Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 30. Band (1989) [1 ed.] 9783428467068, 9783428067060

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wurde 1926 von Günther Müller gegründet. Beabsichtigt war, in dieser Publikation

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German Pages 361 Year 1989

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 30. Band (1989) [1 ed.]
 9783428467068, 9783428067060

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT

HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. H E R M A N N KUNISCH, PROF. DR. T H E O D O R BERCHEM, PROF. DR. E C K H A R D HEFTRICH, PROF. DR. FRANZ L I N K U N D PROF. DR. ALOIS W O L F

N E U E F O L G E / DREISSIGSTER B A N D

1989

Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Hermann Kunisch, Nürnberger Straße 63, 8000 München 19, Professor Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, A m H u b land, 8700 Würzburg, Prof. Dr. Eckhard Heftrich, Germanistisches Institut der Universität, Domplatz 20-22, 4400 Münster, Prof. Dr. Franz Link, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude IV, 7800 Freiburg i. Br. (federführend), und Prof. Dr. Alois Wolf, Deutsches Seminar der Universität, Werthmannplatz, 7800 Freiburg i. Br. Redaktion: PD Dr. Kurt Müller, Englisches Seminar der Universität, Kollegiengebäude IV, 7800 Freiburg i. Br. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausstattung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der europäischen Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Dietrich-Schäfer-Weg 9, 1000 Berlin 41.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH DREISSIGSTER BAND

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH I M AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N HERMANN KUNISCH T H E O D O R BERCHEM, E C K H A R D HEFTRICH FRANZ L I N K U N D ALOIS WOLF

N E U E F O L G E / DREISSIGSTER B A N D

1989

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Redaktion: Kurt Müller

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-06706-1

INHALT AUFSÄTZE Dennis H. Green (Cambridge), Die Schriftlichkeit und die Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 9 Albrecht Classen (Tuscon/Arizona), Ulrichs v o n Etzenbach Wilhelm von Wenden —

ein Frauenroman?

27

Kurt Schlüter (Freiburg i. Br.), Zu Shakespeares früher Komödie The Two Gentlemen of Verona

45

Uwe Baumann (Düsseldorf), Seneca-Rezeption im neulateinischen Drama der englischen Renaissance 55 Kurt Müller (Freiburg i. Br.), Satire und Metadrama: Das Theatermotiv in Ben Jonsons Volpone 79 Volker Kapp (Erlangen), Poetologische Aussagen i n Le Bravure del Capitano Spavento

von Francesco Andreini: Zur Bedeutung der Ragionamenti 40 und 49 für das Verständnis der Commedia deirarte

93

Dietmar Fricke (Duisburg), Les rapports entre la musique et la politique dans Le Neveu de Rameau de Diderot

111

Rolf Lessenich (Bonn), Jew, Artist, Providential Leader: Neoromantic Aspects in George Eliot's Daniel Deronda 123 Eberhard Wilhelm Schulz (Münster), »Das Literarische macht frei. ..«: Über aphoristische Sätze Fontanes und ihre epische Integration 141 Hermann F. Weiss (Ann Arbor/Michigan), Spurensicherung: Zu älteren Auktionsund Autographenkatalogen als Quellen für die deutsche Literaturgeschichte 163 Gerd Schmidt (Freiburg i. Br.), Sweeneys düstere Begleiter

195

Michael Maar (Bamberg), Der Teufel in Palestrina: Neues zum Doktor Faustus und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns 211 Steve Giles (Nottingham), Rewriting Brecht: Die Dreigroschenoper

1928-1931

Paul Goetsch (Freiburg i. Br.), Das Kirchenmotiv in der modernen englischen Lyrik 281

249

6

Inhaltsverzeichnis

Charles Eidsvik (Athens/Georgia), Playful Perceptions: E. L. Doctorow's Use o f Media Structures and Conventions i n Ragtime 301

KLEINE BEITRÄGE Volker Kapp (Erlangen), Sprache als gesellschaftsgeschichtliches Instrumentarium v o n Aufklärung u n d Französischer Revolution 311 Michael Neumann (Münster), Novalis u n d Walter v o n Montberry

317

Michael Neumann (Münster), Orpheus, Tobler u n d Hebel

322

Franz Link (Freiburg i. Br.), W a l t W h i t m a n n u n d W i l h e l m Raabes Schulmeister Eyring »singen sich selbst« 324

BUCHBESPRECHUNGEN /. Douglas Woods and David A. E. Pelteret, eds., The Anglo-Saxons: Synthesis and Achievement (von Alfred Bammesberger) 327 Carmina Burana: Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer. Herausgegeben von Benedikt Konrad Vollmann (von Fritz Peter Knapp) 328 Arno Borst, Barbaren, Ketzer und Artisten: Green)

Welten des Mittelalters

(von Dennis H . 331

Jean Lebeau /Jean-Marie Valentin, hg., L'Alsace au siècle de la Reforme, 1482-1621: Textes et Documents (von Klaus Grubmüller) 333 Hans Peter Heinrich, Sir Thomas Mores »Geschichte König Richards III.« im Lichte humanistischer Historiographie und Geschichtstheorie (von Bernhard Kytzler)

338

Uwe Baumann und Hans Peter Heinrich, Thomas Morus —Humanistische Schriften (von Bernhard Kytzler) 339 Uwe Baumann, Antoninus Bassianus Caracalla. Einführung. Quellenkritischer Kommentar. Text Lateinisch-Deutsch (von Fidel Rädle)

342

William Gager, Dido Trageodia. Herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Uwe Baumann und Michael Wissemann (von Fidel Rädle) 345 Andreas Brunner SJ, Dramata sacra, Salzburg1684. Sammelband der vierundzwanzig von 1644 bis 1646 in der Innsbrucker Jesuitenkirche in deutscher Sprache aufgeführten religiösen Dramen (von Fidel Rädle) 347

Inhaltsverzeichnis

7

Elida Maria Szarota., Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet. Eine Periochen-Edition. Vierter Band: Indices; Bearbeitet von Peter Mortzfeld (von Fidel Rädle) . . 349 Erich Köhler, Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert, hg. Henning Krauß und Dietmar Rieger (von Volker Kapp) 350 Armin Paul Frank, T. S. Eliot Criticism and Scholarship in German. A Descriptive Survey, 1923-1980. With Reference to the Holdings of the Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek at Göttingen, ed. Erika Hulpke (von Gerd Schmidt) 351

Namen- u n d Werkregister (von Kurt Müller)

355

NACHWEIS DER A B B I L D U N G S. 215: Photoporträt v o n Gustav Mahler. Aus Bild und Text bei Thomas Mann, Hans Wysling (Bern u n d M ü n c h e n , 1975), S. 154.

hg.

Die Schriftlichkeit und die Geschichte der deutschen Literatur i m Mittelalter Von Dennis H. Green Die christliche Mission brachte nicht nur eine neue Religion nach Nordeuropa, sondern auch, weil die Kirche eine Buchreligion darstellte und sich weitgehend das Kulturerbe der klassischen Antike angeeignet hatte, eine Buchkultur. Die Verbreitung dieser Buchkultur in einem bis dahin von einer mündlichen K u l t u r beherrschten Gebiet hatte zur Folge, daß jetzt i n der mittelalterlichen Gesellschaft zwei Kulturen nebeneinander bestehen: auf der einen Seite eine lateinische schriftliche Literatur religiösen Gehalts, von gebildeten Klerikern vertreten, aber auf der anderen Seite eine volkssprachliche mündliche Tradition weltlichen Gehalts, von ungebildeten Laien getragen. 1 I n dieser schematischen Darstellung bleibt keine der beiden Kulturen für sich selbst bestehen, es gab von Anfang an wechselseitige Beziehungen. M i r geht es jetzt darum, eine dieser Verbindungen in Deutschland in der Zeitspanne 800-1300 nachzuzeichnen, um die Frage zu beantworten, wie das Merkmal >volkssprachlich< oder >deutsch< seinen Geltungsbereich ausdehnte, um neben einer lateinischen schriftlichen Literatur jetzt eine deutsche schriftliche Literatur hervorzubringen. Dieser Wandel hat sich nicht plötzlich vollzogen, sondern über Jahrhunderte, so daß für ihn eine Reihe von historischen Erklärungen gesucht werden muß. W i r beginnen am besten mit dem, was in der deutschen Literaturgeschichte des Mittelalters als >die große Lücke< bekannt ist. Darunter versteht man folgendes: obwohl schriftliche Texte im Ahd. kurz vor 800 einsetzen, hören sie zum größten Teil schon um 900 auf, so daß wir (sehen wir einmal von Notker in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts ab) erst um 1060 wieder auf schriftliche Texte stoßen, die sich von jetzt an ununterbrochen fortsetzen. Diese Lücke von anderthalb Jahrhunderten hat eine Anzahl Erklärungen hervorgerufen, von denen keine zufriedenstellt. Die eine Reaktion bestand in der Annahme, das Problem existiere nicht, wie aus dem I. Band von Ehrismanns Literaturgeschichte hervorgeht, wo in den Überblick über das Althochdeutsche, der mit Notker den Gipfelpunkt erreicht, eine Reihe von lateinischen Texten aus dem 10. und 11. Jahrhundert 1 Vgl. W. Haug, »Schriftlichkeit und Reflexion. Z u r Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums i m Mittelalter«, in: A . und J. Assmann, C. Hardmeier (Hgg.), Schrift und Gedächtnis, Beiträge %ur Archäologie der literarischen Kommunikatton (München, 1983). S. 141 f.

10

Dennis H. Green

eingefügt ist, die auf deutschem Boden entstanden sind. Ehrismanns Beweggrund ist klar (er w i l l eine literarische Kontinuität vortäuschen), aber genauso klar ist das Verfehlte an seinem Verfahren, 2 denn die lateinische Literatur hat sich an ein anderes Publikum gerichtet, wurde unter anderen Umständen produziert, und bewegte sich auf einem ganz anderen Niveau, so daß hier zwei disparate Erscheinungen gleichgesetzt werden. Ferner: wenn Ehrismann die lateinische Literatur des 10. und 11. Jahrhunderts in seine Geschichte aufnimmt, so hätte er sie auch in der vorangehenden und darauffolgenden Periode betrachten sollen. Wenn er das getan hätte, so hätte er sich genau mit dem Problem konfrontiert gesehen, dem er ausgewichen ist, denn vor und nach dieser 150jährigen Periode finden wir volkssprachliche und lateinische Literatur vor, während in der Lücke nur Latein vorkommt. Dieselbe falsche Annahme macht auch Stammler, wenn auch umgekehrt, denn um diese Lücke zu schließen, führt er die mündliche Überlieferung in der Volkssprache an. I n einer i m übrigen wertvollen Diskussion der indirekten Zeugnisse einer mündlichen Überlieferung in Deutschland behauptet er, sie überbrücke die K l u f t zwischen Otfrid und Ezzo. 3 Der hier begangene Fehler entspricht dem Ehrismanns, wenn auch auf einem anderen Niveau, denn die von Stammler nachgewiesene Kontinuität betrifft die dichterische Produktion in deutscher Sprache, nicht aber in schriftlicher Form. Geht es uns aber u m die Schriftlichkeit, dann liegt es auf der Hand, daß diese Lücke nicht durch mündliche Zeugnisse geschlossen werden kann. Eine dritte radikale Lösung hat Meißburger vorgeschlagen, der ebenfalls das Problem leugnen wollte, indem er die deutschsprachige Literatur der karolingischen Zeit als >europäisch< abtut und die lateinische Literatur der ottonischen Zeit für genauso international hält, so daß für ihn die deutsche Literatur erst um 1060 beginnt. 4 Die ahd. Literatur auf diese Weise aufs Nebengleis einer Vorgeschichte der deutschen Literatur< abzurangieren hätte aber nur dann einen Sinn, wenn sie eine mündliche gewesen wäre. Sie bleibt aber unbestreitbar schriftlich, kann also 2 Ehrismanns Vorgehen ist von W. Schröder kritisiert worden, »Grenzen und Möglichkeiten einer althochdeutschen Literaturgeschichte«, Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften Leipzig, Philologisch-historische Klasse 105,2 (Berlin, 1959), S. 20 f.; und v o n einem anderen Standpunkt aus von H . Rupp, »Über das Verhältnis von deutscher und lateinischer Dichtung i m 9. bis 12. Jahrhundert«, GRM, N . F. 8 (1958), 19 f. 3 W. Stammler, »Die Anfange weltlicher Dichtung in deutscher Sprache. Eine neue Kennung«, in: ders., Kleine Schriften %ur Literaturgeschichte des Mittelalters (Berlin, 1953), S. 9. 4 G. Meißburger, Grundlagen %um Verständnis der deutschen Mönchsdichtung im 11. und im 12. Jahrhundert (München, 1970), S. 268 ff., insbesondere S. 268 und 275. Meißburger ist von W. Schröder eingehend kritisiert worden, »Kontinuität oder Diskontinuität in der Frühgeschichte der deutschen Literatur? Z u Gerhard Meißburger, Grundlagen zum Verständnis der deutschen Mönchsdichtung i m 11. und 12. Jahrhundert«, ZfdA 100 (1971), 195ff.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

11

nicht v o m Körper der deutschen Literatur amputiert werden, so daß das Problem noch immer einer Erklärung harrt. Solche Erklärungsversuche sind auf Schwierigkeiten gestoßen, weil sie von der falschen Fragestellung ausgegangen sind. Durch das Vorhandensein schriftlicher Zeugnisse in deutscher Sprache vor 800 angeregt, die sich bis etwa 900 fortsetzen, um dann für 150 Jahre auszufallen, hat man sich gedrängt gefühlt, für das Schweigen dieser Periode eine Erklärung zu liefern. Hier ist der Stolz darauf zu verspüren, daß diese volkssprachliche Literatur fast so früh wie bei den Angelsachsen aufs Pergament gelangte. Hält man aber die Situation in England für anomal (wofür vieles spricht) und betrachtet man Deutschland in seinem kontinentalen Zusammenhang, dann verliert das Einsetzen einer ununterbrochenen Schriftlichkeit in der Volkssprache erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts an Fremdheit, weil, von einigen isolierten Vorläufern abgesehen, auch in Frankreich Ähnliches erst im 11. Jahrhundert belegbar ist, während es in Italien sogar später einsetzt. 5 M i t anderen Worten, wir haben unsere Frage anders zu stellen: nicht etwa, warum schweigen sich die anderthalb Jahrhunderte vor 1060 aus, sondern, warum tauchen schriftliche Zeugnisse überhaupt so früh, lange vor 900, auf, ehe es zum Schweigen kommt? W i r müssen also nach den historischen Gründen fragen, warum es volkssprachliche schriftliche Texte in der Karolingerzeit gibt, aber ferner, warum sie nach 900 zum größten Teil ausfallen, um dann nach den weiteren historischen Gründen zu suchen, warum eine diesmal nicht mehr unterbrochene Tradition um 1060 beginnen sollte. Da diese spätere Tradition ununterbrochen ist, unterliegt sie einem historischen Wandel, nach dessen Triebkräften zu fragen ist. Beginnen w i r unsere Diskussion der ahd. Schriftlichkeit mit der überragenden Gestalt Karls des Großen, aber nicht aus demselben Grund wie bei Baesecke, für den er die Möglichkeit darstellte, die disparaten Texte als nahtlose Einheit erscheinen zu lassen. Eine solche Einheit hat es nicht gegeben, und Baeseckes Versuch, sie nachzuweisen, hält man gemeinhin für mißlungen, 6 aber die geringere Einheit, die manchen Texten doch zugrundeliegt, geht zum größten Teil auf die politische Gesetzgebung des Kaisers zurück. Hinter dieser Gesetzgebung steht die Symbiose zwischen K ö n i g t u m und Christentum, auf der das karolingische Reich beruhte, eine theokratische Staatsauffassung, in der sich der Kaiser das Recht vorbehielt, in Kirchenangelegenheiten i m Reiche einzugreifen und den Klerikern Staatsverpflichtungen aufzuerlegen, so daß es zu keiner effektiven Trennung von Kirche und Staat kommen konnte. 7 Bei einem solchen 5

P. Klopsch, »Latein als Literatursprache«, in: E. Wischer (Hg.), Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt. Zweiter Band: Die mittelalterliche Welt. 600-1400 (Berlin, 1982), S. 330. 6

ten«.

