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German Pages 425 [428] Year 2021
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Stein Eine Materialgeschichte in Quellen der Vormoderne
Hrsg. von Iris Wenderholm unter Mitarbeit von Isabella Augart
ISBN 978-3-11-068433-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11- 068870-2 Library of Congress Control Number: 2021936855 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Katja Peters, Berlin Einbandabbildung: oben links: Michele Mercati: Metallotheca, Rom 1717, S. 279, Ausschnitt, © Staat liche Museen zu Berlin (SMB), Kunstwissenschaftliche Bibliothek, RA A 6863 mtl, Foto: Dietmar Katz; oben rechts: © Eva Kröcher, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Achat_DSC_5288.jpg GNU Lizenz für freie Dokumentation (GFDL) und CreativeCommons (CC); unten: Jacopo Barozzi da Vignola (Entwurf): Pietra dura-Tisch des Kardinals Alessandro Farnese, um 1566, New York, Metropolitan Museum of Art (Public domain – Metropolitan Museum of Art). Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com
Inhalt
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Iris Wenderholm Saxum – petra – lapis. Eine Wissensgeschichte des Steins
31
Altes Testament
/ Corinna Körting
43
Platon Timaios, ca. 358–348 v. Chr.
/ Dorothea Frede
53
Theophrast Peri Lithōn, 315–314 v. Chr.
/ Sanne Rishøj Christensen
61
Poseidippos von Pella Lithika, um 280/270 v. Chr.
/ Sanne Rishøj Christensen
69
Publius Ovidius Naso Metamorphosen, um 3–8 n. Chr.
/ Christian Badura
75
Neues Testament
83
Gaius Plinius Secundus d. Ä. Naturalis Historia, um 77 n. Chr.
/ Ilka Mestemacher
91
Publius Papinius Statius Silvae, um 90–95 n. Chr.
/ Gerd Blum
99
Physiologus um 150–200 n. Chr. (?)
/ Ilka Mestemacher
/ Jochen Hermann Vennebusch
6
Inhalt
111
Ps.-Orpheus Lithika, Ende 4. Jahrhundert n. Chr.
/ Sanne Rishøj Christensen
123
Paulos Silentiarios Ekphrasis der Hagia Sophia, 562/563
/ Barbara Schellewald
131
Isidor von Sevilla Etymologiae, um 636
/ Andy Merrills
139
Hrabanus Maurus De rerum naturis (De universo), vor 856
/ Arwed Arnulf
149
Abū ʿAlī ibn Sīnā Kitāb aš-Šifāʾ, um 1020–1027
/ Fabian Käs
155
Hugo von St. Viktor De tribus diebus, um 1120
/ Christopher Lakey
156
Suger von Saint-Denis De administratione, 1150
/ Christopher Lakey
165
Hildegard von Bingen Liber simplicis medicinae, um 1152–1158
/ Julia Kölle
173
Bartholomaeus Anglicus De proprietatibus rerum, 1230–1240
/ Iris Brahms
181
Albertus Magnus De mineralibus, II.3.1-2, 1248–1252
/ Philippe Cordez
191
Albertus Magnus De mineralibus, II.3.3, 1248–1252
/ Nicolas Weill-Parot
203
Dante Alighieri La Commedia, 1307–1321
/ Franca Buss
211
Francesco Petrarca De remediis utriusque fortunae, um 1360
/ Wolf-Dietrich Löhr
Inhalt
223
Cennino Cennini Il libro dell’arte, Cap. LXXXVIII, um 1400
/ Johannes Tripps
233
Cennino Cennini Il libro dell’arte, Cap. LX, um 1400
/ Spike Bucklow
239
Leon Battista Alberti De re aedificatoria libri decem, 1445–1452
/ Veronica Biermann
247
Johann Wonnecke von Kaub Gart der Gesundheit, 1485
/ Pia Rudolph
253
Francesco Colonna (?) Hypnerotomachia Poliphili, 1499
/ Franca Buss
265
Camillo Leonardi Speculum Lapidum, 1502
/ Maurice Saß
275
Francesco Suriano Trattato di Terra Santa e dell’Oriente,
276
283
um 1485/1514
/ Nadine Mai
Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen Heiltums- und Ablassbuch, 1511–1515
/ Nadine Mai
Bernard Palissy Recepte veritable par laquelle tous les hommes de la France pourront apprendre à multiplier et augmenter leurs tresors, 1563
285
/ Robert Felfe
Bernard Palissy Discours admirables de la nature des eaux et fontaines, tant naturelles qu’artificielles, 1580
/ Robert Felfe
7
8
Inhalt
293
299
313
Conrad Gessner De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime, figuris et similitudinibus liber, 1565
/ Arwed Arnulf
Benvenuto Cellini I trattati dell’oreficeria e della scultura, 1565/1567
/ Isabella Augart
Giorgio Vasari Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori, 1568
/ Fabian Jonietz
321
PARACELSUS Archidoxa, 1569
/ Alexandra Pietroch
331
Blaise de Vigenère La Description de Callistrate de quelques statues antiques tant de marbre comme de bronze, 1602
/ Andreas Plackinger
343
Anselmus Boetius Gemmarum et lapidum Historia, 1609
/ Arwed Arnulf
357
Giambattista Marino La Galeria, 1619
/ Daniel Fliege
365
Ulisse Aldrovandi Musaeum metallicum, 1648
/ Joris van Gastel
373
Athanasius Kircher Mundus Subterraneus, 1665
/ Johanna Beate Lohff
385
Robert Boyle Specimen de gemmarum origine et virtutibus, 1673
/ Arwed Arnulf
Inhalt
391
Joachim von Sandrart Teutsche Academie der Bild- Bau- und Mahlerey-Künste, 1675
/ Christina Posselt-Kuhli
403
Michele Mercati Metallotheca, 1593, postum veröffentlicht 1717
/ Iris Wenderholm
415
Danksagung
417 419 425
Register der Steinnamen Namensregister Abbildungsnachweis
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Saxum – petra – lapis
Eine Wissensgeschichte des Steins Iris Wenderholm Saxum – petra – lapis: Stein ist ein Material mit vielen Namen und paradoxen Eigenschaften. Gilt Stein einerseits als schwer zu bewegen und zu bearbeiten, als militärisch nahezu unbezwingbar und als optisch opak, so verfügt er andererseits über Ausprägungen und Bearbeitungen, in denen er transparent und leicht erscheint. Seine unterschiedlichen Qualitäten zeigen sich etwa am durchscheinenden Alabaster, wächsern wirkenden Marmor und glitzernden Smaragd. Steine scheinen sich nur auf den ersten Blick durch ihre Härte und Widerstandsfähigkeit auszuzeichnen. In den Texten der Vormoderne werden ihnen immer wieder auch Qualitäten zugeschrieben, die ihre Weichheit und Transformationsfähigkeit, selbst ihre Lebendigkeit betonen. Animistische Vorstellungen, die Stein in besonderem Maße Eigenleben, Göttlichkeit sowie Autorität zuweisen, kennzeichnen seit frühesten Zeiten das Verhältnis des Menschen zu seiner steinernen Umwelt. Die europäische Auseinandersetzung mit dem Material Stein ist von dieser Faszination für die Gegensätzlichkeit der Verlebendigung und der Erstarrung, des Fluiden und des Ariden, geprägt. Sind es auf der einen Seite Fragen der Physik, Mineralogie und Naturphilosophie, naturkundliche Forschungen, Systematisierungs- und Kategorisierungsversuche, die seit der Antike bis weit in das 18. Jahrhundert hinein betrieben werden, so sind es auf der anderen Seite Poetisierungen und literarische Umkreisungen, die die Unfassbarkeit des Steins nur noch stärker manifestieren. Die mineralogischen und geologischen Studien sowie die archäologischen und philologischen Erschließungen seit dem 16. Jahrhundert erweitern das naturkundliche Materialwissen und das Bedeutungsspektrum von Stein nochmals gewaltig. Doch welche ideengeschichtlichen Transformationen, welche Konstanten lassen sich in den rund 3000 Jahren identifizieren? Welche Narrative erweisen sich im europäischen Diskurs als besonders tragfähig, welche Stellung wird Stein innerhalb einer Weltordnung zugewiesen, die von Vorstellungen des Wirkens einer kunstvollen Natur oder aber des christlichen Schöpfergottes gekennzeichnet ist? Und welche der Topoi, mit denen Stein begabt wird, sind für die europäische Kunstgeschichte und die kunsthistorische Forschung von Relevanz?1 Materiam superabat opus – „Den Stoff übertraf das Werk“ (Met. II 5) – Mit diesen Worten setzt Ovid Materialwert und künstlerisches Schöpfungsvermögen in Relation. Diese Zeile darf als gedanklicher Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes gelten: Ist es bei
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Iris Wenderholm
Ovid der Tempel des Apoll, dessen wertvolle Steine und Metalle doch nicht an die Lebendigkeit und Kunstfertigkeit der mythologischen Reliefbilder, mithin das verarbeitete Material, heranreichen, so wird Ovids Diktum topisch für viele, durchaus heterogene Kontexte verwendet, in denen Stofflichkeit des Materials und Ausführung des Kunstwerks respektive Umarbeitung des Ausgangsmaterials miteinander verglichen werden. Der vorliegende Band geht damit über ein reines Herauspräparieren der Symbolik von Stein hinaus, er widmet sich vielmehr den intensiven gedanklichen Auseinandersetzungen mit historischen oder zeitgenössischen Kunstobjekten in Relation zu ihrem natürlichen Material. Es ist anzunehmen, und das macht die Zusammenstellung der Quellen für einen kunsthistorischen Zusammenhang bedeutsam, dass die Motivation, bestimmte Steine in bestimmten künstlerischen Kontexten zu verwenden oder darzustellen, davon abhing, welche Narrative mit einzelnen Steinsorten verknüpft wurden. Es ist darüber hinaus zu fragen, inwieweit dabei auf einzelne der hier versammelten mineralogischen Wissensinhalte zurückgegriffen wurde. Die Verbreitung und Verfügbarkeit literarischer Steintopoi zeigen Zitate wie dasjenige des venezianischen Mediziners und Polygraphen Michelangelo Biondo. Dieser schreibt, dass „[w]enn Elfenbein oder Alabaster und selbst Edelsteine durch die Hände eines perfekten Malers gehen, lässt dieser sie viel wunderbarer erscheinen, als sie wahrlich nicht von der Natur erzeugt werden.“2 Auch hier geht es, wie bei Ovid, um das Verhältnis von künstlerischem Eingriff und natürlichem Material. Das Kompendium möchte einen Beitrag zur Klärung der Frage beisteuern, inwieweit sich die schriftlich fixierten Materialdebatten in den Werken der bildenden Kunst selbst spiegeln und inwieweit umgekehrt aus der künstlerischen Praxis gewonnenes Materialwissen den mineralogischen Erkenntniszuwachs beförderte. Die dem vorliegenden Band zugrunde liegende Annahme lautet, dass die Darstellung von Stein wesentliche Impulse aus der naturkundlich-literarischen Tradition und den hier formulierten Topoi des Steinernen erhält. Die schriftlich niedergelegten Topoi, mit denen Stein in seiner ganzen Breite begabt wurde, dürften für die künstlerische Praxis damit Reflexionsmöglichkeit, konzeptioneller Ausgangspunkt und Korrektiv zugleich sein. Die Materialgeschichte in Quellen versammelt vor diesem Hintergrund die vielstimmigen, sich verschränkenden Diskurse von der Antike bis in das 18. Jahrhundert, um die Bedeutung des Materials für die künstlerische Auseinandersetzung und kunsttheoretische Reflexion zu skizzieren.3 Das Kompendium versteht sich damit als eine Wissens- und Ideengeschichte des Steinernen, in dem erstmals systematisch humanistische, kunsttheoretische, naturphilosophische und theologische Äußerungen zum Material Stein zusammengetragen werden und das – ausgewertet und kommentiert – eine Grundlage für das Verständnis und die Deutung von Steinverwendung und Steinimitation bzw. Materialfiktion in der künstlerischen Praxis bietet. Die ausgewählten Traktate und
Saxum – petra – lapis
Abhandlungen entstammen den Bereichen der Naturkunde, der Theologie und der Dichtung.4 Dabei berücksichtigt der Band bei der Auswahl der Quellen das Material Stein in seiner ganzen Breite, was seiner für die Frühe Neuzeit charakteristischen begrifflichen Unschärfe geschuldet ist. Dies ist teils der eingeschränkten Verfügbarkeit von spezifischen Steinspezimen geschuldet, da die meisten wertvolleren Steins orten zunächst nur in Form von Fragmenten antiker Ruinen oder von Materialspolien und erst später durch Steinabbau verfügbar waren. Dazu kommt, worauf Roger Jones hingewiesen hat, dass die in den Quellen genannten Steinnamen nicht unbedingt immer tatsächlich korrekt verwendet werden und sehr unterschiedliche Steinsorten bezeichnen konnten. Sinnbildlich für diese Ungenauigkeit oder Sprachlosigkeit kann das Zitat aus dem Jahr 1499 stehen, in dem Isabella d’Este ein Spezimen-Tisch beschrieben wurde, der solch unterschiedliche Materialien wie Serpentin, Porphyr und ähnliche enthielt, dass sie nicht benannt werden konnten: „molto nobile de tante misture et varie diverse de serpentino, porfido e simile che non la saperia baptizare“.5 Um dieser bis in die Frühe Neuzeit hinein changierenden Terminologie der Steinnamen gerecht zu werden, wurden nicht nur Quellen aufgenommen, die verschiedene Marmorsorten und Porphyr thematisieren, sondern auch solche, in denen es um Edelsteine und damit um bereits von Plinius unterschiedene mineralische Stoffe geht.6
Naturphilosophie, Naturkunde, Mineralogie und Magie Der große Bereich der Physik, der das Nachdenken über Phänomene, Gründe und Ursachen der sichtbaren Welt, der Natur, umfasst, ist seit Platon und Aristoteles fester Bestandteil der Naturphilosophie; auch die Steine und Mineralien gehören diesem an.7 Platons im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasster Timaios bildet im vorliegenden Kompendium den Ausgangspunkt der Überlegungen zum Wesen und Charakter des Steinernen in naturphilosophischer Hinsicht. Von Aristoteles hat sich außer allgemeiner Überlegungen und seiner Ankündigung im 3. Buch der Meteorologica nur erhalten, dass er die unterschiedlichen Arten der Mineralien untersuchen und diskutieren wolle, was nach dem Tier- und Pflanzenbuch das dritte der Naturreiche, die Steine, umfasst hätte. Aus dieser Nachricht entstand dann in einer philologisch anspruchsvoll aufzuklärenden Gemengelage die Zuschreibung des sog. „Steinbuch des Aristoteles“. Dieses galt zunächst als eigenhändige, jedoch verlorene Schrift des Aristoteles, die offenbar nur durch arabische Übersetzungen überliefert war und die erst später als genuine Schöpfung aus dem arabischen Sprachraum der ersten Hälfte oder der Mitte des 9. Jahrhunderts n. Chr. identifiziert werden konnte.8 Als das wirkmächtigste Werk innerhalb der arabischen Tradition kann der Kitab Azhār alafkār fi jawāhir al-ahjār des Tīfāšī von 1253 bezeichnet werden.9 Für die arabischen Steinbücher werden in der vorliegenden Anthologie nur
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Iris Wenderholm
exemplarisch Ibn Sīnā (lat. Avicenna) und die mineralogischen Teile seiner Enzyklopädie berücksichtigt.10 Die in dem „Steinbuch des Aristoteles“ vertretene Auffassung, nach der Steine eine Wirkung auf Menschen und die belebte Natur haben, war eine folgenreiche Annahme, aus der heraus sich der Einsatz von Steinen für magisch-medizinische Zwecke ableiten ließ. So werden etwa in der Pariser Handschrift des „Steinbuchs“ 72 Steinsorten genannt, denen unterschiedliche Wirkungen zugewiesen wurden: chemische, medizinische und magische – eine Sonderrolle nehmen hier Farbenzaubersteine ein.11 Das „Steinbuch“ ist in dem Sinne bedeutend für die europäische Ideengeschichte des Steins, als hier deutlich wird, wie die Gesteinskunde des arabischen Sprachraums, die Mineralogie, Petrographie, Kristallographie und Metallurgie umfasste und magisch-superstitiös ausgerichtet war,12 in den europäischen Lapidarien rezipiert und überformt wird. Unter den relevanten Bezugstexten, die vergleichbare Vorstellungen von Stein tradieren, sind besonders Dioskurides‘ De materia medica, der Physiologus und die Orphei Lithika zu nennen, auf die sich wiederum Isidor von Sevilla, Marbod von Rennes, Hildegard von Bingen und Bartholomaeus Anglicus in einem dichten Beziehungsgeflecht als Autoritäten berufen. Die mittelalterlichen Steinbücher vereinen das überlieferte mineralogische, astrologische und symbolische Wissen mit einer christlich-allegorischen Lesart von Stein, von ihnen lassen sich Spuren bis zum Gart der Gesundheit, zu Camillo Leonardi, Paracelsus sowie Anselm de Boodt und weit darüber hinaus verfolgen. Die magischen Wirkweisen, die Steinen in der griechisch-römischen und später christlich geprägten Tradition zugewiesen wurden, lassen sich bis in die heutige Zeit in magischen und esoterischen Praktiken mit Steinen und Kristallen wiederfinden. Wie stark der Glaube an Steinmagie war, verraten in ihrer Ablehnung auch Petrarcas sowie noch Robert Boyles abfällige Bemerkungen in seinem Essay about the origine & virtue of gems (1672).13 Für die künstlerische Verwendung von Stein dürften magische Vorstellungen eine besondere Relevanz besitzen. So lassen sich magische Narrative und Praktiken als interpretatorische Folie von Steinverwendung im Kunstwerk und malerischen Steindarstellungen vermuten. Eng mit der virtus des Materials verknüpft, bestimmten sie oftmals die Rezeption eines Kunstwerks.14 Grundlage für die Diskussion der Wirkungen ist in den steinkundlichen Texten das genaue Erfassen des Materials. Die Autopsie von Stein, die Untersuchung seiner spezifischen Eigenschaften, ist ein zentraler Schritt in der Geschichte der Benennung seiner visuellen und haptischen Qualitäten. Eine frühe Festlegung taxonomischer Bewertungskriterien verdanken wir Theophrast. Sein Peri Lithōn ist die erste überlieferte streng mineralogische Abhandlung der Antike, die eine stark aristotelische Prägung aufweist. Sie sollte später vom Umfang der genannten Steine her durch die Lithika des Poseidippos von Pella und die Naturkunde des Plinius d.Ä. noch erheblich erweitert werden.
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Wenn es Theophrast auch zuallererst um eine Theoretisierung der Entstehung von Erden und Stein geht, so ist er es, der Kriterien wie Farbe, Härte und Weichheit, Transparenz und Opazität etc. einführt. Andere Stimmen, die morphologische Aussagen treffen, sind etwa Platon, der über die größere Schönheit der durchsichtigeren Steine schreibt. Bereits früh fließen in die nahsichtige Materialerkundung Bemerkungen über künstlerische Bearbeitungstechniken und ästhetische Wertschätzung ein, wenn etwa Poseidippus von Pella die gelungene Auswahl bestimmter Steine für das Eingravieren lobt. Bei Isidor von Sevilla ist die Differenzierung über die ästhetische Form bzw. die optische Erscheinung besonders intensiv und stellt v.a. formale und strukturelle Besonderheiten wie Flecken und Farben heraus. Hier wie in vielen Texten der Vormoderne ist jedoch zu fragen, inwieweit es sich um ein stark literarisch geprägtes und auch nur solcherart tradiertes Wissen über die morphologischen Besonderheiten der unterschiedlichen Steinsorten handelt, das vielmehr ohne direkte Autopsie auskommt. Die von Theophrast erarbeiteten taxonomischen Grundlagen erfuhren eine reiche Rezeption.15 Mit Albertus Magnus, dem gelehrten Aristoteles-Leser und -Kommentator, findet das bei Aristoteles fehlende Steinbuch schließlich seinen kongenialen Autor. In seiner mineralogischen Abhandlung greift Albertus nicht nur auf Aristotelisches, sondern zudem auf Traditionen aus dem arabischen Kulturraum zurück, was sich besonders an seiner Kenntnis der talismanischen Sternenmagie nachvollziehen lässt.16 In den Traktaten des 16. Jahrhunderts ist eine Weiterverarbeitung des mineralogischen Wissens unter neuen medialen Prämissen zu beobachten: Conrad Gessner setzt in seinem Liber de lapidum (1565) erstmals auf begleitende Abbildungen der Steine, auch wenn er zugleich die technischen Schwierigkeiten und mimetischen Unzulänglichkeiten der verwendeten Holzschnitte bemängelt.17 Gessner führt die morphologische Betrachtungsweise und klassifikatorische Systematik, die Georg Agricola in seinem De natura fossilium libri X (1546) vorgenommen hatte, fort und spitzt sie zu:18 Sein Ordnungsversuch, Stein in Klassen zu unterteilen, ist einer der frühesten systematischen Ansätze in der Klassifizierung von Stein und basiert auf der Grundlage formaler Ähnlichkeiten, nach denen er die Steinsorten sortierte. Gerade bei Gessner tritt die Bedeutung der Empirie und genauen Perzeption des Untersuchungsgegenstandes für den Erkenntnisgewinn deutlich hervor, da er nicht nur Expeditionen zur Erschließung unternahm, sondern auch auf ein eigenes mineralogisches „Museum“ zurückgreifen konnte, das er durch eigene Sammeltätigkeit und Zusendungen mit Hilfe eines weitgespannten Netzes befreundeter Gelehrter zusammenstellte.19 Dies verbindet ihn mit Ulisse Aldrovandi, der selbst Spezimen aus der Neuen Welt in seiner Sammlung bewahrte und dessen Werk sich auch durch die Hereinnahme von Illustrationen auszeichnet. Auch Aldrovandi interessieren Fragen der Morphologie und Farbgebung.20 Abbau, Zusammentragen und Sammeln unterschiedlicher Steinsorten waren neben ihrer Autopsie die Grundlagen der Erschließung mineralogischen Wissens, wie es die Darstellung der Abbaugebiete
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Abb. 1 Terra Sulphurata Puteolana, Kupferstich, in: Michele Mercati: Metallotheca, Rom 1719, S. 78/79
und -techniken bei Michele Mercati zeigt (Abb. 1).21 Erstmals umfassend konnte Anselm de Boodt über 600 Mineralien systematisieren, was ihn nicht von einer gleichzeitigen Bedienung bzw. Bestätigung magischer Narrative abhielt.22
Biblische Steinkonzepte und poetisch-literarische Bearbeitungen Steinmale, Steinaltäre, Erinnerungssteine, Edelsteine: Stein ist in den Texten des Alten Testaments, die auf ältere Erzähltraditionen zurückgreifen, ein Material, das sich durch die Vielfalt der genannten Steinsorten, ihre Funktionen, ihre Wandlungen und symbolhaft-metaphorischen Konzeptionen auszeichnet. So wird der Stein, vor dem Jakobs Haupt geruht hatte, durch Übergießen mit Öl zu einem kultischen Gegenstand, zum Grund- oder Eckstein, über dem ein Gotteshaus errichtet wird.23 Auch die in Ex 28,1–21 beschriebenen Edelsteine, mit denen Aarons Brusttasche symbolisch für die zwölf Stämme Israels besetzt werden, sind semantisch aufgeladen und werden differenziert benannt. Diese Textstellen und ihre späteren Auslegungen sind von großer Bedeutung für die Steindarstellungen und -verwendungen der bildenden Kunst. Sie
Saxum – petra – lapis
eröffnen eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten, Stein als Material heidnischer Idole abzulehnen oder als konstituierenden Teil des Himmlischen Jerusalem zu interpretieren. Im Neuen Testament, gerade in Gleichnissen, werden Steine in einer ebensolchen Breite aufgeführt. Meist nicht als konkrete Steinsorte identifizierbar, wird Stein vielfach in Zusammenhang mit heiligen Ereignissen erwähnt, wo er als materielles Objekt und Zeugnis verwendet wird. Stein ist durch Bedeutungszuweisung ein Material, das Orte als loca sancta ausweisen kann:24 Stein macht die Materialität der Passion vermittels steinerner Objekte wie etwa der Geißelsäule erst haptisch erfahrbar, ja die Berührbarkeit von Stein und die gezielte Erfahrbarmachung von Authentizität dürfte eine grundlegende kulturelle Technik sein, Pilgertum zu ermöglichen und Andacht zu intensivieren. In der literarischen Rezeption von Stein – insbesondere von Edelstein – nimmt die christliche Steinallegorese einen zentralen Stellenwert ein, da hier jedem Sinnträger über seine Eigenschaften und Merkmale (Proprietäten) Bedeutung zugemessen wird.25 Grundlage sind oftmals die naturkundlichen Systematisierungen, die jedoch entscheidend durch eine theologische Lesart erweitert und in dieser eingebettet werden. Texte, die sich dem Mittel der Allegorese bedienen, stammen in dem vorliegenden Kompendium etwa vom Physiologus, von Isidor von Sevilla, Hrabanus Maurus und Marbod von Rennes. Die Autoren des lateinischen Mittelalters, die sich mit der Steinkunde auseinandersetzen, greifen vor allem auf die umfangreichen Ausführungen Plinius d. Ä. in den Bänden 33 bis 37 der Naturalis Historia zurück, in denen das antike Wissen – auch von verschollenen Werken – zusammengetragen ist. Wie exemplarisch bei Hugo von St. Viktor und Abt Suger nachweisbar, zeichnen sich auch die Abhandlungen über Edelsteine durch die Kombination einer an der Bibelexegese orientierten allegorischen Auslegung sowie durch einen naturkundlichen Ansatz aus, der medizinische Wirkungen berücksichtigte.26 Umfangreich und dichtersprachlich traditionsgebunden ist das Materiallob und damit die Aufzählung kostbarer Steinsorten als Baumaterial wie auch topisch üblicher Edelsteine als Dekoration in den Versekphrasen panegyrischer, höfischer und didaktischer Dichtungen in epischer Form. Dies betrifft allegorische Paläste ebenso wie phantastische Grabmäler in lateinischer Lehrdichtung und volkssprachlicher höfischer Dichtung; hingewiesen sei nur exemplarisch auf Alanus ab Insulis, Johannes von Hauvilla, Petrus von Ebulo, Walter von Châtillon, Chrétien de Troyes, Heinrich von Veldeke, Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach.27 Die dort anzutreffende Topik des auf Licht, Glanz und Größe basierenden dichterischen Bau- und Objektlobs geht auf die antike Epik und vor allem die spätantike und mittelalterliche Epigrammdichtung zurück.28 Phantastisch kostbare und exotische Materialien dienen in diesen fiktiven Beschreibungen der topischen Aufwertung und inhaltlichen Ausgestaltung der thematisch-allegorisch aufgeladenen oder erzählstrategisch herauszuhebenden Handlungsorte.
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Betrachtet man die literarischen Verarbeitungen von Topiken des Steins, so lassen sich auch hier Bedeutungszuweisungen finden, die tradierte naturkundliche Kenntnisse und medizinisch-magische Vorstellungen aufgreifen. In Poseidippos‘ Lithika werden die paradoxen Qualitäten des Materials herausgestellt und in einen Diskurs über die Fertigkeiten von Kunst und Natur, die ästhetischen Qualitäten des Materials und der künstlerischen Steinbearbeitung eingebunden. Die Lithika sind in dieser Hinsicht gedanklich eng mit Ovid verbunden, der in den wirkmächtigen Metamorphosen an vielen Stellen vielschichtige Steinbedeutungen einfließen lässt, in denen sich das Wett eifern von Kunst und Natur im Bereich des Steinernen abspielt. Eine der schönsten und differenziertesten Beschreibungen von geäderten Marmorsorten verdanken wir Paulos Silentiarios, dessen Ekphrasis der Hagia Sophia nicht nur die Farbenpracht und charaktervolle Maserung, sondern auch die Provenienz der Steine benennt.29 In Dantes Commedia werden Steinvorstellungen in einen dezidiert moralischen Horizont überführt: So führt der Weg vom opaken zum transluzenten Stein, der mit dem Weg der Seele aus dem Inferno ins Paradiso gleichgesetzt wird. Dabei steht die felsige Landschaft für den locus terribilis. Petrarca, der sich kritisch gegenüber dem Besitz kostbarer Steine positioniert, belegt mit seiner Einstellung den weitverbreiteten ambivalenten Status von Stein, bezeugen seine moraltheologischen Ausführungen neben seiner Ablehnung explizit magischer Steinpraktiken doch deutlich das Lob von Gottes Schöpfung in den Steinen. Gerade Petrarca ist dabei ein wichtiges Beispiel für die Diskussion um das Verhältnis von (menschengemachter) Kunst und (gottgegebener) Natur, die er am Thema des Edelsteins bzw. geschnittenen Gemmensteins austrägt. Hier ist gerade die Übergängigkeit bzw. Verschränkung von Kunst und Natur bedeutsam, beschreibt Petrarca doch im Rückgriff auf Plinius und Solinus die Bildentstehung im Stein. Ein wichtiger Gedanke wird in der Hypnerotomachia Poliphili ausgeführt: Es ist nicht nur die unterschiedliche steinerne Beschaffenheit des Weges, die metaphorisch auf den moralisch besseren Weg verweist, sondern es stehen – wie bei Plinius d. Ä. – unterschiedliche Edelsteinsorten für männliche und weibliche Prinzipien sowie für die Vereinigung der Geschlechter.30 In Giambattista Marinos Galeria begegnen Steine als Akteure: Werke von der Hand Michelangelos, aber auch rein literarisch erzeugte Skulpturen verlebendigen sich unter der Hand des Künstlers und im Auge bzw. der Imagination des Betrachters, lassen die Grenzen von Stein und Leben verschwimmen.31 Marinos Bildgedichte sind nur der Ausgangspunkt, um über die Wirkung von steinerner Skulptur auf den Betrachtenden nachzudenken. In ihrer prägnanten Kurzform verdichten und aktualisieren sich unterschiedliche Wissensbereiche in poetischer Weise.
Saxum – petra – lapis
Kunstgeschichte und Kunstliteratur Die Gattung der Kunsttraktate und der Kunstliteratur zeichnet sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit Stein als künstlerischem Material aus. Das betrifft die Verwendung, aber auch die Darstellung von unterschiedlichen Steinsorten. Damit ist sowohl die künstlerische Praxis, die Frage nach den Möglichkeiten der Darstellbarkeit als die Semantisierung von Stein berührt. Cennino Cennini sind prägnante Aussagen darüber zu verdanken, wie zum einen durch künstlerische Technik, zum anderen in einem experimentell-amimetischen Verfahren die größtmögliche Mimesis und bedeutungsvolle Aufladung gelingt. In Albertis Architekturtraktat geht es zunächst um die zu überwindende Schwierigkeit, als Ausweis der Kunstfertigkeit des Malers einen schweren Stein mit seinen Mitteln darzustellen. Dieser Gedanke, der für den Paragone-Streit zwischen Malerei und Bildhauerei im Verlauf des 16. Jahrhunderts mehrfach überformt werden sollte, findet sich bildreich ausgeschmückt bis hin zu Joachim von Sandrart. Bei Alberti geht es aber auch um Schönheit und Seltenheit von echtem Stein: Ein besonderes Augenmerk ist hier auf exotische, schwierig zu beschaffende Steine gerichtet, die als exklusiver Bauschmuck verwendet werden. Dies lässt sich gedanklich mit Vasaris Bemerkungen über Steine als Baumaterial verbinden, in denen es besonders um die Geschichte der Steinbearbeitung geht, genauer um verlorenes Technikwissen in der Porphyrbearbeitung. Hierbei greift er auf die bei Plinius d.Ä. und im Physiologus verbriefte Legende zurück, nach der mit Bocksblut behandelte Instrumente besonders gehärtet würden, verwirft diese aber zugunsten einer neuen, diesmal alchemistisch inspirierten Erzählung, die er mit neuerem Materialwissen anreichert. Dies zeugt zum einen von der Langlebigkeit bestimmter Narrative, die sogar noch von Sandrart aufgegriffen werden.32 Vasaris Bericht zeigt jedoch zum anderen, in welchem Maße Künstler durch mineralogische Untersuchungen und proto-chemische Experimente an dem Erkenntniszuwachs über Stein teilhatten. So steht auch bei Bernard Palissy und seiner Diskursivierung der Pratique das Experimentieren im Vordergrund, vor allem mit Glasuren und Naturabgüssen im Rahmen seiner künstlerischen Arbeit. Neben dieser Betonung der empirischen Forschung leistet Palissy zudem mit seinen Bemerkungen zu künstlichen und natürlichen Steinen sowie zum Verhältnis von Natur und Kunst einen originellen Beitrag. Die Beherrschung des Materials und die Kenntnis seiner Eigenschaften stehen wiederum bei dem Humanisten Blaise de Vigenère im Zentrum. Auch Benvenuto Cellini geht es als Beispiel von theoretisiertem artisanal knowledge um die differenzierte morphologische Ordnung der ihm bekannten und von ihm verwendeten Marmorarten, denen er Angaben zu Fundort und Herkunft unterlegt. Sein theoretischer Anspruch zeigt sich an der Tatsache, dass er sie gemäß der auf Aristoteles basierenden Elementen-Lehre ordnet und auch sonst maßgebliche Referenzen auf das naturkundlich-mineralogische Traditionswissen einfließen lässt.
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Die Genese des Steins Wie entstehen Steine und wie verändern diese sich im Laufe der Zeit? An dieser Frage zeigen sich viele Perspektiven auf Naturprozesse und die Schöpfung schlechthin. Es gibt eine Reihe literarischer Motive, die die ausgewählten Quellen verbinden, ähnliche Blickwinkel, die eingenommen, und Topoi, die weiter- und ausgeführt werden. Damit ist der Jahrhunderte währende Steindiskurs durch ein komplexes Verflechtungssystem bzw. Mosaik aus Verweisen und Zitaten von unterschiedlichen Autoritäten gekennzeichnet. Gegründet auf der Vorstellung der Erde als einem lebendigen Organismus, stehen oftmals Überlegungen zur Genese von Stein am Beginn der Texte, so in Platons Timaios – der von Stein als durch verdampftes Wasser und durch Luftdruck verdichteter Erde ausgeht – , im „Steinbuch des Aristoteles“, bei Theophrast und Ibn Sīnā bis hin zu Georg Agricola. Auch poetisch überformt bei Ovid, im Mythos von Deucalion und Pyrrha, lassen sich diese Gedanken fassen. Es ist die Frage nach dem Anfang, dem Ursprung der Schöpfung – ex nihilo oder ex materia –, die zu den Überlegungen der Entstehung von Stein als einer der natürlichen Grundstoffe führen. Die solchermaßen angenommenen Formbildungsprozesse werden mit den Materialeigenschaften in Beziehung gesetzt, um Wirkungsweisen – auch gegenüber oder mit anderen Stoffen – und (kosmische) Zusammenhänge zu erklären. Die spezifische Struktur und Zusammensetzung von Stein, der Anteil von Wasser und Lehm werden dabei – wie etwa bei Ibn Sīnā – diskutiert, wenn es um Prozesse des Aushärtens, Absetzens und Verfestigens einer vormals beweglichen Masse geht. Dabei sind zunehmend auch Überlegungen von Künstlern – etwa von Bernard Palissy – zur Entstehung von Metallen und Gesteinen interessant, da diese im Rahmen der künstlerischen Praxis und anhand von Experimenten gewonnen werden. Naturkundliches Interesse, Kunstverstand und chemische Versuche verbinden sich hier auf der Suche nach einer Erklärung für gesteinsbildende Kräfte. Bei vielen Autoren lässt sich konstatieren, dass sie sich – direkt oder indirekt – auf (pseudo-)aristotelisches Gedankengut beziehen und visuelle Erscheinung oder haptische Besonderheiten mit Formgebung in Relation stellen.
Ordnungsversuche des Materials Bei Theophrast und Plinius d. Ä. lassen sich erste Systematisierungsansätze entdecken: In der Naturalis Historia legt Plinius als Differenzierungskriterium die verschiedenen Nutzungsarten von Stein durch den Menschen zugrunde. Er behandelt die unterschiedlichen Gesteinsarten im Hinblick auf ihre Beschaffenheit, ihre Herkunft sowie ihre medizinisch-magische und künstlerische Verwendung. Die Edelsteine gruppiert Plinius hingegen nach Farben und sortiert die verbleibenden Steine im Sinne eines
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Abb. 2 Archivschrank, Holzschnitt, in: Conrad Gessner: De omni rerum fossilium genere, gemmis, lapidibus, metallis, et huiusmodi, libri aliquot, Zürich 1565/66, Abb. unpaginiert, hier S. 15
Steinkatalogs alphabetisch, nennt dabei auch seine vornehmlich griechischen Quellen. Diese Unterscheidung nach Steinen und Edelsteinen sollte von nachfolgenden Autoren übernommen werden, in der Enzyklopädistik weiter ausformuliert und später mit besonderem methodischen Nachdruck auch von Anselm de Boodt reflektiert werden.
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Es sind jedoch die Steinobjekte selbst, die eine neue, systematische Ordnung nahezu erzwingen. Präsentiert in naturkundlichen Sammlungen und innerhalb von Wunderkammern, werden sie einer räumlichen Anordnung unterworfen, um sie verfügbar zu machen. Sortiert in Sammlungsschränke und Schubladen, wie in einer idealtypischen Vedute in Michele Mercatis Metallotheca zu sehen, werden sie auf Abruf gehalten, um neue gedankliche Konstellationen im gelehrten Gespräch zu unterstützen. Dass eine solche Ordnung auch für den Bereich des mineralogischen Publizierens relevant wurde, zeigt das von Johannes Kentmann und Conrad Gessner verantwortete Inhaltsverzeichnis in De omni rerum fossilium genere, gemmis, lapidibus, metallis, Zürich 1565/66, wo Buch und Sammlung gleichgesetzt werden und sich die Kapitelordnung an derjenigen eines Sammlungsschrankes orientiert (Abb. 2).33 Anselm de Boodt verdanken wir eine Ordnung, die nach dem materiellen Wert der Steinsorten aufgebaut ist, welchen er mit der Frage der Diaphanität oder Transparenz der Edelsteine verknüpft. Innerhalb der Wissenschaftsgeschichte des Materials nimmt De Boodt eine zentrale Stellung ein, da er einen umfassenden Systematisierungsanspruch verfolgt. Zudem ist er neben Benvenuto Cellini der erste, der über Wertzuschreibungen und Marktpreise Auskunft gibt. Gedanklich führt De Boodt diese eng mit Fragen nach Fälschung und Authentizität von Edelsteinen, mit denen sich neben Petrarca bereits die Rezeptbüchlein des Mittelalters beschäftigt hatten und an die spätere Autoren wie Gottfried Stein in seiner Lithographia curiosa (1703) und Johann Georg Krünitz in dem Eintrag zu den „Edelsteinen“ in seiner Oeconomischen Encyklopädie (1773/1858) anschließen sollten.
Aufladungen – Einschreibungen Ein zentrales Themenfeld der zusammengestellten Primärquellen, das eine unmittelbare Relevanz für die kunstgeschichtliche Forschung besitzt, betrifft die Auseinandersetzung mit der Frage der Sprachfähigkeit, die Steinen unterstellt wird, und ihrer semantischen Aufladung. Viele der Primärquellen begreifen Stein als Speichermedium, das über bestimmte Kräfte verfügt. Neben medizinischen, therapeutischen oder magischen Kräften bieten vor allem die machtpolitischen Einschreibungen ein reiches Studienfeld: Das dem Stein gewidmete XXXVI. Buch von Plinius’ Naturalis historia kündet von einem Architekturverständnis, welches in der Materialität des Baustoffs selbst Weltherrschaft und politische Macht Roms verortet, da sich die – auch politisch verstandene – Beherrschung des Materials an den Wundern der Baukunst zeige.34 Die machtpolitischen Konnotationen ergeben sich zu einem großen Teil auch durch ihre Provenienz und durch die damit verbundenen Fragen des Abbaurechts. Diese solchermaßen mit einer Biographie ausgestatteten Steine erfahren eine starke semantische Aufladung, wenn durch die Angabe konkreter Auffindungsorte – an Flüssen, am Meer,
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in bestimmten Gebirgszügen – reiche Assoziationskontexte eröffnet werden. So stammten etwa die bei Statius genannten Steine aus allen Teilen des Imperium Romanum; die prestigereichsten unter ihnen wurden ausschließlich unter Kontrolle des Kaisers gewonnen.35 Bei Statius sind es eben diese „fremden“ Steine, die die Imagination beflügeln.36 Auch Isidor von Sevilla gibt geographische Hinweise und platziert historische Verweise, die in eine ähnliche Richtung gelesen werden können. Kaiserliche Konnotationen – besonders von Porphyr, aber auch von seltenen und raren Steinen, deren Abbaugebiete schwer zugänglich sind – machen bestimmte Steine bis weit in die Frühe Neuzeit hinein zu einem hochgeschätzten, stark nachgefragten Werkstoff für öffentliche und repräsentative Bauten. Materialeinschreibungen, die sich von der Herkunft der Steine ableiten, lassen sich neben der Baukunst auch im Kunsthandwerk und der angewandten Kunst finden. Die höchst prunkvollen und aufwendig gestalteten Spezimen- oder Pietre dure-Tischplatten sind dafür ein besonders geeignetes Beispiel, vereinen sie doch die Offenlegung der Provenienz, die in zeitgenössischen Quellen als Verweis auf herrschaftliches Territorium dokumentiert ist, mit der Materialbeherrschung des Auffindens und Einpassens bestimmter Steinsorten in einen neuen künstlerischen Zusammenhang.37
Naturkonzepte Eine gedankliche Voraussetzung für die semantische Aufladung von Stein, die auch für die Deutung von gemalten, fingierten Steindarstellungen von Bedeutung sein dürfte, ist die antike Vorstellung einer Natura artificiosa, da erst durch die Annahme einer vorsätzlich und absichtlich gestalteten Form eine Bedeutungseinschreibung und Deutungsabsicht möglich erscheint.38 Der Gedanke einer Natur als künstlerisch tätiger Werkmeisterin wird bei Cicero formuliert: „[O]mnis natura artificiosa est.“ (De natura deorum II 57). Und auch bei Ovid ist in der Schilderung der kunstvollen Grotte der Diana das Thema präsent, wenn es heißt, dass die Natur durch ihre Begabung ein Kunstwerk vorgetäuscht habe: „simulaverat artem ingenio natura suo“ (Metamorphosen III 158-159). Die Natura artificiosa ist Vorbild menschlicher Kunst und ihr zugleich überlegen.39 Damit werden Anspruch und Herausforderung für die künstlerische Produktion der Menschen formuliert, es der Natur gleich zu tun. Umgekehrt wird das schöpferische Wirken der Natur mit menschlichem Maßstab betrachtet, wenn ein Stück geäderten Marmors metaphorisch als „Gemälde“ der Natur bezeichnet werden kann.40 Hier manifestiert sich die Kunstfertigkeit der Natur in der Annahme einer strukturellen Analogie von Stein und menschlichem Produkt. Das Wechselspiel des Hineinsehens von menschlichen Kategorien in die Natur auf der einen Seite und die Nachahmung ebendieser als kunstvoll agierend wahrgenommenen Natur auf der anderen Seite bestimmte lange Zeit das Verhältnis von Malerei und Stein. Dass es sich hierbei um ein durchaus dynamisches
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Prinzip handelt, versteht sich: Von den ersten überlieferten Entstehungsmythen wurde dem Material Stein das Leben konstituierende Merkmal der Veränderbarkeit und des Wachsens zugeschrieben. Die bei Lukrez in De rerum natura vorzufindende Vorstellung, dass die Welt aus sterblichen Dingen zusammengesetzt sei, führte in der Frühen Neuzeit zu der Überzeugung, dass Steine lebendige (und daher sterbliche) Wesen wären.41 Voraussetzung hierfür war die Vorstellung einer Natura naturans, einer stetig sich selbst schöpfenden Natur im Gegensatz zu einer Natura naturata als vollendet gedachter Natur.42 Im 16. Jahrhundert wird dies zu einem literarischen Motiv, über das der Wettstreit der Künste geführt wird, wenn pflanzenartige Strukturen im Stein erkannt, dem kalten Stein also Spuren von Leben zuerkannt werden.43 Diese Vorstellung, dass Stein damit begabt sei, die pflanzliche Natur zu imitieren, ist bereits viel älter. Statius schreibt: „Hier ist der Marmor, gehauen aus dem Berg des amykleischen Lykurg, der grün schimmert und weiche Gräser nachahmt in hartem Gestein.“44 Natur ahmt sich selbst mit den eigenen Mitteln nach. Das Vergleichen von Stein- und Pflanzenformen begegnet auch in der Naturalis historia des Plinius d. Ä. sowie einem Brief von Plinius d. J.: „Da ist auch noch ein weiteres Gemach, von der nächststehenden Platane umgrünt und beschattet, mit Marmor bekleidet bis zum Paneel, und der Anmut des Marmors gibt ein Gemälde nichts nach, das Zweige und auf den Zweigen sitzende Vögel darstellt.“45 Steinerne Äderungen sowie Maserungen werden hier, mit einer Malereimetapher belegt, in Relation zu Schönheitsvorstellungen der Natur gesetzt. Statius ist dabei der Autor, der sich besonders früh des Topos der Steinäderung als Gemälde der kunstreichen Natur annimmt. Einen besonderen Stellenwert genießt geäderter oder auffällig gemusterter Marmor in Bezug zu Szenarien der Imagination und Kreativität.46 Denn eingeschrieben sind Steinen oft Bilder, die aus ihnen herausgelesen oder in sie hineingesehen werden können, wie etwa Albertus Magnus in seinem bekannten Erlebnis in Venedig berichtet.47 Wie bei Albertus finden sich oft lexikalische Wendungen, die das Prozesshafte, das Gewordensein des Naturgemäldes oder den aktiven künstlerischen Akt betonen. Viele Beschreibungen von Naturforschern des 16. und 17. Jahrhunderts beschreiben Bildsteine, in denen – etwa bei Aldrovandi – Katzen, Hunde und Fische „von der Natur gestaltet“ waren, bei Athanasius Kircher waren es sogar griechische und lateinische Buchstaben, die im Marmor erschienen.48 Kircher schreibt: Has figuras literarum, schematumque Geometicorum datâ operâ collegimus, ut mira hac Naturae industria producta miracula exornaremus.49 Lorraine Daston und Katherine Park haben darauf hingewiesen, dass die Diskussionen um die Genese der figurativen Steine von denen zur Autonomie der Schöpfungskraft der Natur abgelöst wurden.50 Michele Mercati, dem die ersten Bemerkungen zu prähistorischen Steinwerkzeugen zu verdanken sind, widmet sich in seiner postum veröffentlichten Metallotheca Vati-
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cana figurierten Steinen und Gesteinsbildungen, in denen sich die Natur selbst zu imitieren scheint, und verwendet hier den eingängigen Begriff der Natura pictrix, spricht zudem von Scherzen und Spielen der Natur ( jocus und ludus Naturae) – Begriffe, denen eine weitreichende Wirkung beschieden war.51 Bei Athanasius Kircher finden sich beide bildkünstlerischen Tätigkeiten – pingit und sculpsit –, die der formbildenden Kraft der Natur (vis plastica) zugeschrieben werden.52 Diese von der Erde ausgehende Kraft (vis) hatte bereits Theophrast angeführt, um Bilder in Steinen zu erklären.53 Neben tierischen und menschlichen Gestalten sowie Landschaften, die in den Stein hineingesehen werden,54 imaginiert Kircher in seinem Mundus subterraneus sogar mathematische Figuren, wissenschaftliche Instrumente und selbst Schriftzeichen, deren Ursprung in der schaffenden Steinnatur – der Natura pictrix – selbst liegen.55 Bei Aldrovandi sind es dendritische Steine, die als Beweis einer malenden Natur herangezogen werden: Marmora ab Opifice Dei Natura, arbusculis elegantissime picta.56 Zunehmend waren es vor allem fossile Ablagerungen, die das Interesse an den Steinen als Speichermedien einer Vorzeit und Zeugnissen geologischer Umbrüche der Natur erregten, teils jedoch in Konkurrenz zu den Erklärungsmodellen einer künstlerisch produzierenden Natur traten.57 Spätestens mit Leibniz‘ Erdgeschichte wurde das Konzept der spielenden Natur als überholt wahrgenommen, selbst wenn es noch länger überdauern sollte.58
Materialmimesis und Steinfiktion Das malerische Imitieren und Fingieren von Stein, das bereits in den frühen Kulturen des Mittelmeerraumes bekannt war und als ästhetisches Phänomen bis in das 19. Jahrhundert hinein nachweisbar ist, kann als bedeutsame Folie für eine ideengeschichtlich fundierte Rezeption von Stein gedeutet werden. In dem vorgelegten diskursiven und durch die Quellen belegten Rahmen wird deutlich, in welcher Weise das gesteigerte Interesse für die mimetische Wiedergabe oder die fingierende Imagination von Stein mit dem Modell des Künstler-Schöpfers, Naturkonzepten sowie der Paragone-Debatte verknüpft ist. Denn was die künstlerische Schöpfungskraft betrifft, so wird neben dem Lob der besonders naturnahen, mimetischen Wiedergabe – wie etwa bei Statius – die Abweichung von konkreten Steinvorlagen gelobt.59 Dem Fingieren von Stein wird ein besonderes imaginatives Vermögen zugeschrieben, das sich in der Auseinandersetzung mit dem Material erproben konnte.60 Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Fingieren von Stein um einen dezidiert intentionalen Prozess handelt, da im Malprozess das Material reflektiert wird: Über eine reine Nachahmung des Materials hinausgehend, zeigt das Fingieren von Stein nicht nur die künstlerischen und imaginativen Fertigkeiten des Malers, sondern legt zugleich das wirkungsästhetische Potential des Materials frei, indem Strukturmerkmale des Steins im künstlerischen
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Prozess verstärkt hervorgehoben werden. Es ist hierbei in Abgrenzung älterer Forschungsmeinungen zu betonen,61 dass auf Basis der vorgestellten Quellen der Materialbezug von gemaltem Stein zum echten Stein bestehen bleibt, auch wenn es sich um eine Steinfiktion handelt. Die semantische Aufladung ist somit auch im amimetisch wiedergegebenen Stein vorhanden, da er trotz der offensichtlichen Loslösung von einem bestimmten Steinvorbild dessen breite Semantisierung als Stein in sich trägt. Aus diesem Grund ist der dargestellte Stein auf seine Abweichung und Eigenwirklichkeit zu untersuchen, immer jedoch – in Relation zu dem Material verstanden – als Speichermedium zu sehen. Im Abgleich mit den literarischen und naturkundlichen Steindiskursen lässt sich erkennen, welche Charakteristika mit dem (geäderten) Stein verbunden und mit welchen Konnotationen er belegt wurde. Damit zeigt sich die besondere Relevanz der schriftlichen Quellen: Sie geben – kontrastierend oder ergänzend – Auskunft über künstlerische Strategien, insoweit sie das imaginative Potential von exotischen oder als magisch verstandenen Steinen, aber auch das identifikatorische Vermögen heimischer Steine reflektieren. 1 2
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Grundlegend zu literarischen Motiven der „lithic imagination“ vgl. Fabio Barry: Painting in Stone: The Symbolism of Colored Marbles in the Visual Arts and Literature from Antiquity until the Enlightenment, Columbia University 2011, passim. Michelangelo Biondo: De nobilissima pittura, Venedig 1549, fol. 6v–7r: […] quando l‘auolio, o alabastro, anzi le gemme […] paßano per le mani del perfetto pittore, le fa parere molto piu marauigliose che non sono, inuero produtte da la natura […]. Ausführlicher Isabella Augart, Maurice Saß u. Iris Wenderholm (Hg.): Steinformen. Materialität, Qualität, Imitation, Berlin/Boston 2019, S. XVI–XVII. Damit möchte das Kompendium einen Beitrag zur Materialitätsforschung leisten, die seit Jahren an Dynamik gewonnen hat. Herausgegriffen sei Monika Wagner: Das Material der Kunst: Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001 sowie Thomas Strässle: Einleitung. Pluralis materialitatis, in: Ders. (Hg.): Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten. Theorien, Praktiken, Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 7–23, deren Lektüre der vorliegende Band viel verdankt. Zu den literarischen Rezeptionen vgl. auch Barry 2011. Hervorhebung I. W. Zu der fehlenden begrifflichen Schärfe bis ins Quattrocento vgl. Roger Jones: Mantegna and materials, in: I Tatti studies 2/1987, S. 71-90, S. 88. Offenbar waren die wenigen vom Augenschein her bekannten, wenn auch nicht immer korrekt benannten Steinsorten Porphyr, Granit, Serpentin, Alabaster. Zu Edelsteinen vgl. grundlegend Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977. Der Begriff „Mineral“ leitet sich ab vom mittellateinischen minera (Erz, Erstufe) und minare (Betreiben von Bergbau), vgl. Wolfgang Neumann u. Klaus-Werner Benz: Kristalle verändern unsere Welt. Struktur – Eigenschaften – Anwendungen, Berlin/Boston 2018, S. 24.
Saxum – petra – lapis 8 Zur Forschungs- und Zuschreibungsgeschichte grundlegend Manfred Ullmann: Die Naturund Geheimwissenschaften im Islam, Leiden 1972, bes. S. 100-115. 9 Für eine ausführliche Auflistung relevanter Werke der arabischen Tradition vgl. Ida ZilioGrandi (Hg): Ahmad al-Tīfāšī, Il libro delle pietre preziose, Venedig 1999, S. 15, die als Autoren u.a. Kindi (8./9. Jh), Gahiz (m. 847), Ibn Masawayh (m. 857), Al-Biruni (m. 1030), Ibn al-Akfani (m. 1348) nennt. Zu Ahmad ibn Yusuf al-Tīfāšī (1184-1253), der sich in Tunesien und Kairo aufhielt, vgl. Armin Schopen u. Karl W. Strauß (Hg.): Ahmad ibn Yusuf at-Tīfāšīs „Buch der königlichen Steine“. Eine Mineralienkunde für die arabischen Herrscher des 7./13. Jahrhunderts, Wiesbaden 2014 u. Samar Najm Abul-Huda: Arab roots of gemology: Ahmad Ibn-Yusuf al-Tifaschi’s Best thoughts on the best of stones, Lanham, Md. [u. a.] 1998. 10 Auch die anglo-normannische Tradition der Lapidarien konnte im vorliegenden Kompendium nicht weiter berücksichtigt werden, die reiche Tradition spanisch-arabischer Steinbücher wird nur angedeutet. – Besonders interessant ist die Quellenlage im spanischen 12. und 13. Jahrhundert, wo eine intensive Übersetzung und Rezeption arabischer Texte für den lateinischen Westen nachweisbar ist, vgl. etwa Alfons des Weisen Lapidario and Libro de las formas & ymagenes aus dem 13. Jh. (Alfons des Weisen: Lapidario and Libro de las formas & ymagenes, hg. v. Roderic C. Diman u. Lynn W. Winget, Madison 1980). Für die anglo-normannischen Lapidarien vgl. Paul Studer u. Joan Evans: Anglo-norman Lapidaries, Paris 1924 mit einer ausführlichen Einführung in die verschiedenen Traditionsstränge. Für Vorstellungen der Medizin und Magie, die im Mittelalter mit Edelsteinen verknüpft wurden, vgl. Valérie Gontero-Lauze: Sagesses minérales. Médecine et magie des pierres précieuses au Moyen Âge, Paris 2010. 11 Neumann/Benz 2018, S. 26-27. 12 Dazu Ullmann 1972, S. 95ff. Zu der für das „islamische Mittelalter“ wichtigen Unterscheidung von Steinbüchern und „hermetischen Steinbüchern“, die unter Berücksichtigung astrologischer Zusammenhänge geschnittene Gemmen umfassen, siehe ebd., S. 416ff. 13 Dazu vgl. Arnulf, Boyle. 14 Vgl. Iris Wenderholm: Die Säulen der Bibiana. Zur virtus des Materials bei Gianlorenzo Bernini, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 35.2/2014, S. 155–178. Zum virtusBegriff siehe Udo Reinhold Jeck: Virtus Lapidum. Zur philosophischen Begründung der magischen Wirksamkeit und der physikalischen Beschaffenheit kostbarer Mineralien in der Naturphilosophie Alberts des Großen, in: Early Science and Medicine 5.1/2000, S. 33–46. 15 Theophrasts theoretische Überlegungen werden von Ibn Sīnā und später Georg Agricola reflektiert, dazu vgl. Sanne Rishøj Christensen, Theophrast. 16 Dazu vgl. Cordez u. Weill-Parot, Albertus Magnus. 17 Dazu vgl. Arnulf, Gessner. 18 Johanna Beate Lohff: Malerei auf Stein. Antonio Tempestas Bilder auf Stein im Kontext der Kunst- und Naturtheorie seiner Zeit, München 2015, S. 124. 19 Vgl. Katharina Huber: Studien zur frühneuzeitlichen Geschichte der Naturwissenschaften: Conrad Gesners „De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime figuris & similitudinibus Liber: non solum Medicis sed omnibus rerum Naturae ac Philologicae studiosis utilis & iucundus futurus.“, Basel 2016, bes. das Kapitel „Mihi visum est“: Die Erforschung von Perzeption als grundlegende (natur)wissenschaftliche Konzeption, S. 89ff.
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Iris Wenderholm 20 Dabei steht Aldrovandi an dem von Michel Foucault beschriebenen epistemologischen Bruch der Wissensgeschichte, wenn er die Differenzen zwischen den Kategorisierungen beschreibt, vgl. van Gastel, Aldrovandi. 21 Dies wurde auch publizistisch reflektiert, denn wie wohl ursprünglich durchgängig geplant, werden in der Metallotheca Abbaulandschaften und Gewinnungsprozesse ins Bild gesetzt, wie der vor 1593 entstandene Kupferstich mit der Darstellung der Schwefelgewinnung zeigt, dazu Hans Holländer: Ein Museum der Steine: die Metallotheca des Michele Mercati und die Ordnung des Wissens, in: Wunderwerk. Göttliche Ordnung und vermessene Welt: der Goldschmied und Kupferstecher Antonius Eisenhoit und die Hofkunst um 1600, hg. v. Christoph Stiegemann, Ausstellungskatalog, Erzbischöfliches Diözesanmuseum Paderborn, Mainz 2003, S. 19–30, hier S. 25. – Zum Stand mineralogischer Forschung in der Frühen Neuzeit vgl. Frank Dawson Adams: The Birth and Development of the Geological Sciences, New York 1954; Helmut Hölder: Geologie und Paläontologie in Texten und ihrer Geschichte, Freiburg [u. a.] 1960; Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin [u. a.] 2015. Zudem interessant Hartmut Böhme: Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie, in: Ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988, S. 68ff., der die Erschließung der Erde und ihrer mineralogischen Schätze in einer Ideengeschichte der Montankultur bearbeitet. 22 Sein Adressatenkreis dürften eher private Sammler als Mineralogen gewesen sein, vgl. Arnulf, De Boodt. 23 Genesis 28,10–22; zu den Grundlagen der Steinkonzepte des Alten Testaments vgl. Körting, Altes Testament. 24 Vgl. Vennebusch, Neues Testament. Grundlegend Yamit Rachman-Schrire: The Rock of Golgotha in Jerusalem and Western imagination, in: Hans Aurenhammer/Daniela Bohde (Hg.): Räume der Passion: Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bern [u. a.] 2015, S. 29–48 sowie Bruno Reudenbach: „Loca sancta“: zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: Ders. (Hg.): Jerusalem, du Schöne: Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, Bern [u. a.] 2008, S. 9-32. 25 Grundlegend zur Edelsteinallegorese vgl. Meier 1977 sowie Christel Meier: Das Problem der Qualitätenallegorese, in: Frühmittelalterliche Studien 8/1974, S. 385–435, hier S. 391 passim und Bruno Reudenbach: Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 14/1980, S. 310–351. 26 Vgl. Lakey, Hugo von St. Viktor und Abt Suger. 27 Zu den fiktiven Kunstbeschreibungen in diesen Werken: Arwed Arnulf: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, München/Berlin 2004, S. 411– 489 sowie Arwed Arnulf: Kunstliteratur in Antike und Mittelalter, Darmstadt 2008, S. 146–156. 28 Zur Epigrammdichtung auf Architektur, Ausstattungsstücke und andere Artefakte: Arwed Arnulf: Versus ad picturas. Studien zur Titulusdichtung als Quellengattung der Kunstgeschichte von der Antike bis zum Hochmittelalter, München/Berlin 1997. 29 Vgl. Schellewald, Paulos Silentiarios.
Saxum – petra – lapis 30 Zu den unterschiedlichen Geschlechtern von Edelstein vgl. Amalie Fößel: Dividitur autem et haec in mares feminasque. Das Geschlecht der Steine, in: Das Mittelalter 21.2/2016, S. 400–418. 31 Das Ideal der Sublimierung des Materials lässt sich auch bei Kuhli, Sandrart finden. 32 Vgl. zur Tradition der Bocksblut-Erzählung Friedrich Ohly: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976 sowie Mestemacher, Physiologus. 33 Holländer 2003, S. 22. 34 Vgl. Bardo Maria Gauly: Das Glück des Pollius Felix. Römische Macht und privater Luxus in Statius’ Villengedicht Silv. 2,2, in: Hermes 134/2006, S. 455–470, hier S. 459 zur Verknüpfung von militärisch-politischer Metaphorik für den Bereich der Baukunst. 35 Gauly 2006, S. 465 sowie J. Clayton Fant: The Roman Emperors in the Marble Business. Capitalists, Middlemen or Philanthropists?, in: Norman Herz u. Marc Waelkens (Hg.): Classical Marble. Geochemistry, Technology, Trade, Dordrecht [u. a.] 1988, S. 147–158. Für den Bereich der Frühen Neuzeit zentral Aleksandra Lipińska: Alabasterdiplomatie: Material als Medium herrschaftlicher Repräsentation und als Vernetzungsinstrument in Mittel- und Osteuropa des 16. Jahrhunderts, in: Ostblick. Gemeine Artefakte, Online-Ressource unter: (kunsttexte. de 2014,2, http://edoc.hu-berlin.de/18452/8208, S. 1–20 (19. 08. 2020)). 36 Vgl. den Beitrag von Blum, Statius. 37 Dazu mit älteren Literaturhinweisen Iris Wenderholm: Politik der Steine. Zur Materialsemantik der Pietra dura-Tischplatten, in: Augart/Saß/Wenderholm 2019, S. 221–235. Der Umstand, dass die unterschiedlichen Steinsorten der Pietre dure-Tische auch bekannt waren, lässt sich an zahlreichen zeitgenössischen Inventaren belegen, in denen sie differenziert benannt werden (siehe ebd., S. 231). 38 Grundlegend zur Verflechtung von Naturwissen und künstlerischer Praxis vgl. Felfe 2015 u. Lohff 2015. 39 Dazu Gerd Blum: Fenestra prospectiva. Architektonisch inszenierte Ausblicke: Alberti, Palladio, Agucchi, Berlin 2015, S. 162. Vgl. zum Motiv des ars imitatur naturam die Beiträge in Arne Moritz (Hg.): Ars imitatur naturam. Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Münster 2010. 40 Vgl. Gerd Blum: Fenestra prospectiva. Das Fenster als symbolische Form bei Leon Battista Alberti und im Herzogspalast von Urbino, in: Leon Battista Alberti. Humanist, Architekt, Kunsttheoretiker, hg. v. Joachim Poeschke u. Candida Syndikus, Münster 2008, S. 77–122, S. 81, Anm. 25. 41 Lohff 2015, S. 120. 42 Zu den zunächst im 13. Jahrhundert im Rahmen der Aristoteles-Kommentare des Averroes begegnenden Begriffen vgl. Hermann Siebeck: Über die Entstehung der Termini natura naturans und natura naturata, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. III, hg. v. Ludwig Stein, Berlin 1890, S. 370–378 sowie Hans Holländer: Chiffren und Figuren. Über die vis plastica des Zufalls und der Imagination, in: Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme u. Robert Felfe (Hg.): Ludi naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, München 2011, S. 79–101, S. 82–83.
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Iris Wenderholm 43 Christiane Hessler: Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento, Berlin 2014, S. 512f. 44 Statius, Silvae, II, 2, 83, zit. nach Statius Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, hg. v. Heinz Wissmüller, Neustadt an der Aisch 1990, S. 50. 45 Plinius d. J.: Briefe/Epistularum Libri decem. Lateinisch-deutsch, hg. v. Helmut Kasten, Zürich 1995, V. 6, 22. S. 264–265, erwähnt bei: Hessler 2014, S. 512f. Vgl. auch C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde/Naturalis historia. Lateinisch-deutsch, hg. und übers. v. Roderich König, München 1973–1995, Buch XXXV, 134. 46 Dazu Moritz 2010. – Als verwandte Kulturpraktik findet sich dies etwa auch in der chinesischen Kultur, in der das Hineinsehen von Figurationen und Bedeutungen sowie die Literarisierung der „Steine der Gelehrten“ seit 2000 Jahren verbürgt sind. Dazu Holländer 2011, S. 80, der zudem darauf hinweist, dass durch Gedichte auf bildmäßig wahrgenommene Steine diese erst zu literarisch beschriebenen, also „gelehrten“ Steinen wurden. 47 Philippe Cordez: Albertus Magnus und die Steine von Venedig. Ein Beitrag zur „Bildwissenschaft“ des 13. Jahrhunderts, in: Augart/Saß/Wenderholm 2019, S. 191–205. 48 Ulisse Aldrovandi: Musaeum metallicum, Bologna 1648, S. 762; Athanasius Kircher: Mundus subterraneus [1664], 2 Bde., Amsterdam 1678, Bd. II, S. 22–48, vgl. Lorraine Daston u. Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin 1998, S. 337, Anm. 84. 49 Kircher 1678, Bd. II, S. 23. 50 Lorraine Daston/Katharine Park: Wonders and the order of nature, 2. Aufl., New York 1998, S. 299, dazu auch Gijsbert van de Roemer: Nature Painting. Theories about Figured Stones around 1700, in: Adamowsky/Böhme/Felfe 2011, S. 219–234, S. 220. 51 Holländer 2011, S. 82–83, vgl. Michele Mercati: Metallotheca, Rom 1717 und (mit Appendix) Rom 1719, hier: Mercati 1719, S. 216. Grundlegend zu den Ludi Naturae in kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive siehe Adamowsky/Böhme/Felfe 2011. 52 Holländer 2011, S. 86; vgl. Kircher 1678, Bd. II, S. 30. 53 Lohff 2015, S. 119, vgl. auch ausführlich zur Diskussion von der Natur inhärenten Formkräften Daston/Park 1998, S. 298 passim. 54 Weiterführend Claudia Blümle: Mineralischer Sturm. Steinbilder und Landschaftsmalerei, in: Werner Busch u. Oliver Jehle (Hg.): Vermessen. Landschaft und Ungegenständlichkeit, Zürich/Berlin 2007, S. 73-95. 55 Holländer 2011, S. 87; vgl. Kircher 1678, Bd. II, S. 31. 56 Aldrovandi 1648, S. 763, zitiert nach Lohff 2015, S. 130. 57 Holländer 2011, S. 87, mit Verweis auf Kirchers Erklärungsversuche angesichts offensicht licher fossiler Einschlüsse (Kircher 1678, Bd. II, S. 41). 58 Holländer 2011, S. 90-91. 59 Zur Diskussion von amimetischen und mimetischen Fähigkeiten vgl. Blum, Statius. 60 Raphael Rosenberg unterscheidet zwischen mimetischen und amimetischen Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen, vgl. dazu Raphael Rosenberg: The Amimetic Aesthetic of Marbling, erscheint in: Dario Gamboni u. Gerhard Wolf (Hg.): The Aesthetics of Marble: From Late Antiquity to the Present, München 2021. 61 Etwa bei Georges Didi-Huberman: Fra Angelico: dissemblance et figuration, Paris 1990.
Altes Testament Genesis 28,10–22 10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein (’æbæn)1 von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein (’æbæn), den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal (maṣṣebāh) und goss Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus. 20 Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen 21 und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der Herr mein Gott sein. 22 Und dieser Stein (’æbæn), den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal (maṣṣebāh), soll ein Gotteshaus werden; und von allem, was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.
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Altes Testament
Exodus 28,1–21 (par. Ex 39,1–14) 1 Du sollst Aaron, deinen Bruder, und seine Söhne zu dir herantreten lassen aus der Mitte der Israeliten, dass er mein Priester sei, er und seine Söhne Nadab, Abihu, Eleasar und Itamar.
8 Und die Binde, die daran ist, um ihn anlegen zu können, soll von derselben Arbeit und aus einem Stück mit ihm sein, aus Gold, blauem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem feinem Leinen.
2 Und du sollst Aaron, deinem Bruder, heilige Kleider machen zur Ehre und als Schmuck
9 Und du sollst zwei Onyxsteine (šoham) nehmen und darauf einschneiden die Namen der Söhne Israels,
3 und sollst reden mit allen, die weisen Herzens sind, die ich mit dem Geist der Weisheit erfüllt habe, dass sie Aaron Kleider machen zu seiner Weihe, dass er mein Priester sei.
10 auf jeden sechs Namen nach der Ordnung ihres Alters.
4 Dies sind aber die Kleider, die sie machen sollen: Brusttasche (ḥošæn), Schurz (’epôd), Obergewand, enges Untergewand, Kopfbund und Gürtel. So sollen sie heilige Kleider machen deinem Bruder Aaron und seinen Söhnen, dass er mein Priester sei. 5 Sie sollen Gold, blauen und roten Purpur, Karmesin und feines Leinen dazu nehmen. 6 Den Priesterschurz (’epôd) sollen sie machen aus Gold, blauem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem feinem Leinen, kunstreich gewirkt. 7 Zwei Schulterteile soll er haben, die angefügt sind; an seinen beiden Enden soll er zusammengebunden werden.
11 Du sollst die Namen der Söhne Israels in die Steine schneiden wie in ein Siegel (ḥotām), und sie sollen mit Gold eingefasst werden. 12 Und du sollst sie auf die Schulterteile des Schurzes (’epôd) heften, dass es Steine seien zum gnädigen Gedenken an die Israeliten, sodass Aaron ihre Namen auf seinen beiden Schultern trage vor dem Herrn, damit der Herr ihrer gedenke. 13 Und du sollst Goldfassungen machen 14 und zwei Ketten von feinem Golde; als geflochtene Schnüre sollst du sie machen und diese Schnüre an den Fassungen befestigen. 15 Die Brusttasche (ḥošæn) für die Lose zum Rechtsentscheid sollst du wie den Priesterschurz (’epôd) machen, kunstreich gewirkt, aus Gold, blauem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem feinem Leinen.
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16 Viereckig soll sie sein und doppelt gelegt; eine Spanne soll ihre Länge sein und eine Spanne ihre Breite. 17 Und du sollst sie besetzen mit vier Reihen von Steinen (ha’abanîm). Die erste Reihe sei ein Sarder (’odæm), ein Topas (piṭdāh) und ein Smaragd (bāræqæt), 18 die andere ein Rubin (nopæk), ein Saphir (sappîr) und ein Diamant (yāhalom),
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19 die dritte ein Lynkurer (læšæm), ein Achat (šebô) und ein Amethyst (’aḥlāmāh), 20 die vierte ein Türkis (taršîš), ein Onyx (šoham) und ein Jaspis (yāšpeh); in Gold sollen sie gefasst sein, wenn man sie anbringt.2 21 Zwölf sollen es sein wie auf einem Siegel (ḥotām) nach den Namen der Söhne Israels, dass auf jedem ein Name stehe nach den zwölf Stämmen. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung. In der revidierten Fassung von 2017, hg. v. der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 2017.
Kommentar Das Alte Testament kennt Steine und Edelsteine in verschiedenster Funktion und von sehr unterschiedlichem Wert. Die Bandbreite reicht von behauenen oder unbehauenen Steinen für den Tempel- und Altarbau bis zu Edelsteinen, die Kleider oder Gebäude schmücken. Die Steine und Edelsteine, die das Alte Testament nennt, sind in Funktion, Gestalt oder Wert aufgrund archäologischer Quellen und anhand von Texten verschiedenster Gattungen zu beschreiben und einzuordnen. Der dafür in den Blick zu nehmende geographische Raum umfasst Israel, Ägypten und den gesamten Vorderen Orient. Der Zeitrahmen erstreckt sich über knapp 2000 Jahre. Neben dem konkreten Gebrauch von Steinen, z. B. als Eckstein in seiner Funktion für die Statik eines Gebäudes, steht die metaphorische Rede, die Steine für das Stabile und Verlässliche einsetzt (vgl. Hi 38,6; Jes 28,16a; Ps 118,22). Stein kann schlicht leicht verfügbares Schreibmaterial sein. Das Einschreiben der Gebote in Stein rekurriert allerdings eher auf die Dauerhaftigkeit des Materials und überträgt diese Eigenschaft auf den Inhalt des Geschriebenen. Entgegen der Weite des Themas geht es in diesem Beitrag jedoch nicht um den umfassenden Blick auf Steine und Edelsteine im Alten Testament, sondern um eine exemplarische Lektüre von Texten, die in erzählerischer Weise bzw. in Form einer kul tischen Anordnung Steine und Edelsteine thematisieren. So soll ein Eindruck vermittelt werden, wie zum einen das allgegenwärtige Material Stein als Steinmal als auch das besondere Material Edelstein zentrale Funktion in juridischer und kultischer Perspektive einnehmen können und in welcher Form das Alte Testament dies zur Sprache bringt.
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Der erste Textabschnitt, die Erzählung von Jakobs Traum von der Himmelsleiter, widmet sich den Steinmalen. Unter Steinmal (ma s. s. ebāh) versteht man in der Regel einen aufgerichteten, naturbelassenen oder auch behauenen Stein, der jedoch keine Dekoration oder Inschrift aufweist.3 Die Erzählung ist Teil eines Erzählzyklus um Jakob und Esau (Gen 26–35). Sie greift auf alte Erzähltraditionen zurück, wurde jedoch erst im 7. Jahrhundert v. Chr. Teil des Erzählwerkes der Genesis. Die im Traum empfangene Verheißung spiegelt die Einheit Israels im Glauben an den einen Reichsgott Jhwh, gerade nach dem Verlust des Nordreiches und der andauernden Bedrohung durch Assyrien. Für unseren Zusammenhang sind folgende Beobachtungen von Interesse: Der Text verwendet zwei Ausdrücke, nämlich ’æbæn für den einfachen Stein, den Jakob sich zu seinen Häupten4 hinlegt und ma s. s. ebāh für das Steinmal, das Jakob nach dem Erwachen aus dem Stein macht, indem er ihn aufrichtet und mit Öl begießt. Die Aufstellung des Steines sowie das Übergießen mit Öl lassen ihn von einem einfachen Stein zu einem Steinmal in kultischem Kontext werden. Das Handeln Jakobs wird so zur Gründungslegende des Tempels in Beth-El (= Haus Gottes). Als Kultsteine können Steinmale im Tempel stehen,5 gehören jedoch häufiger noch zur Ausstattung der offenen Natur- oder Freilichtheiligtümer. Sie können „gleich wie Götterstatuen behandelt werden, d. h. man kann in ihnen Repräsentationen von Göttern sehen.“6 Dabei handelt es sich um männliche wie weibliche Gottheiten.7 Nach Philo von Byblos, so überliefert bei Euseb, betrachtete man die Steinmale als „beseelte Steine“ (λίθοι εμψυχοι) ´ als Gotteshäuser (βαιτύλια).8 Eine zentrale Frage der Fachdebatte knüpft allerdings an die Bildlosigkeit9 der Steinmale an. Stellen sie eine Variante zu üblichen Kultbildern (neben anthropomorphen und theriomorphen Bildern) dar oder handelt es sich um materielle Bildlosigkeit, d. h. um eine dezidiert anikonische Gottesverehrung, wie sie für den Gott Israels gefordert wird (vgl. Deut 5,8)10? Anders als nach der Erzählung von Jakobs Traum zu vermuten ist, unterliegen Steinmale in weiten Bereichen des Alten Testaments massiver Kritik. Allein oder in Gemeinschaft mit einer Aschera11 stehen sie für fremden Kult und fremde Heiligtümer, die es zu zerstören gilt (vgl. Deut 12,3–5). Diese veränderte Haltung im Umgang mit den Steinmalen, die nicht zwingend auch Konsequenzen in der Praxis gehabt haben muss, sieht man in der kultischen Ausrichtung Israels auf ein einziges Heiligtum. Andere Kultorte, markiert durch die Steinstelen, wurden aus dieser Perspektive obsolet. Neben der kultischen Variante können Steinmale auch schlicht als Stützen in Gebäuden eingesetzt werden, ohne jeglichen kultischen Bezug.12 Hier ist vor allem eine genaue Untersuchung des Fundortes von Belang. Die biblischen Texte berichten zudem von der Errichtung von Steinmalen als ‚Erinnerungssteine‘, u. a. nach der Überquerung des Jordan (Jos 4,7)13, als Vertragssteine (Gen 31,51f.) oder als Gedenksteine für Verstorbene (Gen 35,20; 2 Sam 18,18). 14 Während im Hinblick auf die Steinmale sowohl in den Texten selbst als auch in der fachlichen Auseinandersetzung deren Funktion im Zentrum steht, wird bei Edelsteinen vor allem deren Identifikation diskutiert. Sie ist außerordentlich schwierig. Keine mineralogischen Bestimmungen, sondern vor allem die Wahrnehmung von Gestalt, Farbe, Transparenz, Ge
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wicht sowie Härtegrad spielen eine Rolle. Und selbst wenn man voraussetzt, dass derartige Kriterien bei der Auswahl der Edelsteine, welche die verschiedenen alttestamentlichen Texte nennen, in Anschlag gebracht wurden, sind diese kaum zu vereinheitlichen. Zu unterschiedlich sind einerseits die Wahrnehmung und Gewichtung einzelner Eigenschaften der Edelsteine, andererseits die lokal und historisch bedingten Kenntnisse der Verfasser. Folglich kann man bei der Lektüre des hebräischen Alten Testaments oder diverser Übersetzungen nicht einmal davon ausgehen, dass ein einzelner Ausdruck im Hebräischen stets dasselbe meint.15 In dem ausgewählten Textbeispiel (Ex 28,1−21) zum Brustschild / zur Brusttasche des Hohepriesters wird der erste Stein als ’odæm bezeichnet. Der hebräischen Wurzel nach handelt es sich um einen roten (’ādom) Stein. Besonders häufig wird, so auch in den antiken Übersetzungen ins Griechische oder Lateinische, Karneol (= Sardius) genannt. Doch auch Granat, Rubin oder Sardonyx werden vorgeschlagen. Während die genannten Steine einander zumindest optisch nahekommen, ist die Variation beim vierten Stein des hohepriesterlichen Brustschildes, dem nopæk, noch deutlich größer. Wiederum sind sich die antiken Übersetzungen relativ einig und benennen ihn als άνθραξ bzw. carbunculus (Holz-Kohle), andere bieten jedoch Rubin, Granat, Karfunkel oder Türkis. Die diversen Übersetzungen beruhen u. a. auf der variierenden Einschätzung der Eignung des genannten Steins als Siegelstein. Um der Identifizierung der im hebräischen Text genannten Edelsteine nahe zu kommen, sind in der Forschung neben den antiken Übersetzungen vor allem die Werke des jüdischen Histo rikers Flavius Josephus (37/38−110 n. Chr.) und die Naturkunde des römischen Gelehrten Plinius d. Ä. herangezogen worden.16 Der Ausschnitt aus dem Buch Exodus entstammt der sog. Priesterschrift und ist im 5.–4. Jahrhundert v. Chr. zur Zeit des Zweiten Tempels in Jerusalem verfasst worden. Er ist Teil eines größeren Erzählzusammenhangs (Ex 25–29 bzw. 40). Dem Mose wird am Sinai durch den Gott Israels offenbart, wie das, aus Erzählperspektive zukünftige, Heiligtum zu bauen und auszustatten sei. Offenbart wird auch das Aussehen des Ornates des Hohepriesters ein17 . Angegeschließlich des/der mit Edelsteinen besetzte/n Brustschildes/Brusttasche (hošæn) . ben werden Platzierung, Verarbeitung und Art von Edelsteinen sowie, in begrenzter Weise, ihre Funktion. Die Anordnungen zum Gewand des Hohepriesters geben nicht über jedes Detail Auskunft, setzten mittels der reduzierten Form jedoch Akzente.18 Den Steinen und ihrer Positionierung kommt dabei eine hervorragende Rolle zu. Der Priesterschurz (’epôd), wohl ein an den Seiten offener Kittel, wird an den Schultern mit Spangen zusammengehalten, auf denen zwei Steine angebracht sind, in welche die Namen der Israeliten, d. h. der Stämme, eingraviert wurden. Kommt die mit Steinen besetzte Brusttasche hinzu, mit Steinen, die die Namen der Israeliten tragen, dann trägt der Hohepriester die Namen der Kinder Israels (benê yiśrā’el) auf den Schultern und auf dem Herzen, und zwar bei jeder Amtshandlung, die er verrichtet, wenn er sich dem Gott Israels nähert. Durch die Beschriftung werden die Steine auf Schultern und Brusttasche mit Siegelsteinen identifiziert (Ex 28,11.21). Siegel als Rolloder Stempelsiegel sind im Alten Orient weit verbreitet bekannt.19 Eine eigene palästinische
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Produktion und Gestaltung setzt sich im 8. Jahrhundert v. Chr. durch. Mit ihnen konnte etwas als dem König oder einer Einzelperson gehörend markiert, d. h. gesiegelt werden.20 Aus der persischen Zeit stammende Siegel weisen zudem die Besonderheit auf, dass die Zugehörigkeit zu einem Staat, für diesen Zusammenhang interessant die Provinz Jehud, über die Nennung des Staatsnamens geschieht. „Das yhwd-Siegel stand stellvertretend für die staatliche Macht; es repräsentierte den Führer und damit das ganze ihm unterstellte Volk.“21 Bezieht man diese Anwendungsweise auf die Steine am Gewand des Hohepriesters, so wird ein hoher Anspruch deutlich, nämlich der der Führerschaft nicht nur über Jehud, sondern über alle zwölf Stämme Israels. Abgesehen von der Siegelfunktion der Steine greift Ex 28 noch einen weiteren Terminus auf, der die Funktion der mit Namen versehenen Steine unterstreicht. Sie sind Steine des Gedächtnisses (v12). Diese Formulierung unterstützt, was schon zu Beginn über die Positionierung der Steine gesagt werden konnte: Der Hohepriester trägt sie auf den Schultern und vor der Brust, wenn er vor den Gott Israels tritt und seinen Dienst verrichtet. Als Steine des Gedächtnisses nun geht es um die gnädige Zuwendung Gottes. Er möge gedenken, d. h. Aufmerksamkeit und Gegenwart schenken.22 Die unterschiedlichen Farben lassen hingegen aus exegetischer Sicht nur eine begrenzte Deutung zu. Festzuhalten ist, dass über die Namen und die unterschiedliche Farbgebung der zwölf Steine auf der Brusttasche jeder Stamm Israels einzigartig aufgenommen ist. Für die Steine auf dem Schulterstück, die nun tatsächlich gleichen Materials sind, erklärt Benno Jacob hingegen, „dass es zwei Reihen von Söhnen sind und es zwei Mütter waren, die (Rut 4,11) ‚das Haus Israel erbaut haben‘.“23 Es wird über den gleichen Stein folglich der parallele Ursprung bezeichnet. Und Jacob stellt weitere intertextuelle Bezüge her. Der für die Schulterstücke genannte šoham-Stein wird bereits im Paradies, im Garten Eden, erwähnt (Gen 2,12). Es kommt ihm damit eine herausragende Verortung zu.24 Intertextuelle Bezüge sind für die Exegese biblischer Texte im Hinblick auf die Edelsteine und ihre Verwendung von besonderer Bedeutung.25 Geographische Gesichtspunkte, d. h. Herkunftsorte oder Handelsrouten,26 ebenso auch der Wert der Edelsteine haben eine Funktion für die Textaussagen. Was sich hingegen kaum finden lässt, sind kultisch-magische Anwendungen. Dies bedeutet nicht, dass es so etwas nicht gegeben habe, das Alte Testament äußert sich nur nicht dazu. Für Mesopotamien lässt sich diesbezüglich ein anderes Bild zeichnen. Wichtige Quellen sind hierbei Texte zur Durchführung von Ritualen. Beschwörern dienten diese als Anweisungen zur Herstellung von Heilmitteln verschiedenster Art, wozu eben auch die Arbeit mit Steinen gehörte. Besonders umfangreich ist die Quellenlage im Hinblick auf Amulette. Für die Forschung zentral ist zudem das Steinbestimmungsbuch abnu šikinšu (Der Stein, dessen Gestaltung …).27 Fragen des Zusammenhangs zwischen der Form, Farbe oder dem Härtegrad eines Steins und der Art und Weise seiner Anwendung sind nicht immer leicht zu beantworten. Beispielhaft sei hier zu nennen, dass Götterstatuen und besonders deren Augen wie auch Tempel mit sehr wertvollen Steinen geschmückt werden. Edelsteine werden immer wieder bei Grün-
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dungsritualen von Tempel- und Palastbauten verwendet. Lapislazuli, Karneol oder Achate wurden nachgewiesen. Man hat sie ins Fundament gestreut als ‚Perlenkissen‘ oder in Kästen in das Fundament gesetzt. Sie hatten in erster Linie eine Schutzfunktion.28 Steine konnten mit einzelnen Göttern assoziiert werden, wie der Magnetit mit Šamaš, dem Gott der Gerechtigkeit und des Wahrsagens. Der Magnetit war dazu geeignet, richtig und falsch anzuzeigen und wurde dementsprechend bei Befragungen eingesetzt.29 Aber auch das Aussehen der Steine spielte eine Rolle. So ist belegt, dass gegen Augenflimmern Ketten an der rechten und linken Hand getragen werden sollten, in die auch Augensteine eingefasst waren.30 Neben vielen Einzelanwendungen haben Steine zudem die zentrale Funktion der (Wieder-)Herstellung des intakten Verhältnisses zum persönlichen Gott,31 wie die Steine im Brustschild des Hohepriesters. Bei aller unterschiedlicher Gestalt, variierender Funktion und unterschiedlichem Wert von Steinen und Edelsteinen, lassen sich zwei deutliche Linien für das Alte Testament und den Alten Orient nachzeichnen. Während die Steinmale Gottheiten repräsentieren und Gottesnähe herstellen, sind Edelsteine als Steine der Erinnerung dazu geeignet, den Einzelnen wie auch die Gemeinschaft vor einer Gottheit zu repräsentieren und gnädige Zuwendung der Gottheit zu erwirken. Corinna Körting 1 2
Die hebräischen Namen der Steine und Edelsteine werden in Klammern in Transliteration angefügt. In der späteren Texttradition gewählte Übersetzungen, u. a. die der Septuaginta und der Vulgata, werden in einer Tabelle angefügt. Die Namen der Edelsteine sind in der Reihenfolge aufgeführt, wie die Textüberlieferungen sie bezeugen. Die Beschreibung in der Kommentarzeile gilt für die hebräische Bezeichnung der Steine. Hebräische Bibel
Septuaginta Vulgata
Kommentar
1
’odæm
σάρδιον
sardius
2
piṭdāh
τοπάζιον
topazius
Ein rotbrauner Stein, wohl Karneol oder auch Sardonyx. Die wichtigsten Fundstätten im Altertum waren Ägypten, die östliche arabische Halbinsel und Indien.
Ein hellgrüner Stein mit hoher Transparenz. Der Fundort liegt wohl ca. 300 km vor der ägyptischen bzw. äthiopischen Küste (es handelt sich wohl um Chrysolith, der fälschlich als Topas bezeichnet wurde).
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Altes Testament Hebräische Bibel
Septuaginta Vulgata
Kommentar Der hebr. Begriff mag auf brq „der Blitzende“ verweisen; die antiken Übersetzungen sind sich einig bezüglich Smaragd, was als Oberbegriff für eine Vielzahl grüner Steine steht. Aus geographischen Gründen liegt nahe, dass es sich hier um Malachit handelt, der u. a. im Ara bagraben und dem südl. Sinai abgebaut wurde.
3
bāræqæt
σμάραγδος
zmaragdus
4
Nopæk
ἄνθραξ
5
Sappîr
σάπφειρος
carbunculus Es handelt sich um einen schwarzen Stein. Nach Ez 27,16 stammt dieser Stein aus Edom.
sapphyrus
6
yāhalom
ἴασπις
iaspis
7
Læšæm
λιγύριον
ligurius
8
šebô
ἀχάτης
achates
9
’aḥlāmāh
ἀμέθυστος
amethistus
χρυσόλιθος
chrysolitus
10 Taršîš
In der Antike als blauer Stein verstanden und vermutlich mit Lapislazuli zu identifizieren, stammt dieser Stein aus Afghanistan. Hier ist wohl an grünen Jaspis zu denken, aus der Türkei (Phrygien, Kappadokien) stammend.
Diskutiert werden grüner Feldspat, der jedoch kaum als Siegelstein geeignet ist und Bernstein, der jedoch nur nördlich des Schwarzen Meeres vorkommt. Die meisten Übersetzungen schlagen dennoch eine Bezeichnung vor, die dem Bernstein entspricht, wie z. B. Lyngurion oder Lynkurer. Ein stark gemusterter Stein, der für den Brustschild des Hohepriesters wohl aus Ägypten, Syrien oder Zypern stammte.
Amethyst, ein purpurfarbener Stein, wurde in Ägypten u. a. südöstlich von Assuan abgebaut, eine etwas blassere Variante jedoch auch im Ostjordanland.
In den atl. Texten steht Tarsis für Spanien. Was in den antiken Übersetzungen mit Chrysolith bezeichnet wird, verweist vor allem auf einen goldfarbenen Stein, wie gelben Topas, Goldtopas oder Citrin, der in Spanien gefunden wurde.
Altes Testament Hebräische Bibel
Septuaginta Vulgata
Kommentar
11 Šoham
βηρύλλιον
onychinus
12 yāšpeh
ὀνύχιον
berillus
Einer der wenigen Steine, die häufiger in der atl. Überlieferung genannt werden. Es handelt sich wohl um hellgrünen Beryll oder Smaragd. Die Minen lagen wohl in Ägypten zwischen Edfu und dem Roten Meer.
Ein dunkler Chalzedon vom Sinai.
Zum Inhalt der Tabelle vgl. August Dillmann: Die Bücher Exodus und Leviticus. Kurzgefasstes Handbuch zum Alten Testament, Bd. 12, Leipzig 1897, S. 336–338; Wolfgang Zwickel: Edelsteine in der Bibel, Mainz 2002, S. 52–63. 3 Steinmal (maṣṣebāh) wird häufig auch als Malstein, Kultstein oder Pfeiler übersetzt; die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, verwendet in der Regel στήλη „Stele“. 4 Es geht hier nicht darum, dass Jakob den Stein als Kopfkissen verwendet. Er stellt ihn oberhalb seines Kopfes auf, evtl. als Schutz, vgl. Benno Jacob: Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, S. 579. Doch werden durch die Platzierung des Steines auch Traum und Mazzebe miteinander verbunden. Der von außen empfangene Traum kommt über den Kopf, vgl. Annette Zgoll: Traum und Weiterleben im antiken Mesopotamien. Traumtheorie und Traumpraxis im 3.–1. Jahrtausend v. Chr. als Horizont einer Kulturgeschichte des Träumens (AOAT, 333), Münster 2006, S. 318–320, die u. a. auf den Gudeazylinder A9,6 verweist, der vergleichbar formuliert. 5 Eine Darstellung aus jüngerer Zeit bietet eine Münze aus Byblos (217 n. Chr.). Vgl. Biblisches Reallexikon (HAT 1,1), hg. v. Kurt Galling, Tübingen 1977, s. v. „Massebe“ (A. Reichert), S. 206–209, hier S. 209. 6 Vgl. Manfred Hutter: Kultstelen und Baityloi, in: Bernd Janowski, Klaus Koch u. Gernot Wilhelm (Hg.): Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament. Internationales Symposium Hamburg 17.−21. März 1990 (OBO 129), Freiburg/Schweiz/Göttingen 1993, S. 87–108, hier S. 89; Othmar Keel u. Christoph Uehlinger (Hg.): Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Freiburg/Schweiz 2010, S. 37−38 u. S. 58−59. Ein Befund, der für die Mittelbronzezeit gilt. Dies sieht in der Spätbronzezeit bereits deutlich anders aus. Dort spielen Mazzeben schon eine deutlich geringere Rolle im Kult. Auch in der Eisenzeit II, für die die alttestamentlichen Texte häufig Mazzeben erwähnen, scheinen sie kultisch kaum noch in Gebrauch gewesen zu sein. Vgl. Wolfgang Zwickel: Der Tempelkult in Kanaan und Israel (FAT 10), Tübingen 1994, S. 72, S. 200 u. S. 283. 7 Vgl. Zwickel 1994, S. 67. Othmar Keel geht davon aus, dass eine in Arad gefundene rot bemalte Mazzebe Jhwh repräsentieren sollte, vgl. Keel u. Uehlinger 2010, S. 416, Anm. 391; vgl. auch S. 440−441. 8 Vgl. Euseb in Praep. Ev I 10,23. Vgl. Klaus Koenen: Bethel. Geschichte, Kult und Theologie (OBO, 192), Freiburg/Schweiz/Göttingen 2003, S. 133−134.
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Altes Testament 9 Zwickel 1994, S. 268 u. S. 271. 10 Vgl. Tryggve Mettinger: No Graven Image? Israelite Aniconism in Its Ancient Near Eastern Context (CB.OTS, 42), Stockholm 1995, S. 193−194. Anders als Mettinger versucht man jedoch in der Regel zwischen einem „empty-space aniconism“ und einem „material iconism“ zu unterscheiden, vgl. Nadav Na’aman: No Anthropomorphic Graven Image. Notes on the Assumed Anthropomorphic Cult Statutes in the Temples of YHWH in the Pre-exilic Period (UF, 31), Münster 1999, S. 391–415, hier S. 413. 11 Ashera, der Name einer westsemitischen Göttin, bezeichnet in derartigen Zusammenhängen, gemeinsam genannt mit der Mazzebe, einen Kultbaum oder Kultpfahl, der eine Göttin repräsentiert. Männliche und weibliche Gottheit sind über diese Repräsentanzen an einem Kultort, häufig einem Höhenheiligtum, zugegen. Vgl. Dictionary of Deities and Demons in the Bible, hg. v. Karel van der Toorn, Bob Becking u. Pieter W. van der Horst, Leiden 1999, S. 99–105, s. v. „Asherah“ (Nicholas Wyatt). 12 Vgl. Zwickel 1994, S. 14. 13 Siehe auch Ex 24,3–8. Hier handelt es sich um eine Opferszene, Inauguration des Kultes Israels auf dem Sinai, da zwölf Mazzeben errichtet werden sollen. 14 Archäologisch sind sie im Israel der Eisen- und der Perserzeit nicht belegt; vgl. auch Zwickel 1994, S. 315, Anm. 150. Ältere Funde, die auf eine Funktion im Rahmen von Grablegung hingedeutet wurden (Pro-memoria-Stelen für verstorbene Könige oder höhergestellte Persönlichkeiten) sind zumindest umstritten; vgl. Ernst Sellin: Zu der ursprünglichen Bedeutung der Mazzeben, in: Orientalistische Literaturzeitung 3/1912, S. 119–126, hier S. 120ff.; Reichert 1977, S. 206. 15 Das umgekehrte Phänomen beschreibt u. a. Plinius (Nat. Hist. XXXVII, 195), der darauf verweist, dass bei gleichem Material häufiger die Namen geändert werden, allein wenn der Stein einen variierenden Verlauf von Streifen oder Flecken aufweist. 16 Vgl. den Beitrag von Ilka Mestemacher in diesem Band. 17 Es herrscht nicht vollständige Einigkeit, ob es sich beim ḥošæn um eine Tasche oder einen Brustschild handelt (Zwickel 2002, S. 32; Jakob 1997, S. 808). Ex 28,30 macht jedoch deutlich, dass es sich beim ḥošæn um eine Tasche handelt, in die die Steine Urim und Tummim hineingelegt werden sollen. Die Anbringungsweise wie auch der Besatz mit Edelsteinen weißt jedoch über die Funktion einer Tasche weit hinaus. Es ist wohl anzunehmen, dass der ḥošæn beides zugleich ist, Schild und Tasche, vgl. Christoph Dohmen: Exodus 19−40, in: Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT), Freiburg i. B. u. a. 2004, S. 267−268. 18 Nicht zuletzt bezüglich des hohen Wertes der Kleidung. Das Wirken von Gold unter Zeugen wie die besonders gefärbte Wolle ist eher dem Gewand von Königen vergleichbar. Vgl. Zwickel 2002, S. 32 u. S. 44. 19 Othmar Keel: Siegel und Siegeln in der Bibel, in: ders. u. Christoph Uehlinger (Hg.): Altorientalische Miniaturkunst, Göttingen 1996, S. 87–92. 20 Vgl. Keel 1996, S. 88. Für Beispiele vgl. Zwickel 2002, S. 45−46. Die Informationen aus Textsammlungen des Alten Orients gehen weiter. Siegel konnten Amulettcharakter haben und ihren Träger schützen. In diesem Zusammenhang hat auch das Material Bedeutung, das dem Träger des Siegels ein bestimmtes Schicksal zuordnet. Vgl. Anais Schuster-Brandis: Steine als Schutz- und Heilmittel (AOAT 46), Münster 2008, S. 50–53.
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Zwickel 2002, S. 46. Vgl. Jacob 1997, S. 907. Vgl. ebd., S. 910. Der Paradiesbezug hat nach Jacob 1997, S. 910 auch Relevanz für die Deutung des elften Steines der Brusttasche, ebenfalls der šoham-Stein. Dieser steht für den elften Sohn Jakobs, nämlich Josef, der die Gesinnung vertritt, dass alle Brüder leben sollen. Während in der alttestamentlichen Tradition der Paradiesgarten eine zentrale Rolle hat, er Uranfängliches ebenso markiert wie Zentralität (von hier gehen u. a. die Flüsse aus, die die Welt bewässern), kennt das Gilgameš-Epos einen Edelsteingarten. Steine wachsen hier wie Bäume. Dem Menschen ist der Garten nicht zugänglich. Besonders wichtig aber, es handelt sich um einen Garten, der außerhalb des Zyklus von Werden und Vergehen steht, siehe Gilgameš Tafel IX 172−194 (Vgl. dazu Corinna Körting: Von Edelsteinen und ihren „Fund“orten. Ein Beitrag zum Weltbild des Alten Orients, in: Vetus Testamentum. A Quarterly Published by the International Organization for the Study of the Old Testament 70.1/2020, doi:10.1163/1568533012341398 sowie gedruckt in Vetus Testamentum 70 (2020) S. 458–478. Vgl. Schuster-Brandis 2008, S. 15. So auch bei der Klage gegen den König von Tyros (Ez 28,11–19). Er selbst war ein ‚vollendetes Siegel‘, war im Garten Eden. Sein Gewand war mit Edelsteinen besetzt und aus Gold gewirkt. Im Bilde des mit aller Macht und Pracht ausgestatteten Urmenschen, der anmaßend und überheblich wird und fallen muss, wird der Untergang der Stadt Tyrus angedroht. Für unseren Zusammenhang ist vor allem interessant, dass der Text neun Edelsteine am Gewand des Königs nennt, die mit leichten Umstellungen mit denen am Gewand des Hohepriesters übereinstimmen. Es ist nicht klar, weshalb drei Steine fehlen (anders in der Septuaginta, die zwölf Steine nennt). Zu den favorisierten Identifizierungen vgl. Stefan Gathmann: Im Fall gespiegelt. Der Abschluß der Tyrus-Sprüche in Ez 28,1−19 (Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament, 86), St. Ottilien 2008, S. 536–542. Will man annehmen, dass die Gestalt des Brustschildes des Hohepriesters für die Darstellung des Gewandes des Königs von Tyros den Referenzrahmen bildet, dann stimmt dies überein mit der Anmaßung des Königs, die sich bis in den Kult hinein erstreckt. Und dennoch wird der Parallelität, zumindest im hebräischen Text, eine Grenze gesetzt, da der König neun aber nicht zwölf Steine tragen darf. Vgl. Moshe Greenberg: Ezechiel 21−37, in: Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT), Freiburg i. B. 2005, S. 257−258. Im Gebiet Judas gab es keine Edelsteinvorkommen. Aus diesem Grunde kommt der Nennung der Steine im Hinblick auf die Handelsbeziehungen Judas besonderer Erkenntniswert zu, vgl. Zwickel 2002, S. 53–66. Diese Einschätzung gilt ebenso für Mesopotamien, vgl. SchusterBrandis 2008, S. 4. Vgl. Schuster-Brandis 2008, S. 1−2 u. S. 11−12. Vgl. ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 50−51 u. S. 279.
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Timaios ca. 358–348 v. Chr. 60b6–c7 Γῆς δὲ εἴδη, τὸ μὲν ἠθημένον διὰ ὕδατος τοιῷδε τρόπῳ γίγνεται σῶμα λίθινον. τὸ συμμιγὲς ὕδωρ ὅταν ἐν τῇ συμμείξει κοπῇ, μετέβαλεν εἰς ἀέρος ἰδέαν· γενόμενος δὲ ἀὴρ εἰς τὸν ἑαυτοῦ τόπον ἀναθεῖ. κενὸν δ’ ὑπερεῖχεν αὐτῶν οὐδέν· τὸν οὖν πλησίον ἔωσεν ἀέρα. ὁ δὲ ἅτε ὢν βαρύς, ὠσθεὶς καὶ περιχυθεὶς τῷ τῆς γῆς ὄγκῳ, σφόδρα ἔθλιψεν συνέωσέν τε αὐτὸν εἰς τὰς ἕδρας ὅθεν ἀνῄει ὁ νέος ἀήρ· συνωσθεῖσα δὲ ὑπὸ ἀέρος ἀλύτως ὕδατι γῆ συνίσταται πέτρα, καλλίων μὲν ἡ τῶν ἴσων καὶ ὁμαλῶν διαφανὴς μερῶν, αἰσχίων δὲ ἡ ἐναντία.
60b6−c7 Was die Arten von Erde angeht, so wird Erde, die durch Wasser gefiltert worden ist, auf folgende Weise zu einem steinernen Körper: Wenn das beigemischte Wasser beim Mischen zerteilt wird, verwandelt es sich in Luft und die so entstandene Luft drängt es zu dem ihr eigenen Ort hinauf. Da es dort oben aber nichts Leeres gibt, drückt sie auf die umliegende Luft. Und wenn diese so beschwerte Luft die Masse der Erde von allen Seiten umgibt und Druck auf sie ausübt, presst sie sie zusammen und zwängt sie in die von der zuvor entstandenen Luft verlassenen Zwischenräume. Die durch den Druck der Luft zusammengepresste Erde ist durch Wasser nicht löslich und verdichtet sich zu Stein. Die schönere Art ist durchsichtig, da sie aus gleichgroßen, ebenmäßigen Teilen besteht, weniger schön ist die aus diesen entgegengesetzten Teilen.
60c7–d4 τὸ δὲ ὑπὸ πυρὸς τάχους τὸ νοτερὸν πᾶν ἐξαρπασθὲν καὶ κραυρότερον ἐκείνου συστάν, ᾧ γένει κέραμον ἐπωνομάκαμεν, τοῦτο γέγονεν· ἔστιν δὲ ὅτε νοτίδος ὑπολειφθείσης χυτὴ γῆ γενομένη διὰ πυρὸς ὅταν ψυχθῇ, γίγνεται τὸ μέλαν χρῶμα ἔχον λίθος.
60c7−d4 Die Art, bei der die Feuchtigkeit schnell durch heftiges Feuer verdrängt wird, ist von spröderer Konsistenz als die erste Art und wird zu dem, was wir Tonerde nennen. Manchmal bleibt aber auch Feuchtigkeit in der Erde erhalten, so dass sie durch Feuer verflüssigt wird; kühlt sie sich wieder ab, dann wird sie zu Stein von schwarzer Farbe.
60d4–e2 τὼ δ᾿ αὖ κατὰ ταὐτὰ μὲν ταῦτα ἐκ συμμείξεως ὕδατος ἀπομονουμένω πολλοῦ,
60d4−e2 Ferner entstehen zwei Arten auf die gleiche Weise, wenn der Mischung eine
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λεπτοτέρων δὲ ἐκ γῆς μερῶν ἁλμυρώ τε ὄντε, ἡμιπαγῆ γενομένω καὶ λυτὼ πάλιν ὑφ’ ὕδατος, τὸ μὲν ἐλαίου καὶ γῆς καθαρτικὸν γένος λίτρον, τὸ δ᾿ εὐάρμοστον ἐν ταῖς κοινωνίαις ταῖς περὶ τὴν τοῦ στόματος αἴσθησιν ἁλῶν κατὰ λόγον θεοφιλὲς σῶμα ἐγένετο.
große Menge Wasser entzogen wird; sie bestehen aus feineren Teilen von Erde, schmecken salzig und sind nur halb fest und wasserlöslich. Die eine Art ist Natron, ein Mittel gegen Verunreinigung durch Fett und Schmutz; die andere Art, die sich gut den Geschmacksempfindungen anpasst, ist der nach dem Sprichwort gottgeliebte Stoff der Salze.
60e2–61a7 τὰ δὲ κοινὰ ἐξ ἀμφοῖν ὕδατι μὲν οὐ λυτά, πυρὶ δέ, διὰ τὸ τοιόνδε οὕτω συμπήγνυται. γῆς ὄγκους πῦρ μὲν ἀήρ τε οὐ τήκει· τῆς γὰρ συστάσεως τῶν διακειμένων αὐτῆς σμικρομερέστερα πεφυκότα, διὰ πολλῆς εὐρυχωρίας ἰόντα, οὐ βιαζόμενα, ἄλυτον αὐτὴν ἐάσαντα ἄτηκτον παρέσχεν· τὰ δὲ ὕδατος ἐπειδὴ μείζω πέφυκεν μέρη, βίαιον ποιούμενα τὴν διέξοδον, λύοντα αὐτὴν τήκει. γῆν μὲν γὰρ ἀσύστατον ὑπὸ βίας οὕτως ὕδωρ μόνον λύει, συνεστηκυῖαν δὲ πλὴν πυρὸς οὐδέν· εἴσοδος γὰρ οὐδενὶ πλὴν πυρὶ λέλειπται. τὴν δὲ ὕδατος αὖ σύνοδον τὴν μὲν βιαιοτάτην πῦρ μόνον, τὴν δὲ ἀσθενεστέραν ἀμφότερα, πῦρ τε καὶ ἀήρ, διαχεῖτον, ὁ μὲν κατὰ τὰ διάκενα, τὸ δὲ καὶ κατὰ τὰ τρίγωνα· βίᾳ δὲ ἀέρα συστάντα οὐδὲν λύει πλὴν κατὰ τὸ στοιχεῖον, ἀβίαστον δὲ κατατήκει μόνον πῦρ.
60e2−61a7 Es gibt auch Mischungen aus Erde und Wasser, die nur durch Feuer und nicht durch Wasser auflösbar sind. Sie haben sich auf folgende Weise verfestigt: Die Erdmasse wird weder durch Feuer noch durch Luft zersetzt. Denn da Feuer und Luft kleinteiliger sind als die Zwischenräume in der Erde, haben sie hinreichend Raum, um ohne Gewaltsamkeit durchzudringen; sie lösen daher die Erde nicht auf oder zerteilen sie. Die Teile des Wassers sind dagegen größer, müssen sich gewaltsam Durchgang verschaffen und zersetzen und lösen dabei die Erde auf. Erde kann aber nur durch Wasser aufgelöst werden, wenn sie nicht gewaltsam zusammengepresst ist. Zusammengepresste Erde kann nur Feuer auflösen; denn Zugang hat nichts außer Feuer. Wenn Wasser mit großer Gewalt verdichtet ist, kann es nur durch Feuer aufgelöst werden; weniger stark verdichtetes Wasser können sowohl das Feuer wie auch die Luft auflösen − die Luft, in dem sie in die Zwischenräume eindringt, das Feuer, indem es die Dreiecke aufbricht. Mit Gewalt verdichtete Luft kann nur in ihre Elementarbestandteile aufgelöst werden; nicht verdichtete Luft ist nur durch Feuer auflösbar.
Timaios
61a7–c2 τὰ δὴ τῶν συμμείκτων ἐκ γῆς τε καὶ ὕδατος σωμάτων, μεχρίπερ ἂν ὕδωρ αὐτοῦ τὰ τῆς γῆς διάκενα καὶ βίᾳ συμπεπιλημένα κατέχῃ, τὰ μὲν ὕδατος ἐπιόντα ἔξωξεν εἴσοδον οὐκ ἔχοντα μέρη περιρρέοντα τὸν ὅλον ὄγκον ἄτηκτον εἴασεν, τὰ δὲ πυρὸς εἰς τὰ τῶν ὑδάτων διάκενα εἰσιόντα, ὅπερ ὕδωρ γῆν, τοῦτο πῦρ ἀπεργαζόμενα, τηχθέντι τῷ κοινῷ σώματι ῥεῖν μόνα αἴτια συμβέβηκεν· τυγχάνει δὲ ταῦτα ὄντα, τὰ μὲν ἔλαττον ἔχοντα ὕδατος ἢ γῆς, τό τε περὶ τὴν ὕαλον γένος ἅπαν ὅσα τε λίθων χυτὰ εἴδη καλεῖται, τὰ δὲ πλέον ὕδατος αὖ, πάντα ὅσα κηροειδῆ καὶ θυμιατικὰ σώματα συμπήγνυται. Platon: Timaios: 60b6–61c2 Platonis Opera IV, hg. v. John Burnet, Oxford 1902.
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61a7−c2 Von den aus Erde und Wasser zusammengemischten Körpern gilt: Solange Wasser die verengten Zwischenräume der Erde besetzt hält, finden von außen eindringende Teile von Wasser keinen Eingang, sondern umfließen nur die ganze Masse, ohne sie aufzulösen. Feuerteile dringen dagegen in die leeren Zwischenräume des Wassers ein und wirken so auf es ein wie das Wasser auf die Erde. Feuer allein ist die Ursache, die den zusammengesetzten Körper zur Auflösung und zum Schmelzen bringt. Von diesen Zusammensetzungen enthalten die einen weniger Wasser als Erde; das sind alle Arten von Glas und sämtliche Formen von Stein, die man schmelzbar nennt. Die anderen Arten enthalten mehr Wasser als Erde; zu ihnen gehört alles, was die Konsistenz von Wachs oder Weihrauch hat. Übersetzung: Dorothea Frede
Kommentar Die Natur und ihre Gegenstände erfahren in Platons (428–348 v. Chr.) Dialogen nur wenig Aufmerksamkeit. Diese Vernachlässigung hat Methode. Denn für einen Philosophen, für den das wahre Wesen des Menschen in der unkörperlichen Seele liegt und der auch sonst das Wesen aller Dinge in ihrer intelligiblen Form (= Idee) sucht, liegt die Beschäftigung mit der materiellen Natur und ihren Gegenständen fern. So lässt Platon seinen Sokrates erklären, dass Landschaften und Bäume ihn nichts lehren können, sondern nur die Menschen das tun (Phaidros 230d), und dass er überhaupt in naturwissenschaftlichen Erklärungen keinen Sinn zu sehen vermag (Phaidon 96a–97b). Die einzige Ausnahme, was die Natur angeht, der auch die merkwürdige Erklärung der verschiedenen Arten von Steinen als Formen von Erde entstammt, ist Platons Timaios. Er gehört nach allgemeiner Meinung zum Spätwerk, zu den Dialogen, in denen Sokrates (mit einer Ausnahme) nicht mehr der Gesprächsführer ist. Auch innerhalb des Spätwerks nimmt der Timaios aber eine Sonderstellung ein, und dies nicht nur seiner Konzentration auf die Natur wegen. Er ist nämlich gar kein Dialog, sondern ein Monolog und war ursprünglich als der erste Teil einer Trilogie gedacht. Denn am Anfang des Timaios bittet Sokrates seine drei Gäste, Timaios, Kritias und Hermokrates, denen er zuvor seine
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Vision von einem Idealstaat präsentiert hat, wie man ihn aus Platons Politeia kennt, ihm zu einer besseren Vorstellung darüber zu verhelfen, wie ein solcher Staat in Wirklichkeit funktionieren könnte. Den Anfang soll Timaios machen, der als ein „in der Astronomie und jeder Wissenschaft über die Natur des Alls“ umfassend bewanderter Staatsmann aus Lokroi in Unteritalien vorgestellt wird. Er soll über die Entstehung des Kosmos „bis hin zur menschlichen Natur“ (Ti. 27a) sprechen. Danach verspricht Kritias zu zeigen, wie ein sokratischer Staat sich in der Wirklichkeit bewährt. Dazu will er die Geschichte erzählen, wie sich das ideale UrAthen vor über 9000 Jahren erfolgreich gegen den Angriff der Übermacht Atlantis, eines Inselreiches im Atlantik, verteidigt hat. Sieger und Besiegte sind jedoch anschließend von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden, die Atlantis im Ozean versinken und Ur-Athen verwüstet zurückließ. Die Erzählung der Geschichte von Atlantis, die bis heute immer wieder Gegenstand von Spekulation ist, bricht nach 15 Seiten ab. Welches Thema der Dritte im Bunde, Hermokrates, ein Staatsmann und Feldherr aus Sizilien, behandeln sollte, wird nicht näher spezifiziert. Vielleicht sollte er eine Beschreibung der Wiedererstehung der Kultur nach der Katastrophe liefern. Warum diese Trilogie ein Torso geblieben ist, wissen wir nicht. Für das Verständnis des Timaios ist der politische Hintergrund aber nicht unwichtig. Denn die Erklärung der Entstehung der Welt stellt eine Art Ouvertüre zur Erfüllung der Bitte des Sokrates dar: Der Erörterung der politischen Fragen soll eine Erklärung der Natur des Kosmos vorangehen, die zeigt, dass die Welt ein guter Ort ist, d. h. dass sie auf einer sinnvollen Ordnung beruht, die auch den Menschen mit Leib und Seele einschließt. Timaios schildert dazu die Erschaffung der Welt durch einen ‚göttlichen Handwerker‘ (demiourgos), der sich an einem nur durch den Geist zu fassenden Vorbild orientiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst der Himmelsordnung: die Gestirne bewegen sich auf konzentrisch um die Erde geordneten komplexen Kreisbahnen, zu denen der Mathematiker und Astronom Eudoxos anscheinend das mathematische Modell geliefert hat. Die auf mathematischen Verhältnissen beruhende Ordnung bleibt aber nicht auf den Himmel beschränkt. Vielmehr geht Timaios auch auf die Verhältnisse auf der Erde ein, d. h. auf die Sphäre des Werdens und Vergehens, auf die Natur von Menschen, Tieren und Pflanzen und sogar auf die Beschaffenheit der unbelebten Dinge, die nach der damals weithin akzeptierten Vorstellung aus vier Elementen bestehen, aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Zu ihrer Erklärung entwirft Timaios eine Theorie, wonach die Elemente geometrisch strukturierte regelmäßige Gebilde sind. Sie haben die Struktur von vier der fünf regelmäßigen sog. platonischen Körper, deren Konstruktion sich Platons Freund und Mitarbeiter an der Akademie, Theaitetos, verdankt: Das Feuer besteht aus Tetraedern (Pyramide), die Luft aus Oktaedern (Achtseitern), das Wasser aus Ikosaedern (Zwanzigseitern), die Erde aus Quadraten (Würfeln). Der aus regelmäßigen Fünfecken bestehende Dodekaeder (Zwölfseiter) findet auf der Elementarebene keine Verwendung, sondern wird der Gestalt des Universums als Ganzer zugeordnet. Die vier regelmäßigen Körper sind aber keine Atome, d. h. keine unteil-
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baren Gebilde, sondern sie sind ihrerseits aus Dreiecken zusammengesetzte Partikel. Diese Struktur erlaubt nicht nur die Kombination von größeren und kleineren Elementarkörpern mit unterschiedlich großen Seitenwänden, sondern auch die Auflösung und Rekombination der Seiten, so dass sich drei der vier Elemente ineinander verwandeln können: aus FeuerPartikeln können Luftpartikel, aus Luftpartikeln können Wasserpartikel werden. Nur die Seiten der Erde lassen sich nicht zu Partikeln der anderen Elemente zusammensetzen. Eine Erklärung der stofflichen Eigenschaften dieser Elementarkörper, die ja rein geometrische Gebilde sind, liefert Platon nicht. Er lässt offen, welche Konsistenz und welches Gewicht die Partikel haben oder welche Kräfte sie zusammenhalten. Vielmehr begnügt er sich mit einer Beschreibung der Kombinier- und Trennbarkeit dieser geometrischen Gebilde. Darauf beruht auch die Erklärung der verschiedenen Formen von Erde, ihrer Eigenschaften und ihrer Veränderungen. Die elementaren Partikel, die in Mischungen auftreten, können nämlich wie folgt aufeinander einwirken: Feuer- und Luftpartikel sind spitz und scharfkantig, können also leicht größere Gebilde in ihre Teile aufteilen wie auch größere Dreiecke in kleinere zerlegen. Die so zerteilten Partikel können sich dann zu neuen Formationen zusammenfinden. Auch die größeren Wasser- und Erdpartikel können auf andere Formationen einwirken; sie tun das vor allem durch Druck. Fragt man sich nach dem Sinn dieser phantastisch anmutenden platonischen Elementarlehre, so ist zu sagen, dass sie als solche ein reines Gedankenkonstrukt ist. Dieses Kon strukt beruht auf Platons Überzeugung, dass es auch auf der Ebene des Elementaren, der Sinneswahrnehmung nicht Zugänglichen, Regelmäßigkeiten gibt – und dass diese Regelmäßigkeiten auf geometrischen Strukturen beruhen. Wenn Platon gleichwohl seine Elementarlehre mit für ihn ungewöhnlicher Ausführlichkeit darlegt, so weil ihm daran gelegen ist, nicht nur Erklärungen für die große Vielfalt der empirisch bekannten physikalischen Phänomene zu geben, sondern auch für die Regelmäßigkeit, die sich bei natürlichen Prozessen trotz ihrer ungeheuren Vielfalt beobachten lässt. Er will zeigen, dass die scheinbar chaotischen Veränderungen zwar auf komplexen, aber gleichwohl auf geordneten Verhältnissen beruhen, die sich letztlich sämtlich auf dieselben geometrischen Verhältnisse zurückführen lassen. Eben dies will Platon plausibel machen, indem er die verschiedenen Manifestationen der vier Elemente erörtert, also die verschiedenen Arten von Feuer, Luft, Wasser und Erde. Diese Darstellung ist übrigens auch für die platonische Metaphysik von Vorteil: Er kann so eine ‚Ideenin flation‘ vermeiden, weil er keine Ideen, d. h. intelligible Vorbilder, für sämtliche Arten physikalischer Gegenstände annehmen muss, sondern sie auf mechanische Umformungen zurückführen kann, und damit eine Lösung für ein Problem hat, das den jungen Sokrates im Dialog Parmenides in Verlegenheit gesetzt hat: ob es nicht nur Ideen von Feuer und Wasser, sondern auch von Haaren, Schmutz oder Kot gibt (Parm. 130c−d). Diese Probleme erklären also, warum Platon hier auf Fragestellungen eingeht, um die er sich sonst nie gekümmert hat. Den Abschluss dieser Elementarlehre macht das oben angeführte Textstück über die verschiedenen Formen von Erde. Erde verwandelt sich zwar nicht in die drei anderen Ele-
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mente, diese wirken aber durch Mischung bei der Entstehung der verschiedenen Formen von Erde ein, zu denen auch die Steine gehören. Dem Kommentar zu den Einzelheiten ist vorwegzunehmen, dass die vier Elemente von Natur aus verschiedene Orte im Universum einnehmen: Als das leichteste Element steigt das Feuer auf und bildet die oberste Schicht, unter ihr liegt die Luft, die dritte Ebene gehört dem Wasser, die unterste der Erde, als dem dichtesten und daher schwersten Element. Wie (nahezu) alle Naturphilosophen der Antike war auch Platon ‚Geozentriker‘, hat also die Erde als das Zentrum der Welt angesehen. Da die materielle Welt aber stets in Bewegung ist, kommt es zu Mischungen verschiedenster Art unter den Elementen, und eben dies erklärt die Vielfalt körperlicher Gegenstände. Zu 60b6−c7: Eine Mischung aus Erde und Wasser wird zu Stein, wenn die Wasserteile sich auflösen und in Luft umwandeln, d. h. vermutlich unter Hitzeeinwirkung verdampfen. Die darüber befindliche verdrängte Luft übt ihrerseits Druck auf die Erde aus und presst sie zusammen, so dass Erde die Zwischenräume füllt, die durch das verdampfte Wasser entstanden sind. − Dass komprimierte Luft erheblichen Druck ausübt, war den Griechen nicht nur durch Phänomene wie Wind und Erdbeben vertraut, sondern auch aus der Erfahrung mit luftgefüllten Behältern, die dem Druck von außen Widerstand leisten. In zusammengepresste Erde kann Wasser nicht mehr eindringen; die so verdichtete Erde ist zu Stein geworden. Mit den „schönen Formen“ von Stein sind Kristalle und andere Edelsteine gemeint, von denen Platon annimmt, dass sie ihre Durchsichtigkeit und Schönheit der harmonischen Anordnung und Homogenität ihrer Partikel verdanken. Zu 60c7−d4: Das Töpfern und Brennen von aus Ton geformten Gefäßen war eine alte Kunst und gehörte zur Alltagserfahrung in Griechenland. Bei der zweiten Form befeuerter Erde handelt es sich um Lava, die durch Hitze glühend, in erkaltetem Zustand schwarz wird. Da die Erde als solche nach Platon durch Feuer nicht verflüssigt werden kann, muss glühende Lava Wasser enthalten. Metalle sieht Platon nämlich nicht als Formen von Erde an, sondern als unterschiedliche Formen von Wasser, weil ihre Natur in festen wie flüssigen Aggregats zuständen erhalten bleibt (58d−59d). Zu 60d4−e2: Dass Natron und Salz durch Wasserentzug hergestellt wurden, war allgemein bekannt. Denn Natron wurde vor allem aus Natron-Seen in Ägypten eingeführt. Salz wurde in Griechenland teils durch Austrocknen von Erde an Flussmündungen und flachen Küstenstreifen gewonnen. Es gab aber auch Steinsalz, das in Salinen abgebaut wurde. Sehr ergiebig waren diese Verfahren nicht, was die große Wertschätzung für das Salz erklärt. So erwähnt Platon im Symposion (177b), jemand habe eine Hymne auf das Salz verfasst, worauf er auch hier anspielt, wenn er vom „gottgeliebten Salz“ spricht. Zu 60e2−61a7: Dass die Konsistenz von Erde gewöhnlich weder durch Luft noch durch Feuer verändert wird, erklärt sich Platon damit, dass die kleinen Partikel (Tetraeder und Oktaeder) durch die Zwischenräume, die es in der Erde gibt, leicht durchdringen. Die Wasserpartikel sind dagegen groß (Ikosaeder) und lösen daher die Erde auf, d. h. sie machen sie zu Schlamm. Wie schon zu (1) angeführt, ist zusammengepresste Erde für das Wasser nicht
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angreifbar, weil Wasserpartikel von außen keinen Zugang haben. Auch die in verdichteten Mischungen befindlichen Wasser- und Luftpartikel sind nur durch Feuerpartikel auflösbar, weil sie spitz und scharf sind und daher auch die Elementarpartikel zerstören können. Zu 61a7−c2: Dass es auch verdichtete Mischungen aus Erde mit Wasser und Luft gibt, die nur durch Einwirkung von Feuer auflösbar sind, erklärt die Konsistenz von zwei weiteren gemischten Formen: Glas und Wachs. Bei ihnen sind die Zwischenräume in der Erde so verengt, dass Wasserpartikel von außen nicht eindringen können. Sie sind daher nicht wasserlöslich, wohl aber durch Feuer schmelzbar. Denn das Feuer kann in diese Mischung eindringen, weil seine Partikel so klein sind, dass sie in die Zwischenräume in der Mischung enthaltenen Wassers eindringen können und so die Mischung verflüssigen. Weil Glas mehr Erde als Wasser enthält, ist es fest, während bei Wachs das Verhältnis umgekehrt ist; es ist weich und lässt sich leicht verflüssigen. Wie man sieht, ist es Platon um eine umfassende Darstellung der Materie zu tun. Er tut dies, weil auch die menschliche Physiologie auf entsprechenden chemischen Bestandteilen beruht und sich so nicht nur die Wahrnehmungsorgane, sondern auch die Qualität der Wahrnehmungen erklären lassen. Denn darauf beruht auch das Zusammenwirken von Leib und Seele, d. h. die Thematik, welcher der abschließende Teil des Dialogs gewidmet ist. Zur Deutung von Platons Erklärungen ist darauf zu verweisen, dass er Timaios seine Darstellung des Kosmos als „wahrscheinliche Geschichte“ (eikôs mythos/logos) vorstellen lässt, die nur so kohärent ist, wie es Menschen möglich ist (Ti. 29c–d). Schon Platons Schüler waren sich uneins darüber, ob diese Schöpfungsgeschichte wörtlich oder allegorisch zu verstehen ist. Diese Uneinigkeit besteht unter Platon-Kennern bis zum heutigen Tag. Und dies aus guten Gründen. Denn wie immer spricht Platon hier nicht im eigenen Namen, sondern lässt einen anderen sprechen – freilich einen Experten in der Astronomie und Naturwissenschaft. Dass materielle Gegenstände ihre Konsistenz den geometrischen Strukturen ihrer Elementarteile verdanken, ist eine solche wahrscheinliche Erklärung, die erlaubt, zugleich die Verschiedenheit wie auch die Gleichartigkeit natürlicher Gegenstände und ihrer Entstehung wie eben der von Steinen aus Erde zu erklären. Wie die Nachwelt Platons ‚Chemie‘ aufgenommen hat, d. h. die Erklärung der verschiedenen Formen von Feuer, Luft, Erde und Wasser, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Denn der Timaios hatte zwar von allen platonischen Dialogen weitaus den meisten Einfluss auf die Philosophie der Spätantike und des Mittelalters, dieser Einfluss galt aber wesentlich der Himmelsmechanik und der Geometrie der fünf platonischen Körper. An Erklärungen materieller Bedingungen hatten die Neuplatoniker kein Interesse, so wie sie überhaupt in der Schöpfungsgeschichte des Timaios eine allegorische Darstellung sahen. Das lateinische Mittelalter kannte ohnehin nur den ersten Teil dieses Dialogs. Denn die Übersetzung Ciceros hat nur einen Teil des Dialogs umfasst (27d–47d), d. h. sie enthält die Einleitung nicht und bricht am Ende der ersten Erklärung der Struktur der Seele ab. Auch die lateinische Übersetzung von Calcidius (3./4. Jahrhundert n. Chr.) bricht 53c ab, d. h. mit der Einführung der Dreiecke als
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den Konstituentien der vier Elemente. Auf die späteren Teile geht zwar der Arzt und Philosoph Galen (2. Jahrhundert n. Chr.) in einer zusammenfassenden Paraphrase ein (Compendium Timaei); sein Interesse gilt aber vor allem der menschlichen Physiologie, nicht der ‚Chemie‘. Der griechische Kommentar des Neuplatonikers Proklos (5. Jahrhundert) bricht mit der Erklärung der Natur der menschlichen Seele ab (44e). Auch das Interesse der Naturwissenschaftler der frühen Neuzeit am Timaios galt hauptsächlich der Astronomie. So hat sich Johannes Kepler nur ungern von der Sphärentheorie verabschiedet und die Planetenbahnen auf Ellipsen zurückgeführt. Zwar war sein Interesse an den fünf regelmäßigen Platonischen Körpern groß – er hat sie aber im Wesentlichen auf die Kosmologie angewendet und versucht, die Form des Universums mit ihrer Hilfe zu erklären. Die Atomisten der frühen Neuzeit haben nicht auf die mathematischen Strukturen Platons, sondern auf die Theorien der alten Atomisten zurückgegriffen, d. h. auf Leukipp, Demokrit und Epikur, die in den Atomen die unteilbaren Urbestandteile des Universums gesehen haben. Erst beim Aufkommen des Gedankens an eine Teilchenphysik hat Platons Timaios eine indirekte Rolle gespielt. So beschreibt Werner Heisenberg, wie er 1919 als Schüler während der Kämpfe um die Räterepublik in München auf dem Dach des Priesterseminars liegend Platons Timaios studiert hat und auf dessen Ausführungen über die Elementarkörper und ihre Konstruktion aus Dreiecken gestoßen ist. Die Theorie als solche, dass Atome aus Dreiecken bestehen sollen, sei ihm zwar als absurd erschienen, nicht aber die Vorstellung, dass es bei Atomen mit ‚mathematischen Dingen‘ zugehe, d. h. dass es im Elementaren eine auf Symmetriebeziehungen beruhende Ordnung gibt.1 Dorothea Frede 1
Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze, München 1969, S. 18–28.
Timaios
Sekundärliteratur
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Theophrast
Peri Lithōn 315–314 v. Chr. 1.1 Τῶν ἐν τῇ γῇ συνισταμένων τὰ μέν ἐστιν ὕδατος, τὰ δὲ γῆς. ὕδατος μὲν τὰ μεταλλευόμενα καθάπερ ἄργυρος καὶ χρυσὸς καὶ τἆλλα, γῆς δὲ λίθος τε καὶ ὅσα λίθων εἴδη περιττότερα, καὶ εἴ τινες δὴ τῆς γῆς αὐτῆς ἰδιώτεραι φύσεις εἰσὶν ἢ χρώμασιν ἢ λειότησιν ἢ πυκνότησιν ἢ καὶ ἄλλῃ τινὶ δυνάμει. περὶ μὲν οὖν τῶν μεταλλευομένων ἐν ἄλλοις τεθεώρηται· περὶ δὲ τούτων νῦν λέγωμεν.
1.1 Von den Stoffen, die in der Erde entstehen, bestehen die einen aus Wasser, die anderen aus Erde. Aus Wasser entstehen Metalle, wie Silber, Gold und die übrigen; aus Erde entstehen Steine sowie alle außergewöhnlichen Arten von Steinen und auch alle Formen von Erde selbst, die aufgrund der Farben, der Glattheit, der Dichte oder einer anderen Eigenschaft ungewöhnlich sind. Da die Metalle schon in anderen Werken untersucht worden sind, wollen wir jetzt über diese [die Steine] sprechen.
5.28 Αὕτη τε δὴ περιττὴ τῇ δυνάμει καὶ τὸ λυγγούριον· καὶ γὰρ ἐκ τούτου γλύφεται τὰ σφραγίδια καὶ ἔστι στερεωτάτη καθάπερ λίθος· ἕλκει γὰρ ὥσπερ τὸ ἤλεκτρον, οἱ δέ φασιν οὐ μόνον κάρφη καὶ φύλλα ἀλλὰ καὶ χαλκὸν καὶ σίδηρον ἐὰν ᾖ λεπτός, ὥσπερ καὶ Διοκλῆς ἔλεγεν. ἔστι δὲ διαφανῆ τε σφόδρα καὶ ψυχρά. βελτίω δὲ τὰ τῶν ἀγρίων ἢ τὰ τῶν ἡμέρων καὶ τὰ τῶν ἀρρένων ἢ τὰ τῶν θηλειῶν ὡς καὶ τῆς τροφῆς διαφερούσης, καὶ τοῦ πονεῖν ἢ μὴ πονεῖν, καὶ τῆς τοῦ σώματος ὅλως φύσεως, ᾗ ξηρότερον τὸ δ’ ὑγρότερον. εὑρίσκουσι δ’ ἀνορύττοντες οἱ ἔμπειροι· κατακρύπτεται γὰρ καὶ ἐπαμᾶται γῆν ὅταν οὐρήσῃ.
5.28 So wie diese [d. h. die Smáragdos] verfügt auch das Lyngoúrion über eine außergewöhnliche Wirkkraft. Denn es werden daraus auch die Siegel geschnitten und es ist sehr hart, genau wie Stein. Es verfügt nämlich wie der Bernstein über anziehende Kraft. Manche sagen, es zieht nicht nur Stroh und Laub an, sondern auch Kupfer und Eisen, wenn es dünn ist, so wie auch Diokles behauptete. Es ist sehr transparent und kalt. Die von wilden [Luchsen] erzeugten Steine sind besser als die von gezähmten, und die von Männchen sind besser als die von Weibchen, da es Unterschiede gibt sowohl in der Nahrung und in der ausgeübten oder mangelnden Bewegung, als auch in der ganzen Beschaffenheit des Körpers, die ihn trockener oder feuchter macht. Erfahrene Leute finden diese Steine, indem sie sie ausgraben.
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Denn wenn er [d. h. der Luchs] geharnt hat, bedeckt er es und häuft Erde darüber an. 5.30,5–5.31,2 καὶ ἄλλαι δὲ ὡς προείρηται πρότερον διαφορὰς ἔχουσαι καὶ συνώνυμοι πρὸς ἀλλήλας. τοῦ γὰρ σαρδίου τὸ μὲν διαφανὲς ἐρυθρότερον δὲ καλεῖται θῆλυ, τὸ δὲ διαφανὲς μὲν μελάντερον δὲ ἄρρεν. καὶ τὰ λυγγούρια δὲ ὡσαύτως, ὧν τὸ θῆλυ διαφανέστερον καὶ ξανθότερον. Theophrastus: De Lapidibus, hg. u. übers. v. David E. Eichholz, Oxford 1965, 1.1, S. 56; 5,28 u. 30–31, S. 66 u. S. 68.
