10, 13. WTO, Trade Finance, a.a.O. (Anm. 5). G20, Global Plan for Recovery and Reform, London April 2009,