Z u diesem Schluß gelangt W. Schröder in seinem Aufsatz »Grenzen und Möglichkei-

12

Dennis H. Green

Reichskirchensystem mögen die kaiserlichen Eingriffe in Kirchenangelegenheiten der Ausbreitung des Christentums gedient haben, aber sie dienten ebenso sehr Karls politischen Zwecken, wie aus seinem Bekehrungskrieg gegen die Sachsen klar hervorgeht. Karls Gesetzgebung, die die Christianisierung seiner Untertanen gewährleisten sollte, stützte auch seine eigene Autorität ab 8 — darin haben wir den Grund dafür zu sehen, daß viele ahd. christliche Texte, die der Priester den Laien vorzutragen hatte, bis sie sie auswendig gelernt hatten (Vaterunser, Credo, Tauf- und Beichtformeln), bekanntlich auf kaiserliche Erlasse zurückgehen, die gerade dies von Bischöfen und Priestern verlangen. 9 Diese Gebrauchstexte dienten einem höchst pragmatischen Zwecke, der sowohl religiös als auch letzten Endes politisch war. I n einem anderen, gleichfalls pragmatischen Sinne war der Kaiser auf die Kirche angewiesen, denn die geographischen Ausmaße seines Reiches forderten eine schriftliche Kommunikation und Gesetzgebung über Zeit und Raum hinweg, die nur von den Geistlichen, den litterati unter seinen Untertanen, zu bewerkstelligen war, während die Aufgabe, zwischen unterschiedlichen Volkssprachen i m Reiche zu vermitteln, ebenfalls nur durch ihre exklusive Beherrschung der lateinischen Literatensprache zu erfüllen war. Aus der karlischen Gesetzgebung geht auch das kaiserliche Anliegen hervor, den Bildungsstand des Klerus zu heben, 10 auf dessen Lese- und Schreibkundigkeit er angewiesen war. Gerade deshalb lassen sich die meisten ahd. Texte auf ein Kloster als Ursprungsort zurückführen. 11 Waren die Klöster i m großen und ganzen die einzigen Zentren, auf die sich der Kaiser zur Durchführung seines volkssprachlichen Programms verlassen konnte, so heißt das, daß der theokratische Herrscher

7

Z u r Theokratie i m allgemeinen s. W. Ullmann, Principles of government andpolitics in the Middle Ages (London, 1961), S. 117 ff. Z u m karolingischen Zeitalter s. dens., The Carolingian renaissance and the idea of kingship (London, 1969), aber auch Th. Mayer, »Staatsauffassung in der Karolingerzeit«, in: Vorträge und Forschungen , herausgegeben vom Institut für geschichtliche Landesforschung des Bodenseegebietes in Konstant Bd. III: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. Mainauvorträge 1954 (Darmstadt, 1963), S. 169 ff. 8 E. Feldbusch, Geschriebene Sprache. Untersuchungen ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie (Berlin, 1985), S. 231, zitiert aus den Libri Carolini dahingehend, daß die Bibel für alle Schichten praktische Ratschläge beinhalte, auch zur A r t und Weise, wie Herrscher und Untertanen sich verhalten sollen. Vgl. auch Ullmanns These, Principles of government , S. 117ff., der theokratische K ö n i g habe sich kraft der ihm von Gott verliehenen Autorität (rex Dei gratia) v o m Volke befreit, der ehemaligen Quelle der königlichen Macht. 9 Die diesbezüglichen Zeugnisse sind nach wie vor am besten einzusehen bei G. Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis %um Ausgang des Mittelalters. Erster (München, 1932), S. 290 ff. 10 R. McKitterick, The Frankish church and the Carolingian 1977), S. 45ff.; Feldbusch, Geschriebene Sprache, S. 222ff.

reforms,

789-895

Teil

(London,

11 H. Rupp, Deutsche religiöse Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Untersuchungen und Interpretationen, Freiburg 1958, S. 308; S. Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch (Berlin, 1974), S. 49 f.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

13

nicht umhin konnte, sie von ihrer eigentlichen, weitabgewandten Funktion abzulenken und seinen eigenen reichskirchenpolitischen Zwecken dienstbar zu machen. O b w o h l die meisten ahd. Texte eine ausgesprochene Gebrauchsfunktion haben und mit der kaiserlichen Gesetzgebung eng verbunden sind, so gilt dies nicht für zwei größere Werke, denn der altsächsische Heliand und Otfrids Evangelienbuch dienten nicht nur einem pragmatischen, sondern einem literarischen Zweck, und stehen in Verbindung mit einem späteren Kaiser, L u d w i g dem Deutschen. 12 Obwohl immer noch mit einer kaiserlichen Anregung zu rechnen ist, zielt sie nicht mehr auf die Religons-, sondern auf die Kulturpolitik ab. Dieser Kaiser zeigte ein reges Interesse am geistigen Leben seiner Zeit, aber wenn wir ihn mit Recht mit der Entstehung dieser beiden Bibelepen in Verbindung bringen, so muß sein Interesse über die lateinische Sprache hinausgegangen sein. Daß diese Epen in der Sprache des regnum in orientali Francia geschrieben wurden, hängt mit den Versuchen zusammen, nach der Auflösung der karolingischen Einheit das Ostreich auf deutschem Boden als politische und kulturelle Einheit zu gründen. Volkssprachliche Werke, statt lateinischer, können in dieser Situation nur das Bewußtsein der Getrenntheit und daher die Einheit der Stämme östlich des Rheins betont haben, während die literarischen Ansprüche dieser Werke (im Gegensatz zu den kürzeren pragmatischen Texten) gegen die kulturelle Überlegenheit Karls des Kahlen i m Westfrankenreich ausgespielt werden konnten. 1 3 Wenn wir jetzt die Medaille umkehren, um die Frage zu stellen, warum der schriftlichen Tradition i m Ahd. keine Dauer beschieden war, so gehen wir am besten v o m bisher Erreichten aus: Volkssprachliches aufzuschreiben war zu dieser Zeit noch so ungewöhnlich, daß es unbedingt des zentralisierenden Willens Karls des Großen oder Ludwigs des Deutschen bedurfte. Fehlte diese Anregung, wie bei L u d w i g dem Frommen nach Karl dem Großen und wiederum nach L u d w i g dem Deutschen, dann erfolgte dieses Aufschreiben nicht so leicht. Das sehen wir am besten bei L u d w i g dem Frommen, dessen Förderung der Klosterreform Benedikts von Aniane dazu führte, daß die deutschen Klöster die ihnen von Karl dem Großen aufgetragenen nichtmonastischen, kulturellen Aufgaben zugunsten der Askese aufgaben. Das heißt in der Praxis, daß diese Klöster zur Vermittlung schriftlicher Texte in der Volkssprache nicht mehr herangezogen wurden, die die Geistlichen in der Welt außerhalb des Klosters

12 Z u m Heliand s. W. Haubrichs, »Die Praefatio des Heliand. E i n Zeugnis der Religionsund Bildungspolitik Ludwigs des Deutschen«, jetzt in: J. Eichhoff, I. Rauch (Hgg.), Der Heliand (Darmstadt, 1973), S. 400 ff. Z u Otfrid vgl. G. Vollmann-Profe, Kommentar Otfrids Evangelienbuch (Bonn, 1976), S. 4 f. 13

Vollmann-Profe, Kommentar, S. 5; W. Mohr, W. Haug, Zweimal >Muspillk (Tübingen, 1977), S. 74 ff.

14

Dennis H. Green

gebrauchen konnten. 1 4 Hinzu kam ein wachsender Interessenkonflikt zwischen Kaiser und Papst, wie auch zwischen Kaiser und Bischöfen, so daß die Einheit, auf der Karls Theokratie und damit sein Kulturprogramm beruhten, nicht mehr gegeben war. 1 5 Von diesen allgemeinen Gründen abgesehen, betont man jetzt — i m Gegensatz zu Baeseckes Systemzwang — die geographische und zeitliche Isolierung, 1 6 in der diese Texte entstanden sind, und die die Kontinuität ausschließt, die vonnöten war, wenn die >große Lücke< vermieden werden sollte. I n einem historischen Überblick geht es uns mehr um die zeitliche Diskontinuität, für die es sowohl subjektive als auch objektive Zeugnisse gibt. Subjektiv macht es Otfrid i m Widmungsschreiben an Liutbert klar, daß er sein dichterisches Unternehmen als Neuheit auffaßte, 17 nicht nur i m Gebrauch des Endreims, sondern vor allem in seiner Überzeugung, kein deutscher Dichter habe bisher Christus in der Muttersprache gelobt. 1 8 Mehr als hundert Jahre später ging es Notker auch nicht anders, denn er hatte seinen Bischof dazu zu überreden, sein Werk in der Volkssprache, nicht auf Latein zu lesen. 19 Objektiv läßt sich Ähnliches behaupten. A n Otfrids Vorbild schließt sich für kurze Zeit nur eine Handvoll kleinformatiger Texte an, so daß, obwohl er ein Exemplar nach St. Gallen geschickt hat, Notker nichts von seinem Vorgänger gewußt hat und sich nicht auf ihn zur Rechtfertigung des eignen Unternehmens berufen konnte. 2 0 Dasselbe wiederholt sich bei Notker, denn nach ihm hörte die deutschsprachige Literatur für 50 Jahre auf, um erst um 1060 wider einzusetzen. N u r ein Exemplar von Notkers Werken scheint über St. Gallen hinausgekommen zu sein, 21 und sogar i m eignen Kloster hat sein Schüler, Ekkehard IV., lateinisch geschrieben, nicht deutsch. 22 14

"

Feldbusch, Geschriebene Sprache, S. 328 ff. Feldbusch, a.a.O., S. 327f.

16 Als Beispiel der geistigen Isolierung i m geographischen Sinne hat Schröder ZfdA (1971), 205, den Mönch Candidus angeführt. 17

Hg. O. Erdmann (Halle, 1882), Ad Liutbertum 74ff. AdLiudbertum

19

100

12ff. Vgl. Schröder, ZfdA

100 (1971), 196.

Hg. P. Piper (Freiburg, 1882), 1 860, 32 ff. V g l . Schröder, ZfdA

100 (1971), 196 und

204. 20

W. Schröder, »Zum Verhältnis von Lateinisch und Deutsch um das Jahr 1000«, in: H. Beumann, W. Schröder (Hgg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Ergebnisse der Marburger Rundgespräche 1972-1975 (Sigmaringen, 1978), S. 430. 21 22

Schröder, »Zum Verhältnis«, S. 437.

Schröder, a.a.O., und ders., ZfdA 100 (1971), 208. Daß man sich davor hüten muß, Ekkeharts Bevorzugung des Lateinischen etwa als Verachtung der barbarischen Volkssprache aufzufassen, ist von P. Osterwalder ausführlich dargelegt worden, Das althochdeutsche Galluslied Ratperts und seine lateinischen Übersetzungen durch Ekkehart IV. Einordnung und kritische Edition (Berlin, 1982), S. 218 ff.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

15

Die Geschichte dieser ersten Stufe der deutschen Schriftlichkeit trägt also das Gepräge von Diskontinuität, von neuen Ansätzen, von Autoren, die in Isolierung arbeiten und die sich der Volkssprache nur in Ausnahmefällen bedienen. U m diese Literatur hervorzurufen, bedurfte es der Anregung eines kaiserlichen Zentrums, aber auch i m Falle von Notker, der die Volkssprache ohne jede politische Anregung von außen gebrauchte, waren die Folgen genauso kurzlebig. Was bei alledem wundernehmen muß, ist nicht das fast vollständige Ausfallen volkssprachlicher Texte während anderthalb Jahrhunderten, sondern vielmehr deren früheres Vorhandensein überhaupt, von welch kurzer Dauer auch immer. Diese Argumentation verleiht dem Wiederbeginn um 1060, der Wiederaufnahme der Schriftlichkeit, diesmal aber mit größerer Kraft (weil nicht in der Wiege erstickt) und ohne jede kaiserliche Förderung, umso mehr Gewicht. Für diesen Neuansatz muß man also umso durchschlagendere historische Erklärungen vorbringen können. Das tun wir am besten, indem wir uns des entgegengesetzten Vorgangs entsinnen, nämlich der Preisgabe des karlischen Programms während der Herrschaft Ludwigs des Frommen. Wenn zu den Gründen hierfür die Klosterreform Benedikts von Aniane, mithin der Rückzug der Mönche aus den Staatsangelegenheiten, gehörte, so besteht theoretisch die Möglichkeit, daß die Wiederaufnahme der Schriftlichkeit mit einer Bewegung zusammenhängen könnte, die das Mönchtum sozusagen noch einmal in die Welt hereinführte, denn in der neueinsetzenden Klerikerliteratur in der Volkssprache haben die Mönche erneut eine Rolle zu spielen, 23 auch wenn sie sie mit den Weltgeistlichen teilen. Während aber die Mönche um 800 für Staatsangelegenheiten v o m Kaiser selbst rekrutiert worden waren, geht jetzt die Anregung dazu, sich mit Angelegenheiten dieser Welt zu beschäftigen, von der mit Papst Gregor V I I . verbundenen Reformbewegung aus, so daß mit anderen Worten die zentrale Anregung zur Schriftlichkeit jetzt bei der Kirche, nicht mehr beim Staat zu suchen ist. Diese Reformbewegung wurde früher von den Germanisten als ausgesprochen cluniazensisch und weltflüchtig angesehen, doch jetzt legt man mehr Gewicht auf den Einfluß, den diese Bewegung auf die Feudalgesellschaft ausgeübt hat. Es war das Anliegen des Reformpapsttums, die Welt mit seinen ethischen Prinzipien zu durchdringen und die Christianisierung der Gesellschaft, die i m Frühmittelalter eigentlich nur das Königsamt erfaßt hatte, eine Stufe weiter durchzuführen. 24 Die Reformbewegung des 11. Jahrhunderts hat man also in dreierlei Hinsicht als eine 23 Z u auseinandergehenden Ansichten über die von Mönchen und Weltgeistlichen gespielten Rollen als Verfasser geistlicher Dichtung in der Volkssprache nach 1060 s. Rupp, Deutsche religiöse Dichtungen, S. 295 ff., und Meißburger, Grundlagen, S. 182 ff. Es wäre auf jeden Fall schwierig, die Ansicht zu vertreten, eine von diesen Kategorien sei für alle diese Werke verantwortlich. 24

C. Erdmann, Die Entstehung des Kreu^ugsgedankens

(Stuttgart, 1955), S. 66.