5.30,5–5.31,2 Auch andere Steine, wie schon früher gesagt wurde, unterscheiden sich zwar voneinander, haben aber den gleichen Namen. Vom Sárdion wird nämlich die transparente rötlichere Art weiblich genannt, die transparente dunklere männlich. Auch bei den Lyngoúria verhält es sich ebenso; hier ist die weibliche Art transparenter und gelber. Übersetzung: Alessandro Musino
Kommentar Theophrast (Theophrastos von Eresos), 372/71 oder 371/70 v. Chr. auf der Insel Lesbos geboren, gilt als bedeutendster Schüler des Aristoteles. Als sich Aristoteles in seinem letzten Lebensjahr 323 nach Chalcis zurückzog, folgte ihm Theophrast als Leiter der peripatetischen Schule (Lyzeum) in Athen, und wirkte dort bis zu seinem eigenen Tode 287/86.1 Diogenes Laertios (Vitae 5.36) lobt Theophrast als „überaus fleißig“ (philoponōtatos) und erwähnt 225 Schriften (darunter sechs vermutliche Dopplungen) unter seinem umfangreichen Werk. Unter den Hauptwerken haben sich lediglich zwei botanische Abhandlungen, Historia Plantarum (Pflanzenkunde) und De Causis Plantarum (Über die Ursachen der Pflanzen), sowie die Charaktere erhalten. Weitere Schriften umfassen die Abhandlungen Über Schwindelanfälle, Über den Schweiß, Über Ermüdungserscheinungen, Über die Gerüche und Über Wetterzeichen.2 Theophrast verfasste die kurze Abhandlung Peri Lithōn (Über die Steine) um 315–314.3 Dem Text kommt besondere Relevanz zu, da es sich dabei wohl um die erste „wissenschaftliche“ Abhandlung zur Mineralogie in der Antike handelt. Die Beschäftigung mit Steinen, Mineralien und anderen Objekten der Erscheinungswelt erfolgte in der Antike als Teil der Naturphilosophie (Physik). Die Einleitung und der grundlegende Aufbau der Abhandlung machen deutlich, dass Über die Steine auf eine grundlegende philosophische Herleitung der Entstehung von Steinen und Erden abzielt, wobei die entsprechende Theoriebildung4 in verkürzter Weise dargelegt wird (1–3). Daraus ergibt sich, dass die konkreten Erklärungen zu den jeweiligen Qualitäten und Fundorten von Steinen eher als Beispiele für die übergeordnete Theorie zur Entstehung der Mineralien zu verstehen sind. Das Werk strebt somit weder einen vollständigen Katalog aller seinerzeit bekannten Steine noch eine methodisch fundierte,
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ausführliche oder genaue Beschreibung an, wie man sie zunächst wohl von einem mineralogischen Handbuch erwarten würde. Diese selektive Herangehensweise wird besonders deutlich im Vergleich mit den Steinbeschreibungen des Plinius d. Ä., der im 37. Buch seiner Naturalis Historia mindestens zehnmal so viele verschiedene Steinarten wie Theophrast aufführt und zudem (in Nat. Hist., I) auch eine Auflistung seiner griechischen Quellen wiedergibt, unter denen einige noch älter als Theophrast sind.5 Auch die einzig erhaltene Quelle zu Steinen zwischen Theophrast und Plinius, die Lithika des Epigrammatikers Poseidippos von Pella aus dem 3. Jahrhundert, informiert im Gegensatz zu Theophrast überaus detailliert über Farben, Herkunft und Bezeichnungen der Steine und ergänzt die bislang erwähnten Arten zudem um einen weiteren Stein, den drakonitis.6 Im Aufbau von Über die Steine können wir drei Abschnitte mit verschiedener Länge unterscheiden: I) eine kurze Einführung zur Entstehung von Steinen und Erden, welche die theoretischen Grundlagen für die gesamte Abhandlung schafft (1–3), II) Informationen zu den Steinen und ihren jeweiligen Eigenschaften (3–47) und III) Informationen zu den Erden und ihren Eigenschaften, im Fokus stehen insbesondere die jeweiligen Farben (48–69). Das zugrundeliegende theoretische Konzept der Abhandlung bedingt die Unterscheidung zwischen Steinen einerseits, Erden anderseits. Innerhalb dieser beiden Abschnitte werden die Materialien und die genannten Beispiele oftmals im Hinblick auf die jeweiligen Nutzungsmöglichkeiten durch den Menschen diskutiert. Interessant ist nun, dass dies vor allem auch deren Verwendung in den Künsten umfasst, etwa als gravierte Gemmen und als Pigmente für die Bildkunst. In einer Passage zur Gewinnung von Zinnober in Über die Steine 8,60 wird diese enge Verknüpfung von Natur und Kunst besonders deutlich: „Aus diesen Beispielen wird klar, dass die Kunst die Natur nachahmt, aber ihre eigenen (Substanzen) kreiert, einige für ihre Nützlichkeit, einige nur für ihr Erscheinungsbild, wie die Farben.“7 Im Abschnitt zu den Steinen geht es dem Verfasser zunächst um a) einen Überblick zu ihren verschiedenen Qualitäten und Eigenschaften mit zahlreichen Beispielen. Neben den nachfolgend erwähnten äußeren Erscheinungsformen unterscheiden sich Steine von den Erden aufgrund ihrer Fähigkeit, auf andere Substanzen einzuwirken respektive durch diese mehr oder minder beeinflusst zu werden (4–8); b) Steine wie u. a. Bimsstein, die in unterschiedlichem Ausmaß auf Feuer reagieren (9–22); c) Steine, die graviert und als Siegelsteine verwendet werden: hierzu zählen auch die hier aufgrund ihrer besonderen Anziehungskräfte diskutierten Steinsorten Bernstein und magnetis, welche ebenfalls graviert werden können (23–38); d) Steine, die im Bergbau gewonnen werden (39–40); e) schließlich wird die Bearbeitung von Steinen mithilfe von anderen Steinen und Eisen und der „Prüfstein“ zum Testen von Gold vorgestellt (45–47). Der Abschnitt zu den Erden folgt diesem Schema: im einführenden Überblick zu Erden und ihren jeweiligen Eigenschaften geht es auch hier, wie im Falle der Steine, zunächst wieder v.a. um die Auswirkung von Hitze auf die Materialien (48–50). Danach werden im Bergbau gewonnene Erden vorgestellt, welche als Pigmente für die Malerei genutzt werden (50–60). Abschließend diskutiert Theophrast Gips und andere abgebaute
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Erden, die sich zwar nicht als Pigmente eignen, aber in anderen Bereichen wie der Textilproduktion und der Baukunst Verwendung finden (61–69). Wenn auch nicht in systematischer Weise für alle Steine durchgespielt, verwendet Theophrast hier wohl erstmals „technische“ Termini zur Beschreibung der wichtigsten spezifischen Eigenschaften von Steinen und Mineralien: diese umfassen Farbe (chrōma), Glattheit (leiotēs, to leion), Weichheit (malakotēs), Härte (sklerotēs), Festigkeit oder Bruchfestigkeit (pyknotēs, to pyknon), Glanz (stilpnon), Transparenz (to diaphanes), Zähflüssigkeit (glischrotēs) und Reinheit (katharos). Diese Kategorisierungen finden wir mit geringfügigen Abweichungen in den nachfolgenden antiken und mittelalterlichen Lapidarien. Bis heute stellen diese Ordnungsprinzipien die Grundlage der modernen Mineralogie dar und können somit als der zentrale Beitrag von Theophrast für die Auseinandersetzung mit Mineralien gelten. Als erster entwickelt er eine (später auch bei Plinius d. Ä. in Buch 37 der Naturalis Historia tradierte) Taxonomie, welche Edelsteine mit geringfügigen Unterschieden in Farbe und Glanz als jeweils männliche und weibliche Ausprägung des gleichen genus versteht. Die weiblichen Steine werden hierbei als zumeist blasser und transparenter vorgestellt (vgl. 5.31 zum lyngourion in der oben ausgewählten Passage). Diese Vorstellung stammt wohl von der genauen Beobachtung und der Zusammenstellung von Studien- und Vergleichsexemplaren, welche in den Kreisen der Peripatetiker stets hochgehalten wurde. Ähnlich wie in den beiden botanischen Abhandlungen von Theophrast kann auch in Über die Steine der umfassende geographische Referenzrahmen als Widerhall der Eroberungszüge von Alexander dem Großen verstanden werden: Ägypten, der persische Golf, Armenien, Kappadokien, Indien, Syrien und Phönizien sind nur einige der behandelten Fundorte von Steinen und Erden in dieser Schrift. Spätere Autoren zeigten zunächst wenig Interesse an Theophrasts theoretischen Überlegungen zur Entstehung der Steine: seine Gedanken hierzu wurden erst bei Ibn Sīnā (= lat. Avicenna, ca. 980–1037)8 und beim „Vater der Mineralogie“ in der deutschen Renaissance, bei Georg Agricola, wieder aufgenommen.9 Gleichwohl nutzen Plinius d. Ä. und viele andere Verfasser Theophrast als unerschöpfliche Quelle für Fakten und Begrifflichkeiten.10 Wellmann schlug vor, dass Plinius Abschriften in anderen Textquellen zur Auseinandersetzung mit Theophrast genutzt habe; diese Annahme kann jedoch nicht erklären, wieso Über die Steine selbst erhalten blieb, während zahlreiche von Theophrasts weiteren Schriften verloren gingen.11 Wahrscheinlich wurde der Text stetig tradiert und somit gesichert, da er als zu bedeutsam für eine Aufnahme in Textsammlungen eingeschätzt wurde, was vermutlich zu seinem Verlust geführt hätte. Wenngleich die Abhandlung als eigenständige Schrift gilt,12 wird in der ersten ausgewählten Quellenpassage aus der Einführung deutlich, dass Theophrast sie in einem größeren Werkzusammenhang versteht. Steine und Erden werden den Metallen gegenübergestellt und eine zweite Abhandlung zu Metallen, wohl die verlorene Schrift De Metallis (Über die Metalle), findet Erwähnung.13 Auch mit der Abhandlung De Igne (Über Feuer) bestehen thematische Überschneidungen: so werden leicht entflammbare Steine sowohl in Über die Steine
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2.9–22 als auch in Über Feuer 46 behandelt. Die grundlegenden physikalischen Theorien zur Aufspaltung, Versteinerung und Auflösung von Steinen (Über die Steine 1.2–3) wurden von Theophrast wohl auch in weiteren seiner (bei Diogenes Laertios aufgelisteten) Werke diskutiert: Peri Ekkriseōs (Über Sekretion) (Vitae Philosophorum 5.46), Peri Pēxeōn kai Tēxeōn (Über Erstarrung und Auflösung) (Vitae Philosophorum 5.45) und Peri Thermou kai Psychrou (Über Wärme und Kälte) (Vitae Philosophorum 5.44). Theophrast war nicht der erste, der sich mit derartigen Fragen auseinandersetzte. Während er seine Quellen (bis auf in 5.28), nicht namentlich ausweist, machen häufige Referenzen zu bekannten Meinungen und Auffassungen (etwa in 2.9: οἱ δὲ καὶ ὅλως λέγουσι, „einige (Leute) sagen sogar“, 2.11: φασὶ δὲ καί „aber manche behaupten“ und 3.19: δοκεῖ τισι „einige glauben“) deutlich, dass er sehr belesen war und seine Quellen dabei durchaus kritisch betrachtete: so hinterfragt er, εἴπερ ἀληθές „ob es denn wirklich wahr ist“, dass Steine andere Steine gebären könnten und vermerkt, dass es sich bei der Aussage, dass alle Steine schmelzen, um eine maßlose Übertreibung handele (2.10). Derartige Aussagen zeigen, dass er alle fantastischen Dinge mit einer gehörigen Skepsis betrachtete und Verallgemeinerungen ablehnte. Andererseits scheint er aber überzeugt davon, dass die smaragdos Wasser färben können (1.4) und dass das lyngourion aus dem Urin eines Luchses stamme (5.28). Als Movens und theoretischen Ausgangspunkt für Über die Steine können wir die abschließenden Bemerkungen von Aristoteles in Meteorologica 3.6 (=378a19ff.) verstehen, in denen dieser in verkürzter Form die Entstehungsprozesse von Mineralien und Metallen darlegt und eine weiterführende Auseinandersetzung hiermit in Aussicht stellt.14 In Meteorologica 4 geht es jedoch um gänzlich andere Fragen zur Feuchtigkeit und zur Verfestigung von Substanzen. Bereits die antiken Aristoteles-Kommentatoren Alexander von Aphrodisias (179.3) und Olympiodoros (273.21) halten fest, dass Theophrast Über die Steine und Über die Metalle verfasst habe, um diese Lücke im Werk des Aristoteles zu schließen. Theophrast kann somit als Vertreter der aristotelischen Tradition verstanden werden; dafür spricht, dass auch die Schrift Liber De Lapidibus, welche auf Lateinisch und Arabisch unter dem Namen des Aristoteles verbreitet wurde, lange Zeit nicht als ursprünglich angesehen wurde und verschiedentlich ins 6. oder 9. Jahrhundert n. Chr. datiert wurde.15 Während Theophrast seine Theoriebildung von Aristoteles übernimmt, anstatt eine eigene zu entwickeln, so ist seine Bezugnahme auf Aristoteles zugleich unabhängig und kritisch: in der oben ausgewählten Passage etwa betont er explizit, dass alle Steine aus Erde bestehen würden, wohingegen Aristoteles (Met. 4, 389a8–9) angibt, dass einige Steine aus Wasser bestehen.16 Theophrast stellt sich außerdem explizit gegen die Überlegung von Aristoteles, dass alle abgebauten Erden Farbpuder seien (Met. 3.6) und gibt stattdessen an, dass einige Erden aus Sand oder Erde bestehen würden (7.40).17 In der oben zitierten Quellenpassage aus der Einleitung verwendet Theophrast die aristotelischen Begriffe physis und dynamis zudem in einem offenen Sinnzusammenhang: unklar bleibt, ob dynamis (1.1) sich auf die zuvor als Beispiele erwähnten physischen Eigenschaften bezieht oder ob weitere Bedeutungsschichten wie „Qualität“ oder „Fähigkeit“ hier-
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mit gemeint sind (so die Übersetzung von Eichholz). Als „Fähigkeit“ aufgefasst wird das Konzept sicherlich in 4.1., wo Theophrast den Begriff dynamis verwendet, wenn er über die Fähigkeit von Steinen spricht, auf andere Substanzen einzuwirken bzw. durch diese beeinflusst zu werden. Beim lyngourion handelt es sich um einen sagenhaften Stein aus dem Reich der Phantasie: in der Antike war lediglich beim Bernstein die Eigenschaft bekannt, durch Reibung und elektrostatische Aufladung Substanzen wie z. B. Stroh anziehen zu können. Lyngourion wird in der Beschreibung lediglich mit einem Stein verglichen, d. h. es handelt sich dabei nicht wirklich um einen Stein.18 In einer nachfolgenden Passage (5.29) wird diese Eigenschaft auch für den Bernstein (ēlektron) erwähnt, wiederum jedoch ohne den Verweis auf die notwendige Reibung. Über den Bernstein heißt es, dass er im norditalienischen Ligurien gewonnen werde, in dieser Region sind allerdings keine derartigen Vorkommen bekannt. Tatsächlich handelt es sich wohl um Importware aus dem Ostseeraum. Über den Ursprung der Idee, dass lyngourion aus dem Urin wilder Luchse gewonnen wird, ist nichts bekannt. Spätere Texte greifen diese Vorstellung auf;19 Plinius etwa (Naturalis Historia XXXVII, 52) wiederholt die Idee und kann nicht mit Sicherheit sagen, um wen es sich beim erwähnten „Diokles“ handelt. Dieser lässt sich mit Diokles von Karystos identifizieren, einem berühmten Arzt des 4. Jahrhunderts v. Chr. Für seine Schriften zu Nieren und zum Harntrakt war der sagenhafte Stein lyngourion womöglich von großem Interesse:20 möglicherweise überlagern sich Wissensbestände über die als Nierensteine bekannten mineralischen Ablagerungen im Harntrakt mit der Erzählung über den wundersamen Ursprung in den wilden Luchsen, um dadurch die verschiedenen Bernsteinarten zu erklären? Sanne Rishøj Christensen Übersetzung: Isabella Augart und Franziska Weise
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Die umfassendste Quelle zur Biographie von Theophrast bietet Diogenes Laertios, Vitae Philosophorum 5.36–58. Dieser Text (= fr. 1) und weitere Quellen finden sich bei William W. Fortenbaugh, Pamela M. Huby, Robert W. Sharples u. Dimitri Gutas (Hg.): Theophrastus of Eresus. Sources for his Life, Writings, Thought and Influence, Leiden, New York/Köln 1992, Bde. 1–2. Diogenes Laertios, Vitae 5.36 vermerkt, dass Theophrast die Nachfolge des Aristoteles zur Zeit der 114. Olympiade übernommen habe. Nach David Sider u. Carl Wolfram Brunschön (Hg.): Theophrastus of Eresus On Weather Signs, Leiden/Boston 2007, S. 42–43 ist die erhaltene Schrift eine stark verkürzte Fassung von Theophrasts ursprünglichem Text. Die Datierung des Werkes basiert textimmanent auf einer Passage in Peri Lithon Kap. 59. Theophrast gibt an, dass das Verfahren zur Gewinnung von Zinnober keineswegs alt sei: οὐ παλαιὸν δ’ ἐστὶν ἀλλὰ περὶ ἔτη μάλιστ’ ἐνενήκοντα εἰς ἄρχοντα Πραξίβουλον Ἀθήνησι, „[Die Prozedur] ist keineswegs alt, nicht mehr als neunzig Jahre bevor Praxiboulos Archon in
Peri Lithōn Athen war.“ Praxiboulos war von 315 bis 314 v. Chr. (= 116. Olympiade nach Diodorus Siculus, Bibliotheke 19.55.1) Archon in Athen, dies kann somit als terminus post quem gelten. Vgl. David E. Eichholz: Theophrastus De Lapidibus, Oxford 1965, S. 8–12, der sich darin gegen das von Werner Jaeger: Diokles von Karystos, Berlin 1938, S. 116–133 zunächst entwickelte, später hingegen abgelehnte Argument einer Datierung nach 300 v. Chr. ausspricht. 4 Grundlegend zu dieser Theorie und ihrer Einschätzung Eichholz 1965, S. 15–38. 5 Theophrastus: On Stones, hg., übers. u. komment. v. Earle Radcliffe Caley u. John F. C. Richards, Columbus 1956, S. 9. 6 Vgl. zu Poseidippos von Pella den Beitrag von Sanne Rishøj Christensen in diesem Band. 7 φανερὸν δ’ ἐκ τούτων ὅτι μιμεῖται τὴν φύσιν ἡ τέχνη, τὰ δ’ ἴδια ποιεῖ, καὶ τούτων τὰ μὲν χρήσεως χάριν τὰ δὲ μόνον φαντασίας ὥσπερ τὰς ἀλοιφάς. Die (leicht veränderte) Übersetzung folgt Eichholz 1965, S. 81. 8 Fernand de Mély: Les lapidaires de l’Antiquité et du moyen âge, Paris 1902, Bd. 3, xxxv–xlvi zu Theophrast und Avicenna; diese Position wird angezweifelt bei Eichholz 1965, S. 7–8, n. 2. Vgl. ferner Avicennae: De congelatione et conglutinatione lapidum, hg. v. Eric J. Holmyard u. Desmond C. Mandeville, Paris 1927. 9 Georgius Agricola, De Re Metallica Libri xii (Basel 1556 posthum); ders., De Ortu et Causis Subterraneorum (Basel 1546), iii, S. 508. 10 Vgl. Eichholz 1965, S. 14–15 für eine Auflistung von diesbezüglichen Aussagen bei Plinius d. Ä. sowie S. 7–8 zum Einfluss von Theophrast. 11 Max Wellmann: Die Stein- und Gemmenbücher der Antike, in: Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 4/1935, S. 86–149. 12 Eichholz 1965, S. 12–15 bewertet Über die Steine als weitgehend abgeschlossen. Vgl. ausführlicher zu der weder von Eichholz noch bei Caley u. Richards 1956, S. 4 diskutierten Frage, inwieweit es sich bei dem Text um die persönlichen Vortragsnotizen von Theophrast selbst oder Unterlagen eines Schülers handelt, meine kommentierte Edition von Theophrasts De Lapidibus in Brills Serie „Opuscula Minora“ (im Erscheinen). 13 Eine zweibändige Schrift unter dem Titel De Metallis (Über die Metalle) wird bei Diogenes Laertios, Vitae 5, 44. 131 erwähnt. Nachfolgende Quellen geben verschiedene Titel (darunter auf Griechisch: Peri Metallon oder Peri Metalleuomena) wieder, vgl. hierzu William W. Fortenbaugh, Huby, Sharples u. Gutas 1992, nos. 197A–205. 14 Vgl. Eichholz 1965, S. 3. 15 Vgl. KIP 1969, Bd. III, S. 682, s. v. „Lithika“ (C. Zintzen). Vgl. zum Text Julius Ruska: Das Steinbuch des Aristoteles, Heidelberg 1912. Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam [Handbuch der Orientalistik, I.VI.2], Leiden 1972, S. 109–110 und Mauro Zonta: Pseudo-Aristote, De lapidibus, in: Richard Goulet (Hg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Band Supplément, Paris 2003, S. 652–654, hier S. 652 vermuten dagegen eine Entstehung in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts n. Chr. 16 Zu Theophrasts Kritik an Aristoteles vgl. Geoffrey E.R. Lloyd: Greek Science after Aristotle, New York 1973, S. 9–15. Zur Bewertung von dessen Meteorologie vgl. Eichholz 1965, S. 4–5 u. S. 18 n. 4. 17 Vgl. Eichholz 1965, S. 47. 18 Vgl. Caley u. Richards 1956, S. 109–113 für eine ausführliche Diskussion.
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Theophrast 19 Hierbei handelt es sich um ein Missverständnis von Pedanios Dioskurides (um 40–90 n. Chr), De Materia Medica, 2.100. 20 Siehe hierzu Galen, De Naturalibus Facultatibus 1.13.
Poseidippos von Pella
Lithika
um 280/270 v. Chr. Nr. 14 εὖ τὸν Πήγαϲον ἵππον ἐπ’ ἠερόεϲϲαν ἴαϲπιν χεῖρά τε καὶ κατὰ νοῦν ἔγλυφ’ ὁ χειροτέχνηϲ· Βε λ̣ ̣ λ̣ ε [̣ ρ]ο ̣φ̣ό ̣ν̣τηϲ μὲν γὰρ Ἀλήϊον εἰϲ Κιλίκ ̣ω̣ ν γῆν 4 ἤριφ’, ὁ δ’ εἰϲ κυανῆν ἠέρα πῶλοϲ ἔβη, [ο]ὕ ̣ν̣ε ̣κ’ ἀη̣ νιόχητον ἔτι τρομέοντα χαλινοῖ ̣ϲ [ἵ]π̣ π̣ [ον γ’] αἰθερίωι τῶιδ’ ἐτύπωϲα1 λίθωι. Sehr schön schnitt der Künstler das Pferd Pegasos in dunkelschimmernden Jaspis mit Geschicklichkeit und Verstand: Denn Bellerophon war auf die Aleische Ebene bei den Kilikern 4 gestürzt, das Fohlen aber stieg hinauf zum schwarzblauen Himmel, und deswegen formte ich das Pferd vom Zügel befreit und noch zitternd vom Gebiss in diesem himmlischen Stein. Nr. 15 οὐ ποταμ⌋ὸϲ κελάδων ἐπὶ χείλεϲιν, ἀλλὰ δράκοντοϲ εἶχέ ποτ’ εὐπώγων τόνδε λίθον κεφαλὴ πυκνὰ φαληριόωντα· τὸ δὲ γλυφὲν ἅρμα κατ’αὐτο⌋ῦ2 τοῦθ’ ὑπὸ Λυγκείου βλέμματοϲ ἐγλύφετο 4 ψεύδεϊ χειρὸϲ ὅμοιον· ἀποπλαϲθὲν γὰρ ὁρᾶται ἅρμα, κατὰ πλάτεοϲ δ’ οὐκ ἂν ἴδοιϲ προβόλουϲ· ἧι καὶ θαῦμα πέλει μόχθου μέγα, πῶϲ ὁ λιθουργὸϲ τὰϲ ⌋ἀτενιζούϲαϲ οὐκ ἐμόγηϲε κόραϲ. 8 Nicht ein gegen die Ufer rauschender Fluss, sondern ein bärtiger Kopf einer Schlange hielt einst diesen Stein, den mit weißen Streifen dicht bedeckten. Und der darin eingeprägte Wagen, der wurde vom scharfen Blick des Lynkeus eingeschnitten, 4 dem weißen Fleck auf einem Fingernagel ähnlich. Denn eingeprägt sieht man den Wagen, auf der Oberfläche kannst du aber keine Vorsprünge erkennen.
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Poseidippos von Pella
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Deshalb ist auch das Erstaunen über die Leistung groß: Wie gelang es dem Steinschneider seine starrenden Augen nicht zu schädigen?
Nr. 17 ϲκέψαι ὁ Μύϲιοϲ οἷον ἀνερρίζωϲεν Ὄλυμποϲ τόνδε λίθον διπλῆι θαυμάϲιον δυνάμει ̣· τῆιδε μὲν ἕλκει ῥεῖα τὸν ἀντή〈ε〉ντα ϲίδη̣ ρον 4 Μάγνηϲ οἷα λίθοϲ, τῆ〈ι〉δε δ’ ἄπωθεν ἐλᾶι πλευρῆι ἐναντιοεργόϲ. ὅ καὶ τέραϲ ἐξ ἑν̣ὸ ̣ϲ ̣ ο ̣ἴου, πῶϲ δύο μιμ〈ε〉ῖται χερμάδαϲ εἰϲ προβολάϲ. Beachte was für einen Stein der Olympos in Mysien zu Tage gebracht hat, den Stein hier, bewundernswert durch zweifache Kraft; Mit einer Seite zieht er leicht das gegenüberliegende Eisen an, 4 wie ein Magnet, mit der anderen drängt er es weit zurück und schafft so mit der Seite entgegengesetzte Wirkung. Dies ist ein Wunder, das von ein und demselben ausgeht: wie er zwei Steine in der Antriebskraft nachahmt? Posidippus: On Stones: a new text with introduction and commentary, hg. u. übers. v. Sanne Rishøj Christensen (im Erscheinen) (Sozomena Studies in the Recovery of Ancient Texts), Nr. 14, Nr. 15, Nr. 17. Übersetzung: Alessandro Musino
Kommentar In der Antike war Poseidippos von Pella aus Mazedonien als Dichter und Epigrammatiker hochgeschätzt.3 Wenig ist über sein Leben bekannt, bislang wurde er meist mit zwei weiteren hellenistischen Epigrammatikern, mit Asklepiades von Samos und Hedylus von Samos, in Verbindung gebracht. Wiederholt wurden diesen beiden Dichtern auch seine Epigramme in der als Griechische Anthologie bekannten Sammlung griechischer Epigramme zugeschrieben.4 Belegt ist eine Tätigkeit in Alexandria um 280/270 v. Chr., so schuf er mehrere Weihe epigramme für dort entstandene öffentliche Bauten, welche vom höfischen Umfeld des ägyptischen Pharaos Ptolemaios II. Philadelphos finanziert wurden und sich eindeutig datieren lassen.5 Während auf Grund von antiken Quellen6 zunächst lediglich knapp 20 Epigramme (überwiegend mit Liebesthematik) Poseidippos zugeschrieben werden konnten, wurde sein Werk jüngst aufgrund einer 2001 in Mailand7 erfolgten Publikation einer Papyrusrolle aus dem späten 3. Jahrhundert v. Chr. wesentlich erweitert: dadurch ließen sich weitere 112 fragmentarisch erhaltene Epigramme mit Poseidippos von Pella in Verbindung bringen.8 Der Papyrus wies zudem mehrere neue epigrammatische Untergattungen auf; darunter fallen
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auch die ersten 20 Epigramme der Rolle, welche als zusammengehörige Dichtung unter dem Titel Lithika („Über Steine“) bekannt sind.9 Die Auseinandersetzung mit der Sammlung der Lithika macht deutlich, dass Edelsteine und Mineralien in griechischen Epigrammen im Hellenismus und in der Folgezeit ein beliebtes Thema darstellten und vielfach behandelt wurden. Epigramm-Sammlungen gruppieren derartige Gedichte zumeist unter thematischen Überschriften; auch die Griechische Anthologie (=AP) weist in den epideiktischen Epigrammen in Buch 9 vergleichbare Themenblöcke mit mehreren Epigrammen über Edelsteine auf.10 Während die Epigramme der Griechischen Anthologie jeweils einen Stein in einem Gedicht behandeln, werden in einigen Epigrammen der Lithika mehrere Steinsorten mit ähnlichen Eigenschaften innerhalb eines Gedichtes verglichen. Der „wolkenlose“ sardion in Nr. 8 „bringt Licht von unten hervor und besiegt den indischen anthrakes, wenn geprüft durch Strahlen von gleichem Licht“.11 In Texten von Theophrast bis hin zum persischen Dichter Rumi im 13. Jahrhundert wird wiederholt darüber berichtet, dass die Lichtdurchlässigkeit und die Farbe von Granaten und Rubinen geprüft werden können, indem sie gegen Sonnenlicht gehalten werden.12 Auch der Bergkristall in Nr. 16 müsse nicht wie Gold mithilfe eines „Prüfsteins“ (basanos) getestet werden, da er viel gewöhnlicher sei. Das exemplarische Aufzeigen vielfältiger Wissensbestände legt nahe, dass die Grundkonzeption der Epigramme einer didaktischen Funktion unterliegt. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine Versdichtung, welche sich auf ein bestehendes Prosawerk zurückführen lässt, wie dies etwa bei dem auf einer Schrift von Eudoxos von Knidos beruhenden berühmten Lehrgedicht Phaenomena des Aratos von Soloi der Fall ist. Die Lithika greifen zwar auf die früher entstandene Steinkunde De Lapidibus (Über die Steine) von Theophrast zurück, doch unterscheiden sie sich stellenweise in ihrem Inhalt, der Terminologie und in der Auswahl der Steine sehr von dieser Vorlage. Bis auf den „Schlangenstein“ (Nr. 15) begegnen uns alle in der Lithika erwähnten Steine auch bei Theophrast; womöglich nutzte Poseidippos hierfür einen weiteren Quellentext. Der Magnet wird in Nr. 17.4 nach seinem gleichnamigen mythischen Entdecker, Magnes, μάγνηϲ λίθοϲ „Magnetstein“ genannt, Theophrast spricht hingegen vom λίθος Ἡρακλεία „Herakleia-Stein“.13 Linguistische Feinheiten stützen die didaktische Textstrategie: die häufige Verwendung von deiktischen Äußerungen wie z. B. „dieser da“ und eine bildhafte Sprache sind typisch für ekphrastische Epigramme; die Gedichte in den Lithika nutzen zusätzlich eine poetische, gleichermaßen aber auch technische, Terminologie für die Abgrenzung und Kategorisierung von Steinen im Hinblick auf Farbe, Herkunft, Transparenz, Glanz, Größe, Bearbeitungsfähigkeit, Nutzen und ästhetische Wertschätzung. Exemplarisch zeigt sich dies in Nr. 5.1–2: Τιμάνθηϲ ἔγλυψε τὸν ἀϲτερόεντα ϲάπειρον/ τόνδε χρυϲίτην Περϲικὸν ἡμίλιθον/Δημύλῳ· „Timanthes schnitt den sternenfunkelnden sapeiros / den goldgleichen, persischen Halb-Stein / für Dēmylos“. Beim sapeiros handelt es sich um Lapislazuli, dieser Stein weist oftmals auch Einschlüsse von Pyrit („Narrengold“) auf. Während ἀϲτερόειϲ „sternenfunkelnd“ einen poetischen Gehalt aufweist, unterscheidet die hier verwendete Formulierung „sternenfunkelnder
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L apislazuli“ den Stein von der üblichen Ausprägung des blauen Steins ohne sichtbare Einschlüsse (dem im nachfolgenden Vers erwähnten kyanos „dunkelblauen Lapislazuli“, wonach die Empfängerin des Steines neologistisch als kyanothrix „mit blauschwarzen Haaren“ bezeichnet wird).14 In der nächsten Zeile wird diese Unterscheidung bei der Bezeichnung des chrysitēn hēmilithon „goldgleicher Halb-Stein“ weiterentwickelt: Lapislazuli sei demnach zur Hälfte Stein, zur Hälfte Gold aufgrund der Einschlüsse. In anachronistischer Weise übersetzt die editio minor den Neologismus hēmilithon als „Halbedelstein“,15 doch eine derartige Unterscheidung zwischen Edelsteinen und Halbedelsteinen war in der Antike gänzlich unbekannt! Als Fundort des Steines ist Persien treffend benannt, da in der Antike Badakshan im heutigen Afghanistan der einzige Abbauplatz für Lapislazuli war. Das Gebiet gehörte bis zu Alexanders Eroberungszügen zum persischen Reich und in Textbelegen bis ins 13. Jahrhundert findet (mutmaßlich aufgrund der ursprünglichen hellenistischen Quellengrundlagen) wiederholt der „Persische Lapislazuli“ Erwähnung.16 Neben Orts- und Gebietsbezeichnungen umfassen die Angaben zur Herkunft der Steine in Lithika insbesondere auch die Naturelemente: als Fundort präsentiert werden Flüsse (Nr. 1, Nr. 10), Berge (Nr. 16), das Meer (Nr. 11–12, Nr. 19–20) sowie alle drei dieser Elemente im Falle von xanthe (Nr. 7) und von Bergkristall (Nr. 16). In einem vergleichbaren kosmologischen Zusammenhang ist die häufige Erwähnung von Himmelserscheinungen in den Gedichten zu verstehen: Poseidippos spricht von den Sternen (Nr. 5.1), der Sonne (Nr. 7.6, der Stein lässt die Haut „erleuchten“, ϲυλλάμπει; Nr. 8.6 „Lichtstrahlen“; Nr. 9 „strahlen“; Nr. 13.4 „glänzt gegen die Sonne“; 16.6 „Sonne“), vom Mond (Nr. 4.3), Himmel (Nr. 14.1, Nr. 14.6 ἠερόεϲϲαν „himmlisch“ und αἰθερίωι „ätherisch“) und von Regenbogen (Nr. 6.2). Diese Äußerungen haben jedoch noch nichts gemein mit der konzisen Verknüpfung von spezifischen Steinen mit bestimmten Elementen oder Planeten, wie sie in nachfolgenden astrologischen Lapidarien wie im Kyranides betrieben wird. Die oben ausgewählten Gedichte Nr. 14 und Nr. 15 lenken den Fokus auf die visuellen Qualitäten der Steine und greifen in ihrer Beschreibung von Steinen als Kunstwerke auch Bedeutungsschichten der ästhetischen Wertschätzung auf. Nr. 14 preist einen Steinschneider nicht nur aufgrund seiner handwerklichen Fähigkeiten, sondern auch für seine Urteilskraft in der Auswahl eines besonders für die Gemmenkunst geeigneten Steines: dessen blaue Farbe suggeriert einen weiten Himmel, vor dem die geschnittene Figur des Pegasus zu fliegen scheint. Der iaspis begegnet hier in der von Dionysios von Alexandria in Periegesis tes oikumenes 724 als aeroessan bezeichneten Ausprägung; ähnlich sprach auch Plinius d. Ä. von dem „himmelsgleichen“ (aërizusa) Stein, seiner Naturalis Historia XXXVII,115 zufolge sei dieser Stein „wie der Himmel“ (aëri similem). Den iaspis kennzeichnet insbesondere seine Farbe, so wird in Nr. 14.4 betont, „das Fohlen aber stieg hinauf zum schwarzblauen Himmel“ (kyanos = dunkelblau) und Nr. 14.6 greift diesen Aspekt in der Formulierung des „himmlischen Steins“ auf. Er lässt sich wohl gleichsetzen mit dem blauen Chalzedon, einem in klassischer Zeit beliebten Siegelstein.17 Die Macht der Poesie spielt auch eine zentrale Bedeutung in diesem Gedicht. Das einzige Bild auf dem Stein zeigt den ungezähmten Pegasus. Hierbei handelt es
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sich um ein auf intaglio-Siegeln vielfach gewähltes Motiv, während dort Darstellungen des Helden Bellerophon auf dem Rücken des Pferdes nicht belegt sind. Somit gelingt es dem Dichter, die mythische Begebenheit von Bellerophons Sturz von Pegasus noch zu erweitern und sie gleich einem Bildausschnitt wiederzugeben, bei dem Bellerophon gewissermaßen aus dem Bilde fällt. Diese Ausstellung der naturalistischen Schilderung ist ein vorstechendes Merkmal von ekphrastischen Epigrammen. Der „Schlangenstein“ (gr. drakonitis) in Nr. 15 wird als „Wunder“ (thauma) bezeichnet. Dieser Begriff und verwandte Formulierungen (wie etwa teras „Wunder“ in Nr. 17.5) werden in den listenartigen Sammlungen wundersamer Begebenheiten (Paradoxographoi) in der Antike vielfach verwendet und begegnen uns auch wiederholt in der Lithika. Als besonders erstaunenswert wird dort gleichwohl nicht der Ursprung des Steines aus dem Schlangenkopf, sondern hingegen seine Wirkung auf den Sehsinn des Steinschneiders ausgewiesen. So heißt es, dass der Wagen durch einen Steinschneider gestaltet worden sei, dessen Sehkraft gar derjenigen des mythischen Helden Lynkeus entsprach: der Argonaut war in der Antike vielgerühmt für seine Scharfsichtigkeit, so konnte er sogar unter der Erde verborgene Dinge sehen. Die Pointe im Gedicht besteht nun darin, dass der Steinschneider, gleich Lynkeus, durch den Stein hindurchsehen könne. Da es sich nicht um ein intaglio-Siegel handelte, wurde die Feinarbeit von unten ausgeführt. Dem Stein selbst wird im letzten Zweizeiler diese bemerkenswerte Leistung zugewiesen, da er den Sehsinn durch seine Heilkräfte18 auf wundersame Weise verbessern und den Steinschneider gewissermaßen in einen Lynkeus’ Fähigkeiten gar noch übertreffenden Scharfsichtigen mit „Röntgenblick“ verwandeln könne. Sotakos aufgreifend, beschreibt Plinius d. Ä. den draconitis als einen transluziden glänzenden Stein, der weder poliert noch zur Gemme geschnitten werden könne.19 Falls dies somit für antike Leser wohlbekanntes Wissen darstellte, war der geschnittene drakonitis in der Tat ein Wunder! In seiner Lebensbeschreibung des Apollonios von Tyana (3.8) notiert Flavius Philostratos, dass der buntfarbige drakonitis die Kräfte des Ringes des kleinasiatischen Königs Gyges trage, d. h. er könne seinen Träger unsichtbar machen.20 In den einzelnen Quellen variieren die Beschreibungen, wie für die Gewinnung des „Schlangensteines“ vom Pferdewagen aus lebende Schlangen gejagt und mittels Drogen narkotisiert wurden. Im geschnittenen Wagen der Gemme überlagern sich somit die Erinnerung an den komplexen Ursprung des Steines und die durch den Helden Lynkeus evozierte Steigerung der Wirkkräfte. Nr. 17 setzt mit dem auffordernden Verb skepsai ein, welches sowohl „beachte!“ als auch „sieh!“ bedeuten kann. Der Leser wird aufgefordert, sich an der im Gedicht entwickelten und einem Experiment gleichenden philosophischen Kategorisierung selbst zu beteiligen: „sehe selbst, wie es funktioniert“. Das Gedicht beschreibt einen Stein, der wie ein Magnet ist. Bekanntermaßen wurden Magneten mit der Kraft der Anziehung in Verbindung gebracht, was oftmals als Liebesmetapher verwendet wurde; die Vorstellung eines abweisenden Magnetismus hingegen ist in diesem Gedicht als singulär zu betrachten. Beschrieben wird die Kraft zweier verschiedener Steine, daher wird die Wirkung des hier genannten Steines mit
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derjenigen eines Magnetes lediglich verglichen. Während die oben diskutierten Gedichte über die geschnittenen Gemmen die Lebensähnlichkeit und den Naturalismus der Kunstwerke preisen, geht es hier somit um Bedeutungsschichten der mimeitai, der Imitation wie auch der Animation. Sanne Rishøj Christensen Übersetzung: Isabella Augart und Franziska Weise
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ἐτύπωϲε ist die Berichtigung der editio princeps (vgl. Anm. 6), in diesem Text verwende ich jedoch ἐτύπωϲα; hierbei handelt es sich um die ursprüngliche Formulierung des Papyrus. Außerdem habe ich eine andere Angleichung in den Klammern zu Beginn der nicht erhaltenen Zeile vermerkt. Ich habe keinen apparatus criticus ergänzt, da dieser in jeder der im Folgenden erwähnten Texteditionen aufgeführt wird. Vgl. auch Adrian Stähli u. Antje Wessels (Hg.): Der Neue Poseidipp. Text-Übersetzung-Kommentar. Griechisch und deutsch, Darmstadt 2015. 2 Siehe Tzetzes, Chiliades VII 653–660. Vgl. Colin Austin u. Guido Bastianini: Posidippi pellaei quae supersunt omnia, Mailand 2002, S. 36, sowie Benjamin Acosta-Hughes, Elizabeth Kosmetatou, Martine Cuypers u. Francesca Angio (Hg.): Text of the Posidippus Epigrams, Center for Hellenic Studies, Harvard University, Boston 2016, https://chs.harvard.edu/CHS/ article/display/1343 S. 14. 3 Eine 263/262 v. Chr. datierte Inschrift (Thermion, IG IX.1 2.17, V. 24) vermerkt, dass „dem Epigrammatiker Poseidippos von Pella“ die ehrenvolle Funktion eines „Staatsgastfreundes“ (proxenia) in Delphi verliehen wurde. Vgl. Peter Marshall Fraser: Ptolemaic Alexandria, Oxford 1972, Bd. II, S. 796, Nr. 44. In einer Elegie über vergangene Zeiten (P. Berol. 14283), zeigt sich Poseidippos von Pella stolz über eine Statue am Markt, die seine dichterischen Leistungen öffentlich preist, vgl. Hugh Lloyd-Jones: The Seal of Posidippus, in: Journal of Hellenic Studies 83/1963, S. 75–99. 4 Die Griechische Anthologie umfasst eine nachträgliche Zusammenstellung griechischer Epigramme, die Kompilatoren ergänzten die Sammlung zudem um eigene Epigramme und um Gedichte weiterer Autoren: bei dem in Heidelberg verwahrten Manuskript der Anthologia Palatina (AP = Griechische Anthologie Buch 1–15) handelt es sich um eine im 10. Jahrhundert überarbeitete und erweiterte Edition einer im 9. Jahrhundert durch Konstantinos Kephalas zusammengestellten Sammlung früherer Gedicht-Anthologien, welche ihrerseits bereits bei Meleager im 1. Jahrhundert v. Chr. einsetzen. In der Renaissance war die Griechische Anthologie nur durch eine verkürzte Version der Kephalas-Sammlung bekannt, diese Anthologia Planudea (API. = Griechische Anthologie Buch 16, ms. Marc. gr. 48) wurde 1301 durch den Kompilatoren Maximus Planudes zusammengestellt. Vgl. The Oxford Classical Dictionary, hg. v. Simon Hornblower u. Antony Spawforth, Oxford 2003, S. 101–102, s. v. „anthology“ (Alan Cameron). 5 Vgl. Nr. 115 zum Pharos genannten Leuchtturm in Alexandria (um 280–270 v. Chr.). Nr. 116 u. Nr. 119 zum Tempel in Kap Zephyrion bei Alexandria, in dem Arsinoë II. als Aphrodite verehrt wurde (Weihung um 273 v. Chr.). Vgl. Fraser 1972, Bd. 1, S. 557–558.
Lithika 6 Die Nummerierung der Epigramme folgt der editio minor, Colin Austin u. Guido Bastianini (Hg.): Posidippi Pellaei quae supersunt Omnia, Mailand 2002, S. 11–12 listet zahlreiche Quellen für Poseidippos’ Gedichte auf. 7 Guido Bastianini, Claudio Galazzi u. Colin Austin (Hg.): Posidippo di Pella. Epigrammi (P. Mil. Vogl. VIII 309), Mailand 2001 (Papiri dell’Università degli Studi di Milano). 8 Dem Papyrus lässt sich keine Angabe zur Autorschaft entnehmen, die Zuschreibung beruht daher auf den Gedichten 15 und 65, welche seit langem bekannt sind und Poseidippos von Pella sicher zugeschrieben sind, vgl. Dirk Obbink: New Old Posidippus and Old New Posidippus. From Occasion to Edition in the Epigrams, in: Kathryn Gutzwiller (Hg.): The New Posidippus. A Hellenistic Poetry Book, Oxford 2005, S. 109–110. 9 Beispielsweise Oiōnoskopika (Über die Vogelschau) und Andriantopoiika (Über die Skulptur). 10 Etwa AP 9. 221 (Marcus Argentarius); AP 9. 745 (König Polemon); AP 9. 747 (Platon); AP 9. 748 (Plato Iunior), AP 9. 750 (Archias); AP 9. 751 (Plato Iunior); AP 9. 752 (Asklepiades von Samos / Antipatros von Thessalonike); AP 9. 753 (Claudianus); AP 9. 754 (Claudianus), AP 6. 1a (unbekannter Autor) und Poseidippos 15 nach Tzetzes, Chiliades 7. 660. Vgl. auch (auf Latein) Claudianus, Carmina Minora, 29 (Magnetstein) und 33–39 (Bergkristall). 11 8. 5–6: φ]έγγοϲ ἔνερθεν ἄγων·κα[ὶ] ἀμύνεται ἄνθρ[α]καϲ Ἰνδοὺϲ | αὐγαῖϲ ἐξ ὁμαλοῦ φωτὸ[ϲ] ἐλεγχόμενοϲ· Antike Edelsteinbezeichnungen lassen sich oftmals schwerlich mit den modernen Benennungen zusammenbringen, da in der Antike Farbe und Glanz, teils auch die geographische Herkunft die Hauptmerkmale zur Unterscheidung von Steinen darstellten. Bei diesem Sarder handelt es sich wohl aufgrund der Größe, der Farbtiefe und aufgrund der fehlenden Streifen um einen Karneol. In antiken Quellen bezeichnet anthrax zumeist nicht Rubin, sondern Granat. Vgl. Jack Ogden: Jewellery of the Ancient World, London 1982, S. 95, s. v. „Ruby“, u. S. 98–99, s. v. „Garnet“. 12 Vgl. Theophrast, De Lap. 18 und eine aus dem 13. Jahrhundert stammende persische Dichtung, Jalal al-Din Rumi: The Sunrise Ruby, in: The Essential Rumi, übers. v. Coleman Barks, San Francisco 1995, S. 100. 13 Nach Platon, Ion 533d: ὥσπερ ἐν τῇ λίθῳ ἣν Εὐριπίδης μὲν Μαγνῆτιν ὠνόμασεν, οἱ δὲ πολλοὶ Ἡρακλείαν. Plinius d. Ä. Nat. Hist. XXXVI,25 nennt Nikandros von Kolophon (3./2. Jahrhundert v. Chr.) als Quelle für den Mythos, nach welchem ein Hirt namens Magnes dem Magnet entdeckt habe. Vermutlich stammt der Name vom Herkunftsort Magnesia und der Stadt Herakleia. 14 Vgl. Theophrast, De Lap. 37: ἅυτη γὰρ μέλαινα οὐκ ἄγαν πόρρω τοῦ κυάνου τοῦ ἄρρενος, „dieser (sappheiros) ist nämlich dunkel und unterscheidet sich nicht sehr vom männlichen kyanos.“ Vgl. Theophrastus: On Stones, hg., übers. u. komment. v. Earle R. Caley u. John F. C. Richards, Ohio 1956, S. 126–127, s. v. „kyanos“ u. S. 136–137, s. v. „sappheiros“. Kyanos ist ein Lehnwort aus dem Hethitischen kuwannan-, „Lapislazuli“. Vgl. Oswald Szemerényi: The Origins of the Greek Lexicon. Ex Oriente Lux, in: Journal of Hellenic Studies 94/1974, S. 144–157, hier S. 153. Vgl. Die Kyraniden, hg. v. Dimitris Kaimakis, Meisenheim am Glan 1976, 1. 18. 8: Σάπφειρος λίθος, ἢ κυάνεος, „Der sappheiros-Stein, auch als dunkelblauer Stein bekannt [oder kyanos-gleich]“. 15 5.2 editio minor, S. 27. 16 Vgl. Georgina Herrmann: Lapis Lazuli. The early phases of its trade, in: Iraq 30/1968, S. 21–57, hier S. 27–28.
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Poseidippos von Pella 17 Vgl. Ogden 1982, S. 107. 18 Vgl. Kathryn Gutzwiller: Cleopatra’s Ring, in: Greek Roman and Byzantine Studies 36/1995, S. 383–398, insb. S. 387–388. 19 Plinius, Nat. Hist., XXXVII,158: esse candore tralucido, nec postea poliri aut artem admittere. Eine mögliche Quelle für Poseidippos war wohl Sotakos, der im 3. Jahrhundert v. Chr. tätige griechische Autor gilt als Verfasser einer verlorenen Schrift Peri Lithōn („Über Steine“). 20 Vgl. Herodot, Historien 1.7–13 zu Gyges, einem Knig im kleinasiatischen Lydien. Platon, Politeia 2 359d–60b, ergänzt, dass der Ring des Gyges seinen Träger unsichtbar machen konnte.
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Metamorphosen um 3–8 n. Chr. Mota dea est sortemque dedit: ‚discedite templo et velate caput cinctasque resolvite vestes ossaque post tergum magnae iactate parentis!‘ […] verba datae sortis secum inter seque volutant. [390] inde Promethides placidis Epimethida dictis mulcet et ‚aut fallax‘ ait ‚est sollertia nobis, aut (pia sunt nullumque nefas oracula suadent!) magna parens terra est: lapides in corpore terrae ossa reor dici; iacere hos post terga iubemur.‘ […] descendunt: velantque caput tunicasque recingunt et iussos lapides sua post vestigia mittunt. [400] saxa (quis hoc credat, nisi sit pro teste vetustas?) ponere duritiem coepere suumque rigorem mollirique mora mollitaque ducere formam. mox ubi creverunt naturaque mitior illis contigit, ut quaedam, sic non manifesta videri [405] forma potest hominis, sed uti de marmore coepta non exacta satis rudibusque simillima signis, quae tamen ex illis aliquo pars umida suco et terrena fuit, versa est in corporis usum; quod solidum est flectique nequit, mutatur in ossa, [410] quae modo vena fuit, sub eodem nomine mansit, inque brevi spatio superorum numine saxa missa viri manibus faciem traxere virorum et de femineo reparata est femina iactu. inde genus durum sumus experiensque laborum [415] et documenta damus qua simus origine nati.
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[381] Rührung faßte die Göttin, sie gab den Spruch: „Von dem Tempel / geht, verhüllt euer Haupt und löst der Gewande Umgürtung, / Werft dann hinter euch der Großen Mutter Gebeine!“ […] [389] Oft wiederholen sie noch unter sich die Worte des dunklen / Spruchs, den die Göttin gegeben, und wenden sie hin und wider, / Bis des Prometheus Sohn Epimetheus’ Tochter beruhigt: / „Entweder täuscht mich mein Witz“, so sprach er beschwichtigend, „oder / Fromm ist der Spruch und rät zu keinem Frevel: Die Große / Mutter, das ist die Erde, mit deren Gebeinen, so glaub’ ich, / Meint er die Steine und heißt uns diese hinter uns werfen.“ […] [398] Also gehen sie, verhüllen das Haupt, entgürten die Kleidung. / Werfen gemäß dem Befehl in die Spur ihrer Füße die Steine. / Da – wer möchte es glauben, wenn nicht für die Kunde ihr Alter / Zeugte? – die Steine verlieren allmählich Härte und Starrheit, / Werden weich mit der Zeit und beginnen Formung zu zeigen. / Dann, sobald sie, gewachsen, ein zarteres Wesen gewonnen, / Ließ sich wie Menschengestalt zwar etwas erkennen, doch deutlich / Nicht, sondern wie aus Marmor, der kürzere Zeit erst im Werk, noch / Wenig behauen, und ganz den rohen Bildnissen ähnlich. / Aber, was irgendwie feucht an ihnen von Säften und erdig, / Ward verwandelt als Fleisch dem Aufbau des Leibes zu dienen. / Was jedoch fest war und nicht zu beugen, das wurde zu Knochen, / Was da Ader gewesen, das blieb unter gleicher Benennung. / Und nach der Götter Willen erhielten die Steine, die Mannes / Hände geworfen, Mannesgestalt in kürzester Frist und / Ward das Weib durch die Würfe des Weibes wiedergeschaffen. / Daher sind wir ein hartes Geschlecht, erfahren in Mühsal, / Geben so den Beweis des Ursprungs, dem wir entstammen. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen I 381–383, 389–394, 398–415. P. Ovidi Nasonis Metamorphoses, hg. v. Richard J. Tarrant, Oxford 2004, S. 15–16. Ovid: Metamorphosen. Aus dem Lateinischen von Erich Rösch, München 2007, S. 38–39.
Kommentar Publius Ovidius Naso (43 v. Chr.–17 n. Chr.) lebte und schrieb zu Beginn der römischen Kaiserzeit, unter dem ersten Kaiser Augustus und nach dessen Tod 14 n. Chr. noch einige Jahre unter Tiberius. Sein Hauptwerk, die 15 Bücher der Metamorphosen, lag wohl um das Jahr 8 n. Chr. in der erhaltenen, nicht ganz vollendeten Version vor, bevor der Dichter nach Tomis verbannt wurde.1 Es handelt sich um ein episches Weltgedicht, verfasst im Hexameter, das in der Form der Ursprungserzählung (Aitiologie) die Herkunft einer Fülle von Phänomenen aus Natur und antiker Kultur zu erklären versucht und sich dabei – freilich nicht streng chrono logisch – vom Ursprung des Kosmos bis in die römische Gegenwart fortbewegt. Die über 250 Verwandlungssagen münden regelmäßig in der Beschreibung der Transformation einer mythischen Gestalt in ein Tier, eine Pflanze, eine Quelle oder einen Stein. Das Werk kann als
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einer der wirkmächtigsten Texte für die europäische Literatur- und Kunstgeschichte bezeichnet werden, Hans Blumenberg zufolge ist „die europäische Phantasie“ gar „ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht.“2 Den narrativen Kontext unserer Stelle bildet der Anfang der Welt und die Erzählung der Flut, die der Zorn des Jupiter über Lycaon und die schon frevelhaft gewordene Menschheit des ‚eisernen Zeitalters‘ gebracht hat (I 163–252; vgl. I 89–150 zur Beschreibung des metallurgischen Modells der vier Weltalter). Nach dem Abebben der Wassermassen ist die erste Generation des Menschengeschlechts vernichtet; nur das fromme Paar von Deucalion und Pyrrha konnte sich retten und läutet die zweite Entstehung von Menschen und Tieren ein (I 253–437). Aufgrund ihres Alters können sie keine Kinder mehr zeugen und beschließen daher, das Orakel der delphischen Göttin Themis, Tochter der Gaia, zu befragen. Der rätselhafte Spruch, den sie erhalten, trägt Spuren eines Gaia-Kultes, der die Erde mit der Urmutter gleichsetzt (magna parens terra est, I 393).3 Die so entstandene zweite Generation wird laut auktorialem Erzähler ein „hartes Geschlecht“ bleiben (genus durum, 414) – diese Härte ist das wesentliche tertium comparationis der Metapher, die in der Metamorphose vom Stein zum Menschen steckt, und dasjenige, was die Ursprungserklärung der Menschheit aus Mineralien plausibel erscheinen lässt. Auch die Verwandlung selbst wird an diesem Hauptmerkmal der Härte entfaltet, in die eine Unterscheidung von ganz Hartem und weniger Hartem eingelassen wird: Ersteres an den Steinen wird zu Knochen, letzteres scheint als Erde und Schlamm ebenfalls dem Bereich des Steinigen anzugehören und wird zu Fleisch. Die Maserung der Steine zuletzt wird als „Ader“ (vena, 410) bezeichnet und nimmt dieselbe Funktion im menschlichen Körper ein.4 In Ovids Logik der Verwandlung ermöglichen solche morphologischen Ähnlichkeitsbeziehungen stets erst die Metamorphosen.5 Am Beginn dieser Verwandlungsbeschreibung steht ein Kunstgleichnis, das den Prozess der Menschenschöpfung aus irdenem Material mit einer angefangenen Statue aus Marmor vergleicht; vor unseren Augen scheint ein unsichtbarer Demiurg an seinem plastischen Kunstwerk zu arbeiten. Zu dieser vom Erzähler selbst gegebenen Deutung des Geschehens passt auch, dass Deucalion sich und seine Frau kurz vor unserer Stelle als hominumque exempla („Beispiele/Modelle von Menschen“, I 366) bezeichnet hatte, die bei der erneuten Menschenschöpfung nun als Vorlage dienen. Noch in den Anfangspassagen der Metamorphosen wird also die Verwandlung per se als ein künstlerischer Vorgang etabliert: Das stets wiederkehrende, zentrale Verfahren der Beschreibung, das dem Leser die einzelnen Schritte der Transformation vor Augen stellt, gleicht auch der Beschreibung eines Kunstwerks.6 Ähnlich wie die „rohen Statuen“ (I 406) des Gleichnisses, noch der Verfeinerung harrend, war zuvor der Stoff der Weltschöpfung, das Chaos, als „kunstlose Masse“ (pondus iners, I 8) bezeichnet worden, an die ein unbenannter Gott erst unterscheidende Hand anlegen musste. Eine weitere berühmte Verwandlung vom (organischen) Mineral zum Menschen in den Metamorphosen, auf die hier nur verwiesen werden kann, birgt die Geschichte von Pygmalion, der sich in sein Kunstwerk aus Elfenbein verliebte; die Statue ist so lebensecht gestaltet, dass
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sie letztlich, von Venus auf ein Gebet hin erwirkt, zur lebendigen Frau werden kann (X 243– 297). Die Richtung der Verwandlung in Ovids Werk ist zumeist jedoch die umgekehrte, wann immer ein Mensch zu Stein wird und damit der Statue eines Künstlers ähnelt, was man häufig explizit kommentiert findet. So ergeht es Aglauros, die eifersüchtig auf die Liebe des Merkur zu ihrer Schwester den Zugang zu ihrem Schlafzimmer bewacht, bis sie zu Stein wird: signumque exsangue sedebat (II 831, „sie saß als blutleere Statue“). Die menschliche Eigenschaft der Beharrlichkeit oder gar Sturheit wird zur Starrheit des Steins. An anderer Stelle weist das adlige Mädchen Anaxarete aus Salamis den verliebten Hirten Iphis zurück (XIV 712–714): „Härter als Eisen, wie das norische Feuer es auskocht, / Härter als lebender Fels, den zäh die Wurzel noch festhält, / Weist sie lachend ihn ab.“ Als sie aber die Leiche des Iphis entdeckt, der sich selbst den Tod gegeben hat, wird sie vor Schock oder zur Strafe für ihre Härte in ein lebensechtes Standbild verwandelt, das die Stadt zum Gedenken bewahrt (XIV 757–761): „Der Stein, der zuvor schon im harten Busen / geherrscht hat, befällt allmählich all ihre Glieder. / Daß du nicht glaubst, dies sei erdichtet: Salamis wahrt noch / Heute des Mädchens Bild.“ Der Stein trägt in diesen Fällen den Charakter der verwandelten Frauen bis über den Tod hinaus und lässt auch die Angemessenheit der Strafe plausibel erscheinen. Im Fall der Statue von Salamis wirkt das steinerne Material aber auch als Garant von Dauer und Erinnerung. Steine und gerade Gesteinsformationen spielen in den Metamorphosen auch immer wieder eine Rolle, wenn es um das Verhältnis von Kunst und Natur geht. In der Antike ist das mimetische Konzept einer künstlerischen Nachahmung der Natur dominant, Ovid spielt aber auch immer wieder mit einer inhärent künstlerischen Natur einerseits, der Idee einer von der Kunst übertroffenen Natur andererseits.7 Die Gestaltungskraft der Natur wird oftmals hervorgehoben, wenn die Ekphrasis eines Settings und seiner landschaftlichen Merkmale eine Handlung vorbereitet,8 wie etwa im Fall der Schilderung von Thetis’ Felsenhöhle im elften Buch, in der Peleus sie antrifft: Die Höhle an der Küste Thessaliens liegt wie auf einem Landschaftsbild inmitten von Meer und Strand, ein Myrtenhain steht daneben: est specus in medio, natura factus an arte, / ambiguum, magis arte tamen („inmitten steht eine Höhle, – ob Kunst, ob Natur sie geschaffen / Fraglich, doch mehr wohl die Kunst“, XI 235–236). Kunst und Natur sind nicht mehr zu unterscheiden an diesem heiligen Ort der Meeresnymphe, dessen antike bildliche Darstellungen offenbar schon für Ovid jeden Blick auf ein natürliches Phänomen überformt haben. Die Grotte einer anderen Göttin, Diana, scheint dem Dichter gar das traditionelle Verhältnis der Imitation umgekehrt zu haben (III 157–160): cuius in extremo est antrum nemorale recessu arte laboratum nulla: simulaverat artem ingenio natura suo; nam pumice vivo et levibus tofis nativum duxerat arcum.
Metamorphosen
Dort im Walde verborgen im letzten Grund eine Grotte: Keiner Hände künstliches Werk, doch hatte mit ihrem Geiste Natur der Kunst hier nachgeahmt und mit leichtem Bimsstein und lebendem Tuff ein gewachsen Gewölbe geschaffen. Auch an diesem locus amoenus herrscht Ambiguität zwischen Kunst und Natur und bietet dem verbotenen Blick des Jägers Actaeon, der arglos auf diese Grotte stößt und Diana nackt beim Bad überrascht, eine tragische Bühne.9 Trotz seiner Unschuld wird er in der Folge bestraft und, in einen Hirsch verwandelt, von den eigenen Jagdhunden zerfleischt. Diese beiden natürlichen Kunstwerke aus Stein kann man als liminale Artefakte bezeichnen: Natur und Kultur, Göttliches und Menschliches treffen sich, wo der menschliche König Peleus mit der Nymphe Thetis schläft, Actaeon auf die Göttin der Jagd trifft. Probleme visueller Wahrnehmung und sprachlicher Bestimmung in einer prozessualen, stets im Wandel befindlichen Welt werden in den Metamorphosen sowohl an Landschaften als auch an Kunstwerken durchgespielt. Selbst die Gestalt von Steinen muss nicht von Dauer sein und kann künstlerisch geformt werden; ist ihre Formbarkeit aber einmal ausgeschöpft, überdauert diese Gestalt die Zeiten. Christian Badura
1
Vgl. Metzler Handbuch Ovid, hg. v. Melanie Möller (im Erscheinen), s. v. „Metamorphosen“ (Jost Eickmeyer). 2 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 2006, S. 383. 3 Vgl. zur Stelle Alessandro Barchiesi (Hg.): Ovidio. Metamorfosi. Vol. 1: Libri I–II, Mailand 2005; vgl. auch Metzler Handbuch Ovid, hg. v. Melanie Möller (im Erscheinen), s. v. „Schöpfung“ (Hartmut Böhme). 4 Vgl. zur Thematik Silvia Stucci: Da pietra a carne, da carne a pietra: riflessioni dalle „Metamorfosi“ ovidiane, in: Latomus 71,1/2012, S. 87–101. 5 Vgl. Metzler Handbuch Ovid, hg. v. Melanie Möller (im Erscheinen), s. v. „Tiere und Pflanzen“ (Chiara Cavazzani); vgl. auch Emilio Pianezzola: Ovidio, modelli retorici e forma narrativa. Bologna 1999 und Christian Zgoll: Phänomenologie der Metamorphose. Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung, Tübingen 2004. 6 Joseph B. Solodow: The World of Ovid’s Metamorphoses, Chapel Hill 1988, S. 203–204. 7 Ebd., S. 203–231. 8 Vgl. Charles Segal: Landscape in Ovid’s Metamorphoses. A Study in the Transformation of a Literary Symbol, Wiesbaden 1969; Steven Hinds: Landscape with figures: aesthetics of place in the Metamorphoses and its tradition, in: Philip Hardie (Hg.), The Cambridge Companion to Ovid, Cambridge 2002, S. 122–149. 9 Vgl. Jürgen P. Schwindt: Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, ‚Metamorphosen‘ 3, 131–259), Heidelberg 2016.
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Markus 15,42–47 42 Et cum iam sero esset factum (quia erat parasceve, quod est ante sabbatum),
42 Und als es bereits Abend geworden – es war nämlich der Vorbereitungstag, das ist der Tag vor dem Sabbat –,
43 venit Ioseph ab Arimathæa nobilis decurio, qui et ipse erat exspectans regnum Dei, et audacter introivit ad Pilatum, et petiit corpus Iesu.
43 kam Josef von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr, der selbst auch auf das Reich Gottes wartete, und ging beherzt zu Pilatus hinein und bat um den Leichnam Jesu.
44 Pilatus autem mirabatur si iam obiisset. Et accersito centurione, interrogavit eum si iam mortuus esset.
44 Pilatus aber wunderte sich, dass er bereits gestorben sein sollte, und ließ den Centurio holen und fragte ihn, ob er schon tot sei.
45 Et cum cognovisset a centurione, donavit corpus Ioseph.
45 Und als er es vom Centurio erfahren hatte, schenkte er Josef den Leichnam.
46 Ioseph autem mercatus sindonem, et deponens eum involvit sindone, et posuit eum in monumento quod erat excisum de petra, et advolvit lapidem ad ostium monumenti.
46 Josef aber kaufte ein Leinentuch und nahm ihn herab und wickelte ihn in das Leinentuch und er legte ihn in ein Grab, das aus einem Felsen gehauen war, und wälzte einen Stein an den Eingang des Grabes.
47 Maria autem Magdalene et Maria Ioseph aspiciebant ubi poneretur.
47 Maria aus Magdala aber und Maria, des Josef schauten, wohin er gelegt wurde.
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Markus 16,1-8 1 Et cum transisset sabbatum, Maria Magdalene, et Maria Iacobi, et Salome emerunt aromata ut venientes ungerent Iesum.
1 Und als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala und Maria, des Jakobus, und Salome Duftstoffe, um hinzugehen und ihn zu salben.
2 Et valde mane una sabbatorum, veniunt ad monumentum, orto iam sole.
2 Und sehr früh am ersten Wochentag kommen sie zum Grab, als die Sonne bereits aufgegangen war,
3 Et dicebant ad invicem quis revolvet nobis lapidem ab ostio monumenti?
3 und sie sagten zueinander: „Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?“
4 Et respicientes viderunt revolutum lapidem. Erat quippe magnus valde.
4 Und als sie hinschauen, sehen sie, dass der Stein weggewälzt ist; er war ja sehr groß.
5 Et introëuntes in monumentum viderunt iuvenem sedentem in dextris, coopertum stola candida, et obstupuerunt.
5 Und sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der mit einer langen, weißen Stola bekleidet war; und sie erstarrten.
6 Qui dicit illis nolite expavescere Iesum quæritis Nazarenum, crucifixum surrexit, non est hic, ecce locus ubi posuerunt eum.
6 Er sagt zu Ihnen: „Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus aus Nazaret, den Gekreuzigten: Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe die Stelle, wo sie ihn hingelegt haben!“
7 Sed ite, dicite discipulis eius, et Petro, quia præcedit vos in Galilæam ibi eum videbitis, sicut dixit vobis.
7 Doch geht; sagt seinen Schülern und Petrus: „er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat.“
8 At illæ exeuntes, fugerunt de monumento invaserat enim eas tremor et pavor et nemini quidquam dixerunt timebant enim.
8 Sie hingegen gingen hinaus und flohen vom Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie befallen. Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich.
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Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, Stuttgart 2007, Mk 15,42−16,8.
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Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch und deutsch, hg. v. Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers, Michael Fieger (Sammlung Tusculum), Berlin 2018f., Bd. 5 (2019), Mk 15,42–16,8.
Kommentar In den Schriften des Neuen Testaments finden Steine an zahlreichen Stellen Erwähnung. Allerdings handelt es sich nur bei einigen Nennungen um konkrete und materiell erfahrbare Objekte, da neben der Erwähnung von – im berichteten Kontext – real vorhandenen Mineralien diese gleichermaßen in einem allegorischen Zusammenhang erwähnt werden. Zu einer solchen Einbettung des Terminus ‚Steine‘ zählt beispielsweise die gleichnishafte Rede Jesu über das Gebet: Um die Güte Gottes und die Erfüllung der durch die Beter an ihn gerichteten Gebete zu betonen, stellt Jesus die rhetorische Frage, welcher seiner Zuhörer seinem Sohn einen Stein gäbe, wenn dieser um Brot bitten würde (aut quis est ex vobis homo quem si petierit filius suum panem numquid lapidem porriget ei, Mt 7,9). Freilich ist hiermit kein bestimmtes Mineral gemeint, vielmehr nutzt Jesus das Stilmittel der ins Paradoxe gesteigerten Hyperbel, um dem von ihm als gütig beschriebenen Gott einen hartherzigen Vater gegenüberzustellen. Anders verhält es sich hingegen bei den verschiedenen Schilderungen von Steinigungen, die im neutestamentlichen Kulturkreis bei schweren Vergehen gegen Gott wie Ehebruch (Dtn 22,22) und Gotteslästerung (Lev 24,14−16) als Hinrichtungsart vorgeschrieben waren. In diesem Zusammenhang findet sich einer der berühmtesten Aussprüche Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, soll als erster einen Stein auf sie werfen.“ (qui sine peccato est vestrum primus in illam lapidem mittat, Joh 8,7). In dieser Perikope führen die Schriftgelehrten eine auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin zu Jesus und stellen ihn auf die Probe, indem sie ihm berichten, das Gesetz des Mose hätte für diese Vergehen die Steinigung vorgesehen, ihn dann aber nach seiner Meinung fragen. Zwar wird auch in dieser Perikope kein konkretes Mineral erwähnt, doch es steht der Stein gleichsam pars pro toto als Hinrichtungsinstrument im Vordergrund. In der Perikope, die sowohl die Bestattung des Leichnams Jesu als auch die Begegnung der drei Frauen mit dem als Engel gedeuteten jungen Mann beschreibt, wird jedoch deutlich auf die Materialität des Beisetzungsortes verwiesen. Es handelt sich um ein Grab, das aus dem Felsen herausgehauen und zudem durch einen Stein verschlossen wurde. Der Evangelist Markus betont darüber hinaus explizit, dass dieser Stein sehr groß (magnus valde) gewesen sei. Am Umgang mit diesem Grab lässt sich exemplarisch der Umgang der Christen mit heiligen Orten, aber ebenso mit Artefakten und materiellen Zeugnissen ablesen, die aufgrund ihrer Herkunft von Schauplätzen der Heilsgeschichte geheiligt wurden. Die in den neutestamentlichen Perikopen erwähnte steinerne Materialität des Bestattungsortes lässt sich zum einen dadurch erklären, dass die Evangelisten betonen, dass der
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Gottessohn Jesus Christus wie ein Mensch gestorben sei und bestattet wurde. Zum anderen kann die Betonung der Größe des Steines, der das Grab verschließt, als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Leichnam Jesu nicht von wilden Tieren oder seinen Jüngern gestohlen worden sein konnte und dass die Öffnung des Grabes auf göttliches Wirken zurückgehen muss. Die entsprechenden Perikopen der anderen Evangelisten präzisieren die Gestalt und Lage des Grabes weiter: So scheint dieser Ort ein nicht weit vom GolgathaHügel, auf dem Jesus gekreuzigt wurde, entfernt gelegenes und kultiviertes Gebiet, vielleicht ein Garten, gewesen zu sein. Laut dem lukanischen Bericht (Lk 24,4) waren sogar zwei Männer im Grab, als die Frauen hineingingen, um den Leichnam Jesu zu salben. Daher muss diese Grabhöhle recht geräumig gewesen sein und – da Markus berichtet, dass der junge Mann auf der rechten Seite am Bestattungsort Jesu saß – eine Bank besessen haben, auf der Josef den Leichnam ablegte.1 Den Bereich des Felsengrabes, das in späterer Zeit als das Grab Jesu angesehen und in den Gesamtkomplex der Grabeskirche in Jerusalem einbezogen wurde, ließ Kaiser Hadrian um 135 n. Chr. mit Erde aufschütten und planieren, um auf diesem Plateau einen Tempel zu errichten, von dem Eusebius von Caesarea berichtet, dass er der Göttin Aphrodite gewidmet gewesen sei.2 Diese Stätte wurde unter Bischof Makarios 325/326 freigelegt und als Grab Jesu Christi interpretiert. Der Jerusalemer Bischof Cyrill (313−386) führt in seinen Katechesen aus, dass der in den Evangelien erwähnte Verschluss-Stein noch immer am Grab liegen würde und somit ebenfalls bei der Ausgrabung noch vorhanden gewesen sein muss.3 Der ursprüngliche Charakter des Felsengrabes ist in heutiger Zeit nur schwer zu erkennen, da Kaiser Konstantin bei dem Bau der Grabeskirche zwischen 325 und 335 den Felsen, aus dem das Grab herausgehauen wurde, bis auf die Grabhöhle selbst abtragen ließ, so dass ein isoliertes Monument entstand.4 Vor allem die Zerstörung der Kirche unter der islamischen Herrschaft im Jahr 1009 führte zu beträchtlichen Verlusten an der Originalsubstanz.5 Dennoch hat sich unter der heute vorhandenen Marmorverkleidung des Grabes noch die ursprüngliche Felsstruktur in dem nach einem Brand 1808−1810 entstandenen Überbau erhalten.6 Die zeitgenössischen spätantiken Quellen belegen, dass die Grabhöhle schon bald nach ihrer Freilegung und dem Bau der konstantinischen Grabeskirche zwischen 325 und 335 sowohl als Wallfahrtsziel als auch als Ort für liturgische Vollzüge fungiert hat.7 Einen detaillierten Einblick in die Jerusalemer gottesdienstliche Praxis in der ausgehenden Spätantike gibt das Itinerarium der gallischen Pilgerin Egeria, die zur Amtszeit Cyrills das Grab Jesu Christi besuchte: Sie schildert, dass beispielsweise während der wöchentlichen Vigil des Sonntags zunächst Weihrauch in das Felsengrab (spelunca Anastasis) getragen wurde, bevor der Bischof schließlich am Eingang des Grabes die Auferstehungsperikope vortrug.8 Hieran wird die Eigenheit der Jerusalemer Stationsliturgie deutlich, zu bestimmten Anlässen die inhaltlich korrespondierende Perikope, die von dem zu gedenkenden Ereignis berichtet, am ‚authentischen‘ Ort zu verlesen.9 Somit wurde in Jerusalem durch diese besondere Form der Stationsliturgie die Heilsgeschichte auf der Ebene des Rituals, der verkündeten oder gesungenen
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Texte und der Heiligen Stätten vergegenwärtigt.10 Schon durch den Besuch der mutmaßlichen Orte, an denen sich in den biblischen Schriften beschriebene Begebenheiten ereigneten, wurden diese Stätten physisch und in ihrer jeweiligen Materialität erfahrbar. In diesem Kontext ist auch die Entstehung und Verbreitung von Reliquien der loca sancta zu sehen: Hierbei handelt es sich in der Regel um Steine oder Staubpartikel, die von den Heiligen Stätten Palästinas, schließlich auch von anderen, vor allem mit Heiligen in Verbindung stehenden Orten wie Rom, stammen.11 Zwar wurde durch die Isolation dieser Gesteinsbrocken die Einheit von liturgisch begangenem Anlass, den zu verkündenden oder zu singenden Texten und dem authentischen Ort des heilsgeschichtlich relevanten Ereignisses aufgelöst, doch wurde „[i]hre Erinnerungs- und Heilkraft […] überall verfügbar“, indem „die loca sancta aus ihrer natürlichen Topographie entlassen, […] transportabel und materiell transferiert“ wurden.12 Wie Bruno Reudenbach herausstellt, war die Verehrung der Heiligen Stätten, der Orte des Lebens, Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi, den Christen in den ersten drei Jahrhunderten weitgehend fremd.13 Schließlich war es Kaiser Konstantin, der nicht nur die Grabhöhle aus dem umgebenden Felsen herausmeißeln ließ, sondern auch diesen Ort durch einen Kirchenbau auszeichnete und damit – nach der Überbauung mit einem heidnischen Tempel – christlich besetzte. Neben dem Grab in Jerusalem und der Geburtsgrotte in Bethlehem wurde auch der Ort der Himmelfahrt Christi auf dem Ölberg durch eine Kirche zu einem besonderen Kultzentrum ausgebaut. Daraufhin erfolgte eine Neubewertung der materiellen Orte, die mit heilsgeschichtlich zentralen Ereignissen verbunden waren: Cyrill von Jerusalem, der bereits als Zeuge für die Unversehrtheit des Grabes Christi und des davor gewälzten Steines fungierte, führt im gleichen Atemzug unter anderem den Ort der Geburt in Bethlehem, den Ölberg, das Land Ägypten, aber auch die Palme, von der Kinder bei dem Einzug Jesu in Jerusalem Zweige herabholten, als Zeugnisse für die Wahrheit Christi an. Hierzu zählt Cyrill freilich auch den Golgatha-Hügel und die Grabhöhle, aber ebenso Reliquien wie das Schweißtuch und das Kreuz.14 An anderer Stelle betont er, dass es ein besonderer Erweis der Wahrheit des Glaubens und der Realität der Passion sei, dass den Gläubigen die Heiligen Stätten vor Augen stehen würden und sie diese sogar berühren könnten, anstelle nur von ihnen zu hören.15 Gerade im Hinblick auf das Heiligtum auf dem Ölberg wird deutlich, dass sich dies jedoch nicht nur auf die Orte, sondern besonders „auf noch wahrnehmbare Spuren der Präsenz Jesu“ bezog, da an der Stelle der Himmelfahrt die Fußspuren Christi im Staub gezeigt und verehrt wurden.16 Diese Fußspuren blieben, wie der fränkische Bischof Arculf im 7. Jahrhundert bemerkte, auch dann noch sichtbar, als die Gläubigen begannen, den Staub aufzusammeln und mit sich zu nehmen.17 Diese materiellen Partikeln von Orten wie Staub, Öl, Wachs oder Holzsplitter, die vor allem durch die Heilsrelevanz des locus sanctus zum einen, zum anderen aber auch durch die damit verbundene einstige Präsenz Christi geheiligt wurden, brachten die Gläubigen und Pilger als sogenannte Eulogien in ihre Heimat, damit diese Reliquien ihre Wirkmacht (virtus) auch fern von den Heiligen Stätten entfalten konnten.18
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Die verschiedenen Steinchen, Zweige oder Flüssigkeiten wie Öl und Wasser ließen die Heilsgeschichte somit haptisch und visuell erfahrbar werden. Aus sich selbst heraus vermochten diese Materialien nichts, sie bedurften der Heiligung durch die Anwesenheit an einer Stätte, an der sich ein Ereignis aus dem Neuen, mitunter auch aus dem Alten Testament ereignet hatte. Darüber hinaus charakterisieren sie das Christentum nicht zwangsläufig als eine Religion, die der Heiligen Stätten bedarf, sondern deren Gott im Glauben der Christen in Bethlehem Mensch wurde, wie ein Mensch auf dem Golgatha-Hügel starb und in einem mit einem Stein verschlossenen Felsengrab bestattet wurde, um schließlich vom Tode aufzuerstehen und in den Himmel aufzufahren. Dass sich die frühe Verehrung der loca sancta gerade an diesen Orten besonders herausgebildet hat, verdeutlicht die christologische Schwerpunktsetzung der Jerusalemer Christen in der Spätantike, die durch die materielle Evidenz des Lebens Jesu Zeugnisse für die zwei Naturen Christi (Gott und Mensch) zu erlangen suchten. In einer solchen inhaltlichen Dimension ist ebenfalls die Perikope zu sehen, die von der Bestattung des Leichnams Jesu berichtet und durch die expliziten Verweise auf die Materialität des Felsengrabes und auf den großen Stein, der vor den Höhleneingang gewälzt wurde, einerseits auf den realen Tod des Menschen Jesu und andererseits auf die sich in der Auferstehung manifestierende göttlichen Kraft verweist, der nicht einmal der gewaltige Stein trotzen konnte. Jochen Hermann Vennebusch
1
Martin Biddle: Das Grab Christi. Neutestamentliche Quellen – Historische und archäologische Forschungen – Überraschende Erkenntnisse, Gießen u. a. 1998, S. 67. 2 Eusebius von Caesarea: De Vita Constantini – Über das Leben Konstantins (Fontes Chris tiani, 83), übers. v. Bruno Bleckmann u. Horst Schneider: Turnhout 2007, S. 342−346 [III,26]. 3 Philipp Häuser (Bearb.): Des heiligen Cyrillus Bischofs von Jerusalem Katechesen (Bibliothek der Kirchenväter, 1,41), München 1922, S. 159 [X,19]. 4 Colin Morris: The Sepulchre of Christ and the Medieval West. From the Beginning to 1600, Oxford 2005, S. 31−38; Jürgen Krüger: Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung, Regensburg 2000, S. 47−49. 5 Morris 2005, S. 134f. 6 Krüger 2000, S. 212. 7 Jürgen Krüger: Die Grabeskirche in Jerusalem, in: Ursula Röper (Hg.): Sehnsucht nach Jerusalem. Wege zum Heiligen Grab, Berlin 2009, S. 34−42, hier S. 35−39. 8 Egeria: Itinerarium – Reisebericht. Mit Auszügen aus Petrus Diaconus De Locis Sanctis – Die Heiligen Stätten (Fontes Christiani, 20), übers. v. Georg Röwekamp, Freiburg i. B. u. a. 1995, S. 232 [XXIV,10]. 9 Ebd., S. 134 [IV,4], S. 136 [IV,8], S. 212 [XXI,1], S. 258 [XXXI,1]; Andreas Odenthal: Was ist Sakraltopographie? Eine Problemanzeige aus liturgiewissenschaftlicher Sicht nach dem „spatial turn“, in: Harald Buchinger, David Hiley u. Sabine Reichert (Hg.): Prozessionen
Neues Testament und ihre Gesänge in der mittelalterlichen Stadt. Gestalt – Hermeneutik – Repräsentation, Regensburg 2017, S. 67−78, hier S. 73. John F. Baldovin: The Urban Character of Christian Worship. The Origins, Development, and Meaning of Stational Liturgy, Rom 1987, S. 83–104. 10 Odenthal 2017, S. 74. 11 Bruno Reudenbach: Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: ders. (Hg.): Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt (Vestigia Bibliae, 28), Bern u. a. 2008, S. 9−32, hier S. 19f. 12 Ebd., S. 31. 13 Ebd., S. 10−12. 14 Häuser 1922, S. 158f. [X,19]; Reudenbach 2008, S. 15. 15 Häuser 1922, S. 220 [XIII,22]. 16 Reudenbach 2008, S. 16. 17 Vgl. Herbert Donner: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.−7. Jahrhundert), Stuttgart 1979, S. 363−365. 18 Vgl. Reudenbach 2008, S. 19f.
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Gaius Plinius Secundus d. Ä.
Naturalis Historia um 77 n. Chr.
[O]mnia namque, quae usque ad hoc volumen tractavimus, hominum genita causa videri possunt: montes natura sibi fecerat ut quasdam compages telluris visceribus densandis, simul ad fluminum impetus domandos fluctusque frangendos ac minime quietas partes coercendas durissima sui materia. Caedimus hos trahimusque nulla alia quam deliciarum causa, quos transcendisse quoque mirum fuit. […] nunc ipsae caeduntur in mille genera marmorum. promunturia aperiuntur mari, et rerum natura agitur in planum; evehimus ea, quae separandis gentibus pro terminis constituta erant, navesque marmorum causa fiunt, ac per fluctus, saevissimam rerum naturae partem, huc illuc portantur iuga […] aut quid omnino diis reliquimus? C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinischdeutsch, Buch XXXVI: Die Steine, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1992 (Sammlung Tusculum), XXXVI,I,1–2 u. II,5, S. 14f.
Denn alles, was wir bis zu diesem Buch behandelt haben, kann der Menschen wegen geschaffen erscheinen: Die Berge ‹aber› hatte die Natur für sich selbst gemacht, als eine Art von Fugendichtung, um das Innere der Erde zusammenzuhalten und zugleich den Ansturm der Flüsse zu zähmen, die Fluten zu brechen und so die am wenigsten in Ruhe verharrenden Teile durch ihre härteste Materie in Schranken zu halten. Wir durchhauen diese Berge und schleppen sie fort aus keinem anderen Grund als um des Vergnügens willen, wo es doch schon staunenswert war, daß man sie überstieg. […] Jetzt zerschlägt man diese Berge selbst zu tausenderlei Arten von Marmorblöcken. Vorgebirge werden für das Meer geöffnet, und die Natur wird eingeebnet; wir entfernen das, was zur Trennung der Völker als Grenze errichtet war, und wegen des Marmors baut man Schiffe; durch die Fluten, den wildesten Teil der Natur, schafft man Felsengipfel von hier nach dort […]. Was haben wir den Göttern überhaupt noch vorbehalten? C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinischdeutsch, Buch XXXVI: Die Steine, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1992 (Sammlung Tusculum), XXXVI,I,1–2 u. II,5, S. 15f.
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Gaius Plinius Secundus d. Ä.
Ut nihil instituto operi desit, gemmae supersunt et in artum coacta rerum naturae maiestas, multis nulla parte mirabilior. tantum tribuunt varietati, coloribus, materiae, decori, violare etiam signis, quae causa gemmarum est, quasdam nefas ducentes, aliquas vero extra pretia ulla taxationemque humanarum opum arbitrantes, ut plerisque ad summam absolutamque naturae rerum contemplationem satis sit una aliqua gemma. C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinischdeutsch, Buch XXXVII: Die Edelsteine, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1994 (Sammlung Tusculum), XXXVII,I,1, S. 16.
Damit nichts am unternommenen Werke fehle, bleiben ‹nur noch› die Edelsteine übrig und die auf knappen Raum zusammen gedrängte Herrlichkeit der Welt, die vielen ‹Menschen› in keinem ihrer Teile bewunderungswürdiger erscheint. Man hält so viel von ihrer Mannigfaltigkeit, den Farben, dem Stoff und der Pracht, daß es bei einigen von ihnen als Sünde gilt, sie durch bildliche Darstellungen, was der Zweck der Edelsteine ist, zu verletzen; einige stellt man aber über jeglichen Preis und jede Schätzung menschlicher Reichtümer, so daß den meisten zur höchsten und vollkommenen Betrachtung der ganzen Natur irgendein einzelner Edelstein genügt. C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinischdeutsch, Buch XXXVII: Die Edelsteine, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1994 (Sammlung Tusculum), XXXVII,I,1, S. 17.
Kommentar Wer anhand der Naturalis Historia die Steine oder die Kunst studieren will, kann nicht umhin zugleich vom jeweils anderen zu lesen, denn Plinius behandelt die Mineralien in Hinblick auf ihre Nutzung durch den Menschen: Erden und Steine werden zu Pigmenten und Ton, Marmor zu Skulpturen, Edelsteine zu Gemmen. Die 37 Bücher umfassende Naturalis Historia, abgeschlossen um 77 n. Chr., stellt den ersten Versuch dar, das gesamte naturkundliche Wissen ihrer Zeit zu bündeln. Sie ist nicht nur die einzige erhaltene römische Enzyklopädie, sondern enthält auch den einzigen umfassenden Bericht über griechische und römische Kunst, der über das Mittelalter hinaus überliefert wurde. Anspruch und Inhalt der Naturalis Historia sind, ebenso wie die Person des Autors, eng mit dem Römischen Reich verknüpft. In der Widmung an den späteren Kaiser Titus erklärt Plinius, er wolle die rerum natura, hoc est vita in ihrer Vollständigkeit erfassen.1 Als er dies im Jahr 77 n. Chr. schreibt, gehört nahezu die gesamte bekannte Welt – die gesamte Natur – zum römischen Herrschaftsgebiet. Die Natur und ihre Ressourcen interessieren Plinius in ihrer Bedeutung für den Menschen und für Rom. Das Römische Reich bestimmt Leben und Wirken des Gaius Plinius Secundus d. Ä. (23/24–79 n. Chr.). Durch seinen Dienst im Militär sowie als Prokurator und Berater der Kaiser Vespasian und Titus lebt Plinius meist in Rom,
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kennt aber auch Germanien, Jerusalem, Syrien und vielleicht Ägypten – Teile des riesigen Gebietes, das er in der Naturalis Historia behandelt. Seine Schriften über die Geschichte Roms bewirken, dass er in der Antike wohl vor allem als Historiker wahrgenommen wird; im Laufe des Mittelalters jedoch werden Naturalis Historia und Plinius zu Synonymen.2 Plinius eröffnet seine Enzyklopädie mit einem Novum: einem Register zu den Inhalten der einzelnen Bücher und zu den herangezogenen Autoren (Buch I). Der Aufbau der Naturalis Historia erfolgt vom Großen zum Kleinen, vom Himmel zur Erde, von den Erdenbewohnern zur unbelebten Materie. Zu Beginn steht die Kosmologie (Buch II), gefolgt von der Geographie der drei bekannten Erdteile (III–V). Die Bücher über die Lebewesen sind eingeteilt in Anthropologie (VII), Zoologie (VIII–XI) und Botanik (XII–XIX). In den medizinisch-pharma kologischen Betrachtungen (XX–XXXII) finden sich durch die organischen und anorganischen Bestandteile Überschneidungen zu den entsprechenden Themenbereichen. Am Schluss steht die leblose Materie mit der Metallurgie (XXXIII–XXXIV), den Erden (XXXV) und der Mineralogie (XXXVI–XXXVII).3 Während Plinius in den Büchern XXXIII bis XXXVII die Metalle und Mineralien in Zusammenhang mit ihrem Gebrauch durch den Menschen abhandelt (und dadurch so etwas wie eine Geschichte der antiken Kunst schreibt), kritisiert er die Verwendung dieser Materialien. Er verurteilt den Luxus und bemängelt, der Wert des Materials bedeute vielen seiner Zeitgenossen mehr als die künstlerische Leistung der Bearbeitung.4 Dies zeigt auch die oben zitierte Einleitung in Buch XXXVI über die Steine. Hier kommen Plinius’ Weltanschauung und Naturverständnis zum Ausdruck; schöpferische Natur, Mensch und Gottheit werden in ein Verhältnis gesetzt. Alles in den vorherigen Büchern Genannte (Kontinente, Tiere, Pflanzen usw.) habe die Natur für den Menschen geschaffen, die Berge hingegen für sich selbst. Plinius zeigt Ehrfurcht vor der Natur, benennt die Größe, Dauerhaftigkeit und annähernde Unbezwingbarkeit dieser „härteste[n] Materie“. Gerade durch Gegensätze charakterisiert er die Rolle der Gebirge in der Natur. Die „in Ruhe verharrenden“ Berge bilden einen Kontrast zu den wilden Fluten. Das menschliche Verhalten steht im Gegensatz zur Natur, womit Plinius einen Faden aus Buch XXXIII (Kapitel I–II) wieder aufnimmt: Nachdrücklich warnt er dort vor der Ausbeutung des Erdinneren, nennt das Graben nach Edelmetallen eine Herausforderung an die Natur und deutet das Bersten und Zittern der Mutter Erde als Ausdruck ihres Unwillens. Durch die Ausbeutung der Berge, so deutet Plinius an, stelle sich der Mensch auf eine Stufe mit dem Göttlichen, da er ihm nichts mehr vorbehalte. „Die Götter“ sind hier mehr als Verweis auf Übernatürliches zu verstehen, lehnt doch Plinius die Existenz mehrerer Gottheiten ab und sieht Gott vielmehr in der Natur.5 Spricht Plinius von den Bergen als naturgegebenen Grenzen zwischen den Völkern, so klingt wieder die Ausrichtung der Natur auf den Menschen an. Den Hauptteil des Buches XXXVI bildet die Beschreibung einzelner Steinarten: Aus sehen, Beschaffenheit, Herkunft, Qualität, medizinische Nutzung, Bearbeitungsmethoden, Fälschungen und künstlerische Verwendung mit Beispielen aus Architektur, Skulptur und Bauschmuck. Die Zuordnung zu heute bekannten Gesteinen ist nicht immer möglich.6
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Plinius ordnet die Steine hierarchisch. An erster Stelle stehen die Marmore (darunter auch Porphyr), deren Arten und Farben er eigentlich nicht angeben müsse, „da sie ohnehin gut bekannt sind“.7 Schon in Buch XXXV hatte Plinius kritisch angemerkt, dass Marmortafeln nicht nur die Malerei verdrängten, sondern selbst wiederum mit Flecken bemalt würden, „um das Einfarbige bunt zu machen, […] so wie der Luxus sie von Natur aus wünschte“. In seiner Bemerkung, dies sei „der Ersatz für das, was den Bergen fehlt“, scheint die Auffassung durch, die menschliche Kunst könne die Natur vervollkommnen.8 Unter den restlichen Steinen sind für den heutigen Leser besonders der Magnet („Denn was ist wunderbarer, oder in welchem Teil der Natur findet man eine größere Überraschung?“9), die Bildsteine und die Steine in Körpern von Tieren auffällig. Bemerkenswert ist zudem die in der Naturalis Historia anklingende Vorstellung von Lebendigkeit: Bei einigen Steinen gebe es männliche und weibliche, manche vermehrten sich und in einigen Steinbrüchen (so habe er gelesen) wachse der Marmor nach.10 Mal gibt Plinius solche Behauptungen unhinterfragt wieder, mal reagiert er skeptisch oder verwirft sie völlig.11 Ähnlich sind seine Erläuterungen zu Fundorten sowie zur Entstehung von Steinen teils wissenschaftlich, teils mythisch begründet. So schreibt Plinius, Staub und Erde könnten im Meer zu Stein werden, und bezeichnet Versteinerungen als „Erfindungen, welche die Erde selbst liefert“.12 Der erste gefasste Stein sei der Sage nach ein Fels im Kaukasus gewesen, an den Prometheus mit einer Eisenkette gefesselt war: Eisen und Fels würde man als Ring mit gefasstem Edelstein deuten (XXXVII,I,2). Die Edelsteine in Buch XXXVII werden in den gleichen Kategorien beschrieben wie zuvor die Marmore, sind jedoch anders sortiert. Plinius beginnt mit einzelnen berühmten Exem plaren, gruppiert dann die wichtigsten Arten nach ihrer Farbe und führt die übrigen alphabetisch auf. Mit Buch XXXVII, dessen einleitende Worte das zweite Zitat wiedergibt, kommt Plinius zum Schluss seiner Enzyklopädie. Er ruft die Inhalte aller vorherigen Bücher implizit noch einmal auf, indem er in den Edelsteinen die „auf knappen Raum zusammengedrängte Herrlichkeit der Welt“ erkennt. Ist der Leser ihm durch die ausufernde Beschreibung der gesamten Natur gefolgt, so versteht er die Tragweite der Bemerkung, „daß den meisten zur höchsten und vollkommenen Betrachtung der ganzen Natur irgendein einzelner Edelstein genügt“. So wird der winzige Stein zum Sinnbild des gesamten Kosmos.13 Plinius benennt, warum die Edelsteine so geschätzt würden: Mannigfaltigkeit, Farben, Stoff und Pracht. Bemerkenswert ist auch hier die Gleichzeitigkeit von Respekt vor der Natur und Anthropozentrik: Plinius sieht den Zweck der Edelsteine darin, dass sie zu Gemmen oder Kameen geschnitten werden können, einige seiner Zeitgenossen aber beurteilten bildliche Darstellungen als Verletzung der Steine. Die Enzyklopädie ist das Produkt jahrzehntelanger Arbeit. Die über 500 aufgeführten Quellen wird Plinius nicht alle selbst gelesen, sondern auf Exzerpte von Bediensteten sowie auf Vermittlertexte zurückgegriffen haben. An den Beginn jedes Buches der Naturalis Historia stellt Plinius eine Liste der konsultierten Autoren, im Text nennt er noch weitere. Einige dieser Quellen sind heute nicht mehr erhalten. Darüber hinaus greift Plinius auf eigene
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Beobachtungen, mündliche Berichte, Akten, Inschriften und Mythen zurück.14 Für die Steine zieht er u. a. Varro, Seneca, Vitruv, Theophrast und Homer heran. Mit der Zusammenstellung von Registern hat Plinius die Benutzung der Enzyklopädie als Nachschlagewerk angelegt. Als solches wird sie über Jahrhunderte genutzt, und entsprechend werden oft nur einzelne Bereiche abgeschrieben oder rezipiert.15 Bisher sind rund 200 Handschriften und Fragmente der Naturalis Historia nachgewiesen, eine aktuelle vergleichende Ausgabe liegt nicht vor.16 Teils indirekt findet das Gedankengut der Naturalis Historia Eingang in die Enzyklopädien von Isidor von Sevilla, Hrabanus Maurus und Vinzenz von Beauvais. Zu den beliebtesten und oft isoliert reproduzierten Teilen gehört Buch XXXVII. Das verbreitete, auf wundersame Anekdoten fokussierte Kompendium des Solinus nimmt von den Büchern über die Mineralien nur dieses auf.17 Beda Venerabilis nutzt es in seinem Apokalypse-Kommentar in Bezug auf die Edelsteine der Himmlischen Stadt. Die zahlreichen Lapidarien stellen indirekte Übernahmen des Edelsteinbuchs dar. Gelesen wird Plinius außerdem von Kirchenvätern (Tertullian, Augustinus und Hieronymus) sowie in Klöstern (so bei Alkuin von York, Honorius Augustodunensis, Hildegard von Bingen, der Schule von Chartres, Hugo von St. Viktor, Bartholomaeus Anglicus und Albertus Magnus), wo die Naturalis Historia mitunter zum Unterrichtsstoff gehört.18 Illuminierte Manuskripte sind erst aus der Zeit um 1300 erhalten. Es bildet sich die Tradition heraus, die Eingangsinitiale jedes Buches mit einer Miniatur zu versehen, welche den Inhalt widerspiegelt.19 Größte Aufmerksamkeit erlebt die Naturalis Historia in der Renaissance. Im 15. Jahrhundert entstehen mit den ersten gedruckten Editionen auch vergleichende Ausgaben und kritische Kommentare. 1476 erscheint eine italienische Übersetzung, im 16. Jahrhundert folgen Teilübersetzungen in weitere Volkssprachen.20 Das Interesse an der Naturalis Historia kommt aus wissenschaftlichen wie aus Künstlerkreisen. Als einzige umfassende Quelle zur griechischen und römischen Kunst wird die Naturalis Historia von Cennino Cennini, Leon Battista Alberti und Giorgio Vasari rezipiert – sie müssen folglich auch mit Plinius’ Aussagen über Mineralien vertraut sein.21 Auch Petrarca, Boccaccio, Dante, der Autor der Hypnerotomachia Poliphili, Leonardo da Vinci, Georg Agricola und Ulisse Aldrovandi setzen sich mit Plinius’ Büchern über die Mineralien auseinander.22 Illustrierte Fassungen der Naturalis Historia werden nun zum Sammlerobjekt.23 Um 1500 fallen im medizinischen Zusammenhang erstmals Diskrepanzen zwischen Plinius’ Aussagen und empirischen Studien auf.24 Nichtsdestotrotz behält die Naturalis Historia ihre Bedeutung als naturkundliche Schrift bis in das 17. Jahrhundert. Als Enzyklopädie ist sie im 18. Jahrhundert Vorbild für Diderot und d’Alembert. Noch Goethe und Humboldt gilt sie als Autorität.25 Der universale Anspruch der Naturalis Historia einerseits und andererseits die Rezeption einzelner Bücher, nicht zuletzt der Bücher XXXV bis XXXVII über die Mineralien, machen Plinius über Jahrhunderte zu einer der meistgelesenen Autoritäten in Fragen nach Stein und seiner Rolle in Natur wie Kultur. Ilka Mestemacher
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Gaius Plinius Secundus d. Ä. 1 Widmung, I,13, übersetzt von Roderich König mit „die Natur, d. h. die reale Welt“ (C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinisch-deutsch, Buch I, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1973 (Sammlung Tusculum), S. 13). Plinius räumt ein, wie schwierig es sei, „überhaupt allem eine naturgetreue und der Natur eine sie völlig umfassende Darstellung“ (omnibus vero naturam et naturae sua omnia, Widmung, I,15) zu verschaffen. 2 Vgl. Sarah Blake McHam: Pliny and the Artistic Culture of the Italian Renaissance. The Legacy of the Natural History, New Haven 2013, S. 27. 3 Vgl. Wolfgang Hübner: Der descensus als ordnendes Prinzip in der ‚Naturalis historia‘ des Plinius, in: Christel Meier-Staubach (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit, München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 78), S. 25–41, hier besonders S. 25–27. 4 Siehe bspw. Nat. Hist. XXXIV,III,5; XXXIV,XIX,63. 5 Plinius lehnt den Glauben an mehrere Götter als menschliche Bequemlichkeit ab und plädiert für eine Gottheit (Nat. Hist. II,V,14–27). Er bezeichnet die Welt als göttliches Wesen, als Werk der Natur und als Natur selbst (II,I,1f.). Da Gott sich nach den Gesetzen der Natur richten muss (II,V,27), kann die Natur als Gott aufgefasst werden. Vgl. Mary Beagon: Roman Nature. The Thought of Pliny the Elder, Oxford 1992, S. 26–42 u. S. 92f. 6 König (in Plinius 1973) gibt in den Erläuterungen zu den Büchern XXXVI und XXXVII soweit möglich die heutigen Bezeichnungen der erwähnten Gesteine an. 7 Marmorum genera et colores non attinet dicere in tanta notitia nec facile est enumerare in tanta multitudine (Nat. Hist. XXXVI,XI,54). 8 Primumque dicemus, quae restant del pictura, arte quondam nobili, […]; nunc vero in totum marmoribus pulsa, iam quidem et auro, nec tantum ut parietes toti operiantur, verum et interraso marmore vermiculatisque ad effigies rerum et animalium crustis. non placent iam abaci nec spatia montis in cubiculo dilatantia: coepimus et lapide pingere. […] Neronis vero maculas, quae non essent in crustis, inserendo unitatem variare, ut ovatus esset Numidicus, ut purpura distingueretur Synnadicus, qualiter illos nasci optassent deliciae. montium haec subsidia deficientium, nec cessat luxuria id agere, ut quam plurimum incendiis perdat (Nat. Hist. XXXV,I,2f.). Zum Wechselspiel zwischen Natur und menschlicher Kunst siehe etwa XXXVII,LXXIV,195: „Was die bunten Steine anlangt, gelingt es der Geschicklichkeit des Erfindungsgeistes, sie auch in eine einzige Farbe überzuführen, und man nennt sie, damit sie nicht ihren üblichen Namen haben, Physis (physeis), gleichsam als wolle man die Bewunderung für die Natur mit ihnen verkaufen.“ Weitere Beispiele sind die Grotten (XXXVI,XLII,154); das angeblich natürlich erstandene Abbild der neun Musen mit Apollo in einem Achat (XXXVII,III,5); die durch Kunst unerreichbare Glätte des Kristalls (XXXVII,IX,26). 9 Quid enim mirabilius aut qua in parte naturae maior inprobitas? (Nat. Hist. XXXVI,XXXV,126f.). 10 Zu männlichen, weiblichen oder sich vermehrenden Steinen vgl. Amelie Fößel: Dividitur autem et haec in mares feminasque. Das Geschlecht der Steine, in: Das Mittelalter 21/2016, S. 400–418. Zu den selbstauffüllenden Marmorbrüchen siehe Nat. Hist. XXXVI,XXIV,125. 11 Vgl. Gerhard Winkler: Naturalis Historia, in: Plinius 1973, Buch I, S. 330–342, hier S. 335. 12 Verum et ipsius terrae sunt alia commenta (Nat. Hist. XXXV,XLVII,166). Die Rivalität mit mythischen Erklärungsmustern wird am Bernstein deutlich: Manche hielten ihn für den Harn
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des Luchses, für Vogeltränen oder anderes, tatsächlich entstehe er aber aus Fichtenharz, das sich im Meer verdicke (XXXVII,XI,31–43), vgl. Rishoj Christensen, Theophrast. Diese stoische Einordnung des kleinsten Bausteines in den Makrokosmos findet sich ganz ähnlich im einige Jahrzehnte vor der Nat. Hist. verfassten Lehrgedicht des Manilius. Plinius’ Buch XXXVII, alternativ der gesamte Bereich der Mineralien, ist in der Forschung als Krönung der Nat. Hist. verstanden worden. Vgl. Hübner 2002, S. 36–38. Vgl. Arno Borst: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg 1994, S. 19–24; Winkler 1973, S. 331f. Zur Rezeption der Nat. Hist. vgl. DNP Supplemente, Bd. 7: Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, hg. v. Christine Walde, Stuttgart 2010, Sp. 697–726, s. v. „Plinius d. Ä. (Gaius Plinius Caecilius Secundus maior). Naturalis historia“ (Francesca Romana Berno), passim; Borst 1994 (von der Antike bis Petrarca). Vgl. Winkler 1973, S. 340f. Eine Übersicht aller Handschriften, Editionen und Übersetzungen in DNP Supplemente, Bd. 2: Geschichte der antiken Texte. Autoren- und Werklexikon, Stuttgart 2007, S. 480–483, s. v. „Plinius Secundus, Caius (Plinius der Ältere)“ (Sibylle Ihm). Gaius Iulius Solinus (3.–4. Jh.), Collectanea rerum memorabilium. Vgl. Marjorie Chibnall: Pliny’s Natural History and the Middle Ages, in: Thomas Alan Dorey (Hg.): Empire and Aftermath. Silver Latin II, London/Boston 1975 (Greek and Latin Studies. Classical Literature and Its Influence), S. 57–78, hier S. 58f; Berno 2010 (DNP), Sp. 700f. Vgl. Berno 2010 (DNP), Sp. 701–708 mit weiterführender Literatur; Chibnall 1975, passim; Borst 1994, S. 37–250; Vincenzo de Michele: La mineralogia di Plinio nella tradizione naturalistica e alchimistica medievale, in: Plinio e la natura. Atti del Ciclo di Conferenze sugli Aspetti Naturalistici dell'Opera Pliniana (Como 1979), Como 1982, S. 63–70, hier S. 66–68. Vgl. Lilian Armstrong: The Illustration of Pliny’s Historia Naturalis. Manuscripts before 1430, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 46/1983, S. 19–39; Blake McHam 2013, S. 94–100. Vgl. Berno 2010 (DNP), Sp. 711; Ihm 2007 (DNP). Zu Landinos italienischer Übersetzung, die wahrscheinlich als Geschenk des Königs von Neapel an den Herzog von Burgund geplant war, vgl. Blake McHam 2013, S. 149–153. Zur Rezeption der Nat. Hist. in italienischer Kunst, Literatur und Kunstliteratur im 14. bis 16. Jahrhundert vgl. Blake McHam 2013, S. 59–67 u. S. 91–303. Weitere prominente Leser der Nat. Hist. sind Kopernikus, Melanchthon, Erasmus von Rotterdam und Conrad Gessner. Vgl. Berno 2010 (DNP), Sp. 708–716 mit weiterführender Literatur. Bis heute sind die persönlichen Exemplare von Cosimo de’ Medici (Florenz, Biblioteca Laurenziana, Plut. 82.1), der Familie Gonzaga (Turin, Biblioteca Nazionale, MS I.I.22–23) und von Pico della Mirandola (Venedig, Biblioteca Marciana, MS Lat.VI.245; coll. 2976) erhalten, vgl. Blake McHam 2013, S. 93f., S. 141 u. S. 153–156. Die Nat. Hist. der Strozzi-Familie zeigt in der ganzseitigen Eingangsminiatur Kameen aus der Medici-Sammlung (Oxford, Bodleian Library, G.b.6; vgl. Blake McHam 2013, S. 150f., Abb. S. 11). Zum wahrscheinlich von Jean de Berry in Auftrag gegebenen Exemplar (Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, MSS 1.1.24– 1.1.25) vgl. Armstrong 1983, S. 29–35. Vgl. Blake McHam 2013, S. 158. Zur Rezeption der Nat. Hist. seit dem 17. Jh. vgl. Berno 2010 (DNP), Sp. 716–722.
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um 90–95 n. Chr. 63 Quid referam veteres ceraeque aerisque figuras? […] 72 […] Quid mille revolvam culmina visendique vices? sua cuique voluptas atque omni proprium thalamo mare, transque iacentem Nerea diversis servit sua terra fenestris: […] 83 una tamen cunctis, procul eminet una diaetis, quae tibi Parthenopen derecto limite ponti ingerit: hic Grais penitus delecta metallis saxa, quod Eoae respergit uena Syenes, Synnade quod maesta Phrygiae fodere secures per Cybeles lugentis agros, ubi marmore picto candida purpureo distinguitur area gyro; hic et Amyclaei caesum de monte Lycurgi quod uiret et molles imitatur rupibus herbas; hic Nomadum lucent flaventia saxa Thasosque et Chios et gaudens fluctus aequare Carystos; omnia Chalcidicas turres obuersa salutant. 63 Was soll ich berichten von alten Figuren aus Wachs und Erz […]. 72 […] Was soll ich aufzählen die tausend Gipfel und wechselnden Aussichten. Jedes Zimmer hat seinen eigenen Reiz, hat sein eigenes Meer und jenseits der Meeresfläche hat jedes Zimmer eine andere Aussicht auf „sein“ Land […]. 83 Ein Zimmer jedoch überragt alle anderen, das dir in gerader Linie übers Meer Parthenope [d. h. Neapel] zeigt. Hier findet man in der Tiefe griechischer Brüche ausgewählte Steine [und] wieviele das östliche Syene [Assuan] mit Adern gezeichnet hat und diejenigen, welche bei dem traurigen Synnas in Phrygien die Äxte graben, auf den Feldern der trauernden Kybele, wo sich im farbigen Marmor auf den weißen Flächen purpurne Kreise abzeichnen. Hier ist der Marmor gehauen aus dem Berg des amykleischen Lykurg, der grün schimmert und weiche Gräser nachahmt in hartem Gestein. Hier leuchtet der gelbe Stein aus Numidien, von Thasos und Chios und der Marmor von Carystos sieht mit Freuden auf das Meer hinaus [weil die farbliche Zusammensetzung dieses Marmors an Meereswellen erinnert, s. Silv. I, 2, 149:
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„concolor alta vena mari“]. Alle wenden sich zu den Türmen von Chalkis auf Euböa [der Heimat von Kolonisten, die Neapel gründeten], und grüßen sie. Publius Papinius Statius: Silvae II, 2, V. 63–95. P. Papini Stati: Silvae, hg. v. Edward Courtney, Oxford 1990, S. 42f. Statius: Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, hg. v. Heinz Wissmüller, Neustadt an der Aisch 1990, S. 50–51.
Kommentar Publius Papinius Statius (geb. ca. 46 n. Chr.), zur Zeit des Kaisers Domitian in Rom und Neapel tätig, war in Mittelalter und Früher Neuzeit ein prominenter Autor. Der Dichter des damals berühmten Versepos Thebais wurde in den Schulen gelesen1 und erscheint als Protagonist in Dantes Göttlicher Komödie (Purgatorio, 21–30). Seine Silvae (wörtl. „Wälder“, auch: „Material“) sind Gelegenheitsdichtungen in Versen, die während des Konstanzer Konzils 1417/18 von Poggio Bracciolini aufgefunden worden sind.2 Sie enthalten Beschreibungen antiker Villenanlagen (Silvae I, 3 und II, 2). Statius hat als erster der Beschreibung bzw. literarischen Evokation von Gebäuden ganze Texte gewidmet (siehe auch Silvae I, 5). Diese Architektur„Ekphrasen“ bieten ausführliche Passagen über Schmuckmarmore und Steininkrustationen in Innenräumen. In Statius’ Charakterisierung der Äderung und der Muster von dekorativen Steinverkleidungen überschneiden sich naturphilosophische mit machtpolitischen und ästhetischen Deutungsebenen. Bemerkenswert ist eine Trias dreier Bildmedien in seiner literarischen Visualisierung der Gemächer der Villa des Epikureers Pollius Felix (Silvae II, 2): (1) Bildwerke der griechischen Malerei und Plastik (V. 63–71) – (2) Äderungen des Steins als Bilder einer kunstreichen Natur (V. 72–82) – (3) bildhaft gerahmte Fensteraussichten auf Landmarken des Golfes von Neapel (V. 83–95). Damit wird eine vergleichende Betrachtung von Kunstwerken, ‚Marmorbildern‘ und Aussichten nahegelegt, die Statius allerdings nicht explizit thematisiert. Die ersten vier Bücher der Silvae publizierte Statius kurz vor seinem Tod im Jahr 96.3 Erst etwa fünfzehn Jahre später, um 110, wurden die weit wirkungsmächtigeren, sog. Villenbriefe des jüngeren Plinius verfasst (Epistulae II, 17 und V, 6).4 Ob und in welchen Teilen die descriptiones beider Autoren faktische oder fiktive Gebäude wiedergeben, ist schwer zu entscheiden. Sicher ist, dass sie durchaus unterschiedliche intellektuelle ‚Überbauten‘ der Konzeption von Villengebäuden formulieren und dass sie uns Rezeptionsweisen gebildeter Besucher (Statius) und Bewohner (Plinius d. J.) überliefern. Aufschlussreich sind die Villenbeschreibungen beider Autoren auch als Belege für die zentrale Rolle von architektonisch inszenierten Aussichten, die noch bei Vitruv kaum vorkommen, in kaiserzeitlichen Villen.5 Während Plinius wenig über die Innenausstattung seiner Villen berichtet, geht Statius sowohl in seiner Beschreibung der Villa des Manilius Vopiscus (Silv. I, 3) als auch der Villa des Pollius Felix und seiner Gattin Pollia bei Sorrent (Silv. II, 2) auf die Innenausstattung der Gebäudekomplexe näher ein.
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Nur bei Statius, nicht aber bei Plinius, spielen sowohl die Ausstattung der Räume mit Bildwerken als auch ihre Dekoration mit Buntmarmoren (genauer: mit Inkrustationen und wohl auch architektonischen Elementen aus verschiedenen, geäderten, gesprenkelten und gefleckten Gesteinen) eine wichtige Rolle. 6 Die Beschreibung der Villa des Pollius Felix am Golf von Neapel wird eingeleitet durch eine ausgiebige Beschreibung der Umgebung. Sie wird in stoischer Tradition, obwohl es sich um die Villa eines Epikureers handelt, als Werk einer providentiellen, kunstvollen Natur beschrieben. Zugleich werden die Umgestaltung des Geländes und die Gestaltung des Gebäudes als Ergebnis einer durch kühne und kostspielige Bauarbeiten betriebenen, geradezu hybriden Naturbeherrschung und -überwindung gefeiert (V. 1–62).7 Im Hauptteil des Textes wird das Innere der Villa gepriesen (V. 63–97). Das Lob der Villenanlage schließt mit einem stark epikureisch getönten Lob des Besitzers und seiner Frau (V. 98–146), deren Interesse an griechischer Kultur gewürdigt wird. Hier wird nochmals die weite Überschau der Villa über Meer und Land hervorgehoben, nun allerdings in ausdrücklich an Lukrez gemahnender Weise als Überschau des Weisen über eine leidenschaftslos betrachtete, distanzierte Welt.8 Statius beschreibt und lobt die besonderen Sehenswürdigkeiten im Inneren der Villa in folgender bereits erwähnter Reihenfolge: Kunstwerke (V. 63–72): Gemälde und Statuen bedeutender griechischer Meister (Apelles, Phidias, Myron, Polyklet). Ausblicke (V. 73–85): auf die wichtigsten Landmarken und Inseln des Golfes von Neapel. Jedes der Fenster biete dem Blick ein je eigenes Vergnügen, da es je eine Insel oder Landmarke des Golfes von Neapel dem Blick innerhalb einer architektonischen Öffnung isoliert (wir würden heute sagen: bildhaft gerahmt) darbiete. Ohne es ausdrücklich zu thematisieren, vergleicht Statius hier die verschiedenen Fensterausblicke aus der Villa des Pollius Felix mit Bildern – solchen von menschlicher ars (Kunstwerke) als auch von der natura rerum erschaffenen (Muster der Gesteine).9 Marmore und Buntgesteine mit ihrer (gewissermaßen bildhaft wahrgenommenen) Musterung (V. 83–95): Seien die Räume der Villa insgesamt durch Kunstwerke und Aussichten ausgezeichnet, so sei der bedeutendste, auf Neapel blickende Raum der Villa zusätzlich mit verschiedensten Marmoren und Gesteinen geschmückt, deren unterschiedliche Farbigkeit und Äderung als Werke, gewissermaßen als Gemälde der Natur geschildert werden. Einer Natur, die sich mit eigenen Mitteln selbst nachahme (V. 93) oder aber die Spuren von Ereignissen des Mythos (V. 90f.) überliefere. Am deutlichsten wird eine dem Marmor angesonnene mimetische Kraft in dem Vers vom „Marmor, der grün schimmert und weiche Gräser nachahmt in hartem Gestein“ (V. 91). Trotz Lukrez’ metaphorischer Rede von der daedala tellus (De rerum natura I, 228), von einer kunstreich hervorbringenden Erde also, verbietet sich für Epikureer die Vorstellung einer kunst- und planvoll schaffenden Natur, da deren Phänomene, Dinge und Lebewesen gemäß des epikureischen Atomismus ja aus dem zufälligen Wirken von Atomen hervorge-
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hen. In seinen Versen über die Marmore in der epikureischen Villa spricht Statius dennoch, wohl insbesondere an stoischen Autoren geschult, von einer mimetischen Fähigkeit der Natur zur Nachahmung ihrer selbst, die sich in den Musterbildungen und ‚Marmorbildern‘ in der Villa des Epikureers äußere.10 Statius betont, dass die beschriebenen Marmore und Gesteine aus verschiedenen Gegenden Griechenlands und des Orients stammten. Statius nennt sie schlicht saxa (Steine) und geht auf die Art und Weise ihrer architektonischen Verwendung und Anbringung nicht näher ein. Bardo Maria Gauly fasst Statius’ Verse über den Marmorsaal der Villa so zusammen: „In kunstvollen Periphrasen, deren gesuchte Eleganz die Kostbarkeit des Materials widerspiegelt, werden die wertvollen Marmorsorten aufgelistet, mit denen die Wände verkleidet sind: rötlicher Granit aus Syene in Ägypten (V. 86), pavonazzetto aus Phrygien (V. 87–89), verde antico aus Lakonien (V. 90f.), giallo antico aus Numidien (V. 92), Marmor aus Thasos, Chios und Karystos (V. 92f.).“11 Es handelt sich also geradezu um einen Katalog von Gesteinen aus unterschiedlichen, teils weit entlegenen Gebieten des Imperium Romanum, neben griechischen Marmoren auch um Gesteinsarten aus Kleinasien („Phrygien“), aus Nordafrika („Numidien“) und aus Assuan am Oberlauf des Nils („Syene“). Öffnen die von Statius beschriebenen Aussichten den Blick auf den Golf von Neapel, so erschließen sich bei der (wortmächtig evozierten) Betrachtung der Buntgesteine und bei Nennung ihrer Namen weit entfernte Gegenden des Imperium Romanum der Imagination. Diese Gesteine stehen symbolisch ein für die Weltläufigkeit der Besitzer und Erbauer der Villa und für die Weltherrschaft des Imperium Romanum, wie Gauly im Hinblick auf den zeitgenössischen Umgang mit kostbaren Marmoren ausführt: „Der symbolische Wert des Buntmarmors bestimmte aber auch die Form des Vertriebs; die Sorten, die das größte Prestige besitzen, werden seit flavischer Zeit ausschließlich unter kaiserlicher Kontrolle gewonnen, transportiert und verteilt.“ Dabei seien „ökonomische Prinzipien (…) außer Kraft gesetzt“ worden, so „dass (…) allein das Prestige den Vertrieb bestimmt. In Rom agiert eine Marmor-Behörde, die dafür sorgt, dass alle wertvollen Sorten (darunter giallo antico und pavonazzetto) mit kaiserlichen Markierungen versehen werden (…). Damit ist aber klar, dass auch Pollius seinen Marmor dem römischen Kaiser verdankt.“12 Neben den erörterten (a) naturphilosophischen und (b) machtpolitischen Dimensionen der Steindekoration der Villa des Pollius Felix ist außerdem die (c) ‚ästhetische‘ Dimension einer genussvollen Wahrnehmung hervorzuheben.13 Voluptas ist ein Leitmotiv der Epikureer, der Begriff kommt in Silvae II, 2 dreimal vor, auch innerhalb der zitierten Verse, nämlich in V. 72, in dem Statius die Lust und das Vergnügen (eben jene voluptas) thematisiert, die jeder einzelne Fensterausblick gewähre. Implizit bezieht sich diese Lust am Schauen auch auf die geschilderten Bildwerke der griechischen Antike sowie die als bildhaft wahrgenommen beschriebenen Musterungen von Steinen. Raphael Rosenberg unterscheidet jüngst in einem wegweisenden Aufsatz zwischen mimetischen und amimetischen Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen der Äderungen
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und Muster von polierten Gesteinen. Rosenberg zeigt, dass sich Aussagen zu einer „amimethic aesthetic“ des Marmors bereits in der Antike finden. Er analysiert einige Aussagen Plinius’ d. Ä. und zeigt auf, dass diese ausdrücklich nicht auf die mimetischen Qualitäten abheben.14 Auch in den angeführten Versen Statius’ und in seinen anderen Marmorkatalogen15 gibt es durchaus einige Stellen, die auf eine Wahrnehmung und Wertschätzung amimetischer Qualitäten der Marmoräderungen und -muster hindeuten. Jedoch betont Statius (letztlich im Widerspruch zur epikureischen Naturphilosophie des Erbauers) besonders die mimetischen Qualitäten des Marmors, wie bereits am Beispiel der Nachahmung des weichen Grases im harten Gestein (V. 91) aufgezeigt. Dies gilt indirekt auch für eine zweite Passage im oben zitierten Text: Ubi marmore picto candida purpureo distinguitur area gyro („wo sich im farbigen Marmor auf den weißen Flächen purpurne Kreise abzeichnen“, V. 88f.) – hier werden zwar amimetische Qualitäten des Marmors ausdrücklich benannt, dass diese sich aber auch mimetisch deuten lassen, wird von Statius mit einem intertextuellen Verweis auf Silvae I, 5, 38 nahegelegt, wo es von demselben phrygischen Marmor heißt, dass ihn „Attis mit leuchtenden Flecken blutig färbte“. Attis war der Geliebte der in V. 88 des oben zitierten Textes genannten Göttermutter Kybele, der sich selbst entmannte.16 Die saxa der Villa bewahren somit nicht nur die Naturgeschichte, sondern auch Ereignisse des Mythos bildhaft.17 Nach Rosenberg ist davon auszugehen, dass die Römer unter Augustus angefangen haben, Marmorinkrustationen systematisch einzusetzen, die es schon auf Kreta (2. Jt. v. Chr.) gab und die im Hellenismus verbreitet waren. Die ersten erhaltenen anspruchsvollen Wanddekorationen mit ‚gespiegelten‘ Marmorinkrustationen sind etwa 25 Jahre nach Statius' Silvae entstanden. Die Marmorverkleidungen des Erdgeschosses des Pantheon (wohl weitgehend original erhalten, hadrianisch, 118–128 n. Chr.) und eines Speiseraums im damals römischen Ephesos (Marmorsaal der Wohneinheit 6 im Hanghaus 2, durch Inschriften aus den Jahren 119 und 121 n. Chr. datierbar) zeigen, wie Rosenberg feststellt, erstmals das seitdem immer wieder aufgegriffene Prinzip spiegelsymmetrisch angeordneter Steinplatten (das sog. „bookmatching“).18 Statius hingegen spricht nicht über die Anordnung der Gesteinselemente und -platten. Vielleicht war ihm das Prinzip des „book-matching“ von Marmorinkrustationen noch gar nicht bekannt. Eine Geschichte der Rezeption der Silvae in Architektur, Bildkunst und Kunstliteratur ist noch nicht geschrieben. Manfred Luchterhandt hat 1996 auf dieses Manko aufmerksam gemacht und wichtige Hinweise gegeben.19 Aus dem Quattrocento sind Villenbeschreibungen erhalten, die sich auf Statius’ Silvae beziehen. Dafür, dass die Silvae nicht nur in Mailand und Neapel20 sowie in Ferrara21, sondern auch in anderen wichtigen Zentren des Villen- und Residenzbaus im Quattrocento bekannt waren, spricht, dass Polizian, Lehrer der Söhne von Lorenzo de’ Medici, einen Kommentar zu den Silvae verfasste22 und sich in der Bibliothek von Battista Sforza und Federico da Montefeltro in Urbino eine Handschrift der Silvae befand.23 Die editio princeps der Silvae ist im Jahre 1472 erschienen.24 Die Silvae spielen, wie Luchterhandt zeigen konnte, auch für die Dekoration der Sala delle prospettive der römischen Villa
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Farnesina eine entscheidende Rolle. Die Villa wurde von Baldassare Peruzzi für den Bankier Agostino Chigi erbaut und die Sala von ihm 1517–1518 ausgemalt. Statius’ Trias von (bei Peruzzi durch Malerei fingierten) Statuen, von (bei Peruzzi ebenfalls durch Malerei fingierten) Ausblicken und verschiedener (bei Peruzzi ebenfalls fingierter) Buntmarmore dürfte hier aufgegriffen worden sein.25 Auch zeigen einzelne Gemälde des 15. Jahrhunderts eine an Statius gemahnende Kombination von Marmorinkrustationen und Aussichten durch architektonische Öffnungen.26 Eine noch zu schreibende Rezeptionsgeschichte von Statius’ Beschreibung der Villa des Pollius Felix könnte auch untersuchen, ob sich der Architekt Ludwig Mies van der Rohe in wichtigen Gebäuden wie dem Barcelona-Pavillon und seinem sog. Entwurf für ein Museum in einer kleinen Stadt mit ihrer Trias von expressiv geäderten Marmorplatten, Ausblicken und modernistischen Kunstwerken auf Statius bezog.27 Gerd Blum
1 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Auflage, Tübingen/Basel 1993 (1. Auflage 1948), S. 58–62 und Winthrop Wetherbee: Statius, in: The Oxford History of Classical Reception in English Literature, hg. v. Rita Copeland, Vol. 1: 800– 1558, Oxford 2016, S. 227–251. 2 Michael D. Reeve: Statius’ Silvae in the Fifteenth Century, in: The Classical Quarterly N.S. 27/1977, S. 202–225. 3 Vgl. Statius: Silvae, hg. v. David Roy Shackleton-Bailey, Cambridge/Mass. 2003, S. 5. 4 Vgl. zu diesen Briefen und ihrer Wirkung: Reinhard Förtsch: Archäologischer Kommentar zu den Villenbriefen des jüngeren Plinius, Mainz 1993; Pierre de la Ruffinière Du Prey: The Villas of Pliny from Antiquity to Posterity, Chicago/London 1994; Sören Fischer: Das Landschaftsbild als gerahmter Ausblick in den venezianischen Villen des 16. Jahrhunderts: Sustris, Padovano. Veronese, Palladio und die illusionistische Landschaftsmalerei, Petersberg 2014; Gerd Blum: Fenestra prospectiva. Architektonisch inszenierte Ausblicke: Alberti, Palladio, Agucchi, Berlin/Boston 2015, S. 43–147 u. S. 157f. Der Begriff villa bezeichnete im antiken Rom nicht nur das Gebäude, sondern die gesamte Anlage samt Nebengebäuden und Gärten. Siehe James S. Ackerman: The Villa. Form and Ideology of Country Houses, Princeton/N.J. 1990, S. 42f. 5 Hierzu bis heute grundlegend: Heinrich Drerup: Bildraum und Realraum in der römischen Architektur, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 66/1959, S. 147–174. Jüngst: Fischer 2014 und Blum 2015. 6 Die Literatur zu den Silvae ist in den letzten beiden Jahrzehnten stark angewachsen. Eine neuere und gehaltvolle Deutung des hier zu erörternden Kataloges von Buntgesteinen in Silvae II, 2 bietet Bardo Maria Gauly: Das Glück des Pollius Felix. Römische Macht und privater Luxus in Statius’ Villengedicht Silv. 2,2, in: Hermes 134/2006, S. 455–470. Zu Silvae II, 2: Andreas Krüger: Die lyrische Kunst des Publius Papinius Statius in Silvae II,2: Villa Surrentina Pollii Felicis, Frankfurt a.M. 1998. Immer noch einschlägig: Hubert Cancik: Eine epikuräische Villa. Statius, Silvae 2,2: Villa surrentina, in: Der altsprachliche Unterricht
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11/1968, S. 62–75. Über das zweite Buch der Silvae: Harm-Jan van Dam: Statius, Silvae Book II. A Commentary, Leiden 1984 und kürzlich Statius. Silvae Book II, hg. v. Carole Elizabeth Newlands, Cambridge 2011. Jüngst erschienen: Gottfried Eugen Kreuz: Besonderer Ort, poetischer Blick. Untersuchungen zu Räumen und Bildern in Statius’ Silvae, Göttingen 2016. Zoja Pavlovskis: Man in an Artificial Landscape. The Marvels of Civilization in Imperial Roman Literature (Mnemosyne, Suppl., Bd. 25), Leiden 1973, S. 5–16. Vgl. einführend: Phillip Howard De Lacy: Distant Views. The Imagery of Lucretius 2, in: Classical Journal 60/1964, S. 49–55 und Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a.M. 1997 (EA 1979) und Beiträge in Stuart Gillespie u. Philipp Hardie (Hg.): The Cambridge Companion to Lucretius, Cambridge 2007. In Plinius’ Beschreibung seiner tuskischen Villa wird die Aussicht auf ein natürliches „Amphitheater“ aus Hügeln (Epistulae V, 6, 7), ebenfalls mit einem Bild von Menschenhand verglichen (Epistulae V, 6, 13). Vgl. zu diesem Konzept und seiner Wirkung: Friedrich Solmsen: Nature as Craftsman in Greek Thought, in: Journal of the History of Ideas 24/1963, S. 473–496; Dieter Groh: Schöpfung im Widerspruch. Deutungen der Natur und des Menschen von der Genesis bis zur Reformation, Frankfurt a.M. 2003; Blum 2015, S. 47–147. Gauly 2006, S. 463. Die italienischen Begriffe für die Marmorsorten haben sich in der Frühen Neuzeit eingebürgert: vgl. Gabriele Borghini (Hg.): Marmi antichi, Rom 1989 (und mehrere Neudrucke). Karten der Lage der wichtigsten antiken Steinbrüche: John B. Ward-Perkins: Marble in Antiquity. Collected papers, London 1992, S. 152 u. S. 155 (Abb. 140 u. Abb. 141). Gauly 2006, S. 465. Siehe J. Clayton Fant: The Roman Emperors in the Marble Business. Capitalists, Middlemen or Philanthropists?, in: Norman Herz u. Marc Waelkens (Hg.): Classical Marble. Geochemistry, Technology, Trade, Dordrecht u. a. 1988, S. 147–158; ders.: Ideology, Gift, and Trade: a Distribution Model for the Roman Imperial Marbles, in: Wiliam V. Harris (Hg.): The Inscribed Economy. Production and Distribution in the Roman Empire in the Light of instrumentum domesticum. The Proceedings of a Conference Held at the American Academy in Rome on 10–11 January 1992, Ann Arbor 1993 (JRA Suppl. 6), S. 145–170; Patrizio Pensabene: Amministrazione dei marmi e sistema distributivo nel mondo romano, in: Borghini 1989, S. 43–53. Vgl. über die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung als angenehm: Aristoteles, Nikomachische Ethik IX, Kap. 11, 1170af. Raphael Rosenberg: The Amimetic Aesthetic of Marbling, in: Dario Gamboni u. Gerhard Wolf (Hg.): Aesthetics of Marble: From Late Antiquity to the Present, München 2021 (im Erscheinen), S. 205f., hier zitiert nach den Druckfahnen. Siehe auch den Beitrag zu Plinius’ Naturalis Historia von Ilka Mestemacher in diesem Band. Marmorkataloge in den Silvae: Silv. 1, 2, 147–151; 1, 5, 34–41; 4, 2, 26–29. Vgl. Noelle K. Zeiner: Nothing Ordinary Here. Statius as a Creator of Distinction in the Silvae, New York u. a. 2005, S. 84–89 u. S. 183. Statius: Silvae, ed. Wissmüller 1990, S. 34. Zur mimetischen Auffassung von Marmormusterungen siehe hingegen Fabio Barry: Walking on Water. Cosmic Floors in Antiquity and the Middle Ages, in: The Art Bulletin 89/2007,
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S. 627–656; John Onians: Abstraction and Imagination in Late Antiquity, in: Art History 3/1980, S. 1–24. Siehe Rosenberg 2021. Manfred Luchterhandt: Im Reich der Venus. Zu Peruzzis „Sala delle Prospettive“ in der Fa rnesina, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31/1996, S. 207–244 u. S. 228f. Thomas Klein: Parrasios Epikedion auf Ippolita Sforza. Ein Beispiel schöpferischer Aneignung insbesondere der Silven des Statius, Paderborn 1987. Walther Ludwig: Die Borsias des Tito Strozzi. Ein lateinisches Epos der Renaissance, München 1977, S. 107 u. S. 260–263. Auf Statius’ Silvae beziehen sich auch die Beschreibungen von Landsitzen der Este durch Giovanni Sabadino degli Arienti, vgl. hierzu Werner L. Gundersheimer (Hg.): Art and Life at the Court of Ercole I d’Este. The ‚De triumphis religionis’ of Giovanni Sabadino degli Arienti, Genf 1972. Angelo Poliziano, Commento inedito alle Selve di Stazio, hg. v. Lucia Cesarini Martinelli, Florenz 1978. Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Urb. lat. 649: Statii sylvarum libri I–V (illuminierter Codex mit Wappen des Grafen Federico; geschrieben von Nicolaus Riccius für Vespasiano da Bisticci in Florenz, wohl in den siebziger Jahren, so Reeve 1977, S. 203 u. S. 225). Reeve 1977, S. 202–225, hier S. 207. Luchterhandt 1996, bes. S. 228f. Vgl. etwa Piero del Pollaiuolo, Verkündigung an Maria, um 1470, Pappelholz, 152,5 × 176,7 cm, SMB Berlin, Gemäldegalerie. Vgl. Wolf Tegethoff: Die Villen und Landhausprojekte von Mies van der Rohe. Wohnen in einer neuen Zeit, 2 Bde., Krefeld 1981, bes. Bd. 1, S. 127–131; Josep Quetglas, Der gläserne Schrecken. Mies van der Rohes Pavillon in Barcelona, Basel 2001.
Physiologus um 150–200 n. Chr. (?)
Τὰ δὲ κατὰ τὸν ἀδάμαντα πῶς ἐκληπτέον Ἔστι καὶ λίθος ἀδάμας οὕτω καλούμενος· οὔτε γὰρ σιδήρῳ τέμνεται, οὔτε γλυφῇ μαλθακίζεται, ἀλλ’ οὐδὲ τῷ παμφάγῳ πυρὶ κατατήκεται, αἴματι δὲ μόνῳ τραγείνῳ, ὅτι καὶ τῶν ἄλλων τοῦτο θερμότερον τὸ τοῦ λίθου στερρὸν καὶ ἀνένδοτον καταμαλάττεσθαι εἴωθε. τοῦτον μέντοι τὸν ἁδάμαντα καὶ ἐν νυκτὶ λέγουσι καὶ κατὰ τὸ ἀνατολικὸν μέρος εὑρίσκεσθαι.
Wie man die Kunde vom Diamantstein verstehen soll Es gibt auch einen Stein, Diamant [unbezwinglich, Anm. d. Übers.] genannt; er wird nämlich weder von Eisen geschnitten noch vom Meißel behauen, ja nicht einmal vom alles verzehrenden Feuer geschmolzen, sondern nur vom Blut eines Bockes, weil dieses sogar heißer ist als alles und stets die unnachgiebige Härte des Steines erweicht. Man sagt aber, dieser Diamant werde in der Nacht und im Morgenland gefunden.
Διατί δὲ ταῦτα καὶ τίνος ἕνεκεν τῷ βίῳ τούτῳ παρήχθη τοιαύτη φύσις παράδοξος; ἵν’ ὅταν τῷ κατὰ Χριστὸν θείῳ κηρύγματι διαπιστῶν τις εὑρίσκεται, ἀπειθής τε ἄκων ὁρῷτο, καὶ τὸ μυστήριον εὐχερῶς παραδέχοιτο, εἰς αὐτὸν ἀφορῶν τὸν ἀδάμαντα. ἐν νυκτὶ γὰρ καὶ ὁ δεσπότης πάντων Χριστὸς καὶ κατ’ ἀνατολὰς ἐν Βηθλεὲμ καθ’ ἡμᾶς εὑρὲθη ὡς ἄνθρωπος. ὡς καὶ ἄμαχός ἐστι τὴν ἰσχύν· ὅσα γὰρ καὶ οἱ βασιεῖς ἡγεμόνες καὶ τύραννοι κατ’ ἀυτοῦ ἐμελέτησαν, ἀλλ’ ἐσφάλησαν ἅπαντες τοῦ σκοποῦ· ὡς γᾶρ ἀδάμαντι τῷ Χριστῷ προσβαλόντες, ἀνίσχυροι πάντες ἠλέ‹γ›χθησαν· ὅτι δὲ ὁ ἀδάμας ἐναργές ἐστι τοῦ Χριστοῦ προεικόνισμα, καὶ τοῦ προφήτου Ἀμμὼς ἄκουε λέγοντος· «ἰδοὺ ἐγὼ τάσσω ἀδάμαντα ἐν μέσῳ τοῦ λαοῦ μου Ἰσραήλ, και καταλυθήσονται οἱ βωμοὶ τοῦ γέλωτος, καὶ
Aus welchem Grund aber und wozu wurde diesem Ding eine so seltsame Natur verliehen? Damit, wenn einer als willig zum Glauben an die göttliche Verheißung nach Christus erfunden wird, sich aber gegen seinen Willen nicht überzeugen könnte, er sogar das Mysterium gern annähme, indem er gerade auf den Diamanten blickte. In der Nacht nämlich wurde auch Christus, unser aller Herr, und im Lande des Aufganges, in Bethlehem, unter uns als Mensch erfunden. So ist er auch unbezwinglich für jede Macht; denn was auch immer regierende Herrscher und Tyrannen gegen ihn unternahmen, sie verfehlten doch alle das Ziel. Indem sie nämlich gegen Christus wie gegen einen Diamanten anstürmten, wurden sie sämtlich als machtlos erfunden. Dass aber der Diamant ein deutliches Vor-Bild Christi ist, dafür höre
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αἱ τελεταὶ τοῦ Ἰσραήλ ἐρημωθήσονται». πρόδεχε οὖν εἰ μὴ καὶ αὐτῷ τῷ ἀμάχῳ Χριστῷ τὴν ἰσχὺν οἱ τῶν εἰδώλων τε βωμοὶ κατελύθησαν καὶ αἱ τελεταὶ τοῦ Ἰσραὴλ πάντῃ γεγόνασιν ἔρημοι πλὴν ὁ τοσοῦτος Χριστὸς ὁ ἀήττητος τὴν ἰσχύν. ὁ πάντων ἀνώτερος εὑρεθεὶς αἵματι θερμῷ κατὰ τὸν ἀδάμαντα ἐπικάμπτεται· καὶ δῆλον ἐξ ὧν αὐτὸς ὁ Κύριος πρὸς τοὺς ἐκ Ζεβεδαίου, ἡνίκα προσελθόντες αὐτῷ καθέδρας ἐκ δεξιῶν τε καὶ ἀριστερῶν ἐζήτουν, ἔλεγε· «δύνασθε πιεῖν τὸ ποτήριον ὅ ἐγὼ πίνω;» ἀλλὰ καὶ ὁ παμμέγας Παῦλος αὐτὸ τοῦτο προδήλως ἐνέφηνε οὕτως εἰπών· «οὔπω ἀντικατέστητε πρὸς τὴν ἁμαρτίαν μέχρις αἵματος»· αἵματι λοιπὸν θερμῷ κατὰ τὸν ἀδάμαντα καὶ ὁ Χριστὸς ὁ ἀήτητος ἥττηται, σπλάγχνα τε οἰκεῖα μαλάσσεται, καὶ τὴν ἐν οὐρανοῖς ἐντεῦθεν βασιλείαν χαρίζεται. Physiologus. Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart 2001, 32a, S. 58–61.
auch den Propheten Amos, der spricht [Am 7,8f.]: „Siehe, ich stelle einen Diamanten auf inmitten meines Volkes Israel, und die Altäre des Gelächters werden zerfallen, und die Heiligtümer Israels werden einsam werden.“ Nun siehe, ob nicht auch durch Christus, den keine Macht überwindet, die Altäre der Götzen zerstört wurden und die Heiligtümer Israels völlig vereinsamten und nur Christus übrig blieb, groß und unbesiegbar für jegliche Macht. Er, der mächtiger als alle erfunden wurde, lässt sich durch warmes Blut, ganz wie der Diamant, beugen; dies geht aus dem hervor, was der Herr selbst zu den Söhnen des Zebedäus sprach, als sie zu ihm kamen und um die Plätze zu seiner Rechten und Linken baten [Mk 10,38]: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?“ Aber auch der große Paulus machte dasselbe ganz deutlich, indem er so sprach [Hebr 12,4]: „Ihr habt der Sünde noch nicht aufs Blut widerstanden.“ Allein dem warmen Blut also beugt sich der unbezwingliche Christus, ganz wie der Diamant, und lässt sein Inneres schmelzen und schenkt uns daher das Königreich in den Himmeln. Physiologus. Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart 2001, 32a, S. 58–61.
DE ADAMANTE. xxxviii. Phisiologus dicit: e[st] lapis qui dicit[ur] adamas, [et] in quoda[m] monte orient[is] invenitur, ita tamen ut nocte queratur non die, q[uonia]m nocte lucet, ubi fuerit, per diem aut[em] non lucet, q[uonia]m sol obtundit lum[en] eius. hunc lapide[m] non ferru[m], non ignis, nec alius lapis contra eum potest p[re]valere. De hoc lapide
Über den Diamanten. xxxviii. Physiologus sagt: Es gibt einen Stein, der wird Diamant genannt und in einem bestimmten Berg des Orients gefunden, so aber, dass man ihn bei Nacht sucht, nicht bei Tag, da er nachts erleuchtet, wo er ist, am Tag aber nicht erglänzt, da die Sonne sein Licht schwächt. Diesen Stein kann nicht Eisen, nicht Feuer und kein anderer Stein
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a damante dicit p[ro]ph[et]a: „Vidi virum stantem super murum adamantin[um et] in manu eius lapide[m] adamante[m] in medio pop[u]li isr[ae]l.“ Creatori autem creatura p[re]valere non potest, [et] ideo adamas xpc est. Stat aute[m] super murum adama[n] tium, sup[er] s[an]c[t]os [et] vivos lapides, de quib[us] edificatur celestis ierusalem. Hi sunt apostoli, p[ro]ph[et]e, martires, quib[us] neq[ue] ignis, neq[ue] gladius, neq[ue] bestiarum dentes prevalere potuerunt. Et illo vero adamante omnes s[an]c[t]i adamantini lapides a p[ro]pheta dicti sunt, sicut de nomine xpi xpiani nominantur. Nam quia p[ro]ph[et]a dicit: vidi virum stante[m] super murum adama[n]tinu[m], ecce, inquid, in manu eius adamas, i[d est] filius dei [et] filius hominis, qui in utero marie carne[m] assumere dignatus e[st]: ipsum tenet in manu in gl[ori]a deitatis sue […] Ergo mons que[m] dicit phisiologus orientalis, in quo lapis adamas invenit[ur], d[eu]m patre[m] ingenitu[m] significat, ex q[u]o omnia oriuntur. […] Quod lapis per diem non invenit[ur], significat xpm celasse descensione[m] suam celestib[us] virtutib[us et] dominationib[us et] potestatib[us], qui tanq[ua]m luminaria dei assistunt. Non [er]go scierunt i[us]tum celeste portantem ministeriu[m] descensionis ei[us et] incarnationis, q[uo]d futurus erat in terra. Deniq[ue] iam t[ra]nsactis omnib[us] mirabilib[us] eius, que fecit pro humani gen[er]is rede[m]ptione, cum ascendiscet in celos integru[m] at[que] perfectum hominem indut[us] videntes eum superne civitatis agmina dixer[un]t: „Quis e[st] iste rex gl[oria]e, qui ascendit ex edom, rubr[um vestimentu[m] ex bosra?“ Quis e[st] iste, qui ascendit ex
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bezwingen. Über diesen Diamantstein sagt der Prophet: „Ich sah einen Mann mitten im Volk Israel stehen auf einer Mauer aus Diamanten und in seiner Hand einen Diamanten.“ [frei nach Am 7,7] Das Geschöpf kann den Schöpfer nicht überwinden und ist der Diamant Christus. Er steht aber auf einer Mauer von Diamanten, auf Heiligen und lebendigen Steinen, aus welchen das himm lische Jerusalem erbaut wird. Dies sind die Apostel, Propheten, Märtyrer, welche weder Feuer noch Schwert, noch die Zähne der wilden Tiere bezwingen konnten. Und wegen dieses Diamanten sind alle Heiligen vom Propheten Diamantsteine genannt worden, so wie durch den Namen Christi die Christen benannt werden. Und weil der Prophet sagt: „Ich sah einen Mann auf einer Mauer aus Diamanten stehen, und, siehe, sagt er, in seiner Hand ein Diamant, das ist der Sohn Gottes und der Menschensohn, der geruhte in der Gebärmutter Mariens Fleisch zu werden.‘ […]“ [frei nach Am 7,7]. Der Berg aber, den der Physiologus den östlichen nennt, in dem der Diamant gefunden wird, bezeichnet Gott den ungezeugten Vater, aus dem alles hervorgeht […]. Dass der Stein bei Tag nicht gefunden wird, bedeutet, dass Christus sein Herabkommen verbarg in himmlischen Tugenden, himmlischer Herrschaft und Macht, die ihm wie Gottes Lampen beistanden. Nicht nämlich erkannten sie den Gerechten, der die himmlische Aufgabe des Herabkommens und der Fleischwerdung trug, die auf die Erde kommen sollte. Dann schließlich, als er schon all seine Wunder durchgeführt hatte, die er für die Erlösung des Menschengeschlechts bewirkte, als er in die Himmel aufstieg in vollständiger und
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sanguinea [et] rubor vestimenti ei[us] ex carne? Et q[ui]a nocte invenitur ille lapis, q[uonia]m in isti[us] seculi tenebris descendit [et] illuminavit omne hoc genus, quod sedebat i[n] tenebris [et] in regione umbre mortis, sicut dicit david p[ro]ph[et]a ex persona totius humani generis: „q[uonia]m tu illumina[s] lucernam mea[m], d[omi]ne, deus meus, illumina tenebras meas.“ Venit ergo d[omi]n[u]s n[oste]r et lucernam, q[ua]m extinxerat diabolus, id e[st] a[n]i[m]am [et] corpus, in se suscipiens illuminavit splendore gl[ori]e sue vivificans [et] reportans manifestius […] Quod aute[m] de eo lapide dicit phisiologus, quod neq[ue] ferrum illi p[re]valet, id e[st] mors illi non dominabitur. Delevit eni[m] morte[m et] conculcavit sicut per ap[osto]l[u]m testatur dicens: „Devicta e[st] mors in victoria. Ubi e[st] mors contentio tua, ubi e[st] mors aculeus tuus?“ S[et] neq[ue] ignis illi potest quicqua[m] face[re, id est] diabolus, qui ignitis iaculis suis succendit omnem t[er]ram [et] civitates luxuriosos ebriosos [et] iracundos, de quib[us] Isaias dicit: „terra aute[m] deserta, civitates v[est]re igne cremate.“ „D[omi]n[u]s aute[m] ihs xpc interficiet eum sp[irit]u oris sui.“ S[et] neq[ue] alter lapis nocuit, id e[st] nullus homo penitus, neq[ue] ulla creatura poterit adv[er]sus eu[m]. Omnia enim per ipsum facta sunt [et] sine ip[s]o factum e[st] nichil. Eth[imologi]a. Adamas lapis parvus [et] indecorus, ferrugineum habens colorem [et] splendorem cristallinum, [et] in modum nuclei avellani reperitur. […] S[et] dum sit invictus ferro, ignisq[ue] contemptor, hircino sanguine rumpitur recenti, [et]
perfekter Menschengestalt, sahen sie ihn und die Heere der himmlischen Stadt und sagten: „Wer ist dieser glorreiche König, der aus Edom aufsteigt, und das rote Gewand aus Bosra [Anm. d. Übers.: hier grammatischsyntaktischer Bruch durch Zusammenziehung von Zitaten]? Wer ist das, der aus blutigem Fleisch aufsteigt und [was ist] das Rot seines Gewandes aus Fleisch?“ [frei nach Jes 63,1f.] Und weil jener Stein bei Nacht gefunden wird, da er in die Dunkelheiten dieses Zeitalters hinabstieg und jedes Geschlecht damit erleuchtet hat, weil er in Dunkelheit saß und auf der Seite des Todesschattens, wie der Prophet David sagt in der Rolle des gesamten Menschengeschlechts: „Weil du meine Lampe erleuchtest, Herr, mein Gott, erleuchte meine Dunkelheiten.“ [nach Psalm 18,29] Es kam also unser Herr und erleuchtete unsere Lampe, die der Teufel gelöscht hatte, das heißt Seele und Leib, erleuchtete sie in sich aufnehmend, belebend und zurücktragend, deutlich durch den Glanz seines Ruhmes. […] Was aber über diesen Stein der Physiologus sagt ist, dass auch das Eisen ihn nicht überwindet, das bedeutet, auch der Tod ihn nicht bezwingt. Er vernichtete nämlich den Tod und zertrat ihn, wie es beim Apostel bezeugt ist, der sagt: „Besiegt ist der Tod im Sieg. Wo ist der Tod, dein Bestreben, wo ist der Tod, dein Pfeil?“ [nach 1 Kor 15,54f.] Aber auch das Feuer kann ihm nichts anhaben, das heißt der Teufel, der mit seinen feurigen Geschossen die ganze Welt anzündet, die wohlhabenden Städte, die Trunkenen und die Zornigen, über die Isaias sagt: „Die Erde aber ist verwüstet und eure Städte sind im Feuer verbrannt.“ [Jes 1,7] Der Herr Jesus Christus
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calido maceratur, sicq[ue] multis ictib[us] ferri perfrangitur. Cuius fragmenta sculptores p[ro] gemmis i[n]signiendi[s], p[er] forandis utuntur. […] Liber de natura, British Library, Royal 2 C XII, fol. 133r–146v, hier fol. 145r–145v, XXXVI; Ergänzungen und Satzzeichen nach Max Friedrich Mann: Der Bestiaire divin des Guillaume le Clerc, Heilbronn 1888, S. 69–71; je nach Aussprache ist u ggf. in v geändert.
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aber tötet ihn mit dem Geist seines Angesichts. Und kein anderer Stein schadet ihm, das heißt, ist gibt keinen Menschen und kein Geschöpf das irgendetwas gegen ihn ausrichten könnte, alles ist nämlich durch ihn gemacht und ohne ihn selbst ist nichts gemacht. Etymologie [Isidor, Etym. XVI, XIII, 2]. Der Diamant ist ein kleiner und unschöner Stein, der eine eiserne Farbe, einen kristallinen Glanz aufweist und in Form einer Abellanischen Nuß gefunden wird […] Aber während er durch Eisen unbezwinglich ist, und das Feuer verlacht, wird er durch frisches Bocksblut gebrochen und durch Hitze mürbe gemacht und so durch viele Schläge des Eisens zerbrochen. Dessen Fragmente benutzen Steinschneider für das Schneiden und Durchbohren von Edelsteinen. […] Übersetzung: Arwed Arnulf, Bibelstellen nach Mann 1888.
Kommentar Einzig Bocksblut kann den Adamas, den unbezwinglichen Stein, erweichen – diese Vorstellung ist bereits aus vorchristlicher Zeit überliefert. Eine allegorische Ebene erhält sie jedoch erstmals durch die christliche Deutung im sogenannten Physiologus. Diese Sammlung von Anekdoten aus der Natur vereint naturkundliche Beschreibung mit christlicher Auslegung. Je Kapitel wird eine Eigenart (physis) eines Tieres, einer Pflanze oder eines Minerals beschrieben und in Bezug zu Bibelzitaten oder zu Glaubensgrundsätzen gesetzt. Einige der Wesen gelten heute als phantastisch. Zweck der Schrift ist es, der (früh-)christlichen Gemeinde die Glaubensgrundsätze anschaulich nahezubringen und zu zeigen, dass die gesamte Schöpfung auf das Heilsgeschehen ausgerichtet ist.1 Ein bekanntes Beispiel ist das Einhorn, das sich nur von einer Jungfrau fangen lässt, als Sinnbild für Christus, der von der Jungfrau geboren wird. Die Mineralien werden im Physiologus (je nach Überlieferung) wie folgt thematisiert. Die Perle wird in der Muschel geboren, die zu den Steinen gezählt wird: Item lapis est in mari.2 Die Muschel steht für Christus und wird auf das Perlengleichnis bezogen (Mt 13,44–46); die zwei
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Schalen der Muschel symbolisieren das Alte und Neue Testament. Mitunter werden die Apostel, Propheten und Patriarchen als lapides sancti bezeichnet (nach 1 Petr 2,5), die den guten Händler zur Perle führen. Gefunden wird die Perle mit Hilfe des Achats, der für Johannes den Täufer steht. – Der indische Stein zieht das Wasser aus dem Wassersüchtigen wie Jesus den Teufel aus dem Gläubigen zieht. – Der weibliche und der männliche Feuerstein verbrennen sich gegenseitig, wenn sie einander zu nahe kommen; der Mann wird vor der Verführung durch die Frau gewarnt. – Der Magnetstein kann Eisen anheben. Der Physiologus sieht dieses Vermögen eines geschaffenen Dings noch übertroffen vom Schöpfer, der den Himmel über die Erde gehoben hat. – Dasjenige Mineral-Kapitel, welches die weiteste Verbreitung erfuhr (bis hin zur Rezeption in der Kunstliteratur), ist jedoch die Legende um Adamas und Bocksblut. Um die variantenreiche Verbreitung des Adamas-Kapitels zu verstehen, ist es hilfreich, sich zunächst mit der Überlieferungsgeschichte des Physiologus vertraut zu machen – sie umfasst mehr als ein Jahrtausend in zahlreichen Sprachen und Versionen sowie Vers- und Prosafassungen. Autor sowie Entstehungszeit und -ort des Physiologus sind nur ungefähr zu bestimmen. Die Bezeichnung Physiologus (griech. φυσιολόγος, physis „Natur“, lógos „Wort“) meint einen Naturkundigen, der die Natur in wissenschaftlicher wie philosophischer oder theologischer Weise betrachtet, interpretiert und mitunter allegorisiert.3 Oft beginnen die einzelnen Kapitel des Textes mit der Einleitung „Der Physiologus sagt von …“. Wer mit Physiologus gemeint ist, ist nicht bekannt; in manchen Überlieferungen wird er mit Salomon, Origenes, Hieronymus oder anderen identifiziert.4 Die Forschung geht von einer Autorpersönlichkeit aus, die hinter dem ursprünglichen Werk steht und sich auf ‚den Physiologus‘ als Autorität bezieht oder von sich selbst in der dritten Person spricht.5 Der nicht erhaltene Ursprungstext stammte aus Ägypten und war auf Griechisch verfasst. Möglicherweise entstand er bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, spätestens jedoch im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts.6 Bereits unter den rekonstruierbaren griechischen Redaktionen werden vier unterschieden, die wiederum in mehreren Versionen überliefert sind.7 Seit dem 5. Jahrhundert wurde der Physiologus in zahlreiche östliche Sprachen8 und in das Lateinische9 übersetzt. Aus den lateinischen Schriften wiederum gingen seit dem 8. Jahrhundert Übersetzungen bzw. indirekte Übernahmen in germanisch-romanische Bestiarien hervor.10 Der älteste Physiologus enthielt wohl 48 Kapitel, in den verschiedenen Fassungen sind jedoch Kapitel verändert, ausgeschieden oder hinzugefügt.11 In der Langfassung von Pierre de Beauvais’ Bestiaire (um 1217) bspw. ist die Anzahl auf 70 Kapitel gestiegen!12 Vor allem die christlich-moralischen und dogmatischen Aussagen wuchsen über die Jahrhunderte an. Beachtenswert ist, dass den Verfassern und Lesern der Physiologus-Schriften unterschiedliche Bibelversionen vorlagen, von der Septuaginta bis zur Vulgata. Aus dem Bereich der Naturkunde sind einige Anekdoten im Physiologus erstmals festgehalten; bei anderen handelt es sich um Übernahmen aus Schriften von Xenokrates, Aristoteles, Bolos von Mendes, Claudius Aelianus und Plinius dem Älteren.13
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Durch die Verknüpfung der zwei Themengebiete Natur und christlicher Glaube erreichte der Physiologus ein breites Publikum. Er wurde vor allem von den Kirchenvätern und von Verfassern enzyklopädischer Schriften oder Bestiarien rezipiert, seit dem Mittelalter auch in der Volksliteratur (s. u.).14 Bei den spätantiken Autoren ist nicht immer eindeutig, ob ihnen der Physiologus vorlag oder ob sie einzelne Anekdoten aus anderer Quelle kannten – eine Problematik, die mit den Unklarheiten der Datierung des Physiologus einhergeht. Mehr noch als durch den Physiologus selbst wurden die Inhalte über naturkundliche Schriften, Dichtung und Predigt verbreitet.15 Steine kennt sowohl die griechische als auch die lateinische Physiologus-Tradition. Viele der volkssprachlichen Fassungen des Westens gehen jedoch auf zwei lateinische Handschriften aus dem 11. Jahrhundert zurück (die Dicta Chrysostomi und den Physiologus Theobaldi),16 in denen die Steinkapitel fehlen (mit Ausnahme der entzündbaren Steine in den Dicta). Entsprechend sind sie in den volkssprachlichen Überlieferungen ebenso wenig enthalten, mit Ausnahme der englischen und französischen Bestiarien (bspw. dem Bestiaire Divin des Guillaume le Clerc, 1210/1211).17 Aus den zahlreichen Fassungen des Adamas-Kapitels sind für die vorliegende Anthologie eine griechische und eine lateinische ausgewählt worden, die eine dem Ursprungstext nahe kommend, die andere der am meisten verbreiteten Überlieferungsgruppe zugehörig. Bei dem griechischen Zitat handelt es sich um eine Variante der ersten griechischen Redaktion, die Francesco Sbordone auf zwei Handschriften aus dem 11. bzw. 16. Jahrhundert zurückführt.18 Das lateinische Zitat wird zur versio b gezählt, der im Mittelalter am weitesten verbreiteten Prosafassung des Physiologus, und stammt aus einer Sammelhandschrift der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts.19 Adamas (griech. ἀδάμας „unbezwingbar“) bezeichnet ein sehr hartes Material und wird meist mit Diamant übersetzt. Der Adamas erfährt in den Varianten des Physiologus unterschiedliche Auslegungen, von denen die meisten die Härte bzw. Unbezwingbarkeit des Steins und das nächtliche Auffinden im Orient enthalten – so auch die beiden oben zitierten Fassungen. Eine besonders lange und facettenreiche Tradition hat die Aussage, der Adamas könne nur mit Hilfe von Bocksblut bearbeitet werden.20 Die früheste Erwähnung finden wir bei Plinius d. Ä. (um 77 n. Chr.), der die Erzählung über Adamas und Bocksblut zum Anlass nimmt, über Zufall und göttlichen Einfluss in der Natur nachzudenken.21 Plinius beruft sich auf Xenokrates, dessen heute verlorenes Steinbuch wohl auch die Quelle des Physiologus war.22 In der Naturkunde wird die Legende über Jahrhunderte überliefert, u. a. bei Isidor von Sevilla, Marbod von Rennes, Albertus Magnus, Arnoldus Saxo, Vincenz von Beauvais, Thomas von Cantimpré, Bartholomaeus Anglicus, im Steinbuch Alfons’ des Weisen, bei Paracelsus und noch in der Lithotheologie Friedrich Christian Lessers. Die arabische Tradition nennt statt Bocksblut Blei (bspw. im sog. Steinbuch des Aristoteles und in 1001 Nacht); diese Variante fließt im hohen Mittelalter in die lateinische Überlieferung ein.23 Im Physiologus erfährt der Vorgang erstmals eine christlich-allegorische Auslegung. Die Ausdeutung der Legende ist aufgrund ihrer drei Variablen (Stein, Bock, Blut) breit gefächert. In der christlichen Allegorese
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wird der Adamas wahlweise positiv oder negativ gedeutet:24 In der Nachfolge des Physiologus steht er für Christus oder für die Heiligen, er kann jedoch auch die harten Herzen der Sünder symbolisieren, die Christi Blut erweicht.25 Der Variantenreichtum wird bereits in den oben zitierten Versionen deutlich. Beide Quellen nennen die Unzerstörbarkeit des Adamas und das Bocksblut als Ausnahme, führen dies jedoch unterschiedlich aus. Die griechische Quelle vergleicht den Stein mit Christus, gegen den „Herrscher und Tyrannen […] wie gegen einen Diamanten anstürmen“ und sich als machtlos ihm gegenüber entpuppen. Der lateinische Text hingegen legt die Erzählung nahezu kosmologisch aus: Da geschaffene Kreaturen dem Schöpfer nichts anhaben können, kann nichts den Adamas, nämlich Christus und somit Gott, zerstören. Außerdem wird der Adamas hier mit Aposteln, Propheten und Märtyrern verglichen; das Feuer, welches den Stein wortwörtlich kalt lässt, mit dem Teufel. Das prägnantere Phänomen aber, die Erweichung durch Blut, wird nur im griechischen Text ausgedeutet (und auf gleich zwei Bibelstellen bezogen: Mk 10,38 und Hebr 12,4), während der lateinische Text das Phänomen zwar nach Isidors Etymologiae zitiert, jedoch nicht weiter darauf eingeht. Beide Versionen beziehen sich außerdem auf die Prophezeiung des Amos (Am 7,7f.)26 – hier findet sich im hebräischen Alten Testament die einzige Verwendung des Ausdrucks àðê (anach „Zinn, Blei“), welcher in der jüngeren griechischen Bibeltradition mit ἀδάμας übersetzt wurde.27 Doch variieren sowohl Bibelzitat als auch Auslegung: Der griechische Physiologus verbindet mit der Aufstellung des Adamas inmitten des Volkes Israel die Zerstörung heidnischer Altäre. Hingegen deutet die lateinische Quelle den Mann, der in Amos’ Vision mit dem Adamas in der Hand auf einer Mauer steht, in Hinblick auf die Fleischwerdung Christi sowie auf die lebendigen Steine des himmlischen Jerusalem (vgl. 1 Petr 2,5). Im lateinischen Text ist die Auslegung zudem um die Beschreibung des indischen Diamanten nach Isidor von Sevillas Etymologiae (XVI,XIII,2–3) ergänzt.28 Auch außerhalb naturkundlicher bzw. christlicher Schriften verbreitete sich die Legende um Adamas und Bocksblut. In der Dichtung wird die Unbesiegbarkeit des Diamanten gelegentlich auf den Träger des Steins übertragen: neben Erwähnungen in der Naturphilosophie (etwa bei Marbod) zuerst im Erek Hartmann von Aues, dann u. a. im Jüngeren Titurel und in Wolfram von Eschenbachs Parzival.29 Wird die Legende auf bildende Kunst bezogen, finden wir Bocksblut in Kombinationen mit verschiedenen Steinen. Im eingangs zitierten lateinischen Text heißt es, die Steinschneider würden die mittels des Blutes gewonnenen Splitter des Adamas als Werkzeuge benutzen (nach Isidor, Etym. XVI,XIII,2; dort wiederum nach Plinius, Hist. Nat. XXXVII,15,60). Theophilus Presbyter empfiehlt, den Kristall in der Brust eines toten Bocks zu platzieren, sodass er im warmen Blut liege (De diversis artibus 3,95). Laut Giorgio Vasari experimentierte Leon Battista Alberti u. a. mit Bocksblut, um die antiken Methoden zur Bearbeitung von Porphyr wiederzufinden (Introduzione alle tre arti del disegno 1,1). Möglicherweise stammt daher Joachim von Sandrarts Aussage, in der Antike sei Bocksblut zum Bearbeiten von Porphyr verwendet worden (Teutsche Akademie I,1,1).30 Der unbezwingbare
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Diamant ist außerdem ein beliebtes Motiv der Emblematik.31 Obwohl in der Neuzeit die Erfahrung, dass Diamant sehr wohl mit dem Hammer gebrochen werden kann, kritisch der Legende gegenübergestellt wurde (etwa bei Anselm de Boodt, Camillo Leonardi, Giambattista della Porta, Ulisse Aldrovandi und Giacinto Gimma), wurde diese doch bis in das 18. Jahrhundert hinein weiter überliefert.32 Bildliche Darstellungen der Erzählungen des Physiologus treten in der abendländischen Kunst vermehrt seit dem 13. Jahrhundert auf, zeigen jedoch fast ausschließlich Tiermotive, die auch auf die Rezeption von Bestiarien zurückzuführen sind.33 Aus der Gruppe der Mineralien ist im Berner Physiologus (entstanden im Kloster Hautvillers bei Reims um 830) eine Darstellung des indischen Steins zu finden.34 Doch wird gerade die Erzählung um den nahezu unbezwingbaren Stein, der sich nur durch Blut erweichen lässt, eine Rolle in der bildenden Kunst gespielt haben: Nicht nur in den erwähnten Handbüchern und Traktaten, sondern darüber hinaus als ikonographische Ebene der verwendeten bzw. dargestellten Kristalle oder Diamanten. Ilka Mestemacher 1 Vgl. TRE 1996, Bd. XXVI, 596–602, s. v. „Physiologus“ (Klaus Alpers), hier S. 599. 2 British Library, Royal 2 C XII, fol. 145v, zitiert nach Mann 1888, S. 71. 3 Einen detaillierten Überblick zur Verwendung des Namens bei antiken und frühchrist lichen Autoren bietet: Physiologus, übers. v. Michael J. Curley, Chicago u. a. 2009, S. x–xvi. Curley sieht die Aufgabe christlicher Physiologia in „making manifest the nature of God himself by unveiling the vestiges of the Creator in creation“, vgl. ebd., S. xv. 4 Vgl. Curley 2009, S. xvi; LexMA, Bd. VI, München 1993, Sp. 2117–2122, s. v. „Physiologus“ (W. Seibt u. a.), hier Sp. 2118. 5 Vgl. TRE 1996, Bd. XXVI, S. 598f., s. v. „Physiologus“. 6 Zur Diskussion um die Datierung vgl. Curley 2009, S. xvii–xxi; Alan Scott: The date of the Physiologus, in: Vigiliae Christianae 52/1998, S. 430–441; sowie die Literaturangaben im LCI, Bd. 3, Sp. 432–436, s. v. „Physiologus“ (Peter Gerlach), hier Sp. 432. Für Alpers ist die Datierung zwischen 150 und 200 gesichert, vgl. TRE 1996, Bd. XXVI, S. 598, s. v. „Physiologus“ (Klaus Alpers). Die älteste erhaltene Physiologus-Überlieferung ist eine äthiopische Übersetzung aus dem 4. Jahrhundert, vgl. Ursula Treu: The Physiologus and the Early Fathers, in: E. A. Livingstone (Hg.): Historica, theologica et philosophica, gnostica, Leuven 1993 (Studia Patristica, XXIV), S. 197–200, hier S. 197. Die ältesten lateinischen Handschriften stammen aus dem 1. Drittel des 9. Jahrhunderts (Bern, Burgerbiliothek, Codices 233 und 318), die älteste griechische Handschrift jedoch erst aus dem 10./11. Jahrhundert (New York, The Morgan Library & Museum, MS M 397). 7 Vgl. LexMA, Sp. 2118, s. v. „Physiologus“. 8 Vgl. LCI, Sp. 432f., s. v. „Physiologus“. Übersetzungen erfolgten auf Äthiopisch, Syrisch, Armenisch, Koptisch, Arabisch, Georgisch, Rumänisch, Russisch, Bulgarisch, Serbisch und Tschechisch.
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Physiologus 9 Die lateinischen Übersetzungen erfolgten zwischen dem 4. und 6. Jahrhundert, vgl. Curley 2009, S. xxf. (hier auch Kritik an Laucherts Datierung auf „vor 431“, vgl. Friedrich Lauchert: Geschichte des Physiologus, Genf 1974 (= Straßburg 1889), S. 89). Die drei lateinischen Ver sionen (b, c und y) stammen wohl von verschiedenen griechischen Klassen ab, vgl. TRE 1996, Bd. XXVI, S. 600, s. v. „Physiologus“. 10 Angelsächsisch, althochdeutsch (im 11. und 12. Jahrhundert), flämisch, isländisch, französisch, waldensisch, provenzalisch, spanisch und (zu Beginn des 13. Jahrhunderts) italienisch. Vgl. LCI, Sp. 433, s. v. „Physiologus“. 11 Vgl. Nikolaus Henkel: Studien zum Physiologus im Mittelalter, Tübingen 1976, S. 147–151. 12 Vgl. LexMA, Sp. 2118 u. 2120, s. v. „Physiologus“. 13 Vgl. LCI, Sp. 432, s. v. „Physiologus“; Curley 2009, S. xxi–xxiv. Ursula Treu deutet das Fehlen von Homer-Verweisen als Zeichen mangelnder klassischer Bildung des Autors, vgl. Physiologus. Naturkunde in frühchristlicher Deutung, aus dem Griech. übers. u. hg. v. Ursula Treu, 3. Aufl., Hanau 1998, S. 120f. 14 Vgl. LCI, Sp. 432, s. v. „Physiologus“; Lauchert 1974, S. 103–105. 15 Vgl. LexMA, Sp. 2119; Klaus-Peter Wegera: Zur Rezeption des Physiologus im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Germanistik. Publications du Centre Universitaire du Luxembourg 7/1996, S. 73–86, S. 79f. u. S. 80–86. 16 Vgl. Lauchert 1974, S. 92–98; Wegera 1996, S. 75; Curley 2009, S. xxxiv, Anm. 3. 17 Vgl. LexMA, Sp. 2120, s. v. „Physiologus“. Der Bestiaire Divin stammt von der versio b ab (vgl. ebd). 18 Vgl. Physiologus, hg. v. Francesco Sbordone, Mediolani 1936, S. 103 u. S. 106f. Es handelt sich um Handschrift A (Paris, Bibliothèque nationale de France, Grec 2426) und Handschrift Π, die bei Sbordone als „Codex Mosquensis graecus 317 Vladimir“ aufgeführt ist, bei A. Karnejev (Der Physiologus der Moskauer Synodalbibliothek, in: Byzantinische Zeitschrift 3/1894, S. 32–63) als Nr. 432 aus der Moskauer Synodalbibliothek, in TRE 1996, Bd. XXVI, S. 597, s. v. „Physiologus“ als „Mosqu. gr. 317 Vlad [= 432 Matth.], 12. Jahrhundert, süditalienische Provinz“. 19 Max Friedrich Mann zitiert das Diamant-Kapitel aus dieser Handschrift als repräsentabel für die versio b. Vgl. Mann 1888, S. 69–71. Die versio b lag schon Ambrosius und Hieronymus im 4. Jahrhundert vor. Vgl. TRE 1996, Bd. XXVI, S. 600, s. v. „Physiologus“. Zur versio b vgl. außerdem Physiologus Latinus. Éditions préliminaires, versio B, hg. v. Francis J. Carmody, Paris 1939. 20 Die folgende Übersicht beruht auf der Studie von Friedrich Ohly: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976. 21 Plinius wundert sich, durch welchen Zufall ein so kostbares Material mit dem Blut eines so hässlichen Tieres zusammengebracht worden sei, und hält dies für ein Geschenk der Götter (Nat. Hist. XXXVII,15,59f.). Außerdem sieht Plinius Diamant und Bocksblut als Beispiel für Sympathie und Antipathie in der leblosen Natur (ebd. und XX,1,2). 22 Vgl. Ohly 1976, S. 10f. 23 Vgl. Ohly 1976, S. 36–43.
Physiologus 24 Zur Auslegung ad bonam und ad malam partem in Hinblick auf Stein vgl. Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977 (Münstersche Mittelalter-Schriften, 34), S. 53f. 25 Vgl. Ohly 1976, besonders S. 15–20 u. S. 63–97. 26 Auch Hieronymus geht in seiner Auslegung von Amos 7,8f. auf Adamas und Bocksblut ein, wobei er sich auf Xenokrates bezieht: In Amos III,vii,7/9, in: S. Hieronymi Presbyteri Opera, Comentarii in prophetas minores, Turnhout 1969 (CCSL LXXVI), S. 317–320. 27 Freundliche Hinweise von Corinna Körting und Daniel Lanzinger. 28 Die Übernahme aus den Etymologiae ist im obigen Zitat aus Platzgründen verkürzt. Sie findet sich bei Mann 1888, S. 71. 29 Vgl. Ohly 1976, S. 50–62. 30 Vgl. ebd., S. 106–113. 31 Vgl. ebd., S. 117f. 32 Vgl. ebd., S. 114–122. 33 Vgl. LCI, Sp. 433 u. 435, s. v. „Physiologus“. 34 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 318, fol. 21r.
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Ende 4. Jahrhundert n. Chr. 172 Κρύσταλλον φαέθοντα διαυγέα λάζεο χερσὶ λᾶαν, ἀπόρροιαν πυριφεγγέος ἀμβρότου αἴγλης· αἴθεϊ δ’ ἀθανάτων μέγα τέρπεται ἄφθιτον ἦτορ. 175 Τόν κ’ εἴ περ μετὰ χεῖρας ἔχων περὶ νηὸν ἵκηαι, οὔτις τοι μακάρων ἀρνήσεται εὐχωλῇσι. Κέκλυθι δ’ ὄφρα μάθοις μένος ἀργεννοῖο λίθοιο· Εἰ γὰρ ἄτερ κρατεροῖο θέλεις πυρὸς ἐκ φλόγας ὄρσαι κέκλομαι αὐαλέων μιν ὑπὲρ δαΐδων καταθεῖναι· 180 αὐτὰρ ὅ γ’ ἠελίου κατεναντίον αὐγάζοντος αὐτίχ’ ὑπὲρ δαΐδων ὀλίγην ἀκτῖνα τανύσσει· ἣ δ’ ὅτε καρφαλέης τε θίγῃ καὶ πίονος ὕλης, καπνόν, ἔπειτα δὲ πῦρ ὀλίγον, μετὰ δὲ φλόγα πολλὴν ὄρσει· τὴν δ’ ἄρα φασὶ παλαιγενέες ἱερὸν πῦρ. 185 Τάων οὑχ ἑτέρας μᾶλλον φλογὸς ἔλπομ’ ἔγωγε ἁθανάτοις οὕτω κεχαρισμένα μηρία καίειν. Πρὸς δ’ ἔτι τοι καὶ τοῦτο, φίλος, μέγα θαῦμα πιφαύσκω· αὐτόν, ὅτις πέλεται φλογὸς αἴτιος, αἴ κε μάλ’ ὦκα ἐκ πυρὸς ἁρπάξῃς, ψυχρὸς πέλει ἀμφαφάασθαι· 190 ἀμφὶ δὲ καὶ νεφροῖσι δεθεὶς κάμνοντα σαώσει. 172 Ergreife mit den Händen einen leuchtenden durchsichtigen Kristallstein, eine Emanation des unvergänglichen strahlenden Feuerglanzes, an seinem Feuer erfreut sich sehr der Unsterblichen ewiges Herz. 175 Wenn du mit ihm in der Hand zu einem Tempel kommst, wird gewiss keiner der Seligen deine Gebete abweisen. Hör zu, damit du die Kraft des weißen Steines erkennen kannst; Denn wenn du ohne mächtiges Feuer Flammen entfachen willst, dann rate ich dir, ihn auf trockenes Kienholz zu legen. 180 Der aber wird, wenn die Sonne aus der Gegenrichtung scheint, sogleich auf das Kienholz einen dünnen Lichtstrahl werfen. Und sobald dieser das dürre und harzige Holz berührt,
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lässt er Rauch entstehen, dann ein kleines Feuer, und schließlich eine starke Flamme. Genau dies ist, wie die Vorfahren sagen, das heilige Feuer. 185 Ich meine, dass keine andere Flamme besser als diese die den Göttern so willkommenen Schenkelknochen verbrennt. Außerdem zeige ich dir, mein Freund, noch dieses große Wunder an: Wenn du ihn [den Stein], der die Flamme verursachte, sehr rasch aus dem Feuer herausreißt, fühlt er sich bei der Berührung kalt an. 190 Und wenn man ihn [bei Erkrankung] um die Nieren gebunden trägt, wird er den Kranken heilen. Ps.-Orpheus Lithika, VV. 172–190, in: Robert Halleux u. Jacques Schamp (Hg.): Les Lapidaires grecs, Paris 2003, S. 91–92. Übersetzung: Alessandro Musino
Kommentar Das Ps.-orphische didaktische Gedicht Lithika1 widmet sich ausführlich der Verwendung von Steinen als Heilmittel im religiösen Kult, in der Magie und teils auch in der Medizin; wenn es in der Überlieferung auch wiederholt dem mythischen Sänger Orpheus zugeschrieben wurde, so wurde das Gedicht doch von einem unbekannten spätantiken Autoren verfasst.2 Ähnlich wie auch für Plinius d. Ä. in dessen Imagination der natura, gilt für den Dichter darin die Erde, gaia, als Mutter allen Übels wie auch als Heilmittel für jedes vorstellbare Leiden (VV. 405–406). Die Heilwirkung von Mineralien ähnelt nicht nur der Wirkung der Pflanzen – ὅσσα δύνανται | ῥίζαι, τόσσα λίθοι· „was immer Wurzeln können, können auch Steine“ (VV. 409–410) –, sondern übertrifft jene sogar, da Steine im Gegensatz zu Pflanzen weder altern noch sterben (VV. 411–412). In das Gedicht fließen theurgische und neoplatonische Vorstellungswelten ein, welche in der bisherigen Forschung meist lediglich hinsichtlich seiner möglichen Datierung diskutiert wurden.3 Als Beispiel für diesen neoplatonischen Sinngehalt findet das in V. 173 des Gedichts aufgerufene Gedankenbild einer Lichtstrahlung aus dem Stein, ἀπόρροιαν πυριφεγγέος ἀμβρότου αἴγλης „Emanation des unvergänglichen strahlenden Feuerglanzes“ ihr Echo bei Proklos, der in Ad Rem Publicam II 157kr in vergleichbarer Weise argumentiert: πολλάκις ἐλλάμπει καὶ λίθοις ἀπορροίας ἔχουσι φῶς ἡλίου καὶ σελήνης καὶ ἄστρων „Oftmals reflektiert sich das Licht der Sonne, des Mondes und der Sterne sogar in den Steinen, da sie Emanationen haben.“ Das Gedicht kreist inhaltlich um ver schiedene Themen, welche sowohl für die Theurgen wie auch für die Neuplatoniker von zentraler Bedeutung waren: die Sonne, die wohltätige Kraft des Hermes, die Weitergabe von religiösen Kulten und Wissen innerhalb der Gruppe der Eingeweihten und schließlich die Verwendung von Naturmaterialien, um mit dem göttlichen Wesen in Verbindung zu treten.4
Lithika
Als frühester Beleg für das Stein-Gedicht und seine Zuschreibung an Orpheus, den begnadeten Sänger aus der griechischen Mythologie, gilt der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes (12. Jahrhundert n. Chr.), der wiederholt Stellen aus diesem Gedicht mit dem Titel Lithika Orpheōs wiedergibt.5 Das byzantinische Suda Lexicon (10. Jahrhundert n. Chr.) zählt außerdem eine Schrift über gravierte Gemmen mit dem Titel Ogdoēkontalithos („das Buch der achtzig Edelsteine“) unter die Werke des Orpheus.6 Dieser Titel deckt sich jedoch nicht mit dem Inhalt dieser Schrift, welche unter Berücksichtigung von Dopplungen und alternativen Namen lediglich 25 Steine aufzählt, die zudem auch nicht als graviert beschrieben werden.7 Wenn wir ausschließen, dass es im Laufe der knapp 200 Jahre zwischen diesen beiden bekannten Quellen zu einem tiefgreifenden Prozess des Redigierens und Exzerpierens kam, müssen wir somit davon ausgehen, dass es sich um zwei verschiedene Stein-Texte handelt, welche jeweils beide Orpheus zugeschrieben wurden. Orpheus selbst bleibt im Text der Lithika zwar unerwähnt, doch lassen einige inhaltliche Bezüge zu dieser mythischen Gestalt durchaus nachvollziehbar erscheinen, warum der Sänger und Dichter als Verfasser des Textes galt: erhaltene Variationen des Mythos, wonach seine Frau Eurydike von einer Giftschlange gebissen ums Leben kam, lassen sich in Beziehung mit dem abschließenden Teil des Lapidariums bringen, welcher sich Giftschlangen und Skorpionen widmet. Auch die Erzählung über einen Magier, der durch eine aufgebrachte Menschenmenge umgebracht wurde (V. 71–74), deckt sich mit einigen Schilderungen über das Ende des Orpheus. Ein Überlieferungsstrang des Mythos gibt zudem an, dass Orpheus auch in der Lage gewesen sei, sogar Steine zu beschwören.8 Bereits ab der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurden Dichtungen mit eschatologischen, theologischen, mantischen oder pharmazeutischen Themenkreisen wiederholt mit Orpheus als Verfasser in Verbindung gebracht; aufgrund seiner zunehmenden Bedeutung als mutmaßlichem Gründervater mystischer und dionysischer Kulte verlieh sein Namen den Gedichten eine gesteigerte Autorität.9 Das Gedicht hat sich in neun Manuskripten erhalten, das Älteste davon stellt ein Exzerpt aus dem 14. Jahrhundert dar (V). Zwei Überlieferungsstränge lassen sich unterscheiden: eine Version ohne Scholien und Zwischentitel wird durch Ambrosianus B 120 (verkürzt A, 15. Jahrhundert) überliefert. Eine zweite Version gilt bei manchen Editoren als weniger verlässlich, sie wird durch die Manuskriptgruppe BMPPalV aus dem 16. Jahrhundert (Pal hingegen datiert aus dem 15.–16. Jahrhundert) und zwei Abschriften hiervon tradiert.10 In den späteren Manuskripten werden knapp 15 Steinsorten (der Achates sogar doppelt) durch Zwischentitel voneinander abgetrennt, welche den im Folgenden behandelten Stein jeweils benennen; diese Zwischentitel gelten als Ergänzung des Scholiasten Demetrius Moschus.11 Lediglich textimmanente Äußerungen helfen bei der Frage nach der Datierung weiter, welche in der Forschung vielfach diskutiert wurde; je nach Forscher variiert die Datierung gar zwischen dem zweiten Jahrhundert v. Chr. und dem späten 4. Jahrhundert n. Chr., wobei letzteres mittlerweile als gesichert gilt.12 Tyrwhitt schlug vor, dass sich die Verse 71–2 direkt auf ein historisch gesichertes Ereignis beziehen würden und dadurch eine Datierung ermög-
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lichen: die Enthauptung des Theurgen Maximos von Ephesus, des Lehrers von Kaiser Julian (Julianus Apostata), welche im historischen Kontext der Forderungen zur Enthauptung von Magiern im Edikt des Kaiser Valens (371/372 n. Chr.) zu verstehen ist.13 Das Werk besteht aus 774 daktylischen Hexametern in einer komplexen und ineinander verwobenen Erzählstruktur in fünf Teilen: 1 VV. 1–92: ein Proömium, in dem der anonyme Dichter vorgibt, vom Gott Hermes beauftragt zu sein, direkt von Zeus stammendes Geheimwissen über die Wirkung der Steine zum Wohle der rechtschaffenen Menschen zu verbreiten und er daher ausführlich über diese Lehre berichtet. 2 VV. 93–171: ein sogenanntes „Zweites Proömium“ in Form einer bukolischen Erzählung, in welchem der Dichter von einer Begegnung auf dem Lande mit einer Gestalt namens Theiodamas berichtet, welche als Erzähler des nachfolgenden dritten Teils wiedergibt. 3 VV. 172–399: die erste von zwei didaktischen Erörterungen oder auch „Offenbarungen“ über Steine und Mineralien bei Theiodamas erzählt. 4 VV. 400–772: die zweite Offenbarung über den Einsatz von Steinen bildet den abschließenden vierten Teil des Gedichts. Um die Angst seines Gefährten vor gefährlichen Schlangen zu lindern, rezitiert Theiodamas verbatim Empfehlungen zum Einsatz von Steinen gegen Schlangen und Skorpione, welche einst vom Seher Helenos,14 dem Sohn des Priamos, an den griechischen Heroen Philoktetes gerichtet wurden. Im Gedicht heilte Helenos darauf den antiken Helden vor dem Fall Trojas von einem Schlangenbiss.15 5 VV. 773–4 Epilog bei dem Erzähler. Die Präsenz der beiden „Lehrer“ in den beiden thematisch divergenten Abschnitten wurde in der Forschung dadurch erklärt, dass die Ursprünge des steinkundlichen Wissens im Text auf zwei unterschiedliche Lapidarien zurückzuführen seien: angenommen wurde hierbei neben einem mystisch-religiösen Text ein zweiter eher medizinisch-magisch ausgerichteter Text;16 ergänzt wurde dies durch ein drittes breit angelegtes Lapidarium, welches auch als Quelle des lateinischen Steintraktates des Damigeron und Evax gilt.17 Wenngleich diese Idee verlockend erscheint, so verengt sie doch unseren Blick auf das reichhaltige und verschlungene Gedicht. Während die beiden mineralogischen Abschnitte zwar vordergründig von zwei unterschiedlichen Erzählern wiedergegeben werden, so werden diese doch durch die Gestalt des Theiodamas zusammengeführt, was durch die Ringkomposition stringent bis in die letzten zwei Verse des Gedichtes fortentwickelt wird. Innerhalb der zwei Gedichte sollten daher die Einträge über die verschiedenen Steinsorten als literarische exempla der jeweiligen Behauptungen und Erzählstrategien der beiden Gedichte verstanden werden. Mit Blick auf die Stein-Kataloge zeigt sich zudem, dass diese keineswegs auf das übergeordnete Thema der jeweiligen Sektion eingeschränkt werden: in jedem Abschnitt wird der Stein zunächst hinsichtlich seiner Erscheinung, Farbe und optischen Qualitäten wie etwa Transparenz
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beschrieben und es werden alternative Benennungen aufgeführt. Die jeweiligen besonderen Eigenschaften eines Steines werden teils ausführlicher, teils in verkürzter Form vorgestellt. Diese Beschreibungen zur Wirkung der Steine reichen von der Landwirtschaft, Heilwirkung, der Verbindung zum Göttlichen bis hin zum Liebeszauber. Beschrieben werden außerdem Bezüge zur klassischen Mythologie, etwa bei Medea und Circe und den Helden des Trojanischen Krieges. Demgegenüber sieht der Verfasser über Fragen nach der geographischen Herkunft oder den Fundorten der Steine eher hinweg, welche als Ordnungsprinzip in den Steinkatalogen seiner Vorgänger Theophrast und Plinius d. Ä. wie auch für die Lithika des Epigrammatikers Poseidippos von Pella noch von zentraler Bedeutung waren. Bekanntermaßen bestehen beim zweiten Proömium enge Verbindungen zu den bukolischen Idyllen (Eidyllia) des Theokritos, besonders zum siebten Gedicht Das Erntefest (Thalysia).18 Diese Bedeutung der erzählerischen Rahmung, welche zu Beginn die in den nachfolgenden Steinbeschreibungen aufgerufenen Themen ankündigt, sollte daher nicht unterschätzt werden. Der Dichter erzählt hierin, wie er sich einmal zu einem ländlich gelegenen Heiligtum des Helios aufmachte, um dort ein Dankritual für eine in Kindertagen erfolgte Rettung von einem Schlangenbiss zu vollziehen. Auf dem Weg dorthin begegnete er einem weisen Mann namens Theiodamas und lud ihn ein, ihn zu diesem Opferfest zu begleiten. Er schildert seinem Begleiter, wie er einst als Kind bei der Rebhuhnjagd plötzlich auf eine riesige Schlange traf. Er griff nach einem verkohlten Holzstamm vom Altar des Helios und schaffte es, das gefährliche Tier damit abzuwehren, bis ihm schließlich die beiden Hunde des Vaters zur Hilfe eilten und die Schlange vertrieben. Erleichtert versteckte er sich in einer Herde inmitten von Schafen und Ziegen. Der heitere Ton und die geradezu mirakulöse Rettung des erstaunlich beherzten Kindes sind hellenistisch geprägt und ähneln der Idylle 24 des Theokritos, worin von der Tötung der von Hera gesandten Schlangen durch den kleinen Herakles berichtet wird. Aus der Idylle 7 des Theokritos werden die Begegnung mit einem weisen Mann auf dem Lande (VV. 93–95), die Einladung zu einem Fest (VV. 96–104), der locus amoenus am Heiligtum des Helios (ausführlich geschildert in VV. 159–163) und der nachfolgende bukolische Wechselgesang übernommen. Im Modus des bukolischen Wechselgesangs in Hexametern (wie bei den meisten der Idyllen des Theokritos) berichtet Theiodamas dem lyrischen Ich von den besonderen Wirkkräften der Steine. Im Text legt nichts nahe, diese Figur des Theiodamas als „Sohn des Priamos“ zu verstehen, wie noch die Hypothesis von Demetrius Moschus zu Beginn der Manuskripte behauptet.19 Vermutlich beruht diese Annahme auf einem Missverständnis von Vers 771–772 am Ende des Gedichts: Ὣς ἄρ’ ἔφη Πριάμοιο διοτρεφέος φίλος υἱός „Und so sprach Priamos’ geschätzter Sohn, der von Zeus genährt wurde“. In dieser Weise bezeichnet wird gleichwohl Helenos am Ende seiner Unterredung mit Philoktetes (letztgenannter wird in V. 772 als „Diener des furchtlosen Herakles“ benannt, weil er dessen Bogen erhielt); diese Zeile stellt das Ende der zweiten Offenbarung dar. Die oben zitierte Passage stammt vom Beginn der ersten mineralogischen Sektion; sie wird von Theiodamas an das lyrische Ich des Dichters gerichtet und hat zugleich den Leser als verborgenen zweiten
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ezipienten. Wie üblich in der didaktischen Dichtung erscheinen das auffordernde κέκλυθι R „hör zu“ (V. 177) und die direkte Anrede φίλος „mein Freund“ (V. 186). Gemeinsames Merkmal der ersten acht in dieser mineralogischen Sektion genannten Steine ist ihre Eigenschaft, dass sie den Göttern besonders gefallen. Dies greift die im Proömium in VV. 37–38 angelegte Geheimlehre auf: εὐχομένου τε πρὸς οὔατ’ αφίξεται αἰὲν ἐόντων | εὐχή („wenn er [d. h. der eingeweihte Magier] betet, wird sein Gebet stets die Ohren der Ewigen erreichen“). Die Ermöglichung dieser Verbindung zum Göttlichen bildet den zentralen Grundgedanken im Eintrag zum krystallos. „Wenn du mit ihm in der Hand zu einem Tempel kommst, wird gewiss keiner der Seligen deine Gebete abweisen.“ (VV. 175–176) legt nahe, dass der Bergkristall hier als Weihe- oder Votivgabe verstanden wird. Mit Blick auf das Ziel des Erzählers, den Altar des Helios, machen die Schilderung des göttlichen Vergnügens am Leuchten des krystallos (V. 174) sowie die Verse 185–186 („Ich meine, dass keine andere Flamme besser als diese die den Göttern so willkommenen Schenkelknochen verbrennt“) deutlich, dass es sich hierbei um einen praktischen Rat für das unmittelbar anstehende Opfer handelt, welcher die beiden Teile des Gedichts somit verbindet. Wenn wir die zentrale Bedeutung von Helios im gesamten Gedicht berücksichtigen, zeigt sich, dass der krystallos notwendigerweise der erste diskutierte Stein ist, da seine Erscheinung analog zu Eigenschaften der Sonne selbst beschrieben wird: er ist φαέθοντα „leuchtend“ (V. 172) und ἀπόρροιαν πυριφεγγέος ἀμβρότου αἴγλης eine „Emanation des unvergänglichen strahlenden Feuerglanzes“ (V. 173). Auch seine Hauptqualität beruht auf der engen Verbindung mit der Sonne: αὐτὰρ ὅ γ’ ἠελίου κατεναντίον αὐγάζοντος |… ὀλίγην ἀκτῖνα τανύσσει „Der aber wird, wenn die Sonne aus der Gegenrichtung scheint, sogleich auf das Kienholz einen dünnen Lichtstrahl werfen“ (V. 180–181). Der krystallos ist einer der wenigen in antiken Quellen aufgeführten Steine, welcher (nicht zuletzt dank der „wissenschaftlichen“ Beschreibung seiner Farbe und seiner hexagonalen Kristall-Struktur durch Plinius d. Ä.20) auch heute noch mit Sicherheit identifiziert werden kann: es handelt sich dabei um den Bergkristall, ein transparentes farbloses Quarzgestein (SiO2). Die alten Griechen glaubten, der Stein sei eine Art von Eis21 und aus diesem Grund umfasst das griechische Wort krystallos sowohl „Eis“ als auch „Bergkristall“.22 Die Verknüpfung des Steins mit dem Eis wird in Ps.-Orpheus Lithika nicht explizit vorgebracht; doch scheint diese Vorstellung in einer wundersamen Schilderung am Ende der Passage auf (VV. 187–189), wo davon berichtet wird, dass der Stein das Feuer zu entzünden vermag, aber selbst auch Kälte empfinden könne. Auch Plinius d. Ä. beschrieb eine derartige erstaunliche Fähigkeit bei einem chalazias („Hagelkorn“) genannten Quarzstein.23 Erstmalig wird im 5. Jahrhundert v. Chr. beim attischen Komödiendichter Aristophanes in seinem Stück Die Wolken (VV. 766–768) beschrieben, wie Feuer mithilfe einer Kristalllinse als Brennglas entzündet werden könne, Aristophanes bezieht sich hierbei auf einen transparenten Edelstein namens hyalos.24 Auch Plinius d. Ä. beschreibt die Nutzung von Bergkristall als Brennglas, allerdings eingeschränkt auf den medizinischen Aspekt der u. a. zur Zerstö-
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rung von bösartigem Gewebe praktizierten Kauterisation.25 In Ps.-Orpheus Lithika bezieht sich die medizinische Anwendung des krystallos einzig auf seine Heilkraft für die Nieren. Keines der genannten Beispiele entstammt dem religiösen Bereich und vergleichbare religiöse Praktiken sind im antiken Griechenland nicht belegt. Der Dichter schweigt sich aus über den geographischen Ursprung der „Vorfahren“, welchen er den Kult des „heiligen Feuers“ zuweist (ausführlich in VV. 178–181). In der Forschung wurde angenommen, dass es sich hierbei um einen zoroastrischen Kult handeln müsse; dies stützt sich auf Pausanias, der beschreibt, wie persische Magier auf dem Altar Feuer machen konnten, ohne es zu entzünden.26 In Pausanias’ Anekdote fehlt jedoch der für die Ps.-Orpheus Lithika zentrale krystallos und auch darüber hinaus fallen viele Fehleinschätzungen der zoroastrischen Religion auf: jede Art von Feuer galt den Zoroastriern als heilig und daher wurden die Feuer in den Tempel fortwährend am Brennen gehalten. Dies gilt mit der Ausnahme von manchen kleineren Tempeln, in denen das Feuer bis auf die Glut unter der weißen Asche niederbrennen durfte. Wenn gewünscht, konnten die Flammen dann durch Öl und neues Feuerholz jederzeit wieder „wie von selbst“ zum Brennen gebracht werden.27 Ungewöhnlich ist zudem, dass der krystallos in der ausgewählten Passage wie im antiken Sprachgebrauch üblich als „leuchtend“ und „durchsichtig“ (V. 172), in einer nachfolgenden Passage jedoch als „weiß“ (ἀργεννοῖο) bezeichnet wird. Nur in einem weiteren Lapidarium, dem Lithognomon des Xenokrates von Ephesos, wird der Stein ebenfalls als „weiß“ beschrieben: Xenokrates erwähnt, daß der Kristall aus dem indischen Ozean geholt wird. Er ist ein weißer, klarer Stein von ausgezeichneter Durchsichtigkeit. Dies hat zur Folge, daß die Strahlen der Sonne, wenn sie ihn berühren, auf ihn treffen und von ihm abgelenkt werden und dann auf einen zarten Gegenstand fallen wie weiche Baumwolle, Zunder, dünne, schwarze Leinenlappen oder auf Zündwerk aus Holz, daß sie dann in diesen Gegenständen augenblicks ein loderndes Feuer entfachen.28 Möglicherweise legt dies nahe, dass entweder Xenokrates’ Schrift selbst oder Zitate bzw. Exzerpte des Lithognomon in anderen Texten als Quelle für einige der steinkundlichen Abhandlungen in den Ps.-Orpheus Lithika dienten. Sanne Rishøj Christensen Übersetzung: Isabella Augart und Franziska Weise 1 Gestützt auf eine Äußerung des byzantinischen Gelehrten Johannes Tzetzes sprach sich auch Eugen Abel (Orphei Lithica, Berlin 1881, S. 39) für den Titel Lithika anstelle des in den weniger verlässlichen Manuskripten BMPalV aufgeführten Titels Peri Lithōn („Über Steine“) aus. Im Griechischen entsprechen sich die Sinnebenen beider Titel weitgehend. Vgl. hierzu Theodor Hopfner: RE XIII 1/1960, S. 747–769, s. v. „Λιθικά“. Das Suffix -ka im Neutrum Plural
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Ps.-Orpheus tritt vielfach bei Titeln von epischer oder didaktischer Dichtung auf, so etwa bei den Theriaka des Nikandros von Kolophon oder bei Oppians Halieutika. 2 Vgl. Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science, 8 Bde., New York 1923, Bd. 1, S. 294–295. 3 Eine Ausnahme stellt dar: Enrico Livrea: Rezension von R. Halleaux u. J. Schamp: Les Lapidaires grecs (Paris 1985), in: Gnomon 64.3/1992, S. 204–211. 4 Zur Bedeutung von Hermes in religiösen Riten der Theurgie vgl. Rowland Smith: Julian’s Gods, New York 1995, S. 91–113. 5 Vgl. Robert Halleux u. Jacques Schamp (Hg.): Les Lapidaires grecs, Paris 2003, S. 68 und die Belege von Tzetzes et al. im kritischen Apparat des Textes. 6 Ada Adler: Lexicographi Graeci Bd. 1.3: Suidae Lexicon, Leipzig 1933, S. 564–565, Suda 654, s. v. „Orpheus“: ἐν τούτοις δ’ ἐστὶ περὶ λίθων γλυφῆς, ἥτις Ὀγδοηκοντάλιθος ἐπιγράφεται·. 7 Bei Halleux u. Schamp 2003, S. 76 findet sich eine umfassende Aufzählung und Identifikation aller 25 in ps.-Orpheus Lithika beschriebenen Steinsorten. Andere Wissenschaftler wie Martin L. West: The Orphic Poems, Oxford 1983, S. 36 führen 29 Steine auf, doch bleiben hierbei Doppelnennungen unberücksichtigt. So wird der wohl mit dem Baumachat identifizierbare achates dreifach behandelt, einmal unter der alternativen Bezeichnung eupetalos („blättrig“, VV. 230–231) und zweimal als achates (VV. 232–243 u. VV. 610–650). 8 Orpheus’ Fähigkeit, Steine zu beschwören, wird erstmals bei Euripides in Iphigenie in Aulis (posthum um 405 v. Chr aufgeführt) VV. 1211–1214 beschrieben, wo Iphigenie dies als unerreichbares Musterbeispiel für die Redegabe anführt: εἰ μὲν τὸν Ὀρφέως εἶχον, ὦ πάτερ, λόγον, | πείθειν επᾴδους’, ὥϲθ’ ὁμαρτεῖν μοι πέτρας… („Wenn ich doch die Redegabe des Orpheus hätte, oh Vater, durch das Singen zu betören, sodass die Steine mir folgten …“). Diese Version des Mythos wird nachfolgend u. a. bei Ovid, Metamorphosen XI 2 u. XI 18–19 aufgegriffen. Ovid scheint hier bewusst die Version des Mythos über Orpheus mit den Steinen zu verwenden, welche bei Vergil ausgelassen wird. Nach Vergil, Georgica IV. 510, vermag Orpheus lediglich wilde Tiger zu beschwören und Eichenbäume anzuziehen; auch die zuvor geschilderte Episode von Orpheus und Eurydike in Georgica IV. 453–509 erwähnt keine Steine. Vgl. Ovids überaus ironische Beschreibung, wie sich Orpheus nach dem Tod seiner Frau selbst sinnbildlich in Stein verwandelt (Met. X 51–79), ein vielfach in den Metamorphosen verwendetes Bild. Zur Rolle von Orpheus im Mythos vgl. Timothy Gantz: Early Greek Myth 1993, Bd. 2, S. 721–725 und die Textbelege Nr. 46–55 und 82–88 (zur Magie) bei Otto Kern: Orphicorum Fragmenta, Berlin 1963. 9 Zu dieser Entwicklung vgl. West 1983, S. 36 u. S. 259–260. 10 Vgl. Halleux u. Schamp 2003, S. 77 mit einer Auflistung von Manuskripten und S. 62–71 zur Geschichte des Textes. 11 Vgl. ebd., S. 62. 12 Eine Datierung im ausgehenden 4. Jahrhundert n. Chr. wurde erstmals vorgeschlagen in Thomas Tyrwhitt: De Lapidibus, poema Orpheo a quibusdam adscriptum, London 1781 reproduziert in Gottfried Hermann: Orphica Leipzig 1805, S. 56. Tyrwhitt argumentiert, dass die in VV. 71–74 beschriebene Enthauptung eines Magiers als Verweis auf die Verfolgung der Magier, insbesondere auf die Hinrichtung des Theurgen Maximos von Ephesos im Jahre 371/372 n. Chr. verstanden werden müsse. In seiner ausführlichen und überaus
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kritischen Rezension zur Edition des Textes bei Halleaux u. Schamp 2003 übernimmt Livrea 1992, S. 204–211, hier S. 205–206 diese Datierung ins ausgehende 4. Jahrhundert n. Chr. Die Textedition von Halleaux u. Schamp 2003, S. 51–57 hingegen setzt den Text ins 2. Jahrhundert n. Chr. und begründet dies mit Ähnlichkeiten des Gedichts (u. a. im Versmaß) zum sogenannten Chaldäischen Orakel, welches ebenfalls aus textimmanenten Gründen in das 2. Jahrhundert datiert wird. Charles W. King: The Natural History, Ancient and Modern, of precious stones and gems and of precious metals London 1865, S. 397–398 betonte erstmals, dass die Passage in VV. 71–74 aufgrund ihrer vagen Aussagekraft nicht als historischer Beleg interpretiert werden könnte. Er datierte die Ps.-Orpheus Lithika in das 2. Jahrhundert v. Chr. aufgrund der Aussage des Scholiasten Demetrius Moschus, dass Nikandros von Kolophon aufgrund der Ps.-Orpheus Lithika zu seinen Theriaka angeregt wurde – was jedoch aus metrischen und linguistischen Überlegungen als höchst unwahrscheinlich gelten kann. Nicola Zito: Massimo di Efeso e i Lithica Orfici, in: Rivista di Filologia 140.1/2012, S. 134–166 vergleicht Sprache und Stilistik der Ps.-Orpheus Lithika mit dem Maximos von Ephesos zugeschriebenen astrologischen Gedicht Peri katarchōn und schlug vor, dass die Ps.Orpheus Lithika später entstanden seien. Er kommt zu dem Schluss, dass beide Texte dem kulturellen Umfeld von Maximos von Ephesos und Kaiser Julian (Julianus Apostata) entstammen und stützt somit die Datierung in das 4. Jahrhundert. Demgegenüber ist die Verfolgung von Magiern in der Antike vielfach belegt und bereits die Lex Cornelia de sicariis et veneficis (81 v. Chr.) forderte strenge Strafen gegen Magier, vgl. Justinian, Institutiones 4.18.5. Vgl. Daniel Ogden: Magic, Witchcraft and Ghosts in the Greek and Roman Worlds. Oxford 2002, Kap. 14 Magic and the Law, S. 275–299. Ein bekanntes Beispiel ist Apuleius’ Apologia (= Pro se de Magia, um 158/150 v. Chr.), worin der Autor sich selbst gegen den Vorwurf der Magie verteidigt, vgl. Vincent Hunink: Apuleius Apology, in: Stephen Harrison (Hg.): Apuleius Rhetorical Works, Oxford 2001, S. 12. Zur Verfolgung von Magiern durch Kaiser Valens seit 371/72 n. Chr., vgl. Noel Lenski: Failure of Empire: Valens and the Roman State in the Fourth Century A.D., Berkeley 2002, S. 223– 234 und Dirk Rohmann: Christianity and the History of Violence in the Roman Empire: A Sourcebook, Tübingen 2019, S. 69. Helenos wird bei Homer, Ilias 7. 44–45 und in einigen der Zyklischen Gedichte als Seher beschrieben, vgl. Albert Bernabé: Poetarum Epicorum Graecorum, Bd. 1, Leipzig u. a. 1987, S. 39, Nr. 9 (= Cypria, argumentum = Proclus, Chrestomathy 80 Seve) und ebd. S. 74, Nr. 6–7 (= The Little Iliad, Argumentum 1 (= Proclus, Chrestomathy 206 Seve), ebd. S. 75, Nr. 2 (= The Little Iliad, Argumentum 2 (= P Rylands 22), führt aus, dass Helenos von Odysseus gefangen genommen wurde und Prophezeiungen über den Fall Trojas aussprach (was zur Rückkehr des Argonauten Philoktetes aus Lemnos und zu seiner Heilung führte). Vgl. auch Sophokles, Philoctetes 604–616 und 1337–1341. Vgl. LIMC, Bd. VIII.1 Suppl., Zürich/Düsseldorf 1997, S. 613, s. v. „Helenos“ (Thomas Ganschow) und Gantz 1993, Bd. 2, S. 635–638. Anderen antiken Quellen über Philoktetes’ Heilung zufolge war es Machaon, nicht Helenos, der ihn gesund machte. Helenos prophezeite demzufolge lediglich, dass Philoktetes für die Einnahme Trojas durch die Griechen wichtig werden würde. Vgl. erstmalig hierzu Karl-Willy Wirbelauer: Antike Lapidarien, Diss. Berlin 1937, Würzburg 1937, S. 4–5: „Diese beide Partien…, scheinen auf zwei selbständige Steinbücher zurückzu-
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Ps.-Orpheus gehen, deren eines die Steine als Helfer bei Opfer und Gebet pries, während das andere die Heilkraft der Mineralien bei Bissen giftiger Reptilien beschrieb.“, ähnlich auch Halleux u. Schamp 2003, S. 29: „peut-être même de deux lapidaires distincts, l’un à charactère mystico-religieux, l’autre, médico-magique“. 17 So Wirbelauer 1937, S. 6–7. 18 Erstmals in RE XVIII, 2, Stuttgart 1942, S. 1338, s. v. „Orfische Dichtung“ (Richard Keydell). Vgl. Halleux u. Schamp 2003, S. 12–20 für interessante Ausführungen zu den literarischen Modellen zu diesem Teil des Gedichts. 19 Der Eintrag in RE V.A, 2, Stuttgart 1934, S. 1605–1610, s. v. „Theiodamas“ (Hans v. Geisau) verzeichnet einen „Theiodamas, Sohn des Priamus“ als Nr. 4 aufgrund einer Verwechslung durch Demetrius Moschus (die von nachfolgenden Wissenschaftlern nicht bemerkt wurde!). Tyrwhitt bemerkte 1781 als Erster den Fehler, vgl. Halleaux u. Schamp 2003, S. 30. Vgl. ebd., S. 80 zur Hypothesis des Demetrius Moschus. 20 Plinius d. Ä., Nat. Hist. XXXVII, 28: nec spumei coloris, sed limpidae aquae und XXXVII, 26: sexangulis lateribus. Zu Plinius’ Interpretation des krystallos als Bergkristall vgl. Earle R. Caley u. John C. Richards: Theophrastus On Stones, Columbus/Ohio 1956, S. 121. 21 Siehe Plinius d. Ä., Nat. Hist. XXXVII, 23: [crystallum] glaciemque esse certum est, unde nomen Graeci dedere, „Sicher ist, dass es [d. h. Bergkristall] sich dabei um Eis handelt, wonach die Griechen es benannten“. Dies wird auch u. a. bei Strabon, Geographica 2.3.4. aufgegriffen. Als einzige antike Quelle, welche für den krystallos nicht eine Entstehung aus dem Eis annimmt, ist Theophrast zu nennen. In De Lapidibus 30 findet der krystallos gemeinsam mit den Siegelsteinen Erwähnung: ἐξ ὧν δὲ τὰ σφραγίδια ποιεῖται καὶ ἄλλαι πλείους εἰσίν, … ἔτι δὲ καὶ ἡ κρύσταλλος καὶ τὸ ἀμέθυσον, ἄμφω δὲ διαφανῆ, εὑρίσκονται δὲ καὶ αὗται καὶ τὸ σάρδιον διακοπτομένων τινῶν πετρῶν. („Und es gibt viele andere, aus denen Siegel hergestellt werden, … und ferner der krystallos und der amethyson, die beide durchsichtig sind, und diese wie der sardion werden entdeckt, wenn einige Steine entzweigeschnitten“). 22 Auch die lateinischen Epigramme des Claudian (Nr. 33–39) gehen davon aus, dass es sich bei Bergkristall um Eis handele, vgl. John B. Hall: Claudianus Carmina, Leipzig 1985. 23 Plinius d. Ä., Nat. Hist. XXXVII, 189: Chalazias… adamantinae duritiae, ut narrent in ignes etiam additae manere suum frigus. Ein Stein namens chalazios wird zwar in Ps.-Orpheus Lithika (VV. 758–761) behandelt, aber eine derartige Eigenschaft wird hier nicht erwähnt. 24 Der Dialog zwischen dem Schüler Strepsiades und seinem Lehrer Sokrates dreht sich um Strategien, um einer Schuld zu entkommen: indem etwa mithilfe einer Linse und der Sonnenstrahlen der vermutlich auf einer Wachstafel aufgebrachte Schuldschein zum Schmelzen gebracht wird. Siehe Aristophanes, Die Wolken, 766–768: Στ. ἤδη παρὰ τοῖσι φαρμακοπώλαις τὴν λίθον | ταύτην ἑόρακας, τὴν καλήν, τὴν διαφανῆ, | ἀφ’ ἧς τὸ πῦρ ἅπτουσι; Σω. τὴν ὕαλον λέγεις („St.: Nun, hast du den Edelstein bei den Arzneimittelhändlern gesehen, den schönen, den durchsichtigen, mit welchem sie Feuer entzünden? So.: Du meinst den hyalos?“). In zwei neueren englischsprachigen Kommentaren zum Stück sprachen sich sowohl Kenneth Dover: Aristophanes Clouds, Oxford 1968, S. 194 als auch Alan Sommerstein: Aristophanes Clouds, Warminster 1982, S. 200, dafür aus, dass es sich bei der entsprechenden Linse um eine Glaslinse handeln müsse. Diese Bedeutung wird auch von griechischen Wort hyalos abgedeckt, der Text verwendet gleichwohl das Nomen λίθος mit dem bestimmten weiblichen Artikel,
Lithika was üblicherweise eine spezifische Steinart (insbesondere Edelstein) bezeichnet, während der männliche Artikel nur auf „einen Stein“ verweist. Nützlich im Hinblick auf die GlasTerminologie und die Verwechslung von Glas und Bergkristall im antiken Griechenland ist Hugo Blümner: Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern, Bd. IV, Hildesheim 1969, S. 382–385. Dies gilt auch unter dem Vorbehalt, dass er – trotz der Angabe, dass bei Herodot 3.24 hyalos nicht Glas, sondern vielmehr ein aus dem Boden ausgegrabenes Naturmaterial (wohl eher transparentes Glasporzellan als Bergkristall) bezeichnet – annimmt, dass in der obigen Passage aus Aristophanes wie auch mit ὑαλὴ λιθία (wohl Edelstein) im Periplus Maris Erythraei c. 6 u.7 Lionel Casson (1989) Glas gemeint ist. Halleux u. Schamp 2003, S. 301–302 hingegen gehen davon aus, dass hyalos bei Aristophanes einen Stein (unbestimmter Sorte) anstelle von Glas bezeichnet. Ein Stein namens hyelos (in variierter Schreibweise) wird in einem astrologischen Werk des Theophilus von Edessa (ca. 695–785 n. Chr.) erwähnt, vgl. Arthur Ludwich: Maximi et Ammonis carminum de actionum auspiciis reliquae. Accedunt Anecdota Astrologica, Leipzig 1877, S. 121. Theophrast, De Lap. 48, zählt den hyalos (in männlicher Form) unter die Erden und verwendet ihn nicht in Verbindung mit λίθος; ein Stein namens hyaloeides („hyalos-artig“) wird gemeinsam mit Siegelsteinen in De Lap. 30 erwähnt und dabei als reflektierend und transparent beschrieben. 25 Plinius d. Ä., Nat. Hist. XXXVII, 28: Invenio apud medicos, quae sint urenda corporum, non aliter utilius uri putari quam crystallina pila adversis opposita solis radiis. 26 Pausanias, Description of Greece, 5.27.6, vgl. hierzu Joseph Bidez: Plantes et pierres Magiques, in: Octave Navarre, Mélanges offerts à M. Octave Navarre, Toulouse 1935, S. 36. Vgl. Halleux u. Schamp 2003, S. 302, Anm. 4: „Allusion à la technique suivie par les mages perses pour le renouvellement du feu sacré sur les autels.“ 27 Vgl. die kritische Diskussion der Passage aus Pausanias durch Roger Beck in Mary Boyce u. Frantz Grenet: A History of Zoroastrianism, Bd. 3, Leiden 1991, S. 236–237. Vgl. ebd. S. 17 zur Heiligkeit des Feuers für die Zoroastrier. 28 Zur arabischen Überlieferung von Fragmenten des Xenokrates vgl. Manfred Ullmann: Das Steinbuch des Xenocrates von Ephesos, in: Medizinhistorisches Journal 7/1972, S. 49–64. Der Quelle zum krystallos ist Tamīmī Muršid fol. 116 a 12 bis paen, ebd. S. 59; vgl. Ullmanns Übersetzung aus dem Arabischen. Sowie ders., Neues zum Steinbuch des Xenokrates, in: Medizinhistorisches Journal 8/1973, S. 59–76.
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Ekphrasis der Hagia Sophia 562/563 [617] καὶ τὶς ἐριγδούποισι χανὼν στομάτεσσιν Ὁμήρου μαρμαρέους λειμῶνας ἀολλισθέντας ἀείσει ἠλιβάτου νηοῖο κραταιπαγέας περὶ τοίχους [620] καὶ πέδον εὐρυθέμειλον; ἐπεὶ καὶ χλωρὰ Καρύστου νῶτα μεταλλευτῆρι χάλυψ ἐχάραξεν ὀδόντι καὶ Φρύγα δαιδαλέοιο διέθρισεν αὐχένα πέτρου, τὸν μὲν ἰδεῖν ῥοδόεντα, μεμιγμένον ἠέρι λευκῷ, τὸν δ’ ἅμα ποροφυρέοισι καὶ ἀργυφέoισιν ἀώτοις [625] ἁβρὸν ἀπαστράπτοντα. πολὺς δ’εὐπήχεï Νείλῳ φορτίδα πιλήσας ποταμίτιδα λᾶας ἀνίσχων πορφήρεος λεπτοῖσι πεπασμένος ἀστράσι λάμπει. καὶ χλοερὸν λάïγγος ἴδοις ἀμάρυγμα Λακαίνης μάρμαρά τε στράπτοντα πολυπλάγκτοισιν ἑλιγμοῖς, [630] ὅσσα φάραγξ βαθύκολπος Ἰασσίδος εὗρε κολώνης, αἱμαλέῳ λευκῷ τε πελιδνωθέντι κελεύθους λοξοτενεῖς φαίνουσα, καὶ ὁππόσα Λύδιος ἀγκών ὠχρὸν ἐρευθήεντι μεμιγμένον ἄνθος ἑλίσσων. ὅσσα Λίβυς φαέθων, χρυσέῳ σελαγίσματι θάλπων, [635] χρυσοφανῆ κροκόεντα λίθων ἀμαρύγματα τεύχει ἀμφὶ βαθυπρήωνα ῥάχιν Μαυρουσίδος ἄκρης· ὅσσα τε Κελτὶς ἀνεῖχε βαθυκρύσταλλος ἐρίπνη χρωτὶ μέλαν στίλβοντι πολὺ γλάγος ἀμφιβαλοῦσα ἔκχυτον, ᾗ κε τύχῃσιν, ἀλώμενον ἔνθα καὶ ἔνθα· [640] ὅσσα τ’ Ὄνυξ ἀνέηκε διαυγάζοντι μετάλλῳ ὠχριόων ἐρίτιμα, καὶ Ἀτρακὶς ὁππόσα λευροῖς χθὼν πεδίοιϛ ἐλόχευσε καὶ σὐχ ὑψαύχενι βήσσῃ, πῇ μὲν ἅλις χλοάοντα καὶ οὐ μάλα τῆλε μαράγδου, πῇ δὲ βαθυνομένου χλοεροῦ κυανώπιδι μορφῇ· [645] ἦ δὲ τι καὶ χιόνεσσιν ἀλίγκιον ἄγχι μελαίνης μαρμaρυγῆς, μικτὴ δὲ χάρις συναγείρετο πέτρου. πρὶν δὲ πολυτμήτοιο σέλας ψηφῖδος ἱκέσθαι, λεπτὰς λαοτόρος παλάμῃ λάïγγας ὑφαίνων
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μαρμαρέας ἔγραψε μετὰ πλάκας ἐς μέσα τοίχων [650] σύνδετον εὐκάρποισι κέρας βεβριθὸς ὀπώραις […] πᾶν δὲ πέδον στορέσασα Προκοννήσoιο κολώνη [665] ἀσπασίως ὑπέθηκε βιαρκέï νῶτον ἀνάσσῃ· ἠρέμα δὲ φρίσσουσα διέπρεπε Βοσπορὶς αἴγλη ἀκροκελαινιόωντος ἐπ’ ἀργεννoῖo μεtάλλου. Und wer könnte mit Homers weithinschallendem Munde die dichtgedrängten, wiesenähnlichen Marmorflächen an den festen Wänden des hochragenden Tempels und auf dem weitgedehnten Fußboden besingen? Denn des Steinhauers [620] Meißel durchbrach mit seinem Zahn den grünen Bergrücken von Karystos und zerspaltete den buntfarbigen Felsnacken Phrygiens, der sich teils rosig darbietet, von weißem Dufte durchzogen, teils üppig in Purpur- wie Silberblumen erstrahlt [625]. Purpurfarben und mit zierlichen Sternen besetzt, leuchtet viel aufragendes Steinwerk; der schönarmige Nilstrom hat es auf Lastschiffen einstmals getragen. Auch kannst Du den grünen Glanz des lakonischen Marmors sehen und anderes Gestein in gewundenen Maserungen blitzend, wie sie die tiefe Schlucht des jassischen Hügels hervorbrachte [630]; Streifen, blutrot und grauweiß, ziehen schräg hindurch. Außerdem findest du Steine, wie sie das enge lydische Bergland besitzt: Blüten gewunden aus Blaßgelb und Rot. Oder Marmor, welchen Libyens goldglühender Sonnenstrahl auf dem Rücken des tiefgefurchten maurusischen Gebirgs goldglänzend und safrangelb aufleuchten läßt [636]. Nicht zu vergessen das Gestein, welches das tiefvereiste keltische Gebirge emporsandte, zwar schwärzlich schimmernd anzusehen, doch von vielen milchigen Adern durchzogen, die sich frei strömend, so wie es der Zufall will, bald dahin, bald dorthin wenden. Oder auch, was der leuchtende Onyx an Wertvollem in seinem lichtdurchfluteten Steinbruch [640] ans Tageslicht gefördert hat und die atrakische Erde in ihren weiten Gefilden und nicht in stolzen Schluchten birgt, hier ganz grün leuchtend und dem Smaragde nicht unähnlich, dort noch dunkler und ins Blau sich verlierend. Endlich findet sich dort schneeiges Weiß, mit dem Glanz des Schwarzen verbunden [645], so daß die Anmut des Steins vom Farbengemisch noch erhöht wird. Bevor man jedoch zu dem strahlenden Mosaikwerk kommt, fügte Künstlerhand kleine Marmorstücke aneinander und zauberte so nach den Tafeln mitten auf die Wände eine fortlaufende Folge von Hörnern, überquellend von herrlichen Früchten des Herbstes [650] […] Den ganzen Fußboden aber bedeckt der prokonnesische Stein und beugt gern seinen Rücken unter die gebieterische Herrscherin [665]. Etwas glänzt auch bosporanischer Marmor in dunkelwogendem Weiß hervor. Paulus Silentiarius: Descriptio Sanctae Sophiae. Descriptio Ambonis, hg. v. Claudio de Stefani, Berlin/New York 2011, S. 42–45.
Ekphrasis der Hagia Sophia Prokop: Bauten, Bd. 5: Paulos Silentiarios Beschreibung der Hagia Sophia, Griechisch-deutsch, hg. v. Otto Veh, Darmstadt 1977, S. 339 u. S. 341.
Kommentar Diese Passage entstammt der langen ekphrasis des Paulos Silentiarios über die Hagia Sophia in Konstantinopel.1 Die Ekphrasis wurde verfasst aus Anlass der Wiedereinweihung der Hagia Sophia am 24. Dezember 562. Der Auftraggeber dürfte Kaiser Justinian I. (527–565) gewesen sein. Paulos Silentiarios, Beamter am kaiserlichen Hof, hat unter anderem auch eine Reihe von Epigrammen verfasst. Die Rede wurde entweder wenige Tage nach der Wiedereinweihung am 31. Dezember vorgetragen oder am 6. Januar 563 zu dem Fest von Epiphanias. Die Rezitation der ekphrasis gestaltete sich prozessual. Sie nahm ihren Auftakt im kaiserlichen Palast. Im Anschluss bewegte sich die feierliche Prozession mit Kaiser und Patriarch Eutychios (552–565; 577–582) in den Palast des Patriarchen, wo der zweite Teil deklamiert wurde. Wie groß die Zuhörerschaft gewesen ist, lässt sich nicht mehr präzise ermitteln. Die panegyrische ekphrasis über die Hagia Sophia mit ihren 1029 Versen besteht aus drei thematischen, in Hexameter verfassten Partien, denen jeweils ein in Jamben geschriebener Prolog vorangestellt ist. Die Beschreibung des Baus und vor allem seiner Innendisposition und –ausstattung wird gerahmt durch die panegyrischen Abschnitte zu Kaiser Justinian I. (VV. 135–354) und der conclusio (VV. 921–1029). Die komplexe Struktur reflektiert zugleich die zeremonialen Umstände der Rezitation. Die Verse zum Bau basieren auf einer ausgezeichneten Kenntnis und setzen fraglos ein intensives Studium vor Ort voraus. Die Beschreibung folgt den Hauptphasen der Bauausführung. Macrides und Magdalino haben unterstrichen, dass es dem Rhetor ein Anliegen war, diesen sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Prozess gleichsam vor den Augen seiner Zuhörer aufscheinen zu lassen. Dem Text ist zudem eine Zeitstruktur inhärent, die sich vom Morgen bis zum Abend erstreckt. Paulos fordert sein Publikum heraus. Neben der rein physiologischen Wahrnehmung ist zugleich auf eine intellektuelle Weitsicht gesetzt. Die an der griechischen Texttradition geschulte ekphrasis fokussiert intensiv auf die Opulenz des Baus, die durch die eingesetzten Materialien erwirkt worden ist. Neben Gold und Silber steht vor allem die Vielfarbigkeit (poikilia) im Zentrum der Aufmerksamkeit von Paulos. Die Rede spiegelt in hohem Maße die ästhetischen Normen des 6. Jahrhunderts wider, indem das Zusammenspiel zwischen Licht und Materialien akzentuiert wird.2 In der Forschung wurde betont, dass der für die lateinische Dichtung der Spätantike entwickelte Begriff des jeweled style sich auf diese ekphrasis über tragen lässt.3 Die hier ausgewählten Verse konzentrieren sich auf die Marmorinkrustation. Diese überzieht die Wände und Pfeiler des Baus bis in die Höhe des Ansatzes der Gewölbe und Bögen. Wie jüngste Untersuchungen nachweisen konnten, wurde die Wandverkleidung beim Wiederaufbau der Kuppel neu installiert.4 Insofern rekurriert die Rede von Paulos auf einen aktuellen
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Zustand. Dieser hat sich durch spätere Eingriffe in die originäre Substanz im heutigen Bau lediglich im Ansatz überliefert. Dies betrifft in hohem Maße die Oberflächen, die ihren ursprünglichen, durch das Polieren erzeugten Glanz verloren haben. Keinerlei Berücksichtigung findet in der Rede der gezielte hierarchische Einsatz der einzelnen Sorten innerhalb des Sakralbaus. Dies mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass Paulos die Dichtung jenseits des Ortes der Hagia Sophia verfasst hat und sich so auf spezifische Momente seiner Wahrnehmung konzentriert. Wie Schibille gezeigt hat, dominieren im Naos, in der Apsis wie auch im Narthex die buntfarbigen opulenten Marmorsorten, während in den angrenzenden Räumen und auf den Emporen das Material zurückhaltender orchestriert ist und sich auf eine Kontrastierung von hell und dunkel beschränkt. Auch der betriebene Aufwand im Zuschnitt der Tafeln, ihrer Rahmung wie auch ihres Displays auf den Wänden zeigt deutliche Differenzen. Grundsätzlich betont werden muss die Tatsache, dass keine Spolien Verwendung gefunden haben. Der gesamte Marmor wurde just zu diesem Zweck abgebaut, über weite Strecken über Wasser und zu Land transportiert und an der Baustelle zugeschnitten. Der technische wie zugleich ökonomische Aufwand war erheblich. Immer wieder zu Recht hervorgehoben wurde die unter Beweis gestellte Kunstfertigkeit der Handwerker, indem sie bewusst aus einem Marmorblock die Tafeln so gesägt haben, dass diese sich bei ihrer Zusammenführung zu einem symmetrischen Bild formieren können.5 Die daraus resultierende buchseitenartige Struktur wechselt sich ab mit triptychonartigen Arrangements, in denen unterschiedliche Arten von Marmor zum Einsatz kommen. Die Sorgfalt, mit der die Bearbeitung der Marmorplatten und ihrer räumlichen Organisation einherging, ist durchaus konstitutiv für die Wirkmächtigkeit des Materials. In seiner ekphrasis konzentriert sich der Rhetor eindeutig auf die politische, ästhetische, zugleich jedoch auch theologische Dimension der Inkrustation. Seiner Rede haftet der Anspruch einer Art Wegführung (periegesis) an, bei der wir eine Reise vollziehen von den fernliegenden Marmorbrüchen bis in die Hagia Sophia.6 Von der Werdung der Gesteine bis zu ihrem Abbau, der Kunstfertigkeit der Steinmetze und dem Einsatz ihrer Werkzeuge gelangen wir zu einer Kennzeichnung ihrer Farbenvielfalt, vermögen gleichsam unsere Wahrnehmung zu schärfen für die mit ihrem neuen räumlichen Ambiente verbundene Lichtchoreographie und die daraus resultierende Belebung ihrer Oberfläche. Um zugleich deren Potenzial in Gänze erfassen zu können, bedarf es der Aufmerksamkeit einer dem Stein eingeschriebenen Ikonizität. Paulos nimmt in erster Instanz die Provenienz der unterschiedlichen Marmorsorten in den Blick und bietet uns derart den ganzen Reichtum des Herrschaftsgebiets von Kaiser Justinian I. dar. Macht und Prestige sind an die Größe des Imperiums gekoppelt. Die unterschiedlichen Marmore lassen sich mittels seiner Angaben weitgehend identifizieren. Paulos erweist sich damit als ein ausgezeichneter Kenner der Steinmaterie. Die insgesamt zehn Arten entstammen sowohl dem unmittelbaren Umfeld Konstantinopels wie auch weit entfernt liegenden Provinzen. Wir hören von keltischem Marmor, der in den französischen Pyrenäen
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(V. 637) abgebaut worden ist, wir vernehmen die Worte über den Stein, der den goldglühenden Sonnenstrahl genossen hat (V. 635), den wir mit dem giallo antico gleichsetzen dürfen. Abgebaut wurde er in Chemtou im heutigen Tunesien. Wenn denn Paulos systematisch die Provenienz in seinem Katalog der Inkrustation der unterschiedlichen Marmorsorten indiziert7, so erhalten die Provinzen und Städte des Reiches eine visuelle Präsenz oder, wie Macrides und Magdalino es formuliert haben, „the empire is paraded for us“.8 Zugleich scheinen die Provinzen ihrem Kaiser Tribut zu zollen. So wie der Herrschaftsbereich mittels des Materials kartiert wird, so schlägt sich die in diesem Imperium ausgeübte Macht des Herrschers in Form eingesetzter Materialien nieder. Die Marmore sind durch ihre divergierenden Farb- und Formenspektren gekennzeichnet. Die breite in der Hagia Sophia dargebotene Farbpalette folgt bei der Inkrustation dem ästhetischen Grundsatz der poikilia. Eine einzelne Farbe wie das Grün kann durch hellere oder dunklere Tönung unterschieden sein. Bei der Kennzeichnung der Farben kommt damit zugleich ein Phänomen zum Tragen, das für die byzantinische Kategorisierung von Farben signifikant ist: Die Begrifflichkeit ist stark auf deren Lichthaltigkeit ausgerichtet, weniger auf ein differenziertes Repertoire einzelner Farben.9 Die augenscheinliche Kontrastierung auf den einzelnen Platten zwischen weiß und purpurfarben, von weiß zu schwarz wird ebenso notiert wie ungleich sanftere Übergänge thematisiert werden, die auf der einzelnen Platte wie auch zwischen diesen zu registrieren sind. Im Rezeptionsvorgang werden wir aufgefordert, unsere Augen über die Wände gleiten zu lassen. Zur Choreographie unseres Rhetors gehört der wiederholte Wechsel, unseren Blick auf Analogien wie im nächsten Schritt auf Gegensätze zu richten. Die schon angeführte Lichthaltigkeit, die Marmor und Raum untrennbar verschränkt, dürfte den eigentlichen Zenit unserer Wahrnehmung okkupieren. Der Reflexionsstärke des Materials stehen zugleich die das Licht absorbierenden Eigenheiten zur Seite. Die eingesetzten Termini sind offenkundig angeführt, um uns immer wieder zu der Materialität der Inkrustation zu leiten. Es schimmert, es glänzt, es wird durchleuchtet, es blendet, es strahlt, anders wird formuliert, die Materie entfalte im Licht ihre eigentliche Kraft, die die Oberflächen nicht lediglich vitalisiert, sondern wie Pentcheva argumentiert, „beseelt“. Der entsprechende Begriff empsychōsis stellt in der Ästhetik der Spätantike keine Ausnahme dar.10 Die Oberflächen erweisen sich nicht als statische Gebilde, sondern durch ihre Belebtheit werden wir in die Wogen und Wellen des Wassers geführt, einer Materie, der der Marmor seinen Ursprung verdankt. Die Maserung des Steines mit ihren wellenartigen Formen stützt diese Metaphorik. Die Passagen, in denen sich Paulos dezidiert diesem Phänomen widmet, sind weiter unten zu finden (VV. 664–667), dort wo er sich zum prokonnesischen Marmor des Fußbodens äußert.11 Der Fußboden glänzt nicht allein, sondern ist in deutliche Analogie zu seinem Ursprungsort, dem Bosporus, gesetzt. Die steinerne Materie verhält sich wie das Wasser. Das Wogen der Oberfläche stellt den direkten Bezug zum Fluiden her, der Boden hat den Anschein einer flüssigen Materie. Diese Metaphorik ist in doppelter Hinsicht motiviert.12 Zum einen wird mit dem Glanz auf das beiden Materien inhärente Potenzial rekurriert, im
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Widerschein des Lichts zu agieren. Zum anderen liegt darin versteckt ein Hinweis auf die Genese des Materials Marmor. Schon in der Antike war die Vorstellung verbreitet, dass Marmor seine Entstehung der Petrifizierung des Wassers verdankt.13 Nicht zuletzt darf man dies als Verweis auf die göttliche Schöpfungsgeschichte verstehen. Der damit verbundenen inhaltlichen Komplexität sind Fabio Barry und Finbarr Barry Flood intensiv nachgegangen.14 Die Vielgestaltigkeit der Oberflächen manifestiert sich im übrigen in einer dem Material aufgrund seiner Maserung oder Äderung latent existierenden Bildhaftigkeit, die neben ihrem bewegten Moment (z. B. das Wogen) dem Repertoire der Natur entlehnt ist: die grüne Wiese, die Blumen und vieles andere mehr. Wenn es in Vers 617–618 heißt, die Steine würden Malerei imitieren, so wird an anderen Stellen den Zuhörern kommuniziert, dass sich diese Bilder göttlichen Eingriffes verdanken. Sie sind nicht von Menschenhand gemacht und gehören somit der Kategorie der Acheiropoieta an. Was aber in der Tat in dieser ekphrasis keine Rolle spielt, ist eine ausgewiesene anthropomorphe Metaphorik, wie sie in anderen Kontexten durchaus substantiellen Anteil gewinnt. Finbarr Barry Floods Untersuchung ist diesbezüglich besonders aufschlussreich, als sich in der späteren Rezeption über verifizierbare Eingriffe in die originäre Substanz (Löcherbohrung für die Augen etc.) exakt eine derartige nachträgliche Wahrnehmungspraktik manifestiert.15 Für die justinianische Hagia Sophia stünde diese Metaphorik im Gegensatz zu der grundlegenden antifiguralen monumentalen Ausstattung. Barbara Schellewald
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Grundlegend zur ekphrasis des Paulos: Ruth Macrides u. Paul Magdalino: The architecture of ekphrasis: construction and context of Paul the Silentiary’s poem on Hagia Sophia, in: Byzantine and Modern Greek Studies 12/1985, S. 47–82. Ich folge hier weitgehend ihren Angaben. Was die Datierung des Vortrags anbelangt, herrscht in der Forschung ein gewisser Dissens. Die beiden Autoren haben sich für einen Zeitpunkt kurz nach der Wiedereinweihung ausgesprochen (S. 63–66); Mary Whitby (The occasion of Paul the Silentiary’s Ekphrasis of St. Sophia, in: Classical Quarterly 35/1985, S. 215–228) hat eher für den 6. Januar 562 plädiert. Zur Ästhetik des 6. Jahrhunderts und der ekphrasis von Paulos: Bente Kiilerich: The aesthetic viewing of marble in Byzantium: from global impression to focal attention, in: Arte medievale 4/2012, S. 9–28; Nadine Schibille: Hagia Sophia and the Byzantine Aesthetic Experience, Farnham 2014; Bissera V. Pentcheva: Hagia Sophia. Sound, Space and Spirit in Byzantium, University Park/PA 2017. Schibille 2014 hat sich intensiv mit der ekphrasis auseinandergesetzt. Zur Marmorinkrustation vgl. ihre Ausführungen auf S. 99–109. Michael Roberts: The Jeweled style. Poetry and Poetics in Late Antiquity, London 1989; Kiilerich 2012, S. 12. Annette Kleinert: Die Inkrustation der Hagia Sophia. Zur Entwicklung der Inkrustationsschemata im römischen Kaiserreich, Diss. Münster 1979; Santa Sofia di Costantinopoli.
Ekphrasis der Hagia Sophia L’arredo marmoreo della grande chiesa giustinianea (Studi di antichità cristiana 60), Vatikanstadt 2004; für die sorgfältige Abnahme der Inkrustation während der Restaurierung und ihrer Re-Installierung: Eugenio Russo: Le decorazioni di Isidoro il Giovane per S. Sofia di Costantinopoli, Rom 2011. 5 Paulos Silentiarios hat auf diese Praxis in einzelnen Versen durchaus Bezug genommen, z. B. VV. 606–611. 6 Kiilerich (2012, S. 11) beschreibt die Vorgehensweise wie folgt: „Paul moves in three circles (periodoi) from one continent to the next, proceeding from Greece to Phrygia, and then to Egypt, before he returns to Europe, then follows Asia, Numidia, France and, finally, Thessaly.“ An anderer Stelle heißt es (S. 20): „The Silentiary to some extent guides the viewer through the visual landscape by means of natural metaphor.“ Vgl. auch Ruth Webb: The aesthetics of sacred space: narrative, metaphor, and motion in ekphraseis of church buildings, in: Dumbarton Oaks Papers 53/1999, S. 59–77, hier vor allem S. 66–68. 7 Bei Schibille 2014 findet sich in einem Appendix (S. 214–243) eine Auflistung der von Paulos angeführten Marmore, für die sie die unterschiedlichen Begriffe aufführt wie zugleich ihr Vorkommen innerhalb der Hagia Sophia dokumentiert. 8 Macrides u. Magdalino 1985, S. 69. 9 Liz James: Light and colour in Byzantine art, Oxford 1996. 10 Pentcheva 2017, S. 131–138. 11 Pentcheva 2017 hat angesichts der Passagen zum Fußboden und insbesondere für den Teil, der dem Ambo gewidmet ist, die Vorstellung von einer „world in flux“ betont (S. 133–139). Die ekphrasis zum Ambo schließt sich unmittelbar an die erste ekphrasis an (Descriptio Ambonis, in: Paulus Silentiarius, Descriptio Sanctae Sophiae. Descriptio Ambonis, hg. v. Claudio de Stefani, Berlin/New York 2011, S. 72–88). 12 Pentcheva 2017 (S. 122–131, bes. S. 128) hat die von Paulos eingesetzten Begrifflichkeiten untersucht. Die Wortwahl ist gesucht: Von der Wurzel marmar lässt sich nicht nur der marmaron (Marmor) herleiten, sondern ebenso marmarygma (glitzern) oder marmaiō (schaudern). 13 Fabio Barry: Walking on Water. Cosmic Floors in Antiquity and the Middle Ages, in: The Art Bulletin 89/2007, S. 627–656. Auf S. 630 formuliert er: „First was the still lively perception that marbles might be liquid, and second the more particular kinship between marble and the sea.“ Exemplarisch ist die hier zitierte Textstelle (S. 632) über Kaiser Julian, der die gefrorene Seine in Paris beschreibt, als sei der Fluss nunmehr wie aus Tafeln phrygischen Marmors. 14 Es lassen sich diverse Stellen identifizieren, die dieser inhaltlichen Aufladung folgen, z. B. spricht Paulos von gefrorenem Eis, oder wie in V. 645 von dem schneeigen Weiß; Finbarr Barry Flood: „God’s Wonder“: Marble as Medium and the Natural Image in Mosques and Modernism, in: West 86th. A Journal of Decorative Arts, Design History and Material Culture 23/2016, S. 168–219. 15 Vgl. Abb. 9 bei Flood 2016.
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DE MARMORIBVS Post lapidum genera veniemus ad marmora. Nam inter lapides et marmora differentia est. Nam marmora dicuntur eximii lapides, qui maculis et coloribus commendantur. Marmor sermo Graecus est a viriditate vocatus, et quamvis postea et alii coloris inveniantur, nomen tamen pristinum a viriditate retinuerunt. Marmorum colores et genera innumerabilia sunt. Non tamen omnia e rupibus exciduntur, sed multa sub terra sparsa sunt et pretiosissimi generis, sicut Lacedaemonium viride cunctisque hilarius, repertum prius apud Lacedaemonios, unde et vocabulum traxit. Ophites serpentium maculis simile, unde et vocabulum sumpsit. Duo eius genera : molle candidum, nigrum durum. Augusteum et Tiberium in Aegypto Augusti ac Tiberii primum principatu reperta sunt. Differentia eorum est ab ophite, quum illud, ut praediximus, serpentium maculis sit simile, haec maculas diverso modo colligunt. Nam Augusteum undatim est crispum in vertices; Tiberium sparsa, non convoluta, canitie. Porphyrites in Aegypto est rubens, candidis intervenientibus punctis. Nominis eius causa quod rubeat [ut] purpura. Basanites ferrei coloris sive duritiae ; unde et nomen ei datum est : inventus in Aegypto et Aethiopia. Alabastrites lapis candidus, intertinctus variis coloribus, ex quo Evangelici illius
VOM MARMOR Nach den Arten der Steine kommen wir zum Marmor. Denn zwischen Stein und Marmor besteht ein Unterschied. Denn Marmor werden besondere Steine genannt, die sich durch Flecken und Farben empfehlen. Marmor ist ein griechisches Wort und nach der grünen Farbe benannt, und obwohl später auch solche mit anderen Farben gefunden wurden, behielten sie den alten Namen von der grünen Farbe her. Die Farben des Marmors und seine Arten sind unzählbar. Es werden aber nicht alle aus Felsen herausgeschlagen, sondern viele sind unter der Erde verstreut, und von wertvollster Art wie der Lakedämonische grüne, heiterer als alle anderen, der zuerst bei den Spartanern (Lacedaemonii) gefunden wurde, woher er seinen Namen bezog. Ophites (Schlangenstein, Serpentinstein) [ist] durch seine Flecken den Schlangen ähnlich, woher er seinen Namen genommen hat. Von diesen gibt es zwei Arten: eine weiche weiße, eine schwarze harte. Der Augusteische und der Tiberische wurden in Ägypten während der Herrschaft von Augustus und Tiberius erstmals gefunden. Deren Unterschied zum Schlangenstein ist, dass, während jener, wie wir oben gesagt haben, in den Maserungen schlangenähnlich ist, andere Maserungen in unterschiedlicher Art aufweisen. Denn der Augusteische ist wellenartig gemasert an
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unguenti vasculum fuit. Cavant enim hunc ad vasa unguentaria, quoniam optime servare incorrupta dicitur. Nascitur circa Thebas Aegyptias et Damascum Syriae, ceteris candidior, probatissimus vero in India. Parius candoris eximii, lygdinus cognomento : hic apud Paron insulam nascitur, unde et Parius nuncupatus. Magnitudo eius, qua lances craterasque non excedat ; unguentis et ipse aptus. Coralliticus in Asia repertus, mensurae non ultra cubita bina, candore proximo eboris et quadam similitudine. E diverso niger Alabandicus terrae suae nomine nuncupatus, purpurae aspectu similis. Iste in orienti igni liquatur atque ad usum vitri funditur. Thebaicus interstinctus aureis guttis invenitur in parte Aegypti adscripta, coticulis ad terenda collyria quadam utilitate naturali conveniens. Syenites circa Syenem vel Thebas nascitur. Trabes ex eo fecere reges. Marmora autem, quae in officinis rupibusque gignuntur : ex quibus Thasius diversi coloris maculis distinctus, cuius primum usum insulae Cyclades dederunt. Lesbius lividior est paulo huic, sed et ipse diversi coloris maculas habens. Corintheus ammoniacae guttae similis cum varietate diversorum colorum. Corintho primum repertus. Ex eo columnae ingentes liminaque fiunt ac trabes. Caristeum viride, optimum ; nomen ab aspectu habens, eo quod gratus sit his qui gemmas sculpunt ; eius enim viriditas reficit oculos. Isidori Hispalensis Episcopi: Etymologiarvm sive originvm libri XX, hg. v. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911 (Oxford Classical Texts), Bd. II, Libros XI–XX, XVI,V,1–15.
den Wirbeln. Der Tiberische ist bunt, nicht gewunden und weiß. Porphyrit in Ägypten ist rot mit weißen Punkten dazwischen. Der Grund seines Namens ist, dass er [wie] Purpur rot ist. Basanites (Basalt) ist von Farbe und Härte des Eisens, woher ihm auch der Name gegeben wurde. Er wird in Ägypten und Äthiopien gefunden. Alabaster ist ein weißer Stein, gefärbt mit verschiedenen Farben, aus welchem das Salbgefäß des Evangeliums (Mt 26,7; Mk 14,3; Lk 7,37) war. Man hat nämlich diesen zu einem Salbgefäß ausgehöhlt, weil man sagt, dass er [seine Inhalte] am besten unversehrt aufbewahre. Er wird aber gefunden bei Theben in Ägypten und Damaskus in Syrien, weißer als die übrigen, der beste aber in Indien. Der Parische ist von hervorragender Weißheit, auch Lygdinus genannt. Dieser entsteht bei der Insel Paros und wird der Parische genannt. Er hat eine Größe, durch welche er nicht ausschließt, zu Schüsseln und Crateren [verarbeitet zu werden]. Derselbe ist geeignet für Salben. Coralliticus wird in Asien gefunden, ist nicht länger als zwei Ellen, in seiner weißen Farbe dem Elfenbein am nächsten und von einer gewissen Ähnlichkeit. Andererseits der schwarze Alabanticus, nach dem Namen seines Landes benannt (Alabanda in Karien), vom Anblick her dem Purpur ähnlich. Dieser wird im Osten im Feuer verflüssigt und zur Verwendung als Glas gegossen. Thebaicus wird besetzt mit goldenen Tropfen gefunden im so genannten Teil Ägyptens, geeignet durch natürlichen Nutzen, zerrieben in kleine Steinchen für Augensalbe. Syenit entsteht bei Syene bzw. Theben. Könige haben aus diesem Schiffe gebaut. Folgender Marmor aber entsteht in Quellen und Felsen: Von
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diesen ist der Thasius (Thasischer Marmor) durch Flecken in diversen verschiedenen Farben unterschieden, dessen ersten Gebrauch die Kykladeninseln hervorgebracht haben. Der Lesbische ist ein wenig bläulicher als dieser, aber auch er hat Flecken in verschiedenen Farben. Der Korinthische ist den Tropfen des Gummiharzes ähnlich, mit Abwechslung in verschiedenen Farben. Er wurde zuerst in Korinth gefunden. Aus diesem werden riesige Säulen und Schwellen und Balken gemacht. Der Karysteische [ist] grün, [er ist] der beste. Den Namen hat er von seinem Anblick her, weil er angenehm ist für die, die Edelsteine schleifen. Seine grüne Farbe nämlich erfrischt die Augen. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, hg. u. übers. v. Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, XVI,5,1–15, S. 583–584.
Kommentar Den Etymologiae, auch bekannt als Origines, des Isidor von Sevilla kommt eine zentrale Rolle bei der Vermittlung klassischer und patristischer Wissensbestände in das christliche Mittelalter zu; zugleich können sie selbst als ein Meisterwerk wissenschaftlicher Gelehrsamkeit gelten.1 Isidor kam sowohl intellektuell als auch politisch eine eminente Bedeutung im spanischen Westgotenreich während der ersten Jahrzehnte des 7. Jahrhunderts zu.2 Mit der Niederschrift der Etymologiae strebte er nichts weniger als eine komplette Zusammenschau allen Wissens seiner Zeit an, welches der geistlichen Erbauung und der Unterweisung seiner frühmittelalterlichen Leserschaft dienen sollte. Sein Erfolg war immens: Ernst R. Curtius bezeichnete das Werk als das „Grundbuch des ganzen Mittelalters“, welches grundlegend für alle nachfolgenden enzyklopädischen Werke werden sollte.3 Nicht zuletzt durch ihre scheinbar ungeordnete Struktur bleiben die Etymologiae jedoch in vielen Aspekten rätselhaft. Die zwanzig Bücher – welche wohl auf Isidors ersten Briefpartner und Kommentator Braulio von Saragossa zurückgehen – beschäftigen sich in vielfältiger Weise mit den klassischen artes liberales (Buch I–III), mit Medizin und Rechtswesen (IV–V), patristischer Literatur, himmlischen Wesen, der Kirche und Sekten (VII–VIII), mit Sprachen (IX), Wörtern und Begriffen (X), mit
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Menschen, Monstern und Tieren (XI–XII), der physikalischen Welt und Bauten, der Geographie (XIII–XV) sowie mit Steinen, Metallen und Landwirtschaft (XVI–XVII). In den letzten drei Büchern (XVIII–XX) werden die verschiedensten Gebiete, vom Militär und Schiffswesen, über die Architektur bis hin zu Gartenwerkzeugen gestreift. Während meist angenommen wird, dass Isidors Projekt der Etymologiae letztendlich auf etymologische Erklärmuster abzielt, greift diese Deutung wohl etwas kurz.4 Wenngleich er sicherlich die Herleitung der Namen und Bezeichnungen zu schätzen wusste, um die Bedeutung der bezeichneten Objekte freizulegen, so verfolgte er doch in seinem Hauptwerk keineswegs in konsistenter Weise einen derartigen etymologischen Ansatz. Während manche der ‚Bücher‘, oftmals ausgedehnte, etymologische Herleitungen enthalten, entfallen diese in anderen Beschreibungen gänzlich. Im überwiegenden Teil des Werkes begnügt sich Isidor damit, die geographischen oder historischen Ursprünge bestimmter Bezeichnungen zu erwähnen oder Bemerkenswertes über sie zusammenzutragen, anstatt in den Namen selbst einer tieferen Wahrheit nachzuspüren. Hauptanliegen für ihn war, soviel Wissenswertes wie irgendwie möglich zusammenzustellen und seiner Leserschaft in einer zugänglichen und einprägsamen Weise zu präsentieren. Hierzu bediente er sich ausführlich (und dies wird ausdrücklich betont) einer Vielzahl an antiken Autoritäten, von denen die meisten einem gebildeten mittelalterlichen Leserkreis wohlvertraut waren. Von zentraler Bedeutung ist hierin die Naturalis Historia des Plinius d. Ä., Isidor war wohl auch mit den durch den Kompilator Solinus im 3. Jahrhundert erstellten Auszügen der Naturkunde vertraut. Vitruv, Cicero, Sallust und weitere lateinische Dichter werden angeführt. Neben der Heiligen Schrift, der wichtigsten Referenzquelle, bezog sich Isidor auch auf die Patristiker, insbesondere auf die Schriften der Kirchenväter Hieronymus und Augustinus sowie Cassiodor. Buch XVI wird dem enzyklopädischen Anspruch der Etymologiae vollauf gerecht. DE LAPIDIBVS ET METALLIS widmet sich den Mineralien in umfassender Weise; Isidor beschreibt zu Beginn zunächst Staub, Ton, Schwefel und Salz (XVI.1–2), bevor er auf die „gewöhnlichen“ (de lapidus vulgaribus, XVI.3) und „ausgezeichneten“ Steine (de lapidus insignioribus, XVI.4) zu sprechen kommt und sich dabei u. a. mit Kiesel, Sand und Magnet beschäftigt. Der oben ausgewählten Passage über verschiedene Marmore (XVI.5) schließt sich eine lange Schilderung über die Edelsteine (XVI.6–15) an, schließlich folgen Ausführungen über Glas sowie über die Metalle (XVI.16–24). Das Buch schließt mit Überlegungen zum Wiegen und Messen der Mineralien und damit verknüpften Zeichen, was wie häufig im Buch Isidors Faszination mit Konventionen der Schriftsprache und der Symbolik deutlich macht (XVI.25–27).5 In Isidors Definition des Marmors scheinen zwei Aspekte besonders bemerkenswert, welche die systematische Präsentation der verschiedenen Arten in der ausgewählten Passage erklären können. Wichtig ist hierbei vor allem die Aussage, dass sich die Farben und Sorten des Marmors jeglichem Versuch einer numerischen Erfassung entziehen (marmorum colores et genera innumerabilia sunt XVI.5.2); dieser Aspekt findet bereits bei Plinius (Nat. Hist., XXXVI,55) – Isidors Hauptquelle in diesem Abschnitt – Erwähnung.6 Ein gewisses Unbehagen aufgrund der Viel-
Etymologiae
fältigkeit und der Unmöglichkeit einer adäquaten Klassifizierung schwingt wohl in jedem enzyklopädischen oder naturkundlichen Projekt mit und trieb sowohl Plinius als auch Isidor um: wie allumfassend ihre Arbeiten auch waren, so konnten sie doch nie alle Wunder der Welt in ihrer wunderbaren Vielfalt erfassen. Isidors Ausweg aus diesem Dilemma wird – zumindest beim Marmor – in der Aussage offenbar, wonach Marmor sich von allen anderen Steinen aufgrund seiner ästhetischen Wirkung „durch Flecken und Farben“ auf die Menschen unterscheide (XVI.5.1). Auf dieser Grundlage diskutiert Isidor die Marmorarten im Hinblick auf ihre unterschiedlichen visuellen Erscheinungsformen und begnügt sich anstelle eines nicht einlösbaren Anspruchs auf Vollständigkeit mit einer Auswahl. Inspiriert wurde er hierzu wohl durch eine bereits (wenn auch weniger ausführlich) bei Plinius vorgenommene Unterteilung.7 Ausgehend von dieser Definition macht sich Isidor daran, bekannte Marmorarten aufzulisten und geht dabei besonders auf deren visuelle Erscheinung ein. Der Lakedämonische Marmor ist grün; „Ophites […] ist durch seine Flecken den Schlangen ähnlich“; der Augusteische Marmor weist wellenartige und gekräuselte Flecken auf, der bunte Tiberische Marmor wird ebenfalls durch seine Flecken charakterisiert. Weitere historische Informationen finden Erwähnung, um die Benennung der verschiedenen Steinsorten zu erläutern, gleichwohl beschränken sich diese auf ein Minimum. Gleiches gilt für die geographischen Informationen: während der Fundort jedes Steines kurz erwähnt wird, beschränkt sich dies doch auf ein oder zwei Zeilen und stellt daher keine ausführliche Klassifizierung dar, wie sie Isidor noch in den vergleichbar angelegten Büchern über die Völker (IX), Flüsse (XIII), Erdteile (XIX) und Städte (XV) anstrebte. Insgesamt ergibt sich dadurch in verknappter Form ein systematischer und einprägsamer (wenn auch kurzer) Überblick über die wichtigsten Marmorsorten. Isidor übernimmt die meisten seiner Informationen aus den Marmor-Beschreibungen in Buch 36 der Naturalis Historia und führt diese zu einem systematischen und prägnanteren Überblick zusammen. Plinius’ erzählfreudige Abschweifungen, wie etwa zu den diversen in der römischen Architektur genutzten Marmorarten, werden bei Isidor auf ihren Kern zurückgestutzt. Isidor ging es dabei nicht darum, seine Referenzen zu den früheren Autoren zu verschleiern, basierte doch nicht zuletzt auch seine eigene Autorität auf seiner systematischen Lektüre von Plinius und weiteren antiken Texten. Wichtig schien ihm dabei zu sein, seine jeweiligen Quellen innerhalb seines eigenen idiosynkratischen Schemas möglichst verständlich wiederzugeben. Diese systematische Herangehensweise an sein Material ermöglichte es Isidor auch, seine Plinius-Lektüre durch weitere Autoritäten zu ergänzen, wenn ihm dies nötig schien. Beispielhaft wird dies bei der Erläuterung des alabastrites deutlich (XVI.5.7). Grundlage für die Beschreibung des Alabasters – „ein weißer Stein, gefärbt mit verschiedenen Farben“ (intertinctus variis coloribus) – ist eine Passage bei Plinius (Nat. Hist. XXXVII,143, interstincto variis coloribus), wobei hervorzuheben ist, dass Isidor nicht weiter auf Plinius’ Herleitung eingeht, wonach der Stein seinen Namen der ägyptischen Stadt Alabastrum verdanke. Diese Auslassung mag durch die geschuldete Knappheit der Beschreibung begründet sein, vor
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allem da es im christlich bedeutsamen folgenden Abschnitt weitaus ausführlicher um die Bedeutung des Steines als Material für Salbgefäße geht. Wiederum wird Plinius für diese Information bemüht. Ergänzt wird die Ausführung jedoch durch den Rekurs auf die in der Lukas-Perikope (Lk 7,37) geschilderte Salbung Christi durch die Sünderin und Isidor stellt heraus, dass „das Salbgefäß des Evangeliums“ aus alabastrites gefertigt worden war (ex quo Evangelici illius unguenti vasculum fuit). Die Erwähnung mag willkürlich erscheinen, doch veranschaulicht sie Isidors Wunsch, seine eigene Erfassung der Welt eng an die Heilige Schrift rückzubinden, und lässt somit auf die Verwendungsintention des Werkes schließen. Ziel sollte nicht das stumpfe und zum Scheitern verurteilte Erlernen und Wiederkäuen antiker Quellen sein; dem Werk sollte eine fortwährende Bedeutung für seine mittelalterliche Leserschaft zukommen, für die schließlich die biblische Offenbarung einen zentralen Referenzpunkt bildete. Auch wenn der Evangelist Lukas die einzige namentlich genannte Quelle in dieser Passage darstellt, so ergänzt Isidor doch seine Plinius-Lektüre auch mit weiteren Texten. Seine Beschreibung des Parischen Marmors in XVI.5.8 greift wohl auf Servius’ Kommentare zum ersten Buch der Aeneis zurück; der spätrömische Grammatiker und Vergil-Kommentator wurde wiederholt von Isidor als Quelle genutzt.8 Aufschlussreich erscheint auch die Beschreibung des Korinthischen Marmors in XVI.5.14, welcher mit Gummiharz in verschiedenen Farben verglichen wird (Corintheus ammoniacae guttae similis cum varietate diversorum colorum). Diese Erwähnung findet sich weder bei Plinius noch bei anderen antiken Autoren, sie scheint entweder von Isidor selbst oder aus einer nicht überlieferten Quelle zu stammen.9 Als Missverständnis muss die Herleitung des Namens aus Korinth gelten, da kein derartiger Marmor im Isthmus bekannt ist, anzunehmen ist daher ein Bezug zu einem in der Stadt genutzten Baumaterial. Nichtsdestotrotz macht die Stelle deutlich, dass sich Isidor nicht nur an einer einzigen klassischen Quelle orientierte, sondern vielfältige relevante Informationen in einprägsamer Weise zu bündeln wusste. Andy Merrills Übersetzung: Isabella Augart 1
Grundlegend bleibt weiter die Ausgabe Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum. Libri XX, hg. v. Wallace Martin Lindsay, 2 Bde., Oxford 1911. Eine vollständige Ausgabe mit spanischer Übersetzung bietet Etimologías. Edicion bilingüe, hg. u. übers. v. José Oroz Reta u. Manuel-Antonio Marcos Casquero, Madrid 1994 (Biblioteca de autores cristianos). Zudem wurden einzelne Bücher (in verschiedenen Sprachen) durch Budé vorgelegt. Im thematischen Zusammenhang besonders relevant (sowie grundlegend für die obigen Ausführungen) ist insbesondere Isidorus Hispalensis: Etimologiae XVI. De las piedras y de los metales, hg. u. übers. v. José Feáns Landeira, Paris 2011. Neben einer kritischen Edition
Etymologiae und Übersetzung von Isidors Abhandlungen über die Mineralien bietet der Band einen ausführlichen Anmerkungsapparat. 2 In den letzten 50 Jahren erwiesen sich besonders die Studien von Jacques Fontaine als richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit Isidor. Vgl. insbesondere Jacques Fontaine: Isidore de Séville et la Culture Classique dans l’Espagne Wisigothique 3 Bde., Paris 1959; Ders.: Isidore de Séville. Genèse et originalité de la culture hispanique au temps des Wisigoths, Turnhout 2000. Weitere wichtige jüngere Arbeiten über die Etymologiae bieten Mark E. Amsler: Etymology and Grammatical Discourse in late Antiquity and the Early Middle Ages, Amsterdam 1989; John Henderson: The Medieval World of Isidore of Seville. Truth from Words, Cambridge 2007; Bernard Ribémont: Les Origines des Encyclopédies médiévales. D’Isidore de Séville aux Carolingiens, Paris 2001 und die Beiträge in Association pour l’antiquité tardive (Hg.): Isidore de Séville et son temps, Turnhout 2016 (Antiquité Tardive 23). 3 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 489. Ribémont 2001 zeichnet diesen Einfluss ausführlich nach. 4 Vgl. zu derartigen Überlagerungen auch Andy Merrills: Isidore’s Etymologies. On Words and Things, in: Jason König u. Greg Woolf (Hg.): Encyclopaedism from Antiquity to the Renaissance, Cambridge 2013, S. 301–324. 5 Den Text kennzeichnet insgesamt eine Faszination für verschiedene Bedeutungsträger und Symbole und Isidor verweist wiederholt auf verschiedene Modi der textuellen oder graphischen Repräsentation. Vgl. etwa Orig. I.21–27 zu verschiedenen Formen der schriftlichen Notation. 6 Vgl. Plinius, Nat. Hist. XXXVI,55: marmorum genera et colores non attinet dicere in tanta notitia nec facile est enumerare in tanta multitudine. Vgl. Landeira 2011, S. 64–75 (sowie Anmerkungen). 7 Vgl. Landeira 2011, S. 348. 8 Vgl. Serv. Aen. 1,593 und Plinius, Nat. Hist. XXXVI,62; Landeira 2011, S. 351f. 9 Landeira 2011, S. 353.
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Buch XVII
Caput III. De lapidibus vulgaribus Lapis a terra tamquam densior etiam uulgo discernitur. Lapis autem dictus quod ledat pedem. Lapis mobilis est et sparsus. Saxa herent et a montibus exciduntur. Petra Grecum est. Silex est durus, lapis eo quod exsiliat ignis ab eo dictus, scopulus a saxo eminenti, quasi ab speculando dictus siue a tegimento nauium apo tou skopein. Lapis uel petra multiplicem significationem habet aliquando enim significat Christum propter firmitatem fidei, atque soliditatem ueritatis, ut est illud in Psalmo: Lapidem quem reprobauerunt aedificantes, hic factus est in caput anguli, a domino factus est. Et est mirabilis in oculis nostris. Et apostolus: Bibebant inquit de spirituali consequenti eos petra. Petra autem erat Christus. Aliquando uero lapidis nomine significantur apostoli aut sancti uiri siue ipsa opera uirtutum, unde scriptum est in Apocalypsi: Fundamenta muri ciuitatis omnia lapide praecioso ornata. […] Gipsum cognatum calci est et est greca nomen. Plura eius genera, omnium autem optimum de lapide speculari est. Calx uiua dicta, quia dum sit tactu frigida, intus occultum continet ignem. Vnde et perfusa aqua statim latens ignis erumpit. Natura enim eius mirum aliquid facit. Postquam enim arserit aquis
Kapitel III. Über gewöhnliche Steine Stein wird gewöhnlich von Erde als dichterer Stoff unterschieden. Stein (lapis) heißt es, weil er den Fuß verletzt [laedet pedem – eine unübersetzbare Vulgäretymologie, die sich auf die Anfangssilben la und pe bezieht]. Ein Stein ist beweglich und verstreut, Felsen hängen fest und werden aus Bergen geschnitten. Petra (Stein) ist griechisch. Kiesel ist ein harter Stein und wird so genannt, weil Feuer aus ihm hervorspringt [unübersetzbare Vulgäretymologie aus exsiliat ignis]. Eine Klippe wird von einem herausragenden Felsen her bezeichnet, gleichsam vom Ausblicken [Wortspiel mit scopulus und speculare], oder aber von einem Schiffsdeck her, wegen des Ausspähens [Wortspiel mit skopein]. Stein oder Felsen hat viele Bedeutungen. Manchmal bedeutet er nämlich Christus wegen der Festigkeit des Glaubens und der Härte der Wahrheit, wie es im Psalm heißt: „Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom Herrn geschehen und ein Wunder vor unseren Augen (Ps 118, 22f.)“. Und der Apostel sagt: „sie tranken vom gleichen geistlichen Trank, vom Fels der mitfolgte, der Fels aber war Christus (1 Cor 10, 4).“ Manchmal werden durch den Namen des Steins Apostel, heilige Männer oder die Werke der Tugend selbst bezeichnet, weshalb in der
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incenditur. Quibus solet ignis extingui, oleo extinguitur. Quo solet ignis incendi. Vsus eius structuris fabrico necessarius. Nam lapis lapidi non potest adherere fortius, nisi calce coniunctus. Calx e lapide albo et duro melior quod significare potest glutinum caritatis, quo copulantur inuicem electi pertinentes ad spirituale aedificium dei, quia candore uirtutum nitent, et pulchritudinem bonarum operum in se ostendunt. Arena ab ariditate dicta, non autem adherendo in fabricis ut quidam uolunt. Huius probatio est, si manu inpressa stridet aut si in uestem candidam sparsa nihil sordis relinquat. Arena autem mystice significat instabilitatem hominum terrenorum uel infertilitatem Iudaici populi, qui terrenis concupiscentus inhiantes spiritales fructus gignere neglexerunt, de quibus scriptum est: Dinumerabo eos et super arenam multiplicabuntur. Et in euangelio legitur: Virum sapientem aedificare domum suam super petram, stultum vero superarenam ponere. fundamentum, quod apostolus Paulus architectus posuit unum est dominus noster Iesus Christus. Super hoc fundamentum stabile et firmum et per se robusta mole fundatum aedificatur Christi ecclesia. Super arenam uero, quae fluida est, et coaugmentari non potest nec in unam copulam redigi, omnis hereticorum sermo est, qui ad hoc aedificatur, ut corruat.
Apokalypse geschrieben ist: „Alle Fundamente der Stadtmauer waren geschmückt mit wertvollem Stein (Apk 21,19).“ […] Gips aber ist dem Kalk verwandt und ist ein griechischer Begriff. Es gibt viele Sorten, die beste von allen ist aus Spiegelstein (Fraueneis). Kalk wird lebendig genannt, weil während er bei Berührung kalt ist, im Inneren aber verborgenes Feuer enthält. Dessen Natur bewirkt etwas Eigenartiges: Nachdem er nämlich einmal gebrannt hat, wird er durch Wasser entzündet, durch das eigentlich das Feuer gelöscht zu werden pflegt. Durch Öl aber, mit dem man Feuer anzündet, erlischt es. Von notwendigem Nutzen ist er beim Bauen. Denn ein Stein kann einem Stein nicht fester angefügt werden, als wenn er mit Kalk verbunden wird. Kalk aus hellem und hartem Stein ist besser. Bedeuten kann dies das Band der Liebe, durch das Auserwählte einander verbunden werden, die der geistlichen Erbauung Gottes anhängen, weil sie durch den Glanz der Tugend leuchten und die Schönheit der guten Werke in sich zeigen. Sand wird von der Trockenheit her bezeichnet [unübersetzbare Vulgäretymologie, die arena und ariditas verbindet] und nicht vom Anhängen (adhaerere) wie manche glauben. Der Beweis dafür ist, dass er in der Hand gedrückt zischt und dass er auf einem hellen Gewand verteilt keinerlei Schmutz hinterlässt. Sand aber bezeichnet mystisch die Unbeständigkeit der irdischen Menschen oder die Unfruchtbarkeit des jüdischen Volkes, die den weltlichen Begierden nach jagend, spirituelle Früchte hervorzubringen versäumt haben, worüber geschrieben steht: „Ich werde sie zählen und sie werden sich über die Menge des Sandes hinaus vermehren
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(Ps 139,18)“. Und im Evangelium liest man, dass ein kluger Mann sein Haus auf Stein setzt, ein Dummer aber auf Sand (nach Mt 7, 24–27). Das Fundament, das der Apostel Paulus als Baumeister setzte, ist unser einziger Herr Jesus Christus. Auf diesem starken und festen Fundament wird auch, in für sich fester Masse, die Kirche Christi gebaut. Auf Sand aber, der flüchtig ist und nicht verfestigt werden kann, nicht in irgendeine Verbindung gebracht werden kann, beruht die gesamte Rede der Häretiker, die sich dazu erhebt, dass sie zusammenbricht. Caput V. De marmoribus Marmor sermone greco est a uiriditate uocatus et quamuis postea et alii colores inueniantur nomen tamen pristinum a uiriditate retinuerunt. Marmorum colores et genera innumerabilia sunt. Non tamen omnia e rupibus exciduntur, sed multa sub terra sparsa sunt, et pretiossimi generis, sicut Lacedemonium uiridius cunctis, repertum prius apud Lacedemonios, unde et uocabulum traxit. Parius candoris eximii Lychnites cognomento, hic apud Paron insulam nascitur, unde et parius nuncupatus. Lygniunus magnitudine quae lances craterasque non excedat unguentis ipse aptus. Parius enim marmor coloris candidi est et significat munditiam electorum. Vnde in templo Salomonis ex ipso lapide legitur parietes templi aedificatos esse. Quod significat ex munda sanctorum uita et conuersatione probatissima sanctam ecclesiam aedificatam esse, quod significat, ex munda sanctorum vita et conversatione probatissima sanctam ecclesiam aedificatam esse. Alabastris lapis
Kapitel V. Über Marmore Marmor wird in griechischer Sprache nach der Farbe grün benannt und obwohl man später andere fand, hielt man an der alten Bezeichnung nach der grünen Farbe fest. Es gibt unzählige Sorten und Farben des Marmors. Nicht alle werden aus dem Fels geschnitten, sondern viele sind unter der Erde verteilt. Der von höchstem Wert, wie der lakedaimonische, grüner als alle anderen, wurde zuerst bei den Lakedaimoniern gefunden, woher er auch den Namen bezog. Der parische Marmor, wegen seines Glanzes mit Beinamen Lychnites, kommt auf der Insel Paros vor, weshalb er auch Parius genannt wird. Der Lygnische kommt in einer Größe vor, die über Schalen und Krüge nicht hinausgeht, geeignet selbst für den Salbenden. Parischer Marmor ist von weißer Farbe und bezeichnet die Reinheit der Auserwählten. Weshalb man liest, dass im Tempel Salomos die Wände aus diesem Stein errichtet worden sind, was bedeutet, dass die heilige Kirche aus dem reinen Leben und tadellosen Verhalten der Heiligen gebaut ist.
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candidus interdistinctus uariis coloribus, ex quo euangelici illius unguenti uasculum fuit. Cauant enim hunc ad uasa ungentaria quoniam optime seruare ea incorrupta dicitur. Nascitur circa Thebas Aegyptias et Damascam Syriae, ceteris candidior probatissimus uero in India. Alabastrum mystice potest significare sanctam scripturam, quae continet unguentum pretiosum, hoc est scientiam spiritalem, quae odore suo totum mundum replet. Vnde legitur in euangelio mulier habens alabastrum unguenti preciosi effudisse ipsum unguentum super caput Iesu recumbentis, quod significat ecclesiam diuinitatem Christi predicare in toto mundo. Vnxit et ipsa mulier pedes domini ex eodem unguento, quia illam eius naturam qua terram contingere, hoc est inter homines conuersari dignatus est pia preadicatione commendat ac deuotis ueneratur obsequiis.
Alabaster ist ein weißer Stein, der von verschiedenen Farben durchzogen ist, und aus diesem war das Gefäß des Evangelisten für die Salbende (Mt 26,6). Man höhlt ihn nämlich für Salbgefäße aus, weil man sagt, er bewahre am besten und unverdorben. Er kommt im ägyptischen Theben und im syrischen Damaskus vor, nachweislich weißer als die anderen aber ist er in Indien. Alabaster kann mystisch die Heilige Schrift bezeichnen, die das kostbare Salbgut enthält, das heißt das geistliche Wissen, das mit seinem Duft die ganze Welt erfüllt. Weshalb man im Evangelium liest, dass die Frau ein Alabastergefäß mit kostbarem Salbgut hatte, jenes Salbgut über das Haupt des ruhenden Jesus gegossen habe, was bedeutet, dass die Kirche die Göttlichkeit Christi in der ganzen Welt verkündet. Dieselbe Frau hat auch aus dem gleichen Salbgefäß die Füße des Herren gesalbt, weil sie seine natürliche Gestalt, mit der er die Erde berührt hat, das heißt, dass er es für angebracht hielt unter den Menschen zu wandeln, mit frommen Lob preist und ergebener Willfährigkeit verehrt.