16

Dennis H. Green

Reform des Mönchtums gekennzeichnet, aber auch als Reform der Bischofskirche (die von der i m Reichskirchensystem verkörperten Laiengewalt zu befreien war), und drittens als Reform des Feudalrittertums. 25 I n beiden letzteren Hinsichten stand die Kirche den Problemen der weltlichen Gesellschaft gegenüber, was zur Notwendigkeit führte, die Laien in ihrer Volkssprache zu adressieren, so daß die Durchdringung der Welt durch die Kirche jetzt viel weiter geht als um 800. Während Karl der Große den kirchlichen Bildungsvorsprung, besonders bei den Mönchen, benutzt hatte, u m sein Verwaltungs- und Bildungsprogramm durchzuführen und sich angesichts des Bildungsmißstands der Weltgeistlichkeit mit einer nur elementaren Christianisierung der laikalen Gesellschaft hatte begnügen müssen, kommt es i m 11. Jahrhundert zu einem entscheidenden Schritt nach vorn, indem jetzt auch dem Ritter eine christliche Auffassung seines Amtes beigebracht werden soll. Wenn es i m Investiturstreit zu einem frontalen Zusammenstoß zwischen Kaisertum und Papsttum kommt, so verursacht das eine geistige Bestandsaufnahme auch bei den Laien. 2 6 Durch die durch diese Bewegung hervorgerufenen institutionellen, religiösen und ethischen Probleme wird eine Welle polemischer Literatur hervorgerufen, 27 die wegen der Unruhen innerhalb der Kirche vorwiegend auf lateinisch geschrieben war, aber, da der Laie fast überall angesprochen wurde, ihn auch in der Volkssprache adressieren mußte. Vor diesem Hintergrund einer radikalen Umwertung der Laienfunktion in der christlichen Gesellschaft haben wir uns den Neubeginn einer klerikalen volkssprachlichen Literatur i m 11. Jahrhundert vorzustellen, in der die Vielfalt der Themen, Probleme und Gattungen die Unruhe der Zeit widerspiegelt und weit über das in ahd. Zeit Versuchte hinausgeht. Dieser Eintritt der Reformkirche in die Welt kennzeichnet, wie paradox es auch scheinen mag, die Reform des Mönchtums. Dank Grundmanns Arbeit über religiöse Bewegungen i m Mittelalter wissen wir, daß i m 11. Jahrhundert ein neues Ideal der vita apostólica entstanden ist, dessen Aufgabe in der Welt, nicht i m Kloster zu erfüllen ist. 2 8 Nach der Jahrhundertwende hat sich der Begriff so weit ausgebreitet, daß er jetzt nicht nur, wie bisher, Mönche und Regularkanoniker einschließt, sondern auch Laien und vor allem Laienprediger samt Anhang. Die Ursache dieses Wandels liegt nicht bei diesen Laien, sondern bei den Mönchen und Eremiten, die zu Wanderpredigern werden, die sich also vorher von der Welt zurückgezogen hatten, dann aber das Kloster verlassen, um den Laien eine neue 25

Erdmann, a.a.O.

26

Haug, »Schriftlichkeit und Reflexion«, S. 146.

27

C. M i r b t , Die Publizistik

28

im Zeitalter Gregors VII.

(Leipzig, 1894).

H. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge ^wischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (Darmstadt, 1961), S. 492 und 503 ff.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

17

Lebensweise zu predigen. 2 9 I n Deutschland waren die Mönche der Hirsauer Kongregation weit über den Klosterbereich hinaus als Prediger tätig, und infolgedessen wurden zahllose Laien, darunter Adlige, zu Laienbrüdern oder sie bildeten Laiengemeinschaften, ohne Mönche zu werden. 3 0 Dazu gehört ferner die G r ü n d u n g neuer Orden i m 12. Jahrhundert (Zisterzienser und Prämonstratenser), wenn auch diese neuen Orden ihrerseits der Institutionalisierung anheimfallen, sich wie die Benediktiner v o n der Welt zurückziehen und die religiösen Bedürfnisse der Laien nicht mehr befriedigen, so daß letztere den i n der Welt verbleibenden Ketzerpredigern leicht zum Opfer fallen. 3 1 W i c h t i g an dieser E n t w i c k l u n g ist v o n unserem Standpunkt aus nicht, daß sie alle i n eine weitabgewandte Zurückgezogenheit münden, sondern vielmehr, daß auf einer frühen Stufe Mönche das Kloster verlassen, u m zu Laien zu predigen. Daran hat man auch K r i t i k geübt: die Hirsauer Wandermönche wurden m i t den i n der Benediktinerregel verurteilten gyrovagi gleichgesetzt, 32 oder Bernhard v o n T h i r o n verteidigt sich gegen die kritische Frage: cur ipse, qui monachus ac mundo mortuus erat, viventibus praedicaret,

33

A u c h i n dieser Beziehung muß der Mönch, der i n die Welt

eintritt, u m die Laien als Prediger zu adressieren, sie i n der für sie bestimmten Literatur in der Volkssprache ansprechen. Das Kernproblem des Investiturstreits wurde dort, w o es sich auf die Frage der Lesekundigkeit bezog, wie folgt zusammengefaßt: »Der Herrscher, ein Laie, dessen Kanzlei, das Nervenzentrum aller Herrschaft, sich aus Geistlichen zusammensetzte, der zum Gesalbten des Herrn durch die Geistlichkeit geworden war, über keine nennenswerte Bildung verfügte, maß sich nach dem nicht ganz unbegründeten V o r w u r f der Geistlichkeit an, die über die nötige Kenntnis der Literatur und des Rechts verfügte, die höchsten geistlichen Würdenträger, einschließlich der Päpste, zu ernennen, sie seiner Jurisdiktionsgewalt

zu

unterwerfen und über ihre Verwendung i m öffentlichen Dienst zu verfügen.« 3 4 A u c h hat die Simoniefrage, der A n - und Verkauf v o n Kirchenämtern, i m Investiturstreit eine führende Rolle gespielt, die sich auf die Gesellschaft insgesamt ausdehnte, denn dadurch wurde auch die Frage aufgeworfen, ob die v o n simonistischen Priestern erteilten Sakramente gültig seien, so daß das H e i l nicht nur der unmittelbar Betroffenen davon abhängig w a r . 3 5 Angesichts dieser 29

Grundmann, a.a.O., S. 507f.

30

Grundmann, a.a.O., S. 509.

31

Grundmann, a.a.O., S. 524.

32

Grundmann, a.a.O., S. 510.

33

Grundmann, a.a.O., S. 511.

34 W. Ulimann, »Politisches Denken und politische Organisation«, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Zweiter Band. S. 22. 35

R. Schützeichel, Das alemannische Memento Mori. Das Gedicht und der geistig-historische Hintergrund (Tübingen, 1962), S. 80. 2 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 30. Bd.

18

Dennis H. Green

verzweigten Nebenwirkungen in der Gesellschaft ist es unwahrscheinlich, daß sich die polemische Diskussion nur auf die Geistlichkeit, damit auf die lateinische Sprache, beschränkte. Man hat z. B. das frühmittelhochdeutsche Memento Mori'm diesem Zusammenhang interpretiert. 36 Indem es mit der Hirsauer Reformbewegung und mit der Rekrutierung von Laienbrüdern aus dem Adel in Verbindung steht, 37 kann von diesem Werk behauptet werden, es verkörpere einige der Strömungen, die der geistlichen Literatur in der Volkssprache, da für die Laien bestimmt, einen neuen Aufschwung geben. Da die um 1060 einsetzende deutschsprachige Literatur nie wieder abbricht, hat die Periodisierung dieser jetzt ununterbrochenen Tradition etwas Künstliches an sich, wie auch die Vermutung, es können auch bestimmte Ursachen zu gewissen Zeitpunkten zu dieser Verschriftlichungstendenz beigetragen haben. Obwohl volkssprachliche Werke immer noch fast ausschließlich von geistlichen Autoren geschrieben werden, 38 zeigt sich Neues um die Mitte des 12. Jahrhunderts, was auch damit zusammenhängt, daß Bumke seinen Überblick über das literarische Mäzenatentum um 1150 beginnt, 3 9 denn um diese Zeit gehen die geistlichen Autoren, die ihr Publikum bisher als Mitglieder der religiösen Gemeinschaft oder als Gemeinde adressiert haben, dazu über, ihre Zuhörer auch als Mitglieder der Hofgesellschaft anzusprechen. Damit sind wir bei der Frage nach den historischen Gründen für die Verschriftlichung der höfischen Literatur angelangt. Eine übergreifende Erklärung darf man darin sehen, daß sich das europäische Rittertum erst um diese Zeit der eigenen historischen Bedeutung und kulturellen Autonomie bewußt wird. Eine derartige weltliche Literatur kann man nur dann erwarten, wenn gewisse Bedingungen erfüllt werden: »als aus dem Bereich der christlichen K u l t u r ein neuer weltlicher Stand erwächst, dessen Selbstbewußtsein so stark ist, daß er der kirchlich-christlichen Dichtung etwas Selbständiges, Eigenes gegenüberzustellen wagt; der auch ein so festes >Weltbild< hat, daß er fremde Stoffe nicht einfach wiederzugeben sucht, sondern sie in eine eigene Gestaltung >einschmilzt< (etwa bei der Behandlung des Aeneas-Stoffes durch Heinrich von Veldeke); der über ein genügend großes Publikum mit Zeit und Interessen und über Mäzene verfügt, die einer solchen Übung den nötigen Rückhalt verleihen; und der schließlich auch das Bedürfnis und die Mittel hat,

36 Schützeichel, a. a. O., S. 80ff., und ders., »Jusitiam vendere«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N . F . 5 (1964), l f f . 37

Schützeichel, Memento Mori, S. 99 ff.

38

Insbesondere in der erzählenden Literatur. Vgl. J. Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300 (München, 1979), S. 70 ff. 39

Bumke, a.a.O., S. 73ff.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

19

eine solche Kunst schriftlich zugänglich zu machen«. 40 Daraus geht hervor, daß sich die Schriftlichkeit an diesen Fürstenhöfen bis zu diesem Zeitpunkt eingebürgert haben muß, nicht nur am Kaiserhof, wie in karolingischer Zeit. Von den Anstößen zu einer höfischen Verwaltungsschriftlichkeit ist behauptet worden, daß die Urkunde, das Einkünfte Verzeichnis, die Rechnung aus kirchlichen und königlichen Schreibstuben in die Fürstenhöfe wanderten. Anregend waren vor allem Bischöfe, die ihren geistlichen Schriftbetrieb auf ihre weltlichen Funktionen als Territorialfürsten ausdehnten und denen ihre Kollegen, die weltlichen Fürsten, in dieser Praxis bald folgten. 4 1 Gerade jene Fürstenhöfe, die als Zentren der höfischen Literatur in deutscher Sprache eine Rolle spielen, förderten auch eine schriftlich fixierte Literatur in lateinischer Sprache, 42 in der es um die historische Abstammung der Dynastie und ihre Tätigkeit als Stiftsgründer geht, so daß sich die Schriftlichkeit vom klerikalen auf den weltlichen Bereich ausdehnt, aber auch v o m Latein auf die Volkssprache. Dabei fällt dem Hofkleriker besondere Bedeutung zu, 4 3 was schon längst i m Falle der kaiserlichen und bischöflichen Höfe bekannt ist, aber erst in jüngster Zeit in bezug auf die Fürstenhöfe zur Kenntnis genommen wird, die zunehmend nicht ohne eine Verwaltungsschriftlichkeit auskommen konnten. Dieser Drang nach Schriftlichkeit entsteht aber auch aus der kulturellen Rivalität zwischen Laien und Klerikern. Weltliche Höfe ziehen nicht nur mit geistlichen gleich, indem auch sie ihre Verwaltung schriftlich abwickeln, sie suchen auch die Ehre der schriftlichen Literatur, in der bislang die Kirche eine Monopolstellung gehabt hatte, für sich selbst zu gewinnen. Bei diesem Versuch steht der Kleriker i n einem zweideutigen Verhältnis zu dem Hof, in dessen Dienst er steht. A u f der einen Seite versucht der Kleriker als Kirchenmann (wenn er auch kein festes A m t innehaben mag), dem Hofe religiöse Werte beizubringen und damit den Weg weiter zu beschreiten, den seine Kollegen seit 1060 eingeschlagen hatten. A u f der anderen Seite ist aber der Hofkleriker dazu da, um das Selbstverständnis des Hofes schriftlich zu verewigen, was letzten Endes einem Versuch kultureller Selbstbefreiung von klerikaler Obhut gleichkommt. Diese unterschiedlichen Literaturfunktionen des Hofklerikers liegen einem größeren Teil der deutschen Hofliteratur zugrunde. 44 40

E. Seebold, »Die kontinentalgermanischen Sprachen und Literaturen«, in: Propyläen Geschichte der Literatur. Zweiter Band, S. 231. 41

R. Sprandel, Gesellschaft und Literatur im Mittelalter

42

Bumke, Mäzene, S. 44ff., insbesondere S. 50f.

43 Dazu jetzt C. S. Jaeger, The origins of courtliness. courtly ideals 939-1210 (Philadelphia, 1985).

(Paderborn, 1982), S. 127. Civilizing trends and the formation

44 Th. Cramer hat diese beiden Aspekte als Richtlinien für seinen Beitrag benutzt, »Der deutsche höfische Roman und seine Vorläufer«, in: H. Krauß (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Band 7; Europäisches Hochmittelalter (Wiesbaden, 1981), S. 323 ff.