Caput VII. De gemmis Post marmorum genera gemmae sequuntur, quae multum auro decorem tribuunt uenustate colorum. Genera gemmarum innumerabilia esse traduntur, e quibus nos ea tantum, quae principalia sunt siue notissima, adnotabimus. Gemmae uocatae quod instar gummi transluceant, praetiosi lapides ideo dicti sunt quia care ualent, siue ut a uilibus discerni possunt seu quod rari sint. Omne enim, quod rarum est, magnum et pretiosum uocatur, sicut et in Samuelis uolumine legitur: Et sermo
Kapitel VII. Über Edelsteine Nach den Marmorsorten folgen die Edelsteine, die dem Gold durch Anmut der Farben viel Schmuck verleihen. Man sagt, dass es zahllose Sorten von Edelsteinen gibt, von denen wir nur die, die die vornehmsten oder bekanntesten sind, erläutern werden. Gemmen werden sie genannt, weil sie nach Art eines Baumharzes durchscheinend sind [unübersetzbare Vulgäretymologie auf gummi und gemma]. Als kostbare Steine werden sie deshalb bezeichnet, weil sie teuren Wert haben, sei es, damit sie von billi-
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domini pretiosus erat in Israhel, hoc est rarus. Lapides praeciosi intelleguntur sancti apostoli et omnes sancti, de quibus in Apocalipsin, ciuitas regis magni construitur. Item in Ezechile leguntur nouem nomina lapidum praeciosorum, in quibus nouem ordines angelorum exprimuntur. Vnde per prophetam contra diabolum dicitur: Omnis lapis pretiosus operimentum tuum. Sardius, topalius, iaspis, chrisolitus, onix, berillus, saffirus, carbunculus, et smaragdus. Et post pauca: In medio lapidum ignitorum ambulasti perfectus decore a die conditionis tuae. Preciosissimi autem lapides in Exodo numerantur, hoc est in rationali pontificis positi, et in Apoclapsi in constructione spiritalis ciuitiatis. Nam in Exodo ita scriptum est: In primo uersu erit lapis sardius topazius et smaragdus, in secundo carbunculus saphirus et iaspis, in tertio ligirius achates et conethistos, in quarto chrisolitus, onichinus et berillus. In apocalipsin quoque ita legitur: Fundamenta muri ciuitatis omni lapide pretioso ornata. Fundamentum primum iaspis, secundus saphirus, tertius calcedonius, quartus zmaragdus, quintus sardonix, sextus sardonius, septimus chrisolitus, octauus barillus, nonus topazius, decimus, chrissoprasus, undecimus, yacinthus, dudecimus, amethistus. Et duodecim porte duodecim margaritae sunt per singula et singulae portae erant ex singulis margaritis. Variorum nominibus lapidum, uel species uirtutum, uel ordo uel diuersitas indicatur, quibus tota Hierusalem caelestis exstruitur. Difficile est enim singulos cunctis florere uirtutibus. Denique Esaias cum eiusdem ornatum describeret ciuitatis dicens: Ecce
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gen unterschieden werden können oder weil sie selten sind. Alles nämlich, was selten ist, wird groß und wertvoll genannt, so wie es im Buch Samuel heißt: „Und das Wort des Herren war wertvoll in Israel (1 Kön 3)“, das heißt selten. Edelsteine werden verstanden als heilige Apostel und als Heilige allgemein, über denen in der Offenbarung die Stadt des großen Königs aufgestellt wird. So liest man bei Ezechiel die Namen von neuen Edelsteinen, durch welche die neun Ränge der Engel ausgedrückt werden. So wird beim Propheten gegen den Teufel gesagt: „Jeder Edelstein ist deine Decke, Sarder, Topas, Jaspis, Chrysolith, Onyx, Beryll, Saphir, Rubin und Smaragd (Ez 28)“. Und wenig später: „Mitten durch die feurigen Steine bist du gelaufen, vollendet im Schmuck seit dem Tag deiner Schöpfung (ebd.)“. Besonders wertvolle Steine werden im Buch Exodus aufgezählt, das heißt, aufgesetzt auf dem bischöflichen Rationale, und in der Offenbarung zum Bau der mystischen Stadt. Denn im Buch Exodus ist so geschrieben: „In der ersten Reihe wird sein ein Sarder, Topas und Smaragd. In der zweiten Karfunkel, Saphir, und Jaspis. In der dritten Lynkurer, Achat und Amethyst. In der vierten Chrysolith, Onyx und Beryll (Ex 28,17-21)“. In der Offenbarung liest man auch: „Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit jedem Edelstein geschmückt. Der erste Grundstein war Jaspis, der zweite Saphir, der dritte Chalzedon, der vierte Smararad, der fünfte Onyx, der sechste Sardon, der siebente Chrysolith, der achte Beryll, der neunte Topas, der zehnte Chrysopras, der elfte Hyazinth, der zwölfte Amethyst. Und zu den zwölf Toren gehörten jeweils zwölf Perlen und die einzelnen Tore waren aus
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ego sternam per ordinem lapides tuos, et fundabo te in saphiris, et reliqua. Statim quasi exponens, subiecit uniuersos filios tuos doctos a domino. Fundamentum inquit primum, iaspis. Iaspidum multa sunt genera. Alii enim uiridi coloreis et tinctus quasi floribus apparet. Alius smaragdi habens similitudinem, sed crassi coloris quo omnia fantasmata fugari autumant. Alius niuei et spumae marinorum fluctuum quasi mixto cruore obrutilans. Per iaspidem ergo fidei uiror immarcescibilis indicatur, quae dominice passionis sacramento per undam baptismatis imbuitur atque ad omnes spiritualium gratiarum flores proficientibus meritis instruitur. Hanc enim qui habuerit uanos timores fugat, monente beato Petro apostolo: aduersarius uester diabolos, tamquam leo rugiens, circuit quaerens quem deuoret. Cui resistite sortes fide, et potest cum sponsa dicere, dilectus meus candidus et rubicundus. Vnde merito ex hoc lapide in Apocalypsi structura muri et apud Isaiam pugnacula eiusdem ciuitatis muniuntur pariter et ornantur. Duo autem lapides, id est, iaspis et sardius, duorum iudiciorum dei, primum per aquam diluuii, secundum per ignem ,figuram habere dicuntur. Vnde legitur in Apocalipsi, qui sedebat super thronum similis erat lapidi iaspidi et sardoni. Item iaspis testimonia scripturarum significat, ut est illud in Esaia: iaspide propugnacula tua. Secundus saphirus, huius lapidis colorem pariter et sacramentum Moyses exposuit, cum dei habitum describens diceret: Sub pedibus eius quasi opus lapidis saphyri, et quasi celum cum serenum est. Hiezechiel quoque dicit, quod locus in dei
e inzelnen Perlen (Apk 21,19-21). Durch die Namen der Steine werden Art, Duft oder Unterschiedlichkeit der Tugenden angezeigt, auf denen das ganze himmlische Jerusalem errichtet wird. Schwierig ist es nämlich, dass die einzelnen in allen Tugenden erblühen. Deshalb sagt Isaias, wenn er den Schmuck derselben Stadt beschreibt: „Siehe ich will der Reihe nach hinstreuen all deine Steine und ich werde dich auf Saphir stellen (Jes 49,11)“, und fügt sofort hinzu: „Umfassend gebildet sind deine Söhne vom Herrn (ebd.).“ „Der erste Grundstein,“ sagt er, „ist Jaspis.“ Es gibt viele Arten von Jaspis. Der eine nämlich ist von grüner Farbe und erscheint gleichsam wie mit Blumen besprenkelt. Ein anderer weist Ähnlichkeit mit dem Smaragd auf, ist aber von kräftigerer Farbe, und man behauptet von ihm, dass er alle Geister vertreibt. Ein weiterer ist wie Schnee und Gischt der Meeresfluten, gleichsam mit Blut vermischt leuchtet er rötlich hervor. Durch Jaspis wird also das unvergängliche Grün des Glaubens angezeigt, der im Sakrament der Passion des Herren durch die Welle der Taufe befeuchtet wird und zu allen Blumen geistlicher Gnaden aus den aufgehenden Verdiensten aufgerichtet wird. Wer ihn nämlich haben wird, mag den nichtigen Ängsten entfliehen, so wie der selige Apostel Petrus erinnert: „Euer Feind ist der Teufel, der wie ein brüllender Löwe umhergeht, suchend, wen er verschlingen soll (1 Petr 5).“ Und er kann mit der Braut sagen: „Mein Geliebter ist weiß und rotglühend (Hld 5).“ Von daher ist der Aufbau der Mauer in der Offenbarung zurecht von diesem Stein und werden zurecht bei Isaias die Befestigungen derselben Stadt damit zugleich verstärkt und geschmückt. Man sagt, dass
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thronus sit saphyri habeat similitudinem, et gloria domini, in hoc colore consistat. Qui portat imaginem super celestis. Vt qui talis est, cum apostolo possit dicere: nostra autem conuersatio in caelis est. Qui radiis percussus solis fulgorem ardentem ex se emittit, quia caelestibus semper intentus, sanctorum animis, diuini luminis cotidie radiis innouatus, conpunctior quodammodo atque ardentior aeterna perquirit altiusque inquirenda persuadet. Nam quod in Rubo Mari reperiri dicitur, significat per domini passionem et sacri baptismatis lauacrum mentes mortalium ad presumenda caelestia sublimiter erigi. […] Text nach: Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Aug. perg. 68 und 96, vgl. https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:31-64224 Abgeglichen mit: Patrologia latina ed. Migne, 111, Cap III (Sp.0462A-0463B); Cap. V (Sp.0463B); Cap VII (Sp. 0464d-0466A). Zitiert nach: Corpus Corporum repositorium operum latinorum apud universitatum Turicensem, dort De universo libri XXII): http://mlat.uzh.ch/MLS/xanfang. php?tabelle=Rabanus_Maurus cps2&corpus=2&allow_ download=0&lang=0 und: De rerum naturis, de sermonum proprietate, sive Opus de universo, Adolf Rusch (Verleger), Straßburg 1467.
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zwei Steine, Jaspis und Sarder, die Bedeutung beider Gerichte des Herren, durch Wasser der Flut und durch Feuer tragen. Deshalb liest man in der Offenbarung: „Der auf dem Thron saß war dem Edelstein gleich, dem Jaspis und Sarder (Apk 4,3).“ Ebenso bezeichnet Jaspis die Zeugnisse der Schriften, wie dies bei Isaiais: „Aus Jaspis sind deine Befestigungen (Jes 54).“ Der zweite ist Saphir. Dieses Steines Farbe und Vermögen erklärte Moses, als er das Aussehen Gottes beschreibend sagt: „Unter seinen Füßen war gleichsam ein Steinwerk von Saphir, und wie ein Himmel, wenn er klar ist (Ex 24,10).“ Ezechiel sagt auch, dass der Platz, an dem der Thron Gottes steht, Ähnlichkeit mit Saphir habe und der Ruhm Gottes in der Farbe bestehe. Wer ein überhimmlisches Bild trägt und wer so beschaffen ist, kann mit dem Apostel sagen: „Unser Aufenthalt ist in den Himmeln (Phil 3,20).“ Wer von den Strahlen der Sonne durchdrungen ist, der strahlt aus sich heraus brennenden Glanz aus, weil er der Himmel, der Seelen der Heiligen, immer ansichtig ist, wird er täglich durch die Strahlen des himmlischen Lichts erneuert, erstrebt er gewissermaßen reuiger und eifriger das Ewige und überzeugt bei der Suche tiefer. Denn man sagt, dass er, weil er [der Saphir] im Roten Meer gefunden wird, durch die Passion des Herren und das Bad der heiligen Taufe bezeichnet, dass die Geister der Sterblichen steil zu den vorweg zunehmenden himmlischen Dingen aufgerichtet werden. […] Übersetzung: Arwed Arnulf
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Hrabanus Maurus
Kommentar Hrabanus Maurus, hochgelehrter Vertreter der am karolingischen Hof beförderten Bildungsinitiativen, geboren um 780 in Mainz, erzogen im Benediktinerkloster zu Fulda, danach Schüler Alkuins am Aachener Hof Karls des Großen, ab 801 Leiter der Fuldaer Klosterschule, ab 822 Abt zu Fulda, schließlich Erzbischof von Mainz, kann als Beispiel jener Vermischung von Gelehrsamkeit, kirchlicher Karriere und politischer Bedeutung gelten, die von den Reformbestrebungen Karls ermöglicht wurde.1 Geeignete Kandidaten aus dem gesamten Frankenreich gelangten in das Umfeld des Hofes, wurden dort mit dem neuen Bildungsanspruch vertraut gemacht, lernten Hof und Politik kennen, gelangten anschließend auf hohe Kirchenämter. Im Fall des Hrabanus Maurus ermöglichte die Zeit als Leiter der Fuldaer Klosterschule eine fruchtbare schriftstellerische Phase.2 Neben schulspezifischen Kompilationen entstand ein so bekanntes Werk wie De laudibus sanctae crucis,3 das Figurengedichte in variierende Kreuzesdarstellungen einschrieb, aber auch das hier interessierende enzyklopädische Werk De rerum naturis, auch De universo betitelt.4 Ebenso problematisch wie lehrreich ist der Versuch dieses Werk in eine Geschichte enzyklopädischer Schriften einzureihen:5 Meist als Erweiterung der Isidorschen Etymologiae verstanden,6 zielt dieses weit umfangreichere Werk jedoch in eine ganz andere Richtung. Hatte Isidor im wesentlichen Elementarschulwissen zu den septem artes liberales, ergänzt durch christliche Heilslehre und Geschichtsgrundlagen geboten, kompilierte Hrabanus eine Enzy klopädie rein theologischer Ausrichtung. Ihm ging es nicht um Zusammenfassung des zu erlernenden Grundwissens und Wortschatzes sowie der zugehörigen Bildungszitate und jeweils zugehörigen literarischen Topik und Motivik, sondern um ein Nachschlagewerk für Theologen. Ziel war eine Sammlung von Auslegungen aller Bestandteile der Welt, gesammelt aus biblischen Schriften und Kirchenvätern, zusammengestellt für den Geistlichen ohne größere Bibliothek, der so für Predigt, Exegese und Erbauung Auslegungen der Dinge der umgebenden Welt nachschlagen konnte. Sowohl seine eigenen Formulierungen im Vorwort7 als auch Aufbau, Inhalt und Gestaltung der 22 Bücher, die von Gott ausgehend in heilsgeschichtlicher Hierarchisierung und abfallender Reihe über den Sohn Gottes, den Heiligen Geist, Trinität, Engel zu biblischem Personal, geistlichen Ständen, dem Menschen und seinen Teilen und Zuständen, Tieren, Welt und Kosmos herabschreitet, im 17. Buch auch Steine abhandelt, bis im 22. Buch endlich Werkzeuge und Hausrat zum Gegenstand geistlicher Auslegung werden.8 Deutlich wird diese Funktion des Werkes als exegetisches Hilfsmittel in den gebotenen Exzerpten zu Steinen allgemein, zu Marmor und zu Edelsteinen. Das Grundgerüst liefern die entsprechenden Passagen Isidors, die um ausführliche Erläuterungen zu den in der theologischen Tradition auffindbaren Auslegungsmöglichkeiten erweitert wurden. Nach Auflistung der Nennung etwa von Edelsteinen in den biblischen Schriften werden Auslegungen zu diesen Stellen aus der ganzen Spannweite der lateinischen Patristik geboten. Das Werk
De rerum naturis (De universo)
wollte nicht über Naturkunde informieren, sondern über Auslegungsmöglichkeiten der Bestandteile der Natur. So erfreute sich das Werk theologischer Beliebtheit, die bis zu gedruckten Ausgaben der Frühen Neuzeit führte.9 In der Nachfolge fallen zwei Tendenzen auf: Mit Marbod von Rennes’ Liber lapidum,10 das um 1080 entstand, wurde die Allegorisierung von Objektgruppen, hier den Edelsteinen, zum Gegenstand spezialisierter Werke, in der Enzyklopädik, etwa dem Speculum maius des Vincenz von Beauvais aus dem mittleren 13. Jahrhundert,11 wurde der geistliche Gehalt vom Naturkundlichen zumindest teilweise getrennt, so dass im 3. Teil, dem Speculum naturale, der auch Edelsteine behandelt, zwar Edelsteinallegorese vorkommt, aber historisches, topisches und empirisches Wissen davon abgesetzt breiteren Raum erhielt, vor allem aber weltliches Wissen gezielt gesammelt und transportiert werden sollte. In späteren enzyklopädischen Werken wie Gregor Reichs Margarita philosophica von 1503,12 einem Lehrbuch für die universitäre Artistenfakultät, wird nach den sieben Künsten getrennt Fachwissen geboten, in Johann Heinrich Alsteds Encyclopaedia von 1630,13 der letzten großen Enzyklopädie lateinischer Sprache und systematischer, nicht alphabetischer Ordnung, gegliedert in lullistischer Systematik sich verzweigender Hierarchien, wird in sieben Bänden der jeweilige Gegenstand fachspezifisch behandelt. Die Theologie wird in diesen viel rezipierten Handbüchern des 16. und 17. Jahrhundert gesondert dargestellt. Die Kompilation des Hrabanus Maurus funktionierte anders, zeigt uns eine sehr spezialisierte Sicht der Welt, nach der Gegenstände ihre Bedeutung durch ihre Auslegbarkeit im Sinn der christlichen Heilslehre zugewiesen bekommen. Dies zielt auf theologisch interessierte Leser, nicht aber auf die Vermittlung praktischer Informationen. Dass praktische Informationen zu materiellen Dingen, deren Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten auch im Frühmittelalter und zu Lebenszeit des Hrabanus gepflegt und gesammelt wurden, zeigen etwa zufällig überlieferte Rezepte für Farben und Tinten.14 Anders als die theologischen Ausführungen galten diese jedoch nicht als literatur- oder überlieferungswürdig, sondern teilweise selbstverständlich und dem Bereich des Alltäglichen zugehörig, von wo aus sie nicht oder nur zufällig in die Überlieferung gelangten. So liefern die zitierten Abschnitte zu Steinen und Edelsteinen ein leicht verzerrtes Bild vom Wissen des 9. Jahrhunderts, da sie nur das theologische Wissen zu den Materialien vermitteln sollten. Arwed Arnulf
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Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Erster Band von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, München 1975, S. 325–341, 574 f. LM 5, Sp. 144–147. NDB 9, S. 674–676. VerfLex 11, Sp. 694. Vgl. http://www.geschichtsquellen.de/repPers_118553909.html (08. 09. 2018). Zu Hrabanus Maurus: Raymund Kottje: Verzeichnis der Handschriften mit den Werken des Hrabanus Maurus, Hannover 2012.
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Hrabanus Maurus 2 Zu Werken und handschriftlicher Überlieferung: Kottje 2012. 3 Hrabanus Maurus: Liber de laudibus sanctae crucis, http://www.geschichtsquellen.de/ repOpus_02863.html (08. 09. 2018). 4 Hrabanus Maurus: De rerum naturis, http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_02859. html (21.08.2018). 5 LM 3, Sp. 2032f. 6 Zu den Etymologiae des Isidor von Sevilla vgl. den Beitrag von Andy Merrills in diesem Band. Textausgabe: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, hg. v. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911. 7 So im Prooemium I. 8 Elisabeth Heyse: Hrabanus Maurus’ Enzyklopädie ‚De rerum naturis’. Untersuchungen zu den Quellen und zur Methode der Kompilation, München 1969; William Schipper: Rabanus Maurus and His Sources, in: Michael Twomey u. Alasdair A. MacDonald (Hg.): Schooling and Society: The Ordering and Reordering of Knowledge in Western Medieval Europe, Leuven 2004, S. 1–21. Mechthild Dreyer: Enzyklopädie und Wissensraum: ‚De rerum naturis’ des Hrabanus Maurus, in: Archa verbi 4/2007, S. 127−141. 9 So in der Kölner Werkausgabe von 1626: VD17 7:710186D 10 LM 6, 217f. Marbode of Rennes 1035–1123. Marbodi liber lapidum seu de gemmis / Varietate lectionis et perpetua annotatione illustratus a Iohanne Beckmanno, Göttingen 1799. De lapidibus, hg. von John M. Riddle, Wiesbaden 1977. 11 LM 8, Sp. 1704f. Es existiert keine Edition, weshalb auf den Nachdruck der Ausgabe von 1624 zu verweisen ist, Vincentius Bellovacensis, Speculum quadruplex sive speculum maius, Douai 1624 (Nachdruck Graz 1964). 12 Gregor Reisch, Margarita philosophica, Freiburg i. B. 1503 [VD16 R 1033] Digitalisat bei der BSB: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb11111972. 13 Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia cursus philosophici, Herborn 1630. Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia, Faksimile der Ausgabe Herborn 1630, hg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Stuttgart 1989. Digitalisat der BSB: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb11380232. 14 Zu den mittelalterlichen Tintenrezepten: Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, Berlin 1986, S. 32–33.
Abū ʿAlī ibn Sīnā
Kitāb aš-Šifāʾ um 1020–1027 Ammā fī l-akṯari fa-inna l-arḍa l-ḫāliṣata lā tataḥaǧǧaru li-anna stīlāʾu l-yubsi ʿalaihā lā yufīduhā stimsākan bal tafattutan. wa-innamā tatakawwanu l-ḥiǧāratu fī l-akṯari ʿalā waǧhaini mina t-takawwuni: aḥaduhumā ʿalā sabīli t-tafḫīri wa-ṯ-ṯānī ʿalā sabīli l-ǧumūdi. fa-inna kaṯīran mina l-aḥǧāri yatakawwanu mina l-ǧauhari l-ġālibi fīhi l-arḍīyatu, wa-kaṯīrun minhā yatakawwanu mina l-ǧauhari l-ġālibi ʿalaihi l-māʾīyatu. fa-kaṯīrun mina ṭ-ṭīni yaǧiffu wa-yastaḥīlu awwalan šaiʾan baina l-ḥaǧari wa-ṭ-ṭīni – wa-huwa ḥaǧarun raḫwun – ṯumma yastaḥīlu ḥaǧaran. wa-aulā ṭ-ṭīnāti bi-ḏālika mā kāna laziǧan. fa-in lam yakun laziǧan fa-innahū yatafattatu fī akṯari l-amri qabla an yataḥaǧǧara. wa-qad šāhadnā fī ṭufūlatinā mawāḍiʿa kāna fīhā ṭ-ṭīnu llaḏī yuġsalu bihī r-raʾsu – wa-ḏālika fī šaṭṭi Ǧaiḥūna – ṯumma šāhadnāhu qad taḥaǧǧara taḥaǧǧuran raḫwan, wa-l-muddatu qarībatun min ṯalāṯin wa-ʿišrīna sanatan. wa-qad tatakawwanu l-ḥiǧāratu mina l-māʾi s-sayyāli ʿalā waǧhaini: aḥaduhumā an yaǧmuda l-māʾu ka-mā yaqṭuru au ka-mā yasīlu bi-rummatihī – wa-ṯ-ṯānī an yarsuba minhu fī sayalānihī šaiʾun yalzamu waǧha masīlihī wa-yataḥaǧǧara. wa-qad šūhidat miyāhun tasīlu fa-mā yaqṭuru minhā ʿalā mauḍiʿin maʿlūmin yanʿaqidu ḥaǧaran au ḥaṣan muḫtalifata l-alwāni.
Reine Erde wird zumeist nicht zu Stein, da das Vorherrschen der Trockenheit in ihr sie nicht fest, sondern bröckelig werden lässt. Gestein entsteht zumeist auf zwei Weisen: zum einen auf dem Wege des Aushärtens und zum anderen auf dem Wege der Verfestigung. Viele Arten von Steinen entstehen aus einer Substanz, in der das Erdige überwiegt; viele andere entstehen aus einer Substanz, in der das Wässrige überwiegt. Vielfach trocknet Lehm und wandelt sich zuerst zu einem Stoff, der zwischen Stein und Lehm steht – d. h. zu lockerem Stein –; sodann wandelt sich dieser zu richtigem Stein. Derjenige Lehm, mit dem dies am ehesten geschieht, ist der klebrige. Wenn er nicht klebrig ist, dann wird er fast immer zer bröckeln, noch bevor er zu Stein wird. In meiner Kindheit sah ich am Ufer des Amu darja (Oxus) Stellen, an denen die Art Lehm vorkam, die man zur Haarwäsche verwendet. Lange Zeit später sah ich, dass dieser Lehm zu einem lockeren Stein geworden war. Dazwischen lag ein Zeitraum von etwa 23 Jahren. Gestein entsteht aus fließendem Wasser auf zwei Weisen: Die eine Möglichkeit ist eine Verfestigung von tröpfelndem oder dahinfließendem Wasser. Die zweite Möglichkeit ist, dass sich beim Fließen eine Substanz aus dem Wasser absetzt, die eine Verbindung mit der Oberfläche des Flussbettes eingeht und so zu Stein wird. Man hat bei fließendem
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Abū ʿAlī ibn Sīnā
Abū ʿAlī ibn Sīnā: Kitāb aš-Šifāʾ. a t-. Tabīʿīyāt. . 5. alMaʿādin wa-l-ā t- ār al-ʿulwīya, hg. v. ʿAbd al- Halīm . Muntasir . u. a., Kairo 1965, S. 3,9–4,4 (I.1) = Eric J. Holmyard u. Desmond C. Mandeville: Avicennae De congelatione et conglutinatione lapidum. Being Sections of the Kitâb al-Shifâʾ. The Latin and Arabic texts edited with an English Translation, Paris 1927, S. 71,10–72,12; vgl. S. 18–20.1
Wasser beobachtet, dass Tropfen davon, die auf bestimmte Stellen fallen, sich zu Stein oder verschiedenfarbigen Kieseln verfestigen. Übersetzung: Fabian Käs
Kommentar Ibn Sīnā (ca. 980–1037) zählt zweifellos zu den bedeutendsten Denkern des Islam.2 Unter der latinisierten Namensform ‚Avicenna‘ wurde er früh auch im Abendland bekannt. Seinen Nachruhm verdankt er nicht nur seinen philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften, sondern insbesondere seinem medizinischen Hauptwerk, dem Kitāb al-Qānūn fī t. - t. ibb. Dieser bereits von Gerhard von Cremona († 1187) übersetzte Canon medicinae wurde bis weit in die Neuzeit als Lehr- und Handbuch geschätzt. Auch seine philosophische ‚Enzyklopädie‘ Kitāb aš-Šifāʾ, aus der das hier zu besprechende Zitat stammt, wurde in Orient und Okzident vielfach rezipiert. Abū ʿAlī al- Husain . ibn ʿAbdallāh Ibn Sīnā wurde um das Jahr 980 in Afšāna bei Buhārā im heutigen Usbekistan geboren. Nach dem Erlernen des Arabischen – nur wenige seiner Werke sollte er später in seiner persischen Muttersprache verfassen – wurde er noch in seiner Jugend in die verschiedensten Wissenschaften eingeführt. Hierzu gehörten nicht nur die islamische Theologie und hanafitische Jurisprudenz, sondern auch die diversen weltlichen Disziplinen der antiken Tradition, die er sich teils auch autodidaktisch aneignete. Sein bedeutendster Lehrer war Abū ʿAbdallāh an-Nātilī,3 bei dem er Philosophie und Medizin studierte. Im Laufe seines Lebens diente Ibn Sīnā an verschiedenen Fürstenhöfen Transoxaniens und Irans. Zumeist fungierte er als Leibarzt der jeweiligen Herrscher, bisweilen nahm er aber auch Aufgaben in der Verwaltung, bis hin zum Amt eines Wesirs, wahr. Im Jahr 1037 verstarb er im iranischen Hamadān. Ibn Sīnās bedeutendstes philosophisches und naturkundliches Werk ist das umfangreiche Kitāb aš-Šifāʾ. Der Titel, der wörtlich als „Buch der Genesung“ übersetzt werden kann, darf als Anspielung auf seine medizinischen Werke verstanden werden. Ziel jener ist die Gesundheit des Körpers, während hier die Seele ‚geheilt‘ werden soll. Niedergeschrieben hat Avicenna das Buch in der Zeit zwischen ca. 1020 und 1027. Der Abschnitt über die Mineralien dürfte 1022–1024 in Hamadān entstanden sein. Den Anstoß zur Abfassung sollen seine Schüler gegeben haben, die ihren Meister um ein entsprechendes Kompendium der aristotelischen Philosophie und Naturkunde baten. Auch wenn der Aufbau des K. aš-Šifāʾ weitgehend der seit der Antike kanonischen Anordnung der Schriften Aristoteles’ folgt, handelt es
Kitāb aš-Šifāʾ
sich doch nicht um Kommentare, bzw. Abkürzungen, im eigentlichen Sinn. Vielmehr schuf Avicenna ein eigenständiges Werk, das vielfach von seiner Vorlage abweicht und das aristotelische Corpus um dort fehlende Inhalte ergänzt, was besonders anhand der Mathematik und Naturkunde augenfällig wird.4 Das „Buch der Genesung“ zerfällt in vier größere Abteilungen. Der erste Teil ist der Logik (Man.tiq) gewidmet und folgt weitgehend dem aristotelischen Organon. Teil II behandelt die Physik und die Naturkunde im Allgemeinen ( T. abīʿīyāt), wozu eben auch Mineralogie und Geologie gehören. Teil III befasst sich mit den mathematischen Wissenschaften (Riyā.dīyāt) und Teil IV mit der Metaphysik (Ilāhīyāt). Der mit T. abīʿīyāt überschriebene zweite Teil zerfällt in acht Kapitel, von denen die ersten vier die eigentliche Physik behandeln.5 Avicenna orientierte sich hierfür an den einschlägigen Schriften Aristoteles’, wie Physica, De caelo und De generatione et corruptione. Das fünfte Kapitel, aus dem unser Zitat stammt, trägt den Titel „Über die Mineralien und die Meteorologie“ (fī l-maʿādin wa-l-ā t-ār al-ʿulwīya). Das bedeutendste Nachleben aus diesem Teil hatte das sechste Kapitel, in dem Ibn Sīnā seine Ansichten zur menschlichen Seele darlegt. Es folgen Abschnitte über die Pflanzen und die Tiere. Dass die Mineralogie zusammen mit der Meteorologie behandelt wird, mag paradox erscheinen, geht aber ebenfalls auf ein aristotelisches Vorbild zurück. Tatsächlich hatte der Stagirit in seinen Μετεωρολογικά nicht nur Wettererscheinungen thematisiert, sondern auch geologische Phänomene, insbesondere Erdbeben. Am Ende des authentischen dritten Buchs findet sich ein denkbar kurzer Absatz über die Entstehung der Mineralien (378a13–b6). Dies wurde dann vom Autor des pseudepigraphischen vierten Buchs der Meteorologie aufgegriffen, welches großen Einfluss auf Ibn Sīnās Theorien hatte. 6 Avicenna und (Pseudo)-Aristoteles teilen die Grundannahme, dass die verschiedenen Mineralarten aus Mischungen der vier klassischen Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer) entstehen, auf die die vier Elementarqualitäten (Trockenheit, Feuchtigkeit, Kälte, Wärme) einwirken. Avicennas Ausführungen gehen jedoch weit über das in der Meteorologie Gebotene hinaus und weichen in entscheidenden Punkten von dieser Vorlage ab.7 Wie anhand des obigen Beispiels ersichtlich wird, bringt Ibn Sīnā vielfach auch eigene Beobachtungen oder ihm glaubwürdig erscheinende Berichte Dritter. Die bedeutsamste Abweichung von der Meteorologie betrifft die Theorie der Entstehung der Metalle. Nach einer für die Antike nicht nachweisbaren These, die zuerst in der arabischen Kosmographie von Pseudo-Apollonios greifbar wird, sollen die Metalle nicht direkt aus den Elementen hervorgehen, sondern indirekt aus Mischungen von Quecksilber und Schwefel. Das K. aš-Šifāʾ hat maßgeblich zur Verbreitung dieser Theorie in Morgen- und Abendland beigetragen. Die darauf basierende Vorstellung der Möglichkeit der alchemistischen Herstellung von Gold hat Ibn Sīnā übrigens dezidiert abgelehnt. 8 Avicennas Ausführungen zur Mineralogie und zur Physik im Allgemeinen sind von streng rational erklärten Kausalprozessen geprägt. Ein unmittelbares Eingreifen durch Gott ist in dieser Art der Naturdeutung nicht vorgesehen. Dem liegt ein Grundkonzept von Ibn Sīnās Metaphysik zugrunde, die starke Anleihen von al-Fārābī († 950) genommen hatte.
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ieser stand seinerseits in der Tradition der spätantiken neuplatonischen AristoteleserkläD rung, die er um eine philosophische Interpretation der islamischen Religion zu erweitern suchte. Ibn Sīnā entwickelte diese metaphysischen Thesen insbesondere hinsichtlich der Frage nach der Immanenz Gottes in den vielfältigen Formen der Schöpfung weiter. Für ihn ist er nicht der absolut transzendente „unbewegte Beweger“ (Aristoteles’ ἀκίνητος κινῶν), vielmehr wirkt er in einer „Kaskade von Intellekten, Seelen und Körpern“, die die Gestirnsphären miteinander verknüpfen, bis hin zum „aktiven Intellekt“ (νοῦς ποιητικός), der letztlich erst der Materie ihre verschiedenartigen Formen verleiht. Gott wird dabei zugebilligt, die Einzeldinge zu kennen, was aber dahingehend eingeschränkt wird, dass es sich um ein Wissen auf Grundlage von Universalien handelt. Avicennas ernstgemeintes Bestreben einer Synthese islamischer und neuplatonischer kosmologischer Vorstellungen sollte aber keinen dauerhaften Erfolg haben. Das im Koran gezeichnete Bild eines omnipräsenten und beständig in die Geschichte eingreifenden Gottes stand in unüberwindbarem Kontrast zu dem entrückten Demiurgen der Philosophen. Ein besonders prominenter Vertreter einer wörtlichen Koran auslegung war al-Ġazālī († 1111), der heftige Kritik an den Philosophen und namentlich an Ibn Sīnā übte. Auch das lateinische Mittelalter tat sich mit Avicennas Thesen bisweilen schwer, wie mehrfache kirchliche Verurteilungen – insbesondere seiner Seelenlehre – belegen.9 Ein Reflex dieser ‚orthodoxen‘ Kritik am kalten Rationalismus des K. aš-Šifāʾ findet sich in der populären Enzyklopädie al-Qazwīnīs († 1283). In diesem K. ʿAˇgāʾib al-mahlūqāt („Die Wun der der Schöpfung“) hat sich der Autor weitgehend auf Ibn Sīnās Thesen zur Mineralentstehung gestützt, die er zumeist wörtlich übernahm. Im Falle der Fossilisation von Tieren und Pflanzen hatte Ibn Sīnā – analog zur oben zitierten Bildung von Tropfsteinen – eine natürliche, plötzlich aus der Erde hervorbrechende Kraft am Werk gesehen. Gemeint sind wohl unterirdisch eingeschlossene Gase oder Dämpfe. Al-Qazwīnī ändert den Text seiner Vorlage dahingehend, dass Gott selbst jene Kraft in seinem Zorn ausgesandt habe. Auch wenn er es nicht direkt ausspricht, handelt es sich um eine offensichtliche Anspielung auf die im Koran vielfach belegten Straflegenden, insbesondere die vom Untergang Sodoms.10 Al-Qazwīnīs Buch wurde zum Vorbild späterer enzyklopädisch-kosmographischer Werke. Daher hängen auch die Mineralienabschnitte von Ibn Fadlallāh . al-ʿUmarīs († 1349) Masālik al-ab.sār und der auf al-ʿUmarī basierende Spezialtraktat des Historikers al-Maqrīzī († 1442) in hohem Maße von Ibn Sīnā ab. Dasselbe gilt für naturwissenschaftliche Werke, wie das K. al-Muʿtabar von Abū l-Barakāt al-Baġdādī († 1165), das K. al-Mabāhi . t- al-mašriqīya von Fahr ad-Dīn ar-Rāzī († 1209) und das auf Syrisch verfasste Butyrum sapientiae des Barhebraeus († 1286).11 Die Mineralienabschnitte des K. aš-Šifāʾ wurden mindestens zweimal ins Lateinische übersetzt. Um 1275 beauftragte der Bischof von Burgos einen Johannes Gunslavi mit der Vervollständigung der Übersetzung des naturkundlichen Teils des „Buches der Genesung“, von dem andere Abschnitte schon Mitte des 12. Jahrhunderts in Toledo übertragen worden waren. Wesentlich bedeutender als diese kaum rezipierte Version, von der nur eine einzige
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Handschrift bekannt ist (Vatikan, Urb. lat. 186),12 war eine Teilübersetzung der Mineralien kapitel, die der englische Philosoph Alfred von Sareshel († ca. 1245) kurz vor 1200 in Spanien verfertigte.13 Dieser als Liber de mineralibus oder De congelatione et conglutinatione lapidum bekannte Text wurde nicht nur unter dem Namen Avicennas tradiert, sondern auch Geber (Ğābir ibn Hayyān), . vor allem aber Aristoteles beigelegt.14 Für das weitere Fortleben am bedeutendsten war der Umstand, dass diese Auszüge aus dem K. aš-Šifāʾ bald als Anhang zur lateinischen Version von Aristoteles’ Meteorologie tradiert wurden. Der tatsächliche Autor war frühen Benutzern, wie Albertus Magnus, noch bekannt, geriet aber immer mehr in Vergessenheit. Die Identifikation der eigentlichen Vorlage von De mineralibus gelang letztlich erst im 20. Jahrhundert.15 Fabian Käs
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Der Quellentext folgt der Kairener Edition mit folgenden Abweichungen nach Holmyard/ Mandeville: ʿalā sabīli t-tafḫīri] ʿalā sabīli t-tafaǧǧuri; bi-rummatihī] brmth (?); an yarsuba] yarsubu. Zur orientalischen Rezeption dieser Stelle vgl. Hidemi Takahashi: Aristotelian Meteorology in Syriac. Barhebraeus, Butyrum Sapientiae, Books of Mineralogy and Meteorology, Leiden 2004, S. 210–213; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: K. al-Mabāḥiṯ al-mašriqīya, 2 Bde., Hyderabad 1925, Bd. II, S. 207,5; al-Qazwīnī: K. ʿAǧāʾib al-maḫlūqāt wa-ġarāʾib al-mauǧūdāt, hg. v. Ferdinand Wüstenfeld, Göttingen 1849, S. 209; Ibn Faḍlallāh al-ʿUmarī: Masālik al-abṣār fī mamālik al-amṣār, 30 Bde., Frankfurt a.M. 1988−2001, Bd. XXII, S. 85f.; Fabian Käs: Al-Maqrīzīs Traktat über die Mineralien, Leiden 2015, S. 94f., S. 238–242 (§ 40). Zu Leben und Werk Ibn Sīnās vgl. Gotthard Strohmaier: Avicenna, 2. Aufl., München 2006; Encyclopædia Iranica, hg. v. Ehsan Yarshater, Bd. III, London u. a. 1989, S. 66–110, s. v. „Avicenna“ (M. Mahdi u. a.); hier bes. „viii. Mathematics and Physical Sciences“ (G. Saliba), ebd. S. 88–92; LexMA Bd. I, Sp. 1298–1300, s. v. „Avicenna“ (G. Endreß u. a.); Peter Adamson (Hg.): Interpreting Avicenna. Critical Essays, Cambridge 2013. Manfred Ullmann: Untersuchungen zur arabischen Überlieferung der Materia medica des Dioskurides, Wiesbaden 2009, S. 322. Zu Entstehungsgeschichte, Aufbau und Zielsetzung des Werks siehe Dimitri Gutas: Avicenna and the Aristotelian Tradition, 2. Aufl., Leiden 2014, S. 101–109, bes. S. 103f. Zu Kapitel II,1–4 vgl.: Avicenna. The Physics of The Healing. A Parallel English-Arabic Text, übers. v. Jon McGinnis, 2 Bde., Provo/Utah 2009. Zur Rezeption von Meteo. IV bei Ibn Sīnā und seiner Schule vgl. Paul Lettinck: Aristotle’s Meteorology and its Reception in the Arab World, Leiden 1999, S. 302–309 u. S. 311, sowie Käs 2015, S. 126–138. Die noch im authentischen dritten Buch (III,6; 378a) dargestellte Theorie einer Bildung von Mineralien aus „trockenen“ und „feuchten Ausdünstungen“ (ἀναθυμίασις) wurde im K. aš-Šifāʾ bewusst übergangen, vgl. Takahashi 2004, S. 281. Ibn Sīnā, Šifāʾ (Maʿādin), ed. Kairo, S. 21,15–23,4; Holmyard/Mandeville 1927, S. 84,4–86,3, engl. S. 38–41. Zur Quecksilber-Schwefel-Theorie vgl.: K. Sirr al-ḫalīqa wa-ṣanʿat aṭ-ṭabīʿa
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Abū ʿAlī ibn Sīnā li-Balīnūs al-ḥakīm, hg. v. Ursula Weisser, Aleppo 1979, S. 243,3–244,3 (III,3.2) und dies.: Das „Buch über das Geheimnis der Schöpfung“ von Pseudo-Apollonios von Tyana, Berlin 1980, S. 106, S. 199f. 9 Vgl. Strohmaier 2006, S. 63–67 u. S. 131–133; Encyclopædia Iranica, Bd. III, S. 73–79, S. 104– 107, LexMA Bd. I, Sp. 1299; Stephen Menn: Avicenna’s metaphysics, in: Adamson 2013, S. 143– 169; Peter Adamson: From the necessary existent to God, in: ebd., S. 170–189. 10 Ibn Sīnā, Šifāʾ (Maʿādin), ed. Kairo S. 5,1–4; Holmyard/Mandeville 1927, S. 74,3–6; Qazwīnī, S. 209,15–19; al-ʿUmarī, Bd. XXII, S. 86,3–7; Käs 2015, S. 94f. u. S. 243f. (al-Maqrīzī § 42); Takahashi 2004, S. 211 (Barhebraeus I.i.3.1-6). 11 Vgl. oben Anm. 1; Lettinck 1999, S. 305–309; Takahashi 2004, S. 203. 12 Jean-Marc Mandosio u. Carla Di Martino: La ‚Météorologie‘ d’Avicenne (Kitāb al-Šifāʾ V) et sa diffusion dans le monde latin, in: Andreas Speer u. Lydia Wegener (Hg.): Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter, Berlin u. a. 2006, S. 406–424; hier S. 409f. 13 Ebd. S. 411–418; vgl. LexMA Bd. I, Sp. 410. 14 Repertorium edierter Texte des Mittelalters aus dem Bereich der Philosophie und angrenzender Gebiete, hg. v. Rolf Schönberger u.a:, 4 Bde., 2. Aufl., Berlin 2011, hier Bd. I, S. 688. 15 Mandosio/Di Martino 2006, S. 416; Holmyard/Mandeville 1927, S. V–VIII, S. 3f. Die oben zitierte Stelle entspricht dem lateinischen Text ebd. S. 45,3–16.
Hugo von St. Viktor
De tribus diebus um 1120 De colore rerum multum disserere opus non est, cum ipse uisus probet quantum naturae decoris additur, cum tam uariis distincta coloribus adornatur. Quid luce pulcrius, quae cum colorem in se non habeat, omnium tamen colores rerum ipsa quodammodo illuminando colorat? Quid iocundius ad uidendum caelo cum serenum est, quod resplendet quasi saphirus et gratissimo quodam suae claritatis temperamento uisum excipit et demulcet aspectum? Sol sicut aurum rutilat; luna pallet quasi electrum; stellarum quaedam flammeo aspectu radiant, quaedam luce rosea micant, quaedam uero alternatim, nunc roseum, nunc uiridem, nunc candidum fulgorem demonstrant. Quid de gemmis et lapidibus preciosis narrem, quorum non solum efficacia utilis, sed aspectus quoque mirabilis? Ecce tellus redimita floribus, quam iocundum spectaculum prebet, quomodo uisum delectat, quomodo affectum prouocat! Videmus rubentes rosas, candida lilia, purpureas uiolas, in quibus omnibus non solum pulcritudo, sed origo quoque mirabilis est, quomodo scilicet Dei sapientia de terrae puluere talem producit speciem! Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, hg. v. Dominique Poirel u. Patrice Sicard, Turnhout 2002 (Corpus Christianorum: Continuatio Mediaevalis 177), S. 177.
Sich über die Farbe der Dinge groß auszulassen ist nicht notwendig, da der Anblick beweist, wie viel des Schmucks sie der Natur hinzugibt, wenn sie durch so viele verschiedene Farben verschönert wird. Was ist schöner als Licht, das, obwohl es keine Farbe in sich hat, dennoch die Farben aller Dinge gewissermaßen durch Erleuchten einfärbt? Was ist erfreulicher anzuschauen als der Himmel, wenn er heiter ist, weil er gleich einem Saphir und in einer höchst erfreulichen Mischung seiner Helligkeit den Anblick umschmeichelt? Die Sonne leuchtet wie Gold, der Mond ist bleich gleich wie Electrum, einige der Sterne leuchten in feurigerm Anblick, einige strahlen in rosafarbigem Licht, andere wiederum abwechselnd, bald rosa, bald grün oder zeigen nun weißen Glanz. Was soll ich über Gemmen und wertvolle Steine sagen, deren Wirksamkeit nicht nur nützlich, sondern deren Anblick auch wunderbar ist? Sieh die mit Blumen umwundene Erde, was für einen erfreulichen Anblick sie bietet, auf welche Weise sie den Blick erfreut, wie sie Gefühle hervorruft! Wir sehen rote Rosen, weiße Lilien, purpurne Veilchen, in denen allen nicht nur Schönheit, sondern auch ein wunderbarer Ursprung ist, das heißt, auf welche Weise die Weisheit Gottes aus dem Sand der Erde eine solche Art hervorbringt! Übersetzung: Arwed Arnulf
Suger von Saint-Denis
De administratione 1150 Caput XXXIII. De thesaurorum augmentatione Hec igitur tam noua quam antiqua ornamentorum discrimina ex ipsa matris ecclesie affectione crebro considerantes, dum illam ammirabilem sancti Eligii cum minoribus crucem, dum incomparabile ornamentum quod uulgo crista uocatur auree are superponi contueremur, cordetenus suspirando ‚omnis‘ inquam ‚lapis preciosus operimentum tuum, sardius, topazius, iaspis, crisolitus, onix et berillus, saphirus, carbunculus et smaragdus‘. De quorum numero preter solum carbunculum nullum deesse, immo copiosissime habundare gemmarum proprietatem cognoscentibus cum summa ammiratione claret. Vnde cum ex dilectione decoris domus Dei aliquando multicolor gemmarum speciositas ab exintrinsecis me curis deuocaret, sanctarum etiam diuersitatem uirtutum de materialibus ad inmaterialia transferendo honesta meditatio insistere persuaderet, uideor uidere me quasi sub aliqua extranea orbis terrarum plaga, que nec tota sit in terrarum fece, nec tota in celi puritate, demorari, ab hac etiam inferiori ad illam superiorem anagogico more Deo donante posse transferri. Abt Suger von Saint-Denis: De administratione, 222–224, in: Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte
Kapitel XXXIII. Die Vermehrung der Schätze Wenn ich also aus Liebe zu unserer Mutter Kirche selbst häufig diese neuen wie die alten Kostbarkeiten in ihrer Verschiedenheit anschaute, wenn ich betrachtete, wie jenes bewunderungswürdige Kreuz des heiligen Eligius zusammen mit kleineren ‹Kostbarkeiten› und wie jenes unvergleichliche Prunkstück, das gemeinhin „crista“ genannt wird, auf den goldenen Altar gesetzt wurden, dann seufzte ich von Herzen und sprach: „Ein jeder kostbare Stein dient dir als Decke: Sarder, Topas, Jaspis, Chrysolith, Onyx, Beryll, Saphir, Karfunkel, Smaragd“. Daß an deren Zahl außer dem Karfunkel keiner fehlte, sondern vielmehr alle in überströmender Menge vorhanden waren, ist denen, die die Eigenschaften der Edelsteine kennen, klar und erfüllt sie mit höchster Bewunderung. Als daher mich einmal aus Liebe zum Schmuck des Gotteshauses die vielfarbige Schönheit der Steine von den äußeren Sorgen ablenkte und würdiges Nachsinnen mich veranlaßte, im Übertragen ihrer verschie denen heiligen Eigenschaften von materiellen Dingen zu immateriellen zu verharren, da glaubte ich mich zu sehen, wie ich in irgendeiner Region außerhalb des Erd kreises, die nicht ganz im Schmutz der Erde, nicht ganz in der Reinheit des Himmels lag, mich aufhielt, und [glaubte,] daß ich,
De tribus diebus / De administratione Schriften, hg. v. Andreas Speer u. Günther Binding, Darmstadt 2000, S. 256–371, hier S. 342 u. S. 344.
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wenn Gott es mir gewährt, auch von dieser unteren [Region] zu jener höheren in anagogischer Weise hinübergetragen werden könne. Abt Suger von Saint-Denis: De administratione, 222–224, in: Abt Suger von Saint-Denis. Ausgewählte Schriften, hg. v. Andreas Speer u. Günther Binding, Darmstadt 2000, S. 256–371, hier S. 343 u. S. 345.
Kommentar Bekanntermaßen wurde Paris im 12. Jahrhundert zum Schauplatz einer regelrechten Revolution in den Künsten und in der Theologie.1 Sowohl die gotische Baukunst als auch die Scholastik entwickelten sich im näheren Umkreis der stetig anwachsenden Stadt. Zwei Männer, Abt Suger von Saint-Denis († 1151) und Hugo von St. Viktor († 1141) können als Schlüsselfiguren innerhalb jener grundlegenden Veränderung gelten. Während die erhaltenen Quellen zum Verhältnis von Suger und Hugo schweigen, ist doch sicher, dass sie sich gekannt haben müssen: ihre jeweiligen Klöster, die Königsabtei Saint-Denis und Saint-Victor, waren im Zuge kirchlicher Reformen miteinander verbunden und Conrad Rudolph hat überzeugend gezeigt, dass Suger Hugo als theologischen Berater bei der Entwicklung des ikonographischen Programmes in Saint-Denis herangezogen hat.2 Während die Rolle der beiden Kleriker bei den künstlerischen und theologischen Um schwüngen gut aufgearbeitet ist, blieb bislang weitgehend unberücksichtigt, dass die Schriften von Suger und Hugo zentrale Einblicke in das mittelalterliche Verständnis über die Bedeutungsvalenzen von Edelsteinen ermöglichen.3 Die Schriften – insbesondere Hugos De tribus diebus (um 1120) und Sugers De administratione (1150) – reflektieren ein immenses Wissen über die tradierten biblischen, allegorischen und naturkundlichen Bedeutungsschichten des Materials. Mittelalterliche Texte verschiedenster Art, von den scholastischen Debatten zur Naturphilosophie und theologischen Abhandlungen über die Natur Gottes, über Lapi darien und alchemistische Texte bis hin zu Werkstattbüchern umkreisen die Bedeutung der natürlichen Welt. So disparat die Texte sein mögen, so teilen sie doch ein gemeinsames Interesse an den natürlichen und übernatürlichen Qualitäten des Materials und tragen allesamt zur „Ästhetik der Materialität“ bei. Vor diesem Hintergrund wird bei der Lektüre der Schriften von Suger und Hugo deutlich, wie sehr die Materialien bedeutungskonstituierend für historische Gegenstände waren und dass Kunstwerke durch das mittelalterliche Denken über Materialität mitgeformt wurden und zugleich selbst zu diesen Epistemen beitrugen. Hugo verfasste De tribus diebus um 1120/1121 als regulierter Augustiner-Chorherr an der Abtei Saint-Victor bei Paris. Der Text ist in zwei Versionen erhalten. Die zweite Version wurde
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Hugo von St. Viktor / Suger von Saint-Denis
durch ihn selbst noch vor 1130 abgefasst; die früheste Abschrift dieses Traktates findet sich in MS 717 der Bibliothèque Mazarine in Paris, einer durch Abt Gilduin von St. Viktor († 1155) kurz nach Hugos Tod kompilierten Schriftensammlung.4 Das Werk ist in über 130 zwischen dem 12.–16. Jahrhundert entstandenen Handschriften überliefert. Während ihm unter den zahlreichen Schriften des Hugo von St. Viktor zwar keine besonders hervorgehobene Bedeutung zukommt, entwickelt es doch bereits zentrale Gedanken für das wenig Jahre später entstandene Hauptwerk De sacramentis, insbesondere im Hinblick auf die dortigen Ausführungen zur Schöpfungstheologie, zur Trinität und zur Deutung der Macht, Weisheit und Güte Gottes, welche in seine natürliche Schöpfung eingeschrieben ist. Wanda Cizewski hat darauf verwiesen, dass De tribus diebus gewissermaßen als ein „contemplative seventh part“ von Hugos Didascalicon de studio legendi, einer Abhandlung über die Bibellektüre und –exegese, zu verstehen sei.5 Das Werk beginnt mit der im Römerbrief des Apostel Paulus entwickelten Ausdeutung der invisibilia Gottes durch die visibilia seiner Schöpfung: „Denn seine unsichtbaren Taten, von der Erschaffung der Welt an, werden durch das, was geschaffen worden ist, erkannt und erblickt, auch seine ewige Kraft und Göttlichkeit, sodass sie unentschuldbar sind“ (Röm 1,20). Im Rahmen seines kurzen Traktates deutet Hugo diese Bibelstelle weiter aus und demonstriert, wie durch die Fülle, Schönheit und Nützlichkeit der Schöpfung Gottes dessen Kraft, Allwissen und Güte offenbart werden. Innerhalb des umfassenden Ökosystems der Schönheit Gottes ist selbst im geringsten Detail alles mit allem verbunden. Hugos theologische Haltung zielt darauf ab zu zeigen, dass die mikrokosmische physische Welt grundlegend für das Verständnis der makrokosmischen Dimension Gottes ist. Im ersten Abschnitt beschäftigt sich Hugo mit der Erscheinungswelt und es ist denkbar, dass seine engagierten Schilderungen der visibilia in Gottes Schöpfungsplan auf in der Natur gewonnene eigene Beobachtungen zurückgehen. So geht er beispielsweise auf die genaue Beschaffenheit eines Blattes ein, um zu zeigen, dass jede species gleiche oder ähnliche species hervorbringt. Hierbei beschreibt er, wie sich ein Blatt durch seinen zackigen Rand (serratis dentibus) und durch seine Adern von den Blättern einer anderen species unterscheidet. Auch geht er ausführlich auf die morphologischen Unterschiede von Brombeeren und Erdbeeren ein. 6 Neben seinen eigenen Beobachtungen in der Natur greift Hugo vor allem auf das lateinische enzyklopädische Schrifttum zurück. Es ist sicher, dass er weitverbreitete Schriften wie die Naturalis Historia von Plinius d. Ä., Macrobius’ Commentarium in Somnium Scipionis und die Etymologiae des Isidor von Sevilla gekannt haben muss. Bei der Lektüre dieser Passagen zeigen sich auch Hugos tiefgehendes Verständnis der biblischen Allegorese und seine Kenntnisse über mittelalterliche naturkundliche Trakate, vor allem von Lapidarien. Diese waren mehr als bloße Enzyklopädien der Natur. Wie Rosmarie Thee Morewedge pointiert bemerkt hat, unterweisen derartige Texte „how to live as a microcosm in tune with the macrocosm, where from the smaller stones to the grand motions of the celestial bodies, it is the grand design of the cosmos to explain through correspondences the divine purposeful-
De tribus diebus / De administratione
ness.“7 In mittelalterlichen Lapidarien wird auf zweierlei Weise über Edelsteine nachgedacht: zum einen im bei der Bibelexegese entwickelten Modus des allegorischen Denkens, zum anderen in einem naturkundlichen Modus, dessen Wissen über die magischen Qualitäten der Steine vor allem auf ihre medizinischen (heilkundlichen) Wirkungen abzielte. Die Steinallegorese entwickelte sich aus frühchristlichen Texten wie den apokalyptischen Schilderungen des Hermae Pastor (um 140), Prudentius’ Psychomachia (nach 348) und Augustinus’ De doctrina christiana (397–426), welche auf die alttestamentliche Beschreibung der Brusttasche / Brustschild des Hohepriesters Aaron (Ex 28,15–21) rekurrieren: Viereckig soll sie sein und doppelt gelegt; eine Spanne soll ihre Länge sein und eine Spanne ihre Breite. Und du sollst sie besetzen mit vier Reihen von Steinen. Die erste Reihe sei ein Sarder, ein Topas und ein Smaragd, die andere ein Rubin, ein Saphir und ein Diamant, die dritte ein Lynkurer, ein Achat und ein Amethyst, die vierte ein Türkis, ein Onyx und ein Jaspis; in Gold sollen sie gefasst sein, wenn man sie anbringt. 8 In spätmittelalterlichen christlichen Werken wird die biblische Allegorese vielfach verschränkt mit einer eher naturkundlich-magischen Denktradition, als deren wichtigste Vertreter Plinius d. Ä., Isidor von Sevilla und vor allem Marbod von Rennes († 1123) gelten, welcher ab 1067 als Leiter der Kathedralschule von Anger und ab 1096 als Bischof von Rennes wirkte. Als Verfasser war Marbod höchst produktiv, sein um 1090 in Nordfrankreich entstandener Liber de lapidibus gilt als eines der weitverbreitetsten Werke über Steine.9 Hugo wählt einen vergleichbaren kombinatorischen Ansatz. Im Vokabular seiner Naturbeobachtungen spiegeln sich Bezüge zu Edelsteinen, Metallen und ihren jeweiligen Materialsemantiken. Rosen sind rubinrot; die Sonne strahlt wie Gold; der Mond ist so blassleuchtend wie Elektron.10 Der Begriff Elektron, für den es keine biblischen Belegstellen gibt, steht im Altgriechischen für Bernstein. In Edelsteinen und Halbedelsteinen offenbart sich nicht nur die Schönheit der göttlichen Schöpfung, sondern auch deren materielle Grundlagen und Bedeutungsschichten. Beispielsweise beschreibt Hugo, dass der Himmel „wie ein Saphir leuchtet“11. Saphir – genau genommen handelt es sich dabei in der antiken und frühmittelalterlichen Texttradition um den tiefblauen Edelstein Lapislazuli – rief nicht nur die Beschreibung der Brustplatte des Hohepriesters Aaron, sondern auch das endzeitliche Himmlische Jerusalem auf: „Die Grundsteine der Stadtmauer waren aus je einem Edelstein kunstvoll gefertigt: Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir“ (Apk 21,19). Die leuchtendblaue Farbe des Saphirs wurde außerdem auf den Himmel und die himmlischen Sphären bezogen: „Und sie sahen den Gott Israels, und unter seinen Füßen war ein Gebilde wie aus einer Platte von Lapislazuli und klar wie der Himmel selbst“ (Ex 24,10). Diese von patristischen Autoren häufig für die Textexegese genutzte Passage war Hugo sicherlich bekannt.12 Die Engführung von Saphir mit dem Göttlichen wurde durch die steinkundliche Texttradition untermauert, wonach der Stein einzig dem König zustehe. Marbod etwa beginnt seine
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Hugo von St. Viktor / Suger von Saint-Denis
Ausführungen über den Saphir mit dem Verweis, dass der Stein nur an die Finger einer königlichen Hand gehöre und aufgrund seiner göttlichen Natur alle anderen Steine überträfe.13 In der Beschreibung über die Nutzungsmöglichkeiten des Saphir hebt er die magischen und medizinischen Qualitäten hervor; dass auch für Hugo Edelsteine eben jene Qualitäten besitzen, zeigt sich in dessen rhetorischer Frage: „Was soll ich über Gemmen und wertvolle Steine sagen, deren Wirksamkeit nicht nur nützlich (quorum non solum efficacia utilis), sondern deren Anblick auch wunderbar ist?“14 Die angesprochene Wirkmacht bezieht sich hierbei sowohl auf den medizinischen wie auch spirituellen Nutzen. Marbod zufolge schützt der Saphir vor Neid und melancholischer Furcht, er vermag Türen zu versperren und Knoten zu binden und hilft bei der Flucht aus dem Kerker; er schützt vor übermäßigem Schwitzen, gemahlen und mit Milch vermischt heilt er Wunden, reinigt die Augen und vertreibt Kopfschmerz und führt schließlich zum Gebet und zu Gott.15 Indem durch die Sinneserfahrungen Erkenntnisse über den spirituellen Wert des Saphirs gewonnen wurden, konnten sich Einsichten in die Sphären der Transzendenz eröffnen. Visuelle Wahrnehmung wird im Text als Metapher für die religiöse Erkenntnis herangezogen. Im Rekurs auf eine bereits bei Plato einsetzende Traditionslinie versteht Hugo das Sehen als den bedeutendsten der Sinne und vermerkt, dass aufgrund dieser Sonderstellung die Augen die höchste Position im menschlichen Gesicht einnehmen. 16 Durch den Sehsinn offenbart sich, „wie viel des Schmucks sie der Natur hinzugibt, wenn sie durch so viele verschiedene Farben verschönert wird.“ (De colore rerum multum disserere opus non est, cum ipse uisus probet quantum naturae decoris additur, cum tam uariis distincta coloribus adornatur.). Hugo fordert seine Leserschaft auf, sich in der „mit Blumen umwundene[n] Erde“ umzublicken, die als beglückendes Schauspiel das Auge erfreut und Affekte hervorzurufen vermag (Ecce tellus redimita floribus, quam iocundum spectaculum prebet, quomodo uisum delectat, quomodo affectum prouocat!).17 Als wichtigstes Instrument der Sinneswahrnehmung ermöglicht der Sehsinn dem Betrachter Einblicke in die Qualitäten der sichtbaren Welt und eröffnet zugleich das Potenzial, sich über diese hinaus den invisibilia zuzuwenden. Hugos Traktat zielt darauf ab, seine Leserschaft bei dieser Hinwendung von der sichtbaren Schöpfung – gerade eben durch das darin gewonnene Wissen über ihre Schönheit und Bedeutung – hin zur Gotteserkenntnis, und davon ausgehend wieder zurück zu den natürlichen Dingen selbst, zu unterstützen. Die Übertragung vom Saphir zum Himmel beruht nicht nur auf der vergleichbaren blauen Farbe, sondern auf der in allegorischen Schriften vielfach fassbaren Denkfigur, wonach der Saphir den Gläubigen vom irdischen hinauf zum Raum der Transzendenz geleiten könne.18 Hugos Verständnis nach handelte es sich dabei jedoch nicht um einen anagogischen Aufstieg im Sinne von Pseudo-Dionysius, welcher die Erhellung des Geistes durch göttliche Kraft zum Ziel hatte.19 Er selbst bewegte sich innerhalb eines dreifachen Modells der Schriftauslegung – welches den Literalsinn, den typologischen Sinn und den tropologischen Sinn umfasste – und klammerte den anagogischen Sinn als vierte Ebene aus. Am Ziel stand für Hugo die durch religiöses Wissen ermöglichte Selbsterkenntnis: „Was nützt uns,
De tribus diebus / De administratione
wenn wir Gott als Kern aller Dinge erahnen, aber davon keinen Nutzen für uns selbst ziehen können?“20 In abgewandelter Form werden Fragen der Materialbedeutung in den Schriften Sugers behandelt; 1122 zum Abt der Königsabtei Saint-Denis ernannt, behielt er diese Position bis zu seinem Tode 1155. Im Traktat De administratione (1150) berichtet er wiederholt über seine Schlüsselrolle als Abt bei den Baumaßnahmen und bei der Ausstattung der Klosterkirche. In der ausgewählten Quellenpassage verteidigt Suger die Kostbarkeit der liturgischen Objekte und Kunstwerke gegen den Vorwurf des überbordenden Luxus, wie er etwa durch Bernhard von Clairvaux (1090–1153) vorgebracht wurde: hiernach führe die Kirchenausstattung zum ausschweifenden Materialismus, lenke die betrachtenden Mönche ab und behindere ihre innere Andacht. Für Bernhard waren die Bildkünste ein Dorn im Auge: in seinem berühmten Brief Apologia Ad Guillelmum Abbatem ereiferte er sich 1125 gegen die „die unflätigen Affen“, „wilden Löwen“ und „widernatürlichen Zentauren“ und verbannte derartige Darstellungen aus den in seiner Obhut als Abt stehenden Kirchen und Klöstern des Zisterzienserordens, einer 1098 innerhalb des Benediktinertums begründeten monastischen Reformbewegung.21 Religiös verehrte Objekte wie Reliquiare und Gnadenbilder bestanden gleichwohl häufig aus kostbaren Materialien wie Gold und Juwelen, welche im Lichterglanz erstrahlten und dadurch das „göttliche Licht“ replizierten. Aufgrund dieser Fähigkeit zur Spiegelung galten für Suger derartige Materialien nicht als Bedeutungsträger bloßen weltlichen Luxus und Reichtums, sondern standen vielmehr für das irdische und himmlische Paradies. Erleuchtend vom spirituellen Licht der Versenkung, kam ihnen innerhalb eines „weiterführenden“ anagogischen Prozesses (Anagoge, αναγωγή, ` griech. „Aufstieg“) gesteigerte Relevanz zu. In seinen Ausführungen zu den zahlreichen Edelsteinen, welche einst den Karlsschrein22 und das bereits in den Gesta Dagoberti23 erwähnte Kreuz des Hl. Eligius schmückten, hält Suger bildhaft fest: „da glaubte ich mich zu sehen, wie ich in irgendeiner Region außerhalb des Erdkreises, die nicht ganz im Schmutz der Erde, nicht ganz in der Reinheit des Himmels lag, mich aufhielt, und ‹glaubte,› daß ich, wenn Gott es mir gewährt, auch von dieser unteren ‹Region› zu jener höheren in anagogischer Weise hinübergetragen werden könne“. Innerhalb der vier Ebenen der Bibeldeutung richtete sich der anagogische Sinn insbesondere auf eine symbolische Auslegung von religiösen Äußerungen oder Ereignissen. Losgelöst von der bloßen Materialität eines Objektes, ermöglichte dieser Schriftsinn tiefgehende Erkenntnisse über dessen spirituelle Bedeutung. Bislang wurde Sugers Text meist als eine durch Pseudo-Dionysius geprägte Form von abgeschwächter Mystik gedeutet, wonach sich der spirituelle Aufstieg des Betrachters durch die transfigurative Kraft der im Lichterglanz strahlenden Edelsteine ereigne.24 Vor kurzem wurde gleichwohl vorgeschlagen, dass Sugers Schilderung dieser im Sinne von Pseudo-Dionysius verstandenen Hinaufführung vielmehr als ein politisches Manöver zu verstehen sei: da Pseudo-Dionysius der Patron der Abtei war, bot Suger seiner Leserschaft schlicht, was jene erwarteten, nicht was er selbst für wahr erachtete.25 Unabhängig von Sugers tatsächlichen Absichten beinhaltet doch auch die Beziehung
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zwischen religiös verehrten Objekten und ihren Betrachtern keineswegs stets oder ausschließlich anagogische Transfigurationen. In ihrer Forderung nach einer „anthropologically inflected study of the material imagination“, betonte Brigitte Büttner, eine derartige Beziehung sei „always light embodied, light tied to matter, to earth and water, just as saints are also and always made of bones and sinews and blood.“26 Denkbar erscheint, dass die Werke von Suger und Hugo sich nicht nur hinsichtlich ihrer Stoßrichtung – historisch und politisch der erste, der zweite eher spirituell motiviert – unterscheiden, sondern auch und dies in entscheidendem Maße, in ihren Erklärungen über die Materialbedeutung. Hierbei lassen sich Sugers Ausführungen über die Materialbedeutung als exegetisch verstehen, wohingegen Hugo eher anthropologisch-phänomenologisch argumentiert, wobei auch seine Erklärung letztendlich religiösen Zwecken dient. Während Suger die Frage nach der Materialbedeutung mit Hilfe von Artefakten erörtert, welche er durch den Rekurs auf ein biblisches Vorbild – Aarons Brustplatte – beschreibt, so nähert sich Hugo dem Thema hingegen durch die Erscheinungswelt und, so ließe sich zuspitzen, durch die Edelsteine. Während Sugers spirituelle Reise bei den Edelsteinen als Ausgangspunkt einsetzt, zeigt die genaue Auseinandersetzung mit dem Text und den entsprechenden Quellen, dass sein Text keineswegs auf eine Erklärung der tatsächlich am Kreuz des Hl. Eligius oder am Karlsschrein befindlichen Juwelen abzielte; um so weniger noch im Hinblick auf deren (bei Hugo hingegen hervorgehobene) magische oder natürliche Qualitäten. Vielmehr dienen die Juwelen als Allegorien des himmlischen Paradieses. Dies lässt sich durch das bei Suger angeführte Zitat erklären: In den Genüssen des Paradieses Gottes bist du gewesen, jedweder kostbare Stein war deine Decke: Rubin, Topas und Jaspis, Chrysolith und Onyx und Beryll, Saphir und Karfunkel und Smaragd; Gold war dein Zierwerk, und deine Bohrungen sind an dem Tag, an dem du gegründet wurdest, bereitet worden. (Ez 28,13) Der Schriftprophet nennt hierbei nicht alle am Brustschild des Aaron erwähnten zwölf Edelsteine, welche der mittelalterlichen Exegese nach für die zwölf Stämme Israels standen. Seine Aufzählung von lediglich neun Edelsteinen wurde von den mittelalterlichen Exegeten wie Gregor dem Großen als Repräsentation der neun himmlischen Engelschöre ausgedeutet. Wenngleich Sugers Schilderung eines anagogischen Aufstiegs politisch motiviert gewesen sein mag, so ist sie doch aufs Tiefste in die Tradition der biblischen Schriftexegese eingebunden, mit welcher seine Leserschaft gut vertraut war. Christopher Lakey Übersetzung: Isabella Augart
De tribus diebus / De administratione 1 Vgl. Erwin Panofsky: Gothic Architecture and Scholasticism (Wimmer Memorial Lecture), Latrobe 1951. 2 Insbesondere die Glasmalerei an den Chorfenstern und das skulpturale Programm an der Westfassade verhandeln eine höchst komplexe exegetische Thematik und waren darin mutmaßlich außerhalb von Sugers theologischen Fähigkeiten. Vgl. Conrad Rudolph: Artistic Change at St- Denis. Abbot Suger’s Program and the Early Twelfth-Century Controversy Over Art, Princeton 1990, S. 32–47; Conrad Rudolph: Inventing the Exegetical Stained-Glass Window. Suger, Hugh, and a New Elite Art, in: The Art Bulletin 93/2011, S. 399–422. Vgl. Dominique Poirel: Symbolice et anagogice. L’école de Saint-Victor et la naissance du style gothique, in: ders. (Hg.): L’abbé Suger, le manifeste gothique de Saint-Denis et la pensée victorine, Turnhout 2001, S. 141–170. 3 Wichtige Ausnahmen bilden dabei: Herbert L. Kessler: They preach not by speaking out loud but by signifying. Vitreous Arts as Typology, in: Aden Kumler u. Christopher Lakey (Hg.): Res et signification. The Material Sense of Things in the Middle Ages (Themenheft), in: Gesta 51/2012, S. 55–70; ders.: The Function of Vitrum Vestitum and the Use of Materia Saphirorum in Suger’s St.-Denis, in: Spiritual Seeing. Picturing God’s Invisibility in Medieval Art, Philadelphia 2000, S. 190–205; John Gage: Color and Culture: Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, Berkeley 1993, S. 70–76. 4 Zur Manuskriptgeschichte vgl. Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, hg. v. Dominique Poirel u. Patrice Sicard, Turnhout 2002 (Corpus Christianorum: Continuatio Mediaevalis 177), S. 7–265; Dominique Poirel: Livre de la nature et débat trinitaire au XIIe siècle. Le De tribus diebus de Hugues de Saint-Victor, Turnhout 2002. 5 Wanda Cizewski: Reading the World as Scripture. Hugh of St. Victor’s De tribus diebus, in: Florilegium 9/1987, S. 66. 6 Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, XI, Z. 390–398. 7 Rosmarie Thee Morewedge: Lapidaries, in: Albrecht Classen (Hg.): Handbook of Medieval Studies – Terms – Methods – Trends, Band 3, Berlin 2010, S. 1845. 8 Richtungsweisend für die Geschichte des allegorischen Schrifttums über Edelsteine im Mittelalter ist Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinalle gorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977; vgl. Thee Morewedge 2010, S. 1846. 9 Vgl. John M. Riddle: Marbode of Rennes’ (1035–1123) De lapidibus, Wiesbaden 1977. 10 Vgl. Marbod: De lapidibus, LIX, S. 90. 11 Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, XII, Z. 411–414. 12 Vgl. Franciscus Glorie (Hg.): Jerome. Commentariorum in Hiezechielem, CCSL 75A, Turnhout 1964, XIV, Z. 612–635; Marc Adriaen (Hg.): Gregory the Great. Moralia in Iob, CCSL 143A, Turnhout 1979, XVIII, Z. 33 u. 52. 13 Marbod: De lapidibus, V, S. 42. 14 Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, XII, Z. 419–420. 15 Marbod: De lapidibus, V, S. 42–43. 16 Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, VIII, Z. 270–273. 17 Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, XII, Z. 420–422. 18 Vgl. Meier 1977, S. 133–134.
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Hugo von St. Viktor / Suger von Saint-Denis 19 So wird beispielsweise in der mystischen Theologie des Pseudo-Dionysius der Aufstieg auf den Berg Sinai durch Moses mit dem durch Mystik ermöglichten anagogischen Aufstieg eines Lesers bis zum Haupt Gottes parallelisiert. Vgl. Günter Heil u. Adolf M. Ritter (Hg.): Corpus Dionysiacum II, Berlin 1991, Kap. 1. Vgl. ferner Paul Rorem: Pseudo-Dionysius. A Commentary on the Texts and an Introduction to their Influence, Oxford 2013; Paul Rorem: Biblical and Liturgical Symbols Within the Pseudo-Dionysian Synthesis. Toronto 1984. 20 Zitiert nach Paul Rorem: Hugh of Saint Victor, Oxford 2009, S. 64; vgl. Rudolph 2011. Siehe zu dieser Passage auch Hugo von St. Viktor: De tribus diebus, XXV, Z. 1110–1112. 21 Conrad Rudolph: The „things of greater importance“. Bernard of Clairvaux’s Apologia and the medieval attitude toward art, Philadelphia 1990, S. 283. Siehe Bernard von Clairvaux: Apologia Ad Guillelmum Abbatem, XII.29, Z. 14–20. Vgl. Meyer Schapiro: On the Aesthetic Attitude in Romanesque Art, in: ders.: Romanesque Art. Selected Papers, New York 1977, S. 1–27. 22 Das Karlsschrein genannte Reliquiar bestand aus Gold, Perlen und kostbaren Steinen. Vom Reliquiar hat sich lediglich die Deckplatte erhalten (Louvre, Cabinet des Antiques), alles andere wurde 1794 eingeschmolzen. 23 Gesta Dagoberti I regis Francorum, MGH SS rer. Merov. II, hg. v. Bruno Krusch, Berlin 1888, S. 407,17. Auch dieses Kreuz wurde 1793 eingeschmolzen und hat sich nicht erhalten. Es ist jedoch in dem Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen Tafelbild Die Messe des St. Gilles eines mit dem Notnamen Meister von St. Gilles bezeichneten Malers (The National Gallery of Art, London, NG4681) und in einem Kupferstich in Dom Michel Félibiens Histoire de L‘Abbaye Royale de Saint-Denys en France (1706) dokumentiert. 24 Vgl. Erwin Panofsky: Abbot Suger on the abbey church of St.-Denis and its art treasures, Princeton 1948; Gage 1993. 25 Rudolph 2011, S. 399–400. 26 Brigitte Buettner: From Bones to Stones. Reflections on Jeweled Reliquaries, in: Bruno Reudenbach u. Gia Toussaint (Hg.): Reliquiare im Mittelalter (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte, 5), Berlin 2005, S. 43, S. 48–49.
Hildegard von Bingen
Liber simplicis medicinae um 1152–1158 De carbunculo Carbunculus in eclipsi lune crescit, et tamen calidus est. Nam cum luna iam in tedio est velut dificere velit, quia interdum se deficere ostendit, cum divina iussione aut famem aut pestilentiam aut bella aut mutationes regnorum fieri portentat. Et tunc sol omnes vires suas in firmamentum mergit, et lunam calore suo fovet, et eam igne suo suscitat et erigit, et eam iterum splendere facit, velut gallina pullos suos fovet et velut bestia facit, que linguam suam in os alterius ponit, ut illam a morte exsuscitet que iam moritura est. Et tunc in illa hora carbunculus nascitur. Et ideo de igne solis et incremento lune splendorem habet, ita quod magis in nocte quam in die lucet, et ita crescit usque dum calor solis eum deicit. Et quia eclipsis lune raro est, lapis iste etiam rarus est. Et virtus eius rara est et metuenda, ita quod multo timore et sollicitudine exercenda est. Nam si sucht aut riddo aut fiber aut giht aut alia quelibet infirmitas hominem invaserit in mutatione humorum eius, carbunculum circa mediam noctem, quia virtus eius tunc precipque viget, super umbilicum dolentis pone. Et non diutius super umbilicum eius dimittas, quam homo ille se aliquantulum ab eo calefactum senserit, et eum mox auferas, quoniam virtus eius tunc hominem illum et omnia viscera eius pertransivit, plusquam ulla medicina ullorum ungentorum facere
Karfunkel Der Karfunkel wächst in der Mondfinsternis und ist doch warm. Denn wenn der Mond schon in Unlust ist, als ob er erlöschen wollte (weil er manchmal zeigt, dass er erlischt, wenn er auf göttlichen Befehl eine Hungersnot oder eine Seuche oder Kriege oder Herrschaftsveränderungen ankündigt), dann senkt die Sonne alle ihre Kräfte in das Firmament und verwöhnt den Mond mit ihrer Wärme, weckt ihn mit ihrem Feuer und richtet ihn auf und lässt ihn wieder strahlen, wie eine Henne ihre Küken wärmt und wie es ein Tier macht, das seine Zunge in das Maul eines anderen, das dem Tod nahe ist, steckt, um es vom Tod zu erretten: Genau in jener Stunde wird der Karfunkel geboren. Deshalb hat er Glanz vom Feuer der Sonne und vom Zunehmen des Mondes, so dass er mehr in der Nacht als am Tag leuchtet, und so wächst er, bis ihn die Sonnenwärme auswirft. Und weil eine Mondfinsternis selten ist, ist auch jener Stein selten. Und seine Wirkung ist ausgefallen und zu fürchten, so dass man sie mit großer Vorsicht und Sorgfalt anwenden muss. Wenn nun eine Krankheit oder ein Fieber oder die Gicht oder irgendeine andere Schwäche den Menschen bei einer Veränderung seiner Säfte befällt, dann leg um Mitternacht (denn dann ist seine Kraft am stärksten) einen Karfunkel auf den Nabel des
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posset. Nam statim ut homo ille vel modicam motionem in corpore suo senderit, carbunculum ab eo auferes, quia si eum super umbilicum illius tunc siutius iacere permiseris, virtus eius totum corpus illius ita pertransit quod arescet. Et sic lapis iste quaslibet pestes ab homine compescit. Carbunculus enim de calore solis et de calore lune in se habet, sed humiditate illa caret, que in die et in nocte elementis adheret, et ideo magna virtute sua noxios humores, qui acutam seu cottidianam seu tertianam seu quartanam aut febrem aut guttam paralisis parant, dissipat. Hildegard von Bingen: Physica. Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum, textkritische Ausgabe, hg. v. Reiner Hildebrandt u. Thomas Gloning, Berlin 2010, 2 Bde., hier Bd. 1, IV,14,1–12, S. 247f.
Patienten. Und lass ‹den Stein› nicht länger auf seinem Nabel liegen, als ‹bis› jener Mensch sich von ihm ein wenig erwärmt fühlt. Dann nimm ihn alsbald weg, weil seine Kraft dann jenen Menschen und alle seine Eingeweide durchdrungen hat, mehr als es jede Heilwirkung jedweder Salben tun könnte. Du sollst sofort den Karfunkel von jenem Menschen entfernen, sowie er eine auch nur mäßige Bewegung in seinem Körper gespürt hat, denn wenn du ihn dann länger auf seinem Nabel liegen lässt, durchdringt seine Kraft den ganzen Körper des ‹Betroffenen› derart, dass er ausdörrt. Und so hält der Karfunkel alle denkbaren Übel vom Menschen fern. Denn der Karfunkel hat in sich ‹etwas› von der Wärme der Sonne und von der Wärme des Mondes, entbehrt aber jener Feuchtigkeit, die am Tag und in der Nacht den Elementen anhaftet, und deshalb löst er durch seine große Kraft die schädlichen Säfte auf, die das akute oder tägliche oder drei- oder viertägliche Fieber oder die Gicht-Lähmung verursachen. Hildegard von Bingen: Heilsame Schöpfung. Die natürliche Wirkkraft der Dinge = Physica, übers. u. eingel. v. Ortrun Riha, hg. v. der Abtei St. Hildegard, Rüdesheim/Eibingen, Beuron 2012, IV,14,1–12, S. 271f.
Kommentar Hildegard von Bingens Ausführungen über Edelsteine und ihre heilenden Kräfte werden in Heilpraktikerkreisen heute noch große Bedeutung zugeschrieben. Die sogenannte ‚Hildegard-Medizin‘ stützt sich auf Hildegards Schriften und beinhaltet neben Pflanzenheilkunde und Ernährungskunde auch Edelsteintherapie. Während an der medizinischen Relevanz der von Hildegard beschriebenen Praktiken mit Edelsteinen wohl gezweifelt werden darf – etwa die Behandlung von Taubheit durch die Einführung des Jaspis in das betroffene Ohr, die Kurierung von Lähmungen durch die Einnahme von mit Diamanten in Berührung gekomme-
Liber simplicis medicinae
nem Wein oder die orale Therapie mittels Hyazinth gegen übermäßiges Lachen –, sind ihre Ausführungen über die Edelsteine Beispiel für die zeitgenössische Verknüpfung von medizinischem Wissen, praktischen Handlungsanweisungen und deren Einbindung in ein christliches Weltverständnis. Historisch einordnen lässt sich Hildegards Wirken durch Zeitgenossen wie Kaiser Friedrich I. Barbarossa, die Päpste Innozenz II., Hadrian IV. und Alexander III., den Theologen Bernhard von Clairvaux sowie Ereignisse wie den 2. und 3. Kreuzzug. 1098 in Bermersheim bei Alzey geboren, wird Hildegard im Alter von acht Jahren in die Obhut der Vorsteherin des an ein Benediktinerkloster angegliederten Frauenkonvents auf dem Disibodenberg, Jutta von Spanheim, gegeben. In den folgenden Jahren wird sie nicht nur Juttas Nachfolgerin, sondern gründet auch gegen den Widerstand der Mönche 1147–1153 ein Frauenkloster auf dem Rupertsberg bei Bingen und um 1165 ein weiteres in Ebingen bei Rüdesheim.1 Ihre drei großen theologisch-philosophischen Visions-Schriften sind Scrivas (1141–1151), Liber vitae meritorum (1148–1163) und Liber divinorum operum (1163–1174). Die Schriften sind geprägt von tiefer, teilweise schwer verständlicher Symbolik und einem allegorischen Weltbild.2 Darüber hinaus sind die über 300 erhaltenen Briefe relevant, die Hildegard als Ratgeberin an Päpste, den Adel, Mönche uvm. schrieb. Hildegards Ansehen als religiöse Wegweiserin erlebte besonders nach der offiziellen Anerkennung ihrer Visionen durch Papst Eugen III. und Bernhard von Clairvaux 1147/48 einen Auftrieb.3 Die große natur- und heilkundliche Schrift Hildegards von Bingen, der Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum (LSu) entstand in den Jahren zwischen 1152 und 1158. Anders als von den Visionen ist von diesem Werk keine zeitgenössische Handschrift, die auf Hildegard oder auf das Rupertsberger Skriptorium zurückgeht, überliefert.4 Die als ursprünglich zusammenhängend angenommene Schrift wurde bereits im Kanonisationsprotokoll zu Beginn des 13. Jahrhunderts als zwei separate Teile aufgeführt; eine Trennung, die bis in das 20. Jahrhundert als genuin galt.5 Die Trennung erfolgte in den Liber compositae medicinae (LCM = Causa et Curae), ein Werk über Krankheiten, deren Ursachen und Heilungsmöglichkeiten, sowie den Liber simplicis medicinae (LSM = Physica), eine Naturkunde der Heilmittel.6 Während der vollständige Text des LCM nur in einer Handschrift überliefert ist,7 ist der Text des LSM in verschiedenen Fassungen erhalten.8 Die der hier zitierten Edition und Übersetzung zugrunde liegende Handschrift entstand um 1300.9 Vor der Folie mittelalterlicher Humoralpathologie beschreibt Hildegard im LSM die heilenden Kräfte von verschiedenen Elementen der Natur. Die Abhandlung ist in neun Bücher aufgeteilt, die ähnlich aufgebaut sind: 1. De herbis (Kräuter und Grundnahrungsmittel), 2. De quattuor elementis (Vier Elemente), 3. De arboribus (Bäume und Sträucher), 4. De lapidibus (Steine), 5. De piscibus (Fische), 6. De volatilibus (Geflügelte Tiere), 7. De quadrupedibus (Landtiere), 8. De vermibus venenosis (Kriechtiere), 9. De metallis (Metalle). Den Kapiteln steht jeweils eine Einleitung voran, in der Hildegard den Ursprung und die wichtigsten Eigenschaften des Kapitelgegenstandes beschreibt. Die Ausführungen zu den Naturelementen richten sich prioritär
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nach ihrer Nützlichkeit in der medizinischen Verwendung. Der LSM muss weniger als Versuch einer theoretischen Abhandlung über die Natur, sondern vielmehr als eine Zusammenstellung praktischer Heilkunde verstanden werden. Auch die verwendete Sprache könnte für die Verwendung des LSM als Ratgeber sprechen: Das Werk ist in einfacher lateinischer Sprache verfasst und mit einer Vielzahl deutscher Begriffe durchzogen, wie auch im einleitenden Zitat über den Karfunkel zu erkennen ist (fiber, giht).10 Auf welche Quellen Hildegard für den LSM zurückgreift, ist nach wie vor unklar, da sie selbst keinerlei Angaben dazu gibt. Als mögliche Einflussgeber gelten z. B. Plinius, Vitruv (De architectura), Palladius, Quintus Serenus Sammonicus, Walafrid Strabo, Eriugena, Macer floridus, Aethicus (Cosmographia), Marbod, ein Brief der Mythographi Vaticani oder der Physiologus.11 In besonderem Maße scheint Hildegard jedoch auf eigene Erfahrungen aus der im 12. Jahrhundert gebräuchlichen Kloster- und Volksheilkunde zurückgegriffen zu haben.12 Die praefatio des vierten Buches De lapidibus enthält allgemeine Informationen zur Zusammensetzung, Entstehung und geografischen Verteilung sowie über die Kräfte und theologische Bedeutung von Edelsteinen. Diese werden im Folgenden spezifiziert: Zu Beginn jedes der 27 Kapitel wird der behandelte Stein nach diesen Kategorien beschrieben, bevor auf seine heilende Wirkung und medizinische Anwendungsmöglichkeiten eingegangen wird.13 Anhand des zitierten Abschnitts über den Karfunkel lassen sich der typische Aufbau der Steinkapitel und die grundlegenden Vorstellungen der Autorin darstellen. Bereits der erste Satz enthält wichtige, sich durch das gesamte Steinbuch ziehende Elemente: „Der Karfunkel wächst in der Mondfinsternis und ist doch warm.“ Hildegard zufolge „wachsen“ die Edelsteine im östlichen Teil der Welt durch ein Zusammenspiel von Feuer und Wasser. Durch Überschwemmung von Bergen, die „brennen wie Feuer“, tritt Schaum aus ihrem Inneren und erhärtet zu Edelsteinen. Die entstandenen Steine werden bei der nächsten Überschwemmung mit den Flüssen in die Welt getragen.14 Die Erwähnung der Mondfinsternis gibt Hinweis auf die besondere Rolle der Tageszeiten und kosmischen Bedingungen für die Entstehung der Steine. Sowohl äußeres Erscheinungsbild als auch die Wirkkraft der Steine hängen unmittelbar von diesen Einflussfaktoren während ihrer Trocknungszeit ab. Wie an vielen Stellen im LSM offenbaren sich in den von Hildegard beschriebenen Zusammenhängen von kosmischen Vorgängen und Edelsteinen und wiederum deren Wirkungen auf den menschlichen Körper ihre Annahmen von Mikrokosmos und Makrokosmos, die sie in ihren theologischen Schriften bereits manifestiert hatte. Die Bezeichnung des Karfunkels als „warm“ gibt über ein weiteres Grundprinzip in Hildegards Heilkunde Aufschluss. Zu Beginn jedes Kapitels charakterisiert sie den Stein als warm oder kalt, feucht oder trocken und stützt sich dabei auf die mittelalterliche Humoralpathologie, welche auf der antiken Lehren der vier Elemente sowie der vier Säfte beruht.15 Dieses medizinische Prinzip folgt dem Modell der zirkulierenden Körpersäfte, die sich bei gesunden Menschen im Gleichgewicht und bei Erkrankungen im Miss verhältnis befinden. Durch Arzneimittel mit bestimmten Eigenschaften und Qualitäten kann das krankhafte Ungleichgewicht beseitigt werden. „Kalte“ Arzneimittel werden etwa gegen
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„warme“ Krankheiten eingesetzt.16 In Hildegards Orientierung an der Humoralpathologie wird erneut ihre Weltanschauung deutlich: Wie die Elemente im Großen auf die Welt einwirken, so beeinflussen sie im Kleinen den menschlichen Organismus und dessen Funktionen.17 Im Abschnitt zur praktischen Anwendung des Karfunkels wird die Behandlung der genannten Krankheiten mit dem Stein explizit durch den Einfluss des Steins auf die Körpersäfte begründet. Durch die Wärme des Karfunkels werde schädliche Feuchtigkeit dem kranken Körper entzogen und Wärme gespendet, „deshalb löst er durch seine große Kraft die schädlichen Säfte auf“. Die Art und Weise der Behandlung scheint allerdings auf Hildegard selbst zurückzugehen: „leg um Mitternacht (denn dann ist seine Kraft am stärksten) einen Karfunkel auf den Nabel des Patienten.“ Auch die Dauer der Behandlung wird von ihr festgelegt. In anderen Beispielen erinnern ihre komplexen und nicht selten abstrusen Handlungsanweisungen an magische Beschwörungen, wie etwa beim Topas: „Wenn ein Mensch Fieber hat, soll er mit einem Topas in weichem Brot drei kleine Vertiefungen machen und in diese reinen Wein gießen. Und wenn der Wein verschwindet, soll er erneut weiteren Wein hineingießen und sein Gesicht in diesem Wein, den er in jene Vertiefungen gießt, wie in einem Spiegel betrachten und sprechen: ‚Ich schaue mich an wie in einem Spiegel, in dem Cherubim und Seraphim Gott anschauen, so dass Gott diese Fieber von mir entfernen möge.‘“18 In Hildegards Begründungen für die Anwendung der Steine vermischen sich Naturkunde (Genese, Rolle der Elemente, aber auch Kräfte der Steine) und religiöses Weltbild, wie exemplarisch in einer Ausführung über die Wirkkraft des Topas gegen das Böse deutlich wird: Denn da der großmächtige Topasstein im Absteigen der Sonne wächst, hat er von Gott die Kraft, dass er bewirkt, dass Misshandlungen vom Menschen ablassen, weil er böse Geister vom Menschen vertreibt, so dass sie ihn nicht mehr dazu antreiben, dass er begehrt, wozu er verführt werden könnte.19 Auch wenn die Elemente die Entstehung der Edelsteine beeinflussen, liegt ihr Vorhandensein auf der Erde sowie ihre Bestimmung für ihre Nutzung in der Heilkunde Hildegard zufolge allein in Gottes Hand. In der praefatio wird die Begründung für die Existenz der edlen Steine erläutert: Denn Gott hat den ersten Engel gleichsam mit edlen Steinen geschmückt, die Luzifer im Spiegel der Göttlichkeit glänzen sah und von denen er sein Wissen empfing und in denen er erkannte, dass Gott viel Wunderbares schaffen wollte. Da erhob sich sein Sinn, weil der Glanz der Steine, der an ihm war, in Gott strahlte, und er glaubte, dass er selbst Gleiches und mehr als Gott vermöchte – und deshalb ist sein Glanz erloschen, und er verlor den Schmuck der Steine, wie auch Adam in seinem Glanz erstickt wurde. Aber wie Gott Adam in eine bessere Richtung erneuerte, so erlaubte Gott nicht, dass Glanz oder Wirkkraft
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dieser edlen Steine untergingen, sondern wollte, dass sie auf der Erde wären zu Ehre, Segen und Arznei, wie sich auch der Mensch mit ihnen schmückt.20 Julia Kölle 1 Vgl. Hildegard Elisabeth Keller: Hildegard von Bingen (1098–17.9.1179), in: Der Ozean im Fingerhut. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Hadewijch und Etty Hillesum im Gespräch, Zürich 2011, S. 24–40, hier S. 24–26. 2 Vgl. Gerhard Baader: Naturwissenschaft und Medizin im 12. Jahrhundert und Hildegard von Bingen, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte. Nebst Berichten zur kirchlichen Denkmalpflege 31/1979, S. 33–54, hier S. 50f. 3 Vgl. Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Berlin 2003 (Erudiri Sapientia. Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte, IV), S. 68; vgl. Keller 2011, S. 28. 4 Vgl. Peter Riethe: Zur Quellengeschichte des „Steinkatalogs“ der Hildegard von Bingen. Die Abhängigkeit des IV. Buches der Brüsseler Handschrift von Bartholomaeus Anglicus, in: Scriptorium. Revue internationale des études relatives aux manuscrits 64/2010, 1, S. 95–108, hier S. 95; vgl. Embach 2003, S. 287 für eine ausgezeichnete Abhandlung zur Überlieferungsgeschichte der Schriften Hildegards. 5 Vgl. Baader 1979, S. 51. 6 Die weit verbreitete Bezeichnung des LSM als Physica wird hier vermieden, da sie nicht von Hildegard selbst stammt, sondern erstmals 1533 verwendet wurde: Physicas S. Hildegardis, Elementorum, Fluminum aliquot Germaniae, […], Straßburg: Johann Schott 1533. 7 Kopenhagen, Königliche Bibliothek, Ny kgl. 90b 2°. Darüber hinaus existiert ein Exzerpt, Staatsbibliothek zu Berlin, Ms lat. qu. 674, fol. 103rv. Beide Textzeugen stammen aus dem 13. Jahrhundert. 8 Die älteste erhaltene Handschrift stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und ist somit 100 Jahre jünger als die originäre Vorlage. Wolfenbüttel, Herzog-August Bibliothek, Cod. Guelf. 56, 2. Aug. 40. 9 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms. Laur. Ashb. 1323. Neben den beiden erwähnten Handschriften gibt es weitere vollständige und unvollständige Textzeugen. Zur Überlieferung vgl. Embach 2003, S. 307−361. Vom IV. Buch des LSM existieren sechs Textzeugen. Vgl. Riethe 2010, S. 96. 10 Hildegard brachte ihre Schriften mit Hilfe des lateinkundigen Mönchs Volmar zu Papier. Vgl. Keller 2011, S. 26. 11 Vgl. Embach 2003, S. 293. 12 Vgl. Baader 1979, S. 53. 13 Der Umfang der einleitenden Informationen zu den einzelnen Steinen schwankt, nicht immer finden alle Kategorien Erwähnung. Das zweite Kapitel hat zudem keine eigene Einleitung. 14 Die ausführliche Entstehungsgeschichte beschreibt Hildegard in der praefatio des Steinbuchs.
Liber simplicis medicinae 15 Zur Entwicklung der mittelalterlichen Medizin vgl. Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Darmstadt 2005; spezieller zur Elementenlehre vgl. Gernot Böhme u. Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 2010; Peter Dronke: The Four Elements in the Thought of Hildegard of Bingen. Cosmology and Poetry, in: Studi medievali 54.2/2013, S. 905–922. 16 Hildegard setzt allerdings auch gleiche Stoffe, z. B. warm gegen warm, ein – Gleiches mit Gleichem behandeln ist auch heute noch Grundlage der Homöopathie. Vgl. Ortrun Riha, in: Physica 2012, S. 10 (Einleitung). 17 Vgl. Irmgard Müller: Krankheit und Heilmittel im Werk Hildegards von Bingen, in: Anton Ph. Brück (Hg.): Hildegard von Bingen 1179–1979. Festschrift zum 800. Todestag der Heiligen, Mainz 1979 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte), S. 311−350, hier S. 314. 18 Et si aliquis homo febres (id est fiber) habet, cum toapzio in molli pane tres modicas fossas faciat, et purum vinum in illas fundat, et si vinum illud evanescit, aliud vinum denuo infundat, et faciem suam in eodem vino quod fossis illis infudit, velut in speculo consideret et dicat: ,Ego inspicio me quasi in speculo illo in quo cherubin et seraphin deum aspiciunt, ita quod deus has febres de me abiciat’, et sic ille sepe faciat et sanabitur, siehe LSM, IV,8,11. 19 Nam a deo fortissimus lapis topazius virtutem hanc habet, quoniam in declinatione solis crescit, quod contumelias ab homine declinare facit, quia malignos spiritus ab homine fugat, ita quod eum adhoc non impellunt, quod conmittat de quo scandalizari possit, siehe LSM, IV,8,17–18. 20 Nam deus primum angelum quasi pretiosis lapidibus decorabat, quos idem lucifer in speculo divinitatis splendere vidit, et inde scientiam accepit, et in eis cognovit quod deus multa mirabilia facere voluit. Tunc mens eius elevata est, quia decor lapidum qui in ipso erat in deo fulgebat, putans quod ipse equalia et plura deo posset, et ideo splendor eius extictus est, et decorem lapidum perdidit sicunt etiam adam a decore suo extinctus est. Sed sicut deus adam in meliorem partem reparavit, sic deus nec decorem nec virtutem pretiosorum lapidum istorum perire dimisit, sed voluit ut in terra essent in honore et benedictione et medicina, sicut etiam homo decorem in eis habet, siehe LSM, IV, praefatio, 14–17.
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De proprietatibus rerum 1230–1240 Liber XVI. De proprietatibus gemmarum
Buch XVI. Über die Eigenschaften der Edelsteine
Caput LXXXVIII. De Smaragdo Smaragdus secundum Isidorum gemmarum omnium virentium obtinet principatum, cui veteres post margaritas et vniones tribuunt tertiam dignitatem. Smaragdus animia viriditate est dictus, vt dicitur ibidem. Nam omne viride amarum dicitur, nullis autem gemmis siue herbis maior inest viriditas quam smaragdo. Nam herbas virentes et frondes superat, inficiens circa se viriditate nimia aerem repeteussum. Isid. Nec eius viror in Sole aliquo modo obumbratur, sculpentium oculis nulla gratiosior refectio est. Cuius corpus si extensum fuerit et extersum siue politum ad modum speculi, imagines reddit. Quippe Caesar Nero gladiorum pugnas in smaragdo aspicere consueuit, vt dicit Isidorus Genera eius sunt duodecim, sed nobiliores sunt Seythici, qui scilicet in gente Scythica inuenintur, secundum locum tenet Bactriani. Colliguntur in commissuris saxorum stante aquilone, tunc enim tellure discooperta intermicant, quia arenæ mouentur maxime in his ventis. Tertium Aegyptii habent. Reliqui in metallis ærariis inueniuntur, sed vitiosi, nam autæri aut plumbo, aut sali similes notas habent. Smaragdi vero quando vino vel oleo sunt peruncti, proficiunt in virore quamuis viriditatis gratia naturaliter imbuantur. Est etiam quædam
Kapitel LXXXVIII. Über den Smaragd Nach Isidor nimmt der Smaragd, dem die Alten nach Perlen und Zahlperlen den insgesamt dritten Platz zumaßen, unter allen grünen Steinen den ersten Platz ein. Der Smaragd wird nach der allzu starken Grünlichkeit benannt, wie an gleicher Stelle gesagt wird. Denn alles Grüne wird bitter [amarum] genannt und keinem Edelstein oder Kraut ist eine größere Grünheit eigen als dem Smaragd. Denn grüne Kräuter und Blätter übertrifft er, indem er mit allzu starkem Grün die ihn umgebende Luft zurücktreibt [repercussum], so Isidor. Und da sein Grün in der Sonne in keiner Weise dunkler wird, gibt es für die Augen der Steinschneider keine größere Erquickung. Wenn man dessen Form aufgeschnitten [extensum] und gesäubert oder poliert hat, gibt er nach Art eines Spiegels Bilder wieder. Kaiser Nero nämlich pflegte Gladiatorenkämpfe durch den Smaragd zu betrachten, wie Isidor sagt. Es gibt seiner zwölf Arten, die edleren aber sind die Skythischen, das heißt, die beim Volk der Skythen gefunden werden. Den zweiten Platz nehmen die Baktrischen ein. Sie sammeln diese bei wehendem Nordwind in Steinanhäufungen, denn dort leuchten sie, wenn die Erde abgedeckt ist, heraus, weil der Sand durch diese Winde sehr stark bewegt wird. An dritter Stelle stehen die Ägyptischen. Als Reste werden sie in
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species smaragdina, que degenerat, quamuis sit viridis, eo quod sit tui bida ex æris venis et est chalcosmaragdus nuncupata. Hucusque Isidor. libr. 16. ca. de viridib. gemmis. Hic lapis a gryphonibus excipitur et eripitur. Et ne possint smaragdi in copia inueniri gryphorum immanitate, hominum accessus, impeditur, vt dicit Isidor. lib. 14. c. 3. Habet itaque virorem sui multiplicatiuum, ex se enim generat radium, quo virore tingit aere circumfusum. Habet et corpus speculare et perspicuum, obiectarum figurarum et imaginum ostensiuum. Habet tertio ex naturæ dono virtutis beneficium diuersarum infirmitatum curatiuum, Nam secundum Dioscoridem et Lapidarium hic auget opes, et in causis dat persuasoria verba. Collo vero suspensus, curat hemitritæum et morbum caducum, visum conseruat debilem et confortat, lasciuos motus compescit, reddit memoriam. Valet etiam contra illusiones et phantasmata dæmonum, tempestates sedat, sanguinem sistit, et dicitur his valere, qui solent diuinare de futuris, vt patet in Lapidario. Bartholomaei Anglici de genuinis rerum coelestium, terrestrium et inferarum proprietatibus libri XVIII, Frankfurt am Main: Wolfgang Richter 1601; Neudruck Frankfurt am Main 1964, S. 761–762.
Metallerzen gefunden, aber voller Fehler, da sie Spuren von Eisen, Blei oder solchem ähnlichen enthalten. Wenn sie mit Wein oder Öl übergossen wurden, gewinnen Smaragde an grünem Glanz, als wenn sie durch die Gabe des intensiven Grüns natürlich erglühten. Es gibt aber auch eine gewisse Smaragdsorte, die aus der Art schlägt, nämlich deshalb, weil sie, obwohl grün, unruhig von Metalladern durchzogen ist und Chalcosmaragd genannt wird, vergleiche hierzu Isidors 16. Buch, Kapitel 7, Über grüne Steine. Dieser Stein wird von Greifen aufgefunden und ausgegraben. Damit Smaragde nicht in großer Menge gefunden werden können, wird der Zugang für Menschen durch die Wildheit der Greifen behindert, Isidor 14. Buch, Kapitel 3. Er verfügt auch deshalb über eine vervielfältigende Grünlichkeit, weil er aus sich heraus strahlt, wodurch er die umgebende Luft färbt. Er ist von spiegelnder und durchsichtiger Gestalt und zeigt das Abbild entgegengehaltener Gegenstände. Er verfügt drittens von Natur aus über die nützliche Gabe, wirksames Heilmittel bei verschiedenen Krankheiten zu sein. Denn nach Dioskurides und dem Lapidarius [des Marbod von Rennes] vermehrt er die Kräfte und verleiht bei Streitigkeiten die richtigen Worte. Um den Hals gehängt, heilt er das Halbtertianfieber und Schlangenbisse, sein Anblick unterstützt und stärkt den Schwachen, laszive Erregung bezwingt er, Erinnerungen gibt er zurück. Er wirkt auch gegen Vorspiegelungen und Halluzinationen der Geister, er beschwichtigt Unwetter, stillt das Blut, und man sagt, dass er die bestärkt, die über die Zukunft nachsinnen, wie es im Lapidarius [des Marbod] heißt. Übersetzung: Arwed Arnulf
De proprietatibus rerum
Kommentar Bartholomaeus Anglicus stellt in der Enzyklopädie De proprietatibus rerum das Körperliche und Sichtbare auf der Welt mit dem Anspruch zusammen, diese Dinge als Zeichen des Geistigen und Unsichtbaren zu verstehen. Er bezieht sich mit diesem Ansatz direkt auf Theorien der gottgewollten Ordnung in der Coelestis Hierarchia des Pseudo-Dionysios (frühes 6. Jahrhundert). Der intendierte Nutzen von Bartholomaeus’ Enzyklopädie besteht mit der Erläuterung gottgewollter Dinge vor allem in der Anleitung des Menschen zur contemplatio. Die Hinführung zum Schöpfer verläuft also über die sichtbare Dingwelt, an der das Wirken des Schöpfers erkennbar ist. Daraus geht der exegetische Wert der ‚Naturenzyklopädie‘ hervor, machen die Ähnlichkeiten unter den sichtbaren Dingen erst ein allegorisches Sprechen und ein spirituelles Verstehen möglich. Die Beschreibung der Dinge verhilft schließlich „der allegorischen Entzifferung änigmatisch-bildhafter Bibelstellen“.1 Trotz dieser hochkarätigen Darlegungen, die wachsendes Interesse in der Forschung an Inhalt und Rezeption von Bartholomaeus’ Lehre motivierten,2 findet sie in der Forschung kaum ausreichende Aufmerksamkeit gemessen daran, welche herausragende Bedeutung ihr in der mittelalterlichen Wissensliteratur zuteil wurde. Bartholomaeus Anglicus stellt sich dem Leser in seiner 1230–1240 verfassten Enzyklopädie als Kompilator von überliefertem Wissen vor. So gibt der franziskanische Scholastiker mit Verweis auf seine Quellen die Aussagen von Kirchenschriftstellern und wissenschaftlichen Autoritäten aus der Antike bis in seine Zeit hinein wieder.3 Darin sieht er den hauptsächlichen Wert seines Werkes, was ihm in der älteren Forschung hinwiederum „den Vorwurf des wahllosen und kritiklosen Abschreibens“ eingetragen hatte.4 Was in Hinblick darauf jedoch uneingeschränkte Berücksichtigung finden muss, ist die Bedeutung des Randnotencorpus, der eine Erweiterung der Deutungen ermöglicht und somit unlöslich Werkteil denn bloße Benutzerzutat ist.5 Die Abhandlungen zu den Steinen finden sich in Buch XVI und bilden mit dem Buch XIX zu den Farben jeweils abgeschlossene Textblöcke. Sie gehören zum vierten großen Teil der Proprietatenlehre, nachdem in Teil eins die obere Welt des Unsichtbaren, in Teil zwei der Mikrokosmos Mensch und im dritten Teil Himmelskörper und Gestirne dargelegt sind. Anschließend ist der vierte Teil den Elementen Feuer, Luft und Wasser gewidmet, wobei die Erde am umfangreichsten thematisiert wird.6 Die in dieser Passage rezipierten Quellen lassen sich paradigmatisch den beiden unterschiedlichen Bereichen zuweisen, aus denen Bartholomaeus seine Kenntnisse schöpft: Zum einen mit Isidor von Sevilla aus der abendländischlateinischen Tradition, zum anderen mit Marbod von Rennes und Dioskurides aus der griechisch-arabischen Steinkunde.7 Allerdings überwiegt in der Passage zum Smaragd die schöpfende Exegese-Tradition, während die Darlegungen zum Saphir hingegen paradigmatisch für die neue Art der Steindeutung sind.8
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Anders als die Kapitel zu den Pflanzen und Tieren erhielt das Sachgebiet zu den Mineralien keine generelle Einleitung aristotelischer Tradition. Im XVI. Buch sind die Steinsorten in 104 Kapiteln alphabetisch von arena bis zignites geordnet, wenngleich Bartholomaeus’ Quellen wie Isidors Etymologiae systematisch nach Staubformen, Erdschollen, gewöhnlichen und besonderen Steinen, Marmorsorten und Edelsteinen, schließlich Glas und Metallen gegliedert sind. Den Smaragd stellt Isidor unter den grünen Gemmen an oberste Stelle.9 Auf diese Hierarchisierung bezieht sich Bartholomaeus auch gleich im ersten Satz und wiederholt den ebenda angeführten summarischen Verweis auf noch ältere Überlieferungen, wonach der Smaragd „nach Perlen und Zahlperlen“ den dritten Platz einnehme. Die nunmehr eingeräumte Vorrangstellung wird entsprechend Isidor mit der starken Grünlichkeit oder gar Grünkraft (viriditas) begründet, die die umgebende Luft auffüllt bzw. zurückzutreiben vermag. Insofern das Grün des Smaragdes entsprechend der Edelsteinallegorese den Glauben bedeutet, bewirkt die Strahlkraft der Farbe über eine Stärkung des Glaubens hinaus auch, „dass die Glaubenden andere durch Beispiel und Lehre im Glauben stärken.“10 Grundlage hierfür ist der 1. Petrusbrief (2,4f.), worin die Gläubigen mit lebendigen Steinen verglichen werden und dieser Bezug intendiert ist, wenn Edelsteine oder deren illusionistische Wiedergabe in Kapellen integriert werden (vgl. Abb. 3).11 Um die Konnotation des Smaragdes mit Lebendigkeit geht es ebenso bei einem Reliquienbehälter, der laut des Berichtes über die Ausstattung des Mainzer Domes aus dem 13. Jahrhundert aus einem kürbisgroßen ausgehöhlten Smaragd bestand, so dass er mit Wasser gefüllt wurde und Fische darin schwimmen konnten; denn deren Bewegung sollte die Lebendigkeit des Steins verdeutlichen.12 Schon von Hildegard von Bingen wurde die Grünkraft der Pflanzenwelt (viriditas) als Lebenskraft auf den Menschen angewendet sowie mit schöpfungstheologischen Bedeutungen verbunden.13 Grundsätzlich jedoch reicht die Vorstellung vom lebhaften Grün bereits auf Plinius’ Naturkunde zurück, der diese Eigenschaft dem Smaragd zuspricht.14 Die Farbintensität das Smaragdes führt weiter zum altbekannten Topos, dass es für die angestrengten Augen etwa von Miniaturmalern besonders wohltuend sei, mit grüner Farbe zu arbeiten oder zur Entspannung auf grüne Flächen gerichtet zu sein;15 von Bartholomaeus wird diese Annahme auf die Steinschneider ausgerichtet. Was dem hinwiederum zuwider zu laufen scheint, ist die folgende Sentenz: Denn der Smaragd würde, nachdem er „aufgeschnitten und gesäubert oder poliert“ worden sei, so glänzend wie ein Spiegel sein. Diese Eigenschaft hätte sich Kaiser Nero zunutze gemacht, wenn er die Gladiatorenkämpfe gegen die spiegelnde Fläche eines bearbeiteten Smaragdes zu verfolgen pflegte. Eine derartige Topik findet sich schon bei Isidor und Marbod und geht sogar auf Plinius’ Naturkunde zurück. Während Kommentare zu Marbod diese Stelle so deuten, als hätte Nero den Stein als eine Art Sonnenbrille genutzt,16 wird Plinius’ Passage dahingehend ausgelegt, dass der für seine Gräueltaten berüchtigte Kaiser die blutigen Kämpfe in der Spiegelung des Steines anschaute.17 Implizit ist, dass in dieser Rezeptionspraxis das Blut zweifellos nicht präsent ist, so dass eine
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Abb. 3 Livre des proprietés des choses de Barthélemy l'Anglais, französische Übersetzung aus dem Lateinischen von Jean Corbichon (1372), Abschrift von ca. 1401–1500, Paris, Bibliothèque nationale de France, Ms. fr. 22532, fol. 223r
Ästhetisierung der Projektion durch den Stein zum Tragen kommt, die letztlich über Wirklichkeiten hinwegzutäuschen vermag. Die Wiedergabe von Isidors Darstellung wird mit einer Klassifizierung der unterschied lichen Smaragdsorten fortgesetzt, wovon zwölf ausgemacht wurden. Unter die edelsten fallen die Skythischen, gefolgt von den Baktrischen. Ihr Leuchten bedingt diese Einstufung, so dass letztere sogar in Steinanhäufungen gefunden werden, wenn sie der Sand bei Nordwind freilegt. Während die ägyptischen Smaragde die Aufreihung abschließen, zählen alle
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weiteren nicht zu den reinen Smaragden, da sie Metallerzen entstammen und dementsprechend Spuren von Eisen, Blei und anderem enthielten. Die außerordentliche Grünkraft könne – und das unterscheidet sich von dem spiegelnden Effekt geschliffener Partien – durch die Hinzufügung von Öl und Wein gesteigert werden, so dass sie wie „natürlich erglühten“.18 Kommen hier beide Elemente Öl und Wein schon seit Isidor zur Anwendung, ist dies für die Allegorese folgenreich. Denn einerseits wird hiermit der Kelch der Passion und andererseits das Öl der Liebe angesprochen, das der Heilige Geist gibt. Durch die daraus hervorgehende Referenz auf den spirituellen Smaragd Christus entsteht ein Bezug auf die Erlösung des Menschen in der Heilsgeschichte.19 Isidor beschließt seine Ausführungen mit dem Hinweis auf den Chalcosmaragd, der trotz durchziehender Metalladern aufgrund der Quantität an Grün zu den Smaragden gezählt wird. Dass diese Sorte aus Ägypten von der Insel Zypern stamme, unterschlägt Bartholomaeus, um sich einer anderen Textpassage Isidors zuzuwenden, die sich im XIV. Buch De terra et partibus im 3. Kapitel zu Asien findet.20 Ohne einen Hinweis auf die Region der Skythen, woran die Passage bei Isidor geknüpft ist, geht es Bartholomaeus verblüffender Weise darum, das dortige hohe Aufkommen von Greifen dafür verantwortlich zu machen, dass Menschen der Zugang zu den Steinen verwehrt sei. Die Annahme, Greife fänden gar die Steine und grüben sie aus, geht bereits auf die zweite wesentliche Quelle für die Passage zurück, die erst nach einer Zusammenfassung der wesentlichen Eigenschaften des Steins – intensive und ausstrahlende Grünkraft sowie durchsichtiger und spiegelnder Glanz – relevant wird, wenn sich Bartholomaeus der Heilkraft von Smaragden zuwendet. Während er hierfür auch Dioskurides anführt,21 bezieht er sich vor allem auf das Lapidarius des Marbod von Rennes,22 das indes ebenso aus Isidors Aufzeichnungen schöpft. Die Argumente Marbods werden von Bartholomaeus lockerer als jene Isidors zusammengestellt und stimmen nicht mit der vorgegebenen Reihenfolge überein. Daher werden sie auch teilweise für eine bestimmte Gewichtung in Anspruch genommen, die in Marbods Schilderungen nicht explizit wird. Beiden Autoren zufolge jedoch sorge der Stein für Eloquenz insbesondere bei Streitigkeiten, bestärke den Schwachen und bezwinge laszive Erregung. Ein um den Hals gehängter Smaragd heile Fieber (Halbtertian- bzw. Wechselfieber bei Marbod) und Schlangenbisse (bei Marbod stattdessen Fallsucht). Offenbar kann Bartholomaeus die Heilkraft des Steines erweitern und präzisieren, wenn er dessen stärkende Auswirkung mehrfach betont, dessen erinnerungssteigernde Kraft benennt sowie die Wirkung gegen „Vorspielungen und Halluzinationen der Geister“ hervorhebt. Die Beschwichtigung von Unwetter und die Beruhigung des Blutes finden sich wieder bei Marbod, der ebenso schildert, dass diejenigen unterstützt würden, die über die Zukunft nachdächten und ihre Gebete darauf ausrichteten.23 Mit der Einbeziehung des Randnotencorpus, der sich trotz lückenhafter Überlieferung für das Buch XVI in mindestens 24 Handschriften findet,24 stellt sich nach Christel Meier ein Bedeutungsschwerpunkt für den Smaragd in Bezug auf Engel heraus.25 Gerade durch die Notizen am Rande wurden schöpferische Adaptionen durch andere Autoren und damit ein-
De proprietatibus rerum
hergehend eine stete Aktualisierung geradezu provoziert.26 Hat Bartholomaeus’ Proprietatenlehre wie kein anderes Werk dazu beigetragen, dass sich eine solche Kommentarfunktion etablieren sollte, wird einmal mehr die Bedeutung der Enzyklopädie anhand ihrer vielseitigen und einflussreichen Rezeption deutlich. Heinz Meyer gibt eine Zusammenstellung von ungefähr einem Dutzend Handschriften, die vorrangiges Interesse an Bartholomaeus’ Steinkunde zeigen.27 Während sich über zweieinhalb Jahrhunderte die Überlieferung der lateinischen Handschrift in zahlreichen Fassungen nachweisen lässt und sich an den Klerus richtete, setzt ihre Übersetzung in volkssprachliche Versionen im 14. Jahrhundert ein und ist auf adliges Laienpublikum zurückzuführen. Mit dem Buchdruck vollzieht sich eine zweite, über mehr als hundert Jahre währende Rezeptionswelle ab dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts. Hierfür ist die vielfach geäußerte Notwendigkeit eines einzigen Buches nicht unerheblich, wird sie von mittelalterlichen Autoren einer Enzyklopädie darin gesehen, einen ‚Spiegel des Universums‘ zu erstellen, der umfassend die ganze Welt behandeln solle. Spezifischer erklärt Jean Corbechon, der Übersetzer der für Karl V. von Frankreich bestimmten Fassung von 1372, den Zweck der Proprietatenlehre mit der begrenzten Zeit seines mit zahllosen Pflichten ausgestatteten königlichen Auftraggebers. Anders wie ebenso treffend formuliert es Heinz Meyer, das Buch geradezu als Bibliotheksersatz zu verstehen.28 Iris Brahms
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Heinz Meyer: Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von ‚De Proprietatibus Rerum‘, Münstersche MittelalterSchriften 77, München 2000, S. 47. Nach der einschlägigen Untersuchung zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Proprietatenlehre des Bartholomaeus Anglicus von Heinz Meyer entstand ein Editionsplan für den lateinischen Text aus einer Kooperation an den Universitäten Münster (Christel Meier, Heinz Meyer) und Louvain-la-Neuve (Badouin Van den Abeele), aus der 2007 eine grundlegende Publikation hervorging. Zwei Jahre zuvor wurde ein Tagungsband zur volkssprachigen Rezeption der Enzyklopädie herausgegeben, worin Christel Meier die beiden Bücher der Steine und Farben in ihren Werk- und Diskurszusammenhängen untersuchte. Vgl. Meyer 2000; Bartholomaeus Anglicus: De Proprietatibus Rerum, hg. v. Christel Meier, Heinz Meyer, Baudouin van den Abeele u. Iolanda Ventura, Bd. 1, Turnhout 2007; Christel Meier: Text und Kontext. Steine und Farben bei Bartholomäus Anglicus in ihren Werk- und Diskurszusammenhängen, in: Bartholomaeus Anglicus, De Proprietatibus Rerum. Lateinischer Text und volkssprachige Rezeption, De diversis artibus, hg. v. Baudouin van den Abeele u. Heinz Meyer, Turnhout 2005, S. 151–184. Meier u. a. 2007, S. 48. Verweis bei Meyer 2000, S. 23–24, Anm. 60. Meier 2005, S. 157–158.
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Bartholomaeus Anglicus 6 Iris Brahms: Zwischen Licht und Schatten. Zur Tradition der Farbgrundzeichnung bis Albrecht Dürer, in: Berliner Schriften zur Kunst, hg. v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin, Paderborn 2016, S. 45–48. 7 Meier 2005, S. 154. 8 Ebd., S. 164–165. 9 Isidor von Sevilla: Etymologiae XVI,VII. Isidoro di Siviglia: Etimologie o Origini, hg. v. Angelo Valastro Canale, Turin 2006, S. 326–327; Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, übers. und kommentiert von Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, S. 585. 10 Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert, München 1977, S. 206. 11 Karl Möseneder: Lapides Vivi. Über die Kreuzkapelle der Burg Karlsstein, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 34/1981, S. 39–69, S. 55 u. S. 61. 12 Gia Toussaint: Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Das Mittelalter 8/2003, Bd. 2, S. 41–66, hier S. 45–46. 13 Christel Meier: Die Bedeutung der Farben im Werk Hildegards von Bingen, in: Frühmittel alterliche Studien 6/1972, S. 245–355, hier S. 280–290. 14 C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde. Lateinisch-deutsch, Buch XXXVII: Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, hg. u. übers. v. Roderich König, 2. Aufl., Düsseldorf 2007, Bd. 37, XVI,64, S. 56–57. 15 John Gage: Kulturgeschichte der Farbe von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig u. Berlin 2001, S. 82; Toussaint 2003, S. 44. 16 Marbodius von Rennes: De lapidibus, übers. v. C.W. King, hg. v. John M. Riddle, Wiesbaden 1977, S. 98. 17 Plinius, Nat. Hist. XXXVII,XVI,64, ed. 2007, S. 52–53. 18 Vgl. dazu Plinius nach Meier 1977, S. 189, S. 293. 19 Meier 1977, S. 293–294. 20 Isidor von Sevilla ed. 2006, S. 178–179; Isidor von Sevilla ed. 2008, S. 521. 21 Es muss offen bleiben, auf welche Form sich Bartholomaeus bezieht, siehe dazu Meier 2005, S. 154–156. 22 Marbodius von Rennes ed. 1977, VII, s. v. De smaragdo, S. 45. 23 Ähnliches wird von Exegeten aus einem Edelsteingrün in der Auslegung einer Pflanzenvorstellung entwickelt, vgl. Meier 1977, S. 154–155. 24 Meyer 2000, S. 215–218. 25 Meier 2005, S. 165. 26 Ebd., S. 158. 27 Meyer 2000, S. 273–274. 28 Ebd., S. 23–24.
Albertus Magnus
De mineralibus 1248–1252 Liber II. Qui est de lapidibus pretiosis
Zweites Buch, das über die Edelsteine handelt
Tractatus 3. De sigillis lapidum, et qualiter est dicendum de sigillis, et quot sunt modi sigillorum, et de expertis
Dritter Traktat. Über Siegelbilder auf Steinen, wie über solche zu sprechen ist, wie viele Typen es gibt und über Experten
Caput 1. De imaginibus et sigillis lapidum […] Incipientes igitur de imaginibus lapidum, dicimus nos tres modos imaginum in lapidibus inveniri1. Quorum unus est, quod invenitur in lapide imago, nec exarata, nec super eum elevata, sed in eo2 depicta, quasi coloribus et picturis variata sit. Alter est, quod invenitur elevata quasi opere excussorio3 super lapidem. Tertius modus est, quod figura incisionis est exarata in lapidum4 quibusdam partibus lapidis abrasis, et in5 quibusdam remanentibus. Adhuc autem in imaginibus quae sunt pictae, aliquando pingitur imago colore ejusdem lapidis, et tunc, non ostendit imaginem nisi modus terminationis linearum quarumdam, quae sunt in superficie lapidis: quando6 imago habet colorem omnino alium a colore lapidum. Hi autem duo modi sunt imaginibus quae elevatae sunt super lapidum superficiem. Volo autem primo narrare quae vidi, et expertus sum ego ipse, et postea ostendere causam et modum per quem a natura efficitur imago: et tertio loqui
Kapitel 1. Über die Bilder und Siegel in Steinen [...] Zu Beginn der Abhandlung über die Bilder in den Steinen halten wir fest, dass sich drei Arten von Bildern in Steinen finden lassen. Eine von diesen ist ein Bild im Stein, das weder in ihn eingeritzt ist noch aus ihm hervorsteht, sondern in ihm selbst, gleichsam in unterschiedlichen Farben und Malereien, gemalt ist. Die zweite [Art] besteht darin, dass [das Bild] hervorsteht, als wäre es aus dem Stein gehauen. Die dritte Art besteht darin, dass der Umriss des Einschnitts in den Stein eingeritzt ist, wobei einige Teile des Steins abgekratzt, andere aber geblieben sind. Außerdem ist bei den gemalten Bildern das Bild manchmal in derselben Farbe, die auch der Stein hat, gemalt, und dann zeigt das Bild nur eine Art Abgrenzung von Linien, die sich auf der Oberfläche des Steins finden; manchmal aber hat das Bild eine von der Farbe des Steins gänzlich unterschiedene Farbe. Diese beiden Arten aber finden sich [auch] in den Bildern, die aus der Oberfläche des Steins hervorstehen. Zuerst aber will ich
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de imaginibus factis per artem, et ostendere virtutes sigillorum. Dico igitur, quod me essente7 Venetiis, cum8 essem juvenis, incidebantur marmora per serras ad parietes templi ornandos: contigit autem in uno marmore jam inciso, tabulis incisis sibi applicatis, apparere depictum9 caput pulcherrimum regis cum corona et longa barba: neque in aliquo peccare videbatur pictura, nisi in hoc solo quod frontem10 videbatur in medio habere nimis aliam11 ascendentem versus verticem capitis12. Scivimus autem omnes qui aderamus, hoc a natura fuisse pictum in lapide. Et cum a me quaereretur causa inordinationis frontis, dixi lapidem illum ex vapore fuisse coagulatum, et in medio per calorem fortiorem vaporem inordinate ascendisse ultra modum. Fuit autem pictura ejusdem coloris cum lapide. Hujusmodi autem simile sepe videmus est13 in nubibus, in quibus omnes apparent figurae quando ventis non agitantur, et continue propter calidum elevans eas etiam dissipantur: quae si apprehenderentur loco et virtute, lapidibus14 multas effigiarent figuras. Propter hoc patet ergo15 figuram16 picturae simplicis aliquando esse a natura. […]
erzählen, was ich gesehen und selbst beobachtet habe, danach [werde ich] erklären, warum und wie derartige Bilder auf natürliche Weise entstehen. Und drittens [werde ich] über die durch Kunst geschaffenen Bilder sprechen und die Kräfte der Siegel erläutern. Ich erzähle also [erstens], dass, als ich in jungen Jahren in Venedig war, dort Marmor für den Schmuck der Wände einer Kirche mit Sägen zerschnitten wurde. Da begab es sich, nachdem ein [Stück] Marmor zerschnitten und die zerschnittenen Scheiben nebeneinander angeordnet worden waren, dass ein überaus schöner, gemalter Kopf eines Königs mit Krone und langem Bart zum Vorschein kam. Und dieses Gemälde schien nirgends einen Mangel zu haben, außer darin, dass es in der Mitte eine sehr hohe bis zur Spitze reichende [Stirn] zu haben schien. Alle, die wir dort anwesend waren, erkannten aber, dass dies auf natürliche Weise im Stein gemalt war. Als ich aber nach der Ursache für die ungeordnete Gestalt der Stirn gefragt wurde, entgegnete ich, dass heiße Dämpfe diesen Stein gehärtet hatten, und dass aufgrund größerer Hitze die Dämpfe in der Mitte auf ungeordnete Weise zu hoch aufgestiegen waren. Das Gemälde aber hatte dieselbe Farbe wie der Stein. Ähnliches sehen wir auch häufig in Wolken, in denen alle [möglichen] Umrisse erscheinen, wenn jene durch Winde nicht bewegt und wegen der sie nach oben treibenden Wärme auch fortwährend [wieder] auseinander getrieben werden. Würde aber diese [Wärme den Bedingungen] von Ort und [mineralischer] Kraft unterworfen, würde sie viele Umrisse [auch] in Steinen abbilden. So also erklärt es sich, dass der
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Umriss eines einfachen Gemäldes manchmal auf natürliche Weise entsteht. […] Caput 2. De figuris lapidum a natura factis17 Quaeramus igitur qualiter a natura formantur. Revocemus igitur ad memoriam ea quae in secundo nostrorum Physicorum de monstris loquentes determinavimus. Non igitur18 ignoramus quod sunt quaedam loca in coelo19, in quibus cum luminaria convenerint20, impediunt etiam in propria et efficaci materia figuram humanam generari: et materia tunc concrescit in horribile monstrum. Aliquando etiam e converso concurrunt luminaria et caeteri planetae ad locum, in quo tanta virtus est generationis humanae, quod in semine valde difformi21 contra vim formativam illi semini insitam imprimit formam humanam […]. Haec igitur est causa et non alia, quod etiam22 in lapidibus vaporabiliter in materia coagulatis imprimitur figura hominis vel alia de figuris specierum quas producit natura, aut pingendo tantum, aut etiam figurando totum elevando in toto vel in parte, maxime cum23 sit hujus efficiens in onychinis propter materiae majorem mollitiem, ut diximus supra24.
Est enim Coloniae25 in capsa26 trium regum magnae quantitatis onychinus, habens latitudinem manus unius27 hominis et amplius, in quo super materiam lapidis
Kapitel 2. Über die Ursache von in Steinen erscheinenden Bildern Nun wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie [Bilder in Steinen] auf natürliche Weise gestaltet werden. Wir wollen also daran erinnern, was wir im zweiten unserer Bücher über die Physik festgestellt haben, als wir über Monstren sprachen. Denn wir wissen, dass es bestimmte Orte im Himmel gibt, [die so beschaffen sind, dass] wenn dort Sonne und Mond zusammenkommen, diese verhindern, dass die menschliche Gestalt entsteht, sogar in solcher Materie, die dafür geeignet ist; und dann gerinnt die Materie zu einem entsetzlichen Ungeheuer. Manchmal aber kommen Sonne und Mond sowie die übrigen Planeten dagegen an einem Ort zusammen, an dem es so viel Kraft zur Entstehung des Menschen gibt, dass sie die menschliche Gestalt in einen sehr ungestalten Samen entgegen der diesem Samen einwohnenden Formkraft eindrückt […]. Keine andere also ist die Ursache dafür, dass in Steinen, die durch Hitze gehärtet sind, der Umriss eines Menschen oder der einer anderen von der Natur hervorgebrachten Art eingedrückt ist, entweder nur in Form von Malerei oder sogar als Umriss des Ganzen, ganz oder teilweise [als Relief] hervorgehoben. Besonders häufig findet sich dies im Onyx wegen seiner besonders weich beschaffenen Materie, wie oben gesagt. Am Kölner Dreikönigsschrein nämlich gibt es einen Onyx von besonderer Größe, der so breit ist wie die Hand eines Menschen, oder größer. Und in diesem, über der Materie
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onychini, qui est sicut unguis, picta28 duo sunt capita juvenum albissima, ita quod est unum sub alio, sed elucet29 propositione nasi et oris: et in fronte capitum est figuratus nigerrimus serpens, qui colligat capita illa. In mandibula autem unius in parte ubi est angulus curvitatis mandibulae inter partem quae descendit a capite, et eam quae ad os inflectitur, est caput Aethiopis cum longa barba nigerrimum: et subtus in collo iterum est lapis habens colorem unguis, et videtur esse vestimentum decoratum floribus circa capita. Probavi autem quod non est vitrum, sed lapis, propter quod praesumpsi picturam illam esse a natura et non ab arte. Similes autem multi inveniuntur. Non latet tamen aliquando per artem fieri tales imagines duobus modis. Unus quorum est, in quo operatur ars et natura: et illa quidem vel qualis30 ars effingit31 figuras et materiae colores, et postea totum ponitur in aqua in qua fortis est vis mineralis lapidificativa, et ex illa coagulatur in lapidem, verum diximus supra32. Secundus autem modus est deceptorius, quod effinguntur33 imagines in materia, et diversificantur colores figurae34 per sigilla, et35 postea opere alchimiae36 per aquam vel alium liquorum coagulantem induratur in similitudinem lapidis37 […]. Aliquando autem fiunt hujusmodi colores in vitro simplici, et similiter imagines: et hoc vulgus imperitum putat esse lapides. His ergo de causis fiunt imagines pictae et excusae38 sive elevatae. Illae autem quae ex arte39 rasura videntur, non intelligo qualiter fiant, nisi ab arte non a natura per aliquem modum […].
des Onyxsteins liegend, [sieht man] zwei sehr weiße Köpfe junger Männer, und zwar so, dass der eine unter dem anderen liegt, wobei Nase und Ohr hervorscheinen. Und auf der Stirn der Köpfe ist eine sehr schwarze Schlange zu sehen, die die beiden Köpfe verbindet. Und am Kinn des einen [Kopfes] – an der Kante der Kurve des Kinns zwischen dem Teil, der vom Kopf hinunter, und jenem, der zum Mund hin geht – findet sich der Kopf eines Äthiopiers mit einem langen, sehr schwarzen Bart. Und weiter unten am Hals ist wiederum Stein in der Farbe eines Fingernagels. Und um die Köpfe herum scheint dort ein mit Blumen verziertes [Band] Stoff zu sein. Ich habe aber festgestellt, dass es sich nicht um Glas, sondern um Stein handelt, weswegen ich annahm, dass dieses Bild auf natürliche Weise und nicht durch Kunst entstanden ist. Viele ähnliche Fälle aber findet man häufig. Gleichwohl ist es kein Geheimnis, dass solche Bilder manchmal durch Kunst entstehen, und zwar auf zwei Weisen. Bei einer von ihnen wirken Kunst und Natur [zusammen]. Die Kunst bildet die Umrisse und Farben der Materie aus, und dann wird das Ganze in Wasser gelegt, in dem eine starke mineralische, petrifizierende Kraft herrscht, und durch diese gerinnt [die Materie] zu Stein, wie oben gesagt. Die zweite Art hingegen ist irreführender, insofern die Bilder in der Materie und die farblichen Unterschiede des Dargestellten durch Siegel ausgebildet werden, und danach kraft der Alchemie durch Wasser oder eine andere, Gerinnung bewirkende Flüssigkeit die Materie zu etwas dem Stein Ähnlichem gehärtet wird. […] Manchmal aber entstehen derartige Farben und
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Quellenedition von Nicolas Weill-Parot auf Grundlage der Ausgabe Borgnet und einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert: E = editio Auguste Borgnet, Bd. 5, Paris 1890, S. 48–49 und S. 49–50. B = Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Lat. qu. 906, fol. 46r−114v, hier fol. 80r–v und fol. 81r−v.
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ebenso Bilder in einfachem Glas: dies hält das unkundige Volk für Steine. Aufgrund dieser Ursachen also entstehen gemalte, herausgehauene oder hervorstehende Bilder. Wie aber jene entstehen, die aus Einritzungen [hervorgegangen] scheinen, weiß ich nicht, außer dass sie irgendwie durch Kunst und nicht auf natürliche Weise [entstanden sind]. […] Übersetzung: Florian Wöller
Kommentar Albertus Magnus (um 1200–1280) ist einer der bedeutendsten Theologen, Philosophen und Wissenschaftler des Mittelalters. Er trat 1223 in den damals noch jungen Dominikanerorden ein, wurde 1245 in Paris zum magister der Theologie und leitete ab 1248 das studium generale seines Ordens in Köln, bevor er ab 1254 andere Funktionen übernahm und weiterzog. Vor allem in seiner Zeit in Köln paraphrasierte und kommentierte er im Auftrag seines Ordens das Werk des Aristoteles. Das Ziel war es, über die ganze Natur zu berichten. Doch fehlte unter den auf Lateinisch zugänglichen Schriften eine über Mineralien: Albertus verfasste sie schließlich selbst, hauptsächlich zwischen 1248 und 1252.40 Diese Schrift mit dem Titel De mineralibus besteht aus fünf ‚Büchern‘, die in ‚Traktate‘ und ‚Kapitel‘ gegliedert sind. Buch I handelt allgemein von den Steinen und ihren Eigenschaften. Dort findet sich unter anderen ein Kapitel über Steine, die Bilder von Tieren aufweisen (I.2.8). Es waren Fossilien, die Albertus als versteinerte Tiere versteht und daher als „falsche Steine“ (lapides falsi) bezeichnet. Sie spielen für seine weitere Diskussion der Steinbilder keine Rolle. Buch II stellt die Edelsteine vor, ihre Kräfte und ihre Bilder, um die es im Folgenden gehen soll. Die übrigen Bücher sind den Metallen im Allgemeinen (III) und ihren Eigenschaften (IV) gewidmet und ferner den Mineralien, die zwischen Steinen und Metallen zu verorten sind (V). Buch II zu den Edelsteinen (lapis pretiosis) umfasst drei tractati. Im ersten wird diskutiert, woher die Kraft (virtus) der Edelsteine stamme: Sie sei eine Eigenschaft der Steine selbst. Es folgt (II.2) eine alphabetische Auflistung von Steinen, die jeweils mit ihrer eigenen virtus vorgestellt werden. Zum Beispiel seien in einer der vier Varianten des Achats Bilder zu finden (II.2.1): Dieser schwarze Stein mit weißen Adern eigne sich für geschnittene Formen und zeige oft Königsköpfe; legte man ihn beim Schlafen an den Kopf, würde man viel träumen. Der nächste Traktat (II.3), der hier näher kommentiert wird, handelt spezifisch von den Bildern in den Edelsteinen, den sogenannten „Siegeln der Steine“ (sigilli lapidum). Die theo-
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retische Diskussion erläutert Nicolas Weill-Parot weiter unten. Zunächst sollen die konkreten Objekte vorgestellt werden, die Albertus einbezieht.41 Er unterscheidet drei Arten von Steinbildern: Manche sind wie „gemalt“ (depicta), andere in Relief, andere herausgeschnitten. Im Anschluss kündigt Albertus an, über Steinbilder zu berichten, die er selbst gesehen hat; dann zu erklären, wie die Natur solche Bilder hervorbringt; und schließlich von den künstlichen Steinbildern und ihren Kräften zu handeln. Das erste Steinbild, das Albertus beschreibt (II.3.1), hatte er in Venedig auf der Baustelle der Basilika von San Marco gesehen. Als Marmorblöcke zu Platten zersägt wurden, um damit die Wände der Kirche zu schmücken, sei auf zwei nebeneinander platzierten Tafeln ein Königskopf erschienen. Nur war die Stirn des Königs in dem Bild etwas zu hoch geraten, und die Begleiter von Albertus hätten ihn nach dem Grund dafür gefragt. Vielleicht regten sie so jene Überlegungen an, die er nun vorlegt. Die Besichtigung muss um 1222 stattgefunden haben, als Albertus in Padua studierte, was die Datierung der Arbeiten an San Marco präzisiert. Die Erfahrung der Gruppe kann heute noch in Venedig nachvollzogen werden: Wenn zwei Marmorplatten so zusammengestellt wurden, dass ihre Adern ein symmetrisches Muster mit vertikaler Achse ergeben, stellt sich bisweilen der Eindruck ein, darin ein Gesicht zu sehen. Der Effekt war bereits in Byzanz bekannt. Er wurde bei San Marco in mehreren Bereichen der Fassade und im Kircheninneren wohl absichtlich angelegt. Albertus Magnus be schreibt aber nur ein einziges, besonders eindeutiges Bild. Vielleicht erinnerte er sich weniger an die Steinplatten selbst, als an das Gespräch mit seinen Gefährten. Das Bild, habe er damals erklärt, sei aus der Versteinerung einer flüssigen Materie entstanden, in der Bilder erscheinen könnten, so wie es auch in Wolken der Fall ist. Wie der aufsteigende Wind die Wolken weiter verformt, so hätte in Venedig eine zu große Wärme die Stirn des Königs erhöht.42 Albertus nennt dann (hier nicht zitiert) eine große Austernmuschel mit vielen Bildern von Schlangen, bei denen es sich wohl um Gehäuse von Kalkröhrenwürmern handelte. Diese Muschel wurde in Paris von den Köchen des Sohnes des Königs von Kastilien gefunden, im Bauch einer Scholle. Der Prinz gab sie Albertus; dieser zeigte sie oft und verschenkte sie weiter. Das nächste Objekt ist ein kleines Ei mit dem Bild einer beflügelten Schlange im Inneren, das Albertus nach der Aussage eines Zeugens beschreibt und das eigentlich ein Fossil gewesen sein muss. Es folgt (II.3.2) ein Verweis auf die Theorie der Erzeugung von Monstren. Halten sich die Gestirne an gewissen himmlischen Orten auf, behindern sie die Entstehung menschlicher Formen. Diese können aber ebenso durch andere astrale Konfigurationen an eigentlich unpassenden Stellen provoziert werden. Feine, flüssige Materien, die für astrale Einflüsse empfindlich seien, würden Abdrücke erhalten, die dann zu Steinbildern verhärten könnten. Sehr geeignet für eine solche Bildaufnahme sei der Onyx. Wie in der Auflistung der Steine erläutert (II.2.13), würde er als ‚Träne‘ (oder Harz) eines Baumes entstehen, dann erhärten und so mögliche Bildeindrucke festhalten.43
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Ein solcher Stein sei in Köln am Dreikönigenschrein – oder zumindest in der Dreikönigenkapelle44 – angebracht, handflächengroß. Albertus beschreibt ihn so präzise, dass er, obwohl 1574 gestohlen, mit einem Sardonyxkameo im Wiener Kunsthistorischen Museum identifiziert werden konnte. Wohl 278 vor Christus geschnitten, zeigt er sehr fein, in neun Steinschichten, König Ptolemaios II. Philadelphos und seine Frau Arsinoe im Profil.45 Solche Steine seien vielfach zu finden, schreibt Albertus. Aber dieser war wohl der spektakulärste von vielen figurierten Steinen am besonders großen und damals nur wenige Jahrzehnte alte Dreikönigenschrein. Entgegen der heutigen Interpretation sah Albertus in dem antiken Kameo zwei Männer. Dazu schenkte er dem kleinen, schwarzen Kopf, der den Nackenschutz des Helmes von Ptolemaios II. schmückt, überproportionale Aufmerksamkeit. Daraus ergeben sich drei männliche Köpfe. Hat er sich ungenau erinnert, oder deutet dies auf eine zeitgenössische Interpretation, nach der der Stein die Heiligen Drei Könige dargestellt hätte?46 Wie dem auch sei: Die Könige galten auch als Magier, was einer zentralen Eigenschaft der Steine entspricht, denn die Kräfte, die den Steinen zugesprochen wurden, galten auch als magisch.47 Jedenfalls können auch hier Diskussionen vor Ort die Überlegungen von Albertus genährt haben.48 Es folgen die künstlichen Steinbilder. Manche Bilder würden zuerst von Menschen gestaltet und dann in ein spezielles Wasser gelegt werden, das sie versteinere. Kannte Albertus die Versteinerungen jener antiken Wasserleitung, die von der Eifel nach Köln führte? Bis zu 30 cm dicke, polierbare Kalkablagerungen wurden dort zwischen ca. 1050 und 1250 abgebaut, etwa zu kleinen gemaserten Säulen oder Altartischen für viele Kirchen der Region weiterverarbeitet und bis nach Skandinavien exportiert.49 Andere Steinbilder, so Albertus, würden alchemistisch verhärtet. Wieder andere bestünden nur aus Glas: Damit dürften gegossene Heiligenbilder aus Glaspaste gemeint sein, die im 13. Jahrhundert wohl in Konstantinopel und Venedig produziert wurden; davon sind heute über 200 Exemplare aus mehr als 60 Formen erhalten.50 Für weitere, von Menschen direkt in die Steine geschnittene Bilder vermutet Albertus den Einsatz von Werkzeugen aus gehärtetem Stahl. Den Gemmenschnitt seiner Zeit kannte er offenbar nicht.51 Das nächste Kapitel (II.3.3) ist der Diskussion zu den magischen Kräften der künstlichen, astrologischen Steinbilder gewidmet, die Nicolas Weill-Parot anschließend erläutert. Albertus situiert die Herstellung und Verwendung solcher ‚Siegel‘ in die Vergangenheit. Er gibt an, dass sie in Steine oder in Metall geschnitten wurden, wobei das Material je nach Sternensituation gewählt wurde (II.3.4). Solche Steine kämen insbesondere aus Indien oder Ägypten, weil die Wirkung der Planeten dort effizienter sei. Der historische Zusammenhang zwischen geschnittenen Steinen und astrologischen Bildern lässt sich gut an Kapitel II.3.5 erklären. Es handelt sich um eine Liste von Bildern in Steinen mit ihren jeweiligen Wirkungen, zum Beispiel gegen Fieber oder Gift. Albertus nennt hier die Zeichen des Zodiakus, aber auch Darstellungen von Herkules oder Merkur; Steine mit Merkurbildern seien dabei oft in heidnischen Tempeln zu finden. Diese Liste gehört der Gattung der astrologischen Lapidarien an, die auf das spätantike Alexandrien zurückgeht. Solche Texte verbanden die griechische Tradition
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der naturalistischen und medizinischen Lapidarien mit den Sternenkenntnissen aus Mesopotamien und Ägypten und entsprachen der damaligen Praxis, zu magischen Zwecken astrologische Bilder in Gemmen zu schneiden.52 Doch die Liste von Kapitel II.3.5, wie andere auch, führt keine neu anzufertigenden Gemmen vor, sondern solche, die gefunden werden konnten. Ihre Bildmotive haben mitunter nichts mit Sternen zu tun. Diese Entwicklung fand wohl in nachantiker Zeit statt, als der Gemmenschnitt kaum mehr praktiziert wurde, die alten Steine aber weiter tradiert und die Texte angepasst wurden. Antike Gemmen als ‚Siegel‘ (sigilla) zu bezeichnen, lag außerdem nahe, denn bis in die Zeit von Albertus wurden sie vielfach als Siegel verwendet.53 Der Begriff evozierte Vorstellungen von Abdruck und Authentizität, Präsenz und Macht;54 er passte gut zur Vermittlung von Sternenkraft, um die es in dieser Tradition geht. Nach der Steinbilderliste schließt Buch II mit weiteren Steinverwendungen ab (II.3.6). Hat Albertus mit seinen Ausführungen weitere Steinbilder angeregt? Wahrscheinlich hat sich Giotto kreativ mit dem Thema auseinandergesetzt, ausgehend von Gesprächen mit dem Arzt und Philosophen Pietro d’Abano, der den Text kannte und in Padua lehrte, als der Maler dort zwischen 1303 und 1307 an der Scrovegni-Kapelle arbeitete. Hier hat Giotto nicht nur eindrucksvolle Marmortafeln fingiert, sondern dazu Figuren der Tugenden und Laster dargestellt, die steinern aussehen. Wie nach Albertus die Sterne die Formen des Marmors bestimmten, so beeinflussten sie nach Pietro d’Abano außerdem die Moral, das Verhalten und die Physiognomie der Menschen. Giotto machte diesen Zusammenhang in einem Kapellenraum erfahrbar, der dazu einlud, den eigenen, sternengeleiteten Tendenzen zu widerstehen und als Christ seinen freien Willen zu stärken.55 Philippe Cordez
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inveniri] E, invenire B in eo] E, in ipso B excussorio] E, exclusorio B lapidum] E, lapidis B in] E, om. B quando] E, aliquando B essente] E, existente B cum] E, dum B depictum] E, pictum B frontem] E, om. B aliam] E, altam et B capitis] E, om. B est] E, om. B lapidibus] E, lapidabilibus B Propter hoc patet ergo] E, per hoc ergo aparet B figuram] E, figura B
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de figuris lapidum a natura factis] E, de causa ymaginum in lapidibus apparentium B igitur] E, enim B quaedam loca in coelo] E, quoddam loca in celo esse B convenerint] E, conveniunt B difformi] E, diformi B etiam] E, om. B cum] E, autem B ut diximus supra] E, om. OM) coloniae] E, in colonia B capsa] E, capella B unius] E, om. B qui est sicut unguis, picta] E, om. B elucet] E, elucent B vel qualis] E, om. B effingit] E, fingit B verum diximus supra] E, sicut supra diximus B effinguntur] E, effigiantur B figurae] E, et figurae B et] E, om. B alchimiae] E, alkimie B lapidis] E, lapidum B excusae] E, excluse B ex arte] E, exarate B Vgl. John M. Riddle u. James A. Mulholland: Albert on Stones and Minerals, in: James Athanasius Weisheipl (Hg.): Albertus Magnus and the Sciences. Commemorative Essays 1980, Toronto 1980, S. 203−234; Isabelle Draelants: La science encyclopédique des pierres au xiiie siècle, l’apogée d’une veine minéralogique, in: Claude Thomasset, Joëlle Ducos u. JeanPierre Chambon (Hg.): Aux origines de la géologie de l’Antiquité au Moyen Âge, Paris 2010, S. 91−139, S. 92 zur Datierung. Zum epistemologischen Status der eigenen Beobachtungen bei Albertus Magnus vgl. Isabelle Draelants: Expérience et autorités dans la philosophie naturelle d’Albert le Grand, in: Thomas Bénatouïl u. dies. (Hg.): Expertus sum. L’expérience par les sens dans la philosophie naturelle médiévale, Florenz 2011, S. 89−121. Ausführlicher Philippe Cordez: Albertus Magnus und die Steine von Venedig. Ein Beitrag zur „Bildwissenschaft“ des 13. Jahrhunderts, in: Isabella Augart, Maurice Saß u. Iris Wenderholm (Hg.): Steinformen. Materialität, Qualität, Imitation, Berlin u. a. 2018, S. 191−205. Siehe zusätzlich Otto Demus: The Mosaics of San Marco in Venice, 2 Bde., Chicago u. a. 1984, Bd. 2, S. 27–32. Ich danke Herbert L. Kessler für den Hinweis. Vgl. außerdem in dieser Liste den Kacaman (ein Wort für Kameo), ebenfalls oft ein Bild träger (II.2.9). in capsa in der Edition Borgnet, in capella in der Hs. Berlin, Staatsbibl. lat. qu. 906. Erika Zwierlein-Diehl: Magie der Steine. Die antiken Prunkkameen im Kunsthistorischen Museum, Wien 2008, S. 56−73 u. S. 238−247.
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De mineralibus 1248–1252 Liber II. Qui est de lapidibus pretiosis
Zweites Buch, das über die Edelsteine handelt
Tractatus 3. De sigillis lapidum, et qualiter est dicendum de sigillis, et quot sunt modi sigillorum, et de expertis
Dritter Traktat. Über Siegelbilder auf Steinen, wie über solche zu sprechen ist, wie viele Typen es gibt und über Experten
Caput 3. De causa quare gemmae primitus insculpi praecipiebantur, et quod sit iuvamentum in ipsis sigillis Nunc autem determinemus causam quare gemme primitus a sapientibus sculpi precepte sunt, et quod sit iuvamentum in ipsis sigillis eorum. Huius autem causam cognoscere ex propria1 scientia oportet magorum quam compleverunt2 Tot3 Grecus et Germa Babilonicus et Hermes Egyptius in primis, postea autem mirabiliter effulsit in ea Ptholomeus4 sapiens et Geber Hispalensis, Tebith5 autem plene6 tradidit artem. Est autem principium in ipsa scientia omnia quecumque fiunt a natura vel arte, moveri a virtutibus celestibus primo: et hoc de natura non est dubium. In arte etiam7 constat, eo quod aliquid8 modo et non ante incitat cor hominis ad faciendum: et hoc esse non potest nisi virtus celestis, ut dicunt sapientes prenominati. Est enim in homine duplex principium operum, natura scilicet et voluntas: et natura quidem regitur sideribus; voluntas quidem libera9 est: sed nisi10 renitatur, trahitur a natura et inclinatur:11
Kapitel 3. Über den Grund, weshalb zuerst empfohlen wurde, Steine zu schneiden und welcher Nutzen in diesen Bildern selbst liegt Bestimmen wir nun auch den Grund, weshalb von Weisen zuerst empfohlen wurde, Steine zu schneiden, und welcher Nutzen in diesen geschnittenen Bildern liegt. Es ist erforderlich diesen Nutzen aus dem Fachwissen der Magier zu ergründen, das zuerst Tot der Grieche, der Babylonier Germa und der Ägypter Hermes zusammengetragen haben. Später glänzte darin besonders der weise Ptolemäus, auch der Spanier Geber, Thebit überlieferte die Kunst vollständig. Es besteht der Grundsatz in dieser Lehre, dass alles das durch Natur oder Kunst [ars] entsteht, vor allem durch die Himmelskräfte bewirkt wird. Hinsichtlich der Natur steht dies außer Frage. In der Kunst aber steht es fest, dass irgend etwas das menschliche Herz zu einer bestimmten Zeit und nicht vorher zur Ausführung antreibt und dieses kann nichts anderes sein als himmlisches Wirken, so wie es die genannten Weisen darlegen. Es
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et cum natura moveatur motibus siderum, incipit voluntas tunc ad motus siderum et figuras12 inclinari. Probat hoc Plato ex operibus puerorum qui libertate voluntatis non adhuc renituntur nature et siderum inclinationi.13 Illi enim ex siderum virtute preostendunt in se habilitates ad unam artem vel aliam, in qua14 si exercitentur, perfecti efficientur:15 et si reluctentur et alias exerceant, nunquam propter16 nature ad illam artem ineptiam, perfectionem consequentur.17 Non autem dubitamus quin omne quod est causa aliquo modo cause, sit18 etiam aliquo modo causa causati. Si igitur vis et afflatus siderum influit quamdam causalitatem artis in artifice, pro certo nisi impediatur, influet omnibus operibus artis aliquid sue19 virtutis. His habitis, pro principio sumimus a dictis philosophis, quod etiam alibi20 probandum est, figuras celorum primas esse figuras, et ante omnium generatorum natura et arte21 figuras. Quod autem primum est genere22 et23 ordine generantium, absque dubio causalitatem suam per modum cuique congruum, omnibus influit sequentibus.24 Nos enim non intendimus hic de figuris mathematice sumptis, sed de figuris25 prout inducunt26 diversitatem generantium et generatorum in ordine et speciebus et natura forme et materie sue: habebit igitur figura27 celestis causalitatem in omni figura generatorum natura et arte,28 eo quod ars resolvitur in principium nature: quia principium artis prout diximus, natura est secundum quod exivit29 a suo celesti principio, cuius principium est intellectus practicus, sicut idem intellectus est
gibt nämlich im Menschen eine Zweiheit des Antriebs zum Handeln, Natur und Wille. Die Natur wird durch die Sterne gelenkt, der Wille aber ist frei. Wenn dieser [Wille] jedoch nicht entgegenwirkt, wird er von der Natur mitgerissen und geneigt. Da die Natur durch die Bahnen der Sterne bewegt wird, beginnt der Wille sich unter die Bewegungen und Bilder der Sterne zu neigen. Plato belegt dies durch die Taten von Kindern, die kraft ihrer Willensfreiheit noch nicht der Natur und Geneigtheit der Sterne widerstehen können. Diese zeigen nämlich durch Einwirkung der Sterne Begabungen für diese oder jene Kunstfertigkeit [ars], worin sie, falls gefördert, vollkommen werden können. Wenn sie aber widerstreben und anderes ausüben, werden sie wegen Uneignung ihrer Natur zu dieser Tätigkeit niemals Perfektion erreichen. Wir bezweifeln nicht, dass alles, was auf irgendeine Weise Ursache einer Ursache ist, auch auf irgendeine Art Ursache des Verursachten ist. Wenn also Kraft und Emanation von den Sternen in den Handwerker eine gewisse künstliche Kausalität einfließen lassen, dann werden sie sicherlich, wenn sie nicht gehindert werden, in alle von der Kunst produzierten Werke etwas von ihrer Kraft einfließen lassen. Dies vorausgeschickt, nehmen wir von genannten Philosophen den Ausgangspunkt, der noch anderswo zu belegen ist, dass die Sternbilder die ersten Bilder sind vor allen anderen durch Natur oder Kunst erzeugten. Was aber nach Art und Reihenfolge der erzeugenden Dinge das erste ist, lässt ohne Zweifel seine Ursächlichkeit in einer jeweils angepassten Weise allen folgenden einfließen. Dabei denken wir nicht an die Figuren
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principium artis, sicut diximus sepius30 in Celo et Mundo et Physicis.31 Ex his autem de necessitate concluditur, quod si observate32 ad celestem figuram imprimatur figura in materia per naturam vel artem, quod celestis figure aliqua vis influitur operi nature et artis:33 et inde est, quod observare34 ad imagines celi precipiuntur fieri opera et exitus et introitus et incisio35 vestium et vestitura a Ptholomeo sapiente.36 Hinc est quod in scientie geomantie figure, punctorum ad imagines tales37 reduci precipiuntur: quia aliter non sunt38 utiles. Hec ergo industria considerata primi preceptores et professores physice39 gemmas et imagines metallicas ad imagines astrorum observatis temporibus quando vis celestis fortissima ad imaginem eamdem40 esse probatur, ut puta celestibus multis virtutibus admixta, sculpi precipiebant,41 et mira per tales imagines operabantur. Quellenedition von Nicolas Weill-Parot auf Grundlage der Ausgabe Borgnet und von zwei Manuskripten aus dem 13. Jahrhundert: E = editio Auguste Borgnet, Bd. 5, Paris 1890, S. 51−52. B = Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Lat. qu. 906 (13. Jahrhundert), fol. 46r−114v, hier fol. 82r−83r. P = Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 16158 (Ende 13. Jahrhundert), fol. 259ra–286vb, hier fol. 273rab.
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aus der Mathematik, sondern an die Figuren, indem sie erzeugende und erzeugte Dinge bewirken, die sich nach Reihe, Art sowie in Natur ihrer Form und ihrer Materie unterscheiden. Ein Sternenbild wird deshalb seine Ursächlichkeit in jeder von Natur und Kunst erzeugten Figur der Dinge haben, weil die Kunst auf das Prinzip der Natur reduziert werden kann, da, wie wir sagten, das Prinzip der Kunst die Natur ist, da von ihrem himmlischen Prinzip ausgeht, und dieses Prinzip ist der praktische Intellekt, so wie der gleiche Intellekt Prinzip der Kunst ist, wie wir in De Celo et Mundo und De Physicis öfter erklärt haben. Hieraus schließt man mit Notwendigkeit, dass, wenn eine Figur nach himmlischem Vorbild beobachtet, einem Stoff durch Natur oder Kunst eingewirkt wird, eine gewisse Kraft der himmlischen Figur dem Werk der Natur oder Kunst einfließt. Von daher kommt es auch, dass von dem weisen Ptolemäus empfohlen wird, die Sternbilder zu beachten, wenn Dinge geschehen, bei Aufbruch und Rückkehr, bei Zuschnitt der Kleider und deren Anlegen. Daran liegt es auch, dass in der Wissenschaft der Geomantik empfohlen wird, Figuren auf solche Bilder aus Punkten zu reduzieren, weil sie sonst nichts nutzen. Nachdem die ersten Lehrer und Professoren der Physik diese Tätigkeit betrachtet hatten, empfahlen sie Edelsteinund Metallbilder zu Sternenbildern zu schneiden, die zu bestimmter Zeit beobachtet worden waren, wenn sich nämlich die himmlische Kraft bei einem Sternbild als besonders stark erwies, wenn zum Beispiel viele himmlische Kräfte zusammenwirkten
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und Wunderbares durch solche Bilder bewirkt wurde.42 Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Der hier vorgestellte Text ist grundlegend für die mittelalterliche Debatte über ‚astrologische Bilder‘.43 Der Begriff des ‚astrologischen Bildes‘ wurde vom Speculum astronomiae geprägt,44 das die unterschiedlichen Gebiete der Sternenkunde darlegt und auf die Mitte des 13. Jahrhunderts datiert werden kann: Lange wurde es Albertus Magnus zugeschrieben, doch inzwischen muss es wieder der Anonymität übergeben werden.45 Das ‚astrologische Bild‘ bezeichnet einen Talisman, d. h. einen künstlichen Gegenstand, der magische Kräfte besitzt, die er allein aus der natürlichen Kraft der Gestirne ziehen soll – und nicht aus Geistern oder höheren Intelligenzen, die für einen Theologen notwendigerweise dämonisch sein müssen. Die ‚astrologischen Bilder‘ wären demnach ‚naturalistisch‘ beziehungsweise nicht ‚destinativ‘ (die ‚destinative‘ Magie soll als eine Form der Magie definiert werden, deren rituelle Praktiken einen Anruf darstellen, der an eine höhere Intelligenz adressiert oder gerichtet wird: einen Engel, Dämonen oder anderen Geist).46 Das ‚astrologische Bild‘ war ein apologetischer Begriff, der dazu dienen sollte, wenigstens eine Art von Talismanen für zulässig zu erklären. Doch es kam im Mittelalter zu keiner Einigkeit darüber: So bekämpfte Thomas von Aquin den Begriff, während Albertus Magnus ihn verfocht, wie der hier zitierte Ausschnitt deutlich macht. Albertus Magnus kannte die Hauptquellen der talismanischen Sternenmagie, die den Grundstein für die Erfindung der ‚astrologischen Bilder‘ legte. Diese Sternenmagie wurde von Texten nach Europa gebracht, die, aus dem Nahen oder Mittleren Osten stammend, im 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden und Hermes Trismegistos oder Figuren aus der hermetischen Tradition zugeschrieben wurden.47 Albertus zitiert Tot den Griechen (Tot Grecus), Germa den Babylonier (Germa Babilonicus) und Hermes den Ägypter (Hermes Egyptius); ferner Ptolemäus, Geber von Sevilla und schließlich Thebit. Der Name Tot, welcher der hermetischen Tradition wohlbekannt ist, leitet sich vermutlich zum einen vom ägyptischen Gott Thot ab (der zur Zeit des Hellenismus mit Hermes gleichgesetzt wurde) und zum anderen aus Tat, der ursprünglich mit ersterem Gott identisch war, letztendlich jedoch in der hermetischen Tradition zum Sohn des Hermes-Thot wurde.48 Sehr früh findet er in der hermetischen Literatur des Hellenismus Erwähnung, aber auch in astro-talismanischen Magieabhandlungen, die aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden, wie das De stationibus ad cultum Veneris. Dem Germa Babylonicus werden ebenfalls talismanische Traktate dieser Tradition zugeschrieben, wie das Liber Veneris, das aber auch Tot dem Griechen zugerechnet wird.49
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Was Thebit angeht, so handelt es sich um den Sabier Astronomen Thabit ibn Qurra (836−901), der als Autor des De imaginibus gilt, eine Abhandlung, in der die Herstellung von kleinen Figuren aus Metallen unter Berücksichtigung des Zeitpunkts beschrieben wird, an dem eine bestimmte Sternenkonstellation dominant ist.50 Mehrere Talismane werden auf folgende Weise vorgestellt: um die Liebe zwischen zwei Personen zu entfachen, um eine Stadt zu zerstören, usw. Der Autor des Speculum astronomiae stellte fest, dass der Text keine ‚destinativen‘ Elemente enthält, und wählte ihn, um die von ihm einzuführende Kategorie der ‚astrologischen Bilder‘ darzulegen. Zu bemerken ist, dass es sich um Figuren handelt, die das ‚Ziel der Handlung‘ darstellen (die anvisierte Person zum Beispiel) und nicht die astrale Quelle (wie es im Gegensatz dazu im hier zitierten Ausschnitt aus De mineralibus der Fall ist). Der Name Geber Hispalensis verweist wahrscheinlich auf Dschabir ibn Alfah, einen aus Sevilla stammenden Astronomen der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Allerdings ist es auch möglich, dass dieser Geber hier mit Dschabir ibn Hayyan (8. Jahrhundert) verwechselt wird, dem ein bedeutendes Korpus alchemistischer Schriften zugeschrieben wird, in denen es um den alchemistischen Stein (lapis) geht, obwohl Alchemie und Magie im Mittelalter klar voneinander getrennt wurden. Was den griechischen Astronomen und Astrologen Ptolemäus (2. Jahrhundert) betrifft, so ist er – ohne sein Wissen – gleich zweifach mit der Tradition der astrologischen Talismane verbunden. Erstens wird ihm nämlich ein Opus imaginum fälschlicherweise zugeschrieben, das in den Handschriften weit verbreitet ist: Hierin geht es um Bilder, die je nach Dekane zu unterschiedlichen Zwecken angefertigt werden.51 Der Autor des Speculum astronomiae zögert, diesen Text unter die Werke der ‚astrologischen Bilder‘ zu verorten, da er ihn für zu allusorisch hält. Zweitens wurde ein weiteres sehr verbreitetes Werk fälschlicherweise unter die Autorschaft des Ptolemäus gestellt: das Centiloquium, das hundert Aphorismen der Astrologie vorstellt und von einem Kommentar begleitet wird, der einem ‚Hali‘ (Abu Dschafar Ahmad ibn Yusuf) zugeschrieben wird. Das Centiloquium wurde mehrmals ins Lateinische übersetzt und bot ausgefeilte und genaue Angaben über die Astrologie. Deutlich zu erkennen ist, dass Albertus Magnus in dem hier vorgestellten Kapitel das neunte verbum verwendet hat, vor allem am Ende des Ausschnitts. Der Pseudo-Ptolemäus erläutert, dass „die Gestalten (vultus) der irdischen Welt den Gestalten des Himmels unterworfen sind, weshalb die Weisen, die die Bilder anfertigten, den Aufgang der Sterne in den himmlischen Figuren beobachteten und dann das ausführten, was sie wollten.“ Der Kommentar ‚des Hali‘ überliefert die Anekdote, nach der ein Mann, dem ein Skorpion gestochen hatte, durch das Siegel des Skorpions geheilt wurde: Dieses wurde mit dem entsprechenden Tierkreiszeichen angefertigt, welches man in einen Bezoar eingravierte und zur passenden astrologischen Stunde in Weihrauchharz drückte.52 Zum erstem Mal im Westen bietet Albertus Magnus eine naturalistische Erklärung der astrologischen Siegel an, wobei es sich hier um astrologische Talismane handelt, die durch den Schnitt von Figuren in Steinen angefertigt wurden. Die entsprechende Passage folgt auf
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eine ausführliche, mehr oder weniger ausdrückliche Argumentation, die am Anfang des zweiten Buches von De mineralibus beginnt. Albertus Magnus zeigt hier (II.1.4), dass die Macht der Gemmen aus ihrer je spezifischen Form resultiert. Dieses Konzept der je spezifischen Form ist dem Kanon der Medizin des Avicenna entlehnt. Eigenartigerweise schreibt Albertus Magnus es hier aber Constantinus Africanus zu, einem frühen Übersetzer arabischer medizinischer Werke, vor allem des De physicis ligaturis des Costa ben Luca. Dieser spricht zwar die Verwendung von Amuletten an, bezieht sich aber nicht auf den Begriff der je spezifischen Form, der erst nach ihm und ausgehend vom galenschen Begriff der tota substantia von Avicenna definiert wurde.53 Diese spezifische oder substanzielle Form wird den Gemmen durch die Einwirkung der Himmelskörper verliehen. Nach einem alphabetisch geordneten Lapidar, der die Eigenschaften und Kräfte der Steine vorstellt (II.2), widmet sich Albertus „den Bildern und Siegeln in Steinen“ (II.3.1). Er weist darauf hin, dass die Frage dem Bereich der Nigromantie angehöre, genauer derjenigen Nigromantie, die in die Astrologie eingeordnet wird und von Bildern und Siegeln handelt. Auf Ersuchen seiner Brüder des Dominikanerordens hin und auf Grund des in dieser Lehre enthaltenen Nutzens habe sich Albertus entschieden, davon zu schreiben. Um dieses Problem verstehen zu können, bedürfe es Kenntnissen sowohl in Astrologie, Nigromantie als auch Magie. Albertus geht zunächst (II.3.2) auf die Siegel oder Abdrücke ein, die von der Natur auf Steinen hervorgebracht werden. Die Herstellung dieser Figuren wird mit jener der Monstren verglichen. Diese eingedrückten Figuren stammen ursprünglich aus der Kraft und dem Einfluss der Sternenkonstellationen. Obwohl Albertus Magnus es nicht explizit schreibt, können diese Figuren durch ebendiese Sterne mit besonderen Kräften ausgestattet werden. Die Position des Kapitels innerhalb des Werkes lässt kaum Zweifel darüber entstehen: Es befindet sich zwischen dem Kapitel, das ankündigt, von den Siegeln und Bildern zu handeln, was sowohl Nigromantie, Magie und Astrologie beinhalte, und dem Kapitel über die künstlichen Siegel, die mit einer Kraft ausgestattet sind. Damit die Demonstration der Kräfte der künstlichen Siegel funktionieren kann, ist es, wie zu sehen sein wird, in der Tat unerlässlich anzunehmen, dass die Gestirne über die von ihnen hervorgebrachten Figuren die Gemmen auf natürliche Weise mit Kräften ausstatten. Denn in dem Kapitel über die künstlichen Siegel (II.3.3) sieht sich Albertus mit einer ernsten theoretischen Herausforderung konfrontiert: mit der Aufgabe nämlich zu rechtfer tigen, dass von Menschenhand hergestellte astrologische Siegel auf natürliche Weise von den Gestirnen mit einer besonderen Kraft ausgestattet werden können. Keine Schwierigkeit besteht im Fall von Figuren, die von der Natur – und weiter oben von den Gestirnen –hervorgebracht und von ihr – beziehungsweise ihnen – mit Macht ausgestattet werden. Dieselbe Kausalkette erklärt hier, wie die Bilder geformt würden und wie sie ihre Kraft erhielten: Dieselbe Ursache – die Gestirne – sei ursächlich für beide Phänomene. Im Fall der künstlichen Siegel besteht aber eine Kluft zwischen der künstlichen Ursache und der astralen Ursache. Diese Kluft ist dem freien Willen geschuldet, ein grundliegender Aspekt der christlichen
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Lehre, der bedingt, dass im Gegensatz zu den Tieren der Mensch nicht immer dem Lauf der Natur folgt, sondern nach seinem Willen handelt. Jedoch gäbe es sehr wohl auch einen Teil von Animalität im Menschen, die hier von Kindern dargestellt wird, da diese sich noch nicht ihres freien Willens bedienten, sondern von ihrem natürlichen Instinkt geleitet seien; es geht hierbei um ihre natürlichen Anlagen, in einer bestimmten Tätigkeit ausgezeichnet zu sein.54 Albertus Magnus ‚astrologisiert‘ diese natürliche Begabung, indem er sie auf das Horoskop der Geburt oder nativitas der Kinder zurückführt. Diese Form der Gleichung menschlicher Handlung mit der astralen Ursächlichkeit ist nur die passive und extreme Version eines Grundsatzes, den Albertus auch auf die Sphäre der Handlungen des erwachsenen Menschen ausdehnt, der imstande ist, seinen freien Willen zu verwenden. Er übernimmt die Lehre der inclinatio, die bei zahlreichen Theologen zu finden ist, darunter Thomas von Aquin, um die These eines Einflusses der Gestirne annehmbar zu machen: Der Mensch könne zwar immer durch seinen freien Willen dem von den Gestirnen auf ihn ausgeübten Einfluss entgehen, doch nehme sein Körper sehr wohl diesen astralen Einfluss auf, der ihn dazu neigen lasse, diese oder jene Tat auszuführen, solange er nicht den Willen habe, sich dem zu widersetzen. Um die Kluft zwischen Natur und Kunst auf theoretischer Ebene noch weiter zu schließen, führt Albertus Magnus zwei Argumente an. Erstens misst er den himmlischen Figuren eine herausragende Rolle in der Kausalität auf der Erde bei. Er bezieht sich (obwohl er es nicht ausdrücklich zitiert) auf das Liber de causis, ein neuplatonisches Werk arabischen Ursprungs, das, ins Lateinische übersetzt und apokryph Aristoteles zugeschrieben, großen Einfluss hatte. Die erste Behauptung (I.1) lautet: Omnis causa primaria plus est influens super causatum suum quam causa universalis secunda, „Jede erste Ursache hat mehr Einfluss auf das, was von ihr verursacht wird, als die universelle zweite Ursache.“55 Hier wendet Albertus letztendlich diesen Grundsatz auf die himmlische Figur an, die er als erste Ursache in dieser Kausalkette vorbringt. Anschließend bringt Albertus in einem etwas schwierig zu verstehenden Satz die Ursächlichkeit der Kunst mit derjenigen der Natur in Verbindung, wobei er den praktischen Intellekt (intellectus practicus) mit ins Spiel bringt.56 Er verweist auf seine Physica, das heißt wohl auf den Abschnitt (I.3.11), in dem er erklärt, dass es in unserem Körper nur den aktiven (activus) oder praktischen (practicus) Intellekt gibt, der keine Erkenntnis oder Bewegung vom Körper übernimmt, sondern letzteren wie ein Werkzeug bewegt, durch welches er die Formen der Kunst, die er in sich trägt, in den künstlichen Materialien hervorbringt. Albertus vergleicht diese Art Tätigkeit des praktischen Intellekts des Handwerkers mit derjenigen der Intelligenzen, die die Himmelskörper bewegen:
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So sind die Motoren der höheren Körper, die nichts von ihnen übernehmen, sondern in ihnen die Bewegung einfließen lassen (influunt), durch welche die natürlichen Stoffe die Formen hervorbringen, die sie in sich tragen. Und er schlussfolgert: „Denn die Formen aller natürlichen Dinge bestehen in den Intelligenzen, in der Art, wie die Formen der künstlichen Dinge im praktischen Intellekt bestehen, wie es die Peripatetiker überliefert haben.“57 Der andere Verweis, auf De caelo, bezieht sich wahrscheinlich auf den Abschnitt (I.1.3): Hierin erklärte Albertus Magnus, dass das Verhältnis der Intelligenzen, die die Sphären auf natürliche Weise bewegen, zu diesen himmlischen Sphären, von denen sie ontologisch geschieden sind, dasselbe ist wie dasjenige zwischen „dem Intellekt des Handwerkers“ und „dem Körper, den er künstlich bewegt, um die Form der Kunst in die Materie einzuführen“.58 Dies verweist auf die Theorie der Hervorbringung von Formen in den unteren Dingen dank des Einflusses der Himmelskörper, die durch die Intelligenzen bewegt werden.59 Allgemeiner verweisen diese Sätze auch auf die Vorstellung, nach der „das Werk der Natur das Werk einer Intelligenz ist“.60 Durch diese wiederentdeckte Einheit von Kunst und Natur bestärkt, legt Albertus Magnus dar, wie diejenigen, die Bilder anfertigen, sich diesmal willentlich und punktuell selbst in die von den Gestirnen ausgehende Kausalkette stellen. Während das implizit vorgebrachte astrologische Urteil zur Erklärung der passiven Fähigkeit, jener der Kinder, das Horoskop bei ihrer Geburt war, wird hier die astrologische Elektion angeführt, also die Bestimmung des passenden astrologischen Zeitpunktes, um diese oder jene Handlung auszuführen.61 Tatsächlich ordnet der Speculum astronomiae die scientia imaginum in den Teil ein, welcher der astrologischen Elektion gewidmet ist. Das Centiloquium des Pseudo-Ptolemäus, in dem dazu geraten wird, astrologische Elektionen für alle möglichen Arten von alltäglichen Handlungen vorzunehmen, wird noch einmal in Anspruch genommen.62 Die astrologische Wahl ermöglicht es, den freien Willen des Handwerkers und die Stabilität der natürlichen, von den Gestirnen ausgehenden Kausalkette miteinander zu versöhnen, wobei nur letztere dazu imstande ist, zu erklären, wie das Siegel durch die Gestirne mit einer Kraft ausgestattet wird. Der Kunsthandwerker wird willentlich durch seine Handlung zu einem Glied dieser Kausalkette, oder, wenn man so will, zum Treibriemen dieses astralen Einflusses.63 Nicolas Weill-Parot Übersetzung: Daniel Fliege
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propria] BP, om. E compleverunt] EP, compilaverunt B tot grecus] P, magot grecus E, grecus B ptholomeus] B, ptolemaeus E; tholomeus P tebith] E, theby B, tebit P plene] EP, plane B etiam] EP, om. B aliquid] EP, aliquis B quidem libera] BE; libera quidem P nisi] BE, non P inclinatur] BP, induratur E figuras] EP, figuras intentas B renituntur…inclinationi] EP, reguntur natura syderum inclinari B in qua] BE, in qua in qua P efficientur] EP, efficiuntur B numquam propter] EP, autem ne B consequentur] E, non consecuntur B, asequuntur P sit] BP, est E aliquid sue] EP, sue aliquid B alibi] EP, infra B natura et arte] E, naturam et artem B, natura artem P genere] E, in genere BP et] BE, ex P influit sequentibus] EP, sequentibus influit B sumptis sed de figuris] BE, om. P inducunt] E, indicant BP figura] BE, figuram P generatorum natura et arte] BP, generata a natura E exivit] EP, exiret (?) B sepius] EP, om. B et physicis] P, physicis E, et Physicorum liber B observate] B, observare EP artis] BE, aeris P observare] E, observate BP incisio] BEP (Wyckoff 1967, S. 136, Anm. 4 schlägt als Korrektur incinxio vor) a ptholomeo sapiente] a ptolemeo sapiente E, a tholomeo B, a tholomeo sapiente P tales] BE, tales tales P sunt] BE, sit P physice] BP, physici E ad imaginem eamdem] BE, ad ymaginem ad ymaginem per eamdem P precipiebant] EP, om. B Pseudo-Ptolemäus: Centiloquium, in: ders.: Quadripartitum etc., Venedig 1493, verbum 9, fol. 107v.
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Albertus Magnus 43 Zu Albertus Magnus, zu De mineralibus und zur Einordnung dieses Ausschnitts vgl. den vorangegangenen Kommentar von Philippe Cordez. 44 Vgl. Nicolas Weill-Parot: Les „Images astrologiques“ au Moyen Âge et à la Renaissance. Spéculations intellectuelles et pratiques magiques (xiie−xve siècle), Paris 2002 (Sciences, techniques et civilisations du Moyen Âge à l’aube des Lumières, 6). 45 Vgl. Agostino Paravicini Bagliani: Le Speculum Astronomiae, une énigme? Enquête sur les manuscrits, Florenz 2001 (Micrologus’ Library, 6). 46 Vgl. Weill-Parot 2002 und ders.: Astral Magic and Intellectual Changes (Twelfth-Fifteenth Centuries). „Astrological Images“ and the Concept of „Addressative“ Magic, in: Jan Bremmer u. Jan. R. Veenstra (Hg.): The Metamorphosis of Magic From Late Antiquity to the Early Modern Period, Löwen 2002, S. 167−187. 47 Vgl. David Pingree: The Diffusion of Arabic Magical Texts in Western Europe, in: La diffusione delle scienze islamiche nel medioevo europeo (Convegno internazionale promosso dall’Accademia nazionale dei Lincei e dall’Università di Roma „La Sapienza“, Roma, 2−4. ottobre 1984), Rom 1987, S. 57−102; Vittoria Perrone Compagni: I testi magici di ermete, in: Paolo Lucentini, Ilaria Parri u. Vittoria Perrone Compagni (Hg.): Hermetism from Late Antiquity to Humanism, Turnhout 2001 (Instrumenta patristica et mediaevalia, 40), S. 507−533; Nicolas Weill-Parot: Devenirs de la magie astrale hermétique arabe dans le monde latin: signification „culturelle“ d’une utilisation (xiie−xve siècle), in: Micrologus 14/2016 [= The Impact of Arabic Science in Europe and Asia], S. 227−268. 48 Vgl. Garth Fowden: The Egyptian Hermes: A Historical Approach in the Late Pagan Mind, Cambridge 1986. 49 Vgl. Paolo Lucentini u. Vittoria Perrone Compagni: I manoscritti dei testi ermetici latini, in: Paolo Lucentini, Ilaria Parri u. Vittoria Perrone (Hg.): Compagni Hermetism from Late Anti quity to Humanism, Turnhout 2001 (Instrumenta patristica et mediaevalia, 40), S. 715−740. 50 Francis J. Carmody (Hg.): The Astronomical Works of Thâbit ibn Qurra, Berkeley/Los Angeles 1960, S. 179−197. 51 Weill-Parot 2002, S. 77−79; Textausgabe in Jean-Patrice Boudet: Un traité de magie astrale arabo-latin: le Liber de imaginibus du pseudo-Ptolémée, in: Claudio Leonardi u. Francesco Santi (Hg.): Natura, scienze e società medievali: studi in onore di Agostino Paravicini Bagliani, Florenz 2008, S. 17−36. 52 Pseudo-Ptolemäus: Centiloquium, verbum 9, fol. 107v. Zum Centiloquium des Pseudo-Ptolemäus vgl. Richard Lemay: Origin and Success of the Kitâb Thamara of Abû Ja’far Ahmad ibn Yûsuf ibn Ibrâhîm from the Tenth to the Seventeenth Century in the World of Islam and Latin West, in: Proceedings of the First International Symposium for the History of Arabic Science (5−12. April 1976), Bd. 2, Aleppo 1978, S. 97−107; Jean-Patrice Boudet: Astrology Between Rational Science and Divine Inspiration. The Pseudo-Ptolemy’s „Centiloquium“, in: Stefano Rapisarda u. Erik Niblaeus (Hg.): Dialogues Among Books in Medieval Western Magic and Divination, Florenz 2014, S. 49−76. 53 Vgl. Brian P. Copenhaver: Scholastic Philosophy and Renaissance Magic in the De vita of Marsilio Ficino, in: Renaissance Quarterly 37/1984, S. 523−554; Nicolas Weill-Parot: Astrology, Astral Influences and Occult Properties in the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: Traditio 65/2010, S. 201–230; ders.: Points aveugles de la nature: la rationalité scientifique
De mineralibus médiévale face à l’occulte, l’attraction magnétique et l’horreur du vide (xiiie−milieu du xve siècle), Paris 2013 (Histoire). 54 Wie bereits Wyckoff (1967, S. 135, Anm. 1) bemerkt hat, bezieht sich Albertus Magnus bei der Erwähnung ‚Platons‘ eigentlich auf das Secretum secretorum des Pseudo-Aristoteles: Secretum secretorum, hg. v. Robert Steele, in: Roger Bacon: Opera quaedam hactenus inedita, 5 Bde., Oxford 1920, III.10, S. 136−137. 55 Ediert von Pierre Magnard, Olivier Boulnois, Bruno Pinchard u. Jean-Louis Solère: La demeure de l’Être – autour d’un anonyme: étude et traduction du Liber de causis, Paris 1990 (Philologie et Mercure). 56 Zum intellectus practicus vgl. Gianfranco Fioravanti: Intellectus Practicus, in: Iñigo Atucha, Claude Calma, Catherine König-Pralong u. Irene Zavatero (Hg.): Mots médiévaux offerts à Ruedi Imbach, Porto 2011, S. 373−380. 57 Albertus Magnus: Physica, hg. v. Paul Hossfeld, in: ders.: Opera omnia, hg. v. Institutum Alberti Magni Coloniense (4), 2 Bde., Münster 1987−1993, I.3.11, S. 59: Si enim demus, quod in corpore nostro non sit nisi intellectus activus sive practicus, ipse nihil cognitionis vel motus accipiet a corpore et tamen movebit ipsum inquantum est instrumentum, per quod agit formas artis, quas habet in se, in materias artificiales. Sic sunt motores superiorum corporum, qui nihil accipiunt ab ipsis, sed influunt eis motum, per quem in materias naturales producunt formas, quas apud se habent. Omnium enim naturalium formae sunt in intelligentiis eo modo quo formae artificialium sunt in intellectu practico, sicut Peripatetici tradiderunt. 58 Albertus Magnus: De caelo et mundo, hg. v. Paul Hossfeld, in: ders. Opera omnia, hg. v. Institutum Alberti Magni Coloniense (5.1), Münster 1971, I.1.3, S. 9−10: Propter quod, quantum sufficit praesenti negotio, dicendum, quod motores sphaerarum celestium, licet moveant per modum naturae, eo quod movent uno modo, et quia motus ille est naturalis corpori caeli plus, quam motus processivus convenit corpori animato, tamen sunt separati, neque per esse neque per diffinitionem dependentiam habentes ad corpora ipsa. Sed comparantur ad ipsa, sicut intellectus artificis comparatur ad corpus, quod movet instrumentaliter ad formam artis inducendam in materiam, propter formam, quae est in motore proprie neque universalis neque particularis, eo quod haec accidunt formis, prout abstrahuntur a rebus per potentias apprehensivas, nisi forte diceretur, quod est univseralis eo modo quo una numero causa dicitur universalis, quia factiva est multorum. Talis autem intellectus sic informatus influit motum particularem corpori, qui quidem particularis est, prout est in eo quod est particulare et singulare mobile, habet tamen universalem virtutem explicandi omne illud cui debet induci forma, quam intendit inducere motor per suam scientiam activam. Et sic patet aliqualiter solutio primi. 59 Zur Theorie der Hervorbringung von Formen vgl. Bruno Nardi: La dottrina d’Alberto Magno sull’„inchoatio formae“, in: ders.: Studi di filosofia medievale, Rom 1960, S. 69−101; Anna Rodolfi: Il concetto di materia nell’opera di Alberto Magno, Florenz 2004; Isabelle Moulin: Éduction et émanation chez Albert le Grand: des commentaires sur Denys le Pseudo-Aréopagite au De causis et processu universitatis a prima causa, in: Ludger Honnefelder, Hannes Möhle u. Susana Bullido del Barrio (Hg.): Via Alberti. Texte−Quellen−Interpretationen, Münster 2009, S. 243−264. 60 Wyckoff 1967, S. 136, Anm. 1 u. S. 30, Anm. 3; vgl. James A. Weisheipl: Albertus Magnus and the Sciences: Commemoratives Essays, Toronto 1980 (der ebenfalls den Satz aus De minera-
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Albertus Magnus libus I.1.8 zitiert: opus naturae est opus intelligentiae). Selbstverständlich darf die nur unklare Formulierung des angeführten Abschnitts über den praktischen Intellekt nicht so verstanden werden, dass Albertus Magnus die Vorstellung des Averroes über einen einzigen getrennten handelnden Intellekt annehme, da er diese These beständig bekämpft hat, vgl. zum Beispiel Markus Führer: The Contemplative Function of the Agent Intellect in the Psychology of Albert the Great, in: Burkhard Mojsisch u. Olaf Pluta (Hg.): Historia Philosophiae Medii Aevi: Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam/Philadelphia 1991, S. 305–319. 61 Über die astrologische Auswahl vgl. die klassische Studie von Eugenio Garin: Le „elezioni“ e il problema dell’astrologia, in: Enrico Castelli (Hg.): Umanesimo e esoterismo (Atti del Convegno internazionale di studi umanistici – Oberhofen 16–17 sett. 1960), Padova 1960, S. 17–37. 62 Pseudo-Ptolemäus: Centiloquium, verbum 22, fol. 108v u. verbum 41, f. 110v. Vgl. auch Wyckoff 1967, S. 136, Anm. 4 u. Anm. 6 (aufgrund eines Druckfehlers trägt das verbum XLI die Zahl LXI). 63 In diesem Kontext schildert Albertus als Vergleich eine astrologische Deutung der Geomantie, d. h. der Weissagung ausgehend von Figuren, die aus zufällig erhaltenen Punkten gezogen werden. Zur Geomantie vgl. Thérèse Charmasson: Recherches sur une technique divinatoire: la géomancie dans l’Occident médiéval, Genf 1980. Vgl. auch die laufenden Untersuchungen von Pasquale Arfé, Alessandra Beccarisi, Marienza Benedetto, Elisa Rubino und Irene Zavatero.
Quellen
Fauser 1982 = Winfried Fauser: Die Werke des Albertus Magnus in ihrer handschriftlichen Überlieferung. Teil I: Die echten Werke. Codices Manuscripti Operum Alberti Magni, Pars I Opera genuina, in: ders.: Opera omnia, hg. v. Institutum Alberti Magni Coloniense, Münster 1982.
Übersetzungen von Albertus Magnus De mineralibus
Wyckoff 1967 = Albertus Magnus: Book of Minerals, hg. u. übers. v. Dorothy Wyckoff, Oxford 1967. Goldschmidt 1983 = Albertus Magnus: De mineralibus, übers. v. Günther Goldschmidt, Basel 1983 (Texte zur Geschichte der Präventivmedizin, 2). Angel 1995 = Albertus Magnus: Le Monde minéral. Les pierres: De mineralibus (livres I et II), übers. v. Michel Angel, Paris 1995 (Sagesses chrétiennes).
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La Commedia 1307–1321 A guisa d’uom che ’n dubbio si raccerta, e che muta in conforto sua paura, poi che la verità li è discoperta, mi cambia’ io; e come sanza cura vide me ’l duca mio, su per lo balzo si mosse, ed io di retro inver l’altura. Lettor, tu vedi ben com’ io innalzo, la mia matera, e però con più arte non ti maravigliar s’ io la rincalzo. Noi ci appressammo, ed eravamo in parte, che là dove pareami prima rotto, pur come un fesso che muro diparte, vidi una porta, e tre gradi di sotto per gire ad essa, di color diversi, e un portier ch’ancor non facea motto. E come l’occhio più e più v’apersi, vidil seder sovra ’l grado soprano, tal nella faccia ch’ io non lo soffersi; e una spada nuda avea in mano, che reflettea i raggi sì ver noi, ch’ io dirizzava spesso il viso in vano. „Dite costinci: che volete voi?“ cominciò elli a dire: „ov’è la scorta? guardate che ’l venir su non vi noi“. „Donna del ciel, di queste cose accorta,“ rispuose il mio maestro a lui, „pur dianzi ne disse: ‚Andate là: quivi è la porta.‘“ „Ed ella i passi vostri in bene avanzi“ ricominciò il cortese portinaio: „venite dunque a’ nostri gradi innanzi.“
Wie jemand Besorgtes, der nach Gewissheit sucht und seine Befürchtung, nach dem ihm eröffnet wurde, wie die Dinge stehen, in Zuversicht gewandelt sieht, so wandelte ich auch mich. Und als mein Führer sah, dass ich nicht mehr besorgt war, setzte er sich zu der Felswand hin in Bewegung, und ich ging hinter ihm auf die Höhe zu. Leser, du siehst wohl, wie ich das, was ich erzähle, jetzt höherrücke; sei also nicht erstaunt, wenn ich es deswegen mit noch mehr Kunst zu stützen suche. Wir gingen darauf zu und waren bald so nah, dass ich an der Stelle, die mir vorher als Bruch erschienen war, wie die Spalte in einer Mauer, nun ein Tor erkannte, mit drei Stufen in verschiedenen Farben davor zum Hinaufsteigen, und einem Torwächter, der aber noch nichts sagte. Und als ich noch genauer hinsah, stellte ich fest, dass er auf der obersten Stufe saß. Den Blick in sein Gesicht aber hielt ich nicht aus. Er trug ein blankes Schwert in der Hand, das warf die Lichtstrahlen so stark auf uns zurück, dass ich mehrmals vergeblich hinzuschauen versuchte. „Sagt an von dort: Was wollt ihr?“ rief er jetzt. „Wo ist eure Begleitung? Gebt acht,
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Là ne venimmo; e lo scaglion primaio bianco marmo era sì pulito e terso, ch’ io mi specchiai in esso qual io paio. Era il secondo tinto più che perso, d’una petrina ruvida ed arsiccia, crepata per lo lungo e per traverso. Lo terzo, che di sopra s’ammassiccia, porfido mi parea sì fiammeggiante, come sangue che fuor di vena spiccia. Sovra questo tenea ambo le piante l’angel di Dio, sedendo in su la soglia, che mi sembiava pietra di diamante.
wenn ihr hier heraufkommt, dass es euch nicht reut.“ „Eine Frau vom Himmel, die in diesen Dingen kundig ist“, antwortete ihm mein Meister, „hat uns vorhin gesagt: ‚Geht dort hinauf, da ist der Eingang.‘“ „Dann sollen eure Schritte zum Guten gelenkt werden“, gab der Torwächter nun freundlich zurück. „Kommt nur herauf zu unserer Treppe.“ Wir langten dort an. Die erste Stufe war aus weißem Marmor und so glatt gerieben, dass ich mich darin spiegelte, ganz wie ich war. Die zweite Stufe war tief dunkelrot, aus rauhem, versengtem Stein, kreuz und quer von Rissen durchzogen. Die dritte mit ihrer festen Masse darüber schien mir aus Porphyr, so flammend hell wie Blut, das aus den Adern quillt. Auf dieser hatte der Engel Gottes beide Füße; dabei saß er auf der Schwelle, die mir wie Diamantstein vorkam. Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie. Italienisch / Deutsch, Bd. II: Purgatorio / Läuterungsberg, hg. u. übers. v. Hartmut Köhler, Stuttgart 2011, IX, 64–105, S. 168–173.
Kommentar Weißer Marmor, dunkelroter Stein, flammend heller Porphyr und Diamant – diese vier Steinstufen markieren innerhalb des Purgatorio der Divina Commedia1 die Schwelle vom Vorpurgatorium zum Läuterungsberg, dessen spiralförmiger Weg über sieben Terrassen zum irdischen Paradies auf dem Gipfel des Berges führt. Die Göttliche Komödie, die zwischen 1307 und 1321 von Dante Alighieri verfasst wurde, schildert in drei Teilen und im Rahmen eines Traumberichtes die Reise Dantes2 durch die drei Reiche der jenseitigen Welt. Vergil begleitet Dante durch das Inferno und Purgatorio; Beatrice, Grund und Auslöser für die Reise,3 führt ihn durch das Paradiso. Die physische Wanderung Dantes durch die verschiedenen Landschaften
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ist zugleich Ausdruck seines inneren ‚Seelenkampfes‘. Auf diese Weise stehen sowohl der Protagonist als auch die Seelen der Verstorbenen in einer kongenialen Beziehung zu den sie umgebenden Landschaften.4 Dabei spielen die Steine eine ganz besondere Rolle. Denn nicht nur im vorliegenden Zitat, sondern in der gesamten Göttlichen Komödie ist der Stein eng mit der körperlichen (Aufwärts-)Bewegung Dantes, dem Sehsinn, der Erkenntnis und dem Licht verbunden. Die Jenseitsreise Dantes beginnt in der felsigen und dunklen Hölle (Inferno), die als gewaltiger unterirdischer Trichter auf der nördlichen Halbkugel der Erde vorgestellt wird und in neun Höllenkreise unterteilt ist. Dabei wird durch das Herabsteigen der Protagonisten in die Tiefen der Höllenkreise bei den Lesenden das Bild des Tieferdringens in die verschiedenen Gesteinsschichtungen aufgerufen. Die sprachliche Darstellung der Felsen dient im Inferno sowohl als topographische Evokation5 als auch dazu, die metaphysischen Lichtvorstellungen anschaulich zu machen. Weil das Licht Ausdruck des Guten ist, kann das Inferno nur von der Abwesenheit des Lichts bestimmt sein. Auf diese Weise dient – neben Nebel, Rauch und Dämpfen – vor allem der opake Fels dazu, die Hölle als locus terribilis vorzustellen. Dort „wo nichts mehr ist, was noch leuchten könnte“6 und „alles Licht verstummt ist“7 häuft sich Steinschutt,8 der den Weg für die beiden Höllenbesucher, den Ich-Erzähler und den Jenseitsführer Vergil, mühsam und beschwerlich macht.9 Den Läuterungsberg (Purgatorio) verortet Dante auf der südlichen Halbkugel. Während im Inferno alles monoton böse und dunkel ist, ist das Purgatorio ein Übergangsort. Alle Seelen, denen für ihre Sünden Vergebung gewährt wurde und die in den Bereich der Läuterung gelangen, werden über kurz oder lang auch zum Himmel aufsteigen. Aber auch wenn der Läuterungsprozess im Fegefeuer nicht misslingen kann, ist er beschwerlich. Auch hier dient der Stein nicht nur symbolisch, sondern auch ganz praktisch als Sündenlast, der „den stolzen Nacken beugt“.10 Die aufsteigende Bewegung der Seelen steht in unmittelbarer Beziehung zu dem Phänomen des Lichts. Als Ort des Übergangs ist das Purgatorio somit sowohl durch die Gegensätze des infernalischen Dunkels sowie der blendenden, paradiesischen Lichtfülle als auch durch die Verbindung beider Extreme gekennzeichnet. Zwischen den Sichteinschränkungen im Inferno, wo der Blick von Nebelschleiern und opaken Felsen behindert wurde, und den absoluten Bildauflösungen im Paradiso durch die Blendkraft stehen nun im Purgatorio die leuchtende Farbigkeit und das gebrochene Licht. Exemplarisch ist hier bereits der erste Gesang. Die Hoffnung, die den Ich-Erzähler nach der Reise durch die dunkle steinerne Hölle erfasst, beschreibt er als farbigen, edelsteinklaren Lichtblick des anbrechenden Tages: „Freundliche Farbe des Saphirs aus dem Osten, die sich im heiteren Anblick der Luft zum Horizont hin rein versammelte, / bescherte meinen Augen wieder Freude, als ich heraustrat aus dem Todesdunst, der mir Augen und Brust bedrückt hatte.“ (Purg. I,13–18)11 Der Saphir hat gemäß der mittelalterlichen Steinkunde an dieser Stelle genau die Qualitäten inne, die der Situation des Ich-Erzählers an dieser Stelle angemessen sind. So heißt es in dem im Mittelalter überaus bekannten Traktat von Marbod von Rennes De lapidibus aus
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dem 11. Jahrhundert über den Saphir: „Der beste ist der, der aus Medien (Persien) stammt. […] Er führt Gefesselte aus dem Kerker. […] Er versöhnt mit Gott und macht ihn Bitten gewogen. […] Er nimmt auch den Schmutz von den Augen und den Schmerz von der Stirn.“12 Die enge Verflechtung von Stein, Licht und Blick wird darüber hinaus in dem viel rezipierten synekdochischen Gebrauch der Augen Beatrices als Smaragd in den letzten Gesängen des Purgatorio deutlich. In der Beschreibung der Augen Beatrices verbindet sich das Spiegelmotiv der transzendentalen Lichtsymbolik mit dem Augenmotiv der Minnedichtung: „Sie sagten: ‚Jetzt spare nicht mit Blicken! Wir haben dich vor die Smaragdaugen geführt, aus denen Amor einst seine Pfeile auf dich schnellte.‘“ (Purg. XXXI,116–117)13 Die Metaphorik des Smaragds, mit dem Beatrices Augen gleichgesetzt werden, ist vielschichtig.14 Er ist nicht nur Attribut weiblicher Schönheit,15 Gerechtigkeit16 und Keuschheit,17 seine grüne Farbe erlaubt auch die Assoziation des ewigen Frühlings. In eben jenen smaragdenen Augen spiegelt sich auch der Greif. Diese bemerkenswerte Beziehung zwischen Greif und Smaragd könnte auf eine Bemerkung von Albertus Magnus zurückgehen.18 Danach spielen die Greifen die Rolle der Beschützer und Wächter der Smaragde, weil sie diese Edelsteine in ihren Nestern mit großer Grausamkeit gegen Räuber verteidigen.19 Mit Hilfe der smaragdenen Augen Beatrices, in denen sich der Greif als Christussymbol spiegelt, wird Dante von seiner irdischen Sinnlichkeit befreit und sein Aufbruch aus dem hortus deliciarum zu noch größerer Glückseligkeit im himmlischen Paradies verdeutlicht. Das Paradiso als Bereich des Transzendenten visualisiert Dante schließlich mit Hilfe von virtuosen Lichteffekten bis hin zu Visionen, die über die Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Auges hinausgehen. 20 Während im Inferno und im Purgatorio die Wanderung noch als mühsam beschrieben wurde, erlebt Dante im Aufstieg zum Paradiso seine eigene Körperlichkeit als immer leichter werdend, bis er schließlich nur noch schwebt. Während in der Hölle die Materie vorherrschte, liegen in der Himmelssphäre die Abweichungen von Gesetz und Form vor, die ihren Höhepunkt im Empyreum als Utopos, das sich jeglicher topographischer Fixierung entzieht, erreichen. Das Licht wird zur Metapher der göttlichen Anwesenheit. Die Edelsteine eignen sich aufgrund ihrer materialen Beschaffenheit und der Konnotation von Unvergänglichkeit zum einen als Bild für die Seligen; zum anderen dienen sie im Paradiso als lichtbrechende Objekte im besonderen Maße dazu, die bildauflösende Lichtfülle des Empyreums anzudeuten.21 Letzten Endes bleiben aber auch die sichtbaren, farbigen Edelsteine nur schattenhafte Vorboten der göttlichen Wahrheit:22 „Sie fügte noch hinzu: ‚Der Fluss und die Topase, die aufund niedersteigen, auch das Lachen der Blumen, das sind Verkünder, die ihre Wahrheit noch im Schatten lassen; / nicht etwa, weil diese noch unreif wäre; vielmehr ist das Unzureichende auf deiner Seite, deine Sehkraft reicht noch nicht so hoch.‘“ (Par. XXX,76–81)23 Das Wahre entzieht sich im Paradiso schließlich nicht nur der sprachlichen, sondern auch der bildlichen Vorstellungskraft.24
La Commedia
Der Weg des Jenseitswanderers aus dem Inferno zum paradiesischen Empyreum lässt sich somit im doppelten Sinn als ein steiniger Weg beschreiben: Vom infernalischen Dunkel der opaken Felsen über den lichtbrechenden Edelstein im Purgatorio zur vollkommenden Auflösung der Materie.25 Dabei dient die sprachliche Inszenierung der Steine vor allem dazu, der universalistischen Kosmosidee und den metaphysischen Lichtvorstellungen Dantes Ausdruck zu verleihen. Vor diesem Hintergrund wird die programmatische Bedeutung des vorangestellten Zitats deutlich. Die getroffene Nebeneinanderstellung der physikalischen Blendkraft des Schwertes und die damit verbundene Unmöglichkeit für Dante in das Angesicht des Engels zu blicken, weist darauf hin, dass Sichtbarkeit und Licht in der Commedia gemäß mittelalterlicher Theorien nicht nur physikalisch, sondern auch metaphysisch verstanden werden müssen. Neben der Problematisierung des Sehen-Wollens aber nicht Erkennen-Könnens und der Gegenüberstellung von physikalischem und metaphysischem Licht, stehen auch das zen trale Aufstiegsschema über die Steinstufen sowie die Erwähnung von lichtabsorbierenden Felsen und lichtbrechenden Edelsteinen beispielhaft für die Steinbeschreibungen in der gesamten Commedia. Umstritten bleibt dabei die ikonographische Bedeutung der materialen Beschaffenheit der Steinstufen. Gemeinhin werden die drei ersten Steinstufen als die verschiedenen Stadien des Bußsakraments verstanden. In diesem Sinne wird der Spiegelcharakter des Marmors mit der sich selbst prüfenden contritio cordis (Zerknirschung des Herzen) gleichgesetzt. Der geborstene, raue und versengte Stein steht als Sinnbild für die confessio oris (Mündliches Bekennen) und der blutrote Porphyr wird als Ausdruck der satisfactio operis (Wiedergutmachung durch Werke) verstanden.26 Die dem Diamanten zugeschriebene Härte wird zumeist als unerbittliche Festigkeit des Beichtvaters gelesen.27 Zweifellos verweist Dante, indem er diesen bedeutenden Ort samt farbiger Steinstufen mit der expliziten Leseransprache auch als neue Stufe künstlerischer Gestaltung ankündigt, auf das von ihm entworfene prachtvolle Sprachbild der Pforte, die parallel Einlass in eine neue Etappe der Seelenreise gewährt.28 Auch auf diese Weise erweist sich das vorliegende Zitat als exemplarisch, denn die gesamte Göttliche Komödie lebt von der Kraft sprachlicher Bilder, die Künstler in besonderem Maße herausgefordert hat, die Commedia in reale Bilder zu übersetzen.29 Neben zahlreichen Rezeptionen in der bildenden Kunst bezieht sich beispielsweise die Hypnerotomachia Poliphili sowohl strukturell als auch inhaltlich unter anderem mit Hilfe von Steindarstellungen auf die Göttliche Komödie. Franca Buss 1
Im Original La Commedia. Den Titelzusatz Divina erhielt die Commedia erst nachträglich. Bereits Boccaccio verwendete 1350 den Zusatz divina, um das Werk überschwänglich zu loben. Als Buchtitel erscheint er aber erst in der von Ludovico Dolce herausgegebenen venezianischen Edition von 1555.
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Dante Alighieri 2 Im Folgenden wird der Name Dante sowohl als Autorenname als auch als Bezeichnung des Ich-Erzählers verwendet. 3 I’ son Beatrice che ti faccio andare; / vegno del loco ove tornar disio; / amor mi mosse, che mi fa parlare. (Inf. II,70–72) 4 Bereits Romano Guardini hat die Landschaften in der Göttlichen Komödie als „erweiterte Leiblichkeit“ bezeichnet. Die Landschaft der Göttlichen Komödie sei „nie um ihrer selbst willen, sondern immer um des Menschen willen, der in ihr lebt. Ihrer Formen und Stimmungen mächtig, macht er sie zum Ausdruck für den Menschen“, vgl. Romano Guardini: Landschaft der Ewigkeit, München 1958, S. 68 u. S. 156. Auch Dagmar Korbacher stellt fest, dass die Landschaften die Seelenzustände der sich in ihr Befindlichen widerspiegeln, vgl. Dagmar Korbacher: Paradiso und Poesia. Zur Entstehung arkadischer Naturbildlichkeit bis Giorgione, Augsburg 2007, S. 51–61. 5 Auf die topographischen Elemente irdischer Wirklichkeit in der Jenseitsdichtung Dantes hat vor allem Erich Auerbach aufmerksam gemacht: „Im Jenseits der Komödie ist die irdische Welt enthalten“, vgl. Erich Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929, S. 113. Zur Funktion landschaftlicher Elemente in der Göttlichen Komödie als Rückgriff auf die vertraute Wirklichkeit der Lesenden vgl. auch Rudolf Baehr: Suso in Italia bella giace un laco. Zwischen Realismus und Allegorie. Zu Herkunft, Charakter und Funktion landschaftlicher Elemente in der Divina Commedia, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 74/1999, S. 85–104. 6 […] e vegno in parte ove non è che luca. (Inf. IV,151) 7 Io venni in luogo d’ogni luce muto. (Inf. V,28) 8 Così prendemmo via giù per lo scarco / di quelle pietre, che spesso moviensi / sotto I miei piedi per lo novo carco. (Inf. XII,28–30) 9 Su per lo scoglio prendemmo la via, / ch’era ronchioso, stretto e malagevole. (Inf. XXIV,61–62) 10 E s’ io non fossi impedito dal sasso / che la cervice mia superba doma, / onde portar convienmi il viso basso, / cotesti, ch’ancor vive e non si noma, / guardere’ io, per veder s’ i’ ’l conosco, / e per farlo pietoso a questa soma. (Purg. XI,52–57) 11 Dolce color d’orïental zaffiro, / che s’accoglieva nel sereno aspetto / del mezzo, puro insino al primo giro, / alli occhi miei ricominciò diletto, / tosto ch’ io usci’ fuor dell’aura morta / che m’avea contristati li occhi e ’l petto. (Purg. I,13–18) 12 Ille sed optimus est, quem tellus medica gignit (109); educit carcere vinctos (116); Placatumque deum reddit, precibusque faventem (118); Tollit et ex oculis sordes, ex fronte dolorem (126), vgl. Marbodius von Rennes: De lapidibus, übers. v. C. W. King, hg. v. John M. Riddle, Wiesbaden 1977, S. 42–43. 13 […] disser: „Fa che le viste non risparmi: / posto t’avem dinanzi alli smeraldi / ond’ Amor già ti trasse le sue armi.“ (Purg. XXXI,116–117) 14 Vgl. zur Edelstein-Allegorese jener Verse: Cornelia Klettke: Paradiesmystik im Grenzbereich des Nicht-Darstellbaren. Par. XXX: Dantes Wortgemälde und Botticellis Zeichnung. Analyse eines Medienwechsels, in: Letteratura e Arte 8/2010, S. 55–83. 15 Vgl. Brunetto Latini: Tresor, hg. v. Pietro G. Beltrami u. a., Turin 2007, III,13,11. Cornelia Klettke weist darauf hin, dass die Smaragde durch den synekdochischen Gebrauch in Beatrice selbst verwandelt werden, was ihrer Meinung nach auf die spätere Aufhebung der Naturgesetze verweise, vgl. Klettke 2010, S. 59.
La Commedia 16 Die Auffassung des Smaragds als Attribut der Gerechtigkeit stammt ebenfalls von Latini, Tresor, II,1,3. 17 Vgl. Albertus Magnus: De Mineralibus, Basel 1983, s. v. „Smaragdus“, II,XVII, S. 44–45. 18 Vgl. hierzu auch den Beitrag zu Bartholomaeus Anglicus von Iris Brahms. 19 Vgl. Albertus Magnus 1983, S. 207. 20 Vgl. zur Kosmologie Dantes Andreas Kablitz: Poesie der Wissenschaft. Dantes Kosmologie, in: Herbert Jaumann u. a. (Hg.): Domänen der Literaturwissenschaft, Bd. 2, Tübingen 2001, S. 233–252. 21 So zum Beispiel in Par. XXX,64–66. Darauf weist Dante selbst in seinem Convivio hin: […] certi corpi, per molta chiaritade di diafano avere in sé mista, tosto che ’l sole li vede, diventano tanto luminosi, che per multiplicamento di luce in quelli è lo loro aspetto (vincente), e rendono alli altri di sé grande splendore, sì come è l’oro e alcuna pietra. Dante Alighieri: Convivio, hg. v. Franca Brambilla, Florenz 1995, III,VII,3. 22 Patricia Oster hat in diesem Zusammenhang auf Dantes allegorische und poetologische Verwendung des Schleiers hingewiesen, der den „Blick des Jenseitswanderers konditioniert“. Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München 2002, S. 69. 23 Anche soggiunse: „Il fiume e li topazii / ch’entrano ed escono e ’l rider dell’erbe / son di lor vero umbriferi prefazi./ Non che da sè sian queste cose acerbe; / ma è difetto dalla parte tua, / che non hai viste ancor tanto superbe.“ (Par. XXX,76–81) 24 All’alta fantasia qui mancò possa (Par. XXXIII,142). 25 Passend zu dieser Dreiteilung Fels, Edelstein, Licht, nennt Friedrich Wilhelm Schelling die Höllendarstellung der Göttlichen Komödie den „plastische[n] Theil des Gedichts“, das Purgatorio den „pittoresken“ und das Paradiso den „rein musikalische[n] und lyrische[n] Theil der Commedia“. Friedrich Wilhelm Schelling: Über Dante in philosophischer Beziehung (1803), in: Hugo Friedrich (Hg.): Dante Alighieri. Aufsätze zur Divina Commedia, Darmstadt 1968, S. 16–26, hier S. 24. Auch Baehr bemerkt, dass die topographischen Elemente vom Inferno bis zum Paradiso mit „abnehmender Dichte“ vorkommen, vgl. Baehr 1999, S. 91. 26 Vgl. die Kommentare zu Purg. IX,94–105 von Hermann Gmelin: Die Göttliche Komödie. Kommentar, II. Teil: Der Läuterungsberg, Stuttgart 1955 sowie Köhler 2011, Bd. II. Dieser Deutung schließt sich auch Ferdinand Barth in seinem Kommentar zu der Dante-Übersetzung von Walter Neumann an. Darüber hinaus schlägt er eine eigene Deutung vor, welche die vierte Stufe aus Diamant mit einbezieht. Nach dieser lasse sich der Weg der Läuterung zugleich als Weg der Erkenntnis analog zum vierfachen Schriftsinn verstehen. Der Marmor würde so dem sensus litteralis entsprechen, der Purpurstein mit seiner uneinheitlichen Struktur dem sensus allegoricus, der die rationale Unzugänglichkeit anzeigen würde. Während der blutrote Stein dem sensus moralis, also der Perspektive der Liebe gleichkommen würde, symbolisiere der Diamant als Perspektive der Hoffnung auf die Ewigkeit den sensus anagogicus. Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, übers. v. Walter Naumann, komm. v. Ferdinand Barth, Darmstadt 2004, S. 229. Hiermit könnte Barth sich auf eine Aussage von Dante Alighieri selbst beziehen, der in einem Brief an Cangrande della Scala erklärt, dass die Commedia nach dem vierfachen Schriftsinn zu lesen sei. Dante Alighieri: Philosophische Werke, Bd. 1: Das Schreiben an Cangrande della Scala, hg. v. Thomas Ricklin, Hamburg 1993,
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Dante Alighieri Epistola XIII,20, S. 53f. Scarpini gibt eine weitere Erklärung. Er sieht in den drei unteren Stufen die drei Stufen der Menschheitsentwicklung, die der Büßende im Geiste noch einmal durchlaufen müsse. Der Marmor versinnbildliche die ursprüngliche Unschuld des Menschen, der dunkle und zerrissene Stein zeige die Sünde mit Hinweis auf das Kreuz Christi an und der rote Porphyr stehe für die Erlösung durch das Blut Christi. Modesto D. Scarpini: I gradini della porta del Purgatorio, in: Rassegna 47/1939, S. 197–199. 27 Angelehnt an Hes 3,9: Wie Diamant, härter als Fels, mache ich deine Stirn. 28 Eine Zusammenstellung der verschiedenen Deutungen der expliziten Leseranrede liefert die Anmerkung zu Purg. IX,70 der hier verwendeten Commedia-Ausgabe von Hartmut Köhler. 29 Einen guten Überblick bietet der Ausstellungskatalog: Dantes Göttliche Komödie. Drucke und Illustrationen aus sechs Jahrhunderten, hg. v. Lutz Malke, Ausstellungskatalog, Staatliche Museen, Berlin 2000.
Francesco Petrarca
De remediis utriusque fortunae um 1360 Liber I
Buch I
Caput XXXVII. De gemmis et margaritis [1] GAUDIUM: Gemmarum fulgor et species delectant. RATIO: Rerum, fateor, terrestrum et mortalium vanitatis pars non ultima, exiguo in lapillo patrimonia magna claudentium, cuius pretium instabile et incertum quotidieque varium, quod et sola mercantium fama et divitium insanorum credulitate dependeat, unde diu sprete inopinis pretiis attolluntur et gemmarum famosissime subita premuntur infamia, nescio quibus notis erumpentibus non tam ipsis de quibus agitur in rebus, quam in opinione hominum ista callentium. Praeclara quidem illa prudentia que, neglecto cultu Dei atque animi et utriusque notitia, internoscendis lapidum venis invigilat! Sed sic est mos. […]
Kapitel XXXVII. Von Edelsteinen und Perlen [1] FREUDE: Das Funkeln und der Anblick der Edelsteine erfreut mich. VERNUNFT: Es ist, ich gestehe es, nicht der geringste Teil der irdischen und sterblichen Eitelkeit, ein großes Vermögen in einem winzigen Stein einzuschließen, dessen Preis schwankend und unsicher und von Tag zu Tag veränderlich ist, weil er allein vom Ruf der Händler und von der Leichtgläubigkeit der närrischen Reichen abhängt, daher kommt es, dass lange verachtete Edelsteine durch unerwartete Preise aufgewertet und berühmte durch üblen Nachruf niedergedrückt werden, wegen ich weiß nicht welcher hervorstechenden Merkmale, was aber nicht an den Dingen selbst, sondern an der Meinung jener Kenner liegt. Was für eine glänzende Klugheit, die den Kult Gottes und die Pflege der Seele und zudem die Kenntnisse beider vernachlässigt, weil sie Nachtwachen hält, um die Adern der Steine zu unterscheiden. Aber so ist’s heutzutage Sitte. […]
[10] RATIO: […] I nunc, et amicas oculorum, animorum hostes et victrices virorum fortium gemmas cole!
[10] VERNUNFT: […] Geh nun und verehre die Edelsteine, diese Augenfreundinnen, Seelenfeindinnen und Bezwingerinnen starker Männer!
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Francesco Petrarca
[11] GAUDIUM: Gemmis delector ardentibus.
[11] FREUDE: Ich erfreue mich an den g lühenden Edelsteinen.
[12] RATIO: At hic variis, ille pallentibus: multiplex appetitus, una vanitas. Audisti ut Pyrrho illi, qui cum Romanis bellum gessit, achates fuit lapis olim pretiosissimus hominum iudicio, nunc eodem quo pretia rebus fiunt variante vilissimus, in quo quidem species rerum diversarum representari solere oculis fama est, hominum, iumentorum, fluminum, nemorum, volucrum ferarumque nulla penitus manu artificis sed nature. In anulo sane Pyrrhi regis ut Solini verbo utar, non impressis sed ingenitis figuris, Muse novem et Apollo erat, choree nobilis citharista, sparsis ita nexisque invicem gemme notis, ut tot imaginum in tam parvo spatio una queque suis discerneretur insignibus; preclarus, ut res erat, anulus addiditque gratie regis nomen; pluris enim fiunt res illustrium. Sed quid, oro, illi contulit achates suus?
[12] VERNUNFT: Jener [mag] die bunten, dieser die bleichen: der Appetit ist verschieden, die Eitelkeit bleibt dieselbe. Hast du gehört, wie jener Pyrrhus, der gegen die Römer Krieg führte, einen Achatstein hatte, einst ungeheuer wertvoll nach dem Urteil der Menschen, nun durch die wankenden Einschätzungen wertlos, von dem gesagt wurde, dass sich in ihm der Anblick verschiedenster Dinge den Augen darzubieten pflegte, Menschen, Tiere, Flüsse, Haine, Vögel und Wildtiere, von der Hand keines Künstlers, sondern von der Natur alleine [geschaffen]. Im Ring des Pyrrhus fanden sich, um Solinus’ Worte zu gebrauchen, nicht als eingeprägte, sondern als hineingeborene Bilder, der Reigen der neun Musen und Apollo, der edle Leierspieler, und die Merkmale auf dem Edelstein waren derart verteilt und miteinander verbunden, dass bei so vielen Bildern auf so kleinem Raum sich doch jedes einzelne durch seine Kennzeichen unterscheiden ließ; berühmt, wie der Ring war, steigerte noch der Namen des Königs seine Anmut, denn je größer der Namen, desto berühmter die Sache. Aber was, frage ich, brachte ihm sein Achat?
Caput XXXVIII. De gemmarum poculis [6] RATIO: Nam quis omnes gemmarum vires atque virtutes explicet? Ita dico, si omnium que de his dicuntur aut scribuntur, pars septima vera esset; sed nec septuagesima vera est necque profecto centesima. […] Quod si qui prorsus ex omnia verum est, an illum forsitan verum
Kapitel XXXVIII. Über Trinkgeschirr aus Edelstein [6] VERNUNFT: Denn wer könnte schon alle Kräfte und Tugenden der Edelsteine erläutern? So würde ich fragen, wenn von allem, was man über sie sagt, der siebte Teil wahr wäre, aber auch nicht der siebzigste Teil davon ist wahr und, wenn ich ehrlich bin,
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erit, quod et magorum auctoritas et super illam fundata vulgi habet opinio, ebrietati resistere amethystos? Parumve igitur cause sit cur ebriosorum poculis hec gemma deserviat? Ludo tecum: sepe ira iocos parit. Nempe ut hoc uni tribuant, quid alie meruere, nisi quod voluptatis ingenium fuit ut cum gustu bibentis delectetur visus atque hinc illinc sensibus delinitis ambitiosor letiorque sit ebrietas?
nicht einmal der Hundertste. […] Wenn aber überhaupt etwas wahr wäre, sollte es dann vielleicht das sein, was die Autorität der Magier und die auf sie gegründete Meinung des Volkes für wahr hält, dass der Amethyst der Trunkenheit standhält? Wäre das nicht Grund genug, dass sich die Trunkenbolde dieses Edelsteins als Trinkgeschirr bedienten? Ich scherze mit dir: oft bringt der Zorn Scherze hervor. Allerdings wird hier einem Edelstein zugeschrieben, was alle verdienen, es sei denn, es war ein Einfall der Lust, dass zusammen mit dem Geschmack des Trinkenden auch der Sehsinn erfreut werde und die Trunkenheit so, von hier und von dort durch die Sinne eingerahmt, anspruchsvoller und heiterer sei?
Caput XXXIX. De gemmarum signis [1] GAUDIUM: Signis gemma expressis mulceor.
Kapitel XXXIX. Über die Siegelbilder [1] FREUDE: Ich ergötze mich an den in Gemmen geschnittenen Bildzeichen.
[2] RATIO: Accessit, non inficior, ad nature decus quidam artis ornatus et minutos in vultus inque signorum usum gemmas sculpi. Subtiliora quidem inter ingenii opera numeratum […].
[2] VERNUNFT: Ich kann nicht leugnen, dass ein gewisser Schmuck der Kunst die Schönheit der Natur vergrößert und dass der Brauch, winzige Gesichter und Bildzeichen in Gemmen zu schneiden zu den feinsinnigeren Werken des Verstandes gehört […].
Pétrarque: Les remèdes aux deux fortunes, 2 Bde., hg., übers. und komm. v. Christophe Carraud, Grenoble 2002, Bd. 1, S. 178–180, 186, 190, 194 u. 200.
Übersetzung: Wolf-Dietrich Löhr
Kommentar Dass der gelehrte Dichter und Philosoph Francesco Petrarca nicht nur ein Freund von Künstlern wie Simone Martini, sondern auch ein Kenner geschnittener Steine gewesen ist, berichtet er selbst. In einem Brief an Francesco Nelli schreibt er 1355, wie in Rom „Weingartenarbeiter“ zu ihm kamen „mit einer antiken Gemme oder einer goldenen oder silbernen Münze in
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der Hand“, und ihn baten, „sie zu kaufen oder die eingeschnittenen Köpfe der Heroen zu deuten“. Seine Kennerschaft betraf aber über ikonographische Identifikationen hinaus auch die skulpturalen Qualitäten sowohl der Münzen als auch der Gemmenschnitte.1 Diese spezifische Kompetenz liegt auch seinen drei Kapiteln „Über Edelsteine und Perlen“, „Über Trinkgeschirr aus Edelsteinen“ und „Über Siegelsteine“ zugrunde, mit denen er in seinem Buch über die Heilmittel beiderlei Glücks (De remediis utriusque fortunae) den Besitz von kostbaren Steinobjekten ausführlich kritisiert. Auch wenn dabei, entsprechend der theologischen Moraldidaxe des Gesamtwerks, gewissermaßen als Kehrvers das Lob der Schöpfung als Gottesbeweis dem materiellen Besitzstreben und der ablenkenden „Augenlust“2 gegenübergestellt wird, liefern die Kapitel doch zwischen den Zeilen eine differenzierte Aushandlung verschiedener Zugänge zu und Perspektiven auf kostbare Steinobjekte. Der umfangreiche lateinische Text der Heilmittel, der etwa zwischen 1350 und 1366 entstanden ist, gehört zu Petrarcas erfolgreichsten Werken; um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Italien längst als Dichter der Sonette an Laura bekannt, erlangte er damit als umfassend gebildeter Moralphilosoph auch jenseits der Sprachgrenzen Berühmtheit. Das Werk verbreitete sich rasch und wurde schnell übersetzt; noch im 14. Jahrhundert ins Französische, bald auch ins Italienische, Englische, Spanische, Tschechische und Ungarische. Besondere Bedeutung kommt der spröden, aber erstaunlich genauen deutschen Übertragung zu, die von Peter Stahel und Georg Spalatin unter beratender Unterstützung des Humanisten Sebastian Brant um 1520–1530 entstand und 1532 in Augsburg mit virtuosen interpretierenden Holzschnitten publiziert wurde, die dem (nach diesem Werk benannten) „Petrarca-Meister“ zugeschrieben werden.3 Durchaus gemächlicher hat sich die Forschung dem Werk genähert, erst seit 2002 liegt mit Christophe Carrauds Edition ein verlässlicher Text und eine kommentierte moderne Gesamtübersetzung (ins Französische) vor, zuletzt hat Giulia Perucchi die Kapitel über die Kunstgegenstände neu nach den Manuskripten herausgegeben und ausführlich diskutiert.4 Der umfangreiche Text der Heilmittel besteht aus zwei Büchern. Das erste, aus dem die hier zitierten Passagen stammen, behandelt die – scheinbaren – Glücksfälle des Lebens, deren Problematik die Sprecherin „Vernunft“ (ratio) mit den personifizierten Gefühlslagen „Freude“ (gaudium) und „Hoffnung“ (spes) erläutert, während das zweite die Unglücksfälle zum Thema hat und die Vernunft mit „Angst“ (metus) und „Schmerz“ (dolor) ins Gespräch kommen lässt. Es sind meist kurze Kapitel, rhythmisch strukturiert von den bewusst redundanten, unbelehrbaren Einwürfen der Emotionen gegen die historische, pragmatische und psychologische Belehrung der Vernunft. Ihre Äußerungen lesen sich dabei gelegentlich wie ein Florilegium von Autoritäten, aber Petrarca folgt dennoch einem neuartigen Anspruch: Zum einen verknüpfen sich die thematisch scheinbar isolierten Einzeldialoge an vielen Stellen miteinander, stellen dadurch als ein wiederkehrendes Thema die Skepsis an der Regulierungskraft der „Ratio“ heraus und heben die Rolle des Gewissens als Instanz persönlicher Urteilskraft hervor.5 Zum anderen beweist Petrarca nicht nur allgemeine Belesenheit, son-
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dern führt in seiner synchretistischen Engführung christlicher Moraldebatten mit stoischer und platonischer Philosophie auch Texte an, die zuvor kaum bekannt waren.6 Anschließend an seine Behandlung luxuriöser Häuser, fester Burgen und Möbel und bevor er die Vorzüge von Büchern, literarischer Autorschaft und geistiger Gaben dekonstruiert, widmet er im ersten Buch drei aufeinanderfolgende Kapitel den Edelsteinen und Perlen, den Gefäßen aus Edelstein und den geschnittenen Steinen. Die moraltheologische Rahmung gibt dabei die Stoßrichtung der Vernunft-Argumente vor: Edelsteingefäße gehörten nicht auf die Tische der Privathäuser, sondern auf die Altäre der Kirchen – und in solchen Zusammenhängen, etwa im Schatz von San Marco in Venedig, konnte Petrarca um 1350 tatsächlich neben Perlen und Edelsteinen auch besonders kostbare Trinkgefäße aus Sardonyx, Serpentin und Achat gesehen haben.7 Das theologische Leitthema bildet die Missachtung Gottes als Schöpfer der Natur, wobei sein „Künstlerverstand“ (artificis ingenium) bewusst gegen die „Hand“ der Gemmenschneider gesetzt wird, die Schönheit der natürlichen Farben der Welt hervorgehoben und Gott selbst als „Quelle und Ursprung des Lichts“ bezeichnet wird.8 Darauf antwortet die im Verlauf der kritischen Auseinandersetzung vorgenommene Ausdifferenzierung der verschiedenen Formen von Lichthaltigkeit und Glanz in Steinen, Perlen (und Glas).9 In den Blick geraten dadurch besonders die unterschiedlichen Formen formaler Attraktion zwischen reizvollem Naturbild und bewundertem Kunstwerk.10 Petrarca beginnt sein Kapitel über die Edelsteine und Perlen (I,37) mit einer beißenden Schilderung der zeitgenössischen Sammelmode, die vor allem die Problematik eines auf der Unkenntnis und Leichtgläubigkeit der Käufer aufbauenden Marktes hervorhebt. Petrarca hebt die absurden Preise und unverständlichen Hierarchien hervor und weist auf die Widersprüche zwischen der wankelmütigen Meinung des Volkes, den Schätzungen zeitgenössischer Gemmenschneider und den Schriftstellern der Antike hin, deren unnachvollziehbare Ordnungsprinzipien er zudem anprangert.11 Im Gegensatz zur sonst verbreiteten Materialismuskritik merkt Petrarca hier gerade den Verlust des Bezugs zum eigentlichen Material der Edelsteine an, wenn er betont, dass „der Ehrgeiz und die Blindheit“ dazu führten, „nicht die Gestalt der Sache, noch ihre Substanz, sondern ihren bloßen Namen“ mit hohen Preisen zu bezahlen.12 Auch Fälschungen seien hier ein Problem, gegen das nur Kennerschaft und der Rat von Experten helfe. Er berichtet von einem zeitgenössischen Käufer, der zurecht zögerte, „weil der Glanz, der die natürliche und übliche Art überstieg, bei jenem erfahrenen Kunsthandwerker, den er zu Rate gezogen hatte, den Verdacht erregte, es sei kein echter Edelstein, sondern ein Stück Glas oder etwas anderes von solcher Erscheinung, das nicht von der Natur gezeugt, sondern von ich weiß nicht was für einer bewundernswerten Kunst zusammengeschmolzen worden war.“ 13 Das damit angedeutete Spannungsverhältnis von Natur und Kunst sowie die ebenso spannungsvolle Bewunderung für künstlerische Verfahren, deren Anziehungs- und Täuschungskraft zugleich eigentlich in der Kritik steht, bestimmt das gesamte Kapitel über die Edelsteine sowie die beiden folgenden über die Gefäße aus Edelstein und über die Siegelsteine: Die Reize des
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Materials und seine natürliche, bildhafte Formgebung stehen im ständigen Wettstreit, aber auch im Übergang zum artificium der künstlerischen Bearbeitung. Diese Thematik findet sich bereits in seinen Quellen, vor allem in der Naturgeschichte von Plinius d. Ä., dessen Namen er auch immer wieder nennt.14 In der hier zitierten Passage gibt er zudem an, den antiken Autor Solinus wörtlich zu zitieren. Dieser gehört für ihn zusammen mit Plinius zu den „äußerst neugierigen Erforschern“ der Geographie und der damit verbundenen Phänomene.15 Von beiden besaß er auch Handschriften, die er nicht nur las, sondern – das zeigt zumindest seine berühmte Pariser Plinius-Handschrift – auch durchgearbeitet und mit Glossen versehen hat.16 Die zitierte Passage zum Ring des Pyrrhus mit seinen berühmten Naturbildern17 kann zeigen, wie er seine Quellen verdichtet und welche Themen er hervorhebt: Die einleitende Formulierung variiert Plinius’ wie immer knappe Einschätzung „nicht durch Kunst, sondern durch den Antrieb (oder: die Willkür) der Natur“18 seien die Bilder entstanden (non arte, sed naturae sponte) und lässt das Naturprodukt stärker als Werk eines gesteuerten künstlerischen Vorgangs erscheinen: „von der Hand keines Künstlers, sondern von der Natur alleine [geschaffen]“ (nulla penitus manu artificis sed nature). Im Anschluss daran zitiert er in der Tat wörtlich eine Formulierung aus den Collectanea rerum memorabilium des Solinus, die den selben Vorgang noch einmal aufnimmt und mit der Rede von den „eingeborenen“ Bildern eine besonders anthropomorphe und dynamische Konnotation einbringt.19 Insgesamt sind beide Vorlagen verschmolzen und verdichtet, wobei Petrarca für die Bildentstehung im Stein den pejorativen Begriff der „Flecken“ (macula), den Plinius für die Formung der Steingestalt verantwortlich macht, vermeidet und stattdessen – wie auch an anderen Stellen – die neutralere und bereits rezeptionsbezogene (zudem eher literarisch grundierte) Terminologie des Solinus übernimmt, der von notae, also vom Merkmal oder erkennbaren Zeichen spricht, mit den insignia und der bei Plinius angedeuteten Detaillierung verknüpft.20 Im Kapitel über die Siegelsteine [C] wird er den ästhetischen Erscheinungen von Natur und Kunst die hierarchisch unterschiedlichen Begriffe decus (wesenhafte, reizvolle, würdevolle Schönheit) und ornamentum (künstlerische Zier, Schmuck) zuordnen, wenn er die Vernunft sprechen lässt [C]: „Ich kann nicht leugnen, dass ein gewisser Schmuck der Kunst die Schönheit der Natur […] vergrößert.“ Petrarcas grundsätzliche materielle Kenntnis und ästhetische Achtung der Edelstein objekte und ihrer Künstler lässt sich gut der kritischen Stimme der „Vernunft“ ablauschen, die im selben Abschnitt sogleich zugibt, dass die subtile und attraktive Steinschneidekunst „zu den feinsinnigeren Werken des Verstandes gehört“ und daran eine kurze Geschichte der Künstlernamen von Pyrgoteles bis Dioskurides anschließt, die Plinius’ Kunstgeschichte explizit erweitert.21 Neben dem Ruhm und der historischen „Bewunderung“ einzelner Künstler deutet aber Petrarca auch technische Hintergründe wie die unterschiedlichen Schwierigkeiten der Bearbeitung aufgrund der Härtegrade der Steine an.22 Von besonderer Bedeutung ist Petrarcas Kritik an den angeblichen magischen Kräften der Edelsteine im Kapitel über die Trinkgefäße (B). Zum einen belegt er das Nebeneinander
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von mündlichen und schriftlichen Quellen, wobei er der Überlieferung der ‚Magier‘ insgesamt nur einen Wahrheitsgehalt von 1% zugesteht. Auch wenn seine Distanz zur Magie und Alchimie den von ihm bevorzugten patristischen Autoritäten entspricht, scheint er sich damit ebenso gegen mittelalterliche Lapidarien (etwa Isidor von Sevilla oder Marbod von Rennes, Liber de gemmis, um 1090)23 zu wenden, wie gegen den aktuelleren Versuch einer philosophischen Integration magischer Ansätze seit dem 13. Jahrhundert, wie sie Albertus Magnus in De mineralibus vornahm.24 Petrarcas ironisierende rhetorische Frage, wer alle „Kräfte und Tugenden“ der Steine aufzählen könne, mag sogar direkt gegen Albert gerichtet sein, der ebenfalls den virtus-Begriff stark machte und explizit magische Überlieferungen als Ergänzung und Korrektur der antiken Naturphilosophie heranzog.25 Petrarca hingegen setzt sich in schärfster Form vom magischen Wissen ab und wirft alle Erscheinungen auf den Umgang und die Konstitution der Rezipienten zurück. Dazu entwirft er eine knappe, aber scharfsinnige psychologische Analyse, mit der er die angebliche magische Kraft des Amethyst als psychosomatisch erklärt: Das reizvolle Stein-Bild im Auge (visus) und davon ausgehend das Zusammenspiel der Sinne und keine zauberische Kraft seien es, die dem Trinkenden seine Trunkenheit angenehmer erschienen ließe. Dieser Sinnenreiz kann sich mit der Kennerschaft zu einer zugleich affizierenden und analytischen Zuwendung zum Objekt verbinden, wie Petrarca gleich zu Beginn [A] in seiner kurzen Einlassung zum Umgang des Sammlers mit Edelsteinen andeutet: In Nachtwachen (invigilare) betrachtet dieser die Steine und betrachtet eingehend, wie die Bilder aus dem Zusammenspiel der Adern entstehen (internoscere). Selbst die Vernunft muss zugeben, dass sich die Leuchtkraft der Steine nicht gegen den Sinneseindruck (sensus) abstreiten lässt; der enge sinnliche Bezug von Stein und Betrachtenden wird durch eine Terminologie der Reize verdeutlicht und betreibt die Konstitution des bildhaften Eindrucks (I,17,1: species) der Edelsteine im Prozess der Betrachtung.26 Neben dieser intensivierten visuellen Rezeptionsebene verweist Petrarca an anderer Stelle kurz, aber doch explizit auf eine weitere: das Berühren der Steine. Als der französische König Jean II le Bon aus englischer Gefangenschaft befreit wurde, habe er „von einem Freund“ einen Rubin-Ring mit einem Stein zurückerhalten und ihn (auch wenn es ihm nichts gebracht habe) „gesehen und berührt wie ein Ding von unschätzbarem Wert“.27 Petrarca berichtet hier nichts Legendarisches, sondern aktuellste Politik, an der er selbst Anteil hatte. Denn niemand anders als er war jener „Freund“, der im Auftrag von Galeazzo Visconti Jean den Ring zurückgab und zwar als Schlusspunkt einer vielbeachtete Rede über das Schicksal und die Rolle des göttlichen Beistands.28 Die in der Berührung zugespitzte Interaktion von Betrachtenden und Steinobjekt und die von der „Freude“ hervorgehobene wirkästhetische Kategorie der „Seelenbewegung“ durch die Gemmen wird von der „Ratio“ zur körperlichen Bedrohung gesteigert: Die deutsche Übertragung des 16. Jahrhunderts hat dies in wörtlicher Drastik erfasst, wenn sie die Vernunft auf die Hingerissenheit der Freude antworten lässt: Ja sye schlagen darnieder sy […] unndertrucken / sy zertreten / unnd machen dich waichmuetig / und kraftlos […].29
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So sehr in den Heilmitteln die Vernunft als Hauptstimme auftritt, spiegeln gerade ihre Gegenstimmen Petrarcas eigene Bedürfnisse, Fehler und Einstellungen deutlich wider30 und beweisen eine zukunftsweisende Aufmerksamkeit für den ästhetischen und psychologischen Umgang mit Kunstwerken, die zuletzt auch – besonders anhand der Kapitel über die Tafelmalerei und Skulptur – von der Kunstgeschichte anerkannt wurde.31 Zwar hat der frühe Erfolg von Petrarcas De remediis, wie in manchen anderen Fällen, durch eine verengende Rezeption das innovative Potential seiner humanistischen Antikenkenntnis und seiner existentiellen Skepsis zurückgestutzt und mit Übersetzungen und Exzerpten wieder der normativen Gattung christlicher Moraldidaxe zugeschlagen.32 Die Ausführlichkeit und Eindringlichkeit aber, mit der er uns hier und in den Kapiteln zur Malerei und Bildhauerei das Verhalten von kompetenten begeisterten Betrachtenden und Kennern vor Augen führt, enthält durchaus bereits die renaissancehafte Kontur und Terminologie einer systematischen Rezeptionsästhetik. Wolf-Dietrich Löhr
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Petrarca, Fam., XVIII, 8, 48–52; deutsche Übersetzung nach Erika Zwierlein-Diehl: Antike Gemmen und ihr Nachleben, Berlin u. a. 2007, S. 265. Zu Petrarcas Kennerschaft und seinen Bemerkungen etwa zur schlechten Qualität der Münzbilder von Gordianus oder zu Poliklets Gemmen-Kunst (Fam. VIII, 49) siehe Valentina Brancone: Petrarca conoscitore, in: Polittico 3/2004, S. 31−47, hier S. 31–33. Die concupiscentia oculorum, das von Augustinus geprägte Konzept der negativ bewerteten Augenlust, hat Petrarca an verschiedenen Stellen in Glossen und Texten verhandelt; siehe dazu Maria Cecilia Bertolani: Dall’immagine all’icona, in: Quaderni d’Italia 11/2006, S. 183– 201, hier S. 187−188. Franciscus Petrarcha, Von der Artzney bayder Glueck / des guten und widerwertigen [Augsburg, Heinrich Steiner, 1532], hg. v. Manfred Lemmer, Hamburg 1984 (die hier behandelten Kapitel XLVr–LIv); siehe zum Petrarcameister: Norbert Schneider, Studien zum Werk des Petrarca-Meisters, Osnabrück 1986; Karl A.E. Enenkel: Pain as persuasion: the Petrarch master interpreting Petrarch’s De remediis, in: ders. u. Jan Frans van Dijkhuizen (Hg.): The sense of suffering: constructions of physical pain in early modern culture, Leiden 2009, S. 9−164. Pétrarque: Les remèdes aux deux fortunes, 2 Bde., hg., übers. und komm. v. Christophe Carraud, Grenoble 2002; Carrauds lateinischer Text (dessen Zählung dieser Beitrag übernimmt) beruht auf den Inkunabeln und nicht auf den Handschriften, an letzteren ist akribisch erarbeitet: Giulia Perucchi: Petrarca e le Arti Figurative: ‚De remediis utriusque Fortune‘, I 37–42, Florenz 2014, S. 150, S. 158–160, S. 168–169 u. S. 176. Vgl. zur Forschung und Rezeption der Heilmittel den umfassenden Eintrag bei Carmen Cardelle de Hartmann: Lateinische Dialoge 1200–1400: literaturhistorische Studie und Repertorium, Leiden u. a. 2007, R56B, S. 578–590. Die wichtige zweisprachige Auswahl-Edition − Francesco Petrarca: Heil-
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mittel gegen Glück und Unglück – de remediis utriusque fortunae, hg., übers. u. komm. v. Rudolf Schottlaender, München 1988 − enthält die hier zitierten Kapitel nicht. Siehe Karlheinz Stierle: Vernunft und Überschwang. Petrarcas De remediis utriusque fortunae und die Tradition des Stoizismus, in: Romanistisches Jahrbuch 59/2008, S. 157–192, hier bes. S. 188−189; jetzt auch in: ders.: Petrarca-Studien, Heidelberg 2012, S. 195–244. Stierle behandelt auch ausführlich die Vorbilder dieser Dialogform bei Cicero, Seneca und Albertino Mussato. Vgl. zur Rolle des Gewissens Timothy Kircher: On the two faces of Fortune, in: Petrarch. A Critical Guide to the Complete Works, hg. v. Victoria Kirkham u. Armando Maggi, Chicago u. a. 2012, S. 245–254, hier S. 249−250., der ebd. S. 151 auf die „jesting, ironic persona of ratio“ verweist. Cardelle de Hartmann 2007, S. 195 spricht vom „Charakter einer Anthologie von neuentdeckten antiken Autoren“; vgl. dazu auch Conrad H. Rawski: Petrarch’s scholarship in his De remediis utriusque fortune: a preliminary inquiry, in: The Classics in the Middle Ages. Papers of the Twentieth Annual Conference of the Center for Medieval and Early Renaissance Studies, hg. v. Aldo S. Bernardo u. Saul Levin, Binghamton 1990, S. 283−314. occupati semper ac trepidi sed exculti domorum mensas templorum instar altarium habeatis aureas atque gemmates; De rem., I, 38, 6; Petrarca ed. Carraud 2002, S. 196; Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 166. Das Inventar des Kirchenschatzes von San Marco von 1325 verzeichnet u.a. Vascula 28 de jaspide, cristallo, vitro, calcedonio et alabastro; siehe Rodolfo Gallo: Il Tesoro di San Marco e la sua Storia, Venedig u. a. 1967, S. 29; S. 276–287; die langen Aufzählungen des Inventars enthalten zahlreiche Erwähnungen von Saphiren, Smaragden, Amethyst und Rubinen, dazu große Mengen an Perlen. Die „Vernunft“ spricht in De rem., I, 39, 2, von Gott als fons ac principium lucis und fügt an: Rutili carbunculi, virides smaragdi, sereni saphyri, candide margarite sic alliciunt: nec solis fulgor aut siderum, nec terre viror aur arborum, nec serenitas aeris, nec candor nitidius tangit aurore! Stupetis facies manu hominum gemmis insculptas nec artificis stupetis ingenium, immo vero neque illm veneramini totque tam claris ad verum viis agnoscitis, qui gemmas ipsas quique ingenium, quu manus quique ocuos fecit quibus hec cernerentur et intelligerentur et fierent!, Petrarca ed. Carraud 2002, S. 200; Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 178; vgl. S. 211−212. (Kommentar). Etwas überraschend lässt Petrarca zu Beginn des Kapitels über die Trinkgefäße aus Edelsteinen die Vernunft „Glas“ als besonders schön und rein bezeichnen (res pulcherrima mundissimaque); I, 38, 2; Petrarca ed. Carraud 2002, S. 192; Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 162. Zu Petrarcas Lichtmetaphorik in De remediis und ihrer Verbindung zu Augustinus (etwa Conf., X, 34) siehe Alessandro Roffi: Imago loquens e imago eloquens nel de remediis Petrarchesco, Camenae 10/2012, S. 1−13 [Paris-sorbonne.fr/IMG/pdf/6-Alessandro_Roffi.dpf ], hier S. 6f. Die reichhaltige Terminologie Petrarcas in diesem und anderen Werken (siehe u. a. die vorangehende Fußnote) behandelt Brancone 2004, S. 41. Zu Petrarcas Auffassung der Naturnachahmung in der Kunst siehe besonders Roffi 2012, S. 4 und Pamela Stewart: L’arte e la natura nel gusto figurativo del Petrarca e del Boccaccio, in: Letteratura italiana e arti figurative, 3 Bde., hg. v. Antonio Franceschetti, Florenz 1988, Bd. 1, S. 41−60. Petrarca, De rem., I,37,6; dort hebt er die opinio des Volkes und den furor der Sammler hervor, aber auch die ordinis iniuria der antiken Texte in Bezug etwa auf Karfunkel und Diamant. Vgl. Petrarca ed. Carraud 2002, S. 182−183; Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 150.
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Francesco Petrarca 12 Petrarca, De rem., I,37,2: […] quenam scilicet ambitio et quanta sit cecitas non rei formam ad substantiam, sed nudum nomen tanta mercede captantium?, Petrarca ed. Carraud 2002, S. 180; Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 152. 13 Gefälschte (und eingefärbte) Edelsteine sind zu Petrarcas Zeit ein hochaktuelles Thema; im ausgehenden 14. Jahrhundert überliefert dazu etwa Jean d’Outremeuse Rezepte und bemerkt, dass kein Steinschneider oder Kenner die Fälschungen erkennen könne; siehe dazu Robert Halleux u. Anne-Françoise Cannella: Entre technologie et alchimie: de la teinture du verre à la fabrication des fausses pierres précieuses, in: Il colore nel medioevo – arte, simbolo, tecnica, hg. v. Istituto storico Lucchese, Lucca 1998 (Collana di studi sul colore 2), S. 41–58, hier S. 49. Vor allem in Venedig ist die Herstellung von Glaspasten und die Erzeugung künstlicher Edelsteine seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert nachweisbar, 1338 werden auch paternostri de vitro (ebd., S. 195) genannt, die Bernstein und Bergkristall nachahmten und bei Pilgern Verbreitung fanden; vgl. dazu Gabriella Tassinari: Osservazioni sulla produzione di paste vitree nel XVIII secolo e il caso di Venezia, in: Journal of Glass Studies 52/2010, S. 167–199, hier S. 193–196. Dass seit dem 14. Jahrhundert Rezepte für Fälschungen von Gemmen und Perlen zunehmen, unterstreicht auch Romano Silva: Il colore dell’inganno: gemme, perle, ambra e corallo artificiali secondo un manoscritto del XIII secolo, in: Il colore nel Medioevo – arte, simbolo, tecnica, hg. v. Istituto Storico Lucchese, Lucca 1996 (Collana di studi sul colore 1), S. 27−39, hier S. 31−32. Er zitiert aus einer Rezeptsammlung des 14. Jahrhundert Rezepte für die Herstellung verschiedener petre pretiose contrafacte sowie ein Verfahren, um die „Natursteine von den Gläsern“ (lapides naturales a vitris) zu unterscheiden; ebd., S. 32f. 14 Siehe dazu im vorliegenden Band den Plinius-Kommentar von Ilka Mestemacher. 15 Von Plinius Secundus et Solinius, curiosissimi talium scrutatores spricht Petrarca in De Vita Solitaria (II, 6,3) in Bezug auf die Völker am Rande der Welt; siehe dazu Maria Montana: Petrarca geografo, Palermo 1988, S. 82. 16 Auf eine Solinus-Handschrift in seinem Besitz verweist eine Glosse in seinem VergilCodex der Biblioteca Ambrosiana. Zur Plinius-Handschrift in Paris (Bibliothèque Nationale lat. 6802), Petrarcas Glossen und seiner Arbeit mit Plinius’ Terminologie siehe besonders Maurizio Bettini: Francesco Petrarca sulle arti figurative: tra Plinio e Sant’Agostino, Livorno 2002 [zuerst 1984], S. 41–63, vor allem in Bezug auf Malerei und Skulptur. 17 Vgl. dazu den Kommentar von Maurice Saß zu Camillo Leonardi in diesem Band. 18 Plinius, Nat. hist. XXXVII,5: Post hunc anulum regis alterius in fama est gemma, Pyrrhi illius, qui adversus Romanos bellum gessit. namque habuisse dicitur achaten, in qua novem Musae et Apollo citharam tenens spectarentur, non arte, sed naturae sponte ita discurrentibus maculis, ut Musis quoque singulis sua redderentur insignia. 19 Solinus, Coll. Rer mem., V 25: unde anulus Pyrrhi regis […], non ignobilis fama fuit, cuius gemma achates erat, in quo novem Musae cum insignibus suis singulae et Apollo tenens citharam videbantur, non inpressis figuris sed ingenitis. Hier nach C. Iulii Solini Collectanea rerum memorabilium, hg. v. Theodor Mommsen, Berlin 1895, S. 53. 20 Vgl. zu dieser Passage Brancone 2004, S. 43. Petrarca hatte von notae bereits in De rem., I, 38,2, gesprochen; die Übertragung von Stahel u. Spalatin spricht hier von Marckzeychen und bei I,38,12 von zaichen; Petrarcha [1532] 1984, XLVr; XLVIIr. Bei Solinus ist die dem oben zitierten vorangehende Passage mit mehreren Begriffen der literarischen Produktion und Rezeption
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versehen, von denen Petrarca aber nur notare als Substantiv umsetzt: Achaten lapidem […], quippe interscribentes eum venae naturalibus sic notant formis, ut cum optimus est varias praeferat rerum imagines. C. Iulii Solini Collectanea, 1895, S. 53. Petrarca wundert sich, dass Plinius Dioskurides nicht erwähnt (De rem., I,39,2), denn er kannte den Namen aus einem berühmten Text: der Augustus-Vita des Sueton; siehe dazu Brancone 2004, S. 41. De rem., I,39,2: amethistus inter lapidis vel impressioni facilis vel successu prosper. Siehe zur Tradition der magischen Kräfte Gerda Friess: Edelsteine im Mittelalter. Wandel und Kontinuität in ihrer Bedeutung durch 12 Jahrhunderte in Aberglauben, Medizin, Theologie und Goldschmiedekunst, Hildesheim 1980. Vgl. dazu den Kommentar zu Albertus Magnus in diesem Band. Albertus Magnus, Min., II,2,11: sicut docetur in magicis; siehe dazu und zum virtus-Begriff Udo Reinhold Jeck: Virtus Lapidum. Zur philosophischen Begründung der magischen Wirksamkeit und der physikalischen Beschaffenheit kostbarer Mineralien in der Naturphilosophie Alberts des Grossen, in: Early Science and Medicine 5.1/2000, S. 33−46, hier v. a. S. 37. De rem., I,37,12: Gemmas enim lucidas non nego, nec sensui contra dicam. Vgl. ebd., I,37,5: Gaudium: Excellentibus gemmis allicior sowie die im folgenden angeführten Stellen. De Rem., I,37,12. Siehe dazu Stierle 2008, S. 189f. Petrarcha [1532] 1984, XLVIr. De rem., I,37,7: Gaudium: Fulgide animum movent gemme […] Ratio: ‚Movent‘ ais: immo sternunt, calcant, molliunt et enervant. Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 154. Karlheinz Stierle nennt dies „ein verdecktes Selbstgespräch, in dem das Ich zwischen den Polen Passio und Ratio oszilliert“. Vgl. Stierle 2008, S. 183. Behandelt wurden bisher besonders die Kapitel zu den Tafelbildern und Skulpturen, siehe dazu Michael Baxandall, Michael: Giotto and the Orators. Humanist observers of painting in Italy and the discovery of pictorial composition 1350−1450, Oxford 1971, S. 140−141; Bettini 2002; Brancone 2004 liefert eine umfangreiche Analyse zu den Kapiteln über die Edelsteine und ihrer Terminologie; Christiane J. Hessler: Zum Paragone: Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreitkultur des Quattrocento, Berlin 2014, ad indicem; WolfDietrich Löhr: Die schönste Wissenschaft. Malerei und Zeichnung in den Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts, in: An der Wiege der Kunst. Italienische Zeichnungen und Gemälde von Giotto bis Botticelli, hg. v. Judith Claus u. Gudula Metze, Ausstellungskatalog, Residenzschloss Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2014, S. 11–19, hier S. 11−12.; vgl. nun auch die kommentierte Edition und Übersetzung: Francesco Petrarca on Panel Painting and Sculpture, hg. und übers. v. Gregor Maurach, komm. v. Claudia Echinger-Maurach, in: Fontes 78/2014, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2014/2209; die Quellen und Referenzen aller Kapitel über die Künste hat zuletzt Giulia Perucchi umfassend erarbeitet. Sie bleibt gleichwohl in Bezug auf eine positive Positionierung Petrarcas skeptisch (Petrarca ed. Perucchi 2014, S. 57−58); vgl. jetzt auch Wolf-Dietrich Löhr, Quanta vis: Fragmente einer Kunsttheorie in Petrarcas De Remediis?, in: Petrarca und die bildenden Künste. Dialoge – Spiegelungen – Transformationen, hg. von Sebastian Schütze und Maria Antonietta Terzoli, im Druck. Cardelle de Hartmann 2007, S. 195−196.
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Il libro dell’arte um 1400 Capitolo LXXXVIII. El modo del ritrarre una montagnia del naturale Se vuoi pigliare buona maniera di montagnie e ·cche paino naturali, togli di pietre grandi, che sieno scogliose e non pulite; e ·rritra’ne del naturale, daendo i lumi e schuro secondo che ·lla ragione t’acchonsente. Cennino Cennini: Il libro dell’arte, hg. v. Fabio Frezzato, Vicenza 2003 (I colibrì), S. 129, LXXXVIII.
Kapitel LXXXVIII. Die Art, wie man ein Gebirge naturgetreu zeichnet Wenn Du Gebirge in einer guten Weise erfassen willst und welche naturgetreu erscheinen sollen, so nimm große Steine, die rau und nicht gereinigt sein sollen; und zeichne sie nach der Natur, indem Du die Lichter und den Schatten so setzt, je nachdem wie es Dir logisch erscheint. Übersetzung: Johannes Tripps
Kommentar Zitiertes Kapitel aus dem um 1400 verfassten Libro dell’Arte des Malers Cennino Cennini lässt die kunsthistorische Forschung lange schon durch ein „Prisma aus Fragen“ fallen, dessen „feinpolierte Flächen“ die Entwicklung der Abstraktion und die Klärung des Interesses der Malerei an analogen Formen in der Natur bilden.1 Das dadurch erhaltene Spektrum an Antworten erstreckt sich zeitlich von der Antike bis hinauf in die Moderne; dabei schwingt der Satz des macrocosmos in microcosmo wie ein Kontrapunkt mit und bindet so heterogene Ansätze zu einem inhaltlich homogenen Ganzen zusammen.2 Dem thematischen Anliegen des vorliegenden Bandes folgend, wird Cenninos Anweisung in den kommenden Abschnitten jedoch pragmatisch gewichtet, denn der Meister bringt mit seinem Kapitel LXXXVIII einen ganz anderen ‚Stein‘ ins Rollen: Er gibt einen unvergleichlichen Einblick in den experimentellen Entstehungsprozess eines Bildes in einer Malerwerkstatt des Trecento, vor allem wenn seine Anweisung vor dem Hintergrund erhaltener Bilder gespiegelt wird, die Berge bzw. Gebirge zeigen, bei denen Steine als pars pro toto verwendet wurden. Cenninos Libro dell’Arte sticht nämlich innerhalb der Gattung ‚Künstlertraktate‘ durch das Alleinstellungsmerkmal der Anwendungsorientierung hervor. Das geht vom Trainieren des Zeichnens, des Pausens, des Malens auf Glas, Holz, Textil oder Wand bis hin zu Naturabgüssen von Mensch und Tier.3 Ergo werden ikonographische oder gar naturphilosophische Fragen u.ä. im vorliegenden Beitrag völlig ausgeblendet, denn sie spielen in Cenninos Opusculum keine Rolle.
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Die zeitlichen Koordinaten für die zu analysierenden Werke definiert der Maler selbst: Zunächst in der Widmung seines Büchleins, die nicht nur Gott, der Jungfrau Maria sowie verschiedenen Heiligen gilt, sondern parithetisch jenen Meistern, vor denen er sich in Dankbarkeit für das Erlernte verneigt: „aus Hochachtung vor Giotto, vor Taddeo und vor Agnolo, dem Lehrer des Cennino“4; wenige Abschnitte später baut er daraus – ad maiorem propriam gloriam – folgende Künstlergenealogie: „So wurde ich in besagter Kunst zwölf Jahre lang von meinem Meister Agnolo, Sohn des Taddeo aus Florenz, unterwiesen, der genannte Kunst wiederum von seinem Vater Taddeo erlernt hatte; eben diesen Vater hielt Giotto über den Taufstein und er blieb 24 Jahre lang dessen Schüler.“5 Somit spannt Cennino einen zeitlichen Bogen von über einhundert Jahren in der toskanischen Malerei hinab in die Zeit von Duccio und Giotto. Ob ihn dabei das berühmte Zitat nach Bernhard von Chartres leitete, wäre naheliegend, muss vorerst aber mangels Indizien dahingestellt bleiben: „Wir gleichen gewissermaßen Zwergen, die auf Schultern von Riesen sitzen, so dass wir zwar mehr und weiter sehen als sie; aber nicht etwa Dank einer größeren Sehschärfe, sondern weil wir durch ihre gewaltige Größe aufsteigen und empor getragen werden.“6 Schriftquellen hinsichtlich Kunsttheorie und künstlerischer Techniken vor 1400 fließen noch nicht in jenem Maße, wie das für die Zeit danach gilt; darum treten Bilder und die Kompositionsanalyse der in ihnen dargestellten Berge und Gebirge in den folgenden Abschnitten an ihre Stelle. Eine solche Quelle par excellence bildet Duccios Versuchung Christi in der Frick Collection in New York (Abb. 4). Ursprünglich war das Täfelchen Teil der Erzählung der Predellenrückseite der zwischen 1308 und 1311 geschaffenen Maestà für den Hochaltar des Sieneser Domes.7 Da die Ikonographie, wie eingangs betont, zur Fragestellung thematisch nichts beiträgt, sei die Darstellung des Hinwegweisens des Satans durch Christus ausgeklammert, denn das eigentlich Revolutionäre in diesem 43 × 46 cm großen Bildchen liegt in der Erschließung der Tiefenräumlichkeit durch die abgestufte Farbigkeit der hintereinander geschobenen Steinbrocken, aus denen sich die Gebirgskette zusammensetzt. Diese Gebirgskette scheint zunächst jener Regel zu folgen, die Cennino Cennini im oben zitierten Kapitel LXXXVIII seines Libro dell‘arte beschreibt. Lassen wir uns aber von den Steinbrocken, die Duccio hintereinander staffelt, nicht ablenken, sondern konzentrieren wir uns darauf, dass Cennino die naturnahe Wirkung eines Gebirges nicht allein aus der Form der rauen, ungeputzten Steine ableitet, sondern auch durch Licht- und Schattenführung erreicht. Die Schlüsselstelle bei Cennino Cennini sei darum nochmals wiederholt: „Und zeichne sie nach der Natur, indem Du die Lichter und den Schatten so setzt, je nachdem wie es Dir logisch erscheint.“8 Analysieren wir mit diesem Wissen nochmals Duccios Bergkette, dann springt es einem ins Auge, dass der Künstler die Gebirgsschichten nach den Helligkeitswerten von Farben stuft und dadurch Tiefenwirkung und Atmosphäre erreicht: Die vordersten Gebirgsklüfte sind hell, die mittleren etwas dunkler und die zuhinterst liegenden völlig dunkel gehalten. Und prompt kehrt der beschriebene Sachverhalt in Cenninos Traktat in Worte gekleidet wieder: „Kap. LXXXV. Über die Art der Farbgebung eines Gebirges in Fresco- oder Seccotechnik.
Il libro dell’arte
Abb. 4 Duccio di Buoninsegna: Versuchung Christi, 1308–1311, Tempera auf Holz, 43 × 46 cm, New York, The Frick Collection
Wenn Du ein Gebirge in Fresco- oder Seccotechnik ausführen willst, so mische ein Verdaccio aus einem Teil Schwarz und zwei Teilen Ocker. Dann stufe diese Farben folgendermassen ab: Wenn Du in Freskotechnik malst, stufe mit Weiß ohne Tempera; arbeitest Du in Secco-Technik, stufe in Bleiweiß und Tempera. Dann modelliere die Berge mit Hilfe von Schatten und Höhungen genau wie bei Figuren. Und wenn Du Berge zu malen hast, die in der Ferne liegen, dann mische die Farben dunkler aus; sollen die Berge jedoch nah erscheinen, dann mische die Farben heller aus.“9 Duccios Bildchen geht Cenninos Traktat knapp 100 Jahre vorneweg. Folglich schreibt Cennino keinen eigenen kunsttheoretischen Einfall zur Farbperspektive nieder, sondern etwas Altbewährtes.10 Diese Aussage erfährt Bestätigung durch folgende Zeilen im Kapitel 14 des 1348−1350 vom Dominikaner Konrad von Megenberg verfassten
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Buch der Natur: „Vom Abgrund des Himmels“: „Setzt man Schwarz in Weiß, so scheint das Schwarz viel weiter von uns entfernt zu sein als das Weiß. Deshalb setzen die Maler, wenn sie Schatten oder dunklere Partien malen wollen, rein weiße Farbe gegen Schwarze; die schwarzen Stellen erscheinen uns dann neben den weißen vertieft.“11 Genau diesem Ziel dient das Gebirge mit seiner Dreischichtung von Brauntönen in Duccios Versuchung Christi. Der gleiche Kanon kehrt bei Giotto wieder: Die Felsen des Kalvarienberges seiner Croce dipinta zu Santa Maria Novella in Florenz sind farblich genau nach diesen Regeln abgestuft, wodurch die Schädelstätte dreidimensional wirkt.12 Doch zurück zu Duccio. Dessen schroffes Wackersteingebirge formen Flüsse, die tiefe Klüfte in das Gebirgsmassiv schneiden. Genau hinter der hellen Felskuppe, auf der Christus steht, stürzt ein Fluss den Berg hinab, rauscht unter einer Brücke hindurch und umfließt als Wassergraben die Mauern der in Rosatönen gehaltenen Stadt am linken unteren Bildrand. Es scheint, als habe der Maler hier Sätze aus dem Kapitel Über die Entstehung der Berge und ihre Korrosion des Dominikaners Restoro d’Arezzo ins Bild gesetzt; das Kapitel gehört in Restoros 1282 vollendetes Werk La composizione del mondo. Die betreffenden Zeilen muten jedenfalls wie eine Bildbeschreibung von Duccios Darstellung an: „Und so sehen wir die Entstehung der Berge und ihre Korrosion, wie sie entstehen und vergehen. Und wir sehen das Wasser, das die Erde wegwäscht und von den Bergen herabspringt und mit sich die Steine treibt und damit die Täler auffüllt und die Auen anhebt; und auf der anderen Seite sehen wir das Wasser, welches die Täler aushöhlt und einschneidet und bildet, und ist einmal das Tal eingeschnitten, so bleibt der Berg […]“.13 Was nun sowohl die farbliche als auch die kompositorische Staffelung der Berge betrifft, die beide auf tiefenräumliche Wirkung hin angelegt sind, so bedient sich Duccio offensichtlich jener „aneinandergereihter und in einer bestimmten Ordnung dazwischen liegender Körper“, die Alhazen in seinem Opticae Liber Secundus (1021) als Sehhilfen für das Auge ausführlich beschreibt. Diese Beschreibung floss – teilweise wortwörtlich – in die Perspectiva communis von Johannes Peckham sowie in Lorenzo Ghibertis Dritten Kommentar ein, wie Klaus Bergdolt nachwies.14 Es geht um die Entfernungswahrnehmung des Auges mit Hilfe von Zwischenkörpern, die sich kontinuierlich vom Standpunkt des Betrachters aus bis zum entferntesten Sehobjekt hin verfolgen lassen: Nur über eine mäßige Entfernung könne – so Alhazen – das Auge ein Urteil abgeben, und zwar mit Hilfe aneinandergereihter und in einer bestimmten Ordnung dazwischen liegender Körper; diese corpora continuata interiacentia können Berge, abgegrenzte Felder, Wolken, hintereinander gestufte Hügel etc. sein. In der Raumdarstellung Ghibertis spielen sie eine wichtige Rolle, denn sie stellen eine Möglichkeit dar, Tiefenschichtungen zu zeigen und erscheinen häufig in Verkürzung.15 Doch beschäftigt sich offensichtlich bereits Duccio mit diesen corpora continuata interiacentia und weiß sie kompositorisch ganz selbstverständlich einzusetzen, wie sein Predellenbildchen beweist. Analysieren wir auf der Basis des bisher Zusammengetragenen das Œuvre Giottos, den Cennino seinen künstlerischen „Urahn“ nennt: An der inneren Ostwand der Oberkirche von
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San Francesco in Assisi sitzt links neben der Tür das Fresko mit der Darstellung des Quellwunders des hl. Franz.16 Thematisch zeigt es Kapitel 17 des zweiten Buches der Franziskusvita des Thomas von Celano, welches in die Legenda Maior des Bonaventura (approbiert 1263) Eingang fand.17 Lassen wir die Erzählung beiseite und betrachten das Gebirge, so zeigen die Felsen Partien, welche gleißend das Licht reflektieren, und Partien, welche im Schatten oder im Halbschatten liegen. Die die Oberfläche des Felsen scheinbar modellierende Lichtquelle liegt außerhalb des Bildes, nämlich links oben über dem Laufgang der Nordwand; dort sitzt jenes Fenster, auf dessen Lichteinfall hin Licht und Schatten im Fresko des Quellwunders konzipiert sind. Wolfgang Schöne nannte eine solche Lichtquelle „Standortlicht“ und dachte, er habe die ersten Beispiele dafür in Giottos Zyklen der Kapellen der Peruzzi (ca. 1311−1315) und der Bardi (ca. 1330−1334) zu Santa Croce in Florenz gefunden.18 Das Fresko des Quellwunders in der Oberkirche in Assisi, unter dem Pontifikat Nikolaus IV. entstanden (1288−1292), ist jedoch gut 20 beziehungsweise 40 Jahre älter als die Fresken in den Kapellen zu Santa Croce.19 Schlagen wir den Bogen hinauf zu Cennino Cennini, dann kehrt genau diese Konzeption in seinem Traktat wieder: „Sollte es Dir aber umständehalber passieren, wenn Du Kapellen ausmalst […], dass Du nicht selbst den Lichteinfall bestimmen kannst aufgrund des durch die jeweiligen Fenster einfallenden Lichtes, dann musst Du Deinen Figuren […] nach der jeweiligen Stellung dieser Fenster und ihres Lichteinfalls […] ihre Körperlichkeit (rilievo) geben. Also bringe entsprechend des Einfalls des Lichtes, aus welcher Richtung es auch immer komme, Deine Lichter und Schatten […] an […] Und wenn der Lichteinfall aus einem anderen Fenster günstiger scheint, dann folge stets dem besseren Lichte […]“.20 Diese Faszination am Licht und seiner Reflexion kommt in den Fresken zu San Francesco, der Mutterkirche des Franziskanerordens, nicht von ungefähr: Die wichtigsten und bis hinauf in die Renaissance gültigen Lehrbücher über die prospettiva verfassten allesamt franziskanische Gelehrte während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Roger Bacon (um 1220−1292), Witelo (geb. nach 1220, gest. um 1280/1290) und Johannes Peckham (um 1240−1292). Unter prospettiva ist – nota bene – keine auf Fluchtpunkte hin konstruierte Zentralperspektive im Sinne Brunelleschis oder Albertis zu verstehen, sondern die Lehre von der Optik. Letztere umfasst Sehtheorie, Augenanatomie, Lichttheorie, Spiegellehre und Brechungsgesetze.21 Bis hin zu Lorenzo Ghibertis Drittem Kommentar (um 1450) gilt der Spiegellehre und den Reflexionen des Lichts von unterschiedlich geformten Körperoberflächen großes Interesse. Von Bacon bis Witelo ist der eigentliche Anlass der Erforschung der Optik zunächst rein theologisch: Wie das Licht von einem Sehobjekt direkt auf den „Kristall“ im Auge fällt, so trifft die Gnade Gottes unreflektiert und ungebrochen die menschliche Seele. Die Theorie der Lichtfortpflanzung, die Spekulation über den Sehvorgang, dient zur Erklärung der an sich unbegreiflichen Tatsache des göttlichen Gnadenaktes. Bacon folgt hier seinem Lehrer Grosseteste, für den Licht und Gnade Synonyme darstellen.22 In seinem 1267 an Papst Clemens IV. nach Viterbo übersandten Opus Maius setzt sich Bacon in breiter Weise mit der Veränderung von Farbwert und Lichtwert auseinander. Jeder
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Punkt eines Sehobjektes verursacht eine ihm entsprechende Veränderung des ihn unmittelbar umgebenden Mediums, wie Luft, Wasser oder Erde etc. im Farb- und Lichtwert, und dieser im angrenzenden Bereich, bis schließlich diese Kette aufeinanderfolgenden Veränderungen das Auge erreicht, d.h. diesem ein Bild, eine – so wörtlich – species übermittelt.23 Diese Gedanken korrigiert und baut um 1277 Johannes Peckham in seiner Perspectiva communis weiter aus und sie wird bis hin zu Leonardo das Vademecum bleiben, wenn es um Licht, Lichtausbreitung, Brechung und Reflexion von Licht geht.24 Schon dieses kurze Fadenschlagen verdeutlicht, wie intensiv jene Forschungen im Franziskanerorden blühten, die dem Licht und dessen Reflexion, dem Sehvorgang und der Räumlichkeit galten. Und da Cennino sich als „Urenkelschüler“ von Giotto sieht, der in seinen Fresken in der Oberkirche zu San Francesco in Assisi all das umsetzt, gilt für Cenninos Libro dell’arte einmal mehr das bereits zitierte nos esse quasi nanos gigantium humeris insidientes. Schlagen wir zum Ende den Bogen ein letztes Mal von Cennino aus um 100 Jahre zurück, was die Darstellung von Wackersteingebirgen im Verein mit Licht und dessen Reflexion betrifft, nämlich in die 1328−1330 von Taddeo Gaddi ausgemalte Cappella Baroncelli zu S. Croce in Florenz: Bei der Darstellung der Verkündigung an die Hirten ist es der Engel in seiner Gloriole, der die gesamte Szene erhellt. Die eigentliche Dramatik des Hell-Dunkels und die in überirdischem Licht changierenden Farben des Gebirges von Grellgelb über Orange nach Braun schlagen den Betrachter viel mehr in ihren Bann als die geblendet gestikulierenden Hirten, die schlaftrunkenen Schafe oder der nach dem Engel knurrende Hirtenhund.25 Genau wie in Assisi herrscht auch hier wieder größtes Interesse an Licht, an seiner Ausbreitung und am Schatten, eben an jenem Verhältnis von lux und lumen, wie es die Quellen nennen. Lux ist die Lichtquelle, in diesem Fall das göttliche Licht, und lumen das fortgeleitete Licht, das im göttlichen Gnadenakt auf den Menschen fällt. So führt Witelo in Vorwort zu seiner Perspectiva (vollendet 1270/1278) aus, dass alle Dinge Einströmungen aus dem Göttlichen darstellen „[…] deren Einströmungen […] das göttliche fortgleitende Licht ist Anfang, Mitte und Ende […]“.26 Der franziskanische Berater, der Taddeo Gaddi bei der Konzeption des Freskos zur Seite stand, muss massiven Anstoß für die Darstellung des Lichtes und seiner Reflexion gegeben haben. Dass es Taddeo um die Raffinesse des Spiels mit realer und künstlicher Lichtquelle geht, zeigt die Position des Engels, der dicht neben dem einzigen Fenster sitzt, das die Kapelle beleuchtet.27 Und wieder sind es die Felsen und die Nuancierung ihrer Farben, deren Spiel des Hell-Dunkels der gesamten Szene farbperspektivisch Tiefe verleiht. Und wieder klingt einem Cenninos Satz über das Erzielen einer natürlichen Wirkung im Ohr: „Und zeichne sie nach der Natur, indem Du ihnen Licht und Schatten verleihst, je nachdem wie es Dir logisch erscheint.“ Dass dieses ganze Wissen um die prospettiva, welches die franziskanischen Gelehrten zu Tage förderten, nicht allein für ihresgleichen gedacht, sondern dass damit ein Einfluss auf die Malerei klar intendiert war, schreibt Roger Bacon in seinem Opus Maius expressis verbis: „Oh wie unaussprechlich schön würde die göttliche Weisheit leuchten und wie unendlich sich
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der Nutzen vermehren, wenn all die in der Schrift enthaltenen geometrischen Dinge körperhaft gestaltet unseren Augen vorgesetzt würden! […] Daher erachte ich nichts eines in der Weisheit Gottes Gelehrten würdiger als die augenfällige Darstellung dreidimensionaler Formen dieser Art. Möge der Herr [der Papst] doch befehlen, dass sie [wieder] geschieht. Es gibt drei oder vier Männer, die dazu wohl in der Lage wären […]“. 28 Bacon meinte mit diesen Männern keine Maler, sondern in der perspectiva bewanderte Theologen wie sich selbst, Johannes Peckham, Witelo und andere.29 Verknüpfen wir am Ende dieses Beitrages sämtliche Stränge, so führen sie zu folgendem Ergebnis: Seit dem späten Duecento kommt der Darstellung von Bergen und Gebirgen auf der Basis des Abzeichnens von Steinen weit mehr als nur attributive oder ikonographische Funktion im Sinne einer Ortsangabe zu. Im Sinne des pars pro toto schichten die Maler Steinbrocken und experimentieren an ihnen mit Lichteinfall, Schatten und Helligkeitswerten von Farben sowie der daraus resultierenden Tiefenwirkung. Die von Cennino empfohlenen pietre grandi, che sieno scogliose e non pulite dienen dabei als corpora continuata interiacentia et ordinata, mit deren Hilfe man dem Auge des Betrachters ein Gemälde räumlich erschließt. Bei keinem anderen Bildgegenstand wird derart intensiv über Oberflächenwirkung, Licht und Schattenwurf samt Erschließung des Bildraumes nachgedacht und theoretisiert wie bei der Darstellung von Berg und Gebirge. Jedoch erst der Umkehrschluss macht die ganze Dimension jenes intellektuellen Anspruchs deutlich, welchem ein Bild bereits an der Schwelle zum Frühhumanismus eines Francesco Petrarca zu genügen hatte, wollte es dem Bildungshorizont des Betrachters bzw. des Auftraggebers standhalten und damit deren Erwartungshaltung erfüllen. Johannes Tripps
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Zu Cennini vgl. auch den Kommentar von Spike Bucklow in diesem Band. Siehe den Überblick bei Alexander Perrig: Landschaftsmalerei in Mittelalter und Renaissance oder die Schwierigkeit, mit Bergen und Flüssen ins Reine zu kommen, in: Erde, wissenschaftliche Redaktion Werner Busch, Bonn 2002 (Schriftenreihe Forum 11, Elemente des Naturhaushalts III), S. 453−482; des weiteren Johannes Tripps: Nimm Steine, rauh und nicht gereinigt: Cennino Cennini und das Gebirge als kunsttheoretisches Studienobjekt in der Malerei des Trecento, in: Fantasie und Handwerk: Cennino Cennino und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr u. Stefan Weppelmann, Ausstellungskatalog, SMB Gemäldegalerie Berlin, München 2008, S. 109−119; Johannes Tripps: Nordisches Spätmittelalter oder italienische Frührenaissance? Zum Rätsel der Wolkenbilder auf den Cäsar-Tapisserien des Historischen Museums in Bern, in: Norberto Gramaccini u. Marc Carel Schurr (Hg.): Kunst und Kulturtransfer zur Zeit Karls des Kühnen, Bern u.a. 2012, S. 85−110; Turner – Hugo – Moreau. Die Entdeckung der Abstraktion, hg. v. Raphael Rosenberg u. Max Hollein, Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M., München 2007.