2*

of

20

Dennis H. Green Der Kleriker, der dem Hofe religiöse Werte beizubringen sucht, handelt i n

Übereinstimmung m i t der theoretischen Rechtfertigung seiner außerkirchlichen Stellung, denn er n i m m t die Gelegenheit einer religiösen Beeinflussung der Laiengesellschaft wahr. 4 5 I n gewissem Maße entspricht seine Tätigkeit noch der Beschäftigung der Reformbewegung mit den Laien i m 11. Jahrhundert, doch tritt jetzt etwas Neues hinzu. D i e seit M i t t e des 12. Jahrhunderts verfaßten, hierher gehörigen Werke (z.B. Lamprechts Alexanderlied,

König Rother oder Herborts

v o n Fritzlar Lief von Troye ) befassen sich alle m i t einem weltlichen Thema, das die Interessen des Laienadels anspricht: die beiden Werke mit klassischer Thematik, weil sie einigermaßen für Rittertum und Liebe Platz finden und den mittelalterlichen Rittern eine ruhmvolle Vergangenheit vorspiegeln, König Rother wegen seiner aktuellen politischen Belange. D o c h müssen diese Themen als Versuch betrachtet werden, die bittere Pille des klerikalen Gehalts zu versüßen. Hinter dem Alexanderlied verspürt man einen A u t o r , der den ritterlichen Abenteuern des Helden kritisch gegenübersteht und das Liebesthema als vorübergehende vanitas abstempelt. 46 Das Erzählschema der ersten Hälfte v o n König Rother w i r d i n der zweiten gedoppelt, aber dadurch werden die heroisch-listigen Taten des Helden kritisch uminterpretiert, so daß er sich am Schluß demütig i n Gottes Hand g i b t . 4 7 I m Liet von Troye w i r d die K r i t i k noch radikaler, denn bei Herbort erscheinen der ritterliche K a m p f als Blutbad und die Liebe als negatives Erlebnis. 4 8 Diese klerikalen Autoren behandeln also Themen, mit denen sie die Aufmerksamkeit des Hofpublikums fesseln können, doch nutzen sie sie als Vehikel einer'noch klerikalen Botschaft aus. 49 Historisch wichtiger sind jene Werke, deren klerikale Autoren sich das Hofideal noch uneingeschränkter zu eigen machen, o b w o h l sie sich weitgehend v o n geistlichen Werten zu befreien wissen, indem sie w o m ö g l i c h diese Werte der eigenen weltlichen Interessenrichtung dienstbar machen. Gestand die Kirche 45

R. Köhn, »>Militia curialisKaiserchronik< , > Rolandslied< , > Alexander lied< , >EneideLiet von Troye< und >Willehalm< (Göppingen, 1972), S. 83ff., 195ff, und 527ff; F. J. Worstbrock, »Zur Tradition des Trojastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar«, ZfdA 92 (1963), 248 ff; H. Lengenfelder, »Das Liet von Troye Herborts von Fritzlar. Untersuchungen zur epischen Struktur und geschichts-moralischen Perspektive« (Bern, 1975), S. 35 ff. 49

Cramer, »Der deutsche höfische Roman«, S. 324.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

21

dem Kreuzritter eine positive Rolle auch als Ritter zu, so vertritt die Hofliteratur die Ansicht, diese Rolle falle dem Rittertum schlechthin zu. Z o g die Kirche eine Parallele zwischen den Kriegen des Alten Testaments und den Kreuzzügen, 50 um dadurch dem christlichen Rittertum eine ruhmvolle biblische Abstammung vorzuspiegeln, so beanspruchten die Hofdichter eine antike Vergangenheit fürs Rittertum, 5 1 die seinen weltlichen Interessen mehr Spielraum verlieh, als wenn sie ans alttestamentarische Vorbild gebunden wären. Dazu gehört ferner, daß man jetzt i m Bereich der Schriftlichkeit für weltliche Werke in der Volkssprache Ansprüche erhebt, die früher nur für die geistliche Dichtung gegolten hatten. Hatte diese geistliche Dichtung ihrer Autorität auf eine schriftliche Quelle gegründet (wobei das Wort buoch die Bibel oder theologische und historische Literatur bedeutete), so bezieht sich dasselbe Wort auch in der Hofliteratur auf eine schriftliche Quelle, bei der es sich aber um ein Gedicht handeln kann. 5 2 Bezeichneten die geistlichen Autoren ihre Quellen als historia, so beschreibt Gottfried von Straßburg die schriftliche, doch dichterische Quelle seines Tristan ebenfalls als istorje. 57 > War eine theologische Quelle, insbesondere die Bibel, mit der Wahrheit gleichzusetzen, so daß sie mit dem mhd. Wort warbeit gekennzeichnet werden konnte, so verwendet Gottfried dasselbe Wort in bezug auf seine Quelle. 5 4 Aus solchen Beipielen geht hervor, daß unter den Kulturwerten, die der H o f zu seinen eigenen Zwecken von der Kirche übernahm, der Schriftlichkeit, samt der sie i m Mittelalter umgebenden Autorität, eine primäre Rolle zufiel. So fest hat sich die Schriftlichkeit in der Hofliteratur etabliert, daß die bisher für die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts angeführten Gründe auch i m folgenden Jahrhundert ihre Gültigkeit beibehalten. I m 13. Jahrhundert kommen aber weitere Kräfte ins Spiel, wenn nicht erstmalig i m absoluten Sinn, so doch mit größeren Auswirkungen in Richtung einer durchgängigen Verschriftlichung der volkssprachlichen Literatur. Ich beschränke mich abschließend auf drei Beispiele. Als erstes Beispiel ist die politische und verfassungsrechtliche Territorialisierung zu nennen, die, obwohl sie schon früher einsetzte, erst i m 13. Jahrhundert 50

D. H. Green, The Millstätter

Exodus. A crusading epic (Cambridge, 1966), S. 188 ff.

51

Diesem Zweck dienen vorwiegend die Romane mit einem klassischen Thema, vor allem in Frankreich. Dazu noch E. Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien Zur Form der frühen Artus- und Graldichtung (Tübingen, 1956), S. 44 ff., und ferner der Abschnitt »De Charlemagne à Alexandre et Arthur«, in: R. R. Bezzola, Les origines et la formation de la littérature courtoise en occident (500-1200). Deuxième partie: La société féodale et la transformation de la littérature de cour. Tome II (Paris, 1960), S. 517 ff. 5i D . H. Green, »Oral poetry and written composition. ( A n aspect o f the feud between Gottfried and Wolfram)«, in: D . H. Green, L. P. Johnson, Approaches to Wolfram von Eschenbach. Five essays (Bern, 1978), S. 193, Anm. 4, und 198, A n m . 1.

53 Green, a.a.O., S. 194ff. und 211, 215. 54 Green, a.a.O., S. 193, A n m . 5, und 197, 216.

22

Dennis H. Green

für die Schriftlichkeit und die volkssprachliche Literatur volle Bedeutung gewann. 55 Darunter versteht man einen langfristigen, planvollen Ausbau bisher verstreuter Herrschaftsgebiete, um soweit wie möglich ein abgerundetes, zusammenhängendes Territorium hervorzubringen, in dem die zentralisierte Herrschaftsausübung des Landesherrn systematisch und rationell ermöglicht w i r d . 5 6 Anstelle des fragmentierten Streubesitzes lokaler Feudalinteressen kam dabei eine ausgedehnte, vereinheitlichte Staatsform zustande, in der die ersten Schritte auf den durchorganisierten, bürokratisch verwalteten Staat der Neuzeit zu getan werden konnten. 5 7 Wie weit der Territorialstaat des 13. Jahrhunderts davon auch noch entfernt geblieben sein mag, so dient er doch als erstes Beispiel einer komplizierten Gesellschaftsorganisation, in der das Bedürfnis nach differenzierten Verwaltungsmöglichkeiten zum Ausdruck kommt. Hier stellt sich die Schriftlichkeit als besonders wichtig heraus, denn i m Gegensatz zur mündlichen Kommunikation kann sie eine zeitliche oder räumliche Distanz überbrücken, wobei die räumliche Dimension bedeutsam wird, sobald eine Gesellschaft über die leichter überblickbare Größe des Stammes hinausgewachsen ist, die zeitliche aber, sobald irgendwelcher Anspruch auf historische Kontinuität erhoben wird. Gleich bei den historischen Anfängen der Schriftlichkeit hat diese Erfindung die Gründung großräumiger Herrschaftsgebiete ermöglicht (Mesopotamien oder Rom), 5 8 sie erwies sich bei der Verwaltung des karolingischen Reiches als untentbehrlich, und sie ist wiederum i m Territorialisierungsprozeß von Bedeutung. Heinzle verdanken wir die Vermutung, daß der Sachsenspiegel, in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts eine unerhörte Rechtskodiflzierung in der schriftlichen Volkssprache, eine Territorialisierung des Rechts vertritt und eine Gleichförmigkeit der Rechtsordnung dadurch gewährleistet, daß er schriftlich und in der Volkssprache komponiert ist. 5 9 Dieser geographischen Gleichförmigkeit, die erst die Schriftlichkeit möglich macht, entspricht insofern die auch auf

55 Neuerdings hat man verschiedentlich versucht, die Territorialisierung als soziologische Erklärung des höfischen Romans wahrscheinlich zu machen. Wie dem auch sein mag: mir geht es um anderes, denn in dieser Territorialisierung sehe ich einen Antrieb zur Verschriftlichung der Gesellschaft überhaupt. 56 J. Heinzle, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis %um Beginn der Neuheit. Band IL Vom hohen späten Mittelalter. Teil 2: Wandlungen und Neuansät^e im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90) (Königstein, 1984), S. 17ff., beginnt seinen Überblick über das 13. Jahrhundert mit einer allgemeinen Diskussion der literarischen Bedeutung der Territorialisierung, die er am Beispiel des Sachsenspiegels veranschaulicht. 57 G. Kaiser, »Deutsche Heldenepik« in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Band 7, S. 194; ders., »Der Wigalois des W i r n t von Gravenberc. Z u r Bedeutung des Territorialisierungsprozesses für die höfisch-ritterliche Literatur des 13. Jahrhunderts«, Euphorion 69 (1975), insbesondere S. 421 ff. 58

Schrift

59

Heinzle, Wandlungen und Neuansät^e, S. 19 f.

und Gedächtnis, S. 64 und 275.

Schriftlichkeit und deutsche Literatur im Mittelalter

23

dieselbe Weise erschlossene zeitliche Dimension, als der Sachsenspiegel und der verwandte Schwabenspiegel unabhängig voneinander eine schriftliche Geschichte in der Volkssprache hervorgerufen zu haben scheinen, die für diese Kodifizierung und die betreffenden Territorialstaaten eine Vorgeschichte liefern. 60 Bei dieser Entwicklung fiel den Städten als Handelszentren eine wichtige Rolle zu. Wenn sie auch für die Geschichte der Schriftlichkeit von Bedeutung sind 6 1 (und wenn es ferner im Laufe des 13. Jahrhunderts zu einer schriftlichen Stadtliteratur kommt), 6 2 so ist diese Verbindung von Handel und Schriftlichkeit historisch nichts Neues. Von Deutschland i m Mittelalter hat man sogar behauptet, der Einbruch der Laien in den klerikalen Bereich der Schriftlichkeit sei genauso sehr auf Stadteinwohner als auf den H o f zurückzuführen, 63 vor allem wenn wir bedenken, daß Fernhändler die Vorteile einer schriftlichen Geschäftsführung schon im 12. Jahrhundert eingesehen haben, was städtische Laienschulen entstehen ließ, wenn es auch dabei zu einem Kampf gegen die Monopolstellung geistlicher Lehrer gekommen sein mag. M i t der Entwicklung des mittelalterlichen Fernhandels v o m Wanderkaufmann (wie wir ihn i m Guoten Gerhart Rudolfs von Ems zum ersten Mal literarisch erfassen) zu dem Kaufmann, der von einem Fixpunkt aus seine Geschäfte führt, wird die Schriftlichkeit für letzteren unentbehrlich, denn er ist auf eine regelmäßige und zuverlässige Kommunikation mit Kollegen in der Ferne angewiesen, auf Vollmachtsbriefe, Gutschriften und Buchführung i m allgemeinen. 6 4 Für all das, solange es noch in bescheidenem Ausmaß vor sich ging, mag man noch in mündlichen Mitteilungen und einem guten Gedächtnis eine Lösung gefunden haben, aber bei jeder Ausweitung des Handelsvolumens konnte man nicht umhin, der Vorteile der Schriftlichkeit gewahr zu werden. Die Bedeutsamkeit dieser Entwicklung geht aber weit über den individuellen Kaufmann hinaus, denn dadurch werden auch andere Berufe in den Bereich der Schriftlichkeit einbezogen, wie z. B. der Spediteur, dessen sich der nicht mehr wandernde Kaufmann zum Gütertransport bediente, denn wenn der Spediteur seine Kosten ermäßigen konnte, indem er Waren für mehrere Kaufleute auf einmal beförderte, dann war zumindest ein Frachtbrief unvermeidlich, wollte er

60

H. Herkommer, »Eike von Repgows >Sachsenspiegel und die »Sächsische WeltchronikTristanvon Etzenbach< siehe Hans-Friedrich Rosenfeld: Ulrich von Et^enbach: Wilhelm von Wenden, kritisch herausgegeben von H.-F. R. (Berlin, 1957) [Deutsche Texte des Mittelalters, I L ] , siehe seine Einleitung. 14 Hg. von Wendelin Toischer (Hildesheim—New York, 1971), Reprint der Ausgabe Tübingen 1888 [Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart C L X X X I I ] ; cf. dazu Joachim Heinzle: Vom hohen späten Mittelalter. Teil 2: Wandlungen und Neuansät^e im 13. Jahrhundert (1220-1280/90) (Königstein/Ts., 1984) [Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, I I / 2 ] , p. 150ff.

30

Albrecht Classen

allein schon d a d u r c h großes Interesse, daß er i n w e i t e n S t ü c k e n a u f d e m europäischen C r e s c e n t i a - 1 5 b z w . a u f d e m —

i m romanischen R a u m

durch

Boccaccio, i m e n g l i s c h e n d u r c h Chaucer v e r t r e t e n e n — G r i s e l d i s - S t o f f b e r u h t . Der

historische

Aspekt

bedingt

sich d u r c h

die enge

Anlehnung

an

den

k ö n i g l i c h e n M ä z e n W e n z e l I I . u n d dessen F r a u G u t a 1 6 , w o r a u f bereits W e n d e l i n Toischer i n der E i n l e i t u n g z u seiner A u s g a b e v o n 1876 a u f m e r k s a m g e m a c h t h a t 1 7 . D i e F o r s c h u n g ist sich aber bis heute u n e i n i g geblieben, o b sich U l r i c h des Chrestienschen Guillaume

d! Angleterre

o d e r der V e r s d i c h t u n g Guote Frouwe

der E u s t a c h i u s - L e g e n d e aus der Legenda Aurea

und

bediente. G e m e i n s a m k e i t e n u n d

U n t e r s c h i e d e sprechen s o w o h l f ü r die eine als auch f ü r die andere T h e s e 1 8 , d o c h b e r ü h r t diese Frage n i c h t d e n K e r n dieser D i c h t u n g . O b w o h l U l r i c h v o n E t z e n b a c h m i t diesem W e r k einen beachtlichen B e i t r a g z u r s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e n D i c h t u n g geleistet hat, w i e alle F o r s c h e r z u dieser »Legende« e i n m ü t i g bestätigen, g i b t es n u r w e n i g e ü b e r ca. 100 Jahre verstreute A r b e i t e n z u seinen R o m a n e n 1 9 . Bisher s i n d n u r die g r u n d l e g e n d e n s t r u k t u r e l l e n , h i s t o r i schen u n d r e l i g i ö s e n A s p e k t e i m Wilhelm

von Wenden u n t e r s u c h t w o r d e n , einer

genaueren A n a l y s e b e d a r f es dagegen n o c h f ü r eine F ü l l e zusätzlicher F r a g e n 2 0 . E i g e n t ü m l i c h w i r k t dabei v o r allem, daß der T i t e l die A u f m e r k s a m k e i t stets rasch 15

Joachim Heinzle, ibid., p. 148.