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Cennino Cennini 3 Cennino Cennini: Il libro dell’arte, hg. v. Fabio Frezzato, Vicenza 2003 (I colibrì), S. 23. orberto Gramaccini: Das genaue Abbild der Natur, Riccios Tiere und die Theorie des NaturN abgusses seit Cennino Cennini, in: Natur und Antike in der Renaissance, hg. v. Herbert Beck u. Peter C. Bol, Ausstellungskatalog, Liebieghaus, Frankfurt a.M. 1985, S. 198−225. 4 a riverenza di Giotto, di Taddeo e d’Agnolo, maestro di Ciennino, vgl. Cennino Cennini, Ausg. Frezzato, 2003, S. 61. 5 Kap. I: fui informato nella detta arte XII anni da Agnolo di Taddeo da Firenze, mio maestro, il quale imparò la detta arte da Taddeo suo padre; il quale suo padre fu battezato da Giotto e fu suo discepolo anni ventiquattro; zum gesamten Sachverhalt siehe den grundlegenden Beitrag von WolfDietrich Löhr u. Stefan Weppelmann: „Glieder in der Kunst der Malerei“ – Cennino Cenninis Genealogie und die Suche nach der Kontinuität zwischen Handwerkstradition, Werkstattpraxis und Historiographie, in: Fantasie und Handwerk: Cennino Cennino und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr u. Stefan Weppelmann, Ausstellungskatalog, SMB Gemäldegalerie Berlin München 2008, S. 13−43. 6 nos esse quasi nanos gigantium umeris insidientes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus aucumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea; vgl. Johannes von Salisbury, Metalogicon, 3, 4, 46−50, um 1120; vgl. Tobias Leucker: „Zwerge auf den Schultern von Riesen“. Zur Entstehung des berühmten Vergleichs, in: Mittellateinisches Jahrbuch 32/1997, S. 71−76. 7 Florens Deuchler: Duccio, Mailand 1984, S. 159. 8 Zu den Begrifflichkeiten „Naturnachahmung“ sowie „Licht und Schatten“ bei Cennino vgl. Peter Seiler: ‚trovare cose non vedute‛. Naturnachahmung und Phantasie in Cennino Cenninis Libro dell’arte, in: Philipp Brüllmann, Ursula Rombach u. Cornelia Wilde (Hg.): Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen, Berlin u. a. 2014 (Transformationen der Antike 31), S. 111−154, bes. S. 114−125. 9 Kap. LXXXV: Del modo del colorire una montagnia in frescho o in seccho. Se vuoi fare un montagnia in frescho o in seccho, fa’ un colore verdaccio, di negro una parte, d’ocria le due parti. Digrada i colori, in frescho di biancho senza tempera, e in seccho con biaccha e con tempera, et da’ lor quella ragione che dai a una fighura di schuro o di rilievo. E quando ài a ·ffare le montagnie che paiano più a lunghi, più fa’ schuri i tuo colori; e quando le fai dimostrare più apresso, fa’ i colori più chiari. 10 Uta Feldges: Landschaft als topographisches Portrait. Der Wiederbeginn der europäischen Landschaftsmalerei in Siena, Bern 1980, S. 20. 11 Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur, hg. v. Franz Pfeiffer, Hildesheim 1962, S. 78–79. 12 Max Seidel: „Il crocifixio grande che fece Giotto“. Problemi stilistici, in: ders. u. Marco Ciatti: Giotto e la Croce di Santa Maria Novella, Florenz 2001, S. 96f., Abb. 25 u. 32; S. 105, Abb. 42. Zur Entstehung des Kreuzes nach 1288 aber vor 1301 siehe Miklós Boskovits: Giotto di Bondone, in: Dizionario Biografico degli Italiani, hg. v. Istituto della Enciclopedia Italiana, Bd. 55, Rom 2000, S. 404, s. v. „Giotto di Bondone“ (Miklós Boskovits). 13 Übersetzung des Autors nach Restoro d’Arezzo: La composizione del mondo colle sue cascioni, hg. v. Alberto Morino, Florenz 1976 (Scrittori italiani e testi antichi pubblicati dall’Accademia della Crusca), S. 127: E vedemo la generazione de li monti e la loro corruzione, com’elli se pono fare e desfare. E noi vedemo l’acqua delavare la terra e scéndare de li monti colle petre aseme e riempiere le valli e inalzare lo piano; e da l’altro lato vedemo l’acqua cavare e encupare e fare le valli, e fatta la valle remane lo monte […].
Il libro dell’arte 14 corpora interiacentia continuata et ordinata; Klaus Bergdolt: Der dritte Kommentar Lorenzo Ghibertis, Naturwissenschaften und Medizin in der Kunsttheorie der Frührenaissance, Heidelberg, Univ. Diss. 1986, Weinheim 1988 (Acta Humaniora), S. LXXVIII u. LXXXI−LXXXVII. 15 Bergdolt 1988, S. LXXCVIII−LXXIX. Alhazen: Opticae thesaurus Alhazeni Arabis libri septem, eiusdem Liber de crepusculis et nubium ascensionibus, hg. v. Friedrich Risner, Basel 1572 (Nachdruck New York 1972), S. 39−42. 16 Bruno Zanardi: Il cantiere di Giotto, Le Storie di san Francesco ad Assisi, Introduzione di Federico Zeri, note storico-iconografiche di Chiara Frugoni, Mailand 1996, S. 21−23 u. S. 206−208. 17 Thomas von Celano: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi, Einführung, Übersetzung, Anmerkungen von Engelbert Grau, 3. Aufl., Werl 1980 (Franziskanische Quellenschriften 5), S. 272, Kapitel XVII. 18 Wolfgang Schöne: Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954, S. 88. Götz Pochat: Figur und Landschaft, Eine historische Interpretation der Landschaftsmalerei von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin u. a. 1973, S. 195−198. Zur Datierung der Fresken in den Kapellen der Peruzzi und der Bardi siehe Dizionario Biografico degli Italiani, hg. v. Istituto della Enciclopedia Italiana, Bd. 55, Rom 2000, S. 411−412 (Peruzzi), S. 417−418 (Bardi), s. v. „Giotto di Bondone“ (Miklós Boskovits). 19 Zur Datierung des Franziskuszyklus der Oberkirche in Assisi siehe Donald Cooper u. Janet Robson: Pope Nicholas IV and the Upper Church at Assisi, in: Apollo 157/2003, No. 492, S. 31−35. Bergdolt 1988, S. LVI. Luciano Bellosi: La barba di San Francesco, in: ders.: La pecora di Giotto, Turin 1985, S. 25−30. 20 Kap. VIIII: Come tu de’ dare, [secondo] la ragion della lucie, chiaro e schuro alle tue fighure, dotandole di ragione di rilievo. Se per ventura t’avenisse, quando disegnassi o ·rritraessi in chappelle, o coloressi inn-altri luoghi chontrarii, che non potessi avere la luce dalla man tua a ·ttuo modo, séguita di dare el rilievo alle tue figure overamente disegnio, secondo l’ordine delle finestre che ·ttruovi ne’ detti luoghi che t’ànno a ·ddare la luce. E chosì, seguitando la luce da qual mano si sia, da’el tuo rilievo e lo schuro secondo la ragion detta … E ·sse la luce prosperasse cun finestra che fusse magior d’altre che fusse ne’detti luoghi, seguita sempre la più excellente lucie e vonglia con debito ragionevole intenderla e seguitarla. Siehe auch Cennino Cennini, da Colle di Valdesa: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei, hg. u. übers. v. Albert Ilg, Wien 1888, S. 8−9, Kap. 9. 21 Paul Hills: The Light of Early Italian Painting, New Haven u. a. 1987, S. 64−71. Bergdolt 1988, S. XLVI. Ulrike Ilg: La scoperta della natura in pittura, in: Max Seidel (Hg.): Storia delle Arti in Toscana, Il Trecento, Florenz 2004, S. 172−173. 22 Bergdolt 1988, S. IL. 23 Ebd., S. L. 24 Ebd., S. L−LI. 25 Hills 1987, S. 75−93. Schöne 1954, S. 128−129 u. S. 178. 26 quarum influentiarum […] divinum lumen est principium, medium et finis […]; vgl. Bergdolt 1988, S. LXV. 27 Pochat 1973, S. 203−204. 28 O quam ineffabilis luceret pulchritudo sapientiae divinae et abundaret utilitas infinita, sic haec geometricalia quae continentur in scriptura, figurationibus corporalibus ante nostros oculos ponerentur […] Et ideo nihil reputo studioso in sapientia Dei, quam huiusmodi figurationes geometricas ante eius
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Cennino Cennini oculos exhiberi. Utinam iubeat dominus quod haec fiant.; zum Zitat wie zum gesamten Sachverhalt siehe Klaus Bergdolt: Bacon und Giotto: Zum Einfluß franziskanischer Naturphilosophie auf die Bildende Kunst am Ende des 13. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 24.1−2/1989, S. 36−37. Des Weiteren Alexander Perrig: Malerei und Skulptur des Spätmittelalters, in: Rolf Toman (Hg.): Die Kunst der italienischen Renaissance, Architektur−Skulptur−Malerei−Zeichnung, Köln 1994, S. 49. Johannes Tripps: Die Beobachtung der Natur, Die italienische Malerei der Gotik, in: Brockhaus – Die Bibliothek, Bd. III, Kunst und Kultur, Herrscher und Heilige, Europäisches Mittelalter und die Begegnung von Orient und Okzident, Leipzig u. a. 1997, S. 413−419. 29 Perrig 1994, S. 49.
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Il libro dell’arte um 1400 Capitolo LX. Della natura dell’azurro della Magnia Azurro […] è un cholore naturale el quale sta intorno e circhunda la vena de l’ariento. Nascie molto in nella Magna e anchora in quel di Siena. Ben è vero over pastello si vuole ridurre a perfectione. Di questo azurro quando tu ài a campegiare, si vuol triare pocho pocho e lleggiermente chon acqua, perché è forte sdegnoso della prieta. Se ’l vuoi per lavorarlo in vestiri o per farne verdi, chome indietro t’ò detto, vuolsi triarlo più. Questo et buono in muro, in siccho e in tavola. Soffera tempera di rossume d’uuovo et di colla, et di ciò che vuoi.
Kapitel LX. Von der Natur der Azzurro della Magna Azzurro della Magna ist eine Naturfarbe, welche die Silberadern in der Nähe umgibt. Es kommt vielfach nella Magna (in Deutschland) vor und ferner auch im Sienesischen. Man kann es künstlich, nämlich in Pastellform trefflich bereiten. Hast du mit diesem Azur Gründe zu malen, so reibe es langsam mit Wasser, denn es widersteht sehr dem Steine. Willst du Gewänder oder das Grün damit machen, wie ich oben gesagt habe, so mahle es stärker. Dieses taugt für Mauern, in Secco, auf Tafeln. Es erträgt Dottertempera, solche mit Leim und womit dir beliebt.
Cennino Cennini, Il libro dell’arte, hg. v. Fabio Frezzato, Vicenza 22004, S. 102–103.
Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa, übers. v. Albert Ilg, Wien 1871, S. 36.
Kommentar Der italienische Künstler Cennino Cennini (um 1360–1427) wurde als Sohn eines Notars geboren und wuchs zwischen Siena und Florenz auf.1 Ausgebildet wurde er bei Agnolo Gaddi, einem führenden Florentiner Maler. Als Maler war er an bedeutenden Höfen tätig, wenngleich auch wenige seiner Werke erhalten geblieben sind. Während er sein Werk selbst auf Italienisch verfasste, war Cennino des Lateinischen mächtig und war mit Werken der klassischen Antike vertraut. Sein Libro dell‘arte entstand als Malereitraktat und beschreibt die gebräuchlichen Materialien und Techniken der Künstler. Cennino begann mit der Niederschrift vermutlich während seines Aufenthalts in Padua. Angelegt wohl mit dem Ziel, praktisches Werkstattwissen zu dokumentieren, enthält das Libro dell‘arte, trotz manch irrtümlicher Passagen, kurze und eindeutige Anweisungen. Cennino hob die Bedeutung des Lernens
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durch eigene Erfahrung, nicht durch reines Buchwissen hervor. Das Handbuch mag daher auch als ein Vorzeigeobjekt für einen reichen Auftraggeber gedient haben. Letztendlich diente der Text dazu, den Status der Künste und der Künstler vom reinen Handwerk hin zu einer intellektbasierten Tätigkeit zu verschieben.2 Das Libro dell‘arte folgt einem systematischen Aufbau. Der erste Abschnitt behandelt die Ausbildung und Vorbereitung der Maler, während der zweite die Vorbereitung der Pigmente zum Thema hat. Das ausgewählte Kapitel 60 stammt aus dem zweiten Abschnitt des Handbuchs. Der weitere Text gibt detaillierte Anweisungen zur Mischung und Herstellung von Farbmitteln aus Pigmenten und Bindemittel, zur Anbringung der Farben auf verschiedenen Bildträgern sowie zur Gestaltung verschiedener Bildpartien wie etwa Inkarnat, Faltenwürfe und Berge. Stein tritt innerhalb des Handbuches in verschiedenen Kontexten auf. Cennino beschreibt Stein als Bildträger, auf dem die Ölfarbe angebracht werden kann.3 Außerdem beschreibt er den zum Polieren genutzten Glättstein (lla pietra da brunire).4 Die meisten Erwähnungen beziehen sich auf die Herstellung der Pigmente, welche zwischen Steinen gerieben werden sollen. Während die Mineralien meist nicht genauer identifiziert werden, merkt Cennini an, dass für die Herstellung des Ultramarin eine Porphyrplatte verwendet werden soll.5 Neben der Verwendung von Steinen als Bildträger und als Werkzeug dienten sie außerdem zur Herstellung von Pigmenten und Farbmitteln. Das intensive Blau des Ultramarin (azuro oltramarino) stammt von dem aus Afghanistan importierten Lapislazuli (lapis lazari). Der zur Vergoldung genutzte amatito wurde zu einem tiefroten Pigment verrieben.6 Als weitere Steine und Erden werden Sinopia (sinopia, over porfido), Ocker (ocria), Grüne Erde (verdeterra) und Malachit (verde azurro) erwähnt.7 Gips, Kalk und weitere weiche helle Steine wurden gemahlen und als Leim zur Vorbereitung der Holztafeln verwendet. Auch bei der Wandmalerei in frescho wurde Kalk aus gemahlenen hellen Steinen verwendet und Cennino erläutert ausführlich die Herstellung von biancho sangiovanni aus Löschkalk.8 Capitolo LX. Della natura dell’azurro della Magnia diskutiert den zur Herstellung eines blauen Pigments (Azur) genutzten Azurit, ein auch als „Bergblau“ bezeichnetes Kupfercarbonat. Indem Cennino, geologisch zutreffend, das Mineral in Bezug zu den Silberadern setzt, stellt er es zugleich in einen ökonomischen und kulturellen Kontext. Außerhalb der Nutzung als Malerpigment kamen dem Azurit wenige Verwendungsmöglichkeiten zu; der Stein hatte gleichwohl eine wirtschaftliche Bedeutung, da er als natürlicher Index auf die Präsenz des kostbaren Metalls verwies. Innerhalb der auf Ähnlichkeiten und Zusammenhänge innerhalb der Natur ausgerichteten Signaturenlehre kam Azurit (und dem verwandten grünen Malachit) eine zentrale Bedeutung zu: da Silberadern auf der Erdoberfläche kaum zu erkennen sind, mussten Bergmänner und Schatzsucher aus der Erscheinung der Oberfläche auf das Metallvorkommen unterhalb der Erde schließen. Eine derartige ‚Chiromantik‘ der Landschaft ähnelte der durch die Bildschnitzer praktizierten ‚Chiromantik‘ des Holzes.9 Das Vorkommen von blauen (oder grünen) Mineralien auf der Erdoberfläche legte die Anwesenheit von ver-
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borgenen Silber- oder Kupferschätzen nahe. Im Vergleich zum Abbau im Kontext der Metallgewinnung war der Stellenwert von Azurit als Künstlerpigment von geringer Bedeutung. Da die europäischen Vorkommen kaum ausgeprägt waren, waren diese nach der jeweiligen Entdeckung und dem Abbau meist rasch erschöpft; die Azurit-Gewinnung erfolgte in sporadischen ‚Boom-Bust-Zyklen‘. Zwischen 1490 und den 1530ern wurden beispielsweise in den Minen in Wallerfangen im heutigen Saarland bis zu 5000 Pfund Azurit pro Jahr abgebaut und die kurzzeitige kulturelle Bedeutung des Minerals zeigt sich nicht zuletzt bis heute in Ortsnamen wie Blauberg und Blauwald.10 Azurit war preisgünstiger als Lapislazuli, die Entfernung des jeweiligen Fundorts – Siena oder Deutschland respektive Afghanistan – war dabei nur einer der Gründe für den Preisunterschied. Das Mineral war auch aufgrund der im Vergleich zur Gewinnung von Ultramarin vereinfachten Herstellung günstiger: Cennino führt aus, dass zur Gewinnung des Farbmittels Azur Sorgfalt und Erfahrung (con arte) und der Blaufarbstoff Pastel / Färberwaid (pastello) benötigt werden. Während sich Cennino nicht weiter zur Verwendung des pflanzlichen Blaufarbstoffs äußert, wird durch die Passage nahegelegt, dass dadurch der vielfach mit dem Azurit verbundene grünliche Malachit verborgen werden sollte. Ausführlicher diskutiert Cennino die notwendige Fertigkeit (con arte) im Umgang mit dem Mineral. Er erklärt, dass Azurit so wenig als möglich und bloß leicht gerieben werden solle, „denn es widersteht sehr dem Steine“; gemeint ist in dieser leicht kryptischen, einem Maler seiner Zeit jedoch wohlvertrauten Äußerung, der zum Verreiben des Minerals benötigte Stein. Im Kapitel 59 zur Herstellung des Bleiweiß hebt er hingegen hervor: „Diese Farbe wird um so besser, je mehr du sie zerreibst“.11 Beim Azur führt die Empfindlichkeit bei zu starkem oder zu langem Reiben zum Farbverlust, daher betont Cennino, dass er nur leicht und kurz (pocho pocho e lleggiermente) mit Wasser verrieben werden dürfe; zu lange Zeit auf dem Reibstein führe zu einer verschlechterten, da gräulichen oder verblassten Farbqualität. Nach der Vorbereitung des Azurits kommt die Passage nachfolgend auf dessen Verwendung zu sprechen. Grobes Zerreiben bringt ein grobes Pigment mit größeren Partikeln hervor, welches wiederum in einer Farbe mit rauher Textur resultiert. Bei der Gestaltung von Stoffen oder Grüntönen fordert Cennino hingegen eine glatte Wirkung, daher nimmt er hierbei eine durch längeres Reiben (vuolsi triarlo più) erfolgte Verblassung der Farbe in Kauf. Je nach Reibegrad konnte das Pigment somit für die Gestaltung verschiedener Oberflächenqualitäten in verschiedenen Bindemitteln genutzt werden. Dies war nicht bei allen Pigmenten der Fall. Cennino beginnt sein Malereihandbuch mit Verweisen auf verschiedene notwendige Fertigkeiten des Malers, deren Grundlage die „Ausführung mit den Händen“ (operazione di mano) bildet; den jungen Malern empfiehlt er, „einen Meister zu suchen“ und sich diesem unterzuordnen, „damit sie zur Vervollkommnung gelangen“.12 Ihm war bewusst, dass das vom Künstler benötigte Wissen durch die wiederholte Abfolge von Demonstration, Beobachtung und Teilnahme erworben wurde. Texte – seien es Werkstatt-Handbücher oder Vor-
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zeigeobjekte eines Auftraggebers – spielten in der Weitergabe des handwerklichen Wissens nur eine geringe Rolle. Möglicherweise liegt hierin begründet, dass er einen zentralen Schritt in der Herstellung des Azurblaus im Handbuch nicht erwähnte. Der ‚Widerwille‘ des blauen Minerals gegen den Reibstein führte zu einem je nach Partikelgröße unterschiedlichen Farbton – große Partikel waren tiefblau und sehr kleine hatten überhaupt keine Farbe. Leichtes Zerreiben führte zu einer Mischung kleinerer und größerer Partikel und Cennino wusste, dass ein Tiefblau nur durch die Entfernung aller kleineren Partikel erreicht werden konnte. Kleine Teilchen maßen ungefähr ein Tausendstel eines Millimeters, große waren dabei nur fünf- bis fünfzigmal größer. Cenninos Handbuch geht nicht auf den Vorgang der Trennung ein, welcher auf einem als Differentialsedimentation bezeichneten Prinzip beruht. Die Maler machten sich die Materialeigenschaften des pulverisierten blauen Steins zu Nutze, indem sie die Mischung aus großen und kleinen Partikeln in Wasser einrührten. Im Gefäß sanken die großen Teilchen rasch nach unten, während die kleinen Partikel nur allmählich zu Grunde sanken und vergleichsweise lange im Wasser gelöst waren. Dieser Vorgang, den Cennino im Text nicht erwähnt, wurde in anderen Schriften schlicht als ‚Waschen‘ bezeichnet. Andere Texte führen aus, dass das ‚Waschen‘ des Puders im Wasser durch das Rezitieren einer festgelegten Anzahl an Vater Unser oder Ave Maria begleitet werden sollte. Weitere Schriften erwähnen, dass die eingetauchten Pigmentpartikel vor dem Waschen (manchmal gegen die Wand des Gefäßes, bei dem es sich um eine Muschelschale gehandelt haben mag) gerieben werden sollten.13 Das Zerreiben trennte die vormals in Aggregatclustern zusammenhängenden kleinen und großen Teile. Zwei wichtige Vorgänge – Vorgänge, um deren Notwendigkeit alle Maler wussten – bleiben somit in Cenninos Kapitel 60 unerwähnt. Leistete man seinen Anweisungen Folge, wäre das Resultat ein fades Grau-Blau, welches vielleicht für die Darstellung von weit entfernten Bergen, nicht jedoch für die prachtvollen Gewänder der Jungfrau Maria tauglich gewesen wäre. Das aufbereitete Pigment konnte kommerziell in einer Vielzahl von Qualitäten erworben werden, wobei die beste Form bis zum zweifachen Preis des herkömmlichen Azur kosten konnte.14 Es lag somit im Interesse aller Maler, selbst durch die Trennung der unterschiedlichen Partikelgrößen das fade Blau wegwaschen und das intensive Blau herstellen zu können. Die erhaltenen Texte beschreiben den Vorgang nicht im Detail. Die anfängliche Trennung der Teilchen bestand aus einer körperlichen Tätigkeit, welche dem Verkneten von Butter und Mehl zwischen den Fingern ähnelte. Die Trennung der schwebenden kleineren von den herabgesunkenen größeren Partikeln ähnelte der körperlichen Tätigkeit bei der Goldwäsche oder bei der Herstellung von Papier – eine Pfanne oder ein Sieb mit dem im Wasser gelösten azurro della Magnia musste wiederholt geschwenkt und das Wasser sanft abgegossen werden. Der zweite Vorgang wurde mehrfach wiederholt, wodurch sich in den diversen Gefäßen der Azurit jeweils in seinen verschiedenen Partikelgrößen befand. Da sich die unterschiedlich großen Teile durch ihren jeweiligen Farbton unterschieden, war das Ergeb-
Il libro dell’arte
nis des in Kapitel 60 nur ansatzweise beschriebenen Vorgangs dem bloßen Auge evident. Im Ursprungsgefäß waren die kleinen Teile entfernt und ein wundervolles Mitternachtsblau war zu sehen; das Farbmittel in den Gefäßen mit dem abgegossenen Wasser wies hingegen aufgrund der kleinen Teile einen blasseren Ton auf. Durch mikroskopische Untersuchungen von Farbmitteln werden weitere Qualitäten der Azurit-Partikel deutlich. Es konnte gezeigt werden, dass das Spektrum der Teilchengrößen bei intensivblauen Azurit-Tönen von Gemälde zu Gemälde variiert.15 Unterschiedliche Arten des Zerreibens, Schwenkens, Gießens und Rezitierens in den verschiedenen Malerwerkstätten mögen dafür der Grund sein. Eine weitreichende Untersuchung der Teilchengrößen bei der Verwendung von azurro della Magnia in verschiedenen Gemälden würde bei entsprechenden ähnlichen Werten Anhaltspunkte für die Verbreitung von Praktiken im Umgang mit dem Mineral bieten. Vielfältige Reibegrade, unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Schwenken und Gießen sowie die Häufigkeit der Wiederholung ließen sich dadurch mit den jeweiligen Spektren der Teilchengröße und den unterschiedlichen Farben in Beziehung setzen. Cenninos Rezept legt nahe, dass ein schlichter europäischer Stein durch sorgsame Behandlung in der Werkstatt eine Farbe hervorbringen konnte, welche die Konkurrenz mit dem aus Afghanistan importierten exotischen Gestein keineswegs scheuen musste. Sein Text geht nicht ins Detail, auf welche Weise das Puder vom faden Grau zum intensiven Blau transformiert werden konnte, sondern verlässt sich darin auf ein Wissen, welches von vielen geschulten Individuen innerhalb der Berufsgemeinschaft verkörpert wurde. Das Handbuch richtete sich an ein breites Publikum und wurde wohl mehr aufgrund seiner rhetorischen Qualität als durch seinen praktischen Nutzen geschätzt. Das häufige Vorkommen von intensivblauen Partien in zahlreichen zwischen 1400 und 1700 entstandenen Gemälden belegt, dass der bei Cennino beschriebene Prozess praktiziert wie auch stetig von Maler zu Maler weitervermittelt wurde. Spike Bucklow Übersetzung: Isabella Augart
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Vgl. zu Cennini auch den Kommentar von Johannes Tripps in diesem Band. Lara Broeke: Introduction, in: Cennino Cennini’s Il libro dell’arte. A new English translation and commentary with Italian transcription, übers. v. Lara Broeke, London 2015, S. 1–9. 3 Cennino Cennini, Il libro dell’arte, hg. v. Fabio Frezzato, Vicenza 22004, Kapitel 94, S. 132. 4 Ebd., Kapitel 17, S. 75. 5 Ebd., Kapitel 62, S. 103–107, hier insbesondere S. 104. 6 Ebd., Kapitel 42, S. 92–93. 7 Ebd., Kapitel 38, 45, 51–52, S. 90, 94–95, 98–99. 8 Ebd., Kapitel 58, S. 101–102.
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Cennino Cennini 9 Michael Baxandall: The Limewood Sculptors of Germany, New Haven 1995, S. 27–49. 10 Andreas Burmester u. Christoph Krekel: The Relationship between Albrecht Durer’s Palette and Fifteenth/Sixteenth Century Pharmacy Price Lists, in: Ashok Roy u. Perry Smith (Hg.): Painting Techniques. History, Materials and Studio Practice, London 1998, S. 104. 11 Cennini ed. 2004, Kapitel 59, S. 102: Questo colore quanto più il macini tanto è più perfetto. 12 Ebd., Kapitel 1, S. 62. Ebd., Kapitel 2, S. 63: Seguitano a volere trovare maestro, e con questo si disponghono chon amore d’ubidenza, stando in servitù per venire a perfezion di ciò. Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa, übers. v. Albert Ilg, Wien 1871, Kap. 1, S. 4, Kap. 2, S. 5. 13 Bolognese MS, in Marry P. Merrifield: Original Treatises on the Arts of Painting, New York 1967, Bd. II, S. 356–360. 14 Burmester/Krekel 1998, S. 102. 15 J.R.J. van Asperen de Boer: An Examination of Particle Size Distributions of Azurite and Ultramarine in some Early Netherlandish Paintings, in: Studies in Conservation 19/1974, S. 233–243.
Leon Battista Alberti
De re aedificatoria libri decem 1445–1452 Liber VI
Buch VI
Caput V Circa parietem atque tectum exornandum plurimus tibi erit locus, ubi rarissima naturae munera et artis peritiam et artificis diligentiam ingeniique vim explices. Quod si fortedabitur facultas, ut possis veterem illum Osyrim imitari, quem duo condidisse templa ferunt aurea, unum caelesti alterum regio Iovi, aut ut possis lapide supra hominum opinionem maximo attollere, qualem Semiramis a montibus devexit Arabiae, latum quaqueversus cubitos XX, longum ad CL; aut si tanta dabitur lapidum magnitudo, ut ex eo possis integram aliquam totius operis partem perficere, qualem Aegypto fuisse ferunt ad templum Latonae sacellum, latum fronte cubitos XL, unico et integro exculptum lapide alteroque item unico contectum lapide; profecto id quidem operi multum afferet admirationis, eoque magis, si peregrinus difficilique sit devectus via, qualem scribit Herodotus ab Elephanto oppido petitum, fronte latum cubitos plus XX, altum XV, tractum usque Sai itinere dierum XX. Ad rationes etiam ornamentorum egregie pertinebit, si dignus admiratione quivis lapis loco erit positus nobili atqui insigni. Apud Chemnim insulam Aegypto sacellum illic non tam est quidem mirabile, quod unico sit tectum lapide,
Kapitel V Wand und Decke bieten den meisten Platz zur Ausschmückung. Hier kannst du die seltensten Gaben der Natur, die Kunstfertigkeit und den Fleiß des Künstlers, sowie seine Geistesschärfe erweisen. Hier bietet sich Dir vielleicht die Möglichkeit, den alten Osyris darzustellen, der zwei Tempel aus Gold gegründet haben soll, einen dem himmlischen, den anderen dem königlichen Jupiter. Oder Du könntest einen Stein, der über Menschenermessen groß ist, an die Decke zaubern, wie jener war, den Semiramis von den Bergen Arabiens fortführte, der nach allen Seiten 20 Ellen breit und 150 Ellen lang war. Oder, wenn Du einen so großen Stein hättest, daß Du daraus einen ganzen Teil Deines Gebäudes machen könntest, wie in Ägypten jenes Heiligtum beim Tempel der Latona gewesen sein soll mit 40 Ellen Breite an der Front, das aus einem einzigen Stein herausgehauen und auch nur mit einem einzigen Stein bedeckt war. Dies bringt in der Tat einem Baue viel Bewunderung und um so mehr, wenn der Stein aus fremder Gegend auf schwierigem Wege hergebracht wird. So schreibt Herodot, daß die Stadt Elephantus einen bestellte, der mehr als 20 Ellen lang war und 15 Ellen hoch, und dessen Transport 20 Tage dauerte. Ein hervorragend zweck
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quam quod parietibus tam altis tantorum cubitorum lapis impositus sit. Afferet etiam ornamentum ipsius lapidis raritas atque elegantia, puta si erit ex eo genere marmoris, quo aedem Fortunae aurea in domo struxisse principem Neronem ferunt, puro et candido, tralucido ut etiam nullis adapertis foribus intus esse lux inclusa videretur Leon Battista Alberti: De re aedificatoria, übers. v. Giovanni Orlandi, hg. v. Paolo Portoghesi, Mailand 1966, S. 469 u. S. 471.
mäßiger Schmuck wird es auch sein, wenn ein besonders wunderbarer Stein an hervorstechender und bezeichnender Stelle angebracht wird. Auf der Insel Chemnis in Ägypten ist das Heiligtum nicht deshalb so bewundernswert, weil das Dach aus einem einzigen Steine besteht, als daß auf so hohe Mauern ein Stein von solchem Gewicht aufgesetzt werden konnte. Als Schmuck könnte auch die Seltenheit und Schönheit des Steines selbst dienen, sagen wir er sei aus einer Art Marmor, aus dem auch Nero den Tempel der Fortuna in seinem goldenen Haus gebaut haben soll, rein, weiß und durchsichtig, so daß auch bei geschlossener Tür ein innen eingeschlossenes Licht sichtbar ist. Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. Ins Deutsche übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen durch Max Theuer, Darmstadt 1988 (Leipzig 1912), S. 306–307.
Kommentar Leon Battista Albertis Traktat De re aedificatoria libri decem steht am Beginn frühneuzeitlichen Nachdenkens über Architektur. Erstmals seit der Antike und in Konkurrenz zu Vitruvs Traktat De architectura libri decem nimmt er das gewaltige Unterfangen in Angriff Architektur als ars (Kunst) in ihrer Gesamtheit systematisch darzustellen. Der Fund einer vollständigen Abschrift von Vitruvs Traktat in der Klosterbibliothek von Sankt Gallen 1416 kam einer Sensation gleich;1 der von ihm geäußerte Anspruch, eine summa der Architektur verfasst zu haben, traf auf rezeptionshistorisch günstige Umstände: Auf einen derart fundierten Nachweis, dass die Alten Architektur für eine theoretisch lehrbare Kunst und somit für eine intellektuelle Tätigkeit gehalten hatten, war im humanistischen Milieu sehnsüchtig gewartet worden.2 Er half, das eigene Interesse an Architektur zu legitimieren. Doch so sehr dieser antike Text auch faszinierte, so schwer verständlich blieb er zugleich. Albertis Auseinandersetzung mit diesem Text begann vermutlich am Hof Lionello d’Estes 1442 und sollte wohl lediglich ein Kommentar werden.3 Ab 1444 setze er sich daran, seinen Text als eigenständigen Traktat ins Werk zu setzen. Solis verbis – nur in lateinischer Sprache verfasst und ohne erläuternde Abbildungen versehen, überreichte er seine Manuskriptfassung 1452 Papst Nikolaus V. Ein Werk, das
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zwischen großer Nähe und kritischer Distanz zum antiken Vorbild changiert und in den frühneuzeitlichen Auftraggeberkreisen seiner Zeit zu einem regelrechten „must have“ avancierte. So wurden, nur um eine Abschrift zu besitzen, am estensischen Hof offenbar alle, die schreibkundig waren mobilisiert, um in der kurzen Zeit, in der Lorenzo il Magnifico sein Exemplar verliehen hatte, kopieren zu können.4 Doch, so groß der Besitzerstolz der Auftraggeber auch gewesen sein mag, so wenig wissen wir darüber, ob, was und wieviel Architekten und Praktiker von De re aedificatoria gelesen und verstanden haben. Albertis Traktat ist die intellektuell vielleicht anspruchsvollste Schrift, die je über Architektur verfasst worden ist. Kein Wunder, dass sie bis auf den heutigen Tag Fragen aufwirft und einen bisweilen etwas ratlos zurücklässt. So beispielsweise auch mit der diesem Text vorangestellten Passage zu den außergewöhnlich schweren Lasten und deren Bewegung. Denn wer Albertis Traktat mit der Erwartungshaltung in die Hand nimmt, dort besonders gut über die Verwendung von Steinen als Schmuck der Architektur informiert zu werden, sieht sich rasch enttäuscht. Steinerne Fußbodenbeläge, Wandinkrustationen oder Deckenverkleidungen werden kaum erwähnt, generell scheint Alberti sich für die Farben, Herkunft und den Gebrauch von Buntmarmoren und farbigen Steinen nicht besonders zu interessieren.5 Zu Steinböden findet sich eine einzige, lapidare Bemerkung: sie seien häufig anzutreffen und bestünden aus recht großen Marmortafeln oder auch aus kleineren Stücken und aus (Mosaik-)Steinchen.6 Und zu Wandverkleidungen aus Stein sagt er nicht mehr, als dass die Dächer, Wände und Böden der Tempel kunstvoll und vor allen Dingen nachhaltig gestaltet sein sollten, weshalb Marmorinkrustationen allen anderen vorzuziehen seien.7 Das war es. An Steinen als Schmuck von Decke und Wand scheinen andere Aspekte von Gewicht zu sein, was Alberti offenbar recht buchstäblich verstanden wissen will: ihre Größe und ihre Schwere. Die eingangs zitierte Passage überrascht aus vielerlei Gründen. Isoliert gelesen bleibt sie eine aus vielen unterschiedlichen antiken Literaturzitaten kompilierte Anekdote.8 Unterhaltsam, aber es ist nicht unbedingt zielführend, wenn von Albertis mit De ornamento betitelten sechsten Buch eine Darstellung der ornamenta von Decke und Wand erwartet wird. Wie immer in seinen Texten kommt es auf den Kontext an. In einem ersten Schritt gilt es daher den Sinnzusammenhang zu klären, in dem sie steht. In sich schlüssig wird dieser erst in der zusammenhängenden Lektüre aller noch folgenden Passagen. Seiner anekdotischen Erzählung steinerner Monolithe und ihrer bewunderungswürdigen Versetzung in Architektur schließt Alberti eine Aufzählung nicht minder beeindruckender, schwieriger Lastentransporte an. Er berichtet von den Obelisken, ihrer Verschiffung und ihrer Aufstellung in Rom und vergisst nicht, auch Vitruvs Erzählung des Säulen- und Architravtransports für den Artemistempel in Ephesus aufzugreifen, bei dem die gewaltigen steinernen Säulentrommeln und Architravbalken die Radachsen ihrer eigenen Transportwagen bildeten.9 Ergänzt wird diese Beispielreihe durch einen kurzen Abriss der Mechanik, die er in weiten Teilen Vitruvs zehntem Buch entlehnt. Alberti interessiert sich für das Rollen, Schieben und Ziehen von Lasten auf schiefen Ebenen und berichtet von Rädern, Flaschenzügen und Gewinden, von
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Walzen, Radnaben, Radachsen, Transmissionsrädern und Winden, von Hebeln, Waagen und Kränen, von Schrauben, Ösen und Keilen, von Stangen und von Seilen.10 Kurzum: Wenn Alberti in seinem sechsten Buch die steinernen ornamenta von Decke und Wand in den Blick nimmt, dann liegt sein Fokus auf der außerordentlichen Größe von Monolithen, ihren vielen Tonnen Gewicht, der bemerkenswerten Logistik ihres Transports, der komplexen Technik ihrer Versetzung und nicht zuletzt auf dem Staunen, das diejenigen, die diese Zusammenhänge reflektieren, erfasst. In einem zweiten Schritt wird allerdings ein Paradoxon erkennbar: Je schlüssiger der Sinnzusammenhang, in dem die Ausgangspassage steht, desto irritierender der Strukturzusammenhang, dem sie integriert ist. Denn im sechsten seiner zehn Bücher behandelt Alberti in den Passagen zuvor Anderes. Dort geht es ihm um Vitruv und dessen Unverständlichkeit, es geht ihm um das, was pulchritudo ist und wie sich ornamentum davon unterscheidet und er erzählt die Entwicklungsgeschichte der Architektur als Kunstwerdungsgeschichte von den Ägyptern, Assyrern und Griechen bis zu den Römern.11 Kurzum: Seinen Überlegungen zu den ornamenta von Decke und Wand und den sehr schweren Lasten stellt er seine zentralen kunsttheoretischen Überlegungen voran. Sollte es sich nicht um ein zufälliges und daher beliebiges Nebeneinander handeln – und es gibt keinen Grund, hiervon auszugehen –,12 dann sind exorbitant schwere Steine und deren Bewegung integraler Bestandteil seiner Kunstlehre. Erklärungsbedürftig ist daran vieles. Hier interessiert vielleicht am meisten, dass er über die schweren Steine und die notwendige Technik ihrer Versetzung nicht im zweiten Buch De materia schreibt. Immerhin ist dieses der Materiallehre gewidmet, er schreibt dort über die handwerklich-materielle Basis von Architektur, über Sand, Kies und Hausteine, über Kalk, Ton und Backsteine, über Bretter, Sparren und Balken. Vom II. Buch De materia, wo all die kleineren und größeren Lasten, die gehoben, geschoben, gerollt, getragen und versetzt werden müssen, um aus diesem alltäglichen Bewegungsvorgang des pondere motus eine Architektur entstehen zu lassen, hätte mit einigem Recht vermutet werden können, dass Alberti auch über die besonders schweren Lasten und die Mechanik spricht. Das macht er aber nicht. In einem dritten Schritt ist es daher notwendig zu prüfen, worüber Alberti schreibt, wenn er Steine als Baumaterialien – und nicht als ornamenta – in den Blick nimmt. Als Basis seiner Informationen führt er eine Reihe einschlägiger antiker Autoren an – Theophrast, Aristoteles, Cato, Varro, Plinius und Vitruv –, von denen er behauptet, ihre Aussagen durch eigene Beobachtungen an antiken Architekturen ergänzt und um die Ratschläge von Experten erweitert zu haben.13 An Steinen interessieren ihn die unterschiedlichen Erklärungsansätze ihres Ursprungs, die Begründungsmodelle ihrer verschiedenen Farben und die Unterscheidung von Gesteinssorten, die entweder besser zu Kalk weiterverarbeitet oder aus denen die sichtbare Struktur einer Architektur gefügt werden sollte.14 Er versucht sich an einer gewissen Systematisierung von Gesteinen, wie verschiedene Sorten nach dem Brechen im Steinbruch auf die verschiedenen Witterungsbedingungen reagieren, und dass die unterschiedlichen Körnungen der Steine auf unterschiedliche Festigkeitsgrade und Bearbeitungs-
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schwierigkeiten schließen lassen. Sprich: Alberti liefert eine Materialkunde der Steine, die aber weitgehend abstrakt bleibt. Selbst Alberti ist, wie das Quattrocento generell, sprachbzw. bezeichnungslos, er kann die unterschiedlichen Gesteinssorten nicht konkret benennen.15 Penible Beschreibungen von Steinen liefert er in den Abschnitten, in denen er die zum Kalkbrennen geeigneten Beispiele anführt. Allerdings fallen hier auch abenteuerliche Details und das Anekdotenhafte einiger Erklärungen besonders ins Auge: Hohle Steine, in denen behaarte Tausendfüßler gefangen seien, die, nach dem Aufplatzen des Steins beim Brennvorgang, freigesetzt die Öfen zerstören könnten.16 Oder auch Steine aus Verona, deren Äderung die Natur so sorgfältig gezeichnet habe, wie es Menschen unmöglich sei; sie würden immer kopfunter gefunden werden, da die Natur sie nicht für die Bewunderung der Menschen, sondern nur für sich selbst gemacht habe.17 Wie auch immer. Christine Smith hat darauf hingewiesen, dass Alberti auf der Basis der von ihm angeführten Autoren sehr wohl in der Lage gewesen sein muss, mehr Informationen zu Buntmarmoren und farbigen Steinen zu liefern.18 Doch Alberti nutzt sie nicht als Quellen solcher Informationen. Im Gegenteil, er macht klar, dass er über den Entstehungsursprung der verschiedenen Gesteinsarten und die Gründe ihrer verschiedenen Färbungen zwar hätte schreiben können und dies aus dekorativen Gründen auch interessant gewesen wäre.19 Doch er ziehe es vor, alle diese Aspekte zu überspringen, weil er in seinem Traktat lieber die Freiheit nutzen wolle, die zwischen den Handwerkern herrsche und sich sozusagen nicht durch die Rigorosität der Theoretiker einschränken wolle.20 Um dann – typisch Alberti – mit einem Zitat von Cato einzusetzen: „Du wirst den Stein im Sommer brechen, unter freiem Himmel lagern und ihn nach zwei Jahren verwenden.“21 Hier ist leider nicht der Ort, um auf Albertis literarische Techniken und das komplexe Verhältnis von Theorie und Praxis vertieft einzugehen. Stattdessen sei daher abschließend Albertis Bemerkung zum Baubeginn im dritten Buch aufgegriffen: Es gäbe Steine, die seien so groß, dass sie nicht einfach getragen werden könnten, dafür brauche es Technik; wieder andere seien so klein, dass sie mit einer Hand getragen werden können und dann gäbe es die Steine mit einer mittleren, genau richtigen Größen, die iustos.22 Mit dem medium als leitendem Prinzip seiner Kunstlehre kann auch wieder zu den außergewöhnlich schweren Steinen im sechsten Buch zurück gekehrt werden, die alles, nur nicht die richtige Größe haben. Alberti steht ihnen durchaus ambivalent gegenüber. Als besondere Gaben der Natur nur äußerst selten verwandt, fordern sie vom Künstler zwar dessen absolute Beherrschung der Kunstregeln (ars) und den vollkommenen Einsatz seiner Erfindungsgabe (ingenium).23 Doch scheitert man mit dieser Art ornamenta, dann sind Ablehnung und Missbilligung noch unverhältnismäßig viel größer als Lob und Bewunderung im Falle des Gelingens.24 Als ornamenta werden sie nutzlos, wenn nicht auch für sie – wie für alle anderen auch – ordo und modus, Abgemessenheit und Angemessenheit, beachtet würden.25 Sprich: Sie werfen erhebliche ethische Fragen auf, dennoch spielen sie in Albertis Überlegungen eine wichtige Rolle. Womit in einem vierten und abschließenden Schritt auch noch Albertis Verhältnis zu seinem Vorbild Vitruv mitbedacht werden muss, der den ungewöhnlich schweren Lasten,
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ihrem Transport und der dazu notwendigen Technik ein eigenständiges Buch gewidmet hat. Bei aller Nähe Albertis zu Vitruv, das Abhängigkeitsverhältnis ist ausgesprochen ambivalent. Nirgendwo wird das so deutlich wie im sechsten Buch der res aedificatoria. Nicht nur, dass Alberti sich hier in einem literarischen Kabinettstück sondergleichen von der Sprachwahl Vitruvs distanziert und dadurch die Fachkompetenzen der beiden Schriftsteller ein für alle Mal klärt.26 Er unternimmt hier auch eine markante Veränderung der Struktur. Was bei Vitruv separiert und im zehnten Buch als eigenständige Lehre der Mechanik dargestellt wird, integriert Alberti im sechsten Buch seiner Kunstlehre der Architektur.27 Damit geht eine eklatante Bedeutungsverschiebung einher, die das Architekturverständnis der beiden Autoren insgesamt betrifft. Alberti schreibt über die res aedificatoria und bereits im Titel stellt er der ungleich unbewegteren, weil tektonisch gefügten architectura Vitruvs eine Wortwahl entgegen, die sich erkennbar nur auf die Baukunst, die aedificatio Vitruvs, bezieht, und zugleich das Transitive und Prozessuale am Akt des Bauens, das aedificare, viel stärker betont. Ein Architekt ist Albertis erster Definition folgend jemand, der theoretisch Erdachtes mit Hilfe der Bewegung von Lasten und dem Zusammenführen von Körpern in der Praxis verwirklicht: Ein Architekt wird der sein, behaupte ich, der gelernt hat, mittels eines bestimmten und bewundernswerten Planes und Weges sowohl in Gedanken und Gefühlen zu bestimmen, als auch in der Tat auszuführen, was unter der Bewegung von Lasten und der Vereinigung und Zusammenfügung von Körpern den hervorragendsten menschlichen Bedürfnissen am ehesten entspricht […].28 So problematisch die gewaltigen Steinmaße monolithischer Strukturen auch sind, als ornamenta von Decke und Wand und integrale Bestandteile seiner Kunstlehre kommt ihnen die Aufgabe zu, Erkenntnis zu stiften. Im Angesicht kolossaler Lasten kann staunend das „Gemacht-sein“ und „Gemacht-werden“ von Architektur erkannt und somit ein zentrales Anliegen Albertis reflektiert werden. In De re aedificatoria muss dieser Zusammenhang allerdings mühsam erschlossen werden, zitierfähig auf einen Punkt gebracht hat Alberti ihn im zeitgleich entstanden, philosophischen Traktat des Momus, wo er Jupiter beim Anblick eines antiken Stadions staunen lässt: Jupiter betrachtete voller Bewunderung die zahllosen, mächtigen Säulen aus parischem Marmor, ein gigantisches Werk, das aus den Felsblöcken der höchsten Berge geschaffen war. Jupiter konnte sich gar nicht genug darüber wundern, als er darüber nachdachte, daß man sie in so großer Zahl und mit ihren riesenhaften Ausmaßen nicht nur hierher transportiert, sondern auch hier errichtet haben mußte, und sagte sich, obwohl sie unmittelbar vor seinen Augen standen, daß ein solches Werk ein Ding der Unmöglichkeit sei; er konnte vor lauter Begeisterung die Augen nicht von ihnen wenden und lobte sie über die Maßen; im Stillen klagte er sich der eigenen Unfähigkeit und Dummheit an,
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weil er sich anstatt an die Baumeister eines so außerordentlichen Werkes an die Philosophen gewandt hatte, um mit ihrer Hilfe den Plan für eine neue Welt zu entwerfen.29 Veronica Biermann 1 Vgl. Christof Thoenes: Anmerkungen zur Architekturtheorie, in: Bernd Evers (Hg.): Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo, Berlin 1995, S. 28–39, hier S. 31. Zu Poggio Bracciolini vgl. Phyllis W. G. Gordan: Two Renaissance Book Hunters: The Letters of Poggius Braccilolini to Nicolaus de Nicolis, New York 1974; Ernst Walser: Poggius Florentinus. Leben und Werke, Hildesheim 1974. 2 Thoenes 1995, S. 31. Vitruv, De arch., II, pr. 4; X,16,12; VII, pr. 10; I, pr. 3. 3 Für die Datierung vgl. Cecil Grayson: The Composition of L.B. Alberti’s „Decem libri De re aedificatoria“, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3.11/1960, S. 152–161, hier S. 156. 4 Vgl. Giovanni Orlandi: Le prime fasi nella diffusione del Trattato architettonico albertiano, in: Joseph Rykwert u. Anne Engel (Hg.): Leon Battista Alberti, Mailand 1994, S. 97–100. 5 Vgl. Christine Smith: Alberti e l’ornamento: rivestimenti parietali e pavimentazioni, in: Rykwert u. Engel 1994, S. 196–215, hier S. 206. 6 Leon Battista Alberti: De re aedificatoria, lat./ital., übers. v. Giovanni Orlandi, komm. v. Paolo Portoghesi, Mailand 1966, III,16, S. 258. 7 Ebd., VII, 10, S. 608; vgl. a. VI,5, S. 472 oder IX,1, S. 784. 8 Was am wenigsten überrascht, denn die Technik der scrittura come mosaico ist typisch für Albertis literarische Praxis, vgl. Roberto Cardini: Alberti o della scrittura come mosaico, in: ders. (Hg.): Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista, Florenz 2005, S. 91–94 u. Mariangela Regoliosi: „Libri“ ed „esperienza“: Alberti e le litterae, in: Roberto Cardini (Hg.): Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista, Florenz 2005, S. 95–99. 9 Alberti, De re aed., VI,6, S. 473 u. S. 475. Vitruv, De architectura libri decem, lat./dt., übersetzt und kommentiert v. Curt Fensterbusch, Darmstadt 1987, 10, 2, S. 470–471. 10 Alberti, De re aed., VI,6-8, S. 475–499. Die antike Quelle dieser Kenntnisse war, neben Vitruv, vermutlich Heron von Alexandrien, wobei unklar ist, wie Alberti zu dieser Textkenntnis gelangt ist. Vgl. Stefano G. Casu: Strumenti artistici e della pratica architettonica nei trattati di Leon Battista Alberti, in: Roberto Cardini (Hg.): Leon Battista Alberti. La biblioteca di un umanista, Florenz 2005, S. 115–132, hier S. 118–119. 11 Alberti, De re aed., VI, 1-3, S. 441–457. 12 Vgl. hierzu Veronica Biermann: Ornamentum. Studien zum Traktat De re aedificatoria des Leon Battista Alberti, Hildesheim 1995, S. 62–124, insb. S. 64–65. 13 Alberti, De re aed., II,4, S. 111. 14 Ebd., II,8, S. 135–139. 15 Roger Jones: Mantegna and Materials, in: I Tatti Studies 2/1987, S. 71–90, hier S. 88. 16 Alberti, De re aed., II,9, S. 157. 17 Ebd., S. 159. 18 Smith 1992, S. 206. 19 Alberti, De re aed., II,8, S. 135. 20 Ebd.
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Leon Battista Alberti 21 Ebd. 22 Alberti, De re aed., III,4, S. 187. 23 Ebd., S. 469: Circa parietem atque tectum exornandum plurimus tibi erit locus, ubi rarissima naturae munera et artis peritiam et artificis diligentiam ingeiique vim explices. 24 Ebd., S. 497 u. S. 499: Unum admoneo: vastissima uticunque movere institueris pondera, conferet sensim cautim mature aggredi rem, ob varios incertos irrecuperabilesque casus et pericula, quae istiusmodi in negotio praeter opinionem etiam expertissimis solent evenire. Neque enim tanta sequetur laus et ingenii approbatio, si successerit quod tuo fretus consilio aggressus sis, quam redundabit detestatio et odium temeritatis, ubi male successerit. 25 Ebd., S. 471: Denique istiusmodi omnia conferent. Sed, qualiacunque ista quidem sint, inepta erunt, ni accuratus in componendo servetur ordo et modus. 26 Veronica Biermann: Der Architekturtraktat. Leon Batttista Alberti: De re aedificatoria, 1452, in: Dietrich Erben (Hg.): Das Buch als Entwurf. Textgattungen in der Geschichte der Architekturtheorie. Ein Handbuch, München 2019, S. 32–55, hier S. 37–50. 27 Auch Vitruv hat schwere Lasten ebenso wie die Technik und Maschinen, mit denen sie bewegt werden können, im Blick. Allerdings trennt er deren Darstellung von seinen Ausführungen zur aedificatio. Anstelle sie in den acht Büchern abzuhandeln, die er der Baukunst im engeren Sinne gewidmet hat, gliedert er diesen Aspekt der Architektur aus und behandelt ihn stattdessen separat im zehnten Buch machinatio. Ähnlich seinem neunten Buch gnomonice, das den Uhrenbau zum Thema hat, stellt dieses zehnte Buch eine Art eigenständigen Maschinentraktat dar, in welchem er Baumaschinen, Schöpfgeräte für den Wasserbau, Kriegsmaschinen und Heeresformationen beschreibt. Wenn Vitruv demnach darauf beharrt, mit seinem Traktat De architectura eine summa der Architektur geschrieben zu haben, dann gründet sein Stolz auch darin, alle Teile der Architektur behandelt zu haben, also nicht allein die Baukunst, sondern auch den Uhren- und den Maschinenbau, vgl. II, pr. 4. 28 Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Baukunst. Ins Deutsche übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen durch Max Theuer, Darmstadt 1988 (Leipzig 1912), S. 9–10; Alberti, De re aed., proemio, S. 7: Architectum ego hunc fore constituam, qui certa admirabilique ratione et via tum mente animoque diffinire tum et opere absolvere didicerit, quaecunque ex ponderum motu corporumque compactione et coagmentatione dignissimis hominum usibus bellissime commodentur. 29 Leon Battista Alberti: Momus oder Vom Fürsten / Momus seu de principe, Lateinisch-deutsche Ausgabe, übersetzt, kommentiert und eingeleitet v. Michaela Boenke, München 1993, S. 323: […] atque inprimis Iuppiter pario ex marmore ingentes innumerasque columnas maximorum montium frusta, gigantum opus, admiratur, et tantas numero et tam vastas et in eam regionem locorum aut tractas esse aut erectas obstupescebat intuens, easque tametsi coram intueretur tamen fieri negabat posse tantum opus et prae admiratione et vidisse et laudasse plus satis non intermittebat, atque secum ipse suas ineptias accusabat consiliique tarditatem deplorabat, qui hos tales tam mirifici operis architectos non adivisset potius quam philosophos, quibus uteretur ad operis futuri descriptionem componendam.
Johann Wonnecke von Kaub
Gart der Gesundheit 1485
Caput CCXLII. Lapis magnes eyn magnet [L]Apis magnes latine. arabice hager abnantes. Serapio in dem búch aggregatoris in dem capitell hagerabnantes id est lapis magnes beschribet vns vnd spricht daz disser steyn sy vber mere in Indien an eynem berge vnd wan die schiff genahen dem selbigen berge so blybet keyn ysen in dem schyff vnd flucht darvß glich als eß fogel weren zú dem berge. Diß ist der beste magnet der do sterglichen das ysen an sich nympt. vnd syn farbe ist glich der hymmel farbe. Auch ist diß der beste der nit so gar swer ist. Der meister Albertus in synem lapidario beschribet vns daz magnes habe eyn farbe die glichet dem ysen. vnd deß fyndet man vil in dem mere in Indien. Vnd spricht auch daz der magnet als vil do selbest syn daz die schiff sorglichen do hyn faren mogen. went eß zuhet alle ysern neglyn vnd was von ysen dar inne ist an sich vnd zurbricht die schiff glich als ob der hagel dar in sluge. Serapio spricht daz disser steyn an ym habe die dogent den do hatt der adamant vnd glichet ym an der krafft. Magnes gedruncken mit wyn in honig vermenget genant mellicrat laxieret vnd drybet vß die groben feuchtunge. Der meister Diascorides spricht wer dissen steyn by yme dreyt der machet húbsch redde vnd ist allzyt wól gemút. Fur die wassersucht nym deß steyns eyn halb quintin mit honig wasser genant mulsa. Albertus magnus in synem lapidario
Kapitel CCXLII. Lapis magnes, ein Magnet Lapis magnes (lat.), hager abnantes (arab.). Serapion schreibt in seinem Buch Aggregatoris im Kapitel hagerabnantes id est lapis magnes, dass dieser Stein jenseits des Meeres in Indien an einem Berg [zu finden] ist. Wenn sich Schiffe diesem Berg nähern, bleibt kein Eisen darin, da es wie ein Vogel auf den Berg zufliegt. Der beste Magnet ist der, der das Eisen stark anzieht. Seine Farbe gleicht der Farbe des Himmels. Der beste Magnet ist auch nicht sehr schwer. Albertus Magnus schreibt in seinem Lapidarium, dass die Farbe des Magneten der des Eisens gleicht und dass man viel davon im indischen Meer findet. Und er sagt auch, dass dort so viele Magnetsteine sind, dass die Schiffe sehr achtsam sein müssen, wenn sie dorthin fahren, denn es zieht alle Eisennägel und was sonst aus Eisen im Schiff ist an sich und zerstört auf diese Weise die Schiffe, als würde es darauf hageln. Serapion schreibt, dass dieser Stein in Kraft und Eigenschaft dem Diamant gleicht. Wenn man den Magnetstein mit Wein und Honig trinkt (sog. mellicrat), wirkt er abführend und vertreibt Feuchtigkeit. Dioskurides schreibt, wenn man diesen Stein bei sich trägt, könne man gut reden und sei immer gut gelaunt. Gegen die Wassersucht nehme man ein halbes Quäntchen des Steins in Honigwasser (sog. mulsa). Albertus Magnus beschreibt in seinem Lapidarium
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Johann Wonnecke von Kaub
beschribet vns vil húbscher dogent von dissem steyn vnd hait yn gar wert gehabt vnd vil kunst do mit gedrieben vnd hofflichkeyt die ich hie vnderwegen lan.
viele hilfreiche Fähigkeiten dieses Steins und hat ihn sehr geschätzt und vielerlei Kunst und gute Anwendungen damit vollbracht, die ich hier weglasse.
Bernhard von Breydenbach, Johann Wonnecke von Kaub u. Erhard Reuwich: Gart der Gesundheit, Mainz: Peter Schöffer, 28.3.1485, Kapitel 242.
Übersetzung: Pia Rudolph und Nicola Zotz
Kommentar Das Kräuterbuch Gart der Gesundheit beinhaltet insgesamt 435 Beschreibungen von Heilmitteln (simplica), den Hauptbestandteil nehmen dabei die Pflanzen ein, daneben werden etwa 20 tierische und 30 mineralische Mittel benannt und charakterisiert.1 Angelegt ist das deutschsprachige Werk in alphabetischer Reihenfolge nach dem lateinischen Namen der Arzneien. Zusammengestellt wurde die Kompilation von Johann Wonnecke von Kaub (auch: Johannes de Cuba) für den Mainzer Domdekan Bernhard von Breydenbach, der als Auftraggeber des Gart und ebenso als Verfasser eines Berichts über seine Pilgerfahrt ins Heilige Land bekannt ist (gedruckt 1486 in Mainz). Beide Werke wurden mit aufwändigen Illustrationen ausgestattet, für die der aus Utrecht stammende Holzschneider Erhard Reuwich verantwortlich war.2 Die Holzschnitte des Gart zeigen in der Regel Pflanzen und selten Tiere; Mineralien erhielten in der Erstausgabe noch keine Darstellung, erst in den Nachschnitten wurden auch sie illustriert.3 Vor 1484 hatte Johann Wonnecke von Kaub als Hofarzt in Heidelberg und Mainz gearbeitet und war danach als Stadtarzt in Frankfurt a.M. tätig. Der Gart ist das einzige Werk, das ihm sicher zugeschrieben werden kann. Eventuell war er ebenfalls an einem Kräuterbuch in lateinischer Sprache beteiligt, dem sog. Herbarius Moguntinus (gedruckt 1484 in Mainz).4 Während der Herbarius Moguntinus mit 150 Beschreibungen durchweg einheimische Pflanzen behandelt, ist der Gart als umfassendes Nachschlagewerk konzipiert, in dem alle damals bekannten Heilmittel verzeichnet werden sollten. Für den Auftraggeber und den Autor des Gart war vorrangig der gesundheitliche Nutzen der Pflanzen, Tiere und Mineralien für den Rezipienten von Bedeutung. Mit dem deutschsprachigen, illustrierten Kräuterbuch sollten sowohl Mediziner als auch Laien als Käufer angesprochen werden. Der Gart – mit seinen 19 Auflagen allein im 15. Jahrhundert sowie weiteren Neubearbeitungen und Auflagen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – war eines der erfolgreichsten Pflanzenbücher der Frühen Neuzeit. Ergänzungen durch Benutzer zeigen, dass der Gart über mehrere Generationen hinweg genutzt wurde; vor allem wurden neue Register oder Inhaltsverzeichnisse handschriftlich eingefügt. Bei den Besitzern handelte es sich vornehmlich um Ärzte, Apotheker oder Klosterbibliotheken.5 Einige Nachträge lassen vermuten, dass das Kräuterbuch für Unterrichtszwecke verwendet wurde.6
Gart der Gesundheit
Bislang können nicht alle Quellen benannt werden, die von Johann Wonnecke von Kaub für den Gart herangezogen wurden. Im Kräuterbuch selbst führt der Verfasser beispielsweise Galen, Avicenna oder Dioskurides als Autoritäten an. Neben lateinischen bzw. vom Arabischen ins Lateinische übertragenen Werken werden auch volksprachige Quellen vermutet, wie das deutschsprachige Lehrgedicht, das man vor allem unter dem Namen Macer kennt.7 Im kurzen Kapitel zum Magneten8 gibt Johann Wonnecke von Kaub drei Autoritäten an, die er heranzieht, um die Evidenz des Gesagten zu betonen. Der Anspruch, eine exakte Quellenangabe zu liefern, besteht nicht. Er nennt den syrischen Arzt Serapion, dem man das medizinische Werk Aggregator zugeschrieb, das Ende des 13. Jahrhunderts in Spanien ins Lateinische übersetzt wurde.9 Zudem wird Albertus Magnus angeführt, der unter anderem ein Werk über Steine verfasste, und Dioskurides, in dessen Heilmittelsammlung materia medica man eine Beschreibung des Magneten findet, die in etwa mit der im Gart übereinstimmt: der beste Magnet ziehe Eisen an; er sei von dunkelblauer Farbe; dicht, aber nicht schwer.10 Die Charakterisierung des Magneten stammt demnach bereits aus der Antike, seine Farbigkeit kann je nach Autor zwischen blau, in manchen Fällen auch rot, oder grau, wie Eisen, schwanken.11 Als Ursprung des Magneten vermutete man einen in Indien oder China – manchmal auch im hohen Norden – gelegenen Berg, der laut antikem Mythos von dem Hirten Magnes entdeckt wurde, als seine mit Eisen beschlagenen Schuhe dort festgehalten wurden.12 Auch in Epen des Mittelalters, wie dem Herzog Ernst, erzählte man von einem Magnetberg, der ganze Schiffe anzog, die schließlich nicht mehr von dem Berg loskamen.13 Die starken Anziehungskräfte des Magneten konnten, so ist es beispielsweise noch im 14. Jahrhundert im Buch der Natur des Konrad von Megenberg nachzulesen, mit Hilfe des Diamanten aufgehoben werden, weshalb beide Mineralien häufig gemeinsam beschrieben wurden.14 Adamas oder adamantis benennt und charakterisiert zugleich den „unbezwingbaren“ Diamanten, der für seine hohe Schleifhärte bekannt war. Eventuell wurde im Altfranzösischen adamantis zu aimant, was wiederum den Magnet bezeichnet, und gleichzeitig auch das Wort aimer („lieben“) anklingen lässt. Dadurch wird im Französischen zum einen die nahe Beziehung zum Diamanten und zum anderen die starke Anziehungskraft des Magneten zum Ausdruck gebracht.15 Die medizinische Wirkung des Magneten wird analog zu seiner anziehenden Eigenschaft gedacht. Dass der Magnet die Eigenschaft besitze, seinem Träger eine anziehende Ausstrahlung und Standfestigkeit zu verleihen, wurde beispielsweise von Hildegard von Bingen festgehalten.16 Außerdem entziehe der Magnet ungesunde Flüssigkeiten, sodass er nach dieser Vorstellung unter anderem gegen Wassersucht, Melancholie oder Eiter helfen kann.17 Die Erklärung der medizinischen Wirkung des Magneten ausgehend von seiner Anziehungskraft hebt ihn von anderen Mineralien ab, deren Einfluss auf den Menschen im 15. Jahrhundert vor allem mit Hilfe der Humoralpathologie begründet wurde, also mit dem Zusammenspiel der vier Säfte des Körpers. Dies setzt auch Bernhard von Breydenbach in seinem Vorwort für
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Johann Wonnecke von Kaub
den Gart auseinander: Pflanzen und Mineralien seien von Gott mit Kräften ausgestattet worden, um nützlich zu sein.18 Ihre Wirkung würden sie deshalb entfalten, weil sie, wie der Mensch, aus den vier Elementen zusammengesetzt seien. Ihre Qualitäten (kalt, warm, feucht, trocken) hätten Einfluss auf den menschlichen Körper. Insbesondere von den Aristotelikern Albertus Magnus oder Thomas von Aquin wurde die Vorstellung befördert, dass die Wirksamkeit der Mineralien auch ohne aktive Einwirkung Gottes passieren konnte und die Qualitäten in Menschen und Mineralien selbstständig miteinander regierten.19 Nach Albertus Magnus entstand der große Einfluss auf den menschlichen Körper, weil Mineralien und Pflanzen ihre Kraft auf direktem Wege empfingen: von den Sternen oder durch das Licht der Sonne. Die in sie hineingegebene „Form“ (forma) werde direkt ein- und abgegeben, wodurch eine größtmög liche Wirkung auf den Menschen entfaltet werde.20 Die Kraft, die der Magnet auf den Menschen ausüben kann, war nicht auf den Bereich der Heilung beschränkt. Neben der medizinischen Anwendung wurden auch weitere Fähigkeiten des Magneten beschrieben, die bei Johann Wonnecke von Kaub nur angedeutet zu finden sind. Wie die Kräfte in der Medizin stehen sie im Zusammenhang mit der Beobachtung, dass das Mineral anziehend oder abweisend reagieren kann. Vor allem konnte man sich der Liebe der Ehefrau mit Hilfe des aimant versichern. Bei dieser Treueprobe legte man einen Magneten unter die schlafende Frau. Während die Untreue aus dem Bett geworfen werde, umfinge die treue Frau im Schlaf ihren Mann in einer Umarmung, so wie sich Magnet und Eisen zusammenschließen. Darüber hinaus könne der Magnet Sympathie und Liebe erzeugen sowie ein versöhnliches Umfeld für zankende Parteien oder Paare schaffen.21 Die anziehende Wirkung übertrug sich demnach auf den Menschen, sodass man das Umhängen von Magneten empfahl, um dem Träger ein gutes Gedächtnis und Ansehen zu verleihen. Im Gegensatz dazu war es auch möglich, sich die abweisenden Kräfte des Magneten zu Nutze zu machen. Ein Haus, das mit Magneten gesichert sei, würde Diebe von sich stoßen. Laut Hildegard von Bingen wehrt der Magnet den Teufel ab.22 Darüber hinaus wurden im Laufe des Mittelalters noch weitere Spielarten des Magneten beschrieben, die zwar kein Eisen, dafür jedoch andere Mineralien oder verschiedene Gegenstände anziehen konnten, wie Gold, Silber, aber auch Skorpione, Fleisch, Haare und Nägel.23 Sicherlich die einflussreichste Verwendung des Magneten stellte der Kompass dar, dessen Beschreibungen im abendländischen Mittelalter erst im 13. Jahrhundert Verbreitung fanden.24 Pia Rudolph 1
Bernhard von Breydenbach, Johann Wonnecke von Kaub u. Erhard Reuwich: Gart der Gesundheit, Mainz: Peter Schöffer, 28. März 1485 [GW M09766]; Hortus sanitatis Deutsch des Johann Wonnecke von Cube bei Peter Schöffer am 28. März 1485 in Mainz, Reprint 1966, hg. v. Konrad Kölbl, Grünwald 1966; Die deutsche Literatur des Mittelalter. Verfasserlexikon, hg. v. Kurt Ruh u. a., Berlin 1980, Sp. 1072–1092, s. v. „Gart der Gesundheit“ (Gundolf Keil);
Gart der Gesundheit Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Die Pflanzenabbildung in Renaissance und Frühbarock. Ein Überblick, in: Pharmazeutische Zeitung 129/1984, S. 2543–2549; David Landau u. Peter Parshall: The Renaissance Print: 1470–1550, New Haven u. a. 1994, S. 245–256; Peter Schmidt: Zur Produktion und Verwendung von Druckgrafik in Mainz im 15. Jahrhundert, in: Gutenberg – Aventur und Kunst. Vom Geheimunternehmen zur ersten Medienrevolution, hg. v. der Stadt Mainz, Ausstellungskatalog, Stadt Mainz, Mainz 2000, S. 584–599; Eduard Isphording: Kräuter und Blumen. Kommentiertes Bestandsverzeichnis der botanischen Bücher bis 1850 in der Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Nürnberg 2008, S. 42–45 u. S. 112–121; Brigitte Baumann u. Helmut Baumann: Mainzer Kräuterbuch-Inkunabeln. Herbarius Moguntinus (1484), Gart der Gesundheit (1485), Hortus sanitatis (1491). Wissenschaftshistorische Untersuchung der drei Prototypen botanisch-medizinischer Literatur des Spätmittelalters, Stuttgart 2010, S. 111–176, S. 223–226; Johannes Gottfried Mayer: Die Wahrheit über den Gart der Gesundheit und sein Weiterleben in den Kräuterbüchern der Frühen Neuzeit, in: Sabine Anagnostou u.a. (Hg.): A passion for plants: materia medica and botany in scientific network from the 16th to the 18th centuries, Stuttgart 2011, S. 119–128; Bernhard Schnell: Kräuterbücher, in: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters 7/2017, S. 506–543, hier S. 536–543; Pia Rudolph: Im Garten der Gesundheit. Pflanzenbilder zwischen Natur, Kunst und Wissen in gedruckten Kräuterbüchern des 15. Jahrhunderts, Wien u. a. 2020. 2 Bernhard von Breydenbach u. Erhard Reuwich: Peregrinatio in terram sanctam. Mainz 11. 02. 1486 [GW 5075]; Frederike Timm: Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breidenbach von 1486 und die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Die Peregrinatio in terram sanctam (1486) als Propagandainstrument im Mantel der gelehrten Pilgerschrift, Stuttgart 2006. 3 Beispielsweise zeigt eine Bearbeitung des Gart durch Eucharius Rößlin im 16. Jahrhundert, das Kreuterbuch (gedruckt 1546 in Frankfurt a.M.), im Abschnitt zum Edlen Gestein und Metall einen Ring mit eingelassenem Stein als Illustration zum Magnet [VD16 R 2874]. 4 Herbarius Moguntinus. Mainz: Peter Schöffer, 1484 [GW 12268]; Fabian Schwabe: Das Mainzer Kräuterbuch, in: Oliver Auge u. Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.): Gesundheit im Buch: Gedruckte medizinische Kostbarkeiten der Greifswalder Universitätsbibliothek, Greifswald 2006, S. 65–68. Baumann/Baumann 2010, S. 99–110. 5 Ein Gart-Exemplar aus der UB Heidelberg (Signatur: P 2460–2 qt. INC) besaß der Arzt Johannes Mirgel aus Lindau (gest. 1561). Er vererbte den Gart innerhalb der Familie. Das Exemplar der UB Tübingen (Signatur: Bi 224.2) besaß der Obermedizinalrat und Direktor der Psychiatrischen Anstalt in Zwiefalten Karl von Schäffer. Das Exemplar der UB Würzburg (Signatur: I.t.f. 603) besaß Anfang des 17. Jahrhunderts zunächst der Nürnberger Arzt Melchior Gottschich und schließlich der Apotheker Nicolaus Hötting aus Ochsenfurt. Das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek (2 Inc.c.a. 1600) besaß zuvor das Münchner Karmelitenkloster. Vgl. den Inkunabelkatalog der Universität Tübingen: www.inka.uni-tuebingen.de. 6 Einen Hinweis zur Nutzung des Gart für den Unterricht kann ein Exemplar der BSB München (2 Inc.c.a. 1771 b) geben, das das Münchener Jesuitenkolleg Mitte des 17. Jahrhunderts besaß. Darin wurde 1663 u. a. ein 22-seitiges, handschriftliches Register ergänzt. 7 Besonders hervorgehoben von Keil 1980, Sp. 1072–1092. Zu den Quellen des Gart: Mayer 2011, S. 119–128. Zum Macer: Johannes Gottfried Mayer: Höhepunkte der Klostermedizin. Der
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Macer floridus und das Herbarium des Vitus Auslasser, hg. mit einer Einl. und dt. Übers. v. Johannes Gottfried Mayer. Erw. Reprintaufl. der Orig.-Ausg. von 1832, Holzminden 2001; Baumann/Baumann 2010, S. 57f.; Ulrike Jansen: Spuria Macri. Ein Anhang zu Macer Floridus, De viribus herbarum. Einl., Übers., Komm. v. Ulrike Jansen. Berlin u. a. 2013. Albert Radl: Der Magnetstein in der Antike. Quellen und Zusammenhänge, Stuttgart 1988; Albert Kloss: Geschichte des Magnetismus, Berlin u. a. 1994; Gudrun Theresia Stecher: Magnetismus im Mittelalter. Von den Fähigkeiten und der Verwendung des Magneten in Dichtung, Alltag und Wissenschaft, Göppingen 1995; Elena Di Venosa: Die deutschen Steinbücher des Mittelalters. Magische und medizinische Einblicke in die Welt der Steine, Göppingen 2005, S. 89–92; Nicolas Weill-Parot: Points aveugles de la nature. La rationalité scientifique médiévale face à l’occulte, l’attraction magnétique et l’horreur du vide (XIIIe – milieu du XVe siècle), Paris 2013; Christoph Sander: Magnes. Der Magnetstein und der Magnetismus in den Wissenschaften der Frühen Neuzeit, Leiden u.a. 2019. Johann Gottfried Mayer: Das Leipziger Drogenkompendium und der Gart der Gesundheit. Ein Vergleich, in: Lenka Vanková (Hg.): Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung, Berlin 2014, S. 133–142, hier S. 135f. Vgl. Radl 1988, S. 58. Vgl. ebd., S. 130f. Wahrscheinlich erklärte man sich mit der großen Masse an Magnetstein die Funktionsweise des Kompasses: Vgl. Stecher 1995, S. 126–129. Zum antiken Mythos: Vgl. Radl 1988, S. 134; Julian A. Smith: Precursors to Peregrinus. The early history of magnetism and the mariner’s compass in Europe, in: Journal of Medieval History 18.1/1992, S. 21–74, hier S. 23. Vgl. Stecher 2005, S. 1–41. Vgl. Stecher 1995, S. 49, S. 51–53; Venosa 2005, S. 89. Vgl. Smith 1992, S. 23f.; Venosa 2005, S. 89–92. Vgl. Stecher 1995, S. 71–73. Hierzu auch: Radl 1988, S. 134–142. Vgl. Stecher 1995, S. 80–87. Eine Zusammenfassung zum Magneten in der antiken Medizin gibt Radl 1988, S. 132f. Bernhard von Breydenbach: Gart der Gesundheit. Mainz: Peter Schöffer, 28. März 1485, fol. 2 recto. Vgl. Ulrike Spyra: Das Buch der Natur Konrads von Megenberg. Die illustrierten Handschriften und Inkunabeln, Köln u. a. 2005, S. 4. Hierzu auch: Klaus Grubmüller: Nature ist der ander got, in: Alan Robertshaw (Hg.): Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999, S. 3–17. Albertus Magnus: De vegetabilibus. Buch VI, Traktat 2. Lat.-dt. übers. u. komm. v. Klaus Biewer, Stuttgart 1992, VI 268. Vgl. Stecher 1995, S. 58–62. Vgl. ebd., S. 63–65, S. 71–73. Vgl. ebd., S. 55–58. Smith 1992, S. 21–74; Nils Röller: Magnetismus. Eine Geschichte der Orientierung, München u. a. 2010.
Francesco Colonna (?)
Hypnerotomachia Poliphili 1499 Il quale nel mediostimo di questo inhumano aedificamento divinamente constructo et expresso per questo modo: della nigerrima petra, che sola integramente era tutto il silicato overamente il pavimento dil’area, di essa propria, nel mediano di uno murulo sublato pedale, cum egregia politura riducta, cum omni ornato opportuno: di forma extrinseca heptagono et della interstitia rotunda […] dil quale per ciascuno era superastructa una enthesiata overo ventriculata columna, in numero septe, cum summa exquisitura turbinate. Dille quale, due correspondevano aequale ex adverso dell’ingresso, in conspecto di questo ove stavamo proni geniculati. Una dille quale tornatile columne, alla dextera parte, cyanava praefulgente di finissimo sapphyro et dalla sinistra vernava virente smaragdo di praestantissimo colore […] Proximo ad questa sequiva una columna di petra turchinia, di venusto ceruleo coloratissima, cum la virtute gratiosamente donata et, quantunque caeca, niente di meno illustrissima et specularmente praefulgeva. Contigua alla sapphyrica columna, assideva una pretiosa di petra caeca etiam di iucundissimo colore quale il meliloto et di lustro quale lo interlucido floreo di vatrachio. Adhaeriva a questa una di iaspide di colore hyalino et l’altra di topatio fulgurante colore aureo. La septima
Jene Quelle [der Venusbrunnen] war im Mittelraume dieses nicht-menschlichen Bauwerkes auf göttliche Art errichtet und auf diese Weise ausgeführt: Aus dem allerschwärzesten Steine, welcher in einem Stück allein die ganze Pflasterung darstellte, oder aber dem Fußboden des Bezirks, aus genau diesem war im Mittelfeld einen Fuß hoch ein Mäuerchen emporgezogen. Mit erhabener Vollendung ausgeführt, mit allem ziemlichen Zierrat, war es in der Außenform siebeneckig, doch im Inneren rund. […] Auf einer jeden Ecke war eine Säule mit Entasis, oder aber gebauchte, aufgerichtet, in der Anzahl sieben, welche mit höchster Ausgesuchtheit schneckenförmig gedreht waren. Von jenen entsprachen zwei in Gleichmaß und Gegenüberstellung dem Eingang, direkt in Richtung der Stelle, wo wir [Poliphil und Polia] uns verneigt niedergekniet befand[en]. Die eine jener, wie gedrechselten, Säulen zur rechten Seite leuchtete cyanblau von allerfeinstem Saphir hervor. Und zur Linken grünte frühlingshaft Smaragd von fürtrefflichster Farbe […] Dieser folgte als nächste eine Säule von Türkisstein; von reizend schönem Himmelsblau allerfarbigst; mit den Tugenden huldvoll versehen. Und wie trübe auch immer, nichts desto weniger blitzte er allerlichtest und spiegelichst hervor. An grenzend an die saphirne Säule saß eine kostbare, von trübem Stein auf, auch sie von
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Francesco Colonna (?)
sola et singularmente era hexagonia di lympidissimo berillo indico di oleaceo nitore, in contrario gli obiecti reddendo. Et questa per medio dille due prime correspondeva, per che omni figura dispare angulare uno angulo obvia nel mediano dell’intercalato di dui […] In medio del scapo della septima columna beryllia, dalla parte intranea, era mirificamente della propria petra, quasi di scalptura divulsa, uno puerulo hermaphrodito, da uno cotylidone ritinuto; le tre praelucente columne all’ordine dextero similmente per ciascuna haveano in miro modo uno infantulo capto in certi acceptabuli; et cusì, nel scapo di ciascuna dille pretiose columne sinistre, appendeva per ciascuna infixo il foemello sexo. Et questo de artificio mystico nel medio dille columne era naturalmente expresso, cum tanto scintulamento di lustratione, quale non rende la corrosione dil cotes overo smirillo cum la lambente tripolea creta. Le base, gli capitelli, il trabe, phrygio et coronice extavano di mundissimo oro; gli archi, cum tutto il solido tra una columna et l’altra era della subacta petra di una delle columne per ordine ambiente, cioè di saphyro verso il smaragdo et il smaragdo verso la turchinia; et cusì subsequentemente tutto l’arcuato era mirabilmente constructo. Negli anguli dilla corona sopra la viva et centrica linea perpendiculare di qualunque substituta columna, una aruleta et di supra excitata una imagine di planita cum il suo appropriato attributo promineva; la sua grandecia dal tertio dilla subiecta columna exacta symmetricamente, di purissimo oro. […] Il culmo poscia di questo mirabilissimo fonte et tectorio fulgeva di una insolente
allererfreulichster Farbe, so wie Honigklee, und vom Glanze so wie das durchscheinende Blühen des Froschkrauts. Dieser hing eine von Jaspis an, von glasgrüner Farbe; und die andere von goldfarben blitzendem Topas. Die Siebte allein und alleiniglich war sechseckig, von durchsichtigstem Indischen Beryll von olivigem Schimmer, welcher die Gegenstände verkehrt wiedergab. Und diese entsprach der Mitte zwischen den beiden Ersten. […] In der Mitte des Schaftes der siebten Beryllenen Säule wurde im innerlichen Teile auf wunderbarliche Weise vom nämlichen Steine, gleichsam von losgelöster Bildhauerarbeit, in einer Vertiefung ein Hermaphro ditenknäblein gehalten. Die drei fürleuchtenden Säulen der rechten Reihe trugen gleichermaßen auf staunliche Weise, gewissermaßen in Fäßchen, kleine Knäbchen eingefaßt. Und also hing in einem jeden Schaft einer jeden der kostbaren linken Säulen, eingefügt, ein Kindlein weiblichen Geschlechts. Und dies war in der Mitte der Säulen von mysterienhaftem Kunstgeschick nach der Natur ausgeführt; mit solchem Funkeln von Lichtglanz, wie sie nicht das Scheuern des Schleifsteins ergibt, oder aber das Schmirgeln mit der beschleckenden Tripolitanischen Kreide. Die Basen, die Kapitelle, das Gebälk, der Fries und das Kranz gesims traten von reinstem Golde hervor. Die Bögen mit dem ganzen Mauerwerk zwischen der einen und der anderen Säule waren reihum vom darunter gesetzten Steine einer der Säulen, das heißt von Saphir gegen den Smaragd, und von Smaragd gegen den Türkis, und also war die ganze nachfolgende Arkade wunderbarlich errichtet.
Hypnerotomachia Poliphili
cupula di optimo et disvenato crystallo mundissimo et perspicuo; né tale vide Xenocrates, né reperto simile in Cypro, né producto in Asia, né in Germania, sencia rubigine et scabricie, sencia nube maculosa, né centro sale, né alcuno capillamento vedevasi, né tale franse Nerone, ma puro praestante et asyntheto […] Nel gracilamento del summo cacumine havea infixo uno miraculoso ostentamento in uno aureo et faberrimo lovo di uno undique fulgitritio carbunculo di forma ovola et di crassitudine strutiocamela. […] Quivi, tra la columna syphyrica et smaragdinea se contineva in orbiculi flexi cum laqueoli innodati una la più bella cortinetta velacea impexa che unque la foetosa natura ad gli dii cosa più grata di producere excgita‹re› havesse potuto; textile tanto bella et di materia che io non saperei unque exprimere; ma di sandalaceo coloramento cum textura di belissima floritura et cum quatro litere d’oro graece subtilemente super ritramate, YMHN, coelabonda decorissimamente extensula […] Questa summamente appareva, come pretiosissimo thesoro, gratiosa alla mia Polia, la quale velando occultava la maiestale et divina praesentia dilla veneranda matre. Diqué essendo ambidui, Polia et io, supra gli vertibili popliti expositi cernui, il divino signore Cupidine dede alla nympha Synesia la sagitta d’oro et accortamente gli fece nuto che ad Polia essa la offerisca et che ella cum la dicta metuenda sagitta lacere et sfinda la nobilissima cortina. Ma Polia, di ciò quasi dolentise del iuosso di tale scissura et fractura, quantunque subiecta si fusse ad quello imperio divino, parea inexperta,
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In den Ecken des Kranzgesimses war auf der Hochachse und zentralen lotrechten Linie von jedweder der darunter aufgestellten Säulen ein Würfellein, und darüber ragte aufgerichtet je ein Planetenbild mit seiner eigentümlichen Eigenschaft auf, dessen Größe von einem Drittel der darunterliegenden Säule ausgeführt war; ebenmäßig von reinstem Golde […] Der First alsdann dieser allerwunderbarlichsten Quelle und Überdachung blitzte von einer ungewohnten Kuppel von bestem und aderfreiem, allerlauterstem und durchschimmerndem Kristall. Nicht sah solchen Xenokrates! Noch ward Ähnlicher auf Zypern gefunden, noch hervorgebracht in Asien, nicht in Germanien! Ohne Rost und Rauhigkeit, ohne fleckige Trübung, weder Salzkern noch irgendwelche Haarrisse erschien er! Noch zertrümmerte einen solchen Nero! Dieser aber erwies sich als rein und unzusammengesetzt. […] In der Verjüngung ihres Scheitels hatte sie [die Kuppel], als wundervolles Schaustück in einem güld’nem und allerhandwerklichsten Ei eine[n] überallhin wetterleuchtenden Karfunkel befestigt; in ovaler Form und von Straußeneidicke. […] Allhier war durchgängig zwischen der saphirenen und smaragdenen Säule an ge krümmten Scheibchen mit Stricklein eines der schönsten Vorhängchen von ungekämmten Tuche angeknüpft, wie sich niemals die fruchtbarliche Natur ausgedacht haben könnte, etwas Genehmeres für die Götter hervorzubringen; ein Gewebe, solch schön und von solchem Material, daß ich es niemals auszudrücken wüßte. Mit sandel holzener Färbung aber, mit Webart von
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recusando di non assentire. Il signore in quel medesimo momento, surridendo iniunse alla nympha Synesia quella la dovesse alla nympha Philedia consignare et poscia ad me la praesentasse et che quello che la mellea et integerrima Polia fare non audeva che io thelithoro et avidissimo di mirare la sanctissima genitrice exequire dovesse; là onde non cusì praesto il divino instrumento tractai che, di caeca flamma circumacto, non ricusando immo cum urgente affecto proiectissimo la cortinetta percossi et nel sfindirsi quasi che Polia vidi contristarsene et la columna smaragdina, scloppando, parve che tutta si dovesse fragmentare. Et ecco repente che io la divina forma nel salso fonte palesemente vedo exprompta […]. Francesco Colonna (?): Hypnerotomachia Poliphili, Liber I, hg. u. komm. v. Giovanni Pozzi u. Lucia A. Ciapponi, Padua 1980, S. 352–355.
wunderschöne[m] Blütenmuster […] und mit vier griechischen Lettern von Golde, fein aufgestickt: YMHN [HYMEN]; welches sich leicht in Relief abhob. […] Dieser erschien als allerkostbarster Schatz in höchstem Maße meiner Polia genehm, da jener verschleiernd die hoheitliche und göttliche Gegenwart der verehrungswürdigen Mutter barg. Als daraufhin Polia und ich uns gesenkten Hauptes in die beugsamen Kniekehlen herabgelassen hatten, gab der göttliche Herr Cupido der Nymphe Synesia [Vereinigung] den Pfeil von Golde und gab ihr geschickt einen Wink, daß sie ihn Polia darböte, und daß diese dann mit dem besagten zu fürchtenden Pfeile den alleredelsten Vorhang zerreiße und spalte. Da Polia aber des Geheißes eines solchen Schnittes und Bruches gleichsam reute, wie sehr sie auch jener g öttlichen Herrschaft unterworfen war, schien sie dessen unfähig und weigerte sich dem Folge zu leisten. Der in jenem nämlichen Augenblicke lächelnde Herr trug der Nymphe Synesia auf, daß jene ihn der Nymphe Philedia übertragen solle, und diese solle ihn alsdann mir anbieten, und daß ich das jenige durchführen solle, welches die honigsüße und unberührteste Polia nicht zu tun wagt, der ich ins Ziel eindringen und begierigst die Allerheiligste Erzeugerin schauen wollte. Nicht also geschwind, wie ich daraufhin das göttliche Werkzeug aufgenommen, daß ich mich, der ich mich wider die trübe Flamme, die mich umspielte, nicht wehrte, fürwahr von drängender Leidenschaft daraufgeschleudert das Vorhängchen durchstieß. Und bei Zerreißen sah ich gleichsam, wie Polia sich betrübte, und wie die smaragdene Säule zerbarst. Es schien, daß alles in
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Stücke zerspringen müsse. Doch siehe, schlagartig sehe ich die göttliche Gestalt in der salzigen Quelle […]. Francesco Colonna (?): Hypnerotomachia Poliphili, hg. u. übers. v. Thomas Reiser, Leipzig 2014, S. 516–521.
Kommentar Die Beschreibung des Venusbrunnens auf Kythera markiert nicht nur den strukturellen, sondern auch den narrativen Höhepunkt der Hypnerotomachia Poliphili.1 So findet in der ausführlich beschriebenen Tempelanlage die Vereinigung der Liebenden Poliphil und Polia in Anwesenheit von Venus statt, auf die nicht nur Poliphil, sondern auch die Leserinnen und Leser fast 400 Seiten warten mussten. Die ausführliche Beschreibung des kytherischen Tempels ist dabei in vielfacher Weise beispielhaft für das gesamte Werk. Denn die teleologisch aufgebaute Liebeserzählung wird im obigen Zitat, wie in der gesamten Hypnerotomachia, von ausführlichen Architektur- und Naturbeschreibungen sowie Steinaufzählungen begleitet, die weit über eine gewöhnliche Nebenerzählung der eigentlichen Rahmenhandlung hinausreichen und aufgrund der Hyperdeterminierung der verschiedenen Baumaterialien nicht nur eine große Herausforderung für die Lesenden darstellen, sondern auch ihre Phantasie entfesseln. Die Autorfrage des in der Erstausgabe 467 Seiten langen Werks konnte noch nicht abschließend geklärt werden.2 Es wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben und 1499 von Aldus Manutius in Venedig in der beträchtlich hohen Auflage von etwa 500 bis 600 Exemplaren gedruckt. Den 172 Holzschnitten, die dem Text nicht nur erläuternd beigestellt, sondern die teils auch graphisch eingebunden sind, verdankt die Hypnerotomachia ihre Bezeichnung als Gesamtkunstwerk.3 Das Verhältnis von Text und Bild ist wechsel seitig – sie sind komplementäre Sinnträger, die sich gegenseitig ergänzen.4 Auch hierfür ist die vorliegende Textstelle beispielhaft. Während die sprachliche Beschreibung des Venusbrunnens nämlich mehrere Seiten in Anspruch nimmt, beschränkt sich an dieser Stelle der begleitende Holzschnitt darauf, eine schematische Darstellung des Tempelgrundrisses zu liefern, wodurch das bildliche Vorstellungsvermögen der Lesenden noch mehr angeregt wird.5 Die einbändige Inkunabel umfasst zwei Bücher. Während das erste Buch aus der Sicht des träumenden Poliphils geschrieben ist, berichtet das zweite Buch rückblickend das Geschehen des ersten Teils aus der Sicht Polias. Da dieses nicht nur erheblich kürzer ist, sondern es außerdem kaum Architektur- und somit auch kaum Steinbeschreibungen enthält, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf das erste Buch. Im Rahmen eines Traum berichtes schildert dieses in drei Teilen die trobadoreske Suche des männlichen Geliebten
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Poliphils nach der schillernden Frauenfigur Polia, wodurch die Hypnerotomachia auf die lange literarische Tradition der Minnelyrik verweist und so auch strukturelle Ähnlichkeiten zu Dantes Göttlicher Komödie aufweist. Der Liebe nachzugehen bedeutet für Poliphil, ähnlich wie für Dante, auch nach dem universellen Gesetz zu suchen. Poliphils Suche nach dem Weltprinzip erfolgt somit in einer interpersonalen und dialogischen Bezogenheit zu Polia. Als Führerin in ein besseres und höheres Leben ist Polia der Grund für die sittliche Vervollkommnung und Veredelung Poliphils, der versucht, um seiner Angebeteten gerecht zu werden, seine tierischen Triebe in den Griff zu bekommen. Denn Poliphil wird der Einblick in die „Schatzkammer“6 der makrokosmischen Welterkenntnis im Venustempel nur dann gewährt, wenn er lernt, seine eigene mikrokosmische Natur, die von dem Zweikampf zwischen Leib und Seele geprägt ist, zu beherrschen. Dieser innere Prozess der Läuterung wird durch die physische Wanderung des Protagonisten, auf der er verschiedene Prüfungen bestehen muss, anschaulich gemacht. Dabei spiegeln die verschiedenen landschaftlichen Umgebungen der drei Etappen die innere Befindlichkeit Poliphils und so auch seine Nähe und Ferne zu Polia wider. Wie bereits in Dantes Göttlicher Komödie kommt den Steinen auch in der Hypnerotomachia eine besondere Funktion zu. Sie helfen Poliphil nicht nur dabei, seine begehrende Liebe zu stillen, sondern auch das rechte Maß zu finden. In der ersten Etappe gelangt Poliphil in eine karge Landschaft mit zahlreichen antiken Ruinen. Diese beschreibt er mit architektonischem Fachvokabular. Die symmetria dieser Gebäude zeige, so behauptet Poliphil noch zu Anfang seiner Suche, die „Vortrefflichkeit des Geistes an“,7 während die verschiedenen Edelsteine als Verzierungen und der „beigegebene Schmuck“ des Baukörpers als „Ergänzungen des Hauptsächlichen“ abgewertet werden.8 Inmitten dieser kargen Umgebung vermisst Poliphil seine Geliebte am meisten.9 Anschließend gelangt er in das Reich der Königin Eleuterilyda (Freier Wille). Nach der kargen, aber geordneten ersten Etappe wird Poliphil im Palast der Königin mit mangelnder Tektonik, dafür aber mit umso reicherer Ornamentik aus kostbaren Baustoffen konfrontiert.10 Da das subjektive männliche Erleben Poliphils in Relation zu der Frauenpräsenz und in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der ihn umgebenden Landschaft steht, verschwindet Polia in der ornamentreichen Umgebung der produktiven weiblichen Natur nahezu aus dem Gedächtnis Poliphils. Nach einem prächtigen Mahl im Palast der Königin wird Poliphil von zwei Nymphen zu drei Pforten geführt, von denen eine in das Reich der Königin Telosia (Ziel) Einlass gewähren soll. Poliphil wird aufgefordert zwischen der Pforte des „Himmlischen Ruhms“ (Gloria Dei), der Pforte der „Liebe“ (Mater Amoris) und der Pforte des „Irdischen Ruhms“ (Gloria Mundi) zu wählen. Er entscheidet sich für die Pforte der Liebe und erhält Eingang in eine durchweg als harmonisch beschriebene Landschaft. Dass Poliphil die mittlere Pforte wählt, ist sprechend für die dritte Etappe seiner Reise. Denn die Landschaft, die sich ihm nun zeigt, unterscheidet sich von den zuvor beschriebenen Umgebungen. Entgegen der ersten beiden Etappen, von welcher sich die erste vorwiegend durch eine unfruchtbare Landschaft und die zweite Etappe durch die über-fruchtbare Natur in Form von verschwenderischem
Hypnerotomachia Poliphili
Zierrat samt zahlreicher Edelsteine auszeichnete, ist die dritte Etappe, gemäß der aristotelischen Mesotes-Lehre,11 von der Verbindung beider Extreme gekennzeichnet. Indem der natura artificiosa eine schöpferische Kraft zugeschrieben und sie auf eine Stufe mit dem tugendhaften Architekten gestellt wird, erscheint die Natur der dritten Etappe fruchtbar und zugleich geordnet – männlicher Geist und weibliche Materie sind miteinander verschmolzen. So verwundert es nicht, dass Poliphil gerade in dieser dritten Etappe auch einer kostbar gekleideten Nymphe begegnet, die mit einer Fackel ausgestattet seine Begleiterin und Führerin für den Rest seiner Reise wird. Er verliebt sich in sie, weiß aber nichts von ihrer wirklichen Identität. Diese enthüllt sie ihm erst im Tempel der Venus Physizoa als Polia. Poliphil ist dem Anblick der entschleierten Polia allerdings so erlegen, dass er in seine Schranken verwiesen werden muss. Polia erinnert Poliphil an sein archäologisches Interesse und schickt ihn zu den Grabsteinen eines Polyandrions, in dem sich auch viele Gräber unglücklicher Liebender befinden. Hier zeigt sich erneut das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis von landschaftlicher Umgebung und Poliphils innerer Gefühlswelt. Bemerkenswerterweise verweist die Hypnerotomachia an dieser Stelle mit Hilfe von Steinen explizit auf die Göttliche Komödie.12 Schon der Weg zu den Gräbern der Liebestoten erinnert an die steinigen Pfade des dantesken Inferno. Es sind geradezu Dantes eigene Worte, mit denen Poliphil die Sünden der Seelen, die zu wenig oder zu stark geliebt haben und nun durch Kälte oder Hitze bestraft werden, beschreibt.13 Die karge und felsige Landschaft des dantesken locus terribilis bringt Poliphil wieder zur Besinnung. Während Dantes Liebe zu Beatrice aber nur ein Vorgeschmack auf die göttliche caritas bleibt, setzen Poliphil und Polia ihren Weg gemeinsam fort, um sich in der Mitte der kreisrunden Insel im Tempel der Venus zu vereinigen und an den Geheimnissen der Natur teilzuhaben.14 Der Schilderung der Vereinigungszeremonie von Poliphil und Polia geht die im obigen Zitat zum Teil wiedergegebene ausführliche Beschreibung der kytherischen Tempelanlage voraus, die beispielhaft für die Ekphrasen der gesamten Hypnerotomachia ist. Während vor allem die ältere Forschung die Hypnerotomachia aufgrund der ausführlichen Architekturbeschreibungen als ein mehr oder weniger gelungenes Architekturtraktat verstanden hat, verweist Roswitha Stewering auf ein dahinterliegendes naturphilosophisches Konzept.15 Ihrer Meinung nach seien die Ekphrasen Mittel, um das Verhältnis von Form (ēλη, ´ hylē) und Materie (μορφή, morph‛ú) darzustellen. Beide Erzählebenen – rahmende Liebeserzählung und seitenlange Umgebungsbeschreibungen – lassen sich durch die von Aristoteles formulierte Vorstellung verknüpfen, dass Geist und Materie geschlechtsspezifische Merkmale zugeordnet werden können. Zwischen ihnen besteht, so das von Aristoteles formulierte Prinzip der privatio, ein einseitiges Sehnsuchtsverhältnis,16 das nun in der Hypnerotomachia zu einem wechselseitigen erweitert wird. Nach dieser Lesart spiegelt sich in der symbolischen Vereinigung von Poliphil und Polia auf Kythera die Utopie einer vollkommenen Harmonie von männlichem Geist und weiblicher Natur, was sich in der Tempelanlage nicht nur im architektonischen Aufbau, sondern auch auf der Ebene des Materials spiegelt. So erlaubt die Kennt-
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nis der im Mittelalter verbreiteten Steinkataloge – vor allem von Isidor von Sevilla und Albertus Magnus, deren Schriften auf antiken geologischen Traktaten wie denen von Theophrast, Dioskurides und Plinius d. Ä. basieren – ebenfalls eine symbolische Deutung der im Zitat beschriebenen Vereinigung der Liebenden. Alle sieben Säulen des heptagonalen Tempietto sind als Monolithe aus verschiedenen Edelsteinen gefertigt. Während die drei rechten Säulen das männliche und die drei linken Säulen das weibliche Geschlecht verkörpern, was vor allem an den in die Schäfte eingelassenen Bildhauerarbeiten deutlich wird, vereint die siebte Säule beide Geschlechter, indem sich in ihr die gesamte Tempelanlage spiegelt. Ihr Schaft wird darüber hinaus von einem Hermaphroditen geschmückt. In der Mitte des Tempels selbst badet Venus, die zunächst von einem Vorhang mit der Aufschrift „YMHN“ (νμήν, ´ hymen; „Haut, Häutchen“) verdeckt ist. Als Poliphil diesen Vorhang mit dem Pfeil durchstößt, zerbirst die Smaragdsäule und Poliphil hat den Eindruck, alles gehe in Trümmer.17 Der Smaragd wurde aufgrund seiner grünen Farbe mit den Monaten Mai und Juni und der Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht, worauf auch die Formulierung, die Säule „erblühte frühlingshaft“, anspielt.18 Darüber hinaus wird dem Smaragd in zahlreichen Steinkatalogen die Eigenschaft zugesprochen, die Keuschheit seines Trägers zu bewahren.19 Trage man ihm beim Koitus, so eine weitere Behauptung, zerberste der kalte Stein, da er eine allzu große Hitze nicht ertragen könne.20 Die Deutung der Smaragdsäule als Symbol des weiblichen Geschlechts legt eine inhaltliche Begründung der Erwähnung der zweiten Säule aus Saphir nahe. Plinius ordnet im 37. Buch seiner Historia Naturalis den Saphir, den er cyanos nennt, zu den männlichen Sorten des Lapislazulis. Dieser wurde in der Antike mit dem Saphir identifiziert.21 Bedeutungstragend ist auch die Aussage von Marbod von Rennes in seinem Traktat De lapidibus aus dem 11. Jahrhundert über den Saphir: „Der beste ist der, der aus Medien (Persien) stammt, er führt Gefesselte aus dem Kerker.“22 Hiermit könnte auf die Vereinigung der beiden Liebenden hingewiesen sein, die Poliphil aus seiner Gefangenschaft der unglücklichen Liebe befreit. Die verschiedenen durch die Edelsteine aufgerufenen Bilder, das Durchstechen des Vorhangs sowie das direkt daran anschließende Zersplittern der Smaragdsäule beschreibt auf diese Weise in sublimierter Form die Entjungferung Polias.23 Die ausführlichen Orts- und Architekturbeschreibungen dienen somit als Möglichkeit, das Verhältnis von Form und Materie aus verschiedenen Blickwinkeln und im idealen Stadium der harmonischen Vereinigung eingängig darzustellen. Dabei spielt auch die architektonische Form der Kuppel eine herausragende Rolle, wie Roswitha Stewering gezeigt hat. In ihr verschmelzen nämlich raumstrukturierender Ordnungswille und raumumschließende Form der Höhle – Form und Materie, Architektur und Natur, Männlichkeit und Weiblichkeit erscheinen vollkommen vereint. Die Tempelanlage des Venusbrunnens wird somit durch ihre architektonische Form und durch die materiale Beschaffenheit der Säulen, spiegelbildlich zum Geschlecht der Geliebten, der Schoß der Natur, in den Poliphil eindringen darf.24 Zum Abschluss der Zeremonie überreicht Venus den beiden Liebenden aus einer Austernschale jeweils einen Ring mit einem „veilchenblauen Juwel, einer eingefaßten Anteros“.25 Dieser Edelstein, eine Art Amethyst, weist
Hypnerotomachia Poliphili
mit seinem Namen auf das Konzept der Gegenliebe von Himmlischem und Irdischem hin.26 Es ist nicht nur der wechselseitige Ringtausch, der die gegenseitige Liebe und somit den Höhepunkt der Gesamterzählung symbolisiert, sondern vor allem der eingefasste Edelstein, womit abschließend die Wichtigkeit der Steine in der Hypnerotomachia veranschaulicht wird. Franca Buss 1
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Zu deutsch in etwa: Liebeskampftraum des Poliphil. Der vollständige Titel lautet: HYPNEROTOMACHIA POLIPHILI, VBI HVMANA OMNIA NON NISI SOMNIUM ESSE DOCET. ATQVE OBITER PLVRIMA SCITV SANEQVAM DIGNA COMMEMORAT. (Hypnerotomachia des Poliphil, worin er lehrt, dass alle menschlichen Dinge bloß ein Traum sind, und unterwegs mehreres wahrlich Wissenswertes überliefert. ) Im Folgenden wird einfachheitshalber von der Hypnerotomachia die Rede sein. Da die 38 Kapitelinitialen das Akrostichon POLIAM FRATER FRANCISCUS COLUMNA PERMAVIT ergeben, gilt Francesco Colonna gemeinhin als Autor des Werks. Die Identität der Person Colonnas ist aber noch immer ungeklärt. In der neueren Forschung wird die ältere Zuschreibung an den venezianischen Dominikanermönch Francesco Colonna (1433/34–1527) angezweifelt. Stattdessen wurde immer wieder der Fürst von Palestrina und Zagarolo (1453–1517), Mitglied der gleichnamigen römischen Adelsfamilie, als Autor vorgeschlagen. Vgl. Roswitha Stewering schreibt die Hypnerotomachia dagegen Niccolò Lelio Cosmico zu. Vgl. Roswitha Stewering: Architektur und Natur in der Hypnerotomachia Poliphili (Manutius 1499) und die Zuschreibung des Werkes an Niccolò Lelio Cosmico, Hamburg 1996, S. 1f. Eine gute Übersicht der Forschungsdiskussion bezüglich der Autorfrage geben Marco Ariani u. Mino Gabriele: L’autore del ‚Polifilo‘, in: Francesco Colonna. Hypnerotomachia Poliphili. Riproduzione ridotta dell’edizione aldina del 1499, 2 Bde., hg. u. übers. v. Marco Ariani u. Mino Gabriele, Mailand 1998, hier Bd. II, S. LXIII–XC. Matteo Burioni hat darauf verwiesen, dass die gleichzeitige Verrätselung und Offenbarung des Autorennamens als bewusste Inszenierung verstanden werden muss. Matteo Burioni: Das Ich der Baukunst. Traumwandlerische Architekturen in der Hypnerotomachia Poliphili, in: Andreas Beyer, Ralf Simon u. Martino Stierli (Hg.): Zwischen Architektur und literarischer Imagination, München 2012, S. 357–386, insbesondere S. 359–360. Die Holzschnitte stammen vermutlich von mehreren Künstlern, aber auch diese konnten noch nicht abschließend identifiziert werden. Roswitha Stewering geht von mindestens zwei Künstlern aus, von denen der Fähigere korrigierend in die Fertigungen des anderen eingegriffen habe. Stewering 1996, S. 5. Vgl. zum Verhältnis von Text und Bild in der Hypnerotomachia z. B. Rafael Arnold: Ansichten und Einsichten – Die Rolle der visuellen Perzeption in der Hypnerotomachia Poliphili (1499), in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 35/2014, S. 3–20 sowie ders.: Die Grenzen des Dar- und Vorstellbaren. Bild und Text in der Hypnerotomachia Poliphili, in: Letteratura e Arte 8/2010, S. 139–155. Laut Liliana Leopardi organisiert sich die sprachliche und visuelle Darstellung des Venusbrunnens über die beiden Pole der Verlockung und Verweigerung; Text und Bild können auf diese Weise auch geschlechtsspezifische Eigenschaften zugeordnet werden. Liliana
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Francesco Colonna (?) Leopardi: Violence and Desire. Fetishist Impulses and Violence against the Female Body in the Hypnerotomachia Poliphili, in: Angeliki Pollali u. Berthold Hub (Hg.): Images of Sex and Desire in Renaissance Art and Modern Historiography, New York 2018, S. 149–167. 6 Als solche bezeichnet Poliphil nicht nur das Geschlecht seiner geliebten Polia, sondern auch den Venusbrunnen, wie bereits das obige Zitat gezeigt hat, siehe Francesco Colonna (?): Hypnerotomachia Poliphili, hg. u. übers. v. Thomas Reiser, Leipzig 2014, S. 340f. u. S. 521. 7 Colonna ed. 2014, S. 65. 8 Ebd., S. 70. 9 Ebd., S. 48. 10 So z. B.: „Es saß also in der Mitte diese vielbekannte und selbstherrliche Königin, mit Prunk und höchstem Gepränge und unwähnbarem Zierrat, wobei die ringsum geführten Säume ihrer verschwenderischen Gewandung mit solchem Reichtume der reichlichsten Juwelen von abwechselnder Färbung ganz ausgefüllt waren, daß man sagen möchte, die Natur habe allhier mit mutwilligem Aufwand die edelsten Arten der leuchtenden Juwelen hageln lassen“, siehe ebd., S. 146f. 11 Die aristotelische Lehre von der Mitte bezeichnet die Stellung einer Tugend zwischen zwei Extremen. 12 Vgl. den Beitrag zu Dantes Göttlicher Komödie in diesem Band. 13 Colonna ed. 2014, S. 354. 14 Zur Pluralität der Liebesmodelle in der Frühen Neuzeit vgl. Kirsten Dickhaut: Kytherische Liebe. Liebe auf Kythera, in: dies. (Hg.): Liebessemantik. Frühneuzeitliche Repräsentationen von Liebe in Italien und Frankreich, Wiesbaden 2014, S. 263–330. 15 Roswitha Stewering: Harmonie von Natur- und Kunstschönem. Der Venusbrunnen in der Hypnerotomachia Poliphili, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 66−75 sowie vor allem Stewering 1996. 16 So heißt es bei Aristoteles: „[S]o wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem begehrt“, siehe Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur, hg. v. Hans Günther Zekl, Hamburg 1988, hier: 192a, 20–25, S. 23. 17 Colonna ed. 2014, S. 521. 18 Ebd., S. 517. 19 Albertus Magnus: De Mineralibus, Basel 1983, II,XVII, S. 44–45. 20 Stewering 1996, S. 135. 21 Vgl. Stewering 1995, S. 71. 22 Marbodius von Rennes: De lapidibus, übers. v. C. W. King, hg. v. John M. Riddle, Wiesbaden 1977, S. 42. 23 Dies spiegelt sich auch im Text-Bild-Verhältnis wider: der visuellen Frustration, hervorgerufen durch den schlichten schematischen Holzschnitt, wird die textliche Defloration entgegengesetzt (textus = Inhalt einer Rede; Schleier; Gewebe). Siehe dazu Leopardi 2018. Die Geschlechtssymbolik der Defloration Polias erinnert zudem stark an das Ende des Roman de la Rose. 24 Roswitha Stewering bezeichnet den Venusbrunnen deswegen als „zweigeschlechtliche Mega-Gebärmutter“. Stewering 1996, S. 131.
Hypnerotomachia Poliphili 25 […] et sencia intercalato, fora dilla cortice ostrea dui annuli trasse cum una pretiosa gemma violacea inclaustrata anterota in ciascuno […], siehe Colonna 1980, S. 359. 26 Vgl. v. a. Kirsten Dickhaut: Amor sacro e profano als Liebesehe. Über das Prinzip des Anteros in Francesco Colonnas Hypnerotomachia Poliphili, in: Jörn Steigerwald u. Valeska von Rosen (Hg.): Amor sacro e profano. Modelle und Modellierungen der Liebe in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance, Wiesbaden 2012, S. 85–102 sowie dies.: Liebessemantik. Frühneuzeitliche Darstellungen von Liebe in Italien und Frankreich, Wiesbaden 2014.
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Speculum Lapidum 1502 Tertius liber
Drittes Buch
Capitulum Tertium, in ostensione, quae sint imagines productae a natura et quae non, et quae virtutem habent Longum sermonem deduximus de dignitate sculptoriae artis, nunc ad rem nostram redeamus, divisionem sumentes Alberti Magni, loco praeallegato, dicamusque quae imagines a natura in lapidibus tripliciter accidere possunt. Primo modo et hoc dupliter. Uno modo, cum proprium lapidis ex sui natura sit esse ex diversisis coloribus ac lineis, et ex commixtione colorum seu linearum ad invicem concurrentium, ex quibus variae ac diversae imagines causantur, ut in marmoribus, Achatibus, ac in multis aliis lapidibus diversorum colorum. Fertur quod Pyrthus Rex achatem habuit a natura productam, in quo figuratae erant novem Musae cum Apolline pulsante lyram. Achatem quoque vidi, in quo septem veluti arbores in planitie apparebant. Aliter hoc primo modo imagines in lapidibus formantur, cum ex inusitato colore superaddito lapidi figurae seu imagines causantur, ut ab Alberto fertur de lapide situato Coloniae in sacello trium Regum, in quo bina candissima capita super se equitantia, lineis tamen distincta sunt, in quorum fronte nigerrimus serpens elevatur. Adest etiam Aethyopis figura onycea, veste floribus ornata.
Drittes Kapitel. Zur Darstellung, welche ilder von der Natur hervorgebracht B werden, welche nicht und welchen Vorzug sie haben Wir hatten eine lange Ausführung über die Würde der Bildhauerkunst, kommen nun aber zu unserem Gegenstand zurück, indem wir Unterscheidungen vornehmen. In Berufung auf oben genannte Stelle des Albertus Magnus wollen wir darlegen, dass es zu Bildern in Stein von Natur aus auf dreierlei Weise kommen kann. Auf eine erste Weise gleich zweifach: Auf erste Weise, wenn die Eigenheit des Steines seiner Natur nach aus verschiedenen Farben und Linien und aus Verbindung dieser gegenseitig ineinanderlaufenden Farben und Linien besteht, wodurch viele unterschiedliche Bilder verursacht werden, wie bei Marmorarten, Achaten und vielen anderen mehrfarbigen Steinen. Es heißt, dass König Pyrrhus einen von der Natur hervorgebrachten Stein gehabt habe, auf dem die neun Musen und der die Leier schlagende Apoll verbildlicht gewesen seien. Ich aber habe einen Achat gesehen, auf dem gleichwie sieben Bäume in der Fläche erschienen. Andererseits bilden sich in jener ersten Weise Bilder im Stein, wenn aufgrund ungewohnter Farbe in einer aufliegenden Gesteinsschicht Figuren oder Bilder verur-
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Camillo Leonardi
Plinius quoque refert imaginem Sileni esse repertam in sectione marmoris. Nonne in tabulis sectis ex columna diversorum colorum in quadam porta dominationis tuae Pisauri variae res apparent? Multi admirantur ex hoc, et pro impossibili tenent, cum oculis propriis non viderint. Sed qui dictis philosophicis imbuti sunt, haec et maiora credunt, ut Albertus Magnus super secundo physicorum recitat, ac etiam in libello de Secretis mulierum, quarto capitulo secundi Tractatus, Heinricus quoque de Saxonia, in commento dicti Tractatus, ac multi alii philosophi narrant ac demonstrant, quae interdum tanta est vis specialis constellationis in producendo seu in formando aliqua, ut non solum in propria specie, sed in diversa producantur, quae impossibilia apparent, ut ex dicitis philosophicorum apparet. De hoc ipsi tamen non admirantur, cum causam intelligant, nam admiratio ex ignorantia procedit. Dicunt enim , quod interdum tanta est vis influxus coeli, ex planetarum aspectu constellationum ac situ ipsorum, quod non solum ex humano semine hominum effigies producuntur, sed bruta ac partes brutorum multotiens concreantur. Et sicut hoc inanimatis evenit, ita et in lapidibus ac in aliis inanimatis accidere potest. Nonne ridiculum foret apud intelligentes, credere Satyros, Centauros et similia monstra fore producta ex commixtione venerei actus brutalis cum humano, nonne muliotiens vidimus ex mulierum partu monstra fuisse producta. nec credendum est, ac absurdum foret, talia animalia dicere cum mulieribus concubuisse. sed ut diximus, haec et maiora ex influxu eveniunt. Secundo modo lapides
sacht werden, wie von Albertus Magnus über einen am Schrein der Dreikönige berichtet wird, auf dem zwei strahlend weiße Köpfe einander gegenüber stehen, dennoch durch Linien geschieden sind, vor deren Gesichtern sich eine tiefschwarze Schlange erhebt. Es gibt auch bei den Äthiopiern eine Onyxfigur mit einem blumengeschmückten Gewand. Plinius berichtet auch, dass man das Bild eines Silens beim Schneiden eines Marmors gefunden habe. Ist es nicht so, dass man auf Tafeln, die aus einer vielfarbigen Säule eines Tores deiner Herrschaft Pesaro geschnitten waren, verschiedene Gegenstände erschienen? Viele staunten darüber und hielten es für unmöglich, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätten. Aber diejenigen, die für die Lehren der Philosophen entbrannt sind, glauben dies und noch größeres, wie Albertus Magnus überdies im zweiten Buch der Physik zitiert, und auch Heinrich aus Sachsen, im Büchlein über die Geheimnisse der Frauen, im zweiten Kapitel des zweiten Traktats, im Kommentar genannter Schrift, sowie viele andere Gelehrte berichten und zeigen es, und inzwischen existiert eine so große Kraft besonderer Gestirnstellungen zum Hervorbringen oder Formen von Dingen, dass nicht nur in der jeweiligen Art, sondern auch in anderen Dinge entstehen, die unmöglich erscheinen, wie es aus den Lehren der Gelehrten klar wird. Worüber diese selbst sich nicht wundern, da sie den Grund erkennen, Verwunderung aber aus Unwissenheit hervorgeht. Sie sagen nämlich, dass die Macht des Himmels, aus dem Anblick der Planeten und der Stellung der Konstellationen selbst, so groß ist, dass aus dem menschlichen Samen nicht nur Abbilder
Speculum Lapidum
sculpti a natura videntur, cum portio alicuius lapidis adhaereat super superficiem alterius lapidis. Seu ex eodem lapide aliquae partes minuantur, ex qua additione seu minutio ne aliqua imago causatur, ut arte fit in chamainis. Et sic secundum hunc modum possunt esse lapides sculpti, a natura ac arte. Sed primo modo tantum a natura, et nullo pacto ab arte. Tertoi vero modo, ut in propositio nostro est, tantum lapides sculpti inveniuntur ab arte, et non a natura, cum pars lapidis cum instrumento aliquo sit abrasa seu incisa. Et in ipso lapide producta sit aliqua imago, quarum imaginum aliquae voluntariae, aliquae ratione sculptae fuerunt, ut in principio huius tertii diximus. Quae voluntariae ac ratione carentes sculptae sunt, et ex sculptura nullius efficatiae sunt, sed tantum virtutuem lapidis habent, et hae ut plurimum sculpatae fuerunt tempore Romanorum ac nostro. Quae vero sculptae sunt, ut in nobis aliquid imprimant, tam ratione lapidis quam sculpturae sunt. Quae Israeliticorum tempore sculptae fuerunt, ut diximus, hi imbuti omni scientia eas sculpserunt, ac sculpti etiam possunt hodiernis temporibus a peritis viris, et forsan Romanorum tempore aliquae sculpatae fuerunt, de quibus inferius virtutes ostendam, ac quomodo mediante tali figura astra in nobis influant, et an talis virtus impressa in lapide, mediante figura, perduret aeterno aevo. Camillo Leonardi: Speculum Lapidum, Venedig: Giovanni Battista Sessa 1502, fol. 48v–49v.
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des Menschen, sondern auch Tiere und Teile von Tieren oft zusammen entstehen. Und wie dies anderen unbeseelten Dingen geschieht, so kann dies auch in Steinen und in weiteren leblosen Dingen geschehen. Und wäre es den Vernünftigen nicht lächerlich zu glauben, dass Satyre, Zentauren und andere Ungeheuer geschaffen wären aus der Vermischung des Liebesaktes eines Tieres mit einem Menschen, da wir so oft gesehen haben, dass bei der Geburt von Frauen Ungeheuer hervorgebracht wurden, es auch absurd wäre, zu sagen, derartige Tiere hätten Frauen beigewohnt. Vielmehr geschieht, wie wir sagten, solches und Größeres durch den Einfluss der Gestirne. Auf zweite Weise erscheinen Steine von der Natur gestaltet zu sein, wenn die Schicht irgendeines Steines auf der Oberfläche eines anderen anhängt. Sei es, dass von diesem Stein Teile sich ablösen, sei es, dass durch irgendeine Hinzufügung oder Wegnahme ein Bild entsteht, wie es durch Kunstfertigkeit bei Kameen geschieht. Auf genau diese Weise können Steine sowohl durch die Natur als auch durch Kunstfertigkeit gestaltet werden. In zuerst genannter Weise aber kann dies nur durch die Natur, keinesfalls aber durch Kunst geschehen. In dritter Weise, wie es unserem Gegenstand entspricht, werden Steine gefunden, die mit Kunstfertigkeit geschnitten sind und nicht durch die Natur, weil ein Teil des Steines mit irgendeinem Instrument abgearbeitet oder eingeschnitten worden ist und in jenem Stein dann irgendein Bild entstanden ist. Von diesen Steinen sind einige zweckfrei und einige mit einem Ziel geschnitten worden, wie wir am Anfang dieses dritten Buches sagten:
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Camillo Leonardi
iejenigen, die zweckfrei und bestimmter D Absicht entbehren, beziehen auch aus der Bearbeitung keinerlei Wirkung, haben aber die Wirksamkeit des Steins. Diese wurden meistenteils in römischer und unserer Zeit hergestellt. Welche aber geschnitten wurden, damit sie etwas in uns bewirken, durch diese Absicht oder durch den Stein, sind zu Zeiten der Israeliten geschnitten worden, wie wir ausführten. Diese für jede Wissenschaft Begeisterten haben sie geschnitten, und sie können auch in heutigen Zeiten von einigen kundigen Männern geschnitten werden, vielleicht wurden auch in römischer Zeit einige geschnitten, deren Eigenschaften ich später aufzeigen werde, auch auf welche Weise durch Vermittlung solcher Darstellung die Sterne auf uns wirken und, ob solche durch die vermittelnde Darstellung dem Stein eingedrückte Fähigkeit auf ewig anhält. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Über das Leben Camillo Leonardis, „des berühmten Doktors der Künste und der Medizin“ – wie es im Titel des Speculum lapidum (Venedig: Giovanni Battista Sessa 1502) heißt –, ist relativ wenig bekannt. Offenkundig gehörte er zu den kulturell prägenden Gestalten am kleinen, aber prosperierenden Hof in Pesaro.1 Hier machte er sich durch astronomische Beobachtungen verdient, kooperierte um 1480 mit dem berühmten Sternenforscher Lorenzo Bonincontri bei der Erstellung astronomischer Tafeln2 und beanspruchte für sich die erstmalige Beschreibung einiger Fixsterne.3 Seine Schriften zeichnen sich durch das Bemühen aus, diesen Beobachtungen der Himmelsbewegungen auch medizinischen Nutzen abzugewinnen. Dies gilt sowohl für seine erste eigenständige Publikation, das Liber […] celestium motuum (Venedig: Giorgio Arrivabene 1496), einen um Horoskope und astrotherapeutische Ratschläge bereicherten Kommentar einer Schrift des niederländischen Sternenforschers Willem Gilliszoon, als auch für seine Theoricae planetarum (Pesaro: Girolamo Soncino 1508) sowie für den von ihm erstmals 1524 publizierten und bis 1532 mehrfach aktualisierten Mondkalender.4
Speculum Lapidum
Das Speculum lapidum dürfte von Leonardis Zeitgenossen primär als lithotherapeutisches Kompendium geschätzt worden sein.5 Gegliedert in drei Bücher, erklärt es unter Zuhilfenahme etablierter astrologischer Modelle die Entstehung von Steinen (Buch 1), deren medizinische Wirkung (Buch 2) sowie die Heilkräfte von auf Steinen zu findenden Bildern (Buch 3). Leonardis Steinbuch steht damit in der Tradition der scholastischen scientia imaginum und schreibt die Reihe mittelalterlicher Lapidarien fort.6 Seinen Lesern liefert es eine – teils vereinfachende, teils kaum verständlich abwandelnde – Zusammenfassung von Aristoteles’ Meteorologie (v. a. Buch 4; §§ 378–390) und Albertus Magnus’ De mineralibus, aus dem er wie im oben wiedergegebenen Kapitel mehrfach zitiert.7 Mehr als zwei Drittel des Buches nehmen zwei umfangreiche Kataloge ein: zum einen eine nach Farben gegliederte Aufstellung von Edelsteinen und ihren naturmagischen Wirkungen; und zum andern eine nach Autoren gruppierte Auflistung kunstvoller Steinbilder samt deren astrologischen und nekromantischen Heilkräften. Seinem damit verbundenen Wert als mineralogisches Handbuch und als naturmagische Bild-Anthologie dürfte das Speculum lapidum seine erstaunliche Beliebtheit und Verbreitung verdanken. Noch im 16. Jahrhundert wurde Leonardis Lapidarium vier weitere Male gedruckt sowie ins Italienische, Deutsche und Schwedische übersetzt.8 Im 17. Jahrhundert folgten zwei weitere (Teil-)Drucke9 und noch im 18. Jahrhundert wurde das Werk dreimal ganz oder in Auszügen gedruckt und ins Englische übersetzt.10 Exemplarisch lässt sich die vielfältige und lang anhaltende Rezeptionsgeschichte des Speculum lapidum an Leonardis oben zitierter Schilderung eines Achats ablesen, in dem er sieben Bäume beobachtet habe. Denn sein Augenzeugenbericht wurde noch im 16. Jahrhundert von bedeutenden Naturforschern wie Georg Agricola und Ulisse Aldrovandi wieder aufgegriffen.11 Diesen folgten im 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert Autoren mineralogischer Schriften wie Anselmus de Boodt, Thomas Nicols, Johann Jakob Scheuchzer oder Johann Samuel Schröter sowie andere Naturphilosophen und Theologen.12 Das Speculum lapidum ist schon früh von Fachkollegen harsch kritisiert worden. So rügte der aus Ferrara stammenden Mediziner Antonio Musa Brassavola die unsaubere Kompilation Leonardis beziehungsweise seine inkohärente Terminologie. Er kenne niemanden, der über irgendetwas unangemessener geschrieben hätte.13 Auch bei der oben zitierten Beschreibung der Dreikönigsschrein-Kamee zeigt sich Leonardi als unzuverlässiger Kompilator, insofern er die Beschreibung von Albertus Magnus nicht nur unvollständig, sondern auch falsch wiedergibt.14 Doch auch das Kapitel als Ganzes gibt Rätsel auf. Leonardi unterscheidet hier drei Arten der Entstehung von Steinbildern: (1) durch Farbunterschiede, (1a) sei es auf einer Ebene, (1b) sei es durch übereinanderliegende Farbschichten; (2) durch ein erhabenes Bild; (3) durch eingeschnittene Konturen. Diese drei Arten gleichen den drei Entstehungsgründen, die Albertus Magnus in dem von Leonardi angegebenen Kapitel des De mineralibus (II.3.1) nennt, mit dem Unterschied, dass Albertus bei der ersten Art anders als Leonardi nur zwischen mehrfarbigen und monochromen Bildern unterscheidet. Während nun aber Albertus Magnus darlegt, auf welche Weise alle drei Arten auf natürliche Weise vorkommen, aber
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auch künstlich hergestellt werden können – wobei er bei der dritten Art die größten Bedenken hegt –, verunklärt Leonardi den Charakter der Steinbilder. Denn am Anfang des hier wiedergegebenen Kapitels (III.3) kündigt er ausdrücklich an, die drei Arten beschreiben zu wollen, auf die Bilder „natürlich“ (a natura) in Steinen zu finden seien. Von der dritten Art, den geschnitzten Bildern, behauptet er bei der näheren Beschreibung dann allerdings, diese sei ausschließlich durch menschliche Kunstfertigkeit in den Stein zu bringen. Dies könnte einerseits nahelegen, Leonardi bezöge sich mit den drei natürlichen Arten von Steinbildern auf die beiden Varianten der ersten Art sowie auf die natürlichen Exemplare der zweiten Art (die „sowohl durch die Natur als auch durch Kunstfertigkeit gestaltet werden“). Andererseits gibt Leonardi im übrigen Buch genügend Anlass, um seinen Leser denken zu lassen, auch die dritte Art, der von Menschen kunstfertig in Steine geschnittenen Bilder, könne als natürlich gelten. Denn wie schon der Schluss des oben zitierten Kapitels erkennen lässt, argumentiert Leonardi im Folgenden dafür (u.a. III.4), dass auch von Menschen gemachten Steinbildern naturmagische Heilkräfte zukommen könnten. Keineswegs würden nämlich artifizielle Bilder von sich aus physische Kräfte entfalten. Möglich sei dies nur vermittels des Einflusses der Himmelskörper, deren Kraft unter bestimmten Umständen gefertigte Bilder gleich bestimmten Steinen in sich speichern und wirksam werden lassen könnten. Diese Kunst des Gemmenschnitzens und der Lithotherapie hätten die „für jede Wissenschaft begeisterten“ Israeliten erfunden und noch immer werde sie von „kundigen Männern“ praktiziert, wie Leonardi im vorhergehenden Kapitel ausführlich darlegt (III.2). Dieser „lange[n] Ausführung über die Würde der Bildhauerkunst“, die an den ebenfalls in einem Steinbuch platzierten Künstlerexkurs von Plinius erinnert, verdankt das Speculum lapidum zweifelsfrei seine kunsthistorische Bedeutung.15 Es gibt überhaupt nur zwei frühere, ähnliche lange und gedruckte Würdigungen zeitgenössischer Künstler: zum einen Cristoforo Landinos Lob Florentiner Künstler in seinem Dante-Kommentar (Florenz: Niccolo Laurenti 1481); und zum anderen die Leonardi sicher vertraute Würdigung der Leistungen von Künstlern in Luca Paciolis Summa de arithmetica, geometria, proportione et proportionalitá (Venedig: Paganinus de Paganinis 1494).16 Joachim von Sandrart übernimmt Grundzüge dieses Kapitels in seiner Teutschen Academie ohne dies auszuweisen und schon früh – etwa von Gotthold E. Lessing – wurden Leonardis Ausführungen „über die ersten Bildhauer und […] die besten Bildhauer und Maler der heutigen Zeit“ von der Kunsthistoriographie entdeckt sowie hinsichtlich einzelner Künstler bemüht.17 Selten Beachtung fand dabei, dass Leonardi die Leistungen zeitgenössischer Künstler als Wiederbelebung der naturmagischen Steinkünste der Hebräer darstellt. In der Antike nämlich sei dieses Wissen verloren gegangen und die Römer hätten Edelsteine nur noch zu Zwecken herrschaftlicher Repräsentation angefertigt. Erst die Künstler aus Leonardis Gegenwart vereinten wieder die technischen Fertigkeiten und naturkundlichen Kenntnisse, die zur Anfertigung natürlich wirksamer Steinbilder nötig seien. Überraschenderweise – und vielleicht auch zur Entrüstung von kritischen Lesern wie Antonio Musa Brassavola – führt Leonardi zum Beleg dieser These nicht nur einige der angese-
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hensten Gemmenschneider und Goldschmiede seiner Zeit an, sondern auch zahlreiche Maler wie Piero della Francesca, Melozzo da Forli, Giovanni Bellini, Pietro Perugino und allen voran Andrea Mantegna. Explizit magische Kräfte schreibt Leonardi ihrer Kunst nicht zu. Gleichwohl rühmt er ihre Werke für ihre Natürlichkeit und damit just mit der auch für magische Steinbilder entscheidenden Qualität. Sie seien wahrhaft (veras imagines) und wunderbar (mirabile), bewegten sich fast (quasi se movere) und ihnen fehle nur noch der Atem (solo spiritu carere). Maurice Saß 1
Zum Entstehungskontext des Speculum lapidum: Enrico Gamba: Le scienze fisiche e matematiche dal Quattrocento al seicento, in: Guido Arbizzoni u. a. (Hg.): Pesaro nell’età dei Della Rovere, Venedig 2001, S. 75–110, v. a. S. 76–77; Piergiorgio Parroni: Vita culturale nella Pesaro sforzesca, in: Gioannangiola Tarugi (Hg.): Homo sapiens homo humanus, 2 Bde., Florenz 1990, Bd. 2, S. 137–150, v. a. S. 147–150; Carla de Bellis: Lo „Speculum lapidum“ di Camillo Leonardi, in: Fabio Troncarelli (Hg.): La città dei segreti, Mailand 1985, S. 223–238. 2 Modena, Biblioteca Estense, Signatur: [a.F.6,18] 103a–116b, Nr. 408. 3 Lynn Thorndike: A History of Magic and Experimental Science, 7 Bde., New York 1923–1958, Bd. 6, S. 298. 4 Lunario al modo de Italia calculato. Venedig: Benedetto und Agostino de Bindoni 1524; weitere bekannte Auflagen sind: Venedig: Nicolo Zopino 1525; Venedig: Paolo Danza 1526; Venedig: Bernardino de Viano 1527; Venedig: Guadagnino 1530; Venedig: Hipolito detto el Ferrarese 1532. – Komplettiert werden seine Schriften durch ein Summario novamente (Venedig: Nicolo Zopino 1509) und die Manuskript gebliebene Astrologia perpetua (40 fols., 8°, s.l., s.a; Florenz, Kunsthistorisches Institut, Signatur: K 783). 5 Einführend zum Speculum Lapidum: Carla de Bellis: Astri, gemme e arti medico-magiche nello „Speculum lapidum“ di Camillo Leonardi, in: Gianfranco Formichetti (Hg.): Il mago, il cosmo, il teatro degli astri, Rom 1985, S. 67–114; Elena di Venosa: Die deutschen Steinbücher des Mittelalters, Göppingen 2005, S. 63; Liliana Leopardi: Speculum lapidum, in: Daniel Zamani (Hg.): Charming intentions, London 2013, S. 53–64; Liliana Leopardi: Magic healing and embodied sensory faculties in Camillo Leonardi’s „Speculum lapidum“, in: Albrecht Classen (Hg.): Mental Health, Spirituality, and Religion in the Middle Ages and Early Modern Age, Boston u. a. 2014, S. 480–506; Liliana Leopardi: Erotic magic, in: Ian F. Moulton (Hg.): Eroticism, Turnhout 2016, S. 99130; Nicolas Weill-Parot: Making a new stone? The magical powers of carved stones from Albert the Great to Camillo Leonardi, in: Isabella Augart, Maurice Saß und Iris Wenderholm (Hg.): Steinformen. Materialität, Qualität, Imitation. Berlin u. a. 2019, S. 255–266, hier v. a. S. 260–264; vgl. ferner die Einführung in der unzuverlässigen Edition und Übersetzung von Claude Lecouteux und Anne Monfort (Paris 2002, S. 7–40). – Leonardis Manuskript hat sich in der Biblioteca Capitolare in Verona erhalten (CCLXXIII/245, cart. misc. XVI). 6 Dazu grundlegend: Nicolas Weill-Parot: Les „images astrologiques“ au Moyen Age et à la Renaissance, Paris 2002.
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Camillo Leonardi 7 Das zitierte Kapitel stützt sich insbesondere auf: Albertus Magnus, De mineralibus liber, II.3.1–4; von hier dürfte er das von Plinius stammende (Historia naturalis, XXXVII, 5f.) und in der Folge vielfach zitierte Beispiel von König Pyrrhus (u. a. Solinus: Collectanea rerum memorabilium, V.25; Marbod von Rennes, II; Vinzenz von Beauvais: Speculum naturale, VIII.37) ebenso übernommen haben wie das der Dreikönigsschrein-Kamee, zu der auch das Bild des Äthiopiers gehört. Zudem erinnert sein Bericht vom Aufschneiden der Marmorsäule stark an denjenigen von Albertus aus Venedig. – Für die anderen Textverweise vgl.: Plinius, Historia naturalis, XXXVI, 14 (Silen); Albertus Magnus, Physica, II.2.2; zum oft fälschlicherweise Albertus Magnus zugeschriebenen Traktat De secretis mulierum: Margaret Schleissner: Secreta mulierum, in: Wolfgang Stammler u. a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters, 13 Bde., Berlin u. a. 1978–2007, Bd. 8, Sp. 986–993. In verschiedenen Handschriften und frühneuzeitlichen Drucken wird die Schrift (wie von Leonardi) auch „Heinrich aus Sachsen“, vorgeblich Schüler von Albertus Magnus, zugeschrieben (z. B. Augsburg: Anton Sorg 1489), der in einigen Editionen auch als Autor eines mitgedruckten Kommentars geführt wird (z. B. Wien: Johann Winterburg ca. 1504). Ob dieser identisch ist mit dem Straßburger Mediziner Heinrich von Sachsen, ist ungewiss (Gundolf Keil: Heinrich von Sachsen, in: Stammler 1978-2007 (s. o.), Bd. 3, Sp. 876–878). 8 Venedig: Melchior Sessa 1516; Augsburg: Heinrich Steiner 1533; Lodovico Dolce: Libri tre ne i quali si tratta delle diverse sorti delle gemme, Venedig: Giovan Battista und Marchio Sessa 1565; Lodovico Dolce: Trattato delle gemme che produce la natura, Venedig: Giovanni Battista und Giovanni Bernardo Sessa 1617 [i. e. 1597]; dazu: Maurice Saß: Physiologien der Bilder, Berlin u. a. 2016, S. 249–259. – Für die deutsche Übersetzung: Herrmann Degering: Kurzes Verzeichnis der Germanischen Handschriften der Preussischen Staatsbibliothek, 3 Bde., Leipzig 1925–1932, Bd. 1, S. 30, Nr. 192; für die schwedische: Peder Månsson: Stenbok, in: Robert Geete (Hg.): Peder Månssons Skrifter på Svenska, Stockholm 1913–1915, S. 457–530. 9 Paris: Charles Sevestre 1610; große Teile des dritten Buches des Speculum lapidum finden sich auch in: (Pseudo-) Johannes Trithemius: Veterum sophorum sigilla et imagines magicae, s.l.: s.n. 1612; dazu erstmals: K. G. Günther: Tritheims Kentnisse und Schriften, in: Für ältere Literatur und neuere Lectüre 2.3/1784, S. 9–42, hier S. 85f. 10 Hamburg: Christian Liebzeit 1717; erneut Teile in: (Pseudo-) Johannes Trithemius: Veterum sophorum sigilla et imagines magicae, sive sculpturae lapidum et gemmarum, Herrenstadt: Samuel Roth-Scholtzius 1732; Camillo Leonardi: The mirror of stones […] now first translated into English, London: J. Freeman 1750. 11 Georg Agricola: De natura fossilium, Basel: Frobenius 1546, S. 303; Ulyssis Aldrovandi: Musaeum metallicum in libros IV, hg. von Bartolomeo Ambrosini. Bologna: Marco Antonio Bernia 1648 (posthum), S. 905 (IV.73). 12 Anselmus de Boodt: Gemmarum et lapidum historia, Hanau: Johann Wechel 1609, S. 124 (II.94); Thomas Nicols: A lapidary, Cambridge: Thomas Buck 1652, S. 134 (II.26); Johann Jakob Scheuchzer: Herbarium diluvianum, Zürich: David Gessner 1709, S. 18 (Tabula 6); ders.: Helvetiae historia naturalis, 3 Bde., Zürich: Bodmerische Druckerei 1716–1718, Bd. 3, S. 245; Johann Samuel Schröter: Lithologisches Real- und Verballexikon, 8 Bde., Berlin: Bosse u.a. 1772–1788, Bd. 1, S. 394f.; John Johnston: Thaumatographia naturalis, Amsterdam: Willem Blaeu 1632, S. 154 (IV.3); Arnold Senguerd: Introductionis ad physicam libri sex, Utrecht:
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Johannes van Waesberghe 1644, S. 423 (V.5); Daniel Hartnack: Curiosa naturae seu admiranda physica, Frankfurt a.M. u. a.: Christian Weidmann 1685, S. 412 (VI.1); Franz Karl von Obersulz: Thesaurus theologicus, Wien u. a.: Wolfgang Moritz Endter 1698, S. 758 (XI.12); Giacomo Pignatelli: Consultationes canonicae, 14 Bde., Venedig: Paulo Baglioni 1694–1716, Bd. 9, S. 288 (IX.100). Antonio Musa Brassavola: Examen omnium simplicium medicamentorum, Lyon: Jean & François Frellon 1537, S. 428: […] nescio an aliquis ineptius de aliqua materia scripserit. Albertus Magnus: De mineralibus liber, II.3.2; dazu: Philippe Cordez: La châsse des rois mages à Cologne et la christianisation des pierres magiques aux xiie et xiiie siècles, in: Lucas Burkart u. a. (Hg.): Le trésor au Moyen Âge. Discours, pratiques, objets, Florenz 2010, S. 315–332. Dazu einführend: Hans Ost: Leonardo-Studien, Berlin u. a. 1975, S. 108–110; Maurice Saß: Gemalte Korallenamulette, in: kunsttexte.de 1/2012 (53 Seiten); zur weiteren jüngeren Literatur ebd., S. 35, Anm. 153; zur älteren exemplarisch s. u., Anm. 16. Die Vertrautheit Leonardis mit den Ausführungen Paciolis legen insbesondere die Würdigung von Piero della Francesca für seine Leistungen in Geometrie, Perspektive und – was hervorzuheben ist – Arithmetik nahe. – Das früheste nordalpine Beispiel bildet Christoph Scheurls 1509 gedrucktes Lobgedicht auf Lucas Cranach. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie, 3 Bde., Nürnberg 1675–1680, Bd. 1, S. 344f. (II.3.24.8). – Gotthold E. Lessing: Kollektaneen zur Literatur, hg. von Johann J. Eschenburg, 2 Bde., Berlin 1790, Bd. 1, 1790, S. 196. – Exemplarisch seien zudem genannt: Joseph A. Crowe u. Giovanni B. Cavalcaselle: History of painting in North Italy, London 1871, S. 145; Giacomo Manzoni: Francesco da Bologna, Bologna 1881, S. 61; Jakob Burckhardt: Kunst der Renaissance, München 2006 [1891], S. 210; Henry Thode: Mantegna, Bielefeld 1897, S. 38; Leonard Forrer: Biographical dictionary of medallists, 8 Bde., London 1904–1930, Bd. 6, S. 572; Leonardo Olschki: Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften, 3 Bde., Leipzig 1919–1927, Bd. 1, S. 141; Julius von Schlosser: Die Kunstliteratur, Wien 1924, S. 103.
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Francesco Suriano
Trattato di Terra Santa e dell’Oriente um 1485/1514 Non se trova monte, nè valle, nè pianura, non campi, non fonte, non fiumi, non torenti, non castello, nè villa, nè quasi pietra che esso Salvator del mondo non habia tocato, o cum quelli sanctissimi piedi camminando, quando descorreva hinc unde predicando, o vero cum li ginocchii quando orava al padre, o vero cum le chrure quando faticato dal camino, o vero mangiando sedeva, overo cum le mane, quando sitibondo beveva del aqua, overo cum tuto el corpo quando al tempo de la dormitione, lassato el corpo, iaceva su la nuda terra. […] Quando salite in cielo che lassò le vestigie de li soi santissimi piedi improntate nel monte. Oltre a questo cum lo suo sudore, non solum una volta bagnò quella terra sanctissima, ma infinite volte, precipuo al tempo de la passione, ne la grota, bagnò de sangue tuto el pavimento alla oratione. Francesco Suriano: Trattato di Terra Santa e dell’Oriente, hg. v. Girolamo Golubovich, Mailand 1900, Kap. V, S. 11.
Es gibt keinen Berg, kein Tal, keine Ebene, keine Felder, keine Quelle, keine Flüsse, keine Ströme, keine Burg, kein Landhaus, ja fast keinen Stein, den der Erlöser der Welt nicht berührt hat, entweder mit seinen heiligsten Füßen, wenn er umher wanderte und hier und da predigte, oder mit den Knien, wenn er den Vater anflehte, oder mit den Beinen, wenn er müde vom Weg war oder essend saß, oder mit den Händen, wenn er durstig Wasser trank, oder mit dem ganzen Körper, wenn er zur Schlafenszeit seine Glieder löste und auf dem nackten Boden lag. […] Als er in den Himmel aufgestiegen war, da hinterließ er die Spuren seiner heiligsten Füße in den Berg eingedrückt. Darüber hinaus hat er mit seinem Schweiß nicht nur diese heiligste Erde einmal getränkt, sondern unzählige Male hat er – besonders in der Zeit seiner Passion – in der Grotte [Gethsemane] im Gebet den ganzen Boden in seinem heiligen Blut gebadet. Übersetzung: Nadine Mai und Daniel Fliege
Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen
Heiltums- und Ablassbuch 1511−1515 Ein stuck stayn von unsers herren Jesus grab, darin er gelegen ist. Ein stuck von dem stayn, der auf dem grab Christi ist gelegen. Ein stuck von der stat, do Christus plutigen schwais geschwizt hat. Von dem stayn, darauf Christus die angst gepet hat.
Von dem stayn, darynne das heilig kreuz ist getan auf dem perg Calvarie genant. Von einem stain, darauf Christus ist gesessen, derselbig stain wechst noch. Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen: Heiltums- und Ablassbuch (1511−1515), Mühldorf am Inn, Stadtarchiv, Inv. B39, Handschrift auf Papier, 32 × 21,7 cm, 92 Seiten, S. 31.
Kommentar In den Evangelien und Apokryphen haben Orte und ihre Beschaffenheit eine wichtige narrative Funktion: vom harten Steinboden lisosthros, an dem die Verurteilung stattfand, über die nach Tod rufende Schädelstätte Locus Calvarie und das undurchdringliche Felsengrab bis hin zum blühenden Garten der Auferstehung.1 In ihrer Materialität spiegeln sich die biblischen Ereignisse und besonders die Leiden Jesu. Desgleichen war die Rezeption dieser Ereignisorte mit der Vorstellung einer aus den Berührungen Christi resultierenden Heiligkeit und Gnadenkraft verbunden. Schon in frühchristlicher Zeit ist daher eine Pilgerbewegung zu diesen Loca Sancta, den Heiligen Stätten in Jerusalem und Palästina, belegt und durch Berichte einiger Reisender genauer dokumentiert.2 In den Aufzeichnungen der Heilig-Land-Fahrer nahmen die an den Orten befindlichen Steine und ihre Oberflächen als lebendige Zeugen und reliquienhafte Speicher der Heilsereignisse dabei einen teils erheblichen Raum ein.3 Von der Lage, Größe, Form, Risse und Brüche bis hin zu mineralogischen Eigenschaften, also Farbgebung, Struktur von Einschlüssen und Marmorierungen, Glätte oder Porosität, beschäftigten sich Pilger mit der Qualität dieser Steine. Neben der steigenden Zahl von Pilgerberichten entstanden vor allem am Ausgang des Mittelalters weitere detaillierte Beschreibungen der Heiligen Stätten, ihrer Materialien und Oberflächen im Kontext der Devotionsliteratur. Die materielle Präsenz der Passionsorte beförderte dabei eine intensivere Vergegenwärtigung des Martyriums Jesu. Beispielhaft geschieht dies etwa im Trattato di Terra Santa des Franziskaners Francesco Suriano (1450−1529), der mehrere Jahre in Jerusalem verbracht hatte. Suriano widmete die umfangreiche Schrift seiner
Trattato di Terra Santa / Heiltums- und Ablassbuch
im Klarissenkonvent von Foligno lebenden „Schwester“, ein Umstand, der im Text deutlich zum Tragen kommt.4 Zum einen ist der klösterliche Rezeptionskontext für den eigenwilligen Kompositcharakter dieses Traktats aus Pilgerbericht, Erbauungsschrift, liturgischem Handbuch und Gebetstext bestimmend.5 Weite Teile des Trattato sind zudem als Dialog konzipiert, einem vor allem in der Passionsmystik verbreiteten literarischen Modell.6 Zusätzlich zu Suriano und seiner „Schwester“, der Nonne, erscheinen auch Maria und Jesus als imaginäre Gesprächsteilnehmer. So entstehen neben einer virtuellen Reise und affektiven Begegnungssituationen ausgedehnte, sinnlich ansprechende Meditationspassagen, welche die Leiden Christi mit der materiellen Präsenz der Heiligen Orte verknüpfen.7 Immer wieder reflektiert der Autor dabei die Funktion der Heiligen Stätten als Körperspeicher Christi, wie im hier gewählten Zitat aus Kap. V zu sehen: Das Trinken von Wasser, das Lagern Christi auf der „nackten Erde“ und der in Schweiß und Blut „gebadete“ Boden verweisen auf das gegenseitige Durchdringen von Heiligem Land und Heiland. Ein derartiges Verschmelzen der biblischen Orte mit dem Körper Christi thematisiert auch das Heiltums- und Ablassbuch des niederbayrischen Adligen und Jerusalempilgers Degenhart Pfeffinger von Salmanskirchen (1471−1519), der im Jahr 1493 eine beachtliche Sammlung von Reliquien des Heiligen Landes zusammentrug. Pfeffinger hatte sich der Reisegruppe des passionierten „Reliquienjägers“ Kurfürst Friedrich dem Weisen angeschlossen und auf seiner Reise zahlreiche Materialien gesammelt.8 Zwischen 1511 und 1515 entstand schließlich eine Papierhandschrift, in der er diese Objekte zusammen mit anderen Reliquien und einer langen Liste von Ablässen aufzeichnete; jeweils in thematischen Gruppen mit einer kurzen Beschreibung und einer kleinen Abbildung.9 Der durch die Pilgerfahrt geschmiedete Kontakt zum sächsischen Hof könnte Pfeffinger zu diesem Format bewogen haben, denn nur zwei Jahre zuvor hatte Friedrich der Weise selbst ein umfangreiches Heiltumsbuch publiziert.10 Doch anstatt wie im fürstlichen Exemplar kostbare Behältnisse und Reliquiare zu zeigen, illustriert Pfeffingers Handschrift die Reliquiensammlung des Heiligen Landes mit kleinen, den Ereigniskontext erläuternden Miniaturen. Auf Seite 31r etwa visualisiert er die Reliquien vom Heiligen Grab, vom Ölberg, von Golgatha und anderen Jerusalemer Passionsstätten mit kleinen Architekturen, Steinen und Felsen (Abb. 5). Daneben rufen Attribute wie Kreuz, Kelch oder Blutstropfen Begebenheiten des Martyriums Jesu auf, was die Liste zugleich als eine dem Genre des Pilgerberichts verpflichtete, komprimierte Beschreibung der Passionsorte ausweist. Unter Berücksichtigung ihrer formalen und medialen Unterschiede thematisieren beide Quellen das Eindringen und Einprägen Christi in den Ort und greifen damit eine der ältesten Rezeptionstraditionen der Heiligen Stätten auf. Ein zentraler Ausgangspunkt für diese materielle Verquickung von Ort und Ereignis war der karge helle Kreuzigungsfelsen Golgatha, der auch im Pfeffingerschen Heiltumsbuch abgebildet ist.11 Von der Spitze ausgehend, durchzieht den Felsen noch heute ein Spalt, der die Erschütterung der Welt während des Todes Christi (Mt 27,51) markieren soll. Die auf dem weißen Golgathafelsen besonders auffallenden roten Gesteinsadern setzte man zudem seit frühchristlicher Zeit mit dem während der Kreuzigung
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Francesco Suriano / Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen
Abb. 5 Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen: Heiltums- und Ablassbuch, 1511–1515, Handschrift auf Papier, 32 × 21,7 cm, Mühldorf am Inn, Stadtarchiv, Inv. B39, 92 Seiten, S. 31r
vergossenen Blut Christi gleich. So schildert es der Mönch Theodericus um 1170: „Nach rechts erhebt sich der Calvarienberg […] mit der Spaltung, die er beim Tod Christi empfing. Dazu bezeugt eine furchtbar klaffende Öffnung davor, dass das Blut, das von der Seite des am Kreuz hängenden Christus herablief, sich bis zum Boden ergoss.“12 Neben den versteinerten Blutspuren und dem Felsriss gab es am Golgatha sogar noch weitere „Wunden“ wie das Kreuzigungsloch, die die Materialität des Ortes als Passionsschauplatz und den Leidenskörper Christi ineinander blendeten.13 Schon im 5. Jahrhundert sind darüber hinaus körperliche Abdrücke Jesu, die Vestigia Christi, belegt, die diesen Zusammenhang untermauerten.14 Teils sollen die Umrisse so deutlich gewesen sein, dass Gesicht und Hände Christi „wie in Wachs gedrückt“15 sichtbar waren. Bis ins späte Mittelalter verehrte man unter anderem die Fußabdrücke Christi auf dem Ölberg, die vestigie de li soi santissimi piedi improntate nel monte (Suriano, Trattato, V). Als „Spuren“ einer unmittelbaren Berührung Christi führten sie zusammen mit den Blutspuren am Golgatha oder dem in Blut und Schweiß getränkten Ölberg zu einer authentischen und nahezu lebendigen Visualisierung Jesu.16 Im Heiltumsbuch des Degenhart Pfeffinger und vielen Passionsdarstellungen ist dieser Zusammenhang schließlich in eine spezifische, zwischen Ort, Ereignis und Spur changierende Ikonographie überführt, die das Bewusstsein für
Trattato di Terra Santa / Heiltums- und Ablassbuch
ein Eingehen der Passion Christi in die Orte der Passion offenbart: Dazu gehören Kreuzigungen mit dem in den Golgathafelsen eindringenden Blut Christi,17 die Fußabdrücke Christi bei der Himmelfahrt18 oder die zumeist um blutige Fußspuren19 oder Ölberge20 ergänzten Arma Christi. Auch in den monumentalen Nachbildungen der Heiligen Stätten wird die Medialität steinerner Oberflächen als Speicher und Spiegel der Leiden Jesu21 sowie als Authentizitätskonzept immer stärker fassbar.22 Sie folgen der Frage der authentischen Präsenz Jesu in Jerusalem und übermitteln auf visuelle und taktile Weise den Evidenzcharakter der dortigen Steine und Spuren. In seinem Evagatorium de Terrae Sanctae beschreibt unter anderem der Ulmer Dominikaner Felix Fabri einen vor der Grabeskirche liegenden Stein, auf den Christus mit dem Kreuz gestürzt sein soll und zeigt dabei auf, wie stark Fragen der Verortung und Verkörperung hier changieren: In diesem Hof ist die Heilige Stelle von Marmor markiert, wo der Herr, während er das Kreuz trug und den Golgathafelsen sah, auf der Erde neben dem Kreuz zusammenbrach. Wir küssten den höchst heiligen Ort viele Male und benetzten seine blutverschmierten Spuren mit vielen Tränen […].23 Der Stein ist sowohl Markierung als auch Reliquie, die mit Blutspuren assoziierte Farbigkeit der Oberfläche visueller und zugleich affektiver Impuls, der die Gläubigen zu innigen Verehrungsgesten anregt. Indem Fabri die Steinart Marmor angibt, vermittelt er dem Leser zudem die geographische und historische Integrität sowie einen Eindruck der Haptik des Heiligen Ortes und damit den Moment der Berührung. Den Einfluss stofflicher Qualitäten und mineralogischer Spezifika auf die Wahrnehmung der Heiligen Orte offenbart auch die Verehrung der Geißelsäule Christi. Seit dem 12. Jahrhundert wurde sie mit einem nur einen Meter hohen, aus dunklem Naturstein bestehenden Säulenfragment assoziiert, das in einer Chorumgangskapelle der Jerusalemer Grabeskirche stand und eine Altarmensa trug. Über ihre Materialität und ihre Wahrnehmung als irdischem Speicher und visuellem Äquivalent der Folterung Jesu berichtet um 1285 Burchardus vom Berg Sion: „Es ist dieser ein Porphyrstein, tiefschwarz und mit roten natürlichen Sprenkeln, von denen man glaubt, es seien Blutstropfen Christi“24. Ähnlich wie die Blutspur am rot geäderten Kreuzigungsfelsen war es hier die Materialästhetik des Porphyrs, die fleckige, schwarz-rötliche Oberfläche, die den Eindruck vermeintlicher Blutstropfen evozierte. Pilger wie Burchardus sind sich dessen nicht nur bewusst, sie spielen sogar aktiv mit dem narrativen Konzept und dem Präsenz generierenden Charakter der Materialien: Über die Betonung der Natürlichkeit der Gesteinsoberfläche steigert er die Unmittelbarkeit der „Spur“ als unverfälschter, metonymischer Form der Gestaltwerdung und legitimiert so die Verehrung der Säule als wirkmächtiger Kontaktreliquie Christi. Nadine Mai
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Francesco Suriano / Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen 1 Gustaf Dalman: Orte und Wege Jesu, Gütersloh 1921, S. 9f. u. S. 63; Glenn Bowmann: Christian ideology and the image of a holy land. The place of Jerusalem pilgrimage in the various Christianities, in: Michael Sallnow u. John Eade (Hg.): Contesting the Sacred. The Anthropology of Christian Pilgrimage, London 1991, S. 98−121. 2 Vgl. Susanne Lehmann-Brauns: Jerusalem Sehen. Reiseberichte des 12. bis 15. Jahrhunderts als empirische Anleitung zur geistigen Pilgerfahrt, Freiburg i. B. 2010, S. 277–278; Yamit Rachman-Schrire: Evagatorium in Terrae Sanctae […]: Stones telling the Story of Jerusalem, in: Annette Hoffmann u. Gerhard Wolf (Hg.): Jerusalem as narrative space. Erzählraum Jerusalem, Leiden 2012, S. 353−366; Bianca Kühnel u. a. (Hg.): Natural Materials of the Holy Land and the Visual Translation of Place, 500−1500, New York u. a. 2017. 3 Vgl. Ursula Ganz-Blättler: Reisen und Reiseberichte westeuropäischer Jerusalempilger, in: Die Reise nach Jerusalem. Eine kulturhistorische Exkursion in die Stadt der Städte – 3000 Jahre Davidstadt, hg. v. Hendrik Budde u. Andreas Nachama, Ausstellungskatalog, Schloss Charlottenburg, Berlin 1995, S. 50−55. 4 Zur Entstehung des Trattato vgl. die Einführung in Suriano, Trattato, S. VII−LXII; vgl. zudem Ursula Ganz-Blättler: Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und Santiago-Pilger (1320−1520), Tübingen 2000, S. 82 u. S. 257–258. 5 Vgl. Suriano, Trattato, Kap. XX–XXIV, S. 33−68. 6 Vgl. Heinrich Stirnimann: Mystik und Metaphorik. Zu Seuses Dialog, in: Alois M. Haas u. ders. (Hg.): Das „einig Ein“. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg i. B. 1980, S. 209−280. 7 Vgl. Ganz-Blättler 2000, S. 255−264; und ausführlich Kathryn Rudy: Virtual Pilgrimages in the Convent. Imagining Jerusalem in the late Middle Ages, Turnhout 2011. Auch Die Sionpilger, ein für das Ulmer Dominikanerinnenkloster geschriebener Text von Felix Fabri, hat diese Doppelfunktion. Vgl. Kathryne Beebe: Reading Mental Pilgrimage in Context. The Imaginary Pilgrims and Real Travels of Felix Fabri‘s ‚Die Sionpilger‘, in: Essays in Medieval Studies 25/2008, S. 39−70. 8 Zu Reliquien des Heiligen Landes vgl. Robert Ousterhout (Hg.): The Blessings of Pilgrimage, Bd. 2: The souvenirs and blessings of pilgrimage, Chicago 1990; Bruno Reudenbach: Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: ders. (Hg.): Jerusalem du Schöne, Bern u. a. 2008 (Vestigia Bibliae 28), S. 9−32. 9 Leonhard Theobald: Das Heiltum- und Ablaßbuch Degenhart Pfeffingers, in: Beiträge zur bayrischen Kirchengeschichte 32.2/1925, S. 49−70; Hartmut Kühne: Ostensio Reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum, Berlin 2000, S. 47–48; Enno Bünz: Die Heiltumssammlung des Degenhard Pfeffinger, in: Andreas Tacke (Hg.): „Ich armer sundiger mensch“. Heiligen- und Reliquienkult am Übergang zum konfessionellen Zeitalter, Göttingen 2006, S. 125−169; vgl. auch Jerusalem im Abendland. Das Heilige Grab in Bad Homburg von d. Höhe, hg. v. Astrid Krüger u. Roswitha Mattausch-Schirmbeck, Ausstellungskatalog, Gotisches Haus, Bad Homburg 2008, Kat. nr. V.1. 10 Vgl. Bünz 2006, S. 142−148. Zu Heiltumsbüchern allgemein vgl. Kühne 2000, S. 34−50; sowie die Beiträge in Tacke 2006.
Trattato di Terra Santa / Heiltums- und Ablassbuch 11 Bruno Reudenbach: Golgatha – Etablierung, Transfer und Transformation. Der Kreuzigungsort im frühen Christentum und im Mittelalter, in: Hans Aurenhammer u. Daniela Bohde (Hg.): Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bern u. a. 2015 (Vestigia Bibliae 32/33), S. 13−28 mit weiterführender Literatur. 12 Theodericus: Libellus de Locis Sanctis, hg. v. Walther Bulst, Heidelberg 1976, XII, S. 19f.: Ad dexteram vero ipse mons Calvaria […] ex scissura, quam in morte Christi sustinuit, demonstrat insuper anterius horribile foramine hiscens, sanguinem, qui de latere pendentis in cruce Christi cucurrit, usque ad terram seminisse testator. 13 Vgl. Pilgerberichte zum Golgatha bei Titus Tobler: Golgotha. Seine Kirchen und Klöster nach Quellen und Anschau [St. Gallen 1851], Neudruck Boston 2004, S. 282−297. Zur Einordnung des Golgatha als Körper und Ort vgl. Yamit Rachman-Schrire: The Rock of Golgotha in Jerusalem and Western Imagination, in: Aurenhammer u. Bohde 2015, S. 29−48, hier S. 36–37; Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006, S. 305−308. 14 Vgl. Tobler 1851, S. 334–335; Bernhard Kötting: Fußspuren als Zeichen göttlicher Anwesenheit, in: ders. (Hg): Ecclesia peregrinans. Gesammelte Aufsätze, Münster 1988, S. 34−39; Reudenbach 2008, S. 16–17; Luigi Canetti: „Vestigia Christi“. Le orme di Gesù fra Terrasanta e Occidente latino, in: Adele Monaci Castagno (Hg.): Sacre impronte e oggetti “non fatti da mano d’uomo“ nelle religioni. Atti del Convegno internazionale, Torino, 18−20 maggio 2010, Alexandrien 2011, S. 153−179; Lehmann-Brauns 2010, S. 278–279; Rachman-Schrire 2012, S. 363–364. 15 Vgl. Herbert Donner: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.−7. Jahrhundert), Stuttgart 1979, hier S. 209 (Archidiakon Theodius), S. 282 (Pilger von Piacenza), S. 237 (Jerusalem-Brevier). Vgl. Arculf: Eines Pilgers Reise nach dem heiligen Lande (um 670), übers. und hg. v. Paul Mickley, Leipzig 1917, Buch I, S. 33. 16 Am Ölberg befinden sich die einzigen Blutstropfen Jesu, die in den Evangelien verbürgt sind (Lk 22,41−44). Zu dieser Ästhetik vgl. Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 18 u. S. 46−55. 17 Georges Didi-Huberman: Blut der Bilder, in: Anja Lauper (Hg.): Transfusionen. BlutBilder und BioPolitik in der Neuzeit, Berlin u. a. 2005, S. 9−37, hier S. 25; Beate Fricke: Zur Genealogie von Blutspuren. Blut als Metapher der Transformation auf dem Feldbacher Altar (ca. 1450), in: L‘Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 21.2/2010, S. 11−32, hier S. 19–20. 18 Vgl. u. a. Arculf 1917, Buch I., S. 38–39. Zur Rezeption dieser Fußspuren vgl. Gerhard Wolf: Fels und Wolke, in: Glaube – Liebe – Hoffnung – Tod. hg. v. Christoph Geismar-Brandi u. Eleonora Louis, Ausstellungskatalog, Kunsthalle u. Graphische Sammlung Albertina, Wien 1995, S. 454−459; Andrea Worm: Steine und Fußspuren Christi auf dem Ölberg. Zu zwei ungewöhnlichen Motiven bei Darstellungen der Himmelfahrt Christi, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 66/2003, S. 297−320. 19 Vgl. Villers Miscellany, Bibliotheque Royal de Beligique, Brüssel, MS 4459−70, fol. 152v; Elfenbein-Leporello, Victoria and Albert Museum, London, inv. 11-1872, fol. 6v.
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Francesco Suriano / Degenhart Pfeffinger von Salmannskirchen 20 Vgl. Spiegel menschlicher Behaltnuss, Peter Drach: Speyer 1481, fol. 147v; im Passional der Kunigunde von Böhmen, Nationalbibliothek, Prag, MS XIV, A.17, fol. 3r. 21 Vgl. Karlsruher Tafel mit Schmerzensmann von Albrecht Dürer, um 1493/1494 (Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe, inv. Nr. 2183). Vgl. Beate Fricke: Artifex ingreditur in artificium suum. Dürers Schmerzensmann in Karlsruhe und die Geschichte eines Arguments von Johannes von Damaskus, in: Martin Büchsel u. Rebecca Müller (Hg.): Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst: „Kultbild“ – Revision eines Begriffs, Berlin 2010, S. 183−206; Heike Schlie: Diesseits und Jenseits des Bildes. Körperwunde, Textilriss und Bildöffnung als Figuren des Liminalen, in: Mateusz Kapustka (Hg.): Bild-Riss. Textile Öffnungen im ästhetischen Diskurs, Emsdetten u. a. 2015, S. 5983. 22 Vgl. Teil II Authentizität des Heiligen in meiner Dissertation Jerusalem Transformationen (Phil. Diss., Univ. Hamburg, 2018). 23 Übers. Nadine Mai, aus Felix Fabri: Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Aegypti peregrinationem, 2 Bde., 1843, Bd. I, S. 240: In ipsio Locus ille sancte marmore signatus est, in quo Dominus Jesus crucem bajulans et videns scopulum Calvariae prae angustia sub cruce in terram corruit. Hunc locum devotissimum crebos vivibus deosculati sumus et multis lachrymis vestigia illa sanguinea irrigavimus […]. 24 Burchard von Monte Sion: Descriptio Terrae Sanctae, in: Peregrinatores medii aevi quatuor: Burchardus de Monte Sion, Ricoldus de Monte Crucis, Odoricus de Foro Julii, Wilbrandus de Oldenborg […], hg. v. J. C. M. Laurent, Leipzig 1864, S. 19−95, hier S. 71: lapide pofiritico subnigro, habens maculas rubeas naturaliter, quas credit uulgus tincturas esse sanguinis Christi.
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Recepte veritable par laquelle tous les hommes de la France pourront apprendre à multiplier et augmenter leurs tresors 1563 Les Astres et Planetes ne sont pas oisifves, la mer se pourmaine d’un costé et d’autre, et se travaille à produire choses profitables, la terre semblablement n’est jamais oisifve : ce qui se consomme naturellement en elle, elle le renouvelle, et le reforme derechef, si ce n’est en une sorte, elle le refait en une autre. […] Or faut icy noter, que tout ainsi que l’exterieur de la terre se travaille pour enfanter quelque chose ; pareillement le dedans et matrice de la terre, se travaille aussi à produire : en aucuns lieux elle produit du charbon fort utile, en d’autres lieux, elle conçoit et engendre du fer, de l’argent, du plomb, de l’estain, de l’or, du marbre, du jaspe, et de toutes especes de mineraux […].
Die Sterne und Planeten sind nicht untätig; das Meer wirft sich von einer Küste an die andere und müht sich, nützliche Dinge hervorzubringen. Und auch die Erde ist niemals untätig. Was sich auf natürliche Weise in ihr verzehrt, erneuert sie und formt es aufs Neue, wenn nicht wieder in der gleichen Weise, dann in einer anderen. […] Daher gilt es festzuhalten, dass so, wie alles auf der Erde tätig ist, etwas zu gebären, genau so sind auch das Innere und die Matrix der Erde beschäftigt, ebenfalls etwas hervorzubringen. An einigen Orten erzeugt sie sehr nützliche Kohle, an anderen Orten empfängt und zeugt sie Eisen, Silber, Blei, Zinn, Gold, Marmor, Jaspis und alle Arten von Mineralien […]
Le Jaspe, qui est une desdites pierres, est une eau qui a passé beaucoup de terres, et en passant, elle a prins la substance salcitive, […] et ainsi, l’eau teinte tombant sur la blanche, a fait plusieurs figures, ydees, ou damasquinees en ladite pierre de jaspe. Et parce qu’une partie de l’eau a apporté avec soy [] une substance de sel metallique, la congelation de la pierre s’est faite merveilleusement dure, et sa dureté est cause, que quand ladite pierre est polie, le polissement
Der Jaspis, der eines dieser Gesteine ist, ist ein Wasser, das viele Erden durchzogen und dabei salzige Substanzen aufgenommen hat. […] Auf diese Weise fiel nun das farbige Wasser auf das ungefärbte und brachte so viele Figuren und Gebilde oder Damaszierungen im Jaspis-Stein hervor. Und weil ein Teil des Wassers eine Substanz metallischer Salze mit sich gebracht hat, hat die Verfestigung des Gesteins eine erstaunliche Härte hervorgebracht. Wenn dieses Gestein dann geschliffen
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est merveilleusement beau, et ses figures fort plaisantes. […] Le premier cabinet, qui sera devers le vent du Nord, au coin et anglet du jardin, au bas, et joignant le pied de la montagne ou rocher, je le bastiray de briques cuites, mais elles seront formees de telle sorte, que ledit cabinet se trouvera ressembler la forme d’un rocher, qu’on auroit creusé sur le lieu mesme […] mais je te veux premierement discourir la beauté du polissement du dedans du cabinet. Quand le cabinet sera ainsi massonné, je le viendray couvrir de plusieurs couleurs d’esmails, depuis le sommet des vostes, jusques au pied et pavé d’iceluy : quoy fait, je viendray faire un grand feu dedans le cabinet susdit : et ce, jusques à tant que lesdits esmails soient fondus ou liquifiez sur ladite massonnerie : et ainsi, les esmails en se liquifiant, couleront, et en se coulant, s’entremesleront, et en s’entresmelant, ils fieront des figures et ydees fort plaisantes, et le feu estant osté dudit cabinet, on trouvera que lesdits esmails auront couvert la jointure des briques, desquelles le cabinet sera massonné : et en telle sorte, que ledit cabinet semblera par le dedans estre tout d’une piece, parce qu’il n’y aura aucune apparition de jointures : et si sera ledit cabinet luisant d’un tel polissement, que les lizers et langrottes qui entreront dedans, se verront comme en un mirroir, et admireront les statues : que si quelqu’un les surprend, elles ne pourront monter au long de la muraille dudit cabinet, à cause de son polissement, et par tel moyen, ledit cabinet durera à jamais, et n’y faudra aucune tapisserie : car sa parure sera d’une
wird, so sind diese polierten Oberflächen bewundernswert schön, mit Figuren, sehr vergnüglich anzusehen. [...] Das erste Kabinett, das in einer Ecke des Gartens gegen den Nordwind liegen wird und sich im unteren Teil an den Fuß des Bergzuges oder der Felsen anschließt, werde ich in gebrannten Ziegeln errichten. Aber diese sind so geformt, dass das genannte Kabinett der Form eines Felsens ähneln wird, den man an Ort und Stelle ausgegraben hat […] Aber zunächst will ich dir die Schönheit der Auskleidung im Inneren des Kabinetts darlegen: Wenn der Bau auf die beschriebene Weise aufgemauert ist, werde ich die Wände mit Glasuren in vielen Farben bedecken, vom Scheitel der Gewölbe bis zum Fuß der Wände und den Bodenpflastern. Dies getan, werde ich im Inneren des Kabinetts ein großes Feuer machen, und zwar bis die erwähnten Glasuren geschmolzen sind und sich auf dem Mauerwerk verflüssigt haben. Und so werden die Glasuren, indem sie flüssig werden, verlaufen; und indem sie verlaufen, werden sie sich vermischen und indem sie sich mischen, werden sie sehr amüsante Figuren und Gebilde hervorbringen. Nach diesem Brennvorgang wird man feststellen, dass die erwähnten Glasuren die Fugen zwischen den Ziegeln, aus denen das Kabinett gemauert ist, bedeckt haben – und zwar in einer Weise, dass es scheint, als würde das Kabinett in seinem Inneren aus einem ein zigen Stück bestehen, da keinerlei Naht stellen sichtbar sein werden. Und so wird das Kabinett, in seiner glatten Oberfläche glänzen, dass die Eidechsen und Heuschrecken1, die hineinkommen, sich selbst wie in einem Spiegel sehen und die Statuen bewundern
Recepte veritable / Discours admirables
telle beauté, comme si elle estoit d’un jaspe, ou porfire, ou calcidoine bien poli. Bernard Palissy: Recepte veritable, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Marie-Madeleine Fragonard, Paris 2010, S. 132−133; S. 152−153; S. 163–165.
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werden. Wenn jemand sie überrascht, werden sie nicht an den Wänden emporlaufen können – so glatt sind die Wandungen. Und auf diese Weise wird dieses Kabinett ewig bestehen. Zudem braucht es keinerlei Auskleidung der Wände, da seine Erscheinung von solcher Schönheit sein wird, wie die von wohlpoliertem Jaspis, Porphyr oder Chalzedon. Übersetzung: Robert Felfe
Bernard Palissy
Discours admirables de la nature des eaux et fontaines, tant naturelles qu’artificielles 1580 10. Discours. De l’art de terre, de son utilité, des esmaux & du feu […] & deslors sans avoir esgard que je n’avois nulle connoissance des terres argileuses, je me mis à chercher les esmaux, comme un homme qui taste en tenebres. Sans avoir entendu de quelles matieres se faisoyent lesdits esmaux : je pilois en ces jours là de toutes les matieres que je pouvois penser qui pouroyent faire quelque chose […]. Bref j’ay ainsi bastelé l’espace de quinze ou seize ans, quand j’avois appris à me donner garde d’un danger, il m’en survenoit un autre, lequel je n’eusse jamais pensé. Durant ces temps là je fis plusieurs fourneaux lesquels m’engendroyent de grandes pertes au paravant que j’eusse connoissance du moyen pour les eschauffer
10. Diskurs. Von der Kunst der gebrannten Erden ihrem Nutzen, von Glasuren und vom Feuer […] von da an und ohne Rücksicht darauf, dass ich keine Kenntnisse von tonhaltigen Erden hatte, machte ich mich an die Erforschung der Glasuren – wie ein Mensch, der im Dunkeln herumtastet. Ohne je gehört zu haben, aus welchen Substanzen diese Glasuren gemacht werden, zerstampfte ich alle möglichen Stoffe, von denen ich auch nur dachte, dass ich mit ihnen etwas anfangen könnte […]. Kurz, so habe ich über einen Zeitraum von fünfzehn oder sechzehn Jahren experimentiert: wenn ich gelernt hatte, mich vor einer Gefahr zu hüten, trat plötzlich eine andere ein, an die ich niemals gedacht hatte.
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egallement : en fin je trouvay moyen de faire quelques vaisseaux de divers esmaux entremeslez en maniere de jaspe : cela m’a nourri quelques ans : mais en me nourissant de ces choses je cherchois tousjours à passer plus outre avecques frais & mises, comme tu sçais que je fais encores à present. Quant j’eus inventé le moyen de faire des pieces rustiques, je fus en plus grande peine & en plus d’ennuy qu’au paravant. Car ayant fait un certain nombre de bassins rustiques & les ayant fait cuire, mes esmaux se trouvoyent les uns beaux & bien fonduz, autres mal fonduz, autres estoyent brulez, à cause qu’ils estoyent composez de diverses matieres qui estoyent fusibles à divers degrez, le verd des lezards estoit bruslé premier que la couleur des serpens fut fondue, aussi la couleur des serpens, escrevices, tortues & cancres, estoit fondue au paravant que le blanc eut reçeu aucune beauté. Toutes ces fautes m’ont causé un tel labeur & tristesse d’esprit, qu’au paravant que j’aye rendu mes esmaux fusible à un mesme degré de feu, j’ay cuidé entrer jusques à la porte du sepulchre : aussi en me travaillant à tels affaires je me suis trouvé l’espace de plus de dix ans si fort escoulé en ma personne qu’il n’y avoit aucune forme ny apparence de bosse aux bras ny aux jambe […]. Bernard Palissy: Discours admirables, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Marie-Madeleine Fragonard, Paris 2010, S. 486−487 und S. 494−495.
Während dieser Zeit baute ich mehrere Brennöfen, die mir große Verluste einbrachten, bevor ich in Erfahrung brachte, auf welche Weise sich eine gleichmäßige Hitze erzeugen ließ. Endlich fand ich Wege, einige Gefäße mit verschiedenen Glasuren herzustellen, die in der Art des Jaspis ineinander verlaufen. – Dies ernährte mich für einige Jahre, aber während ich mit diesen Dingen mein Auskommen hatte, versuchte ich unermüdlich unter Kosten und hohem Einsatz darüber hinaus zu gelangen, was ich bis heute tue, wie du weißt. Als ich dann Verfahren erfunden hatte, Naturabgüsse herzustellen, war ich in größerem Kummer und Sorgen als je zuvor. Denn als ich eine gewisse Anzahl meiner Rustika–Schalen angefertigt und gebrannt hatte, stellte sich heraus, dass die Glasuren zum Teil schön und gut geschmolzen, andere aber kaum verlaufen und wieder andere verbrannt waren. Dies war geschehen, weil ihre stoff lichen Zusammensetzungen sehr verschieden waren und bei verschiedenen Temperaturen schmolzen: das Grün der Eidechsen war verbrannt, bevor die Farbe der Schlangen überhaupt geschmolzen war, und die Farbe der Schlangen, Flusskrebse, Schildk röten und Krabben war wiederum zerflossen, bevor das Weiß irgendeine Schönheit erlangt hatte. All diese Fehler brachten mir so viel Mühe und Schwermut des Geistes, dass – bis ich endlich meine Glasuren so abgestimmt hatte, dass sie bei demselben Grad an Hitze flüssig wurden – ich den Pforten des Grabes nahe war. Dabei habe ich während der zehn Jahre, in denen ich mit diesen Dingen beschäftigt war, mich so sehr aufgezehrt, dass mein Leib keinerlei Form mehr hatte, keinerlei sichtbare
Recepte veritable / Discours admirables
S chwellungen weder an den Armen noch den Beinen […]. Übersetzung: Robert Felfe
Kommentar Die Kunstgeschichte kennt den gelernten Glasmaler Bernard Palissy (1510–1590) in erster Linie als Keramiker sowie als Architekten manieristischer Grottenanlagen.2 Besondere Wertschätzung gilt dabei seinen rustiques figulines – farbig glasierten Naturabgüssen von Kleintieren und Pflanzenteilen. Diese plastischen Bildwerke wurden sowohl als ‚Bewohner‘ für Grottenanlagen wie auch als Dekor für Prunkgeschirre verwendet, wo sie zum Beispiel auf den Innenwandungen ovaler Schalen arrangiert wurden. Bereits zu Lebzeiten Palissys wurden diese Keramiken auch von anderen Werkstätten adaptiert, was sichere Zuschreibungen der in etlichen Museen überlieferten Stücke heute oft schwierig macht.3 Im 19. Jahrhundert erlebte diese Kunst eine lebhafte Renaissance unter Keramikern4, bevor sich die Kunstgeschichte den rustiques figulines als besondere Ausprägung von frühneuzeitlichem Naturalismus annahm.5 Neben seiner künstlerischen Arbeit brachte Palissy mindestens drei eigene Schriften in den Druck, die in einigen Facetten an die Tradition praxisorientierter Unterweisungen anknüpfen, zugleich aber weit darüber hinaus gingen und seine Kunst in einen naturphilosophischen Rahmen stellten. 1563 erschienen die Architecture et ordonnance de la grotte rustique sowie sein Recepte veritable. Beide Schriften stehen in direktem Zusammenhang mit Plänen für eine künstliche Grotte, die im Auftrag des Herzogs Anne de Montmorency in Écouen entstehen sollte. Zur Vollendung kam sie nicht. Seit 1567 arbeitete Palissy dann für Caterina de‘ Medici an einer ähnlichen Anlage in den Tuileries, die 1572 vermutlich vollendet wurde (Abb. 6). Vor dem Hintergrund der Bürgerkriegswirren erschienen 1580 die Discours admirables. Sie sind insofern seine ambitionierteste Publikation, als auf ihren knapp 400 Seiten jenes umfassende ökologische Beziehungsgefüge voll entfaltet wurde, in das Palissy die bildenden Künste eingelassen sah. Es basiert auf dem Wasserhaushalt der Erde, der vor allem in Brunnenbau und Bewässerungssystemen für die Ernährung zu nutzen sei, und auf dem formbildenden Potential der Salze und seiner Lösungen im so genannten „generativen Wasser“ (eau generative). Im Zusammenwirken von Wasser und Salzen sah Palissy die grundlegenden Komponenten mineralogischer Prozesse, wie die Entstehung von Gesteinen und Metallen. Darüber hinaus kommt ihm eine wichtige Rolle im pflanzlichen Wachstum zu und es fungiert als ein Leitmodell der Formentstehung fester Körper aus und in Materie.6 Als ein Anliegen von übergeordneter Bedeutung umkreisen Palissys Schriften eine fundamentale Herausforderung an letztlich jede Kultur: Sie muß die natürliche Dynamik von permanentem Verbrauch und Verfall in allen Dingen sowie dem Wirken des Wassers, samt
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Abb. 6 Werkstatt von Bernard Palissy: Ziegelstein für künstliche Grotte, mit mehrfarbigen Glasuren und einer Feder (Ausgrabungen in den Tuileries), um 1570, glasierter Ton, ca. 24,5 × 16,5 × 15 cm, Écouen, Musée nationale de la Renaissance
der von ihm ausgehenden Aufbau- und Wandlungsprozesse, in eine lebensfähige Balance bringen mit dem Ringen menschlicher Zivilisation um Stabilität und Dauer. In diesem Gefüge kommt der „art de terre“ – der Kunst der Keramiker – bei Palissy eine besondere Rolle zu. Sie produziert in direkter Analogie zu basalen Prozessen im Reich der mineralia, ihre Werke verkörpern auf einzigartige Weise die skizzierte Balance zwischen Natur und Kultur.7 Angesichts dieses weiten Horizonts seiner Schriften wurde Bernard Palissy denn auch in verschiedenen Kontexten rezipiert und gewürdigt. Dank der beiden Titel von 1563 gilt er als wichtiger Mittler zwischen Italien und Frankreich im Bereich der Gartenarchitektur.8 Bauten und skulpturale Ausstattung weisen vielfache Bezüge etwa zur Hypnerotomachia Poliphili (1499) auf, die 1546 und 1561 auch auf Französisch erschienen war.9 Hervorzuheben ist hier ein ausgeprägtes Interesse an den ästhetischen Qualitäten von Gesteinen. Dabei geht es immer wieder um Kontraste und Ambivalenzen zwischen natürlichen und künstlichen Gesteinen, wie auch um die spezifische Anmutung steinerner Oberflächen. Vor allem letztere werden in den Schriften von Palissy zu einem besonders reizvollen Feld der gegenseitigen Herausforderung zwischen künstlerischer Mimesis und Natur.10 Insbesondere in den Discours admirables finden sich zudem mehrfache Parallelen zwischen kunsttechnologischen Ausführungen sowie Reflektionen zu mineralogischen Prozes-
Recepte veritable / Discours admirables
sen und damals rätselhaften Phänomenen wie den Fossilien.11 Seine oft innovativen Erklärungen und Hypothesen öffneten Perspektiven auf die Natur als einen Zusammenhang fortwährend prozessualer Veränderungen. Es sind diese Überlegungen von Palissy, die im 18. Jahrhundert etwa Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon dazu veranlasst haben, den einfachen Töpfer euphorisch und hintersinnig zugleich als einen Neuerer der Wissenschaften zu feiern, wie ihn nur die Natur selbst hätte formen können.12 Wenn Palissy heute zudem in der Geschichte der französischen Literatur neben Autoren wie Michel de Montaigne und François Rabelais genannt wird, dann stützt sich dies zum einen auf Motive und Themen – wie etwa den Garten – wie auch auf spezifische Qualitäten seiner Texte.13 Sie trugen dazu bei, den Dialog als literarische Form, die vor allem in Humanisten-Kreisen nach dem Vorbild antiker Traditionen wiederbelebt worden war, in der vernakularen Literatur zu etablieren.14 Dabei nutzte Palissy den Dialog – insbesondere in den Discours admirables – für eine zugespitzt kontroverse Darstellung. Das Gespräch führen hier Theorique, als Personifizierung einer falschen Gelehrsamkeit, und Practique, das ebenso empirisch erfahrene wie logisch reflektierende alter ego des Autors. In der Opposition zwischen beiden treffen zwei grundsätzlich verschiedene Modelle bzw. Konzepte von Wissen aufeinander. Dabei nimmt Practique selbstbewusst ein Wissen und Können für sich in Anspruch, das – unverbildet von Schriftgelehrsamkeit – allein auf Empirie und Praxis beruht. Angesichts dieser forcierten Polarisierung und der betonten Überlegenheit der Practique sind die Discours denn auch als besonders markantes Zeugnis einer artisanal epistemology des 16. Jahrhunderts gelesen worden.15 Dabei ist diese Stilisierung in ihrer Absolutheit zugleich eine Maskierung. Sie überspielt Bezüge zu antiken Autoritäten wie Plinius oder Vitruv ebenso wie zu zeitgenössischen Autoren wie Girolamo Cardano.16 Und sie verdeckt, dass Palissys Denken weitaus komplexere Beziehungen zu aristotelischen Traditionen und zu alchemistischen Konzepten aufweist, als es Hohn und rhetorische Attacken gegen diese vermuten lassen.17 Hinzu kommt, dass die Discours admirables nicht zuletzt als Begleitmaterialien für eine Reihe von Abendvorträgen publiziert wurden, die Palissy in den 1570er Jahren in Paris im Rahmen quasi-akademischer Zusammenkünfte hielt und mit denen er sich nicht zuletzt in Gelehrtenkreisen zu profilieren versuchte.18 Die hier ausgewählten Passagen aus dem Recepte veritable und den Discours admirables geben einen exemplarischen Einblick in die Verschränkung von naturkundlichen Interessen und künstlerischer Arbeit bei Palissy. Die Gesteine sind dabei der Bereich, in dem diese Verschränkung am deutlichsten hervortritt. Die geschaffene Natur im Ganzen des Kosmos und die Erde im Besonderen denkt Palissy als einen seit der Schöpfung fortwährend tätigen Wirkzusammenhang, nicht zuletzt zum Nutzen des Menschen. Dabei werde zum einen permanent ersetzt, was vergeht und verbraucht wird; zugleich aber geht er davon aus, dass die unermüdlich wirkende Natur Art und Weise des Hervorbringens durchaus variiert und wandelt. Leibmetaphorische Vorstellungen von einer „Zeugung“ und „Geburt“ der Gesteine und Metalle sowie von einer Analogie zwischen den Gebirgen und Felsen der Erde zu den Knochen im
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menschlichen Körper sind vor allem in den frühen Schriften charakteristisch.19 Zugleich suchte Palissy bereits hier auch auf einer geophysikalisch-chemischen Ebene nach Erklärungen für gesteinsbildende Prozesse, und später in den Discours wird er ein lebendiges Wachstum der Steine explizit verneinen.20 Der Jaspis ist eines jener Gesteine, das vor allem für die Kunst der gemischten Erden und Glasuren besonders reizvoll ist. Seine Maserungen und Schlieren werden einerseits als Spuren der natürlichen Mischung und Kombination verschiedener Stoffe und Farben gedeutet, und diese „Figuren“ und „Gebilde“ sind – durchaus in Anlehnung an Alberti – Initialmomente und Impulse für künstlerische Bildgebungen.21 Diese Merkmale des Jaspis greift Palissy denn auch als ästhetische Oberfläche zum Beispiel an den Innenwänden künstlicher Grottenanlagen auf. Jene Figuren und Gebilde, die die Glasuren hier aufweisen, sind dabei eine erste Ebene künstlerischer Mimesis von Natur. Auf dieser Ebene ahmt die Kunst des Töpfers die natura naturans gesteinsbildender Prozesse nach. Wenn andere Grottenräume zugleich mit Naturabgüssen von Eidechsen, Schlangen usw. ausgestattet werden, dann wird dort mit der täuschenden Suggestion sich bewegender Tiere eine weitere Facette von Mimesis hinzugefügt, in der das plastische Bildwerk auch die Präsenz lebendiger Wesen illusioniert.22 Die spezifischen Eigenschaften der künstlichen Gesteine des Keramikers werden jedoch noch weiter ausformuliert. Die komplette Glasur des gesamten Innenraums zielt auf einen größtmöglichen Kontrast zur Erscheinung des Außenbaus. Fingiert die dortige Rustika-Bauweise die scheinbare Abwesenheit von Kunst als einen rohen Naturzustand, so wird dieses Sich-Verbergen der Kunst im Inneren gewissermaßen auf die höhere Ebene einer hybriden Verschränkung von Kunst und Natur überführt. Hier kaschieren die Glasuren sämtliche Fugen und Baunähte. Das Innere erscheint so ‚wie aus einem Stück‘ und das heißt auch: nicht durch äußere Bearbeitung gemacht, sondern in einem endogenen Formprozess, aus dem Inneren der Materie entstanden zu sein. Dies jedoch galt als ein Vermögen der Natur, das den meisten menschlichen Künsten nicht gegeben ist. Zugleich wird der Innenraum aber in seiner unbegrenzten Dauerhaftigkeit auch über die Natur erhoben. Außerdem wird diese hybride Architektur im wahrsten Sinne belebt. Dazu wird der seit Plinius geläufige Topos der Täuschung von Tieren durch Kunstwerke aufgegriffen und dahingehend abgewandelt, dass lebende Tiere wie Eidechsen herbeikommen, um – neben den aufgestellten Skulpturen – in den ‚noch nicht‘ figural ausdifferenzierten, äußerst glatten Oberflächen der Wände ihre eigenen Spiegelbilder zu betrachten. Im zehnten Gespräch der Discours admirables hinterließ Palissy in der dramaturgisch durchorganisierten Schilderung seiner Erfindungen ein überaus eindrucksvolles literarisches Selbstzeugnis. Er stellt sich als einen Künstler dar, der alles, was ihn ausmacht, selbst und im Alleingang in einem jahrzehntelangen Prozess von trial and error erreicht habe. Die Suche nach den Rezepturen seiner Glasuren, die Erfindung des pierre jaspis und die Technologie der rustiques figulines werden als langer und entbehrungsreicher Weg geschildert. Mühen, Leid und Erniedrigung wechseln sich ab mit Momenten, in denen der Keramiker – ähnlich wie
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Benvenuto Cellini in seiner Schilderung vom Gießen des Perseus23 – als heroischer Bezwinger von Widrigkeiten und Naturgewalten erscheint. Eine auffällige motivische Facette in dieser Selbststilisierung bei Palissy ist das physische Dahinschwinden des Protagonisten, sein im wahrsten Sinne Formverlust und das „Abfließen“ – escouler – seiner Lebenskräfte.24 Im Zusammenhang der Discours evoziert diese drastische Schilderung nahezu unweigerlich eine Transformation, bei der der lebendige Körper des Künstlers investiert – oder geopfert – wurde, um dem künstlichen Gestein der rustiques figulines einen beispiellos suggestiven Schein von Lebendigkeit zu verleihen. Robert Felfe 1 2
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langrottes – Wird in neueren Ausgaben ohne nähere Bestimmung auch im Sinne weiterer Eidechsen kommentiert. Grundlegend zu Palissy: Leonard N. Amico: Bernard Palissy. In search of earthly Paradise, Paris u. a. 1996; Juliette Ferdinand: Bernard Palissy. Artisan des réformes entre art, science et foi, Berlin/Boston 2019; sowie die Beiträge in Frank Lestringant (Hg.): Bernard Palissy 1510–1590. L’écrivain, le réformé, le céramiste (Journées d’études 29 et 30 juin 1990, Saintes, Abbaye-aux-Dames), Mont de Marsan 1992; Une Orfèvrerie de terre. Bernard Palissy et la céramique de Saint-Porchaire, hg. v. Thierry Crépin-Leblond, Ausstellungskatalog, Ecouen, Musée Nationale de la Renaissance, Paris 1997. Empfehlenswert auch die Biographie: JeanPierre Poirier: Bernard Palissy. Le secret des émaux, Paris 2008. Vgl. Christine Viennet: Bernard Palissy et ses suiveurs du XVIe siècle à nos jours, Dijon 2010. Christian Gendron: Les imitateurs de Bernard Palissy au XIXe siecle, in: Lestringant 1992, S. 201–206. Hervorzuheben ist hier: Ernst Kris: Der Stil „rustique“. Die Verwendung des Naturabgusses bei Wenzel Jamnitzer und Bernard Palissy, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 1926, S. 137–208; zu empfehlen auch eine französische Ausgabe dieses Textes mit Beiträgen von Ernst Gombrich und Patricia Falguières: Ernst Kris: Le style rustique, übers. ins Franz. von Christophe Jouanlanne, Paris 2005. Kernaussagen zu dieser eau generative finden sich in: Bernard Palissy: Discours admirables, in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. Marie-Madeleine Fragonard, Paris 2010, S. 356–358. Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin u. a. 2015, S. 70–77. Hierzu siehe Frank Lestrignant: Preface. L’Éden et le ténèbres extérieures, in: Bernard Palissy: Recette véritable (1563), bearb. u. hg. v. Frank Lestringant, Paris 1996, S. 5–47; Philippe Morel: Les Grottes maniéristes en Italie au XVIe siècle. Théâtre et alchimie de la nature, Paris 1998; Anne-Marie Lecoq: The Garden of Wisdom of Bernard Palissy, in: Monique Mosser u. a. (Hg.): The History of Garden Design. The Western Tradition from the Renaissance to the Present Day, London 1991, S. 69–80. Gilles Polizzi: L’integration du modèle. Le Poliphile et le discours du jardin dans La recepte veritable, in: Lestringant 1992, S. 65–92. Vgl. den Beitrag von Franca Buss im vorliegenden Band.
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Bernard Palissy 10 Felfe 2015, S. 40–53. 11 Ausführlich vor allem zu den hydrologischen, mineralogischen und geologischen Passagen in den Discours admirables vgl.: Reinhart Dittmann: Naturerkenntnis und Kunstschaffen. Die Discours admirables von Bernard Palissy. Übersetzung und Kommentar, Berlin u. a. 2016, hier vor allem S. 463–546; Juliette Ferdinand: Placere et docere. Le jardin minerale de Bernard Palissy, in: Juliette Ferdinand (Hg.): From Art to Science Experiencing Nature in the European Garden 1500–1800, Treviso 2016, S. 92–109; H. R. Thompson, The geographical and geological observations of Bernard Palissy the Potter, in: Annals of Science 10.2/1954, S. 149−165. 12 Un potier de terre, qui ne savait ni latin, ni grec fut le premier, vers la fin du XVIe siècle, qui osa dire dans Paris et à la face de tous les docteurs que les coquilles fossiles étaient de véritable coquilles déposées autrefois par la mer dans les lieux où elles se trouvaient alors […] C’est Bernard Palissy, saintongeais, aussi grand physicien que la Nature seule en puisse former un. Georges-Louis Leclerc, Compte de Buffon, hier zit. nach: Poirier 2008, S. 10−11. 13 Vgl. Danièle Duport: Le jardin et la nature. Ordre et variété dans la litterature de la Renaissance, Genf 2002, hier S. 63–91. 14 Jean Céard: Relire Bernard Palissy, in: Revue de l’Art 78/1987, S. 77–84. 15 Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, hier S. 25–26 und S. 100–106. 16 Lestringant 1996 und die Kommentare in den Oeuvres Completes (2010) wiesen gerade in Hinblick auf die mineralogischen Überlegungen Palissys mehrfach auf deutliche Anleihen aus der französischen Ausgabe von Cardanos De subtilitate hin, vgl. Girolamo Cardano: De la subtilité, Paris 1556. 17 Hervorragend hierzu: Hanna Rose Shell: Casting Life, Recasting Experience: Bernard Palissy’s Occupation between Maker and Nature, in: Configurations 12/2004, S. 1–40. 18 Vgl. Dittmann 2016, S. 427–460. 19 So z. B. in: Palissy 2010, S. 128. 20 Die Steine, heißt es hier in Anlehnung an aristotelische Traditionen, haben keine Pflanzenseele (l’ame vegetative), sondern seien empfindungslos, weshalb sie auch nicht vegetativ wachsen, sondern durch Verfestigung zunehmen würden (augmentation congelative). Palissy 2010, S. 425. 21 Zu denken ist hier insbesondere an die vielzitierte Passage in De Pictura. Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann, Darmstadt 2000, S. 244f.; vgl. Horst Woldemar Janson: The ‚Image Made by Chance‘ in Renaissance Thought, in: Millard Meiss (Hg.): De artibus opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Bd. I, New York 1961, S. 254–266. 22 So in etlichen der anderen „Kabinette“ und so genannten „grünen Kabinette“ im Recepte veritable, vgl. Palissy 2010, S. 163–178. 23 Benvenuto Cellini: Mein Leben, übers. u. bearb. v. Jacques Laager, Zürich 2000, S. 589–599. 24 Auf den möglichen Zusammenhang dieser Schilderung v. a. vom „Abfließen“ der eigenen Lebenskräfte zu calvinistischen Schriften und den dort diskutierten Zusammenhang von Glaubensbekenntnis, Wohlstand und sozialer Anerkennung wird im Kommentar zu dieser Passage hingewiesen in: Palissy 2010, S. 495, Anm. 44.
Conrad Gessner
De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime, figuris et similitudinibus liber 1565 Praefatio Conradi Gessneri in Librum de Lapidum, Gemmarum ac Metallorum figuris, Praefatio: quae ordinis rationem reddit et Capitum XV argumenta enumerat.
Einleitung Conrad Gessners Vorrede zum Buch über die Gestalt von Steinen, Edelsteinen und Metallen, die den Sinn der Reihenfolge erklärt und die Themen der fünfzehn Kapitel aufzählt.
De Lapidibus et Gemmis alii aliter suos ediderunt libros: mihi hunc ordinem sequi visum est, quem (ut spero) lectores non improbabunt, ab ipsa fere natura deductum. Primo enim loco lapides illos, in quibus lineae duntaxat et puncta, et ad figuram pertinentia magis quam ad corpus considerantur, enumero. Secundo, eos qui vel simile aliquid corporibus simplicibus, ut coelestibus et elementis habent; vel saltem ab eis denominantur aut cognominantur. […]
Über Steine und Edelsteine gaben andere ihre andersartigen Bücher heraus. Mir scheint es richtig der Anordnung zu folgen, die möglichst von der Natur selbst abgeleitet ist, welche, wie ich hoffe, die Leser nicht zurückweisen werden. An erste Stelle setze ich nämlich jene Steine, bei denen Linien und Punkte mehr zur äußeren Erscheinung beitragen, als zur Masse [Anm. d. V.: Umriss linien und punktuelle Eigenheiten mehr die äußere Erscheinung bestimmen als das Körpervolumen]. An zweite Stelle kommen jene, die entweder den einfachen Körpern [Anm. d. V.: geometrischen Grundformen] oder Himmelserscheinungen ähneln. […] [Die im Folgenden erläuterten Kapitel 3–15 sind Steinen gewidmet, deren Gestalt Ähnlichkeit mit oder Bezüge zu unbelebten Dingen, Pflanzen oder Tieren der Erde und des Wassers aufweisen]
De his autem potissimum hoc libro agere volui, quod eorum forte omnium figurae exprimi ac depingi possint: quae ad rerum
Vor allem aber möchte ich mit diesem Buch bewirken, dass möglichst von allen diesen Sachen Abbildungen angefertigt und
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Conrad Gessner
cognitionem adipiscendam plurimum iuvant. Cognosci autem res prius, quam de ipsarum natura, viribus ac facultatibus sermonem institui, operae precium est. Posui autem figuras non omnium, sed quotquot hoc tempore habere potui, plerasque ex illis quos domi ipse servo lapidibus recte et graphice depictos; aliquas vero ab amicis missas […].
gedruckt werden, welche beim Erlangen einer Kenntnis der Dinge sehr helfen werden. Ich weiß auch, dass es von besonderem Wert ist, zuerst über Natur, Eigenschaften und Wirkungen zu handeln. Ich habe auch nicht Bilder aller Dinge gegeben, sondern nur von denen, über die ich derzeit verfügen konnte, die meisten biete ich von jenen Steinen, die ich zuhause graphisch gut dargestellt habe, andere aber wurden von Freunden zugesandt […].
Quantum vero ad delineatas figuras attinet, cum ego primus lapides pictos volumine iis dicato exhibere tentaverim, boni consulent lectores qualemcunque diligentiam hanc nostram; et si forte aliquas non facile dignoscent, non nobis, sed rei difficultati imputent. perdifficile enim est lapides aliquos ita pingendo repraesentare ut facile suis lineamentis suaque figura cognoscantur, praesertim sine coloribus, cum ne aves quidem et pisces plerique sine iis facile agnoscantur. Quamobrem Typographum hortatus sum, ut in eorum gratiam, qui forte desideraverint, exemplaribus aliquot colores addendos curet. Sunt quae per se pingi non queant, sed aliquo addito, ut Magnes massa informis adpicto acu quem ad se trahat, aut scobe ferri quae lima apposita intelligatur. Iris vero, si ad parietem arcus coelestis ei adpingatur et unio in sua concha. Sed huiusmodi per accidens picturas, ut ita dicam, nullas ego exhibui, praeter Magnetem speciminis gratia. Sunt etiam quae suo colore, quem ipsa de se reddunt, pingi et repraesentari queant; quorum tabellam sub finem libri, intervallis aliquot,
Soweit es aber geschnittene Abbildungen angeht, da ich in diesem ihnen gewidmeten Buch als erster abgebildete Steine anzubieten bestrebt bin, mögen die geneigten Leser unsere besondere Sorgfalt überall beachten, und auch wenn sie diese nicht gleich erkennen, mögen sie das nicht uns, sondern der Schwierigkeit anlasten. Besonders schwierig nämlich ist es, Steine zeichnerisch so darzustellen, dass sie leicht durch ihre Linien und Form erkannt werden, besonders ohne Farben, wie auch weder Vögel noch die meisten Fische ohne diese leicht erkennbar sind. Deshalb habe ich den Drucker angehalten, dass er zum Vorteil derer, die so etwas vielleicht wünschen werden, einigen Exemplaren Farben hinzufügen lässt. Es gibt auch einige Dinge, die allein nicht dargestellt werden können, sondern nur durch eine Hinzufügung, wie der Magnetstein, gezeigt als unförmiger Klumpen mit zugesellter Nadel, die er an sich zieht, oder Eisenspäne, die durch die beigefügte Feile erkennbar, oder Iris, der Regenbogen, identifizierbar nur, wenn an der Wand ein Himmelsbogen hinzugemalt wird, oder auch eine große Perle in ihrer Muschel. Aber, um dies hier zu sagen,
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quorum suo quodque colore rei fossilis diversae pingitur, aut pingi potest, distinctam subiecimus.
derart zufällige Bilder habe ich nicht dazu getan, außer um des Objektes willen, wie beim Magneten. Es gibt aber auch Dinge, die nur durch ihre Farbe, die sie aus sich selbst wiedergeben, abgebildet und dargestellt werden können. Von diesen geben wir am Ende des Buches eine genaue Tabelle, mit welchen Unterschieden und welcher Farbe die verschiedenen steinernen Dinge gezeigt oder dargestellt werden können.
Caput I Mira praecipue sua crystallis figura est. Interdum vni crystallo (inquit Georg Agricola) magnae et perfectae agnascuntur plures parvae et imperfectae ac quasi dimidiatae, quibus triangula latera videntur esse, cum alioqui crystallis sexangula sint, sed maxima ex parte inaequalia. etenim ex eis saepius bina tantum lata sunt, quaterna stricta, rarius quaterna lata, bina stricta. quodque vero latus strictum est e regione stricto, quodque latum lato. Omnis insuper crystalli mucro, similiter ac reliquum corpus est sexangulus: sed in hoc differt quod latus strictum, non semper est adversum stricto, sed interdum latum est contrarium stricto […].
Kapitel I Wunderbar ist besonders die Gestalt des Kristalls. Mitunter, berichtet Agricola, wachsen bei dem großen perfekten Kristall mehrere kleine und unperfekte, gleichsam halbierte, denen dreieckige Seiten zu eigen scheinen, während ansonsten Kristalle sechseckig sind, doch großen Teil un gleichmäßig. Von diesen sind häufig nur zwei breit, vier aber schmal, selten vier breit und zwei schmal, auch weil stets eine schmale Seite einer schmalen gegenüber steht, eine breite aber einer breiten. Darüber ist die Spitze eines jeden Kristalls, gleichartig und als restlicher Körper sechseckig, doch dadurch unterschieden, dass nicht immer eine schmale Seite einer schmalen gegenüber ist […].
Ex tribus iconibus hic adiectis, prima et maxima, simpliciter Crystalli est, cui figura omnino sua nativaque est, tertia Pangonii cognomine, cui artificis manus angulos duodecim, addidit. Tertiam et minimam Guilielmus Gratarolus Bergomensis, philosophus et medicus clarissimus mihi donavit. est autem tantilla, quanta hic pingitur, utrinque ex aequo mucronata, sive
Von den drei hier beigefügten Bildern ist das erste und größte das eines einfachen Kristalls, dem seine ganze Gestalt von Natur gegeben ist. Das dritte, mit dem Beinamen Pangonium, dem die Hand des Künstlers zwölf Seiten [Anm. d. V.: wörtlich „Winkel“ doch sind die geschliffenen Seiten gemeint] hinzu fügte. Das zweite [Anm. d. V.: im Druck fälschlich „tertium“] und kleinste hat mir
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natura, sive arte: de quo dubito. caeterae enim crystalli omnes, ni fallor, ab una solum parte in mucronem exeunt: basis crassior et informior est, qua ceu radice saxis et rupibus montium sive enasci sive innasci solent. Conrad Gessner: De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime, figuris et similitudinibus liber, Zürich: Iacobus Gesnerus 1565, S. 1–5 (unpag.); Kap. I, S. 17–19.
Guilielmus Gratarolus aus Bergamo, ein Philosoph und berühmter Arzt geschenkt. Es ist aber so klein, wie es hier dargestellt ist, von allen Seiten gleichmäßig geschnitten, sei es durch die Natur, sei es durch die Kunst, worüber ich aber im Zweifel bin. Alle anderen Kristalle nämlich wachsen, wenn ich nicht irre, von nur einer Seite zu einer Spitze auf. Die Basis ist breiter und formloser, sei es, dass sie aus eines Steines Wurzel oder den Bergfelsen entwachsen oder einzuwachsen pflegen. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Tiere des Landes, der Luft und des Wassers, Pflanzen und Bibliographien sind es, die man mit dem Züricher Naturforscher und Arzt Conrad Gessner1 (1516–1565) verbindet, vor allem seine enzyklopädischen Werke, welche die ihm bekannten Lebewesen in Beschreibung und Holzschnitt vorstellten.2 Den beiden großen intellektuellen Moden der Zeit, literarischem Humanismus und religiöser Reformation, letzterer in zwinglianischer Prägung, eng verbunden und zeittypisch fest eingebunden in ein internationales Gelehrtengeflecht, das durch briefliche Kommunikation, Buch- und Geschenkaustausch interagierte,3 nutzte Gessner in zuvor unbekanntem Umfang Abbildungen,4 um seine überwiegend kompilatorisch-enzyklopädischen Werke zu vervollständigen. Das hier interessierende späte, in Gessners Todesjahr erschienene Werk über Steine, Edelsteine und Metalle5 formuliert dies in Titel und Einleitung ausdrücklich: Die der Natur folgende Darstellung soll die äußere Gestalt der Objekte zum Ordnungsmaßstab machen, womit er von älteren, kanonisch gewordenen Werteinschätzungen folgenden Reihenfolgen abgeht, wie sie noch von Anselmus Boetius (de Boodt)6 benutzt werden. Gessners Formulierung dieses Prinzips wirkt zunächst etwas unklar, folgt in hier ausgelassenen Erklärungen der Einleitung aristotelischen Kategorisierungen,7 bezieht sich auf Linie, Volumen, geometrische Figuren und Ähnlichkeiten zu Naturformen, setzt diese wenig überzeugende Einteilungsabsicht dann jedoch überraschend pragmatisch um, indem er mit Objekten einfachen, gerundeten Umrisses beginnt, zu eckigen vorangeht und schließlich über Formassoziationen wie Sternform, zu Steinen in Tier- und Pflanzenform gelangt, worunter vor allem Fossilien zu verstehen sind. Die Vorgehensweise geht offensichtlich auf Gessners frühere Versuche einer morphologischen Sortierung von Tieren und Pflanzen zurück, scheitert aber bei Steinen, Edelsteinen und Metallen zwangsläufig, was Gessner selbst
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bemerkt zu haben scheint, wenn er immer wieder die beobachtete Form als mögliches Produkt akzidenteller Einflussnahme durch Menschenhand oder Umwelteinfluss zur Frage erhebt. Ungeachtet dieser mineralogisch nicht zukunftsweisenden Kategorisierung, die kaum Nachfolge fand, liegt hier jedoch das Motiv für die zumindest versucht umfassende Abbildung der behandelten Objekte (siehe Abb. 12, S. 416). Die naturnahe Darstellung sollte das schnelle, einfache und zweifelsfreie Erkennen ermöglichen, so Verbreiterung der Wissensbasis, wissenschaftlichen Austausch und Erkenntniszuwachs begünstigen. Dem stand die mediale Begrenzung des oder der anonymen Verfertiger der Holzschnitte entgegen, die in ihrer technischen Anspruchslosigkeit und Detailarmut kaum dem Anspruch genügen konnten. Materialqualitäten wie Durchsichtigkeit, Glanz, Mattheit, Porosität oder Grade materieller Homogenität waren auf diesem Niveau der Illustration nicht darstellbar. Gessner selbst weist in den zitierten Passagen auf diese medialen Probleme hin, entschuldigt mit der Schwierigkeit der neuartigen Aufgabe und nennt beispielgebend das Fehlen der Farbigkeit, wofür er als mögliche Abhilfe auf die Option der Kolorierung der Abbildungen verweist. Trotz dieser eingeschränkten Nützlichkeit der Abbildungen ist Gessners Unternehmen für die Geschichte der Auseinandersetzung mit Mineralien und Edelsteinen von hoher Bedeutung. Die Notwendigkeit differenzierter Abbildung war erkannt und auftretende mediale Probleme erfuhren Reflektion.8 Kupferstichreproduktionen von Edelsteinen, Mineralien und Fossilien werden erst in den Jahrzehnten um und nach 1700 üblich, wofür auf die berühmten Werke Johann Jacob Scheuchzers,9 aber auch auf Publikationen weniger bekannter Naturforscher hinzuweisen ist,10 ein Phänomen, das bislang keine wissenschaftliche Beachtung fand. Am Beispiel des Bergkristalls werden die Schwierigkeiten und Grenzen des im kleinformatigen Holzschnitt Darstellbaren deutlich, zugleich zeigt sich das Nebeneinander kompilatorischer Wissensanhäufung, beobachtender Überprüfung anhand gesammelter Exempel und Abgleich mit erworbenen Erfahrungen. Als Vorbereitung später erkannter Gesetzmäßigkeiten der Kristallentstehung erscheint die zitierte Beobachtung zum paarweise, gegenüber liegendem Vorkommen von Kristallflächen gleicher Breite,11 der Zweifel an natürlicher Entstehung eines Objektes beruht auf früheren Beobachtungen, beides allerdings entzieht sich der Darstellbarkeit im verwendeten Abbildungsmedium. Aus kunsthistorischer Perspektive sind nicht nur Medien einsatz und Medienkritik interessant, sondern auch ein Blick auf die Formulierung: Anders als häufig vorausgesetzt, benutzte Gessner, der damals bereits bei mehreren großen Publika tionen mit Künstlern, Holzschneidern und spezialisierten Verlegern zusammengearbeitet hatte und mit deren Terminologie vertraut gewesen sein dürfte, Vokabeln wie pingere, depingere, figurare, delineare sowie figura, pictura und eicon ohne erkennbare Differenzierung für das Abbilden und die resultierende Darstellung im Holzschnitt, wobei begrifflich auch nicht zwischen naturgegebener Form und deren menschengemachter Abbildung unterschieden wird – ein Umstand, der vor inhaltlicher Interpretation solcher Wortverwendung warnen sollte. Arwed Arnulf
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Conrad Gessner 1 Eduard K. Fueter: Gesner, Konrad, in: Neue Deutsche Biographie 6/1964, S. 342–345 [OnlineVersion; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118694413.html#ndbcontent; letzter Zugriff: 12.03.2020]. Urs Leu u. Peter Opitz (Hg.): Conrad Gessner (1516–1565): Die Renaissance der Wissenschaften/The Renaissance of Learning, Berlin/Boston 2019 (im Folgenden: Gessner 2019). 2 Historia animalium lib. I de quadrupedibus viviparis, Zürich 1551; Historia animalium lib. II de quadrupedibus oviparis, Zürich 1554; Historia animalium lib. III qui est de avium natura, Zürich 1555; Historia animalium lib. IV qui est de piscium et aquatalium natura, Zürich 1558; Historia animalium lib. V qui est de Serpentium natura, Zürich 1587. 3 Herbert Jaumann (Hg.): Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit: Bio-bibliographisches Repertorium Bd. 1, Berlin/Boston 2004; Jürgen Fohrmann (Hg.): Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien 2005; KlausDieter Herbst u. Stefan Kratochwil (Hg.): Kommunikation in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2009. Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit: Ein Handbuch, Berlin/Boston 2010; ders. (Hg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2016. 4 Zur Gessners Verwendung von Abbildungen: Angela Fischel: Natur im Bild: Zeichnung und Naturerkenntnis bei Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi, Berlin 2009; Daniel Hess: Wissenschaft oder Kunst - Wahrheit oder Verführung? Konrad Gessner und das neue Pflanzenbild im 16. Jahrhundert, in: Gessner 2019, S. 161–194. 5 Dazu: Petra Schierl: Gessner und Agricola über „Fossilien“: Naturforschung zwischen Autopsie und Tradition, in: Gessner 2019, S. 145–160; Walter Etter: Conrad Gessner and the Early History of Paleontology, in: Gessner 2019, S. 129–144. 6 Vgl. den Beitrag des Verfassers zu Anselmus Boetius (de Boodt) in diesem Band. 7 Beispiel einer lateinischen Ausgabe der Kategorien aus Gessners Wirkungszeit: Aristotelis Stageritae Categoriae nunc denuo ab interprete Joachimo Peronio recognitae (Köln 1551). 8 Zur Geschichte naturwissenschaftlicher Illustration: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis – Erfindung – Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000. 9 Z. B. Johann Jacob Scheuchzer: Specimen lithographiae helveticae, Zürich 1702; ders.: Specimen lithographiae helveticae, Zürich 1702; ders.: Physica sacra, 4 Bde., Augsburg/Ulm 1731– 1735. Zu Scheuchzers Publikationen und Kupferstichgebrauch: Irmgard Müsch: Geheiligte Naturwissenschaft. Die Kupfer-Bibel des Johann Jakob Scheuchzer, Göttingen 2000; Bernd Roling: Physica Sacra. Wunder, Naturwissenschaft und historischer Schriftsinn zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, Leiden 2013; Robert Felfe: Naturgeschichte als kunstvolle Synthese: Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jacob Scheuchzer, Berlin 2003. 10 Z. B. Johann Gottlob Mylius: Memorabilia Saxoniae subterraneae, Leipzig 1709; David Sigismund Büttner: Coralliographia subterranea, Leipzig 1714; Peter Wolfhart: Historiae Naturalis Hassiae Inferioris, Kassel 1719; Franz Ernst Brückmann: Thesaurus Subterraneus Ducatus Brunsvigii, Braunschweig 1728. 11 Gesetzmäßigkeiten der Kristallbildung entdeckte nach Mitte des 17. Jahrhunderts: Nicolaus Steno: De solido intra solidum naturaliter contento dissertationis prodromo, Florenz 1669. Troes Kardel u. Paul Maquet (Hg.): Nicolaus Steno. Biography and Original Papers of a 17th century scientist, Berlin/Heidelberg 2013.
Benvenuto Cellini
I trattati dell’oreficeria e della scultura 1565/1567 Trattato dell’oreficeria
Erste Abhandlung über die Goldschmiedekunst
Capitolo IV. Gioiellare Ora cominceremo a ragionare del gioiellare, e di quello che s’appartiene alla diversità delle gioie: le qual gioie non son altre che quattro, le quali son fatte per i quattro elementi, cioè il rubino è fatto per il fuoco, il zaffiro si vede veramente esser fatto per l’aria, lo smeraldo per la terra, e il diamante per l’acqua: et al suo luogo diremo alcune delle virtù loro. Ma ora non è il proposito nostro, nè vogliamo ragionare d’altra cosa se non di quel che s’appartiene al legare dette gioie o in pendenti, o in maniglie, o in anella, o in regni papali, o in corone. […] Cominceremo a ragionare della spezie e qualità dei rubini, e quali sono di parecchie sorte. Il primo si è il rubino orientale, il qual si truova in queste nostre parte del levante, chè essendo noi nell’ Italia di questa provincia chiameremo il levante, il ponente, il settentrione e il mezzogiorno, di modo che quella parte del levante ci mostra tutta la spezie delle gioie migliore e più bella dell’altre. Questi rubini del levante hanno un color maturo, pieno e molto acceso. Quelli del ponente hanno il color loro con tutto che sia rosso, ma pende al pagonazzo, et è agro e molto crudo. Quelli del settentrione sono una sorte di rubini di colore più crudo e
Kapitel IV. Juwelenarbeit Jetzt wollen wir von der Juwelenarbeit reden und über die Eigenschaften der verschie denen Edelsteine. Es sind deren nur vier erschaffen, entsprechend den vier Elementen, nämlich – der Rubin für das Feuer, – der Saphir scheint wirklich die Luft darzustellen, – der Smaragd die Erde und – der Diamant das Wasser. Dort wo es sich ergibt, werden wir auf deren Eigenschaften näher eingehen, aber jetzt wollen wir zunächst das behandeln, was mit dem Fassen der genannten Edelsteine zusammenhängt, nämlich in Anhänger, Armbänder, Ringe oder in die päpstlichen Tiaren und in die Herrscherkronen. […] Beginnen wir, uns über die verschiedenen Arten und Eigenschaften der Rubine zu unterhalten. Der beste ist der orientalische Rubin, der im Morgenland gefunden wird. Wir sind in Italien, nennen den Osten, den Westen, den Norden und den Süden so, von diesem unserem Standort aus. Aus dem Osten stammen die besseren und schöneren Edelsteine als aus allen anderen Gegenden. Die dortigen Rubine zeigen eine reiche, voll und prächtig glühende Farbe. Diejenigen aus
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più agro che quelli del ponente. Quella del mezzogiorno è una qualità assai diversa da queste, et è tanto rara, che pochissimi se ne vede; e di questa rarità io solo darò notizia d’uno, e non di più. […] e con tutto che ci non sia quel bel colore coperto, questo è un color tanto acceso e tanto grande, che di giorno e’ pare continuamente che brilli, ma di notte e’ rende quella luce che fanno le lucciole, o alcuni bruchi che risplendono la notte […] Per che fuggendo di non ne scandalizzare certi uomini, i quali si hanno acquistato il nome di gioiellare, e la loro professione molte volte è stata o rigattiere, o linaiuolo, o sensale, o pizzicagnolo; e di questi miracoli assaissimi io ne ho veduti in Roma, et in questa nostra età se ne vede alcuni con grandissimo credito e con poca intelligenzia: e perchè avendo io detto che le vere gioie non sono più che quattro, avendo rispetto a’ detti ignoranti, acciò che essi non si scandalizzassero, e con quella arrogante lor voce direbbono che il grisopazio et il iacinto e la spinella e l’acqua marina, e forse anche il granato e la vermiglia e la grisolita e la prasma e l’amatista, talvolta direbbono che queste fussino tutte gioie diverse l’una dall’altra; diavol anche che ci dicessero che la perla si mettesse fra le gioie! la quale ei si sa evidentemente che l’ è un osso di pesce […] A ragionar solamente di queste quattro che io proposi, cioè il rubino et il zaffiro, lo smeraldo et il diamante, gli è da sapere che il rubino è in maggior pregio di tutte l’altre gioie, perchè un rubino che pesi per cinque granella di grano, e sia di tutta quella bontà che si può desiderare in esso, questo rubino sarà in pregio di ottocento scudi d’oro in circa; et uno smeraldo della medesima
dem Westen, wenngleich sie auch rot sind, neigen zum Violett und sind kühl und herb, diejenigen aus dem Norden in ihrer Weise noch kälter und schärfer als die aus dem Westen. Diejenigen aus dem Süden sind wieder ganz anders und sind so rar, daß man sie nur sehr selten zu Gesicht bekommt; eine solche Rarität, daß ich nur von einem einzigen zu berichten weiß, nicht mehr. […] Obschon sie, wie gesagt, nicht die schöne, tiefe Färbung besitzen, sind sie in ihren Eigenschaften doch so kräftig, daß sie bei Tage zu funkeln scheinen, nachts aber strahlen sie ein Licht aus, wie das der Johannis käfer oder der im Dunklen leuchtenden Würmchen. […] Ich möchte zwar gewisse Leute, die sich den Titel eines Juweliers zugelegt haben, nicht verärgern, deren wahrer Beruf eigentlich Trödler, Tuchhändler, Pfandleiher oder Spezereier ist. Solche Wunderknaben habe ich in Rom mehr als genug gesehen, deren man in unseren Tagen immer noch etliche von großem Ansehen und wenig Verstand antreffen kann. Ich behaupte, daß der wahren Edelsteine nur vier sind, mögen diese Dummköpfe daran Anstoß nehmen und sich in ihrer Anmaßung gegen mich erheben und beteuern, daß auch der Chrysopras und der Hyazinth und der Spinell und der Aquamarin, vielleicht sogar der Granat und dazu auch der böhmische, der Prasem und der Amethyst Edelsteine seien und, hol’s der Teufel, die Perle gehöre auch dazu, wobei doch klar ist, daß diese nur der Knochen eines Meerestieres ist. […] Wenn demnach, wie ich vorschlage, nur von vier Edelsteinen die Rede sein kann, das heißt von Rubin, Saphir, Smaragd und Diamant, muß man wissen, daß der Rubin weitaus der kostbarste
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grandezza, peso e bontà, varrà intorno a quattrocento scudi d’ oro; et un diamante simile di peso e bontà varrà cento scudi d’oro e non più; et un zaffiro simile di peso e bontà, varrà dieci scudi in circa.
von allen ist, kostet doch ein Rubin im Gewicht von 5 Grän von denkbar bester Qualität ungefähr 800 Gold-Scudi, währenddessen ein Smaragd gleicher Größe, gleichen Gewichts und bester Qualität ungefähr 400 Gold-Scudi, ein Diamant, ebenfalls von gleichem Gewicht und bester Qualität, ungefähr 100 Gold-Scudi, und nicht mehr wert sein wird, ein Saphir von ebensolchem Gewicht und Qualität aber nur noch zirka 10 Gold-Scudi.
Capitolo VI. Come si debbe acconciare lo smeraldo et il zaffiro […] Ei sono alcuni rubini indiani di tanto poco colore, quanto immaginar si possa; et io ho veduto un di questi rubini nettissimo da un di quei falsatori imbrattargli il fondo di sangue di drago, il quale è uno stucco fatto di gomme che si liquefanno al fuoco, et in Firenze et in Roma quasi ne vende ogni speziale; e con questo sangue di drago quei falsatori avere imbrattato il fondo d’ un di quei rubini indiani, e di poi legatolo di modo, che e’ mostrava tanto bene, che volentieri e’ si sarebbe compero cento scudi d’ oro, e senza quella tinta il rubino da sè non seria valuto dicci […] Ancora io mi ricordo di avere veduto dei rubini e degli smeraldi fatti doppi, sì come si usa di far di cristallo de’ rubini e delli smeraldi, e si attaccano insieme avendo fatto la pietra di due pezzi; et il nome lor proprio è domandato doppie: le qual pietre false si fanno in Milano, e si legano in argento, e di questa sorte pietre doppie se ne servono i contadini: e son fatte dallo ingegno dell’ uomo, perchè i poveri contadini e certa poveraglia della città non
Kapitel VI. Wie man den Smaragd und den Saphir fassen muß […] Es gibt indische Rubine von denkbar schwacher Farbe. Einen solchen sah ich, dessen Grund von einem Fälscher mit „Drachenblut“ bestrichen war, einem Kitt, der sich im Feuer verflüssigt und bei fast jedem Drogisten in Florenz und Rom käuflich ist. Wenn ein solcher indischer Rubin vom Fälscher derart mit Drachenblut gefärbt und nachher gefaßt wird, sieht er so gut aus, daß er leicht mit 100 Gold-Scudi gehandelt werden könnte, wobei er an sich, ohne den Farbbelag, nicht 10 Gold-Scudi wert wäre. […] Ich erinnere mich, dublierte Rubine und Smaragde gesehen zu haben, zweiteilige Steine aus Kristall und Rubin oder Smaragd zusammengesetzt, die man Dubletten nennen muß. Solche falschen Steine werden in Mailand hergestellt und in Silber gefaßt. Erfinderisch sind sie für die armen Bauern und das Bettelvolk der Stadt gemacht, die ihren Frauen zur Hochzeit den zu einer solchen Feier angemessenen Schmuck nicht kaufen können und sich statt dessen diese kleine Täuscherei erlauben, um ihren armen Weibern eine Freude zu bereiten, die zwi-
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possendo comperare per le loro mogli, cioè per i sacri matrimoni, di quelle gioie, sì come si converrebbe a tal cosa, quelli si servono di questo poco dello inganno, il quale compiace alle povere donne, che non cognoscono qual sia dal buono al cattivo in quel caso. E perchè gli uomini spinti dall’ avarizia servitosi di cotesta industria, parte fatta per necessità e per bene, alcuni sì come io dico astutamente se ne son serviti adoperandola grandemente in male: e questo si è che gli hanno preso una scaglietta di quei rubini indiani, et acconciangli con bellissima forma, e quel resto che va nascosto nella cassa dell’ anello, cioè nel castone, questi l’ hanno fatto di cristallo; di poi gli hanno tinti et appiccati insieme, et appresso gli hanno fatti legare in oro con artifiziose e bellissime ligature: e di poi hanno vendute le dette pietre per buone e per belle.
schen dem Echten und dem Falschen ja ohnehin nicht unterscheiden können. Einige von Habsucht getriebene Leute haben aus dem teils aus Notwendigkeit, teils aus gutgemeinter Absicht entstandenen Gewerbe schlau eines zu schlechtem Zwecke gemacht. Sie nehmen den Splitter eines guten indischen Rubins, schleifen dazu ein Unterteil aus Kristall, welches dann in der Fassung versteckt liegt, färben es, fügen die Teile zusammen, und so wird der Stein schön und kunstvoll in Gold gefaßt und als gut und echt verkauft.
Trattato della scultura
Abhandlung über die Bildhauerei
Capitolo V. Per far figure, et intagli, et altre opere, come sono animali diversi, in marmo et altre pietre E i marmi bianchi sono di più diverse sorte: e perché quelli della Grecia sono più orientali e più belli, parleremo prima di questi. […] Ora per parlare della qualità dei marmi, come prima cominciammo, io ho visto di cinque o più diversità di sorte di marmo: e la prima si è una qualità di marmo con una grana grossissima; la qual grana dimostra certi lustri a canto l’ uno all’ altro unitamente; e questo marmo è il più difficile a lavorare, perchè gli è il più duro, e con gran difficultà si può mantenere cose sottilissime, che il ferro non le offenda e stianti […]
Kapitel V. Über die Ausarbeitung von Figuren, Relief-Ornamenten und anderer Motive, wie etwa verschiedener Tiere, in Marmor und anderen Steinen Vom weißen Marmor gibt es die verschiedensten Sorten, und weil die griechischen besonders leuchtend, schillernd und schön sind, nenne ich ihn zuerst. […] Reden wir, wie ich begonnen habe, von der Beschaffenheit der Marmorarten. Ich habe fünf und mehr der verschiedenen Arten kennengelernt, wovon die erste besonders grobkörnig ist und das Korn hat ein ganz spezielles, facettenreiches, gleichmäßiges Lüster. Er ist besonders schwierig zu bearbeiten, weil er der härteste ist. Feine, zarte Details lassen
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sich nur schwer mit dem Meißel heraus arbeiten, ohne daß sie abbröckeln oder einreißen. Capitolo VI. De’ marmi di Carrara I detti marmi ancora loro sono di diverse sorte, le quali sono mescolate alcune di grossa grana con assai smerigli, e molto macchiati di nero; e questi sono molto difficili da lavorare, perchè la sorte delli smerigli che gli hanno in corpo, si mangiano e ferri d’ ogni sorte, che chi per disgrazia s’abbatte a un di questi marmi macchiati, i quali molte volte ingannano altrui per essere la scorza di fuora bellissima, e da poi nel dentro del marmo si trova le dette magagne […] Et i ferri da scoprirla sono i migliori alcune subbiette sottili; dico sottilissime le loro punte, e non l’ aste, perchè l’ ásta vuole alquanto esser grossetta come il dito piccolo della mana il manco […] e da poi di pigli uno scarpello con una tacca in mezzo, e con questo scarpello la detta opera si conduce in sino alla lima, la qual lima si domanda lima raspa […] Di poi si piglia e trapani, e quali si adoperano in mentre che si adopera le lime, salvo che se uno avessi a cavare in qualche difficile sottosquadro di panni […]. Di poi fatto tutte queste diligenzie, delle subbie, delli scarpelli, delle lime e dei trapani (che così vien finita la figura), poi si pulisce con pomice, la quale sia bianca, unita e gentile. […] Non voglio lasciare indreto certe pietre che noi aviamo qui vicino a Firenze, le quali sono a Fiesole, a Settignano et in altri luoghi. Di questa sorte di pietre ce n’ è una di colore azzurro, la quale è molto delicata, e piacevole da lavorare e da vedere; et i paesani la domandano pietra serena. Di
Kapitel VI. Von den Carrara-Marmoren […] Auch von diesen Marmoren gibt es unterschiedliche Sorten, einige sind irgendwelche grobkörnige Mischungen mit viel Schmirgel und vielen schwarzen Flecken. Diese lassen sich nur schwer bearbeiten, weil der eingelagerte Schmirgel jedes Werkzeug ruiniert, und man hat wirklich Pech, wenn man an solch einen gespickten Block gerät, der eine wunderschöne Außenschicht haben kann, innen aber voll der ungeahnten Tücken ist. […] Die besten Werkzeuge, um den Stein aus dem Groben zu hauen, sind schlanke Meißel (Spitzeisen), deren Spitze sehr fein, deren Schaft aber von der Dicke eines kleinen Fingers sein soll. […] Für die weitere Arbeit nimmst du einen Meißel mit einigen Kerben (Zahneisen) und bringst damit die Figur so weit, daß du sie anschließend nur noch zu befeilen brauchst. […] Neben den Feilen werden auch Bohrer verwendet, die dir helfen, unterschnittene Partien auszuhöhlen. […] Wenn die Statue mit Spitzeisen, Zahneisen, Feilen und Bohrern vollständig ausgeformt worden ist, wird sie mit Bimsstein, der weiß, feinkörnig und zart sein soll, poliert. […] Nicht zu vergessen sind noch einige Gesteinssorten aus der Umgebung von Florenz, so aus Fiesole, Settignano und anderen Orten. Eine davon ist von fahlblauer Farbe, sehr delikat, köstlich sowohl zu bearbeiten wie zu betrachten, von den Einheimischen „pietra serena“ [„Himmelsstein“] genannt. Weil sie in mächtigen Massen in den Brüchen anstehen, werden daraus große
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questa se n’ è fatte colonne grandi, perchè si trova gran saldezza nella sua cava, et ancora se n’ è fatte delle figure; ma mettendo questa sorta di pietre allo scoperto, l’ è bella, e non durabile. Benvenuto Cellini: I trattati dell’oreficeria e della scultura di Benvenuto Cellini: novamente messi alle stampe secondo la originale dettatura del codice Marciano; si aggiungono: i discorsi e i ricordi intorno all’arte. Le lettere e le suppliche. Le poesie, hg. v. Carlo Milanesi, Florenz 1857, S. 37–40 u. S. 42–45; S. 195 u. S. 196–202.
Säulen und auch Bildhauereien gemacht. Im Freien, der Witterung ausgesetzt, sind sie trotz ihres schönen Aussehens wenig dauerhaft. Benvenuto Cellini: Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei: Auf der Grundlage der Übersetzung von Ruth und Max Fröhlich als Werkstattbuch komm. u. hg. v. Erhard Brepohl, Köln u. a. 2005, S. 59–60 u. S. 63–64; S. 189 u. S. 190–192.
Kommentar Die anhaltende Faszination für Benvenuto Cellini (1500–1571) gründet nicht nur auf seinem umfassenden künstlerischen Wirken als Goldschmied, Medailleur und Bildhauer.1 Wenngleich ihn Werke wie die für König Franz I. von Frankreich aus Goldblech getriebene Saliera (1540–1543, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer) oder sein Bronzeguss des Perseus mit dem Haupt der Medusa (1545–1554, Florenz, Piazza della Signoria, Loggia dei Lanzi)2 als Ausnahmekünstler des Cinquecento ausweisen, so entzünden sich vielfältige Bilder und Narrative einer neuzeitlichen Künstlerpersönlichkeit an seiner autobiographischen Lebensbeschreibung: Rückblickend auf ein langes künstlerisches Leben diktierte der Florentiner 1566 einem Gehilfen das als Vita bekannte Ego-Dokument.3 Von Johann Wolfgang Goethes erster Übertragung des Dokuments ins Deutsche 1796/97 über die vielschichtigen medialen Behandlungen des Cellini-Stoffes bis in die heutige Forschungsdiskussion oszilliert der Blick auf Cellinis Selbstbericht respektive seine Selbststilisierung zwischen dem kunsthistoriographischen Impetus einer Verknüpfung von Text und plastischem Werk, der Analyse der im Medium des Textes generierten schillernden persona als Künstler – Mörder – Selbstdarsteller und einer nivellierten Einbettung in die Kunstliteratur und Wissenskultur des 16. Jahrhunderts. Im Schatten der Vita stehen Cellinis zahlreiche weitere schriftliche Äußerungen, Gedichte und zwischen Selbstbericht, Werkstattwissen und Kunsttheorie changierende discorsi und trattati.4 Unter diesen Schriften bieten seine beiden Traktate über die Goldschmiedekunst und über die Bildhauerei (I trattati dell’oreficeria e della scultura) ein innerhalb der vormodernen steinkundlichen Diskurstradition überaus seltenes Beispiel einer Verknüpfung von schriftlich fixierter Materialreflexion über das Naturmaterial Stein und praktiziertem Künstlerwissen. Cellinis jahrzehntelange unmittelbare Arbeit mit Edelsteinen, Metallen und verschiedenen Steinsorten findet um 1565 (Abhandlung über die Goldschmiedekunst) beziehungsweise um
I trattati dell’oreficeria e della scultura
1567 (Abhandlung über die Bildhauerei) ihren Niederschlag in einer durch die lange Tradition der Stein- und Kunsttraktate vorgeprägten Textform.5 Während die handschriftliche Originalfassung nicht erhalten ist, stützt sich die Überlieferung seit Carlo Milanesi (1857) auf eine in der Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig verwahrte Abschrift (Marciana cod. 5134) unbekannter Hand, welche als enger Textzeuge des Originalmanuskripts gilt; frühere gedruckte Ausgaben der Trattati (1568, 1731, 1795, 1811) weisen hingegen umfassende editorische Eingriffe und Textglättungen auf.6 Die durch Milanesi vorgelegte Edition und darauf gestützte neuere Ausgaben und Übersetzungen7 präsentieren im Anschluss an Cellinis Einführung den Textkorpus als zwei distinkte, gleichwohl zusammengehörige Abhandlungen. Cellini behandelt in der Schrift mit zahlreichen Werkbeispielen und persönlichen Anekdoten die verschiedenen Techniken der plastischen Künste. Ausgehend von den kunsthandwerklichen und künstlerischen Techniken als übergeordnetes Gliederungsprinzip, widmet sich seine erste Abhandlung in 36 Kapiteln der Goldschmiedekunst.8 Cellini beschreibt zunächst die Niello-Technik (I), Drahtarbeiten (II) und das Emaillieren (III). Auf Basis des zeitgenössischen Werkstattwissens informiert er jeweils über benötigte Materialien, Arbeitsprozesse und über Qualitätsmerkmale, so ist etwa zu erfahren: „Will man emaillieren, sollten die Emails zunächst ordentlich vorbereitet werden, indem man sie vor allem gut zerstößt. […] Es gibt Künstler, die ihr Email auf Porphyr oder Serpentinstein – die beide sehr hart sind – ohne Wasser reiben.“9 Ab Kapitel IV kommt Cellini dann auf die Edelsteine zu sprechen und verschränkt hierbei Informationen über die visuellen und haptischen Qualitäten der einzelnen Steinsorten, ihre jeweiligen Fundorte und Bewertungskriterien mit umfassenden Reflexionen zu den Bearbeitungs- und Gestaltungsmöglichkeiten durch den Goldschmied. In der ersten ausgewählten Quellenpassage Juwelenarbeit (Cap. IV. Gioiellare) geht er zunächst der in steinkundlichen Texten vieldiskutierten Frage nach der Anzahl der Steine nach und unterscheidet hierzu vier Sorten von Edelsteinen: Rubin, Saphir, Smaragd und Diamant. Feuerroter Rubin, himmelblauer Saphir, wasserklarer Diamant – die Steine werden aufgrund ihrer äußerlich sichtbaren Farbwerte und ihrer angenommenen Temperatur in Relation zur aristotelischen Vier-Elemente-Lehre gesetzt.10 Im Fokus seines Interesses steht insbesondere die emersive Strahlkraft des roten Rubins (von mittellat. rubens / rubinus, rot), einer roten Varietät des Minerals Korund.11 Cellini kategorisiert die ihm bekannten Rubine aufgrund ihrer Fundorte und weist ihnen divergente Qualitäten der Farbigkeit und Härte zu: während die orientalischen Rubine voller Wärme schillern, schreibt sich der Lokalwert des Herkunftsortes bei anderen Rubinen als kalter Schimmer in das Naturmaterial ein. Als Goldschmied an den herrschaftlichen Höfen Italiens und Frankreichs hatte Cellini Zugang zu den größten, prächtigsten und wertvollsten Juwelen seiner Zeit.12 In einer Polemik gegenüber gewöhnlicheren Juwelieren werden Halbedelsteine geringeren Wertes von ihm explizit aus der Reihung der „wahren Edelsteine“ ausgeklammert (con quella arrogante lor voce direbbono che il grisopazio et il iacinto e la spinella e l’acqua marina, e forse anche il granato e la vermiglia e la grisolita e la prasma e l’amatista).13
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Cellinis Kenntnis über unterschiedliche Rubine reflektiert die eigene visuelle Beobachtung und Handhabung ebenso wie das in Texten fixierte jahrhundertealte Wissen. So rekurriert die Beschreibung des nächtlich einem Glühwürmchen gleich strahlenden Rubins beispielsweise auf eine Äußerung von Hrabanus Maurus, wonach der Rubin von sich selbst aus Licht auszustrahlen vermöge.14 Als eine zentrale Quelle für Cellinis erste Abhandlung zur Goldschmiedekunst kann insbesondere die im frühen 12. Jahrhundert entstandene und in der italienischen Renaissance rezipierte kunsthandwerkliche Schrift Schedula diversarum artium gelten, die vielfach mit dem Verfassernamen Theophilus Presbyter in Verbindung gebracht wurde.15 Die ‚Schedula‘ bündelt in umfassender Weise Wissensbestände über Kunsttechniken von der Malerei, dem Glockenguss, der Glasproduktion bis hin zu Goldschmiedearbeiten (Buch III); neben Hinweisen zum Vergolden und zur Niello-Technik findet dort auch das Schleifen und Polieren von Edelsteinen Erwähnung.16 Auf der Basis dieses sowohl durch textuelle Steindiskurse als auch durch die eigene Anschauung gewonnenen Wissensschatzes über Juwelen widmet sich Cellini nachfolgend der alltäglichen Erfahrung des Goldschmiedes: dem Aufbereiten, Schleifen, Polieren und Fassen von Edelsteinen (V–VI). Als Adressatenkreis der Abhandlung können neben Kunstinteressierten insbesondere Berufskollegen angenommen werden, die vom langjährigen embodied knowledge des Florentiners profitieren sollen. Wiederholt adressiert Cellini seine Leserschaft direkt und weist sie auf empfohlene Gerätschaften, Handlungspraktiken oder auf Fallstricke und Gefahren der Techniken hin. Terminologische Präzision, genaue Maß- und Zeitangaben und insbesondere auch Schilderungen eigener Werkprozesse charakterisieren den Text duktus. Und weil ich glaube, daß in aller Wissenschaft zuerst die Praxis, dann erst die Theorie und zur Praxis noch die Regel kommt, daß es klugen Sinn braucht, sie auch durchzuführen, wie man das bei den Kundigen der schönen Künste feststellt, kann ich nicht umhin, eine Begebenheit zu erzählen, die sich mit einem Rubin von ungefähr 3000 Scudi Wert zutrug, den ich zu fassen hatte. […] Ich nahm einen Strang mit Scharlachbeeren gefärbter Seide und zerschnitt diese mit einer Schere zu feinsten Schnippelchen. Vorher hatte ich etwas schwarzen Treibkitt in meine Fassung gestrichen. Mit der Rückseite eines dünnen Punzen preßte ich die Seide nun fest und gleichmäßig auf den Kitt. Dann legte ich meinen Rubin hinein.17 Wiederholt verhandelt Cellini die Ökonomien der Edelsteine, die Kostenangaben zum Wert (valuta) diktieren darin nicht zuletzt auch deren ästhetischen Wert. Als signifikante Verschiebung innerhalb des üblichen steinkundlichen Diskurses wird der Wert der Steine zum Vergleichsmaßstab: „kostet doch ein Rubin im Gewicht von 5 Grän [0,275 g] von denkbar bester Qualität ungefähr 800 Gold-Scudi, währenddessen ein Smaragd gleicher Größe, gleichen Gewichts und bester Qualität ungefähr 400 Gold-Scudi, ein Diamant, ebenfalls von gleichem
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Gewicht und bester Qualität, ungefähr 100 Gold-Scudi, und nicht mehr wert sein wird, ein Saphir von ebensolchem Gewicht und Qualität aber nur noch zirka 10 Gold-Scudi“.18 Deutlich zeigt sich diese Valenz des Ökonomischen auch in der zweiten ausgewählten Quellenstelle Wie man den Smaragd und den Saphir fassen muß (Cap. VI. Come si debbe acconciare lo smeraldo et il zaffiro), in der Cellini die Fälschung von Edelsteinen mit Blick auf die Färbung farbschwacher Rubine mithilfe eines wärmelöslichen Kitts („Drachenblut“) diskutiert: „Wenn ein solcher indischer Rubin vom Fälscher derart mit Drachenblut gefärbt und nachher gefaßt wird, sieht er so gut aus, daß er leicht mit 100 Gold-Scudi gehandelt werden könnte, wobei er an sich, ohne den Farbbelag, nicht 10 Gold-Scudi wert wäre.“19 Neben der Steigerung der Farbwerte behandelt Cellini auch Assemblagen von wertvollen Steinsplittern mit günstigeren Kristallen als weitere über die visuelle Täuschung operierende Formen der Edelsteinfälschung, welche in die zeitgenössischen Dimensionen des Marktes und der Scharlatanerie eingebunden waren.20 Im weiteren Argumentationsgang beschäftigt sich Cellini zunächst mit der Hinterlegung von Metallfolien bei Edelsteinen (VII), bevor er sich den Diamanten widmet: Detailgenau beschreibt er die hierbei nötigen Praktiken des Schleifens (VIII), der Zubereitung von farbigen Tinkturen (IX) und die Hinterlegung von Spiegeln bei der Fassung von Diamanten (X). Nach einem kurzen Rekurs zu Rubinen und Karfunkeln (XI) beschreibt er die Punzierung von Reliefs aus Gold- und Silberblechen (XII) und die Siegel-, Münz- und Medaillenanfertigung (XIII–XVII). Ausführlich werden die für Silber- und Goldarbeiten empfohlenen Schmelzverfahren (XVIII–XXI) und diverse Bearbeitungsmöglichkeiten der Edelmetalle bis hin zur Vergoldung (XXII–XXVIII) diskutiert. Hinweise zur Kupferbearbeitung (XXXIV) und zu chemischen Verfahren des Goldschmiedes (XXXV–XXXVI) bilden den Abschluss der ersten Abhandlung. Die zweite weitaus kürzere Abhandlung beschäftigt sich in acht Kapiteln mit der Bildhauerei. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Formenfertigung und den empfohlenen Verfahrensweisen für den Bronzeguss unter Zuhilfenahme zahlreicher eigener Werkbeispiele (I–IV)21 kommt Cellini auf die Steinbearbeitung durch den Steinmetz und den Bildhauer zu sprechen (V–VI). Als Ordnungsprinzip werden auch in diesem Abschnitt wiederum zunächst aus der Texttradition gewonnene Episteme über die Anzahl und visuelle Unterscheidbarkeit von verschiedenen Steinsorten, ihre Fundorte und Qualitätsmerkmale entfaltet, an die dann eine durch Cellinis Erfahrungswissen (artisanal knowledge) geprägte praktische Handlungsdimension anschließt.22 So beschreibt Benvenuto Cellini in der dritten Quellenpassage Über die Ausarbeitung von Figuren, Relief-Ornamenten und anderer Motive, wie etwa verschiedener Tiere, in Marmor und anderen Steinen (Cap. V. Per far figure, et intagli, et altre opere, come sono animali diversi, in marmo et in altre pietre) zunächst die verschiedenen Marmorsorten. Marmor, ein Kalkspat, weist neben den weißen Kristallen in unterschiedlichem Anteil Beimengungen von farbigen Kristallen und Metallverbindungen auf, welche die generische Marmorierung bedingen.23 Wie in anderen Steintraktaten erfahren der weiße griechische Marmor (perché quelli della Grecia sono più orientali e più belli)24 und der toskanische Carrara-Marmor
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besondere Wertschätzung. Cellini bringt hierbei gleichwohl auch die eigene Expertise, welche etwa bei der Fertigung seines marmornen Kruzifix (1556–1562, El Escorial, Monastero di San Lorenzo) gewonnen wurde, in die Bewertung ein: „Nachdem ich nacheinander alle fünf der obenerwähnten Qualitäten durchprobiert habe, habe ich mit der Zeit herausgefunden, daß jener Marmor, der ein wenig gegen die Fleischfarbe hinneigt, zum Behauen der dichteste, schönste und angenehmste ist, den es überhaupt gibt.“25 Auch im letzten oben vorgestellten Abschnitt Von den Carrara-Marmoren (Cap. VI. De’ marmi di Carrara) erfolgt die Kategorisierung der verschiedenen Steinsorten aufgrund ihrer optisch wahrnehmbaren Valenzen: als Vergleichsmomente gelten die Farbwerte, der Glanz und die Korngröße (una qualità di marmo con una grana grossissima; la qual grana dimostra certi lustri a canto l’ uno all’ altro unitamente; I detti marmi ancora loro sono di diverse sorte, le quali sono mescolate alcune di grossa grana con assai smerigli, e molto macchiati di nero).26 Erweitert um die Härte respektive Weichheit des Gesteins als Vergleichsmoment, beschreibt Cellini nachfolgend Steinsorten aus Frankreich, Serpentin, grünen und roten Porphyr, grauen Granit sowie lokale toskanische Steinsorten.27 Die Härte des Materials wird aus der Perspektive des Erfahrungswissens eng geführt mit der Schwierigkeit der bildhauerischen Bearbeitung: „Feine, zarte Details lassen sich nur schwer mit dem Meißel herausarbeiten, ohne daß sie abbröckeln oder einreißen.“28 Wie die vierte Quellenpassage veranschaulicht, legt Cellini in seinen ausführlichen Beschreibungen der verschiedenen Eisen, Meißel, Feilen und Bohrer und sonstiger benötigter Gerätschaften und der empfohlenen Handlungsschritte sein Erfahrungswissen bei der Steinbearbeitung offen. In der darin evidenten Präzision und Handlungsorientiertheit geht er weit über den Diskursrahmen der rinascimentalen Skulpturtraktate hinaus. Analog zu den zeitgenössischen Malereitraktaten durchzieht auch die frühen Skulpturtraktate – etwa Leon Battista Albertis De Statua (1434/35), Lorenzo Ghibertis I commentarii (1447–1455) und Pomponius Gauricus’ De sculptura (1504) – der Impetus zur Aufwertung der handwerklichen Tätigkeit hin zu geistigen Freien Kunst.29 Proportion und Harmonie, Perspektive, Mimesis und Lebendigkeit und Wirkungsästhetik bilden rekurrierende Motive – Materialität, Materialbeherrschung und Handwerkskunst werden hingegen zurückgedrängt. Auch im insbesondere am Paragone zwischen Malerei und Skulptur interessierten Cinquecento werden die Dimensionen der Materialität des Steinernen und der adäquaten Bearbeitungsweise durch den Bildhauer – etwa bei Benedetto Varchi und Giorgio Vasari – nur in geringem Maße berücksichtigt.30 Bei Cellini ist der handwerkliche Umgang mit Juwelen und Steinen hingegen die Grundbedingung seines künstlerischen und wirtschaftlichen Erfolges. Seine ostentative Ausstellung der eigenen handwerklichen Expertise kann als Movens der Textabfassung der I trattati dell’oreficeria e della scultura gelten. Den trattati eignet dabei eine inhärente Spannung: Die präzisen Handlungsbeschreibungen des Künstlerexperten, welche in der Tradition der italienischen Künstlerhandbücher seit Cennini wurzeln, treffen auf die Cellini höchst eigene Erzählfreude und Selbstdarstellungstendenz. Polemiken, Anekdoten und biographische Momente
I trattati dell’oreficeria e della scultura
durchziehen den Text und schreiben den Abhandlungen eine Dimension der Autofiktion als Erzählstrategie ein, welche die Profilierung des unnachahmlichen „Ausnahmekünstlers“ Benvenuto zum Ziel hat.31 Bei aller Nachvollziehbarkeit der minutiös beschriebenen Arbeitstechniken bleibt Cellinis künstlerische Innovations- und Hervorbringungskraft als genialisches Imaginarium letzten Endes für die Leserschaft unerreichbar. Isabella Augart 1
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Vgl. Margaret A. Gallucci u. Paolo L. Rossi (Hg.): Benvenuto Cellini: sculptor, goldsmith, writer, Cambridge 2004. Alessandro Nova u. Anna Schreurs (Hg.): Benvenuto Cellini: Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Köln 2003. Michael W. Cole: Cellini and the principles of sculpture, Cambridge u. a. 2002. John W. Pope-Hennessy: Cellini, London 1985. Vgl. Paulus Rainer u. Sabine Haag (Hg.): Cellinis Saliera. Die Biographie eines Kunstwerks, Wien 2018 (Schriften des Kunsthistorischen Museums, 19). Wilfried Seipel (Hg.): Die Saliera des Benvenuto Cellini: ein goldenes Tafelgerät für König Franz I. von Frankreich, Wien 2006. Vgl. ferner Christine Corretti: Cellini‘s „Perseus and Medusa“ and the Loggia dei Lanzi: configurations of the body of the state, Leiden 2015. Edgar Lein: Aus Dichtung und Wahrheit: zur Entstehungsgeschichte von Benvenuto Cellinis Perseus, in: Magdalena Bushart u. Henrike Haug (Hg.): Technische Innovationen und künstlerisches Wissen in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2015, S. 249–266. John Shearman: Art or politics in the Piazza?, in: Nova u. Schreurs 2003, S. 19–36. Benvenuto Cellini: Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance. Übers. aus dem Ital. und Nachw. von Jacques Laage, Zürich 2000. Benvenuto Cellini: Vita, Bologna 2011. Andreas Beyer: Con brio: Benvenuto Cellinis Vita und ihr Modellcharakter, in: Marieke von Bernstorff, Susanne Kubersky-Piredda u. Maurizia Cicconi (Hg.): Vivace con espressione. Gefühl, Charakter, Temperament in der italienischen Kunst, München 2018, S. 249–256. Pérette-Cécile Buffaria u. Paolo Grossi (Hg.): Benvenuto Cellini. Artista e scrittore, atti della giornata di studi (14 novembre 2008), Paris 2009. Vgl. zu Cellinis weiteren kunsttheoretischen discorsi Benvenuto Cellini: I trattati dell’oreficeria e della scultura di Benvenuto Cellini: novamente messi alle stampe secondo la originale dettatura del codice Marciano; si aggiungono: i discorsi e i ricordi intorno all’arte. Le lettere e le suppliche. Le poesie, hg. v. Carlo Milanesi, Florenz 1857 (= Cellini, ed. Milanesi 1857), S. XIX–XXI. Vgl. Pietro Scarpellini (Hg.): Benvenuto Cellini: La Vita, I trattati, I discorsi, Rom 1967. Giuseppe Guido Ferrero (Hg.): Opere di Benvenuto Cellini, Turin 1980. Zur Datierung nach Erhard Brepohl vgl. Benvenuto Cellini: Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei: Auf der Grundlage der Übersetzung von Ruth und Max Fröhlich als Werkstattbuch komm. u. hg. v. Erhard Brepohl, Köln u. a. 2005 (= Cellini, ed. Brepohl 2005), S. 38. Vgl. ebd., S. 22 u. S. 205 zu Ausgaben des 17.–19. Jahrhunderts, darunter Due Trattati, uno intorno alle otto principali arti dell‘ oreficeria. L’altro in materia dell’Arte della Scultura; dove si veggono infiniti segreti nel la vorar le Figure di Marmo, & nel gettarle di Bronzo. Composti da M. Benvenuto Cellini, scultore Fiorentino, Florenz: Panizza u. Peri 1568. Due
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Benvenuto Cellini Trattati di Benvenuto Cellini, scultore fiorentino, uno dell’oreficeria, l’altro della scultura, Florenz: Tartini u. Franchi 1731. Giovanni Palamede Carpani (Hg.): Opere di Benvenuto Cellini. Volume III. Due trattati di Benvenuto Cellini scultore Fiorentino, uno dell‘ oreficeria, l‘altro della scultura. Coll‘ aggiunta di altre operette del medesimo, Mailand: Soc. Tipografica de‘ Classici Italiani 1811. Vgl. zu den editorischen Eingriffen auch Diletta Gamberini: „E‘ principi grandi hanno per male che un lor servo dolendosi dica la verità delle sue ragioni“: la censura dei „Trattati“ di Benvenuto Cellini, in: Schifanoia 44/45.2013, S. 47–61. 7 Siehe Cellini, ed. Milanesi 1857. Antonella Capitanio (Hg.): Benvenuto Cellini, Dell’oreficeria, Turin 2002. Benvenuto Cellini: Abhandlungen über die Goldschmiedekunst und die Sculptur. Übersetzt und verglichen mit den Parallelstellen von Justus Brinckmann, Leipzig 1867. Cellini, ed. Brepohl 2005. 8 Vgl. Michael Bycroft u. Sven Dupré (Hg.): Gems in the early modern world: materials, know ledge and global trade, 1450–1800, Basingstoke 2019. 9 Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 54. Siehe Cellini, ed. Milanesi 1857, S. 29–30: però, quando ci si ha da smaltare, bisogna avere I tua smalti tutti in ordine, I quali si pestano in prima molto bene […] E’ sono stati alcuni che hanno pesti gli smalti in su le pietre di porfido o di serpentino, le quali pietre son durissime, e va li pestavano su asciutti. 10 Vgl. Gernot Böhme u. Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996. 11 Zu roten Rubinen vgl. Joanna Hardy: Ruby: the king of gems, London u. a. 2017. Derek J. Content: Ruby, sapphire & spinel: an archaeological, textual and cultural study, Turnhout 2016. 12 Vgl. Horst Bredekamp: Antipoden der Souveränität: Künstler und Herrscher, in: Ulrich Raulff (Hg.): Vom Künstlerstaat: ästhetische und politische Utopien, München 2006, S. 31–41. Vgl. zu Cellinis Erfahrungen in Frankreich auch Christine Tauber: Manierismus und Herrschaftspraxis: die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier, Berlin 2009. 13 Cellini, ed. Milanesi 1857, S. 39. 14 Ebd., S. 38: ma di notte e’ rende quella luce che fanno le lucciole, o alcuni bruchi che risplendono la notte. Zum Motiv des emersiven Rubins siehe auch Hrabanus Maurus, De universo liber, XVII, caput VII, De gemmis: Nostra autem conuersatio in caelis est, qui radiis percussus solis fulgorem ardentem ex se emittit. Vgl. auch den Beitrag von Arwed Arnulf zu Hrabanus Maurus in diesem Band. 15 Siehe Albert Ilg (Hg.): Theophilus Presbyter: Schedula diversarum artium (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, 7), Bd. 1, Wien 1874. Andreas Speer (Hg.): Zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Die ‚Schedula diversarum artium‘, Berlin 2014. Vgl. zur Überlieferungstradition und Rezeption insbesondere auch in Italien darin ders.: Zwischen Kunsthandwerk und Kunst. Die ‚Schedula diversarum artium‘ als „Handbuch“ mittelalterlicher Kunst?, in: Speer 2014, S. XI–XXXIII, hier S. XIII–XV. 16 Siehe Ilg 1874, S. 351: CAPUT XCIV. De poliendis gemmis. Cristallum quod aqua durata in glaciem, et multorum annorum glacies duratur in lapidem, hoc modo limatur et politur. Tolle confectionem quae dicitur tenax, de qua supradictum est, adhibitamque igni donec liquefiat, consolidabis christallum
I trattati dell’oreficeria e della scultura ad lignum longum quod ei simile sit in grossitudine. Quod cum refrigeratum fuerit utrisque manibus fricabis super lapidem sabuleum durum, addita aqua donec formam accipiat quam ei dare volueris, deinde super alteram lapidem ejusdem generis qui sit subtilior et aequalior donec omnino aequum fiat. 17 Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 62. Siehe Cellini, ed. Milanesi 1857, S. 42: E perchè io credo che fussi prima la pratica che la teorica di tutte le scienzie, e che alla pratica se le ponesse di poi regola, a tale che la si venissi a fare con quella virtuosa ragione che si vede usare dagli uomini periti nelle belle scienzie, però io non voglio passare che io non dica un caso che mi avvenne legando un rubino di circa a tremila scudi di valuta. […] Io presi una piccola matassina di seta tinta in chermisi di grana, e con un paio di forbicine sottilmente la tagliai, et in prima avevo messo nel mio castone un poco di cera nera ben distesa; di poi presi la detta seta minuzzata, e con un culo di cesellino io calcai la detta seta, et assai bene la feci unita, di poi messovi drento il mio rubino. 18 Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 60. Zur Maßangabe und zur Preisbindung vgl. ebd, S. 78. 19 Ebd., S. 63. 20 Vgl. auch Sven Dupré: The art of glassmaking and the nature of stones: the role of imagination in Anselm De Boodt’s classification of stones, in: Isabella Augart, Maurice Saß u. Iris Wenderholm (Hg.): Steinformen. Materialität, Qualität, Imagination, Berlin/Boston 2018, S. 207–220. 21 Vgl. Gertrude M. Helms: Italian Renaissance bronze casting technology: the written record, in: Ricardo Córdoba (Hg.): Craft treatises and handbooks: the dissemination of technical knowledge in the Middle Ages, Turnhout 2013, S. 237–248. Zum neuzeitlichen Bronzeguss vgl. ferner Magdalena Bushart u. Henrike Haug (Hg.): formlos – formbar: Bronze als künstlerisches Material, Köln u. a. 2016. 22 Vgl. Pamela H. Smith: The body of the artisan: art and experience in the scientific revolution, Chicago 2004. 23 Vgl. Gabriele Borghini (Hg.): Marmi antichi, Rom 2004. Zu den bei Cellini diskutierten Marmorarten vgl. Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 193. 24 Siehe Cellini, ed. Milanesi 1857, S. 195. 25 Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 189. 26 Cellini, ed. Milanesi 1857, S. 195–196. 27 Siehe Cellini, ed. Brepohl 2005, S. 191–192. 28 Ebd., S. 189. 29 Siehe Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hrsg., eingel., übers. u. komm. v. Oskar Bätschmann u. Christoph Schäublin, Darmstadt 2011, S. 141–191. Lorenzo Ghiberti: I commentarii, hg. v. Lorenzo Bartoli, Florenz 1998. Pomponius Gauricus: De sculptura, Neapel 1999. Vgl. Frank Balters: Der grammatische Bildhauer: „Kunsttheorie“ und Bildhauerkunst der Frührenaissance. Alberti, Ghiberti, Leonardo, Gauricus, Diss. Aachen, Techn. Hochsch. 1991. Constanze Lessing: „Per ignorantia dell’arte si oscurano le virtudi“: Virtus und Virtuosität in den ‚Commentarii‘ des Lorenzo Ghiberti, in: Joachim Poeschke u. Thomas Weigel (Hg.): Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006, S. 55–72. 30 Zu Giorgio Vasaris Auseinandersetzung mit dem Steinernen, u. a. in Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori (1568), vgl. den Beitrag von Fabian Jonietz in diesem Band.
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Benvenuto Cellini 31 Zu Cellinis Inszenierungsstrategien vgl. Jane Tylus: Cellini, Michelangelo and the myth of inimitability, in: Gallucci u. Rossi 2004, S. 7–25. Victoria Coates Gardner: „Ut vita scultura“: Cellini’s Perseus and the self-fashioning of artistic identity, in: Mary Rogers (Hg.): Fashioning identities in Renaissance art, Aldershot 2000, S. 149–161. Dies.: Cellini’s „Bust of Cosimo I.“ and „Vita“: parallels between Renaissance artistic and literary portraiture, in: Gallucci u. Rossi 2004, S. 148–168. Andrew Carl Weislogel: Rosso Fiorentino, Benvenuto Cellini and Clement Marot. Court Artists and Poets at Francis I’s Fontainebleau (1530–45), Diss. Ithaca/NY, Cornell Univ. 2000.