16

Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis %um Ende des 16. Jahrhunderts (Stuttgart, 1980) [Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1], p. 475. 17

Wendelin Toischer, Hg.: Wilhelm von Wenden, Ein Gedicht Ulrichs von Eschenbach (Prag, 1876) [Bibliothek der mittelhochdeutschen Literatur in Böhmen, I], p. X X I I I ff. 18 Toischer, ibid., X I V f f . ; ganz konträr argumentiert Käthe Leonhard: Quellengeschichtliche Untersuchungen %um Wilhelm von Wenden des Ulrich von Eschenbach. (Jena, 1931 [Diss. Tübingen 1931]), p. 18; dazu jetzt Rainer Kohlmayer: Ulrich von Et^enbach »Wilhelm von Wenden«: Studien %u Tektonik undThematik einer politischen Legende aus der nachklassischen Zeit des Mittelalters (Meisenheim am Glan, 1974) [Deutsche Studien, 25], p. 5 ff. 19

Rainer Kohlmayer: »Formkunst und Politik in den Werken Ulrichs von Etzenbach«, in: Zeitschriftfür deutsche Philologie, 99 (1980), pp. 355-384; umfassender dazu schon in seiner Dissertation von 1974: Ulrichs von Et^enbach »Wilhelm von Wenden«, ibid.; siehe auch: A c h i m Masser: »Zum >Wilhelm von Wendern Ulrichs von Etzenbach«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 93 (1974), Sonderheft, p. 141-155; seitdem sind nur Arbeiten zu Ulrichs von Etzenbach Alexander erschienen, so etwa Mihoslav Svab: »Zur alttschechischen Alexandreis. Kritische Auseinandersetzung mit einigen Behauptungen über das Werk«, in: Die Welt der Slaven, 27 (1984), pp. 327-421. 20

Wie wenig sich selbst die modernste Literaturgeschichsschreibung um Ulrich von Etzenbach bemüht hat, demonstriert eindringlich Ingeborg Glier; in ihrem Kapitel »Geschichtsschreibung« in dem von ihr herausgegebenen Werk: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250-1370, 2. Teil, Reimpaarreden, Drama, Prosa (München, 1987) [Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, I I I / 2 ] w i r d unser Dichter bloß einmal namentlich erwähnt und sein Roman »Alexander« als Beispiel genannt, den Wilhelm von Wenden ignoriert sie dagegen völlig, p. 438.

Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden

31

auf den männlichen Helden gelenkt hat 2 1 und somit überwiegend eine Interpretation als christlich-legendenhafte Dichtung provozierte. Zweifellos hat Ulrich von Etzenbach auf das religiöse Moment abheben wollen, da sowohl der narrative Rahmen als auch das politisch-historische Thema geradewegs darauf abzielen. Bevor die eigentliche Erzählung einsetzt 22 , ruft der Dichter in einer gebetsartigen Formulierung die Hilfe Gottes an: »Got aller dinge ein begin« (V. 1). Den Schluß des Werkes bildet ein Lobspruch auf die Jungfrau Maria: »Ich sprich dir, himelkünegin« (V. 8294), während die eigentliche Thematik, die mystische Berufung des heidnischen Königs Wilhelm durch Gott sowie die allgemeine Bekehrung seines Volkes zum Christentum in Konsequenz seiner Handlung kaum extra erwähnt zu werden braucht 23 . Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert bemerkt dazu: Durch die beispielhafte Konsequenz, mit der er den neugewonnenen Glauben über alle Bindungen der Verwandtschaft, der Freundschaft und der Lehnsherrschaft

stellt,

gewinnt er seine Familie und seine Lehnsmannen für das Christentum. 2 4

Wesentlich interessanter stellt sich dagegen die Personengestaltung dar, auf die die Forschung bisher jedoch nur mit wenigen Worten eingegangen ist 2 5 . O b w o h l der Titelheld Wilhelm von Wenden aus der Sicht der narrativen Struktur das Hauptgewicht zu tragen scheint, ist es möglich, in diesem höfischen Roman w o h l zum ersten Mal in der deutschen Dichtung des Mittelalters, wahrhaft einen »Frauenroman« zu entdecken 26 , d. h. einen Roman, der nicht nur eine Frau zur zentralen Rolle erhebt, sondern in ihr auch eine Idealfigur erblickt, die bei weitem alle anderen Charaktere in ihrer Erscheinung überstrahlt. Rainer Kohlmayer argumentiert zwar nicht ohne Grund, daß zumindest in der ersten Hälfte Wilhelm als Hauptperson anzusehen sei 27 , doch gilt dies nur für den rein strukturellen Teil. Wilhelm ist dabei die scheinbar agierende Person, denn er wird durch die 21

So H.-F. Rosenfeld: Ulrich von Einbach :

Wilhelm von Wenden, ibid., p. X X X .

22

Toischer (ibid.) der sich noch auf die Baseler Papierhandschrift d stützte und noch nicht die anderen von H.-F. Rosenfeld benutzten Handschriften kannte, hat die religiöse Einleitung noch nicht aufnehmen können, setzt also mit V. 103 ein; zur Handschriftenlage ausführlich H.-F. Rosenfeld, ibid., p. X X I . 23

Kohlmayer, 1974, ibid., p. 77f.

24

Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Kreuvgugsdicbtung des Mittelalters, ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit (Berlin, 1966), p. 283.

Studien %u

25 J. Bumke, ibid., p. 488; cf. D . M . Mennie: Die Personenbeschreibung im höfischen Epos der mittelhochdeutschen Epigonen^eit, Eine Stiluntersuchung (Diss. Kiel, 1933). 26 So argumentiert auch Theodor Nolte zur Kudrun: Das Kudrunepos — ein Frauenroman?, Tübingen 1985 [Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 38]; seine Interpretation scheint aber zu sehr v o n einer marxistisch ausgerichteten Denkweise geprägt zu sein, die ihre Thesen dem zu untersuchenden Werk aufzwängt und sie nicht v o m Text her stützt. 27

Kohlmayer, ibid., p. 76.

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Albrecht Classen

Erscheinung der Pilger auf seine Bekehrung zum Christentum vorbereitet und verläßt daraufhin sowohl das Herzogtum als auch seine Frau und seine neugeborenen Kinder. Zwar gesteht er sich selbst dies als tiefen Verlust ein, doch nimmt er es freiwillig um des christlichen Zieles willen auf sich: daz liebste daz ich ie gewan, daz hän ich hiute durch dich gelän, hoher krist, und miniu kint [ . . . ] . (2693-95)

Der Herzogin Bene bleibt an dieser Stelle dagegen nur die passive Reaktion auf seine Handlungen übrig, denn sie vermag weder, ihn von der Kreuzfahrt abzuhalten, noch davon, ihre Kinder in die Fremde zu verkaufen und sie, die krank im Kindesbett liegt, in der Obhut freundlicher Leute zurückzulassen. Selbst wenn man davon ausgeht, daß Ulrich seinen Roman mit der Absicht verfaßt hat, ein christliches Lehrstück zu geben und damit auch solch eine Handlung rechtfertigen möchte, erscheint das Verhalten des Herzogs zumindest aus moderner Sicht kraß, unbedacht und rücksichtslos, ist er doch fast manisch getrieben in seiner Suche nach dem christlichen Glauben: durch die haete ich niht die lieben län. daz hän ich, Krist, durch dich getan und weiz vürwär niht waz du bist. (V. 2707 - 0 9 ) 2 8

Wie man dies auch beurteilen mag, so ist doch diese scheinbare Passivität auf ihrer Seite cum grano salis zu lesen. Nachdem Bene die Pilgerkleidung entdeckt hat 2 9 , insistiert sie darauf, von ihm mitgenommen zu werden, da sie ihn nicht zum Bleiben überreden kann und sogar vergeblich an ihn als Vater ihrer bald zu gebärenden Söhne appelliert: üz zweien wel dir einez und anders deheinez: daz du belibest hie bi mir, oder läz mich volgen dir! (1335-38)

Sobald sie sein Versprechen erhalten hat, greift sie aktiv in das Geschehen ein und bestimmt damit entscheidend den zukünftigen Weg ihres Mannes durch ihre 28 Kohlmayer, ibid., hat dazu sicherlich zu Recht angemerkt, daß Wilhelm den absoluten Weg zur Selbsterniedrigung durchlaufe, um so die Macht Gottes zu erkennen, p. 78, doch entschuldigt dies noch nicht sein a-soziales, ja fast kriminelles Verhalten gegen die eigene Familie. 29 Sie beweist dabei einen ähnlichen detektivischen Scharfsinn wie Gregorius' Mutter in Hartmanns von Aue gleichnamiger Legende, die herausfindet, warum ihr Sohn und Ehemann täglich vor der Tafel mit seiner Lebensgeschichte betet und weint; Wendelin Toischer (ibid.) betont in einem anderen Zusammenhang, daß Ulrich sicherlich den Gregorius-Text Hartmanns von Aue vor sich gehabt haben müsse, p. X I X ; in der Tat ergeben sich sowohl durch das Thema als auch durch die Figurengestaltung viele Gemeinsamkeiten.

Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden

33

klugen Ratschläge. Sie empfiehlt ihm, vor seiner heimlichen Abreise einen Landtag einzuberufen und sich aller seiner Untergebenen durch reiche Geschenke und Festlichkeiten zu verpflichten, so daß sie ihm in seiner Abwesenheit die Treue halten: w i r suln uns rieh da erbieten, si so ze fröuden mieten und suln ir gemüete zenen daz sie sich nach uns müezen senen [. . .]. (1385-88)

Ihr Ehemann muß sich eingestehen, daß ihr Ratschlag von großerNützlichkeit ist und ein ganz neues Licht auf ihr intellektuelles Wesen wirft. Er versteht i m Gegensatz zu ihr nur wenig von der großen Politik, wollte er doch ganz naiv sich seiner staatsmännischen Aufgaben pflichtvergessen entziehen und hoffte schlicht darauf, daß entweder Bene oder seine Räte die Regierung übernehmen würden: daz setze ich an die hoesten hant, dar nach, frouwe min, ze dir. (1152 f.)

Sie kennt sich jedoch in den Realitäten der Regierung besser aus und weiß, daß einer Frau allein meist nur Spott und Mißgunst begegnen würde: mangen wis man missebot in und liten smaehen spot. (1185 f.)

Obwohl Wilhelm von einem hohen ethisch-religiösen Ideal motiviert wird, steht er doch der Realität recht hilflos gegenüber. Dagegen zeichnet sich Bene als reife Persönlichkeit aus, die sich ihrer Verantwortungen und Aufgaben i m Leben klar bewußt ist. Der Dichter entwirft entsprechend ein beeindruckendes Bild von ihr als werdender Mutter: betrahte in dime sinne wie ich mit swaere bin begurt. mir nähet daz zil der geburt. sol uns diu fruht ze fröuden komen, wirts mir mit leide niht genommen, ob daz kindelin genist und du niht, herre, bi mir bist [ . . . ] . (1240-1246)

Es ist erstaunlich, mit welcher psychologischen Einsicht Ulrich von Etzenbach die Gefühle der schwangeren Frau darzustellen vermag und dabei besonders auf ihre Angst, in der Stunde der Geburt allein gelassen zu werden, eingeht. Sicherlich bringt Bene diese Argumente auch deswegen vor, um Wilhelm von seinen Plänen abzubringen, doch reflektieren sie zweifellos das emotionale Innenleben der Frau 3 0 . Dies bedeutet aber nicht, daß die hochschwangere 30 Schon Wendelin Toischer, ibid., erkannte ihre Schilderung als Meisterwerk in Ulrichs narrativer Technik: »diejenige Figur, die mit der grössten Liebe und mit der meisten Sorgfalt gezeichnet ist«, p. X X V I I .

3 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 30. Bd.

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Herzogin typisch hysterische Züge annähme. Sie bleibt vielmehr selbst in der für sie lebensgefährlichen Situation, als mitten in der Wildnis die Wehen einsetzen und sie rasch die Zwillinge gebärt, ganz beherrscht und reißt sogar ihn, der angesichts der neuen Situation in Panik gerät — nu enweiz ich wes ich armer man beginnen sol, wan ich niht kan ze dirre noete rät gegeben (2227-29)

— aus seiner Verzweiflung heraus: min süezer amis, gehabe dich wol! din triuwe mich erneren sol. (2245 f.)

Anstatt nun aber seine Verantwortung für seine Familie zu erkennen, wird Wilhelm in seiner Glaubenssuche voran getrieben, verkauft seine beiden Söhne (V. 2296 ff.) und verläßt nun — gewissermaßen zum zweiten Mal — seine Frau, diesmal aber in der Fremde und in einem physisch extrem geschwächten Zustand. Hierauf schwinden allerdings auch der Herzogin Bene die Kräfte, sobald sie dessen gewahr wird; hat sie doch nun mit ihm alles verloren, was sie bisher besessen hatte 31 : swer si gesach oder gehörte, ir jämer i m fröude störte. dicke si heller stimme schrei. (2811-11)

A n diesem Punkt der abrupten Trennung vollzieht sich jedoch eine überraschende Entwicklung. Für beide Figuren bedeutet sie zwar einerseits tiefen Schmerz und Trauer, doch bietet sie beiden nun die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit und die darin enthaltenen Fähigkeiten frei zu entfalten 32 . Gemäß dem legendenhaften Typus dieser Erzählung wird Wilhelm in Jerusalem nicht nur zu einem tüchtigen Christen, sondern auch zum triumphalen ritterlichen Verteidiger des Glaubens i m Kampf gegen die Heiden 3 3 . V ö l l i g überraschend gestaltet sich dagegen die Rolle der Herzogin. Zunächst beweist sie sich über fünf Jahre 31 Wilhelm hinterließ ausreichend Gold für ihr Auskommen, V. 2620ff., doch ist sein Verhalten auch hier als manisch-depressiv zu deuten; diese K r i t i k ist sicherlich bedingt ahistorisch, ignoriert sie ja bewußt das religiöse Moment als gesellschaftliches Ideal jener Zeit; trotzdem erlaubt, wie ich meine, eine strenge Textinterpretation, die Situation des Ehepaars in dieser Weise zu charakterisieren. 32 Kohlmayer, ibid., glaubt dagegen, die Rollen genau auf die zwei Teile des Romans verteilen zu können, p. 76, er ignoriert aber damit, daß sowohl Bene als auch Wilhelm vor dem Aufbruch noch des Rates älterer Personen bedürfen, d. h. gewissermaßen noch nicht erwachsen sind und kindliche Gebaren zeigen; bei Bene trifft dies allerdings nicht ganz so ausgeprägt zu wie bei Wilhelm. 33 Cf. J. Heinzle, ibid., p. 145 ff., bietet kurze Zusammenfassungen zeitgenössischer Werke, die einen ähnlichen Stoff verarbeiten.

Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden

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hinweg als absolut treu und unveränderlich in ihrer Gesinnung ihrem Mann gegenüber trotz allen Leidens, das sie von ihm ausstehen muß: ir aller werben gar verdarp. si funden an der jungen niht wan des man reinen wiben giht: ein herze an vesten triuwen ganz. (4046-49)

Ihr Benehmen zeichnet sich durch Bescheidenheit und Klugheit aus (4051), sie weist alle Werbungen zurück, selbst wenn sie mit vielen verlockenden materiellen Versprechungen verbunden sind (4052 ff.) 3 4 . Zuletzt beeindruckt sie sogar durch ihre große rhetorische Geschicklichkeit, da sie in der Lage ist, alle Angebote auszuschlagen, ohne dabei beleidigend zu wirken 3 5 , ja sie kann sogar allen Ratsuchenden Hilfe geben und erwirbt sich somit höchste Autorität in der Stadt: ditze wort diu vrouwe hat an manne joch an wibe daz nie an menschen übe solich wisheit si vernomen. ir rät wolt allen liuten fromen. (4066 - 70)

Bene hatte sich bereits vor der Hochzeit mit Wilhelm durch ihre hervorragenden Fähigkeiten und Tugenden ausgezeichnet — von der tugent man Wunders las, und waz man von ir schoene sprach! (118 f.)

— und demonstriert gleich während der ersten Krise ihrer Ehe, bedingt durch den Fluchtversuch ihres Mannes, wie klug sie diese Situation zu meistern vermag: sie rät ihm, einen Landtag zur Regelung der Herrschaftsverhältnisse einzuberufen, der sich dann später tatsächlich auf Raten eines alten Freundes der Herzogsfamilie bereit erklärt, Wilhelm auch über viele Jahre der Abwesenheit die Treue zu bewahren. N u n aber, fern der Heimat und ohne die Hilfe ihres Mannes, bietet sich für sie die Chance, ihre eigentlichen Fähigkeiten zu entfalten 36 . Nachdem der Herzog des Landes kinderlos gestorben ist und die adligen Herren für fünf Jahre eine A r t von 34 Damit gewinnt sie eine persönliche Stärke, die sie durchaus mit Penelope, Frau Odysseus' in Homers Ilias, vergleichbar macht, allerdings gehört dieses M o t i v der treuen Ehefrau zur Weltliteratur. 35 I n vielen parallelen Fällen wie bei Belakäne und Condwiramur in Parvyval, bei Gregorius' Mutter in der gleichnamigen Erzählung v o n Hartmann von Aue u. a. entbrennt stets ein erbitterter K a m p f gegen die K ö n i g i n , aus dem sie nur ein weiterer, wesentlich vielversprechenderer männlicher Kandidat retten kann; bei Bene trifft dies aber nicht zu! 36 J. Bumke, ibid., vol. I I , p. 488f.; Kohlmayer, ibid., hat hier durchaus richtig gesehen, daß sich Benes Schicksal erst i m zweiten Teil voll entfaltet, p. 83, doch gilt dies gleichermaßen für Wilhelm, hat also nichts zur eigentlichen Rollenverteilung zu sagen.

3*

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» B ü r g e r k r i e g « gegeneinander g e f ü h r t haben, w i r d Bene a u f E m p f e h l u n g eines m i t h o h e r A u t o r i t ä t ausgestatteten B ü r g e r s (4117) z u r F ü r s t i n e r w ä h l t : dö wart diu frouwe gekorn und von den vieren gesworn. (4313 f.) A u c h hier g l ä n z t sie d ü r c h eine V i e l f a l t

an T u g e n d e n u n d w i r d

für

ihre

Bescheidenheit (4273), W e i s h e i t (4274), K l u g h e i t u n d entschlossene T a t k r a f t (4278) g e r ü h m t . Sie k a n n stets g u t e n R a t erteilen (4280 ff.) u n d g i l t z u g l e i c h p h y s i s c h als g r o ß e S c h ö n h e i t (4285 f f . ) 3 7 . O b w o h l sie F r e m d e i m L a n d ist



»diust e i n gestin« (4277) — w e i ß m a n u m i h r e h o h e a d l i g e H e r k u n f t (4287) u n d bescheinigt i h r i n der v o l l e n V e r s a m m l u n g der L a n d e s h e r r e n e i n m ü t i g i h r e h e r v o r r a g e n d e n Charaktereigenschaften: daz w i r nie ervaren hän menschen so wisen noch so kluoc. w i r haben an ir fürstin gnuoc. (4308-10) 3 8 Z w a r w e h r t Bene e r s c h r o c k e n das A n l i e g e n der F ü r s t e n ab, da sie als F r a u u n m ö g l i c h allein H e r r s c h e r i n sein k ö n n e : ein kranker wibes name ich bin wie möhte ich landes frouwe sin? (4363 f.) A u ß e r d e m gäbe es dafür gar k e i n V o r b i l d i n der V e r g a n g e n h e i t , sei also s c h o n v o n daher ausgeschlossen: »sult i r läzen diesen Spot« ( 4 3 6 2 ) 3 9 . A l s sich aber herausstellt, daß es die F ü r s t e n ernst m e i n e n , akzeptiert die H e r z o g i n

ihre

Ernennung.

37 Der mittelalterliche Mensch hat bekanntlich die externe Schönheit als Reflex der internen angesehen; cf. dazu Umberto Eco: Art and Beautj in the Middle Ages, translated by H u g h Brendin (New Häven—London, 1986), pp. 4ff.; siehe auch Jean-Marc Pastré: »La beauté d'Isolde«, in: Tristan et Iseut. Myhte européen et mondiale, Actes du colloque des 10,11 et 12 janvier 1986, publiés par les soins de Danielle Buschinger (Göppingen, 1987) [ G A G 474], p. 326ff. 38 Kohlmayer betont, daß ihr Erfolg als Herrscherin allein von ihren administrativen Fähigkeiten abhängt, p. 84; andernfalls würde sie rasch nach einem Jahr wieder v o n einem Mann verdrängt werden, cf. V. 4289 ff. 39

Beispiele aus Frankreich und England zu dieser Zeit sprechen eine deutliche Sprache, daß es vielfach machtvolle K ö n i g i n i m 12. und 13. Jahrhundert gegeben hat, cf. Labarge, ibid., p. 61 f.; allerdings begegneten die meisten viel Opposition i m Land, cf. ibid., p. 70f.; wie gewaltsam sich männliches Vorurteil gegen eine weibliche Herrscherin äußern konnte, demonstriert der Fall der Kaiserin Agnes, der i m A p r i l 1062 der Kölner Erzbischof A n n o den eigenen Sohn und und Thronerben entführte und damit ihr auch die Herrschaft über das Deutsche Reich aus den Händen nahm, cf. Eberhard Nellmann: Das Annolied, Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von E. N., 3. bibliographisch ergänzte Auflage (Stuttgart, 1986), p. 182.

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Diese Wahl erweist sich bald als eine besonders glückliche Entscheidung, denn Bene vermag als parteilose Person Ruhe und Ordnung i m Land wieder herzustellen, die Finanzen und Steuern auf eine solide Grundlage zu stellen, das Ansehen des Reiches und des Hofes neu zu etablieren und damit insgesamt den Wohlstand des Volkes erheblich zu steigern 40 . Der Dichter betont, daß die neue Situation bei weitem die frühere unter dem verstorbenen Fürsten übertreffe — wan ez kurzecliche quam wider und wart so riche daz es stuont nü verre baz dan do ez vor der vürste besaz (4463-66)

— so daß dementsprechend die Herzogin allseits anerkannt werde: daz gemeinecliche ir lebens fro wurden w i p unde man. (4468 f.)

Darüber hinaus vergißt der Erzähler auch nicht, auf ihr emotionales Innenleben einzugehen und damit ihr Charakterbild harmonisch abzurunden. Trotz aller weltlichen Erfolge leidet die Herzogin darunter, von ihrem Ehemann getrennt zu sein: »von herzen si daz beweinde« (4486). A n dieser Stelle verschränkt jedoch Ulrich von Etzenbach beide Hauptstränge des Romans, indem er Wilhelm und Bene in einen engen geistigen und gefühlsmäßigen Kontakt bringt. Beide sehnen sich nach einander und befinden sich damit, wie der Dichter betont, jeweils i m Geiste beim anderen: frou Bene und ouch ir lieber man alle stunde einander sähen an. (4505 f.)

Sie verhilft ihrem Mann durch sein Angedenken an sie zum Sieg über die Heiden — »half dort ir friunde striten« (4544) — , während sie wegen ihrer Trauer die Werbungen der Fürsten ablehnt und damit stets auf seine Rückkehr vorbereitet bleibt. Dies aber ist natürlich die entscheidende Voraussetzung für das große Finale der Familien Vereinigung. Zunächst wird sie aber zum Idealbild eines jeglichen mittelalterlichen Herrschers erhoben, so daß diese Dichtung durchaus als Fürstenspiegel gelesen werden kann 4 1 . Alle erdenklichen Tugenden und Begabungen erweisen sich an dieser Frau: 40 Die historischen Gegebenheiten zwischen dem Tod Ottokars I I und Wenzel I I (12831305) entsprechen weitgehend der literarischen »Fiktion«, cf. K a r l Richter: Die böhmischen Länder i m Früh- und Hochmittelalter, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder , hg. v o n K a r l Bosl, Band 1 (Stuttgart, 1967), p. 278 ff. 41 Wilhelm Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, N D der Ausgabe Leipzig 1938, Stuttgart 1952 [Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, M G H 2]; Gerd Brinkhus: »Fürstenspiegel«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters,

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wiplicher wirde ein blüender stam, an allen frevel als ein lam, senfte, kiusche, reine gemuot. (4649-52) 4 2 D a m i t g e w i n n t aber diese D i c h t u n g n o c h m e h r an B e d e u t u n g . N i c h t n u r schreibt U l r i c h hier gegen eine ausgeprägt m i s o g y n e T r a d i t i o n an, i n s o w e i t als er eine F r a u z u r idealen F ü r s t i n e r k l ä r t , s o n d e r n er b e k r ä f t i g t d a r ü b e r hinaus, daß dieses K o n z e p t a u f der F o l i e k o n k r e t e r h i s t o r i s c h - p o l i t i s c h e r G e g e b e n h e i t e n i n B ö h m e n entstanden i s t 4 3 . F o l g l i c h bietet uns U l r i c h e i n e i n d r u c k s v o l l e s Beispiel f ü r eine d r a m a t i s c h veränderte S i t u a t i o n v o n adeligen F r a u e n i m späten 13. J a h r h u n d e r t . E r f o l g t j e d o c h n i c h t d e m M o d e l l , w i e w i r es e t w a aus d e m Nibelungenlied

i n der

F i g u r B r ü n h i l d k e n n e n 4 4 , s o n d e r n gesteht Bene zusätzlich z u i h r e n F ü h r e r f ä h i g k e i t e n alle idealen w e i b l i c h e n T u g e n d e n zu: swaz man an rehtem wibe, an erwünschtem reinem übe ze süezen tugenden mezzen sol da mite was sie gezieret wol. (4653-56) D e n n o c h stellt sich i h r rasch das typische P r o b l e m , daß der A d e l des Landes z w a r v o n i h r e r R e g i e r u n g ü b e r z e u g t ist, t r o t z d e m sie lieber verheiratet sehen möchte45:

Verfasserlexikon, 2. Bd., 2. verb. Aufl. hg. von K u r t Ruh et al. (Berlin—New York, 1980), Sp. 1023-30. 42 Explizit bezieht sich hier Ulrich von Etzenbach auf die Erscheinung der böhmischen Herrscherin Guta, V. 4674ff., w i l l also die Idealisierung der Frau konkret als L o b auf die Mäzenin verstanden wissen; zur Frau als literarische Mäzenin siehe jetzt Walther L u d w i g : Römische Historie i m deutschen Humanismus. Über einen verkannten Mainzer Druck von 1505 und den angeblich ersten deutschen Geschichtsprofessor, Hamburg 1987 [Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg 5, 1], p. 37 ff.; zwar ist Erzherzogin Mechthild von Österreich nur ein spätes, dafür aber ein umso beeindruckenderes Beispiel für eine Mäzenin; zur Rolle solch einer Figur im Mittelalter allgemein Rita Lejeune: »La femme dans les littératures françaises et occitanes du X l e aux X H I e siècle«, in: La femme dans les civilisations des Xe - XIIle siècles , Actes du colloque tenue à Poitiers les 23-25 septembre 1976 (Poitiers, 1977) [Publications du C.E.S.C.M., V I I I ] , pp. 111-127. 43 Franz Palacky: Geschichte von Böhmen, 2. Bandes erste Abtheilung (Prag, 1866) nennt diese Epoche treffend »Das erste böhmische Interregum«, p. 290, die historischen Details dort. 44 Roy A. Boggs: »The Populär Image o f Brunhilde«, in: The Roles and Images of Women in the Middle Ages and Renaissance, ed. by Douglas Radcliff-Umstead (Pittsburg, 1975) [University o f Pittsburg Publications on the Middle Ages and Renaissance, I I I ] , p. 23-39, hier besonders p. 32 f. 45 Man fühlt sich gezwungen, dies als Ausdruck typisch männlichen Chauvinismus zu bezeichnen; selbst angesichts ihrer überragenden Begabung fühlen sie sich gewissermaßen gedemütigt, wenn nicht zumindest formal ein Mann das Reich repräsentiert.

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wolde sie einen fürsten nemen, des solde alle si gezemen, ob anders ir wesen waere âne man ze swaere. (4731-34)

Erneut vermag sie aber diesem Konflikt zu entgehen, indem sie die Fürsten darauf einschwören läßt, denjenigen Mann als Herzog zu akzeptieren, der ihr Herz gewinnen werde (4760 ff.). So kann sie weiterhin auf die Rückkehr Wilhelms hoffen und zugleich dem gesellschaftlichen Druck, als adlige Frau nicht unverheiratet bleiben zu dürfen, ausweichen 46 . Die verschiedenen Handlungsstränge werden miteinander verbunden, als Wilhelm stark verändert — »aleine er entwildert waere« (5948) — zur gleichen Zeit zurück in das Land seiner Frau zurückkehrt, als ihre Söhne als Straßenräuber den Handelsverkehr verunsichern. A n dieser Stelle beweisen Wilhelm und Bêne, daß sie sich, obwohl getrennt voneinander, dennoch parallel zu neuen Persönlichkeiten entwickelt haben, d. h. auch den in ihnen liegenden Charakter zur vollen Ausbildung gebracht haben. Beiden sagt ihr Herz, daß die andere Person die bzw. der Geliebte sein muß, doch bleibt ihnen an dieser Stelle noch die letzte Einsicht verwehrt. Der Dichter umschreibt ihre Reaktionen, als sie einander wieder begegnen, folgendermaßen: aleine er entwildet waere ir kläre sehenden ougen, ir herze spehete in tougen [ . . .]. (5948-50)

Ulrich gesteht hier also der Frau größere Sensibilität zu als dem Mann, denn die veränderten Umstände lassen es ihm unmöglich erscheinen, daß sie seine Frau sein könnte: doch was i m des kein ahte daz diu süeze wolgeborn dâ ze vürstin waere erkorn. (6028-30)

Ulrich entwickelt dabei eine intensive Herzmetaphorik. Stets spricht das Herz eine deutliche Sprache und drängt die Personen zur Einsicht, daß es sich um den eigenen Mann bzw. die eigenen Kinder handeln muß: ir herze ze vröuden was erhaben als ob si kint unde man in hohem werde solde enphân, nach den si dicke swaeren muot truoc [ . . . ] . (6740-44)

46

Labarge, ibid., p. 19; A r t h u r Frederick Ide: Special Sisters . Woman in the European Middle Ages, revised and expanded: fouth ed. (Mesquite / Texas, 1983), p. 22.

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Alle Betroffenen leiden aber daran, die Sprache ihres Herzens nicht zu verstehen und bleiben so bis unmittelbar vor dem Familienzusammenschluß der geistigen Blindheit verhaftet 47 . Es ist interessant zu beobachten, inwieweit sich nun auch Wilhelm als reifer Mann auszeichnet. Nachdem Bene ein unverhältnismäßig großes Volksheer zur Bekämpfung der Räuber aufgerufen hat, entwickelt ihr Ehemann eine überraschend erfolgreiche Alternativ-Strategie, die er nicht nur der Herzogin und dem Rat vorlegt, sondern den er dann auch selber durchführt. Hier trägt ihm seine Klugheit, mit der er seinen Plan zuerst gegenüber einem Ritter entwickelt, das höchste Urteil seitens des Dichters ein: »do sprach der süeze wise man:« (6339); außerdem erscheint er als »getriuwer gaste« (6357), als redegewandt (6358) und als kultivierter Mensch, und dies selbst in der Begegnung mit den Feinden (6453 ff.). Die Aktionen der Herzogin, auch wenn sie von Wilhelm als nicht praktikabel beschrieben werden, werfen ein gleichermaßen vorteilhaftes Licht auf sie. So hat sie nach fünf Jahren Herrschaft die volle Autorität erworben, nur mit einem Wort ein großes Heer zusammenzurufen (6224). Sie regiert nicht autokratisch, sondern stützt sich auf einen Rat, der ihr i m Notfall beistehen kann (6364 ff.). Daher ist sie auch sofort bereit, Wilhelms Empfehlung aufzugreifen, und beugt sich damit seiner besseren Einsicht in solch komplizierten militärischen Dingen (6375). Dies ist umso erstaunlicher, als sein Plan äußerst eigenwillig erscheint, i m Grunde auf die Opposition aller ritterlich gesinnten Männer stoßen müßte. Er geht persönlich und unbewaffnet zu den Räubern mit der Hoffnung, in ihnen wahre Adlige vorzutreffen, denen er nicht nur ihre Verfehlung deutlich, sondern auch, da ihnen ihre Schuld von der Herzogin vergeben wird, die Rückkehr in das höfische Leben schmackhaft machen kann. Der Erfolg bestätigt seine Vermutungen, sind es doch seine eigenen Söhne, die er aus der Räuberexistenz befreit. Zugleich gilt es aber zu bedenken, daß diese Gefahr für das Land nur durch die enge Kooperation zwischen Bene und Wilhelm beseitigt wird; d.h. erst hier stellt sich eine tiefe innere Harmonie zwischen dem Ehepaar ein. Obwohl noch die unterschiedlichen Religionen sie voneinander trennen — und Wilhelm strebt immer wieder danach, sich aus diesem Grund von ihr zu lösen (6831 und 8012) — kann Bene auch diese Hürde schließlich meistern und ihrem Mann die Rückkehr in seine Familie ermöglichen. So orchestriert sie eine große Versammlung aller je Betroffenen einschließlich ihrer Eltern — D i u vrouwe nam do einen tac. von der stat ü f einem plan da solde ein höchgezit ergän (7332-34) 47

Cf. Xenia v o n Ertzdorff: »Das >Herz< in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachlichen religiösen Literatur«, in: PBB, 84 (Halle 1962), pp. 249-301.

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— und etabliert so den notwendigen Rahmen für eine opernhafte Auflösung aller Knoten der Handlung. Die Wiedererkennung ereignet sich aber auch hier nur stufenweise. Zunächst hatte Wilhelm hinter den beiden Räubern seine eigenen Söhne erkennen können, dann enthüllt sich Bene die ganze Wahrheit, allerdings noch bevor er ihr seine Lebensgeschichte i m Detail vorführt: ir herze sich gein i m entslöz, darin sie in kuntlich nam. (6990 f.)

Wilhelm bedarf dagegen wesentlich mehr Zeit, um auch in der Herzogin seine Frau zu erblicken, d. h. es steht letztlich ihr zu, das tragische Familiengeschehen einem glücklichen Ende zuzuführen. Nach dem Empfang ihrer Eltern entdeckt sie sich ihm und erklärt die vielen Verwirrungen: vater her, hie stet m i n man nach dem ich mich enthalden hän. (7915 f.)

Daß Bene dem Herzog auch noch zu diesem Zeitpunkt in emotionaler und intellektueller Hinsicht überlegen ist, demonstriert ihre Reaktion auf seine steife Haltung. Denn trotz dieser unglaublichen und erschütternden Enthüllung weigert sich Wilhelm, seine Familie zu akzeptieren wie sie ist, sich zu seiner Schuld zu stellen, die er mit seiner Flucht auf sich geladen hat, und die neuen Aufgaben als zukünftiger Herrscher des Landes zu übernehmen, allein deswegen, weil er sich als Christ nicht länger unter den Heiden aufhalten zu dürfen vermeint: nü müezet ir min mangel han, wan ir sit ein heidenin. (7942 f.)

Bene hat sich an diesem Punkt allerdings so weit entwickelt, daß sie nicht nur bereit ist, auf Grund neuer Einsichten den christlichen Glauben anzunehmen, sondern auch die emotionale »Erpressung« seitens Wilhelms zu akzeptieren: er sprach: >ir müezet iuch toufen lan, sie sprach: >herre, daz si getänk (7947 f.)

Möglich ist ihr dies erneut auf Grund ihrer weit vorausblickenden Planung, hatte sie doch rechtzeitig die Herren des Landes auf sich eingeschworen, indem sie sich ihnen als unschätzbare Fürstin und Wohltäterin erwiesen hatte, so daß sie nun alle bereit sind, um ihretwillen die Taufe anzunehmen: alle unser huobe, trüegens golt, und al die herschaft die w i r han, herre, die wolden w i r e lan, swelchen schaden w i r des kürn, e daz w i r unser vrouwen vlürn. (8028-32)

Aus struktureller Sicht wird dabei eine eigenartige und bisher gänzlich übersehene Funktion von Bene deutlich. Nicht nur wächst sie zu einer Idealfigur

Albrecht Classen

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höchsten Grades, zum Vorbild eines jeglichen Herrschers, sondern sie entwickelt sich zum entscheidenden Instrument für den Missionierungsgedanken. Wilhelm verfolgte stets nur ein individualistisches Ziel und war dafür bereit, alles i n seinem Leben, einschließlich seiner Frau und seiner Kinder, dafür zu opfern 48 . Doch bleibt er, selbst nach seiner Rückkehr aus Palästina, überraschend blaß als Figur, ja auch in den letzten entscheidenden Szenen, weil seine persönliche Glaubenskonversion nicht zum Mittel einer breiten Volksbekehrung wird. Er genügt sich als frommer Pilger und Bekämpfer der Heiden, wird aber darüber hinaus nicht aktiv und verfehlt somit in letzter Konsequenz sowohl seine Aufgaben als christlicher Herrscher und als Gläubiger in einer Welt voller Heiden 4 9 . Zwar bemüht sich Ulrich von Etzenbach, in einem weiteren Treuegelöbnis-Akt, diese Stellung Wilhelms aufzuwerten, denn noch vor der Volkstaufe, dem religiösen Höhepunkt des Romans 50 , rekapituliert der Herzog seine Position, daß er ein einsamer Christ in heidnischer Welt sei, und droht ihnen daher, sie mitsamt seiner Frau zu verlassen, wenn sie nicht die Taufe annehmen: »weit ir daz wir bi iu sin!« (8099). Doch unmittelbar darauf isoliert er sich wieder von Bene und spielt erneut auf seine mögliche Abreise an — jetzt aber ohne die Herzogin: »tuot ir des niht, so uzet iuch min« (8100) 51 . Sie hat dagegen eine solche Vertrauensbasis i m Herzogtum aufgebaut, daß die Adligen des Landes ihretwegen bereit sind, ihr in jeder Sache zu folgen. N u r so ist sie in der Lage, den nötigen Druck auszuüben, auf daß die Bekehrung auch in Wort und Tat durchgeführt wird. Noch ein Aspekt verdient hierbei besondere Berücksichtigung. Wilhelm reflektiert nie über seinen Glauben per se, sondern ist seit der ersten Inspiration völlig und unwiderruflich verwandelt, ohne je freiwillig über seine neuen Erfahrungen zu berichten, d. h. zu missionieren. Bene erkennt dagegen die Kraft des Christentums zwar nur langsam, doch überzeugt 48

So Wetzlaff-Eggebert, ibid., p. 283.

49

K u r t Ruh: »Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters«, in: Europäisches Spätmittelalter, hg. v o n W i l l i Erzgräber (Wiesbaden, 1978) [Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, 8], wertet dagegen, ohne dies genauer am Text zu überprüfen, Wilhelm als den christlichen Helden par excellence, dessen beeindruckende Conversio dem franziskanischen Imitatio-Modell nachstrebe, p. 146; dem ist zwar begrenzt zuzustimmen, doch übersieht Ruh dabei die strukturelle Verschiebung i m Roman zu Gunsten der Herzogin. 50 Aus strukturalistischer und vor allem thematischer Sicht steht trotzdem das Familienschicksal i m Zentrum, das religiöse Moment enthält keine Überraschungen für den Leser bzw. Zuhörer parat, ist doch diese Entwicklung sowohl aus dem historischen Kontext als auch aus Wilhelms religiöser Haltung unabänderlich zu erwarten. 51

Kohlmayer, ibid., kann seine hierzu formulierte These nicht überzeugend beweisen, daß Wilhelm als »historisches Werkzeug Gottes« dargestellt wird, p. 61; letztlich bedarf es zweifellos der Aktionen Benes, um die Missionierung durchzuführen, ohne sie in dieser Position als Herzogin des Landes wäre Wilhelm als Pilger in der Anonymität verschwunden.

Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden

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sie sich schließlich von seiner Überlegenheit 52 . Dieser pragmatische Ansatz vermag somit ihren Argumenten zugunsten des neuen Glaubens einen ausschlaggebenden Einfluß auf ihr Volk zu vermitteln: sie hat Christus »getestet« und ist wegen ihrer Bereitschaft, an ihn zu glauben, durch die Familienwiedervereinigung belohnt worden: diu hat mir braht der hohe Krist der aller sachen geweldic ist. (7909 f.)

Daß der Dichter den Roman jedoch erneut mit Wilhelm als der dominanten Figur enden läßt, der das Land regiert und in guter Ordnung hält — Willehalm der wigant rehte und ordelich diu lant hielt und twanc die heidenschaft [. . . ] (8273 - 75)

— braucht uns nicht zu überraschen. Schließlich handelt es sich um die Titelfigur, und das zeitgenössische Publikum wäre sicherlich nicht bereit gewesen, die Errichtung eines Matriarchats als ein neues Herrschaftsideal anzuerkennen, so daß sie das weibliche Interim i m Roman ohne größere Probleme rezipieren können. Doch bleibt als Ergebnis unserer Interpretation bestehen, daß Herzogin Béne auf lange Strecken hin nicht nur dem Protagonisten intellektuell, ethisch und emotional gleich kommt, sondern daß sie strukturell und inhaltlich die Hauptrolle einnimmt, ja einnehmen muß, da sie als der stärkste Charakter gezeichnet w i r d 5 3 . V o n daher ist es gerechtfertigt, hier von einem »Frauenroman« zu sprechen, obwohl der Begriff an sich a-historisch ist und den literarhistorischen Kontext nicht zu erfassen vermag 54 . Als Terminus der Funktions-, Struktur- und Inhaltsbeschreibung deutet er aber genau die spezifische Erscheinung von Béne. O b die Anrufung der Himmelsmutter Maria (8294) und nicht die Gottes bloß Zufall ist, der mittelalterlichen Religiosität entsprach oder unterschwellig als Eingeständnis des Dichters aufzufassen ist, daß die Fürstin sowohl i m Himmel als auch und gerade auf Erden dem Mann überlegen sein kann, sei dahingestellt. Die Präsentation der Herrscherin Béne gehört jedenfalls zu einem Höhepunkt der spätmittelalterlichen deutschen Dichtung 5 5 .

52

Kohlmayer, ibid., p. 86, nennt es »Naturchristentum«.

53

O b Ulrich von Etzenbach dies intentional so gestaltet haben wollte, um seiner Mäzenin Guta zu schmeicheln, läßt sich nicht mit Sicherheit annehmen, cf. W. Toischer, ibid., p. X X I I I f f . , doch macht unsere Interpretation deutlich, daß die überragende Rolle der Frau zum wesentlichen Teil des Wilhelm von Wenden gehört. 54 55

Dazu schon F. Nolte, ibid.

Z u einem überraschend ähnlichen Urteil gelangt Winder McConnell, ibid., p. 98, in bezug auf Kudrun; danach w i r d das Publikum des 13. Jahrhunderts mit einer neuen gesellschaftlichen Alternative konfrontiert, bei der »the primary exponents o f this moderating stance are, in every case, women.«

Z u Shakespeares früher Komödie The Two Gentlemen of Verona V o n Kurt

Schlüter

Wenn man versuchen würde, die Dramen des First Folio 1 nach dem Grade ihrer Anstößigkeit zu ordnen, so hätte die frühe Komödie The Tm Gentlemen of Verona gute Aussicht, an erster Stelle zu stehen, und zwar hauptsächlich wegen der Schlußszene, die in kurzer Folge zwei Scheußlichkeiten enthält: erstens den Versuch des Bösewichts, die Heroine, die noch dazu die Braut seines Freundes ist, zu vergewaltigen (ein Versuch, der nur deshalb scheitert, weil der Bräutigam in das Geschehen eingreift), und zweitens das bald darauf erfolgende Angebot des Retters, die eben erst Errettete an den Angreifer abzutreten; denn der zeigt sich nach kurzer Philippika so zerknirscht, daß der Retter und Bräutigam dem Übeltäter verzeiht, ihn wieder zum Freunde annimmt und zum Zeichen der völligen Vergebung alle seine Ansprüche auf die eigene Braut an den einstigen Bösewicht abtritt. Von diesen beiden Untaten hat die letztere stets die größere Empörung hervorgerufen, obwohl die erste ein Verbrechen, die zweite aber strafrechtlich überhaupt nicht erfaßbar ist. Der ästhetisch genommene Anstoß stützt sich auf Kriterien der Moral und der Psychologie. I n der love-quest-romance y auf der die Handlungsstränge des Dramas basieren, verdient der Held die Braut als Preis für seine Tugenden und Taten. Er darf aber nicht über diesen Preis disponieren, denn das stellt die Grundlagen dieses Geschichtentyps in doppelter Weise in Frage: Der Held disqualifiziert sich selbst und wirft damit auch Schatten auf die Preis würdigkeit der von ihm bisher erstrebten Braut. Die Moral der Geschichte würde damit von ihm auf den K o p f gestellt. Sie würde aber auch verletzt, wenn am Ende der ^//¿tf-Preis dem Bösewicht zufiele. Einem solchen zu vergeben ist immer schwierig, und der Zuschauer knüpft daran gewichtige Bedingungen. Er verlangt, daß die Zerknirschung nicht nur den Helden überzeuge, sondern auch ihn, den Zuschauer, am besten durch eine Bewährungsperiode tätiger Reue. Die Schwierigkeit wird noch größer, wenn der Zuschauer akzeptieren soll, daß für den reuigen Heimkehrer auch noch das Kalb geschlachtet wird. Wenn wie hier der Tugendheld in gottähnlichem Überschwang dem reuigen Sünder nicht nur vergibt, sondern noch den besonderen Gnadenerweis hinzufügt, den Preis, der 1

Mr. William Shakespeares Comedies, Histories The Spanish Tragedy< and >HamletTrinity College< z u C a m b r i d g e w u r d e 1 5 5 1 / 5 2 Senecas Troades a u f g e f ü h r t ; nähere D e t a i l s s i n d n i c h t b e k a n n t 1 7 . E b e n so w e n i g genaues wissen w i r ü b e r die

12 Vgl. zur Person A. B. Emden, A Biographical Register of the University 1501 to 1540 (Oxford, 1974), 419-421, s.v. »Nowell, Alexander«.

of Oxford A.

D.

13 Der Titel Hippolytus für Phaedra erscheint vorwiegend in der auf die Handschriften der Gruppe A zurückgehenden Codices; vgl. speziell R. H. Rouse, »The A Text o f Seneca's Tragedies in the Thirteenth Century«, Revue d'Histoire des Textes, 1 (1971), 93-121; O. Zwierlein, Prolegomena %u einer kritischen Ausgabe der Tragödien Senecas, Abh. Akad. Mainz, Geistes- u. Sozialwiss. Klasse, Jg. 1983, N r . 3 (Wiesbaden, 1984); ders., Kritischer Kommentar %u den Tragödien Senecas, Abh. Akad. Mainz, Geistes- u. Sozialwiss. Klasse, Einzel Veröffentlichung Nr. 6 (Wiesbaden, 1986). Vgl. allgemein zur Seneca-Rezeption im Mittelalter P. L. Schmidt, »Rezeption und Überlieferung der Tragödien Senecas bis zum Ausgang des Mittelalters«, E. Lefevre (Hrsg.), a.a.O., 12-73 und W. Trillitzsch, »Seneca Tragicus — Nachleben und Beurteilung i m lateinischen Mittelalter. V o n der Spätantike bis zum Renaissancehumanismus«, Philologus, 122 (1978), 120-136. 14 Der Joseph-Stoff gehört zu den auch in der Renaissance bevorzugten Stoffen für dramatische Bearbeitungen, vgl. etwa L. Bradner, »The Latin Drama of the Renaissance (1340-1640)«, Studies in the Renaissance, 4 (1957), 31-70; E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, Ein Lexikon Dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (Stuttgart, 1962), 320-323; J. D . Yohannan, Joseph and Potiphar's Wife in World Literature (New York, 1968); H. S. und I. Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, Ein Handbuch (Tübingen, 1987), 104-109. 15 Brasenose College MS. 31, fols 25ff.: »Senecae tragici poetae hypolitum, spectatores candidissimi, apud vos acturi, non formidamus haec praefari, ut inter tragicos omnes latinos non tantum primus, sed propemodum etiam solus — vel fabii iudicio — dignus est quod legatur est hic Seneca; ita inter omnes huius tragedias longe primas obtinet, haec quam sumus representaturi hyppolitus fabula. ad eius, tum apud alios omnes, tum apud vos praecippue, utpote sacrarum literarum Audiosos, commendationem etiam hoc accedit, quod a iosephi et pitipharis uxoris historia in sacris genesios libris prodita haec hypoliti fabula non procul alludit: et quod illic citra omnem controversiam revera gestum legitur.« Der Text wurde bereits von G. K . Hunter (»Seneca and English Tragedy«, ders., Dramatic Identities and Cultural Tradition, Studies in Shakespeare and His Contemporaries (Liverpool, 1978), 174-213, 181, Anm. 8) transkribiert. 16

Vgl. B. R. Smith, »Toward the Rediscovery o f Tragedy: Productions o f Seneca's Plays on the English Renaissance Stage«, Renaissance Drama, n. s. 9 (1978), 3-37, bes. 11 ff.

Seneca-Rezeption im neulateinischen Drama

59

Aufführungen der folgenden Jahre: m i t großem A u f w a n d wurden Hecuba und Oedipus 1559 / 60 gegeben, Medea u n d erneut Troades 1560 / 6 1 1 8 . Bei der einen oder

anderen Tragödie mag es sich u m Senecas Werk gehandelt haben, sicher ist dies jedoch nicht; denkbar ist jedenfalls auch die Aufführung lateinischer Übersetzungen des Euripides. Ebenfalls denkbar ist jedoch auch, daß Senecas Tragödien i n englischer Übersetzung gespielt oder rezitiert — so groß ist der Unterschied i n elisabethanischer Zeit n i c h t 1 9 — wurden. I m Umfeld der Universitäten Oxford und Cambridge entstand bekanntlich seit dem Ende der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts die bis ins 20. Jahrundert einzige vollständige englische Übersetzung der Tragödien Senecas. D i e Tragödien-Übersetzungen wurden i n schneller Folge als Einzelausgaben publiziert und 1581 v o n Thomas N e w t o n gesammelt u n d als Seneca His

Tenne Tragedies

20

veröffentlicht.

Bedeutsam i n

unserem

Zusammenhang sind sie, weil Alexander N e v i l l e 2 1 , selbst M i t g l i e d des >Trinity College< der Universität Cambridge, i m V o r w o r t zu seiner i m Jahre 1563 erschienenen Oedipus- Übersetzung explizit darauf verweist, seine Übersetzung sei — wie schon das Drama Senecas — gedacht für eine Aufführung: Albeit when first I undertoke the translation of this present Tragoedy, I minded nothing lesse, than that at any tyme thus rudely transformed it shoulde come into the Printers hands. For I to none other ende removed him, from his naturall and lofty style, to our corrupt and base, or as some men (but untruly) affyrme it, most barbarous Language: but onely to satisfy the instant requests of a few my familiar frends, who thought to have put it to the very same use, that Seneca himself in his Invention pretended: Which was by the tragicall and Pompous showe upon Stage, to admonish all men of their fickle Estates, to declare the uncontant head of wavering Fortune, her sodayne interchaunged and soone altered Face: and lyvely to expresse the just revenge and fearefull punishments of horrible Crimes, wherewith the wretched worlde in these our myserable dayes pyteously swarmeth. 22

Wie lebendig speziell i n Cambridge zu Beginn der sechziger Jahre die Pflege des antiken Dramas war, bezeugt eindrucksvoll ein Brief v o n W i l l i a m Soon, v o n

17

Vgl. Boas, 386 und Moore Smith, 53.

18

Vgl. Boas, 387 und Moore Smith, 56-57.

19

Vgl. B. L. Joseph, »>The Spanish Tragedy< and >HamletPyramis< «, Transactions of the Connecticut Academy of Arts and Sciences 32, (1936), 247 349; »»Some Pre-Armada Propagandist Poetry in England (1585-1586)«, Proceedings of the American Philosophical Society, 85 (1941), 71 - 83. Das monumentale Werk Tucker Brookes The Latin Plays of William Gager (935 Manuskriptseiten), nahezu vollendet, als Tucker Brooke

Seneca-Rezeption i m neulateinischen Drama s o n n t a g , fiel die Premiere seines Ulysses Redux 27,

61

a m 7. F e b r u a r w u r d e seine

b e r ü h m t e , leider v e r l o r e n e K o m ö d i e Rivales, entstanden w o h l i m Jahre 1583, erneut g e g e b e n 2 8 . A m Fastnachtsdienstag schließlich e r f o l g t e die A u f f ü h r u n g der Senecatragödie Hippolytus.

G a g e r verfaßte f ü r diese A u f f ü h r u n g einen P r o l o g ,

einen E p i l o g , s o w i e e i n i g e ergänzende Szenen. N a c h der V o r s t e l l u n g brachte G a g e r >Momus< a u f die B ü h n e , b e a n t w o r t e t e u n d w i d e r l e g t e i n e i n e m >Epilogus Responsivus< j e d o c h die v o n >Momus< geäußerte K r i t i k . Besonders dieser letzte T e i l der A u f f ü h r u n g gelehrten

w e c k t e b e k a n n t l i c h d e n Z o r n D r . J o h n R a i n o l d s , des

puritanischen

Gegners

des U n i v e r s i t ä t s d r a m a s ,

der >Momus
Defence o f Oxford Plays and Playersorthodoxenreligiöse< Huldigung an die realitäts- und persönlichkeitstransformierende Macht dieses Metalls dar: T h o u art virtue, fame, Honour, and all things eise! W h o can get thee, He shall be noble, valiant, honest, wise - (I, i, 25-27)

Hier wie in dem folgenden Dialog mit Mosca wird deutlich, daß Volpone nicht am Besitz um seiner selbst willen interessiert ist, sondern von der Wunschvorstellung motiviert wird, sich durch Teilhabe an der quasi göttlichen Allmacht seines Goldschatzes selbst als eine A r t Gottesgestalt zu etablieren. Ihren wichtigsten Ausdruck findet diese Tendenz zur Selbstvergottung i m M o t i v der Transformation. Volpones Allmachtsgefühle gründen sich denn auch auf einem hybriden Glauben an seine unbegrenzte Fähigkeit, sich selbst in immer wieder neue Gestalten verwandeln und dabei die Rollen der Mitspieler wie die Reaktionen der Zuschauer nach Belieben beherrschen und kontrollieren zu können. I m ersten A k t äußert sich dieses Gefühl schrankenloser Machtfülle zunächst in der selbstglorifizierenden Gebärde, mit der er sein Dienertrio Nano, Androgyno und Castrone zur Inszenierung eines entertainment auffordert: Call forth my dwarf, my eunuch, and my fool, A n d let 'em make me Sport. What should I do, but cocker up my genius, and live free To all delights, my fortune calls me to? (I, i, 69-72)

Dieses Machtgefühl wird i m folgenden stimuliert durch die erfolgreiche Selbstinszenierung als Todkranker, mit der er die drei Erbschleicher zu einem Rollen verhalten animiert, in dem die ethischen Normbegriffe der jeweiligen Rolle in ihr Gegenteil verkehrt werden. Der Rechtsanwalt Voltore stellt sich als ein skrupelloser Rechtsbeuger und Rechtsverdreher dar. Der greise Edelmann Corbaccio, der bereit ist, seinen Sohn zu enterben, wird zu einem grotesken Gegenbild des »treusorgenden Vaterskollusionärer< Selbstbestätigung vgl. aus sozialpsychologischer Sicht Ronald D . Laing, Das Selbst und die Anderen (Reinbek bei Hamburg, 1977), insbes. Kap. 8.

Das Theatermotiv in Ben Jonsons Volpone

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zu Beginn des fünften Aktes noch einmal deutlich, als er auf die Frage Moscas, wie ihm das vor Gericht inszenierte Intrigenspiel gefallen habe, zur A n t w o r t gibt: O, more than i f I had enjoyed the wench: The pleasure o f all woman-kind's not like it. (V, i, 10-11)

Z u dieser Spielhaltung scheint der brutale Vergewaltigungsversuch in der Werbungsszene allerdings auf den ersten Blick nicht so recht zu passen. Es wäre jedoch verfehlt, darin einen Bruch in der Motivationsstruktur des Protagonisten zu sehen, 24 denn Volpones Verhalten ist auch hier Ausdruck jenes zwanghaften, als Allmachtsanspruch auftretenden Anerkennungsbedürfnisses, das ansonsten seine Spielhaltung prägt. Insofern erklärt sich der Vergewaltigungsversuch durchaus plausibel als verzweifelte Panikreaktion einer Künstlergestalt, die sich unversehens ihrer Publikumswirksamkeit beraubt sieht. Die künstlerische Existenzform erweist sich damit letztlich in ähnlicher Weise wie die materialistische Alltagskultur, über die sie sich zu erheben versucht, als eine fragwürdige Substitutionsform authentischer Erfahrung. U m auf den Ausgangspunkt der voraufgegangenen Betrachtungen zurückzukommen: M i t der Titelfigur seines Dramas Volpone hat Ben Jonson eine A r t poetisches Vexierbild entworfen, das sich — je nach Sichtweise — sowohl als Vehikel der Gesellschaftskritik als auch als Vehikel einer selbstkritischen Reflexion über die Fragwürdigkeit der künstlerischen Existenz darbietet. Man kann diese Ambivalenz auch anders beschreiben: I m satirischen Porträt des korrupten Sozialmenschen Volpone gibt sich das quasi offizielle, i m auktorialen Habitus des Moralisten auftretende Ego Ben Jonsons kund. I m Komplementärbild des verantwortungslos-anarchischen Spielers Volpone bringt sich das alter ego des Autors in einer Weise zur Geltung, die seine Faszination für diesen >inoffiziellen< Teil seiner künstlerischen Existenz durchscheinen läßt. 2 5 Überformt durch den rigiden Moralismus der auktorialen Urteilsperspektive erscheint dieses alter ego bzw. der in ihm manifestierte Impuls des Spielerisch-Künstlerischen jedoch letztlich als ebenso deformiert wie die gesellschaftlichen Verhältnisse. 26 Die K r i t i k Ben Jonsons an der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit 24

So etwa Breuer, 225, der die Szene nur aus der »/>/