Giorgio Vasari
Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori 1568 Introduzzione alle tre Arti del Disegno, cioè Architettura, Pittura, & Scoltura, & prima dell’Architettura
Einführung in die drei Künste des Disegno, das heisst der Architektur, Malerei und Bildhauerei, und zuerst der Architektur
Cap. I. Delle diverse Pietre, che servono a gl’Architetti per gl’ornamenti, & per le statue alla Scoltura [...] Questo è vna pietra rossa con minutissimi schizzi bianchi, condotta nella Italia gia dell’Egitto; doue comunemente si crede, che nel cauarla ella sia piu tenera, che quā[n]do ella è stata fuori della caua, alla pioggia, al ghiaccio, e al Sole: perche tutte queste cose la fanno piu dura, & piu difficile a lauorarla. […] A di nostri non s’è mai condotto pietre di questa sorte a perfezzione alcuna, per hauere gli artefici nostri perduto il modo del temperare i ferri, & cosi gli altri stormenti [sic] da condurle. Vero è, che se ne va segando con lo smeriglio rocchi di colonne, & molti pezzi, per accomodarli in ispartimenti per piani, & cosi in altri varij ornamenti per fabriche; andandolo consumando a poco a poco con vna sega di rame senza denti tirata dalle braccia di due huomini: laquale con lo smeriglio ridotto in poluere, & con l’acqua, che continuamente la tenga molle, finalmente pur lo ricide. Et se bene si sono in diuersi tempi prouati molti begli
Kapitel I. Von den verschiedenen Steinen, die den Architekten für den Bauschmuck und der Bildhauerei für die Statuen dienen [...] [Beim Porphyr] handelt es sich um einen roten Stein mit winzigen weißen Einsprengseln, der einst aus Ägypten nach Italien ge kommen ist. Allgemein herrscht die Ansicht, dass er beim Brechen weicher ist als danach, wenn er außerhalb des Steinbruchs Regen, Eis und Sonne preisgegeben ist, da ihn alle diese Einflüsse härter und schwieriger in der Bearbeitung machen. […] Unserer Tage hat man in dieser Art Stein nichts mehr von Vollendung ausgeführt, da die heutigen Künstler das Wissen um das Härten der Werkzeuge verloren haben und auch die anderen für die Bearbeitung benötigten Instrumente. Wohl werden Säulentrommeln und viele Elemente für die Verkleidung von Flächen und verschiedene Bauornamente mit dem Schmirgel gesägt, indem man den Stein mit einer von zwei Männern geführten zahnlosen Kupfersäge nach und nach abträgt, so dass er sich, vom Schmirgel zu Pulver gemahlen und
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ingegni, per trouare il modo di lauorarlo, che vsarono gli antichi, tutto è stato in vano. E Leō[n] Battista Alberti, il quale fu il primo, che cominciasse a far pruoua di lauorarlo, non però in cose di molto momento, non truouò, fra molti, che ne mise in pruoua, alcuna tempera, che facesse meglio, che il sangue di becco, perche se bene leuaua poco di quella pietra durissima nel lauorarla, e sfauillaua sempre fuoco, gli serui nondimeno di maniera, che fece fare nella soglia della porta principale di santa Maria Nouella di Fiorenza, le diciotto lettere antiche, che assai grandi, & ben misurate si veggono dalla parte dinā[n]zi in vn pezzo di porfido; le quali lettere dicono Bernardo Oricellario. E perche il taglio dello scarpello non gli faceua gli spigoli, nè daua all’opera quel pulimento, e quel fine che le era necessario, fece fare vn mulinello a braccia cō[n] vn manico a guisa di stidione, che ageuolmente si maneggiaua apontandosi vno il detto manico al petto, e nella inginocchiatura mettendo le mani per girarlo. E nella punta, doue era o scarpello, o trapano, hauendo messo alcune rotelline di rame, maggiori, & minori, secondo il bisogno, quelle imbrattate di smeriglio, con leuare a poco a poco, e spianare faceuano la pelle, & gli spigoli, mentre con la mano si giraua destramente il detto mulinello. Ma con tutte queste diligenze, non fece però Leon Batista altri lauori: perche era tanto il tempo, che si perdeua, che mancando loro l’animo, non si mise altramē[n]te mano a statue, vasi, o altre cose sottili. […] Hauendo l’anno 1555 il signor Duca Cosimo cō[n]dotto dal suo palazzo, e giardino de’ Pitti, vna bellissima acqua nel cortile del suo principale palazzo di Firenze,
ständig mit Wasser angefeuchtet schließlich zerschneiden lässt. Obwohl zu verschiedenen Zeiten viele schöne Talente versucht haben, die von den antiken Künstlern angewandte Technik bei seiner Bearbeitung wiederzu finden, blieb alles vergebens. Leon Battista Alberti war der erste, der sich – allerdings mit nicht sehr bedeutenden Werken – an seiner Verarbeitung versuchte, doch fand er trotz vieler Versuche kein besseres Härtungsmittel als Bocksblut. Auch wenn er dadurch nur wenig von diesem unglaublich harten Stein abtragen konnte und bei der Bearbeitung ständig Funken sprühten, reichte es dennoch für die Anfertigung der achtzehn antikisierenden Lettern an der Schwelle zum Haupteingang von Santa Maria Novella in Florenz, die sehr groß und gut proportioniert vorne in einem Porphyrstück zu sehen sind und die Worte BERNARDO ORICELLARIO bilden. Da der Meißelschnitt nicht für die Kanten geeignet war und dem Werk nicht die notwendige Politur und Vollendung verlieh, ließ er eine handbetriebene Kurbel mit einem bratspießförmigen Griff anfertigen, der sich einfach bedienen ließ, indem man die Brust gegen besagten Griff stemmte, ihn in der Beuge mit den Händen fasste und drehte. An der Spitze, wo der Meißel oder Bohrer saß, befestigte er je nach Bedarf mehr oder weniger große Kupferscheiben, die mit Schmirgelpartikeln besetzt waren und den Stein allmählich abtrugen und glätteten. Auf diese Weise gestaltete man Oberfläche und Kanten, indem man diese Kurbel geschickt mit der Hand drehte. Leon Battista Alberti führte allerdings bei all dieser Sorgfalt keine weiteren Arbeiten aus, da man hierbei so viel Zeit verlor, dass
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per farui vna fonte di straordinaria bellezza, trouati fra i suoi rottami alcuni pezzi di Porfido assai grandi, ordinò, che di quelli si facesse vna tazza col suo piede per la detta fonte; & per ageuolar’ al maestro il modo di lavorar’ il porfido, fece di non so che herbe stillar’ vn’acqua di tanta virtu, che spegnendoui dentro i ferri bollē[n]ti fa loro vna tempera durissima. Con questo segreto adunque, secondo ’l disegno fatto da me, condusse Francesco del TADDA intagliator da Fiesole la tazza della detta fonte, che è larga due braccia, e mezzo di diametro, & insieme il suo piede, in quel modo, che hoggi ella si vede nel detto palazzo. Il Tadda, parendogli, che il segreto dategli dal Duca fusse rarissimo, si mise a far proua d’intagliar’ alcuna cosa, egli riusci cosi bene, che in poco tempo ha fatto in tre ouati di mezzo rilieuo grandi quanto il naturale il ritratto d’esso S. Duca Cosimo, quello della Duchessa Leonora, & vna testa di Giesu Christo con tanta perfezzione, che i capegli, e le barbe, che sono dificilissimi nell’intaglio, sono condotti di maniera, che gl’antichi non stanno punto meglio. Di queste opere ragionando il S. Duca con Michelagnolo, quā[n]do S. Ecc. fu in Roma; nō[n] voleua creder’ il Buonarroto, che cosi fusse: perche hauendo io d’ordine del Duca mandata la testa del Cristo a Roma, fu veduta con molta marauiglia da Michelagnolo, il quale la lodò assai, & si rallegrò molto di veder ne’ tē[m]pi nostri la Scultura arrichita di questo rarissimo dono, cotanto in vano insino a hoggi disiderato. […] Et che però bisogna a chi lo lauora auuertire se ha hauuto il fuoco: percioche quando l’ha hauuto, se bene non perde in tutto il color’, ne si disfa, manca non dimeno pure
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ihnen der Mut zur Herstellung von Statuen, Vasen und anderen feinen Gegenständen fehlte. […] Als Herzog Cosimo im Jahr 1555 aus dem Garten seines Palazzo Pitti ein herrliches Wasser in den Innenhof seines Hauptpalasts in Florenz geleitet hatte, um dort einen Brunnen von außerordentlicher Schönheit aufstellen zu lassen, wies er an, aus einigen sehr großen Porphyrstücken, die man zwischen den Steintrümmern gefunden hatte, für besagten Brunnen ein Becken mit Fuß anfertigen zu lassen. Um dem Meister die Bearbeitung des Porphyrs zu erleichtern, ließ er auf der Basis irgendeines Krauts eine so potente Flüssigkeit destillieren, dass die darin gelöschten glühenden Eisen eine ganz massive Härtung erfuhren. Dank dieses Kunstgriffs führte der Steinmetz Francesco del Tadda aus Fiesole auf der Grundlage eines von mir angefertigten Entwurfs das Becken für diesen Brunnen aus, das einen Durchmesser von zweieinhalb Ellen hat, zusammen mit einem Fuß, so wie es heute in besagtem Palast zu sehen ist. Tadda erschien das vom Herzog erhaltene Geheimnis derart einzig artig zu sein, dass er den Versuch machte, einige Werke in Stein zu meißeln. Dies gelang ihm so gut, dass er innerhalb kurzer Zeit drei ovale Medaillons im Halbrelief schuf, die die lebensgroßen Porträts Herzog Cosimos und der Herzogin Eleonora zeigten und ein Haupt Jesu Christi. Sie waren von solcher Vollendung, dass die äußerst schwierig zu skulptierenden Haare und Bärte in einer Weise wiedergegeben sind, dass die antiken Werke nicht um einen Deut besser sind. Als der Herzog anlässlich eines Aufenthalts Seiner Exzellenz in Rom mit Michelangelo über diese Werke sprach, wollte Buonarroti
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assai di quella viuezza, che è sua propria, & non piglia mai cosi bene il pulimento, come quando non l’ha hauuto, & che è peggio, quello che ha hauuto il fuoco si schianta facilmente quando si lauora. E da sapere ancora, quanto alla natura del porfido, che messo nella fornace, non si cuoce, e non lascia interamente cuocer le pietre, che gli sono intorno, anzi quanto a se incrudelisce, come ne dimostrano le due colonne, che i Pisani l’anno 1117. donarono a’ Fiorentini, dopo l’acquisto di Maiolica, le quali sono hoggi alla porta principale del tē[m]pio di san Giouanni, non molto bene pulite, e senza colore, per hauere hauuto il fuoco, come nelle sue storie racconta Giouan Villani. Giorgio Vasari: Le vite de’ piv eccellenti Pittori, Scvltori, et Architettori, Bd. I, Florenz 1568, S. 10–13.
dem keinen Glauben schenken. Deshalb gab mir der Herzog Anweisung, den Christuskopf nach Rom zu senden, wo Michelangelo ihn voller Staunen in Augenschein nahm. Er lobte ihn sehr und war voller Freude darüber, die Bildhauerei in unserer Zeit um diese außerordentliche Fähigkeit bereichert zu sehen, nach der man bis zum heutigen Tag vergeblich gesucht hatte. […] Und man muss aber diejenigen, die [den Porphyr] bearbeiten, darauf hinweisen, zu prüfen, ob er dem Feuer ausgesetzt war. Ist dies der Fall, so hat er, wenn er auch noch nicht seine ganze Farbe verloren hat und nicht bröckelt, doch einen Großteil der ihm eigenen Lebendigkeit eingebüßt und lässt sich nie mehr so gut polieren wie zuvor. Und was noch schlimmer ist: Wenn er mit Feuer in Kontakt gekommen ist, bricht er während der Bearbeitung sehr leicht. Wissenswert ist darüber hinaus, dass es in der Natur des Porphyrs liegt, im Ofen nicht zu verbrennen und auch bei Steinen, die in seiner Nähe liegen, den gänzlichen Zerfall zu verhindern. Was ihn betrifft, wird er dadurch nur noch härter, wie die beiden Säulen zeigen, welche die Pisaner nach der Eroberung von Mallorca 1117 den Florentinern schenkten und die heute am Haupt portal der [Tauf]kirche von San Giovanni angebracht sind. Sie haben keinen schönen Glanz mehr und sind durch die Einwirkung des Feuers ganz farblos geworden, wovon Giovanni Villani in seiner Geschichte [von Florenz] berichtet. Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, übers. von Victoria Lorini, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 25–50 (mit leichten Variationen von Fabian Jonietz).
Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori
Kommentar Die konzeptuellen Veränderungen, durch die sich die beiden ersten Ausgaben von Giorgio Vasaris Vite deutlich voneinander unterscheiden, werden dem Leser bereits bei einem Vergleich der Titel erkennbar. Erschien die Schrift 1550 zunächst als Leben der herausragendsten italienischen Architekten, Maler und Bildhauer, so nennt die wesentlich erweiterte Fassung von 1568 an erster Stelle der drei Künstlergruppen nicht die Architekten, sondern die Maler. Dem ursprünglichen Konzept folgend, beginnt das Werk dennoch mit einer umfangreichen Einführung in die Architektur, die ihrerseits mit einem ersten Kapitel eröffnet wird, in dem Vasari Von den verschiedenen Steinen, die den Architekten für den Bauschmuck und der Bildhauerei für die Statuen dienen, spricht.1 Die Gliederung der verschiedenen Steinsorten erfolgt dabei, anders als bei vielen seiner literarischen Vorbilder, nach abnehmender Schwierigkeit in der Bearbeitung. Vasari beginnt deshalb mit einer Behandlung des roten Porphyr, auf den der grüne, von ihm als Serpentin bezeichnete Porphyr folgt: Dieser sei zwar härter, folgt jedoch an zweiter Stelle, weil er in der Verarbeitung leichter sei und dem Künstler weniger Mühe bereite. Im Gegensatz zur heutigen Verwendung von ‚Porphyr‘ als einem Sammelbegriff für verschiedene vulkanische Gesteine bezeichnet Vasari damit nur den rötlichen, seltenen lapis porphyrites, der in der Antike am ägyptischen Mons Porphyrites gewonnen worden war.2 Da dieser Steinbruch im 4. Jahrhundert geschlossen wurde, musste für die gesamte spätere Nutzung auf antike Spolien zurückgegriffen werden. Die Ausführungen zu diesem Stein verdeutlichen dabei exemplarisch, dass Vasaris Interesse im Kapitel über die Steine nicht nur in den Eigenschaften des Materials, seiner Erscheinung und der Beeinflussung seiner natürlichen Struktur – etwa durch Feuchtigkeit, Hitze oder alchemische Prozesse – liegt. Vielmehr bildet, analog zur grundsätzlichen Struktur und Leitidee der Vite, die Geschichte der Steinbearbeitung eine Geschichte künstlerisch-handwerklicher Entwicklungsprozesse ab, die ihrerseits mit den Namen und Biographien großer Förderer und namhafter Meister und nicht zuletzt den daraus gefertigten steinernen Kunstwerken verbunden ist. Umgekehrt verbinden sich Ausführung zu einzelnen Monumenten immer wieder mit Äußerungen über das verwendete Material. Vasari folgt hier Leon Battista Alberti, der in De re aedificatoria (II, 8) den Wert der Praxis rühmt und davon spricht, mehr über Steine durch die Untersuchung antiker Gebäude in Erfahrung bringen zu können als durch die Konsultation antiker Schriften.3 Wenn in den Vite gepriesen wird, ein Bauwerk wie die Apsis der römischen Basilika St. Peter wirke „wie aus einem einzigen Stück gearbeitet“, so scheint hinter diesen Zeilen der monolithische Steinblock als ein Ideal durch, welches spätestens mit Michelangelo eine zentrale Leitidee der Architekturauffassung des Cinquecento darstellt. Zugleich bilden die Steinsorten und ihre Bewegungen in Vasaris Schilderung Geographien und räumliche Bewegungen ab: Er beschreibt, wie sie über Ströme manövriert und wie toskanische Flüsse wegen des Transports
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von Marmor umgeleitet werden. Zahlreiche Bezeichnungen der Steine leiten sich von Regionen und Städten ab und verweisen im Gegenzug auch auf ihre Herkunftsorte. Der an erster Stelle genannte rote Porphyr versinnbildlicht dabei in einer ganz besonderen Weise die Verknüpfung zwischen einer Material- und Künstlergeschichte. Wenn Andrea Mantegna die Porträtbüste seiner Grabkapelle vor einem Porphyr-Tondo platziert, ein anonymer Florentiner Künstler in den 1560er oder 1570er Jahren ein Bildnis Benvenuto Cellinis auf Porphyr malt und schließlich Francesco del Tadda das Selbstporträt für sein Grabmonument in diesem Material fertigt, so rekurrieren diese Darstellungen nicht nur auf imperiale Konnotationen des Steins, sondern sie verweisen vor allem auf die künstlerische Beherrschung des Materials und die Überwindung der Stärke der Natur. Erst in der zweiten Ausgabe von 1568 ergänzt Vasari die Ausführungen zum Porphyr um die Versuche im frühneuzeitlichen Florenz, den Stein zu bearbeiten und zu beherrschen.4 Seine Ausführungen zu einer Namensinschrift am Eingang von Santa Maria Novella, die er mit Alberti in Verbindung bringt, sind dabei historisch kaum haltbar. Sie rühren vielleicht weniger von Vasaris Kenntnis der skulpturalen Arbeiten und Interessen des Humanisten her – in dessen Vita beschreibt er ihn nur als Architekten und Maler – und mehr von Albertis grundsätzlicher Charakterisierung als ein erfinderischer und experimentierfreudiger Geist.5 Die Ingredienz des Bocksbluts ist dabei ein schon in der Antike und in mittelalterlichen Quellen häufig genanntes Mittel, mit dem die Härtung metallischer Waffen und Werkzeuge erreicht oder Stein erweicht werden soll.6 Vielleicht sind Vasaris Angaben zu Alberti in oralen Traditionen begründet. Die Einfügung dient jedenfalls auch dazu, die zur Mitte des 16. Jahrhunderts in Florenz stattgefundene Verbesserung der Porphyrbearbeitung in ihrer Bedeutung zu unterstreichen: als ein Weg, mit dem die Florentiner Künstler der Zeit Vasaris die Innovatoren der Renaissance übertreffen und dadurch endgültig an das Technik- und Materialwissen der Antike anschließen. Dies freilich gelingt nicht durch eine Erweichung des Steins, sondern durch die besondere Härtung des Eisens und Stahls, aus dem die nötigen Arbeitswerkzeuge geschmiedet werden. Anders als etwa Cellini, der die Überwindung des harten Porphyr durch die Erfindung der tempera – jener Flüssigkeit, mit der das auf dem Amboss geformte Metall abgekühlt und dadurch gehärtet wird – dem Bildhauer Francesco del Tadda selbst zuschreibt,7 weist Vasari dies dem Herzog Cosimo I. de’ Medici zu. Ob es sich hier, wie zu vermuten wäre, um reine Panegyrik handelt, konnte nicht abschließend bestimmt werden. Nachweislich beförderte Cosimo aus persönlichem Interesse die Erforschung botanischer, alchemischer oder metallurgischer Fragen und ließ in seinen Laboren Experimente durchführen. Schon 1544 lobt Benedetto Varchi in seiner Questione sull’alchimia die Kenntnisse des Herzogs in solchen Gebieten.8 Angesichts der revolutionären Neuerung durch das ominöse Kräuterdestillat, dessen Rezeptur ab den 1570ern schnell in zahlreichen Abschriften kursiert, und beeindruckt von den zahlreichen Skulpturen aus der Werkstatt Del Taddas, übersah Vasari jedoch einige Leistungen früherer Künstler. Zwar müssen Florentiner Bildhauer des Quattrocento wie Andrea del Verrocchio ihre Verwendung von Porphyr tatsächlich noch auf geometrisch
Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori
regelmäßige, eben geglättete Formen beschränken, aber schon um 1500 fertigt Pier Maria Serbaldi da Pescia (genannt Tagliacarne) Porphyrskulpturen für Papst Leo X. an. Ungefähr im selben Zeitraum notiert auch Giuliano da Sangallo weitere Rezepturen für die Härtung der Werkzeuge zur Porphyr-Bearbeitung, und zur Mitte der 1540er Jahre behauptet der TriboloSchüler Paolo Geri (genannt Il Pilucca) ebenfalls, ein Geheimnis der Bearbeitung des rotfarbenen Steins zu kennen. Wenn das Aussehen und die Qualität des Porphyr in den Vite beschrieben wird, so offenbaren sich zugleich die Grenzen der Bemühungen des Autors – Vincenzo Scamozzi wird in seinem Buchexemplar korrigieren, die Farbe des Steins gleiche wohl eher „frischer Leber“.9 Auch sind einzelne Angaben innerhalb der Vite nicht immer konsistent. In der hier auszugsweise abgedruckten Einleitung bezeichnet Vasari Donatellos verlorenes Standbild der Dovizia vom Florentiner Mercato Vecchio beispielsweise als eine Figur, die aus pietra serena gearbeitet sei, während er in der Vita des Bildhauers angibt, dieser habe sie aus macigno forte gefertigt. Ein nur schwach ausgeprägtes Interesse an den individuellen materiellen Eigenschaften der Steine kann Vasari aber dennoch nicht attestiert werden. In Einzelfällen finden sich etwa Überlegungen zur Entstehung von Gesteinssorten, so wenn der Verfasser die schwammartigen Poren des Travertin durch dessen Herausbildung in großer Feuchtigkeit erklärt und ausführt, dass es sich dabei „um eine Verhärtung von Wasseransammlungen und Erde“ handle, „die aufgrund der ihnen eigenen Härte und Kälte nicht nur die Erde erstarren und versteinern lassen, sondern auch Baumstümpfe, Äste und Laubwerk.“ Durch die kristalline Ähnlichkeit zwischen Salz und den Einschlüssen in einem bestimmten Marmor erklärt Vasari dessen Bezeichnung als „Saligno“ und das Schwitzen dieses Steins bei feuchtem Klima. An mehreren Stellen klingt darüber hinaus seine genaue Aufmerksamkeit für die bildhauerische Praxis durch, etwa wenn er den Namen „Campanini“ (Glöckchen) einer heute nicht mehr eindeutig zu bestimmenden Marmorsorte dadurch erklärt, dass der Stein bei der Bearbeitung einen ungewöhnlich hohen Klang erzeuge.10 Seinen Bericht über den roten Porphyr beschließt Vasari aber mit einer anderen Eigenschaft. Schon antike Autoren wie Theophrastus (Peri Lithōn) behandeln die unterschiedliche Reaktion verschiedener Gesteine auf Feuer und Hitze, gegen deren Einwirkung auch der Porphyr Resistenz zeigt und dabei sogar an Härte gewinnt, in diesem Prozess jedoch äußerlich stumpf wird. Die Vite folgen hier dem Bericht in Giovanni Villanis Nuova Cronica (IV, 30), dass das Beutestück der porphyrnen Säulen vor dem Florentiner Baptisterium von den Pisanern vor ihrer Übergabe aus Neid ins Feuer gestellt wurde – ein Beispiel, das Vasari nicht nur als Gelegenheit nutzt, die „Lebendigkeit“ (vivezza) unorganischer Materialien aus der Erde anzusprechen, sondern das unterstreicht, dass der bewusste Einsatz materieller Ikonographien über die Auswahl symbolträchtiger Steinsorten hinausgeht und sogar die Veränderung der chemischen Substanz des Steins einschließt. Fabian Jonietz
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Giorgio Vasari 1 Vgl. dazu v.a. Gerard Baldwin Brown (Hg.): Vasari on Technique, London 1907, S. 25–62 u. S. 101–128; Francesco Rodolico: Il capitolo sulle pietre nelle arti di Giorgio Vasari, in: Studi vasariani. Atti del Convegno internazionale per il IV centenario della prima edizione delle ‚Vite‘ del Vasari, Florenz 1952, S. 129–133; Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des disegno, hg. v. Victoria Lorini, komm. u. eingel. v. Matteo Burioni, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 12f. und S. 146–154. 2 Zur Nomenklatur der Steine in den Vite siehe v.a. Francesco Rodolico: Terminologia vasariana. Nomi di pietre, in: Lingua nostra XXIV 3/1963, S. 87–89; ders.: Lessico petrografico vasariano, in: Il Vasari storiografo e artista. Atti del congresso internazionale nel IV centenario della morte, Florenz 1976, S. 65–74. 3 Verum hi, quales pro locorum varietate et natura sint, usu et experientia pulcherrime innotescunt, ut iam ex veterum aedificiis cuiusque lapidis vim et virtutem didiciſſe plenius possis quam ex philosophantium scriptis et monumentis. 4 Zur Florentiner Wiederentdeckung der Technik der Porphyr-Bearbeitung siehe Brown 1907, S. 110–115; Daniela di Castro Moscati: The Revival of the Working of Porphyry in SixteenthCentury Florence, in: Apollo 126.308/1987, S. 242–248; Suzanne B. Butters: The Triumph of Vulcan. Sculptors’ Tools, Porphyry, and the Prince in Ducal Florence, 2 Bde., Florenz 1996; Philippe Malgouyres: Porphyre. La pierre pourpre des Ptolémées aux Bonaparte, Paris 2003, S. 90–105; Dario Del Bufalo: Porphyry. Red Imperial Porphyry. Power and Religion, Turin u. a. 2012, S. 43‒50. 5 Vgl. Butters 1996, Bd. I, S. 133–145. 6 Vgl. etwa im vorliegenden Band den Kommentar zum Physiologus und die dort genannte Behandlung des Diamanten mit Bocksblut. 7 Im Traktat über die Bildhauerei, Kap. VI. Zu den jeweiligen Resultaten, die mit einer unterschiedlichen tempera erreicht werden können, vgl. Butters 1996, Bd. I, S. 159–168. 8 Spätere Autoren wie Francesco Bocchi oder Agostino del Riccio weisen die Erfindung unentschieden entweder Cosimo oder Del Tadda zu; vgl. zu Cosimos möglichem Anteil auch Butters 1996, Bd. I, S. 149–158. 9 Porfido. / è più tosto del colore del fegato fresco. Lucia Collavo: L’esemplare dell’edizione giuntina de Le Vite di Giorgio Vasari letto e annotato da Vincenzo Scamozzi, in: Saggi e Memorie di Storia dell’Arte 29/2005, S. 1–213, hier S. 77. In der Idea dell’architettura universale wird Scamozzi diese Beschreibung auf den Stein anwenden, der in der Sieneser Maremma vorkommt. 10 Man kann hier auch an die steinernen Kolosse im Tempel des Serapis in Theben denken, von denen verschiedene antike Autoren wie bspw. Plinius (Nat. Hist. XXXVI, 12, 58) berichten, sie gäben durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen Töne von sich.
Paracelsus
Archidoxa 1569 Das Vierdt Buch. De Arcanis Von Arcano, lapis Philosophorum Und wiewol wir des lapidis Philosophorum kein Anfaenger seind / noch kein Ender / noch kein Gruebler darinnen / das wir moechten denselbige[n] nachreden / wie wir darvon gehoert / unnd gelesen haben. Darumb so wir im selbige[n] kenn warhafftig wissen nicht trage[n] / lasen wir ihn auß denselbigen Proceß / und volge[n] nach unserem / den wir in unser uebung unnd Pracktck erfunden haben / und heissen in lapidem Philosophorum darum[b] das er demselbigen gleich tingiert in corpore humano, wie sie dann von dem ihren schreiben / und nicht darumb das er nach ihrem proceß gemacht sei / dann wir denselbigen am minsten verstehen / unnd erkennen / so lassen wir auch hie in diser Practick stehen den proceß seiner wuerckung / dann wir ihn vormals gemeldt haben im anfang des libels, da wir reden / in was krafft / unnd geperd er sein wuerckung hab. So ist doch zumercken / das sein ingression durch gehet / unnd dringet durch den Leib / unnd alles das im leib ist / durch welches durch dringen es restauriert und ernewert dasselbig / Nicht das es das alt hinweg thue / unnd ein newes an die statt setze / oder das es wie die prima materia die Sperma auch ein guesse / sonder
er macht das alt also sauber / unnd rein / wie ein Schlang mit seiner haut gereiniget wird / ohn allen schaden / unnd faulen / unnd bleibt doch alle mal die alte haut / in ihrem wesen / unnd formen. Also auch lapis Philosophoru[m] der ist / der also das hertz reiniget / unnd die hauptglider all / darzu das geaeder / unnd marck / und was darinn begriffen ist / das kein macul in ihnen erfunden werdt / von keiner ungesundtheit. Dann da weicht podagra, hydropisis, icterica passio, unnd alle ungeschicklichkeit der vier humoru leuttert es / als ob sie gleich seien der ersten geburt. Dan[n] da weichen alle die ding / die / die natur understehen zuver derben / wie die Wuerm das Fewr fliehen / Also fleucht auch die kranckheit / unnd ungesundheit dise ernewerung. Nun auß was ursachen diser lapis in solchen kraefften ist / das er so vil seltzamer / unnd wunderbarlicher kranckheiten soll vertreiben / das er dann nicht thut auß seiner complexen, oder auß seiner forma specifica, noch auß seiner proprietet / oder aus ander accidentischer Natur / Sonder that das aus krafft der subtilen Practick / die in ihm gebraucht wird mit praeparationibus, Darnach reverberationibus, Darnach sublimationibus, Darnach digestionibus,
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Darnach separationibus, Darnach distillationibus, Darnach mancherlei reductionibus, unnd resolutionibus, die all disen lapide[m] inn solchen kraefften bestaetten / und schoerpffen. Nicht dz ers anfaenglich gehabt hab / sonder das ihm erst geben wird. […] Dann die krafft lapidis philosophorum erhebt sich so seltzam / unnd wunderbarlich / das kein ergruender da ist / wie sich solches natuerlich mag erheben / unnd so also gewisse warzeichen nicht da entgegen stuenden / die mit den Augen gesichtigt wuerden / wer nicht zuglauben das solche krafft den Goetterischen moeglich were zuthuen. Dann sein tugend gehet in geschlecht zu geschlecht / hafftet ohn zerstoerung / Sonder Gottes gnad allein in einem coerper stehet / unnd den andern nach ihrem verdienst genommen / oder verhengt wird. So woellen wir also unsern Proceß un[d] weg des lapidis philosophorum ansetzen also.
Recipe elementum Mercurii, und separier darvon purum ab impuro, demselbigen nach laß reverberieren usque in albedinem, die sublimier nur durch den Salmiax, so lang biß sich resolviert, das calcinier, und resolvier wider / Darnach setz in ein Pellican / laß digeriern auff ein Monat / das coagulier in ein Corpus, das verbrennt nimmer / und verzehrt sich auch nicht / es bleibt auch unverwesen / die corpora die es durch gehet / seind per cinentia bleiblich / und ist in ihnen kein schweinen / noch alteriern. Nimmt all minder wesen hinweg in sensibilibus, und in den insensibilibus, als wir dann erzehlt haben. Unnd wiewol wir ein kurzen weg gesetzt haben / erreicht aber ein langwirige arbeit an / mit vil umbstaenden / unnd bedarff eins unverdrossenen / und wol erfahrnen Arbeiters mit gutem fleiß. Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus: Archidoxa […] von heymligkgeyten der Natur / Zehen Bücher, hg. und übers. v. Michael Toxites, Straßburg: Theodosius Rihel 1570, fol. 75v−78v.
Kommentar Als umstrittener Erneuerer der Medizin machte sich zur Reformationszeit der Arzt, Laientheologe und Naturphilosoph Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493/94−1541), genannt Paracelsus, einen Namen. Uneins mit der traditionellen, auf Humoralpathologie basierenden galenischen und hippokratischen Medizin im Allgemeinen,1 nimmt er Position ein gegen die zu seiner Zeit sehr verbreitete medizinische Lehre des Avicenna. Gleichzeitig gilt er als Neuerer der alchemistischen Disziplin, der seine Heilkunde in der Verschränkung alchemistischer und medizinischer Lehren gründet. Seit jeher setzten Alchemisten sich das Ziel, unedle Metalle in Gold umzuwandeln. Dabei galt der sagenumwobene Lapis philosophorum – der Stein der Weisen – als das Opus magnum alchemistischer Bestrebungen und als effizientestes Mittel zur Metalltransmutation. Alchemistische Schriften bezeichnen ihn stets als Ultima materia, die aus der Prima materia – einer gottgegebenen Urmaterie – zu gewin-
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nen ist.2 In den Archidoxa, den heilkundlichen Grundlehren, die Paracelsus bereits bei Ersterscheinen zugeschrieben wurden und im 16. Jahrhundert zu seinen meist rezipierten Schriften zählten, dient der Stein nicht mehr der Goldgewinnung: Ihm wird fortan eine medizinische, auf den menschlichen Körper bezogene Funktionsweise als Allheilmittel zugesprochen.3 Die paracelsische Medizin ist wesentlich geprägt von sich wechselseitig bedingenden naturphilosophischen und theologischen Theoremen. Den Platz der bislang in der Medizin tradierten Elementelehre nimmt dabei die Hinwendung zu einem ‚chemisch-magischen‘ Verständnis der Natur und der Heiligen Schrift ein. Dieser Philosophia chymica liegt die Überzeugung zugrunde, dass Gottes Werk nur offenbart werden würde, wenn man die Werke der Natur durch auf Magie basierende chemische Prinzipien entschlüsselte.4 Denn von Gott seien in der Natur heilende, ‚reine‘ Kräfte verborgen worden, die Paracelsus als Arcana bezeichnet und die durch alchemistische Verfahren zu entschlüsseln seien.5 Ihre Gewinnung erfordere wiederum eingehende Naturbeobachtung, die nach Paracelsus zur experientia des Arztes und so auch zur Theoriebildung, zur wahren scientia führen würde. Die hierin erfolgende Gleichsetzung von scientia und magia stand dabei im Gegensatz zur vielmehr ‚nüchtern-empirischen‘ Vorgehensweise vorausgehender alchemistischer Lehren.6 Zur Erlangung jener experientia wendete sich Paracelsus der bereits in jener Zeit sehr umstrittenen Signaturenlehre zu. Dieser zufolge könne das Arcanum durch Analogiebildung zwischen dem von Krankheit gezeichneten Körperteil und dem in der Natur vorkommenden Material, das den heilbringenden Stoff in sich trage, gewonnen werden.7 Die Archidoxa galten als ‚Schlüssel‘ zur paracelsischen Medikamentenkunde und legen diese als handwerkliche Basistexte in zehn Büchern zugrunde.8 Bei Toxites lautet die Reihenfolge der zehn Bücher insgesamt wie folgt: 1. De mysteriis microcosmi, 2. De mysteriis elementorum, 3. De mysteriis quintae essentiae, 4. De mysteriis Arcani,9 5. De mysteriis extractionum, 6. De mysteriis specificorum, 7. De mysteriis Elixir, 8. De mysteriis externis, 9. De Renovatione, et Restauratione, 10. De vita longa.10 Im vierten Buch De Arcanis sucht der Autor den Charakter der Arcana näher zu erfassen. Er stellt zu diesem Zweck die seiner Aussage zufolge vier ursprünglichsten und bedeutsamsten Arcana in ihrer Wirkweise und dem Ursprung dieser Wirkung vor und schildert jeweils im Anschluss, auf welchem alchemistischen Wege sie zu gewinnen seien. Erstes Arcanum ist hierbei die Prima materia. Hierauf folgen der Lapis philosophorum als Produkt jenes ersten Arcanums sowie schließlich Mercurius vitae und Tinctura.11 Obwohl die beschriebenen Arcana in der Natur unterschiedlich ‚angezeigt‘ würden – oder wie im Fall des Lapis philosophorum auch gar nicht –, ist ihnen in den Archidoxa allen dieselbe Wirkung gemein: Alle vier verjüngen den menschlichen Körper, befreien ihn von physischen wie psychischen Krankheiten und läutern ihn im medizinischen wie auch religiösen Sinne. Denn das Arcanum sei „alle tugent des dings / mit tausentfacher besserung“.12 Das Arcanum selbst wird bei Paracelsus im Gegensatz zum Menschen, in dem es wirkt, stets als „uncorporalisch“13 und ewig beständig beschrieben. So heißt es in den allgemeinen Erläuterungen zu den Arcana im vierten Buch, sie seien „uber alle Natur zu verstehen / unnd unmenschlich
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zuerkennen“.14 Als Bestandteil der himmlischen Sphäre habe man sie gegen den Menschen zu rechnen, sodass sie ihm übergeordnet den Körper bis zu dessen vorherbestimmten Tod kurieren.15 Paracelsus’ Auffassung der medizinischen Wirkung der Arcana stellt sich hierin gegen das bisherige alchemistische Verständnis, das sich vorwiegend auf Materietheorien und Erfahrungen durch das Experiment stützt. Es soll seiner Lehre nach vielmehr „Geist auf Geist“ wirken.16 Bereits in der Vergangenheit wurde der Lapis philosophorum als Gegenstand der ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Alchemie einerseits als physische, gleichzeitig aber vor allem auch als ‚vergeistigte Materie‘ aufgefasst.17 Im Hellenismus beschreibt die ägyptische Alchemie seine Substanz zunächst als transmutierendes Pulver. Jene Quellen sollen ihn dabei bereits als lithos ton philosophon bezeichnet haben, nennen ihn aber zugleich einen „Stein, der kein Stein ist“.18 Auch in der mittelalterlichen Alchemie wird er nicht wie andere, als magisch geltende Steine als naturgegebener Werkstoff begriffen, sondern als vielmehr erst im alchemistischen Prozess entstehendes Geistesprinzip. Villanova begreift den Lapis philosophorum als Materie, die von allen anderen Materialien abzugrenzen sei.19 Sowie dem Werkstoff Stein jedoch bereits in verschiedenen Kulten des Altertums magische Kräfte nachgesagt wurden, übertrugen sich jene Vorstellungen auch auf die Charakterisierung des Steins der Weisen. Als unverderbliche Substanz könne er verjüngend wirken und gar zur Unsterblichkeit verhelfen. Zudem würden sich der Lapis und seine Wirkung unendlich multiplizieren lassen.20 Für die Herkunft des Lapis philosophorum konnte von Alchemisten auf eine Vielzahl an Legenden zurückgegriffen werden. Zentral für die mittelalterliche Alchemie war darunter insbesondere wohl die Legende von der Tabula smaragdina des Hermes Trismegistos, die eine erste Rezeptur für den Lapis enthalten habe. In der angeführten Quellenpassage, in welcher die medizinische Wirkung des Lapis philosophorum und der Prozess seiner Gewinnung erklärt werden, betont der Autor vorab, dass er sich nicht auf vorausgehende Ausführungen zum Lapis stützen, sondern dessen Wirkung durch die eigens ‚empirisch‘ entwickelte, vorzustellende Praxis hervorbringen will. Indem er anführt, dass ihm frühere Bestrebungen zum Lapis philosophorum bekannt sind, bezieht er sich auf vorausgehende Bemühungen der medizinischen Nutzbarmachung des Steines, darunter allen voran Johannes von Rupescissa. Noch vor Paracelsus knüpfte dieser auf der Suche nach dem Panacea − dem Allheilmittel − an die zuvor im arabischen Raum stattfindende Etablierung des medizinischen Nutzens der Alchemie an.21 Die Vorstellung vom Lapis philosophorum als Allheilmittel für den menschlichen Körper entwickelte sich hierbei aus seiner ursprünglichen Bestimmung: So bestand in der mittelalterlichen Alchemie bereits die Auffassung, dass unedle Metalle entweder ‚krank‘ oder ‚unreif‘ seien und der Lapis philosophorum sie heilen und zu Gold reifen lassen könne.22 Zusammen mit der Vorstellung von Krankheit als Sündenstrafe stützte jene Überzeugung den fortan in der Alchemie verbreiteten Gedanken der ‚Erlösung‘ des Metalls aus seinem Rohzustand durch das Wirken des Steins der Weisen – ein Umstand, der die Auslegung des Steins als Sinnbild Christi nur begünstigen konnte.23
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Der Autor stimmt der von seinen Vorgängern ausgemachten erlösenden Heilwirkung des Lapis philosophorum zu, allerdings sei der Stein durch einen ganz anderen Prozess zu gewinnen. Bevor er diesen schließlich mit einer auf den ersten Blick nur wenig hermetisch erscheinenden, alchemistischen Rezeptur schildert, beschreibt er zunächst, wie genau der Stein auf den menschlichen Körper wirkt: So erneuere er diesen, nachdem er ihn als Ultima materia durchdrungen habe. Diese Erneuerung sei nicht als Zugabe oder Substitution, sondern vielmehr als Säuberung der bestehenden Physis zu verstehen. Für eine bildhafte Erklärung des Wirkprozesses wird bei Toxites auf die Schlange und die Erneuerung ihrer Haut zurückgegriffen. Die Münchner Übersetzung verwendet hier den Begriff des Salamanders. Offensichtlich knüpft man hierin an die in der Alchemie häufiger verwendeten Decknamen des Steins an.24 Bemerkenswert ist auch die Reihenfolge, in der die vom Stein gereinigten Bestandteile des Körpers angeführt werden. Zuerst nennt der Autor das Herz, welches seiner Zeit im christlichen Sinne primär als Sitz von Tugend und Laster gilt. Nach jener als geistig zu interpretierenden Reinigung folgt die augenscheinlich auf die Physis Bezogene. Der Körper werde von jedweder Krankheit − sei es podagra (Gicht), hydropisis (Wassersucht) oder Iicterica passio (Gelbsucht) − bis ins kleinste macul befreit.25 Schließlich kommt es zur Abgrenzung von der vorausgehenden medizinischen Verwendung des Lapis philosophorum. Denn als Ursache für dessen Wirkung kommt nicht, wie zu erwarten wäre, in letzter Instanz die ,Natur‘ des Steins in Frage, sondern der den Herstellungsprozess in Gang bringende Geist des Adepten. Begründet wird dies mit der Sonderstellung des Lapis philosophorum in der paracelsischen Signaturenlehre. Denn das Wirken des Steins kann in der Natur nicht beobachtet und so auch nicht durch die Signatur angezeigt werden, wie noch im Fall der drei anderen Arcana. Man könnte in der Folge von einer Steigerung des alchemistischen ‚Götterkomplexes‘ in der paracelsischen Lehre sprechen. Denn erst durch seinen alchemistischen Weg wird die Wirkmacht des Steins hervorgebracht und so das Potential der göttlich aufgefassten Schöpfungskraft der Natur konterkariert. Gerade Paracelsus sieht sich gar buchstäblich in einem Wettbewerb mit dem Göttlichen. Der hohe Stellenwert, den er seiner generativen Arbeit zuspricht, ist dabei zurückzuführen auf die stets für seine naturkundlichen Aussagen erfolgende Reflexion der Genesis und deren generatives Moment.26 Vor dieser Folie stellt er seinen Weg des künstlichen Generierens als christlich verstandene Praktik über das natürlich Generative, sowie der nach seinen Mitteln behandelte Körper von der Vorbelastung des Sündenfalls befreit sei und so zeitlich analog dem Ereignis der Geburt Christi zugeordnet zur Erlösung führe. So wird Paracelsus’ Stein der Weisen ausgewiesen als erst aus der eigenen Heilslehre generierbares, ultimatives Heilmittel, durch welches erst die Gottesgnade im menschlichen Körper wirken kann und welches nur ein würdiger Adept herzustellen vermag. In der im Anschluss angegebenen Rezeptur ist der Adept letztlich aufgefordert, dem Arcanum Lapis philosophorum auf eigenem Wege eine Signatur zu verleihen, die seinem Namen gerecht wird. Für die Herstellung des Steins wird zunächst Mercurius als Ausgangs-
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stoff genannt. Zusammen mit Sulphur und Sal ist dieser als Bestandteil der paracelsischen Dreiprinzipienlehre Grundlage aller Materie.27 Bei Paracelsus wird Mercurius als androgyne Substanz verstanden und daher als Prima materia identifiziert.28 Die in den Archidoxa beschriebene alchemistische Praktik sieht nun vor, Mercurius als Prima materia mittels gängiger alchemistischer Verfahren zur Ultima materia aufzulösen. Hierfür sei am Mercurius ganz paracelsisch das ‚Reine‘ vom ‚Unreinen‘ zu extrahieren, sodass das nach mehreren, meist thermischen Schritten entstandene geistige Produkt sich an einen materiellen Körper binde. Die Kriterien, die für jenen Körper angeführt werden, passen offensichtlich auf das Material Stein. In der auf die Heilmittelrezeptur übertragenen Interpretation des Lapis philosophorum als innere geistige und äußere materielle Substanz zeigt die Quelle schließlich auf, wie die paracelsische Iatrochemie sich der vorausgehenden alchemistischen Theoreme bedient. Mit der Wandlung des Ausgangsstoffes zur Ultima materia, dem Lapis philosophorum, wird die ‚Erlösung‘ des Arcanum von der Urmaterie angestrebt und vom Adepten auf Basis des eigenen Könnens ein in der paracelsischen Vorstellung völlig neuer Stoff geschaffen, welcher mittels der vorausgehenden Läuterung des Geistes die Heilung des Körpers und die Vervollkommnung der Seele bewirken sollte. Der Schaffensgeist des Adepten wird dabei offensichtlich mit der aus der Prima materia gewonnenen reinen Substanz identifiziert, worin sich das Alchemistisch-hermetische der paracelsischen Lehre offenbart. ‚Lapis‘ tritt so als Synonym und Signatur für ein vom ‚Lapsus‘ befreites ‚religiös-medizinisches‘ Prinzip von Vollkommenheit auf. Alexandra Pietroch
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Die Lehre von den vier Säften steht hierin im Fokus. Dabei nutzt das Therapiekonzept der humoralpathologischen Medizin noch natürliche Stoffe wie beispielsweise Pflanzen oder auch Mineralien. Paracelsus hingegen verwendet erstmals (al-)chemisch hergestellte Heilmittel. Vgl. Anne-Charlott Trepp: Alchemie und Religion in der Frühen Neuzeit. Das Reine vom Unreinen trennen, in: Goldenes Wissen. Die Alchemie − Substanzen, Synthesen, Symbolik, Ausstellungskatalog, Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2014, S. 67−72, hier S. 68. Paracelsus folgte vielmehr der reformierten oberitalienischen Medizinlehre, die unter anderem auf die philologische Neubewertung der galenischen und hippokratischen Medizin drang. Vgl. Bernhard Dietrich Haage: Alchemie im Mittelalter. Ideen und Bilder − von Zosimos bis Paracelsus, Zürich 1996, S. 178f. Lawrence M. Principe: Lapis philosophorum, in: Claus Priesner u. Karin Figala (Hg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 215−220, hier S. 215; Haage 1996, S. 17. Die Archidoxa sind erstmals posthum 1569 in lateinischer Sprache bei Adam Schröter in Krakau erschienen und wurden bereits zu jenem Zeitpunkt Paracelsus zugeschrieben. Schon im darauffolgenden Jahr wurde das Werk von Johann Albert von Wimpfen in München und Michael Toxites in Straßburg ins Deutsche übersetzt. In den Folgejahren kam es zu mehre-
Archidoxa ren Wiederauflagen dieser Übersetzungen. Was das Ausgangszitat zum Lapis philosophorum aus der Straßburger Schrift betrifft, ist anzumerken, dass sich beide Übersetzungen in nur wenigen Einzelheiten voneinander unterscheiden. In der Vergangenheit erhielt Toxites’ Werk aufgrund seiner objektiver gefassten Vermittlung der paracelsischen Lehre besondere Aufmerksamkeit. Da jeglicher Nachweis darüber fehlt, dass die Archidoxa unmittelbar aus der Feder des Paracelsus stammen, kann für ihre Entstehung eine Schülerabschrift oder ein eigenständiger, paracelsistischer Autor angenommen werden. Vgl. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle (Hg.): Corpus Paracelsisticum. Der Frühparacelsismus, Bd. II., Tübingen 2004, S. 526. 4 In den frühneuzeitlichen alchemistischen Quellen beschreibt Magie das Vermögen, die in der Natur verborgenen Kräfte zu erfahren und für den Menschen nutzbar zu machen. Vgl. Rudolf Schmitz: Okkulte Wissenschaften und die moderne Pharmazie, in: August Buck (Hg.): Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, Wiesbaden 1992, S. 5−19, hier S. 8. 5 Vgl. Joachim Telle: Pharmazie und der gemeine Mann. Hausarznei und Apotheke der frühen Neuzeit, Weinheim 1988, S. 91. Der Begriff Arcanum bezeichnete in der Alchemie das geheime und geheimzuhaltende Wissen über gewisse alchemistische Vorgänge. Vgl. Principe 1998, S. 61f. Bei Paracelsus ist der Begriff gleichbedeutend mit dem Medikament. Über die Arcana schreibt der Autor in den Archidoxa: Also wollen wir […] von arcanis zuschreiben uns verordnen / und wir mehr von arcanis verstehen / […] auß ursachen / das uns die experientz gibt solche anzeigung / unnd gewaltige wirckung / die uns zuerkennen gibt / welches besser / welches boeser / welches nuetzer / oder minder sei. Darumb wir moegen urtheilen ein Artznei fuer die ander. Siehe Paracelsus: Archidoxa [Toxites] 1570, fol. 69v, 70r. 6 Vgl. Haage 1996, S. 176. 7 Vgl. Hans Biedermann: Medicina Magica. Metaphysische Heilmethoden in spätantiken und mittelalterlichen Handschriften, Graz 1972, S. 30; vgl. Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst, Stuttgart 1999. 8 Vgl. Ute Frietsch: Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie, München 2013, S. 211. 9 In der Münchner Übersetzung wird De Arcanis übereinstimmend mit Schröter als fünftes Buch angegeben. 10 Toxites weicht hierin weit weniger von der Gliederung Schröters ab als Johann Albert von Wimpfen. Dessen Münchner Übersetzung kündigt auf dem Frontispiz zwölf Bücher an, führt tatsächlich jedoch für die Archidoxa nur neun Bücher auf. Das zweite Buch der Archidoxa erklärt er hierbei als vermisst und die Reihenfolge der Bücher verschiebt sich. Dabei führt er die beiden bei Toxites noch angegebenen Bücher De Renovatione et Restauratione und De longa vita nicht an. Stattdessen ergänzt er die Archidoxa um vier Bücher, zu welchen De longa vita wiederum gehört. 11 Woraus sich mit Mercurius vitae und Tinctura die weitere Reihenfolge ergibt, ist nicht auszumachen. Auch nicht abschließend geklärt werden kann die Frage der gegenseitigen Bedingtheit aller vier Arcana. 12 Paracelsus: Archidoxa [Toxites] 1570, fol. 70r; siehe ebd. fol. 71r.
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Paracelsus 13 Karl Sudhoff: Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus. Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften, Bd. 3, München u. a. 1930, S. 138. 14 Ebd., fol. 70r, 70v. 15 Ebd., fol. 70v: Un[d] wie das wol ist / dz nit in disen unsern arcane[n] die Ewigkeit ist / oder ein symphonia auf him[m]lisch / so seind sie doch wol him[m]lisch gegen uns zurechne[n] / dieweil sie auffhalten unsern Leib unnd […] in uns wunderbarlich wuercken / mit ihrem anzeigen. Vgl. Sudhoff 1930, S. 140. 16 Vgl. Haage 1996, S. 176f. Wie die Arcana werden auch Krankheiten bei Paracelsus nicht körperlich, sondern vielmehr als geistiger Befall aufgefasst. Vgl. Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie. Medizin im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 45. 17 Die Unterscheidung eines Innen und Außen ist ein Grundsatz in der theoretischen Alchemie. Diesem folgend, wirkt der äußere, physische Werkprozess ebenso als geistiger Prozess im Alchemisten. 18 Den Angaben bei Principe und Schütt folgend, besteht im Altertum, wohl aufgrund des physisch-materiellen Erscheinungsbildes des Endproduktes im Opus magnum beziehungsweise aufgrund des hierin verwendeten physischen Werkstoffes, parallel für den Lapis die Bezeichnung Chrysokorallion, Koralle beziehungsweise Koralle des Goldes. In der mittelalterlichen Alchemie setzte sich jedoch der Begriff des Steines für das Endprodukt durch. Auch der Begriff der Tinktur wurde für das Endprodukt des Opus magnum bereits im Altertum verwendet, was auf die Ursprünge alchemistischer Verfahren verweist, in denen noch nicht die Metalltransmutation, sondern bloß die Imitation der Oberflächenfärbung von Edelmetallen im Fokus stand. Die Bezeichnung des Demokrit und Zosimos als xerion wiederum charakterisierte die Substanz als pulverisierten Wirkstoff, was zu dem arabischen Namen al-iksir und der latinisierten Variante Elixier führte. Vgl. Principe 1998, S. 216; HansWerner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 57. 19 So heißt es in Villanovas alchemistischem Traktat Rosarium philosophorum, der Stein sei ein corpus per se subsistens differens ab omnibus eleme[n]tis et elementatis. Übersetzung nach Lutz Claren u. Joachim Huber: „ein Körper, der durch sich selbst besteht und sich unterscheidet von allen Elementen und Elementaten“. Siehe Joachim Telle (Hg.): Rosarium Philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Faksimile der illustrierten Ausgabe Frankfurt a.M. 1550, Bd. 1, Weinheim 1992, S. 52 und die Übersetzung in Bd. 2, S. 50. 20 Schütt 2000, S. 356. 21 Haage 1996, S. 11. Vgl. Udo Benzenhöfer: Johannes de Rupescissa: Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum. Studien zur Alchemia medica des 15. bis 17. Jahrhunderts mit kritischer Edition des Textes, Stuttgart 1989. 22 Principe 1998, S. 219. 23 Vgl. Jankrift 2005, S. 15. 24 Um Geheimhaltung und Hermetisierung ihrer Rezepturen bemüht, griffen Alchemisten seit je her vor allem für den Stein der Weisen auf verschiedene Decknamen zurück. So wurde der Lapis häufig mit der Mythengestalt des Basilisken oder aber auch mit einem Salamander identifiziert. Seit Plinius d. Ä. wurde der Basilisk unter anderem mit der Schlange gleichgesetzt. Zu den Decknamen vgl. Schütt 2000, S. 355.
Archidoxa 25 Das der Humoralpathologie zugrunde gelegte Wärmeprinzip spielt als Grundlage allen physischen Lebens auch bei Paracelsus noch eine Rolle, sodass in De Arcanis die Auswirkung des Lapis philosophorum auf das Säfteverhältnis nicht unerwähnt bleibt. Vgl. Maurice Saß: Physiologien der Bilder. Naturmagische Felder frühneuzeitlichen Verstehens von Kunst, Berlin u. a. 2016 (Naturbilder. Images of Nature, 3), S. 282. 26 Vgl. Michael Thomson Walton: Genesis and the Chemical Philosophy. True Christian Science in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 2011. 27 Jene Lehre löst die in der Alchemie seit Aristoteles verbreitete Mercurius-Sulphur-Theorie ab, mit welcher die Metallentstehung im Erdreich erklärt und dessen Bestandteile ebenfalls in aristotelischer Manier gegendert wurden. Aristoteles beschreibt in Bezug auf Sulphur und Mercurius zwei Formen der Ausdünstung im Erdreich, die nachfolgend jeweils mit dem weiblichen und männlichen Geschlecht identifiziert werden: die feuchte, dampfartige (Mercurius) und die trockene, rauchartige (Sulphur); Haage 1996, S. 27f. 28 Dessen Androgynität und Identifizierung mit Prima materia resultiert wiederum aus dem paracelsischen Genesis-Vergleich mit dem Stadium der Figur Adams vor dem Sündenfall − jenem Zeitpunkt, zu dem ihm die Rippe, aus der Eva entsteht, noch nicht entnommen ist. Vgl. Frietsch 2013, S. 159f.
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La Description de Callistrate de quelques statues antiques tant de marbre comme de bronze 1602 I. Le Satyre, lequel s’exerce en un lieu à l’écart à jouer du hautbois
I. Der Satyr, der sich an einem abgelegenen Ort im Aulos-Spiel übt
Annotation Or que la sculpture ne soit plus difficile et plus hasardeuse que la peinture, on le peut assez apercevoir, entre autres choses par les ouvrages de Michel-Ange, le plus accompli des modernes en l’une et en l’autre, car encore qu’il excellât en toutes les deux presque également, et qu’il y dépensât son temps comme à la balance, il a néanmoins pour une statue de marbre fait une centaine de figures de plate-peinture […].
Anmerkung Dass nun aber die Skulptur eine schwierigere und riskantere Angelegenheit ist als die Malerei, kann man unter anderem aus den Werken Michelangelos schließen, des vollkommensten der Modernen in der einen wie der anderen [Gattung]. Denn auch wenn er in beiden gleichermaßen hervorragend war und seine Zeit auf beide ausgewogen verteilte, so hat er für eine Marmorstatue etwa hundert Figuren in flacher Malerei gemacht […].
Le marbre au reste importe avec soi non tant seulement plus de peine que l’argile, le bois et semblables étoffes tendres, plus aisées à manier, à cause de la masse qui pèse de quatre à cinq livres, et la pointe ou ciseau qu’il faut à tous propos acérer de nouveau à la forge, mais pour la ruse et pratique qu’il faut avoir à connaître le fil du marbre, et de quel biais on le doit prendre.
Übrigens bringt der Marmor nicht so sehr allein wegen der Masse, die etwa vier bis fünf Pfund beträgt, und wegen des Spitz meißels, den man die ganze Zeit über von Neuem in der Schmiede schärfen muss, mehr Mühe mit sich als der Lehm, das Holz und andere weiche Stoffe, die angenehmer zu handhaben sind. Sondern auch wegen der Findigkeit und Praxis, die man besitzen muss, um die Äderung des Marmors zu kennen und zu wissen, in welchem Winkel man ihn bearbeiten muss.
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À ce propos, je puis dire avoir vu MichelAnge bien qu’âgé de plus de soixante ans, et encore non des plus robustes, abattre plus d’écailles d’un très dur marbre en un quart d’heure, que trois jeune tailleurs de pierre n’eussent pu faire en trois ou quatre, chose presque incroyable qui ne le verrait; et y allait d’une telle impétuosité et furie, que je pensais que tout l’ouvrage dût aller en pièces, abattant par terre d’un seul coup de gros morceaux de trois ou quatre doigts d’épaisseur, si ric à ric de sa marque que s’il eût passé outre tant soit peu plus qu’il ne fallait, il y avait danger de perdre tout, parce que cela ne se peut plus réparer par après, ni replâtrer comme les images d’argile, ou de stuc. Quant au bois, et l’ébène, et l’ivoire aussi, ils sont tous plus doux et traitables, et moins rebelles et rebours; mais telle est cette dextérité et assurance de la main qui s’acquiert par une diuturne expérience et pratique, tellement que celui qui est usité à faire des figures de pierre ou de bois est bien plus apte à en élaborer de métal, que non pas l’imagier simple métallaire à se ruer indifféremment sur le marbre; bien est vrai que pour raison du dessein, et des modèles qui leur sont communs aux uns et aux autres, soient de terre, cire, ou autre semblable étoffe, il ne lui reste que la pratique de le bien jeter dans ses formes.
Dazu kann ich sagen, dass ich gesehen habe, wie Michelangelo – über sechzig Jahre alt und nicht mehr der robusteste – mehr Splitter eines sehr harten Marmors in einer Viertelstunde abschlug, als es drei junge Stein metze in drei oder vier hätten tun können. Eine unglaubliche Sache, hat man es nicht mit eigenen Augen gesehen. Und er ging mit solchem Ungestüm und solcher Wut vor, dass ich glaubte, das ganze Werk müsste in Stücke gehen. Er hieb große Brocken von drei bis vier Fingern Dicke mit einem einzigen Schlag so nahe an der Markierung ab, dass Gefahr bestand, alles zu verderben, wenn er nur um ein Weniges mehr, als er durfte, darüber hinaus gegangen wäre. Denn so etwas lässt sich später weder reparieren noch mit Gips ausbessern wie bei Werken aus Lehm oder Stuck. Was Holz, Ebenholz und auch Elfenbein betrifft, so sind sie alle angenehmer und umgänglicher und weniger rebellisch und widerständig. Aber die Geschicklichkeit und Sicherheit der Hand, die man durch lange Erfahrung und Praxis erwirbt, ist eine solche, dass derjenige, der gewohnt ist Figuren aus Stein oder aus Holz zu machen, deutlich geeigneter dazu ist, Gestalten aus Metall zu erarbeiten, als der einfache Metallhandwerker dazu, sich seinerseits auf den Marmor zu stürzen. Wegen des Entwurfs und der Modelle – seien sie aus Erde, Wachs oder einem ähnlichen Material –, die beiden gemeinsam sind, fehlt dem Bildhauer in der Tat nur die Praxis, um den Entwurf gekonnt in Metall umzusetzen.
Or, puisqu’il est ici question de marbres, il n’y aura point de mal d’en toucher tout d’un train quelque chose, car il y en a de plusieurs
Da nun aber von Marmor die Rede ist, tut es keinen Schaden dieses Thema in einem Schwung anzupacken, denn es gibt mehrere
La Description de Callistrate
sortes et espèces plus dures et opiniâtres sous le ferrements, et plus fâcheuses à manier les unes que les autres. En premier lieu est le porphyre, le plus dur de tous fors le serpentin qui le passe: c’est une pierre rouge obscure, mouchetée de taches blanches, et le serpentin a le champ vert tavelé de même de blanc, avec quelques noirceurs y entremêlées. Les modernes voyant la difficulté de mordre avec les ferrements dessus, se sont voulus persuader que les antiques eussent quelque secret pour le rattendrir, mail il n’y avait que leur longue patience, et le frais d’infinis outils qui étaient réacérés et trempés à chaque coup presque, et leur pointe renouvelée. Car on a vu de notre temps un Francisque del Tadda Florentin qui en a fait plusieurs têtes, voire des statues tout entières, bien que petites, mais vêtues en récompense, où il y a plus de choses à rechercher que non pas au nu, encore que la science n’en soit pas si grande, ayant celui-là été le premier dont on ait mémoire, qui depuis les antiques a eu la hardiesse d’assaillir la dureté de cette désobéissante pierre. Toutefois ç’a été à la faveur du feu grand Côme de Médicis, le premier grand duc de Toscane, prince d’une immortelle louange qui lui en donna le courage, lui en fournissant la dépense. Il s’en voit au reste une statue colossale tout entière fors que la tête qui est de bronze au palais Saint-Georges à Rome près Campo dei Fiori, et auprès de l’église Sainte-Agnèshors-les-murs, une grande cuve carrée qu’on appelle communément la sépulture de Bacchus, toute ouvrée par le dehors à sarments de vigne, et de lierre avec leurs grappes, et force oiseaux semé parmi, et en
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Sorten oder Arten, die unter den Werkzeugen härter und unnachgiebiger und widriger zu handhaben sind als andere. An erster Stelle steht der Porphyr, der härteste außer dem Serpentin, der ihn noch übertrifft: Es ist ein dunkelroter, mit weißen Flecken getupfter Stein und der Serpentin hat eine grüne Oberfläche, die im gleichen Weiß gefleckt ist mit einigem eingemischtem Schwarz. Da die Modernen die Schwierigkeit sahen, mit Werkzeugen darin einzudringen, wollten sie sich einreden, dass die Alten irgendein Geheimnis hatten, um ihn wieder zu erweichen. Aber tatsächlich waren es nur ihre große Geduld sowie die Kosten für unzählige Werkzeuge, die nach fast jedem Schlag wieder neu geschärft und gehärtet und deren Spitzen erneuert werden mussten. Denn man hat in unserem Zeitalter einen Francesco del Tadda aus Florenz gesehen, der daraus mehrere Köpfe gemacht hat, ja ganze Statuen, wenn auch kleine, aber reich gekleidete, wozu mehr zu erforschen bleibt als bei Aktfiguren, da das Wissen darum noch nicht so groß ist. Francesco war seit den Antiken der erste von dem wir Kunde haben, der die Kühnheit besaß, diesen ungehorsamen Stein zu attackieren. Gleichwohl geschah dies begünstigt durch den seligen großen Cosimo de‘ Medici, den ersten Großherzog der Toskana, einem Fürsten von unsterblichem Ruf, der ihn dazu ermutigte, indem er die Ausgaben dafür trug. Man sieht [aus Porphyr] übrigens im Palazzo S. Giorgio in Rom beim Campo dei Fiori1 eine (mit Ausnahme des Kopfes, der in Bronze gearbeitet ist) vollständige Kolossalstatue. Und [man sieht] bei der Kirche S. Agnese fuori le mura einen kastenförmigen, gemeinhin als Grab des Bacchus
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l’église un grand nombre de belles tables enchâssées dans les parois, comme aussi en plusieurs autres lieux dans la ville tant publics que particuliers. Devant la Rotonde il y en a deux grands vaisseaux, l’un ouvragé qui est au milieu de deux beaux lions de marbre numidien, de couleur cannelée, tenant quelque peu du grisâtre obscur, lequel n’est pas moins dur que le porphyre; la pierre aussi de parangon, ou de touche comme on l’appelle en latin Lapis lydius, où l’on touche l’or et l’argent, est en ce même degré de dureté, et y en a une statue, excédant le naturel, d’un Hermaphrodite au dessus dit Palais Saint-Georges. Mais le serpentin est le plus malaisé et rebelle, si qu’on ne l’a jamais employé, que je sache, qu’à faire des tables, et si il se scie avec une extrême peine, patience, et longueur du temps, par le moyen de l’émeri mis en poudre, et une scie déliée qui le mine et ronge peu à peu. Blaise de Vigenère: La Description de Callistrate de quelques statues antiques tant de marbre comme de bronze (1602), hg. v. Aline Magnien, Paris 2010, S. 49–50 u. S. 53–56.
bezeichneten Behälter, der außen mit Wein-, Efeu- und Traubenranken und vielen Vögeln darin verziert ist, sowie in der Kirche selbst eine große Zahl von schönen, in die Wände eingelassenen Tafeln, wie ebenfalls an anderen sowohl öffentlichen als auch privaten Orten der Stadt. Vor der Rotonda2 gibt es zwei große Becken [von Porphyr], eines zwischen zwei schönen Löwen aus numidischem Marmor, der nicht weniger hart ist als der Porphyr, farbliche Riffelungen aufweist und ein wenig Dunkelgrau enthält. Auch der Parangon- oder Prüfstein, den man auf Lateinisch Lapis lydius nennt und mit dem man Gold und Silber prüft, ist vom gleichen Härtegrad. Es existiert [in diesem Material] eine überlebensgroße Statue eines Hermaphroditen im oben erwähnten Palazzo S. Giorgio. Aber der Serpentin ist am beschwerlichsten und rebellischsten und zwar so sehr, dass man ihn meines Wissens nie für etwas anderes verwendet hat, als um daraus Tafeln zu machen. Er schleift sich mit extremer Mühe, Geduld und Zeitaufwand mittels Schmirgelpulver und einer scharfen Säge, die ihn nach und nach aushöhlt und annagt. 1 2
Palazzo della Cancelleria, Residenz von Raffaele Riario, Kardinaldiakon von San Giorgio Pantheon
Übersetzung: Andreas Plackinger
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Kommentar 1503 hatte der Verleger Aldus Manutius in Venedig die Statuenbeschreibungen des spätantiken Rhetors Kallistratos (vermutl. 3./4. Jh. n. Chr.) in gedruckter Form vorgelegt. Blaise de Vigenères 1597 postum erschienene Description de Callistrate bietet die früheste Übersetzung dieses Textes aus dem Altgriechischen überhaupt.1 Die Skulpturenschilderungen waren Teil der Fortsetzung (Suite) von Vigenères bereits 1578 unter dem Titel Les Images publizierter französischer Übertragung der Gemäldebeschreibungen oder Eikónes des Philostrat (um 165/170–244/249 n. Chr.). Ebenso wie bei den deutlich umfangreicheren Images de Philostrate liefert Vigenère mit seiner Description de Callistrate mehr als eine Übersetzung von Kunstliteratur des Altertums: Beide Texte werden von ausführlichen Kommentaren begleitet, die den jeweiligen Quellentext an Umfang bei weitem übersteigen. Die sich meistenteils weit vom ursprünglichen Betrachtungsgegenstand entfernende assoziativ-mäandernde Gedankenführung dieser annotations ist auch am oben zitierten Textausschnitt nachvollziehbar, der Vigenères Kommentar zu Kallistratos‘ Beschreibung einer Satyr-Statue – der ersten von 14 Skulpturenschilderungen – der 1602 erschienen Auflage der Suite de Philostrate entnommen ist.2 Der aus dem Bourbonnais stammende und lange Zeit als Sekretär im Dienst der Herzöge von Nevers und später des französischen Hofes tätige Universalgelehrte Blaise de Vigenère (1523–1596) ist nicht nur als Autor zahlreicher kommentierter Übersetzungen von bedeutenden Werken aus dem Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und Italienischen hervorgetreten, sondern verfasste darüber hinaus Abhandlungen zu unterschiedlichsten Themen (Traicté des Comètes, 1578; Traicté des Chiffres, 1586; Traicté du Feu et du Sel, 1618, postum erschienen).3 Zwar hinterließ er kein eigenes der Kunst gewidmetes Traktat, doch finden sich in den Werken des französischen Humanisten verstreut Einschübe, die seine Kenntnis älterer und aktueller Debatten zu Fragen der Ästhetik verraten.4 Vigenère, der sich 1549–1551 und 1566–1569 in Rom aufhielt und, wie er durchblicken lässt, mit Michelangelo und Daniele da Volterra persönlich bekannt war, muss als wichtige Vermittlerfigur für den Transfer kunsttheoretischer Ideen von Italien nach Frankreich betrachtet werden – zu einem Zeitpunkt, als die schriftliche Reflexion über Kunst in seinem Heimatland noch in den Kinderschuhen steckte.5 Die vielen Neuauflagen seiner Publikationen und die Tatsache, dass Philostrat und Kallistratos in Frankreich über Jahrhunderte hinweg mit seinem Namen geradezu identisch waren, zeugen von seiner breiten Rezeption.6 Die anvisierten Adressaten seiner Übersetzungen antiker Kunstliteratur sind in antiquarisch interessierten Gelehrten- und Künstlerkreisen zu suchen.7 Es ist belegt, dass der wohl bedeutendste französische Bildhauer des Grand Siècle, Pierre Puget, eine Ausgabe der Description de Callistrate in der Edition von 1615 besaß.8 Tatsächlich bietet die annotation zu Kallistratos’ Beschreibung einer Satyr-Statue ein veritables Skulpturentraktat,9 das durch die wiederholte Nennung von Werkstandorten zuweilen an zeitgenössische Guidenliteratur erinnert.
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Dem hier ausgewählten Textabschnitt geht eine ausführliche Besprechung verschiedener bildhauerischer Gattungen (Relief, Vollplastik), ihrer antiken Gründungsmythen sowie unterschiedlicher Formen der Zeichnung als gemeinsamer Grundlage aller Künste voraus. Der letzte Aspekt verdeutlicht Vigenères Abhängigkeit vom florentinischen disegno-Diskurs.10 Indem der französische Humanist Skulptur und Malerei einander gegenüberstellt, greift er eine in Italien um die Mitte des 16. Jahrhunderts zentrale kunsttheoretische Debatte auf: den sogenannten paragone (ital. Vergleich; darin altgriech. ágon (Wett)Kampf, Wettstreit).11 Im Januar 1547 hatte der Florentiner Gelehrte Benedetto Varchi eine Briefumfrage gestartet, in der er acht Künstler, darunter Michelangelo, Jacopo Pontormo, Benvenuto Cellini und Francesco da Sangallo, um eine Stellungnahme bat, welche der beiden Künste die ranghöhere sei. Varchi selbst hat die in den Antworten formulierten Argumente in seiner Lezzione della maggioranza delle arti 1550 zusammen mit den eingegangenen Künstlerbriefen veröffentlicht.12 Blaise de Vigenère bezieht in seinem mindestens 20 Jahre später entstandenen Kallistratos-Kommentar in der paragone-Frage eindeutig Position zu Gunsten der plastischen Künste. Die Skulptur besitze einen höheren Schwierigkeitsgrad, der sich bereits daran erkennen lasse, dass Michelangelo eine Vielzahl an menschlichen Figuren mittels Farben, jedoch im Vergleich dazu nur relativ wenige Gestalten in Marmor geschaffen habe. Zwar äußert Vigenère, dass die Schwierigkeit der Bearbeitung von Stein nicht allein in Gewicht und Härte des Stoffes begründet liege – so weist er etwa an anderer Stelle auf die in der paragone-Diskussion vorgetragene Vielansichtigkeit des dreidimensionalen Mediums hin13 –, dennoch umkreist sein Text unaufhörlich den Aspekt des Materialwiderstandes. Aufschlussreich ist das Vokabular, mit dem die dureté, also die Härte des Steins, vor Augen geführt wird. In wörtlicher Übersetzung werden der Werkstoff allgemein sowie seine diversen Unterarten – teilweise in Abgrenzung zu anderen Materialien wie Lehm, (Eben-)Holz oder Elfenbein – als weniger „umgänglich“ (traitable), als „rebellisch“ (rebelle), als „eigensinnig“ (opiniâtre) oder „ungehorsam“ (désobéissant) charakterisiert. Durch diese Wortwahl wird Stein zu einem quasi-menschlichen Gegenüber des Bildhauers. Die Vorstellung eines Kampfes von ‚Mann gegen Materie‘ teilt sich auch in Vigenères lebendiger Schilderung von Michelangelos rigorosem Umgang mit dem Marmor mit – ein Bericht, der sich weder auf die Biographie des Meisters von Ascanio Condivi, noch auf die Vita des Universalgenies aus der Feder Giorgio Vasaris zurückführen lässt, und damit (zumindest im Hinblick auf das Klischee der eruptiven Schöpferkraft des Bildhauers) eine Quelle ersten Ranges darstellt: Mit Ungestüm (impétuosité) und Wut (furie), immer auf dem schmalen Grad zur Destruktion operierend, schlägt der Künstler größere Brocken aus einem Block „sehr harten Marmors“ (d’un très dur marbre). Der Schaffensexzess, der sich bereits darin ausdrückt, dass der wenig rüstige Mann in einer Viertelstunde körperlich mehr leistet „als drei junge Steinmetze in drei oder vier hätten tun können“ (que trois jeunes tailleurs n’eussent pu faire en trois ou quatre), geht mit einem hohen Maß an Präzision einher. Vigenère erwähnt außerdem einen weiteren im paragone-Streit wiederholt angesprochenen Aspekt der difficoltà der Arbeit in Stein: die Unmöglichkeit des
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Abb. 7 Michelangelo: Blatt mit Davidstudie, Armstudie und Aufschrift, 1501/02, Feder, 26,3 × 18,8 cm, Paris, Musée du Louvre
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Nachbesserns, sobald ein verfehlter Schlag zu viel Material vom Statuenkörper abgetragen hat.14 Das Szenario eines wütenden – wenn auch nicht blindwütigen – Angriffs, das Vigenère entwirft, wird wenige Zeilen später erneut heraufbeschworen: Francesco del Tadda habe die „Kühnheit“ (hardiesse) besessen, über den ungehorsamen (désobéissante) Porphyr herzufallen. Eine Michelangelo-Zeichnung aus dem Louvre ruft einen ähnlichen Assoziationshorizont auf (Abb. 7):15 Das Blatt zeigt den Entwurf für einen stehenden David, der seinen Fuß auf das abgeschlagene Haupt des Riesen Goliath stellt. Rechts daneben ist in mehr als voller Länge der Figur ein einzelner Arm skizziert, der demjenigen von Michelangelos marmornem David (Florenz, Galleria dell’Accademia) entspricht, der in zeitgenössischen Quellen als Il Gigante bezeichnet werden sollte. Die beiden Zeichnungen begleitet folgender Wortlaut in der Handschrift des Künstlers: „David mit der Schleuder / und ich mit dem Bogen / Michelagniolo“ (Davicte cholla Fromba / e io chollarcho / Michelagniolo). Als „kleiner Bogen“ (archetto) wurde ein Bildhauerwerkzeug bezeichnet, bei dem ein Bohrer durch eine bogenförmige Vorrichtung in Bewegung gesetzt wurde. Michelangelos Hinweis auf seinen ‚Bogen‘, also eine Waffe, den er zu Davids Schleuder in Bezug setzt, spielt vermutlich auf genau dieses Werkzeug an – die Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Marmorblock des Gigante wird zum Analogon von Davids Kampf gegen Goliath, das Material zum gefürchteten Gegner. An seinen Augenzeugenbericht von Michelangelos Arbeit schließt Vigenère eine ausführliche Beschreibung verschiedener Gesteinsarten an, wobei er mit den härtesten Werkstoffen beginnt und damit die Mühseligkeit des bildhauerischen Schaffensprozesses suggeriert. Bei wiederholter Lektüre der Textpassage wird jedoch deutlich, dass der Übergang vom michelangelesken Atelier in die Welt des Porphyrs und des Serpentin (bei Vigenère dem Marmor zugerechnet) fragwürdig ist – denn keine der beiden Steinsorten diente Michelangelo jemals als Arbeitsmaterial. Vigenère selbst betont sogar, dass sich seit der Antike nur ein einziger Künstler, der in Florenz und Rom tätige Francesco del Tadda, an den Porphyr heran gewagt habe. Um das Material Stein zu bezwingen, braucht es nach Vigenère nicht nur Kraft, sondern auch ein hohes Maß an Geschicklichkeit, das den Bildhauer dazu befähige gleichfalls alle anderen Materialien zu beherrschen, womit die Steinbearbeitung als Königsdisziplin plastischer Kreation erscheint. Unter diesem Gesichtspunkt macht es Sinn, dass die Aufzählung von Gesteinsarten, die sich über den hier wiedergegebenen Textausschnitt fortsetzt, mit dem purpurfarbenen Porphyr anhebt, der mit imperialen Konnotationen verknüpft war.16 Die Beschreibungen, die der französische Humanist liefert, bestechen durch die detaillierte Erfassung der optischen Qualitäten des Porphyrs und des Serpentins und das große Interesse des Autors an technischen Aspekten der Bearbeitung. Verschiedene Werkzeuge werden ebenso erwähnt wie das Nachschärfen der Arbeitsinstrumente oder der Einsatz von Schmirgelpulver. Die Betonung der extremen Mühe (extrême peine) entspricht der mehrmaligen Erwähnung der estrema fatica corporale im Antwortschreiben des Bildhauers Francesco da Sangallo auf Benedetto Varchis Briefumfrage (1547), das den erhöhten Schwierigkeitsgrad
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der Herstellung von Skulptur und daraus abgeleitet deren Vorrang vor der Malerei postulierte.17 Auch direkte Anleihen an Benvenuto Cellinis Skulpturentraktat (1568) sind bei Vigenère zu erkennen.18 Bereits Cellini hatte einen Überblick über verschiedene Gesteinsarten geliefert und in seinem sehr kurzen Kommentar zum Porphyr Francesco del Tadda (1497– 1585) erwähnt, der heute kaum mehr bekannt, jedoch in Florenz mit einer Justitia-Statue in langem Gewand auf der Säule gegenüber von Santa Trinità präsent ist.19 Wenn Vigenère schreibt, dass Francesco del Taddas Werke nur mit Unterstützung eines großzügigen Mäzens geschaffen werden konnten, greift er damit einen weiteren Aspekt auf, den Francesco da Sangallo in seinem paragone-Brief in Zusammenhang mit dem Werkstoff Stein thematisierte: Kostenaufwand und Schwierigkeit der Materialbeschaffung.20 Dass Vigenère nicht nur die Schriften Cellinis kannte, sondern ebenfalls aus den Texten Vasaris schöpfte, liegt nahe. Die eher ‚diffuse‘ Rezeption vasarianischen Gedankengutes durch Vigenère bliebe im Einzelnen noch zu klären.21 Auffällig ist jedoch, dass Vasaris Einführung in die drei Künste des disegno in seinen Vite mit einer ausführlichen Besprechung des Porphyrs und anderer Gesteinsarten einsetzt, und dabei der Fiesolaner Francesco del Tadda sowie vereinzelt die gleichen Beispiele für die Verwendung des edlen Werkstoffes genannt werden, wie später bei Vigenère.22 Obwohl Vigenères Text also ohne jeden Zweifel auf der florentinischen Kunstliteratur des mittleren Cinquecento fußt und dabei zuweilen die Grenze zur Paraphrase oder reinen Übersetzung überschreitet, benennt er explizit nur römische Beispiele für plastische Arbeiten, wenn es darum geht, die in der annotation aufgeführten Gesteinsarten zu illustrieren: etwa das sogenannte Grab des Bacchus aus Porphyr oder einen Hermaphroditen aus „Parangon- oder Prüfstein“.23 Vigenère bewegt sich auf klassischem, antikem Boden, jedoch immer im Bewusstsein des Kunstgeschehens seiner Zeit. Der Werkstoff Stein ist bei ihm verbindendes Element zwischen den ‚Alten‘ und den ‚Modernen‘. Das antike Wissen, das der französische Humanist Blaise de Vigenère mit seinen Übersetzungen an seine Landsleute weitergab, war für ihn keinesfalls Selbstzweck, sondern sollte zur Entwicklung theoretischer Reflexion und eines differenzierten Vokabulars für den Bereich der visuellen Künste in Frankreich beitragen.24 Andreas Plackinger
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Vgl. die Einleitungen in Balbina Bäbler u. Heinz-Günther Nesselrath (Hg.): Ars et Verba. Die Kunstbeschreibungen des Kallistratos, München/Leipzig 2006, vor allem S. 2–6 und in Blaise de Vigenère: La Description de Callistrate de quelques statues antiques tant de marbre comme de bronze (1602), hg. v. Aline u. Michel Magnien, Paris 2010, vor allem S. 10–16 u. S. 19. Die Erstauflage der Suite von 1597 ist dermaßen schwer auffindbar, dass zuweilen ihre Existenz angezweifelt wurde, vgl. die Einleitung in Blaise de Vigenère: Philostrate. Les images ou tableaux de platte-peinture. Traduction et commentaire de Blaise de Vigenère (1578), hg. v. Françoise Graziani, Paris 1995, 2 Bde. (Textes de la Renaissance, 3), Bd. 1, S. lxxif.
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Blaise de Vigenère 3 Vgl. Maurice Sarazin: Blaise de Vigenère Bourbonnais. Introduction à la vie et l’œuvre d’un écrivain à la Renaissance, Charroux-en-Bourbonnais 1997; Vigenère 1995, Bd. 1, S. xlii–xliv; Vigenère 2010, S. 8f. Vigenère übersetzte u.a. Ciceros De Oratore (1575), Tacitus‘ Germania (1575), alttestamentliche Psalmen (1587) und Tassos Gerusalemme liberata (1595). 4 Denyse Métral: Blaise de Vigenère. Archéologue et critique d’art (1523–1596), Paris 1939, S. 80. 5 Ebd., S. 86, 92 u. 181. 6 Auf die Erstpublikation der Description de Callistrate in der Suite de Philostrate (1597) folgten binnen 40 Jahren sechs Neueditionen (1602, 1615, 1629, 1630 und zwei Editionen 1637); vgl. Vigenère 2010, S. 19f.; Vigenère 1995, Bd. 1, S. i. 7 Métral 1939, S. 91. 8 Vigenère 2010, S. 20. 9 Métral 1939, S. 89; Richard Crescenzo: Peintures d’instruction. La postérite littéraire des Images de Philostrate en France de Blaise de Vigenère à l’époque classique, Genf 1999 (Travaux du Grand Siècle, 10), S. 111. 10 Crescenzo 1999, S. 109. Zum disegno-Begriff Giorgio Vasari: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler, übers. v. Victoria Lorini, hg. v. Matteo Burioni u. Sabine Feser, Berlin 2010, S. 213–217. 11 Zum paragone-Begriff Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 261–265, s. v. „Paragone“ (Hannah Baader); Benedetto Varchi: Paragone. Rangstreit der Künste. Italienisch-deutsch, hg. u. übers. v. Oskar Bätschmann u. Tristan Weddigen, Darmstadt 2013, S. 9–16. 12 Vgl. die Einleitung in Varchi 2013, S. 35–42 u. S. 47–54. 13 Vigenère 2010, S. 50 (nicht abgedruckt); vgl. Varchi 2013, S. 182f. (Due Lezzioni, Disputa seconda), S. 224f. (Brief Agnolo Bronzinos), S. 252f. (Brief Francesco da Sangallos), S. 272f. (Brief Benvenuto Cellinis). 14 Vgl. Varchi 2013, S. 182f. (Due Lezzioni, Disputa seconda), S. 224f. (Brief Agnolo Bronzinos), S. 256–259 (Brief Francesco da Sangallos). 15 Dazu Andreas Plackinger: Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunst diskurs, Berlin/Boston 2016 (Actus et Imago, 17), S. 134–137. 16 Porphyre. La pierre pourpre, des Ptolémées aux Bonaparte, hg. v. Philippe Malgouyres u. Clément Blanc-Riehl, Ausstellungskatalog, Musée du Louvre, Paris 2003. 17 Varchi 2013, S. 256f.; vgl. auch S. 250f. 18 Métral 1939, S. 171f. u. S. 177. 19 Benvenuto Cellini: Abhandlungen über die Goldschmiedekunst und die Sculptur, übers. v. Justus Brinckmann, Leipzig 1867, S. 152. 20 Vgl. Varchi 2013, S. 253 (Brief Francesco da Sangallos). 21 Aline Magnien: Giorgio Vasari chez Blaise de Vigenère, in: Corinne Lucas Fiorato u. Pascale Dubus (Hg.): La Réception des Vite de Giorgio Vasari dans l’Europe des XVIe-XVIIIe siècles, Genf 2017, S. 233–246, hier S. 236. 22 Vgl. Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei, übers. v. Victoria Lorini, hg. v. Matteo Burioni, Berlin 2006, S. 25–32. Die in Vigenères Text mit „Geheimnis der Alten“ umschriebene Technik verweist übrigens auf die Verwendung
La Description de Callistrate von Bocksblut, vgl. hierzu Friedrich Ohly: Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976. Für den Hinweis danke ich Iris Wenderholm. Siehe auch die Kommentare zu Physiologus und zu Vasari im vorliegenden Band. 23 Auch Vasari verweist auf den Porphyrsarkophag aus Sant’Agnese fuori le mura, der sich heute in den Vatikanischen Museen befindet, ohne indes den Beinamen „Grab des Bacchus“ zu bemühen. Darüber hinaus nennt Vasari explizit florentinische Porphyrarbeiten, vgl. Vasari 2006, S. 27 u. S. 29ff. 24 Vgl. Gabriella Rèpaci-Courtois: Blaise de Vigenère et l’expérience des arts visuels, in: Blaise de Vigenère, poète et mythographe au temps de Henri III, Paris 1994 (Cahiers V. L. Saulnier, 11), S. 101–110.
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Gemmarum et lapidum Historia 1609 Ad Lectorem, Inter omnes, benevole Lector, qui de lapidibus, ac gemmis scripserunt, ac ad manus meas pervenerunt, nulli hactenus peculiari aliqua methodo usi sunt. Nam alii secundum alphabeti ordinem, ut Plinius, Albertus Magnus, et Ludovicus Dulcis, alii promiscue ut Franciscus Rueus, ac Andreas Baccius de iis tractarunt. Solus quod sciam Gesnerus in classes, vel a similitudine, vel nominibus rerum sumptas, gemmas, et lapides discrevit. Quia vero Gesneri methodus propter varias causas, quas hic recensere longum esset, mihi non placebat, a rarioribus, et carioribus tractationem incipere, mihi gemmis ipsis dignius esse magisque convenire videbatur. Itaque a diaphanis, ut ab Adamante omnium gemmarum pretiosissima, diaphana, nulloque colore praedita, exordium sumpsi. Deinde ab ea ad diaphanas colore praeditas, et viliores gradatim progressus sum. Ita tamen, ut quae eiusdem generis videbantur, licet dignitate multum inter se different, iisdem capitibus subiungerentur. Ut videre est post caput de Carbunculo, cui caeterae gemmae omnes rubrae, et diaphanae licet viles subsequuntur, ut Granatus, Amethistus, Hyacinthus etc.
An den Leser. Unter allen, lieber Leser, die bisher über Steine und Edelsteine geschrieben haben und mir in die Hände gelangten, hat bisher keiner eine spezielle Methode gebraucht. Denn die einen haben über diese in alphabetischer Reihenfolge gehandelt, wie Plinius, Albertus Magnus und Ludovico Dolce, andere taten dies vermischt, wie Franciscus Rueus und Andrea Bacci. Als einziger, den ich kenne, hat Gessner in Klassen, nach Ähnlichkeiten oder nach Bezeichnungen der behandelten Dinge, Edelsteine und Steine beschrieben. Weil aber die Vorgehensweise Gessners aus verschiedenen Gründen, die hier zu referieren zu weit führt, mir nicht gefiel, erschien es mir den Edelsteinen angemessener und passender, bei den selteneren und wertvolleren die Abhandlung zu beginnen. Deshalb machte ich mit den Durchsichtigen den Anfang, wie dem Diamanten als wertvollstem aller Steine, der durchsichtig und mit keiner Farbe behaftet ist. Danach bin ich von dort aus zu den Durchsichtigen mit Farbeigenschaften und zu den weniger Wertvollen übergegangen. Und zwar derart, dass diejenigen, die gleicher Art zu sein schienen, demselben Kapitel zugeordnet wurden, auch wenn sie sich hinsichtlich der Wertschätzung stark unterscheiden. Wie es deutlich wird nach dem Kapitel zum Karfunkel, dem alle anderen roten und durchscheinenden
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als mindere nachfolgen, wie Granat, Amethyst, Hyazinth usw. Liber I
Buch I
Caput I. De Lapidum, Gemmarumque definitione, et divisione Naturalem cuiusque rei scientiam adipiscimur, dum sub quo genere res contineatur, et quo pacto ab aliis rebus vere differat, id est, quos affectus producat, quam formam, et figuram habeat, ac ex quibus constet, cognoscimus. De gemmis itaque, ac lapidibus in specie scripturus opere precium videtur, ut non solum quid lapis, aut gemma in genere vocetur, explicem; sed etiam in differentias, species, vel classes distribuam, ut hoc modo singulorum lapidum, vel gemmarum a sese mutuo differentia, ac exinde natura, et essentia facilius dignosci, et perspici possit. Differentia enim rem a re distinguit, ac quo pacto hoc aliud non sit, ostendit. Dum essentialis est, essentiam rei in apertum profert, dum accidentalis ignotae essentiae tantum index est. Accidentalis ea est, quae ab extrinseca figura, ac qualitatibus sumitur. Essentialis quae ab effectu, effectuum causis, forma, ac materia depromitur. Verum haec non facile in gemmis, et lapidibus […]
Kapitel I. Über Definition und Unter scheidung von Steinen und Edelsteinen Naturwissenschaftliche Kenntnis einer Sache erreichen wir, wenn wir erkennen, zu welcher Art ein Ding zählt, auf welche Weise es sich von anderen Dingen unterscheidet, das heißt, welche Effekte es bewirkt, welche Gestalt und Figur es hat und woraus es besteht. Im Begriff über Edelsteine und Steine speziell zu schreiben, scheint es der Mühe wert zu sein, dass ich nicht nur erkläre, was generell als Stein oder Edelstein bezeichnet wird, sondern auch nach Unterschieden, Arten oder Klassen differenziere, damit auf diese Weise die gegenseitigen Unterschiede und von daher Natur und Zustand leichter erkannt und durchschaut werden können. Der Unterschied nämlich scheidet eine Sache von der anderen und zeigt auf diese Weise, dass dies so und nichts Anderes ist. Indem [der Unterschied] grundsätzlich ist, bringt er die grundsätzliche Beschaffenheit einer Sache zum Vorschein, wenn er aber zufällig ist, gibt er nur einen Hinweis auf die unbekannte Beschaffenheit. Zufällig ist das, was aus äußerer Gestalt und Zustand geschlossen wird. Grundsätzlich ist, was aus der Wirkung, den Gründen der Wirkung, der Form und der Stofflichkeit gezogen wird. Aber das ist bei Edelsteinen und Steinen nicht leicht […]
Gemmarum et lapidum Historia
Caput XXIII. De gemmarum, vel lapidum scalptura Scalpturam voco rudem gemmae vel lapidis ante polituram praeparationem, qua in for mam optatam sibi convenientem, ut aspectui gratus sit, redigitur. Si ignobilior fuerit lapis, ut Iaspis, Achates, aut marmor, aut multum superflui habeat, ut gemmae saepe habent, prius cote aquatica et versatili, in formam redigitur rudiorem. Deinde Smiris lapidis pulvere crassiore, ad exactiorem formam, supra orbem stanneum elaboratur, ac postmodum terra Tripolitana politur ut splendeat. Solus Adamas propter summam duritiem proprio tantum pulvere teritur et formatur. Qui aliis gemmis figuras insculpunt, aut eas excavant, illi etiam Adamanti pulvere utuntur, si citius opus absolvere velint, ac terendo id perficiunt, in quem scopum orbiculus ferreus versatilis, iugi et celerrima rotatione pulverem Adamantis sculpendae gemmae affricans, eam paulatim excavat. Ferro siquidem chalibe solo, quantumvis duro, gemmae excavari absque fracturae periculo, et ut oportet, non possunt; Marmora et Saxa possunt. Qui molliores gemmas excavare debent , aut non festinant, ut cito opus absolvant, Smiri pulvere utuntur Adamantis vice. Hoc enim post Adamantem nullus durior et illi operi aptior, viliorque reperitur.
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Kapitel XXIII. Über das Schneiden von Edelsteinen und Steinen Schneiden nenne ich die grobe Vorbereitung eines Edelsteins oder Steins vor dem Schleifen, durch welches er in eine angestrebte ihm zuträgliche Form gebracht wird, damit er einen schönen Anblick bietet. Wenn es ein weniger edler Stein ist, wie Jaspis, Achat oder Marmor, oder viel Überflüssiges hat, wie es Edelsteine häufig haben, wird er zunächst mit dem feuchten und drehbaren Wetzstein in die gröbere Form gebracht. Dann wird er mit dem derberen Pulver des Smiris zur genaueren Form über einer Blechkugel bearbeitet, schließlich mit tripolitanischer Erde poliert, damit er glänzt. Nur der Diamant wird wegen seiner besonderen Härte allein mit dem eigenen Staub geschliffen und geformt. Diejenigen, die anderen Steinen Figuren einschneiden oder gravieren, benutzen auch Diamantstaub, wenn sie ein Werk schneller erledigen oder dies durch Polieren vollenden wollen. Zu welchem Zweck ein bewegliches Metallkügelchen in beständiger und schneller Drehung den Diamantstaub dem zu schneidenden Edelstein einschleift und diesen schließlich ausgräbt. Mit Eisen oder Stahl allein, wie hart auch immer, können Edelsteine ohne Bruchgefahr und in angemessener Weise nicht geschnitten werden, Marmore und andere Steine dagegen schon. Wer weichere Edelsteine bearbeiten muss oder sich nicht beeilt, die Arbeit schnell zu erledigen, benutzt Staub des Smiris an Stelle des diamantenen. Nach dem des Diamanten ist nämlich keiner härter und für die Aufgabe geeigneter, doch ist er leichter zu beschaffen.
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Caput XXV. An Gemmae vires et facultates habeant Multi inepte existimant gemmas nullas prorsus habere vires, alii illis tantum elementales facultates concedunt, ut calefaciendi, refrigerandi, humectandi, siccandi, astringendi, indurandi, extenuandi, incrassandi, obstruendi, aperiendi, exedendi et similes, quae ex iis sequuntur, atque a materiae constitutione et temperamento proveniunt. Alii rursus peculiares quasdam facultates a forma et essentia manantes singulis tribuunt gemmis, persuasi Magnetis exemplo, qui ferro uniri ac ad terrae plagas suas accomodare cupit. Alii supranaturales vires et facultates gemmas habere volunt a caelo, quae neque materiae, neque formae asscribi possunt. Nullas prorsus habere gemmas et lapides vires insanum est affirmare, et contra omnem experientiam, ac propterea longiorem confutationem non meretur. Habere autem ab elementis, materia et essentia, seu forma vires, non solum magnes et succinum; Sed Hematites, Iaspis, aliique lapides experientia certissima convincunt. De supranaturalibus virtutibus maior est difficultas. Complures enim sunt qui habere negent, supranaturales voco non solum eas quae ab ordinariis naturae instrumentis fieri non possunt, ut invisibilem aliquem facere, (quae facultas Ophthalmio) aut solem obscurare (quae Heliotropio tribuitur) sed eas omnes quas natura ignorat aut quae a rebus inanimatis fieri non possunt, absque rerum animatarum consensu, aut ope. Tales sunt, eloquentem, pauperem, acceptum omnibus, divitem, fortunatum, tutum et securum aliquem facere. Alii e
Kapitel XXV. Ob Edelsteine über Kräfte und Fähigkeiten verfügen Viele glauben naiv, dass keinerlei Edelsteine über weitergehende Kräfte verfügten, andere gestehen einigen elementare Fähigkeiten zu, wie die des Erwärmens, Abkühlens, Befeuchtens, Trocknens, Anziehens, Verhärtens, Verdünnens, Verdickens, Verstopfens, Öffnens, Herausführens und ähnlichem, das aus diesen folgt und aus Zustand und Mischung der Materie hervorgeht. Andere wieder schreiben bestimmte Fähigkeiten, die sich aus Form und Beschaffenheit ergeben, einzelnen Edelsteinen zu, überzeugt durch das Beispiel des Magneten, der sich dem Eisen zu vereinigen und den heimischen Landen zuzuneigen erstrebt. Andere wollen, dass Edelsteine übernatürliche Kräfte und Fähigkeiten vom Himmel her haben, die weder dem Material noch der Gestalt zugeschrieben werden können. Zu behaupten, dass Edelsteine und Steine keinerlei Kräfte haben, ist unvernünftig, gegen jede Erfahrung und verdient deshalb keine längere Widerlegung. Sie haben diese Kräfte aber aufgrund der Elemente, Zusammensetzung, Beschaffenheit oder Form, nicht nur Magnet und Bernstein, sondern auch Hämatit, Jaspis und andere Steine bezeugen dies durch besonders sichere Erfahrung. Hinsichtlich der übernatürlichen Kräfte besteht eine größere Schwierigkeit. Es gibt einige, die bestreiten, dass sie diese haben, und übernatürlich nenne ich nicht nur solche, die durch gewöhnliche Naturkräfte nicht geschehen können, wie jemanden unsichtbar machen (welche Fähigkeit dem Ophthalmius) oder die Sonne zu verdunkeln (welche dem Heliotrop zugeschrieben wird), sondern all diese,
Gemmarum et lapidum Historia
contra huiusmodi vires a gemmis effici approbante id experientia existimant. Ac praecipue exemplo Adamantis quem pontifex sancta sanctorum ingrediens gestabat in pectore ac colorem aereum, si Iudaei contra Deum peccarant in nigrum convertebat. Item Smaragdi, qui adulteria prodit, et Turcoidis quae casus pericula excipit. Sed ut meam sententiam adferam per gemmas saepe admiranda facta fuisse non nego; a gemmis tamen tanquam mixtis naturalibus non nisi naturalia effici posse assero. Si supernaturale quid per gemmas aut lapides fiat, aut naturale, quod tamen a gemma vel lapide fieri posse, doctis non videtur, quia connexio causae cum effectu nulla probabilis inveniri potest; id non gemmis, vel lapidibus, sed alteri causae, occultae vel supranaturali videlicet asscribendum est, quae idem per quodvis subiectum agere, potest si vult. Causa supernaturalis et agens est Deus, angelus bonus et malus. Bonus Dei voluntate, malus Dei permissu. Nam astra a quibus supranaturales in gemmas facultates secundum multorum opinionem mittuntur, nihil contra naturam efficere, nec animantium voluntatem et libertatem inclinare aut cogere ad aliquid agendum, nec gemmis dare quas ipsa non habent facultates, possunt. Divitiarum et castitatis donum quod non habent, et natura ipsa ignorat, quo pacto gemmis dare, ut id hominibus impertiantur, non video. […] Sed multi ut has supranaturales vires gemmis inesse et a caelo stellisve accepisse probent; experientiam allegant, quam refelli non posse putant. Verum opere precium hic est declarare quid necessarium sit, ut quis experientiae niti possit. Dum aliquid
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die die Natur nicht kennt, oder die durch unbeseelte Dinge nicht geschehen können ohne Zustimmung oder Vermögen belebter Dinge. Solches ist den Eloquenten, Armen, von allen Akzeptierten, Reichen, Beglückten, Sicheren und Geschützten zu einem anderen zu machen. Andere glauben im Gegenteil, dass Kräfte dieser Art von Steinen ausgeübt werden, und zwar bewiesen durch Erfahrung. Und dies besonders durch das Beispiel des Diamanten, den der Papst beim Eintritt in Sancta Sanctorum auf der Brust trägt und der seine blaue Farbe in Schwarz änderte, wenn Juden gegen Gott sündigten. So auch das Beispiel des Smaragds, der Ehebruch zu Tage bringt, oder des Türkis, der die Gefahren des Stürzens auffängt. Um meine Meinung hinzuzugeben, ich leugne nicht, dass durch Edelsteine oftmals bemerkenswerte Dinge geschehen sind. Von Edelsteinen, das bekräftige ich, kann nichts Anderes als Natürliches bewirkt werden. Wenn aber etwas Übernatürliches, was durch Edelsteine oder Steine geschieht, den Gelehrten aber nicht natürlich zu sein scheint, weil keine wahrscheinliche Verbindung von Ursache und Wirkung gefunden werden kann, dann ist es nicht Edelsteinen oder Steinen, sondern einer anderen Ursache, natürlich oder übernatürlich, zuzuschreiben, die dasselbe durch irgendetwas Naheliegendes bewirken kann, wenn es will. Eine übernatürliche Ursache ist entweder das Wirken Gottes, eines guten Engels oder eines bösen. Gut durch den Willen Gottes, schlecht durch seine Erlaubnis. Denn Sterne, von denen nach Meinung vieler Fähigkeiten in Edelsteine geschickt werden, können nichts gegen die Natur, nichts gegen den Willen von Lebewesen bewirken, nicht
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experientia, (quae nihil aliud est quam eiusdem rei saepius et eodem modo factae observatio) probatum volumus. Imprimis tria observare debemus, quae necessario concurrere debent, ut nos certos reddant, effectum ab illa causa quam putavimus productum esse. Primum est si effectus ab illa causa quam veram existimamus saepe facta fuit et proprie non per accidens. Secundum si nulla alia causa fuerit praesens, a qua effectus fieri potuisset. Tertium si naturae non repugnet neque absurdum sit talem effectum, a tali causa proficisci.
die Freiheit beugen oder zu irgendeiner Handlung zwingen und auch nicht den Edelsteinen Fähigkeiten geben, die sie selbst nicht besitzen. Auf welche Weise Edelsteine die Gabe des Reichtums oder der Keuschheit, die sie nicht haben und die Natur nicht kennt, verleihen sollen, so dass sie den Menschen erreicht, sehe ich nicht. […] Aber viele beteuern, dass diese übernatürlichen Kräfte den Edelsteinen eigen seien und diese sie vom Himmel und den Sternen empfangen haben. Es ist also der Mühe wert hier zu klären, was notwendig ist, wenn jemand nach Erfahrungswissen strebt; wenn wir nun eine Erfahrung bewiesen haben wollen, was nichts Anderes ist als die häufige und gleicher Art ausgeführte Beobachtung dergleichen Sache: Besonders ist Dreierlei zu beachten, das zusammen kommen muss, damit es uns sicher macht, dass die Wirkung von der Ursache bewirkt wird, die wir vermuten. Das Erste ist, wenn die Wirkung von jener Ursache, die wir annehmen, mehrfach ausgeübt wurde, und nicht durch einen Zufall. Das Zweite ist, wenn keine andere Ursache anwesend ist, von der die Wirkung ausgeübt werden könnte. Das Dritte ist, wenn es der Natur nicht zuwiderläuft, und es nicht unsinnig ist, dass eine solche Wirkung von einer derartigen Ursache ausgeht.
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Caput XIII. Loci natales magnitudo vel quomodo nascatur Rubinus Nobiliores Rubini in insula Zeilan nascuntur. Alii et minores in Coria, Calecut, Cambaia et Bisnager. Optimi flumine Pegu, quos incolae ore et lingua explorant. Nam
Kapitel XIII. Fundorte, Größe und wie ein Rubin entsteht Die edelsten Rubine entstehen auf der Insel Ceylon, andere und kleinere in Coria, Calecut, Cambaia und Bisnager. Die besten, die die Einwohner mit Gesicht und Zunge auffinden,
Gemmarum et lapidum Historia
frigidiores et duriores meliores arbitrantur. Illorum colorem igne in quo coquunt augere dicuntur. Nasci solent in quadam lapidea matrice rosei coloris, quam aliqui si perspicua fuerit Balassium Rubinum vocant. Nam si transparens gemmaeque instar non sit, ab omnibus mater aut matrix Rubinorum appellatur: Propterea quod (ut infans in utero materno sanguine nutritur) in hac Rubinus formetur, alatur ac excrescat. Primum candicat, deinde paulatim maturescens ruborem contrahit. Hinc sit quod albi et albicantes qui nondum maturi sunt reperiantur. Nascitur plerunque in eadem fodina ubi Saphiri reperiuntur. Si alimentum varium fuerit et non omnino Rubino idoneum; mixti coloris inveniuntur, nempe partim albicantes, partim rubentes, aut media parte Rubini media Saphiri, quos Indi Nilacandi quasi Saphiro Rubinos appellant. Veri Rubini satis magni reperiuntur. Rudolphus Secundus Imperator Augustus et invictissimus ac Dominus meus clementissimus, Rubinum habet qui parvi ovi gallinacei magnitudinem aequat ac ceratia pendet. Is a sorore sua Galliarum regis vidua ad ipsum haereditario iure pervenit. Illo maiorem in Europa inveniri non puto. Si quae gemma pro vero Carbunculo unquam habita fuit, illa haberi debet. Intellexi olim 60 ducatorum millibus emptam fuisse. Verum si quod rarum et pulchrum est, magno aestimari debet, ille aut inaestimabilis prorsus aut longe pluris aestimandus est. Cleopatrae Margarita 234375 ducatis aestimata fuit. Ut illa omnes sui generis pulchritudine et magnitudine superavit, ita et hic Carbunculus. Nec propterea, quod non pluris veniit,
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gibt es im Fluss Pegu. Denn kühlere und härtere werden als besser angesehen. Es heißt, dass sie deren Farbe durch das Feuer, in dem sie kochen, verbessern. Hervorgebracht werden sie aus einer steinernen Masse von rosiger Farbe, die einige, wenn sie durchscheinend ist, Balassischen Rubin nennen. Wenn sie nämlich durchsichtig ist, so ist sie das nicht nach Art eines Edelsteins und wird von allen Mutter oder Erzeugerin genannt, deshalb weil – so wie das Kind im Mutterleib durch Blut genährt wird – in ihr der Rubin geformt und ernährt wird und wächst. Zu nächst ist er weiß, dann zieht er reifend langsam Rot zusammen. So kommt es, dass weiße und noch weißliche, die noch nicht reif sind, gefunden werden. Wenn die Nahrung verschieden war und nicht gänzlich für den Rubin geeignet, werden solche von gemischter Farbe gefunden, nämlich teils weißliche, teils rötliche, in der Mitte rote oder Blaue, die die Inder Nilacandi nennen und auch Saphir-Rubine genannt werden. Es werden sehr große echte Rubine gefunden. Kaiser Rudolph II., mein unbesiegter und gnädiger Herr, besitzt einen, der in der Größe einem kleinen Hühnerei entspricht und viele Karat wiegt. Dieser gelangte von seiner Tochter, der Witwe des französischen Königs, durch Erbrecht zu ihm. Ich glaube nicht, dass man in Europa einen größeren finden kann. Wenn irgendein Edelstein einmal zu recht für einen Karfunkel gehalten wurde, dann muss dieser als solcher angesehen werden. Ich erfuhr, dass er einst für 60 000 Dukaten gekauft wurde. Wenn aber was selten und schön ist, hoch geschätzt werden muss, so muss dieser Stein unschätzbar oder noch weit höher eingeschätzt werden.
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existimandum iusto pretio fuisse venditum. Quia mercatores tanti pretii gemmas servare non possunt. Nam si otiosas pecunias aut divitias steriles habere, aut aere alieno gravati bonis cedere nolint, divendere coguntur.
Die Perle der Kleopatra wurde auf 234.375 Dukaten geschätzt. So wie jene alle anderen ihrer Art in Schönheit und Größe übertraf, so auch dieser Karfunkel. Und weil er nicht für mehr verkauft wurde, darf man nicht glauben, dass er für einen angemessenen Preis gekauft wurde, da Händler Edelsteine solchen Wertes nicht bewahren können. Denn wenn sie durch nicht zinsbringendes Geld, totes Kapital und Schulden belastet sind und nicht bankrott gehen wollen, sind sie gezwungen zu verkaufen.
Caput XIV. Rubini proprietates, qualitates et facultates Tradunt authores Carbunculum seu verum Rubinum gestatum vel ebibitum venenis vehementer resistere ac a peste praeservare, tristitiam arcere, libidinem coercere, malas cogitationes et terrentia somnia avertere, animum exhilarare, corpus incolume conservare, ac si homini infortunia instent, ea mutatione coloris in obscuriorem significare, iisque praeteritis iterum pristinum colorem recuperare. Interim tamen somnum minuere ac sanguinem nonnihil exagitare ut gestantes facile excandescant.
Kapitel XIV. Eigenschaften, Qualitäten und Fähigkeiten des Rubins Autoren überliefern, durch das Tragen eines Karfunkels oder echten Rubins könne man getrunkenem Gift gut widerstehen, vor der Pest sicher sein, Traurigkeit fernhalten, Lüsternheit bezwingen, böse Gedanken und Albträume abwenden, den Geist erheitern, den Körper gesund erhalten, und dieser könne, wenn dem Menschen Unheil bevorsteht, dies durch Veränderung der Farbe zum Dunklen anzeigen, nach dem Ereignis aber wieder die alte Farbe annehmen. In der Zwischenzeit würde er aber den Schlaf vermindern und das Blut antreiben, so dass die Träger schneller aktiv werden können.
Caput XV. Dignitas et valor Rubini seu Carbunculi Rubini dignitas dum 10 ceratiorum pondus excedit maxima est, propter gratissimum quo oculos pascit colorem. Proinde Adamantum pretio omnino aestimari potest, nec autem 10 ceratiis ulterius alia quam priori tabula, qua Adamantum pretia statuuntur opus est. Scribit Garsias
Kapitel XV. Wertschätzung und Preis der Rubine und Karfunkel Der Wert eines Rubins ist sehr groß, wenn er das Gewicht von zehn Karat übersteigt und wegen der höchst angenehmer Farbe, mit der er die Augen labt. So kann er alles in allem nach dem Preis der Diamanten geschätzt werden, wofür die obige Tabelle, in der die Preise von Diamanten aufgelistet
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ab horto 34 ceratiorum Rubinum a regulo in Decan 32 libris auri emptum, aureis Lusitaneis 20000 aestimatum fuisse, quod pretium proxime illi quod tabella ostendit, accedit. Minorum Rubinorum pretium certum vix statui potest. Hodie tamen gemmarii pretium illius ab Adamante cui associari potest Rubinus, accipiunt. Ut si videatur ex magnitudine habere 4 ceratia, valore Adamantis (modo perfectus sit et calore absoluto) qui quatuor ceratia pendet aestimetur. Eodem modo aestimantur et illi qui in tabulas redigi non possunt, ac meliores crudi quam praeparati apparent. Reliqui qui ad collaria matronarum vel mundum muliebrem exornandum eliguntur, neque exactam formam habent, non tanti aestimandi sunt, quanti qui tabulam constituunt. Qui vero tenues sunt, sed tamen colore et pulchritudine absque cavitate inferiori perfecti tanto pretio valent, quanto qui iustam crassitiem habent cum neque ponderis, neque crassitiei, sed tantum amplitudinis, coloris et perspicuitatis in illis habeatur ratio.
sind, nötig ist, jedoch nicht jenseits der zehn Karat. So beschreibt Garcia ab Horto, dass ein Rubin von 34 Karat von einem Königlein in Decan für 32 Pfund Gold gekauft worden sei und fügt hinzu, dass er auf 20.000 Lusitaner geschätzt wurde, was dem Preis nahe ist, den die Tabelle anzeigt. Der Preis kleinerer Rubine kann kaum sicher festgelegt werden. Heute aber nehmen die Juweliere seinen Preis von den Diamanten, dem der Rubin zur Seite gestellt werden kann. So dass, wenn ein Rubin von der Größe her vier Karat bei perfekter Form und Farbe zu haben scheint, er nach dem Wert eines Diamanten geschätzt wird, der vier Karat hat. Auf die gleiche Weise werden die geschätzt, die in der Tabelle nicht aufgenommen werden können und mehr roh als bearbeitet erscheinen. Die übrigen, die für Halsketten von Damen oder zum Schmuck der Damenwelt überhaupt gewählt werden, keine perfekte Form haben, sind nicht so hoch einzuschätzen, wie die, die die Tabelle bilden. Diejenigen, die dünn sind, aber dennoch durch Farbe und Schönheit perfekt und ohne Einschlüsse im Inneren, stehen so hoch im Preis wie jene, die die richtige Stärke haben, wenn es nicht um Gewicht und Stärke, sondern nur Fülle, Farbe und Durchsichtigkeit geht.
Caput XVI. Imitatio et adulterium Rubini Adulterari vel fucari solet Rubinus tribus modis. Primo dum ipsi, si absque aliqua vel pauca rubedine sit, rubra bractea, aut color, aut vitrum aliquod rubeo colore tinctum et splendens substernitur. Qui modus nonnullis ideo carere fraude putatur, quod vera gemma licet colore non proprio
Kapitel XVI. Nachahmung und Fälschung des Rubins Gefälscht oder verfälscht wird der Rubin auf drei Arten. Erstens indem jenem, der ohne Farbe oder von schwachem Rot ist, ein rotes Blatt, Farbe oder rot gefärbtes Glas glänzend unterlegt wird. Von dieser Vorgehensweise glauben einige, dass sie der Täuschung entbehrt, weil der echte Stein, wenn auch mit
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adiuta, appareat. Verum tamen fraus est pretium gemmae alieno colore augere. Ob hanc imposturam famae iacturam fecit gemmarius quidam dum Rudolphum Imperatorem invictissimum et Dominum meum clementissimum decipere conaretur. Secundo dum alia gemma nobilis candicans ut Saphirus albus, Crystallus, Topasius aut Pseudoadamas in illius locum substituitur, atque propter colorem, bracteam aliudve corpus diaphanum substratum, ita rubet et radiat, ut a vero Rubino nihil differat. Tertio dum vitri partes duae mastice ita glutinantur, ut mastix colore cocci tincta per utrumque vitri corpus ita polluceat ut verus Rubinus videatur. Horum modorum secundus et tertius usitatissimi sunt. Verum non adeo difficulter deprehenduntur. Anselmus Boetius (de Boodt): Gemmarum et lapidum Historia quam olim edidit Anselmus Boetius de Boot Brugensis, Rudolphi II. Imperatoris Medicus. Nunc vero recensuit, a mendis repurgavit, commentariis et pluribus melioribusque figuris illustravit et multo locupletiore indice auxit Adrianus Toll, Leiden 1636.
Hilfe fremder Farbe, zu sehen ist. Dennoch ist es Betrug den Wert eines Steines durch fremde Farbe zu erhöhen. Wegen einer solchen Betrügerei verlor ein gewisser Juwelier, als er den unbesiegbaren Kaiser Rudolph, meinen gnädigen Herren, zu täuschen versuchte seinen guten Ruf. Zweitens, wenn ein anderer Stein von edler Leuchtkraft wie ein weißer Saphir, ein Kristall, Topas oder Pseudodiamant an seine Stelle gesetzt wird, für die Farbe aber ein Blatt oder ein durchscheinendes Ding unterlegt wird, und er so rot leuchtet, dass er sich vom echten Rubin nicht unterscheidet. Drittens, indem zwei Glasteile mit Harz der Art verbunden werden, dass das mit der Schildlaus gefärbte Harz so durch beide Glasteile scheint, dass es als echter Rubin erscheint. Von diesen drei Methoden, sind die zweite und dritte am gebräuchlichsten. Sie sind aber nicht so schwer zu entlarven. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Das wohl einflussreichste frühneuzeitliche Handbuch der Edelsteinkunde, die Gemmarum et lapidum Historia des Anselm de Boodt, erschien erstmals 1609, erlebte zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen.1 Ihr Autor stammte aus dem Patriziat der Stadt Brügge, war von Hause aus sehr wohlhabend, studierte an verschiedenen europäischen Universitäten, zuletzt Medizin in Padua und Heidelberg, gelangte 1583 an den Prager Hof Rudolph II., wurde einer der kaiserlichen Leibärzte, erhielt ein Kanonikat in Brügge,2 wirkte in den alchemistischen Kreisen des Hofes, denen er später vehement entgegentrat, und war in größter Breite naturwissenschaftlich tätig, wofür er sein beachtliches zeichnerisches Talent einsetzte.3 Wie tief er in die kulturellen Aktivitäten des Kaiserhofes verstrickt war, zeigt etwa, dass er den dritten Band des Impresenhandbuchs des Jacobus Typotius kommentierte und herausgab.4 Mit der
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Kunstkammer Rudolph II. und speziell dessen Edelstein- und Mineraliensammlung war er aufs Beste vertraut.5 In seinem Buch verweist er beständig auf Steine und Kunstwerke aus Edelsteinen, die im Besitz seines kaiserlichen Brotherren waren, wobei er gern Anekdotisches zu Erwerb und Provenienz, aber auch Kaufpreise und geschätzte Werte mitteilt.6 Seine naturwissenschaftlichen Studien umfassten Botanik und Zoologie, aber auch Instrumentenkunde, Medizin und, hier vor allem interessant, Steine und Edelsteine.7 De Boodt kannte die wissenschaftliche Elite seiner Zeit, war mit der früheren Literatur bestens vertraut, was sich besonders in seiner häufigen Distanzierung von bestimmten Autoren, Meinungen und Einschätzungen zeigt. In den ausgewählten und aus dem lateinischen Originaltext übersetzten Exzerpten betrifft dies etwa Gessner und dessen Systematisierungen,8 aber auch Paracelsus, Alchemisten allgemein, und deren Glaube an astrologische Einwirkungen oder psychotrope Valenzen von Edelsteinen im Besonderen. De Boodt beruft sich im Vorwort seines Handbuchs, das Steine erstmals systematisch erfassen sollte, auf die Methode wiederholbarer Beobachtung zur Erklärung von Ursache und Wirkung im Rahmen der Naturgesetze, wie sein oben wiedergegebenes methodisches Credo dokumentiert. Er verwendet gern aristotelische Kategorien und Begrifflichkeiten, etwa wenn er essentialia und accidentialia streng, doch wenig überzeugend unterscheidet. Auch sein Eintreten für eine Atomtheorie kollidiert mit der Übernahme traditioneller Vorstellungen von Stofflichkeit und Edelsteinentstehung. Es dürfte einer der interessantesten und amüsantesten Aspekte des Werkes sein, dass De Boodt seinen empirischen Grundsätzen sorgfältiger Beobachtung und Erkenntnisableitung treu bleibt, bei der Wahl der zugrunde gelegten Daten und herangezogenen Exempel allerdings Opfer seines wohl überzeugten katholischen Glauben wird, wenn er im Kapitel über Fähigkeiten und Wirkungen von Steinen Übernatürliches streng zurückweist, gewisse Wirksamkeiten und Fähigkeiten aber als bewiesen ansieht. Als belegendes Exempel führt er unter anderem den Diamanten des päpstlichen Pektorales an, der sich im Fall eines antichristlichen Frevels von jüdischer Seite dunkel verfärbe. Auch die Verdunkelung eines Rubins bei bevorstehendem Schicksalsschlag für seinen Träger sieht er aus eigener Erfahrung als bewiesen an. Wie nahe diese Passagen im Text den streng zurückgewiesenen alchemistischen Überzeugungen von astrologisch bedingter Akkumulation übernatürlicher Edelsteinkapazitäten stehen, verdeutlicht, wie tief der Autor, bei aller methodischen Vorsicht, in den Traditionen der Edelstein-Mystik steht, sei es hinsichtlich derartig vorausweisender Kapazitäten, sei es hinsichtlich medizinischer Wirkungspotentiale oder geologischer Entstehungstheorien. Der langwährende Erfolg des Werkes wiederum zeigt das hartnäckige Fortwirken derartiger Traditionen in der Frühen Neuzeit. Ungeachtet dieser Ambivalenzen ist das Werk von hohem systematischen Anspruch: Das erste Buch behandelt methodische Grundlagen, Überblicke zu Wissensstand und Problemen der Interpretation, aber auch zu Wertschätzung, Preisen und Bearbeitungsmethoden. Wie die ausgewählten Abschnitte zeigen, fällt dabei auf, dass, egal ob es um Edelsteinhandel oder Edelsteinbearbeitung geht, De Boodts Kenntnisse angelesen oder aber durch Erkundigungen, doch nicht durch praktische Erfahrungen geprägt
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sind. So sind seine Ausführungen zu Methoden des Steinschneidens und Steinschleifens zutreffend, doch nicht annähernd ausführlich genug, um als Anleitung zu dienen. Seine Listen zu Edelsteinpreisen bleiben hinsichtlich der Bewertungskriterien und Differenzierungen der Steinqualitäten wohl weit hinter denen zurück, die für einen Juwelier notwendig waren. Dennoch zeigt der Aufbau des zweiten Buches enzyklopädischen Anspruch. Das Ordnungsprinzip ist eine Wertigkeitsabfolge, die mit der Diaphanität korreliert, an deren Spitze der Diamant steht. Die Bewertungskriterien folgen der Tradition, die einzelnen Artikel, wie das zitierte zum Rubin, behandeln Erscheinung, Herkunft, Wirkungen und Fähigkeiten, Wertschätzung sowie Methoden der Imitation und Fälschung. Dass gerade bei der Zusammenstellung des Wirkungsvermögens, das den Bereich übernatürlichen Einwirkens, das der Autor doch selbst zurückwies, die Fähigkeit zu anzeigender Reaktivität und medizinischer Valenz umfassen, methodischer Anspruch und mystifizierende Traditionen ineinander geraten, ist aus heutiger Sicht als zeittypisch anzusehen, aber auch reizvoll und überraschend zu entdecken. Wissenschaftsgeschichtlich gilt das Werk als erste umfassende Systematisierung von über 600 Mineralien und erfreute sich weitester Rezeption. Grund dafür war wohl vor allem die systematische Erfassung des bekannten Sortiments edler und dekorativer Steine sowie deren beschreibende Differenzierung, die auch Ordnung in das traditionelle Bezeichnungschaos brachte, wie die etwa 200 Bezeichnungen verdeutlichen, die De Boodt als mehrdeutig oder widersprüchlich anführt. Fragt man nach methodengeschichtlicher und wirkungsspezifischer Einordnung, so steht De Boodt für eine theoriegeleitete, um Beobachtung und Traditionskritik bemühte Systematisierung, während Georg Agricola etwa bereits zuvor aus der pragmatischen Erfahrung des Bergbaukenners hinsichtlich der Erze und Metalle sein Erfahrungswissen mit dem Traditionswissen zu korrelieren versucht hatte.9 Doch weist dieser Abstand von zeitgenössischer Empirie auch auf Intention und Funktion des Werkes und den von De Boodt angesprochenen Adressatenkreis: Er zielte auf Sammler und Liebhaber von Edelsteinen, um diesbezügliche Wissensvermehrung, gerade auch hinsichtlich der Differenzierung von Materialien und deren Bearbeitung, von Herkünften, Handel, Preisen und Verfügbarkeit oder besonders auch wertsteigernder Seltenheit. Naturwissenschaftlichkeit ist für De Boodt eher die Abgrenzung von Aberglauben und Alchemie, mit der er ebenso wenig zu schaffen hat wie mit experimenteller Untersuchung von Mineralien. Diese Konzentration auf die Interessen des gelehrten Liebhabers und Sammlers verursachten auch De Boodts Ablehnung der Gessnerschen Mineralienklassifikation, die Edelsteinen und Diamanten erst nach Steinen, Erden und anderen Mineralien platzierte,10 und erklärt, weshalb ihn die anwendungsorientierte Beschäftigung mit Steinen und Erzen des Bergbauspezialisten Georg Agricola nicht interessierte. Arwed Arnulf
Gemmarum et lapidum Historia 1 Anselmus Boetius: Gemmarum et lapidum Historia, Hanau 1609. Kurz nach dem Tod des Autors erschienen 1636 und 1647 in Leiden zwei lateinische Ausgaben, deren erste hier wegen der Korrekturen Verwendung findet. Eine französische Übersetzung erschien 1644: Le Parfaict Ioaillier, ou Histoire des pierreries […] enrichi de belles annotations, indices & figures. Par André Toll, Lyon 1644. Der Text wird im 17. und 18. Jahrhundert außerordentlich häufig zitiert. 2 Nieuw Nederlandisch Biografisch Woordenboek, VI, S. 151f.; Biographie Nationale de Belgique, IV, S. 182−184; Johannes E. Heller: Die Mineralogie Anselmus Boetius de Boodts, in: Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 8/1942, S. 1−125; Marie-Christiane Maselis: Anselmus Boetius De Boodt (1550−1632). Brugs humanist aan heet Hof van Oostenrijk, in: Vlaandern 51/2002, S. 21f.; I. Purs, Anselm Boetius de Boodt: Pansophie und Alchemie, in: Acta Comeniana 18/2004, S. 43−90. 3 Arnout Balis u. a. (Hg.): De Albums van Anselmus de Boodt (1550−1632): Geschilderede natuurobservatie aan het Hof van Rudolf II te Praag, Tielt 1989. 4 Symbola Diuina & Humana Pontificvm Imperatorvm Regvm. Accessit breuis, & facilis Isagoge Iac. Typotii. Ex Mvsaeo Octavii De Strada, III, Symbola varia diversorum principum cum facile isagoge Anselmi de Boodt Brugensis, Frankfurt a.M. 1652. 5 Beket Bukovinska, Bekannter – unbekannter Raum. Die Kunstkammer Rudolfs II. in Prag, in: Helmar Schramm u. a. (Hg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin u. a. 2004, S. 199−225. 6 So verweist De Boodt in seiner Widmung an Rudolph II. auf einen Tisch in der Kunstkammer, dessen Platte eine Landschaftsdarstellung aus Edelsteinintarsien zeigte, vgl. Anselmus Boetius: Gemmarum et lapidum Historia, Hanau 1609, S. 7f. Zum Tisch: Karla Langedijk, The Table in Pietre Dure for the Emperor, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 42.2/3/1998, S. 158−182. 7 Eine wissenschaftsgeschichtliche Einordnung bietet: Jan Ulrich Büttner: Asbest in der Vormoderne, Cottbus 2004, S. 126−129. 8 Conrad Gessner: De omni rerum fossilium genere gemmis, lapidibus […], Zürich 1556. 9 Georg Agricola: De ortu et causis subterraneorum, Basel 1558, dort: De natura fossilium, S. 166−380. 10 Gessner 1556, S. 13−14.
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3. Protheo. Perché di sasso sia, Chi vorrà dir giamai che sia mentito Questo Pròtheo scolpito? Ah ch’egli è Pròtheo! E qual miracol fia, Se chi cangia a sua voglia aspetto, e forma In sasso hor si trasforma?
26. La Notte di Michelagnolo Buonarroti. Me, c’habbia vita e spiri Notte di freddo sasso, O peregrino ammiri? Viuo, e sol tanto ho vita, Quant’io son qui scolpita. E s’io non parlo, e s’io non mouo il passo, Che colpa ha la scultura? Muta, e pigra la Notte è per natura. Giambattista Marino: La Galeria, hg. v. Marzio Pieri u. Alessandra Ruffino, Trento 2005, S. 370 u. S. 396.
Proteus. Wer will, nur weil er aus Stein ist, je behaupten, dass er erlogen ist, dieser in Bild gehauene Proteus? Ach und wie er Proteus ist! Und worin bestünde schon das Wunder, wenn sich jemand, der nach eigenem Willen Aussehen und Gestalt ändert, nun in Stein verwandelt? Die Nacht von Michelangelo Buonarroti. Mich, die ich Leben und Atem habe, Nacht aus kaltem Stein, bewunderst du, oh Wanderer? Ich lebe und habe nur insofern Leben, als ich hier gemeißelt bin. Und wenn ich nicht spreche und keinen Fuß bewege, welche Schuld trägt daran die Bildhauerei? Stumm und träge ist die Nacht von Natur aus. Übersetzung: Daniel Fliege
Kommentar Skulpturen aus Stein sprechen, behaupten ihre Lebendigkeit und der Betrachter wundert sich, ob die in Stein gehauenen Gestalten mit den von ihnen Dargestellten identisch sind. Auf den ersten Blick erscheinen die Aussagen erstaunlich, da wir wohl spontan verneinen würden, dass Skulpturen im buchstäblichen Sinne sprechen und leben können und dass die
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Skulptur wesentlich mit dem von ihr Dargestellten identisch ist. Die Texte werfen also Fragen nach dem Wesen der Kunst und des Kunstwerks auf und lösen Staunen aus: Ist die Skulptur des Proteus Proteus oder besteht nicht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen? Kann eine Skulptur lebendig sein, und wenn ja, wie und inwiefern? Die beiden hier vorgestellten Texte stammen aus Giambattista Marinos Sammlung La Galeria, die, wie Volker Kapp konstatiert, im Seicento zwar sechzehn Auflagen erreicht – und damit als ein Bestseller avant la lettre gelten darf –, jedoch „danach überhaupt nicht mehr verstanden“ wurde.1 Einen bescheidenen Beitrag zum besseren Verständnis der Galeria – zumindest der beiden ausgewählten Epigramme über lebendige Skulpturen – möchte dieser Kommentar leisten. Die 1619 in Venedig bei Ciotti gedruckte Galeria ist eine Sammlung von Gedichten, die Kunstwerke zum Gegenstand haben. Dabei geht es Marino jedoch nicht um eine möglichst genaue Ekphrasis, d. h. Beschreibung, der Kunstwerke, vielmehr dienen sie als Ausgangspunkt, über die Wirkung der Werke auf den Betrachter und ihren Status als Kunstwerk zu reflektieren. Die so geschaffene „Galerie“ spiegelt nicht den Bestand einer zeitgenössisch tatsächlich existierenden Sammlung wider;2 die von Marino aufgenommenen Kunstwerke werden auch nicht eindeutig identifiziert, ja müssen nicht einmal realiter existiert haben.3 Nicht zufällig wohl hat Marino in der Galeria neben einer Vielzahl dichterischer Formen wie Sonette, Canzonen und Madrigale zahlreiche Epigramme über Skulpturen verfasst, zu denen auch die beiden hier vorgestellten Texte gehören, bedeutet doch ‚Epigramm‘ (von gr. ἐπί-γραμμα, epí-gramma) wörtlich nichts anderes als „Auf-schrift“, d. h. eine Inschrift auf feste Materialien wie Grabsteine, Denkmäler oder eben Skulpturen.4 Dass Marinos Epigramme nicht als „ernsthafte“ philosophische Lehrgedichte verstanden werden sollen, macht der Autor im Vorwort deutlich: „[…] das Hauptanliegen des Autors war es nicht, ein umfassendes Museum über alle Stoffe zu verfassen, die durch Malerei und Skulptur dargestellt werden können, sondern über einige [dieser Stoffe] gemäß den dichterischen Motiven zu scherzen, die ihm zufällig in die Vorstellungskraft gekommen sind.“5 Sicherlich hat der Bescheidenheitstopos nicht wenig Anteil an dieser Selbstaussage, die vorgibt, der Autor hätte keine Anstrengung beim Verfassen seines Werkes gehabt: Die Ideen seien ihm schließlich einfach so „zufällig“ (alla giornata) in den Sinn gekommen und als „Scherz“ zu verstehen, d. h. als nicht ernst gemeinte Äußerungen, die beim Leser Heiterkeit hervorrufen sollen. Dieser „Scherz“ (scherzare) ist bereits in der Form des Epigramms angelegt, da sich dieses typischerweise in zwei Teile gliedern lässt: Zum ersten in die Schilderung eines Sachverhaltes, der dann ironisch oder sarkastisch gebrochen wird, und so, zum zweiten, auf eine geistreiche, scharfsinnige Pointe zuläuft. Die barocke Vorliebe für diesen dichterischen Scharfsinn wird als acutezza oder arguzia bezeichnet. Im Idealfall begeistert sich der Leser daran, „den geistreichen, hintergründigen, rhetorisch verschlüsselten Einfällen auf die Spur zu kommen [und] sie aufzudecken“6, und „staunt“ darüber: Dieses als meraviglia oder stupore bezeichnete Staunen ist „eine intellektuelle Leistung der Erkenntnis und ein diese begleitender Affekt“7. Um dieses Staunen hervorzurufen, sind die Texte rhetorisch beson-
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ders dicht, ja undurchsichtig, gestaltet, was sich im gehäuften und kombinierten Gebrauch von rhetorischen Figuren niederschlägt. Kern dieser Poetik ist der concetto, ein äußerst verdichtetes Bild oder Gedankenkonstrukt, das den Mittelpunkt eines Gedichtes bildet und den Leser erstaunen soll:8 „Im äußersten Fall kann es sich um eine scheinbar logisch herbeigeführte Pointe handeln, die jedoch auf der unlogischen Vertauschung von Realitätsebenen beruht“.9 Eben diese Strategie liegt auch den Gedichten der Galeria zugrunde. Im Epigramm mit dem Titel Proteus fragt ein Betrachter der Skulptur, wie das Wesen des in Stein gehauenen Proteus10 zu bewerten sei. Dabei beschränkt sich die Beschreibung der Skulptur auf ihr Material, „Stein“ (sasso) (V. 1), und ihre Machart, „gemeißelt“ (scolpito) (V. 3). Diese Beschreibung ist derart lückenhaft, dass es unmöglich ist, eine Entsprechung des hier präsentierten Proteus mit einem real existierenden Kunstwerk zu finden. Stattdessen ist der Leser angehalten, mit Hilfe seiner Vorstellungskraft selbst ein Bild zu erzeugen. Zudem schafft das deiktische Pronomen „dieser“ (questo) (V. 3) erstens einen Raum, in dem der Betrachter der Skulptur relativ nahe steht – die Deixis von questo bezeichnet eine Nähe – , und zweitens deutet es darauf hin, dass es nicht einen Proteus gibt, d. h. dass der Betrachter einen bestimmten Proteus betrachtet, der mit anderen verglichen werden kann. Die Tatsache nun, dass Proteus aus Stein besteht, sei aber kein hinreichendes Argument dafür zu behaupten, dass der hier betrachtete Proteus – im Verhältnis zu anderen – „erlogen“ (mentito) ist (V. 3). Die menzogna („Lüge“) bildet das Gegenstück zur verità („Wahrheit“) und bezeichnet eine bewusst hervorgebrachte nicht wahre Aussage, die das Ziel verfolgt, das angesprochene Gegenüber zu täuschen.11 Legt man diese Bedeutung von mentire dem Epigramm zu Grunde, wird die Relevanz der Fragestellung deutlicher: Ist der in Stein gehauene Proteus eine bewusst produzierte „Lüge“, die den Betrachter täuschen will, oder stellt er eine „Wahrheit“ dar? Das Epigramm beantwortet die Frage gewissermaßen zu Gunsten der Statue: Ja, der in Bild gehauene Proteus ist Proteus: egli è Pròtheo (V. 4). Doch wirft diese Aussage dem Leser eher mehr Fragen auf, als sie ihm Antworten liefert. Das Ende des Epigramms läuft auf einen scharfsinnigen Witz – eine arguzia – zu, wie von der Gattung des Epigramms zu erwarten ist: Da ja dem Mythos entsprechend Proteus seine Gestalt verändern kann, nimmt es nicht Wunder, wenn er sich auch in Stein verwandelt (V. 5–6): Dies könnte insofern verwunderlich sein, als man spontan eine Unterscheidung zwischen dem in Bild gehauenen Proteus und dem „real“ existierenden Proteus vornehmen würde – doch nun wird die Problematik klar: Wer oder was ist der „real“ existierende Proteus, dessen Status als fiktionale Figur der griechischen Mythologie den Zeitgenossen Marinos bewusst gewesen sein muss, und ist er der in Stein verwandelte Proteus, „dieser Proteus“ (questo Pròtheo) (V. 3), der als Skulptur keine Entsprechung in einem realen Kunstwerk hat, sondern Produkt der Vorstellungskraft ist? Zudem stellt das Epigramm ja genau genommen eben nicht die Frage, ob die Statue mit dem „echten“ Proteus gleichzusetzen ist, sondern fragt lediglich, ob die Statue den Anspruch an sich selbst stellen darf, eine wahre Aussage über das Wesen Proteus‘ zu tun oder „lediglich“ eine Täuschung, mentito, ist. Die Antwort auf
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diese Frage lautet, dass die Skulptur nicht täuscht, sondern die Skulptur des Proteus, d. h. das vom Leser in seiner Imagination erzeugte Bild, echt ist, womit die Wirkmächtigkeit der Literatur inszeniert wird. Unweigerlich drängt sich dem Leser dennoch die entscheidende Frage auf, inwiefern denn der steinerne Proteus nun Proteus ist – das Epigramm lässt daran keinen Zweifel aufkommen: egli è Pròtheo –, wenn doch die Skulptur ein Kunstwerk ist, ja sogar „nur“ ein Produkt der Vorstellungskraft des Lesers. Hier helfen die von Marino verwandten Begriffe, die zur Beschreibung dessen dienen, was sich bei der Verwandlung in Stein eigentlich verändert: Es sind aspetto, e forma (V. 5). Was der Betrachter als Proteus an der steinernen Figur wahrnimmt, ist „Aussehen und Gestalt“. Nicht unerwähnt bleiben darf zudem, dass das Epigramm mit einer Frage endet: Unmittelbar ersichtlich ist, wieso die Verwandlung in Stein nicht verwunderlich sein soll, wenn sich Proteus doch aus eigenem Willen verwandeln kann. Jedoch behauptet das Epigramm nicht, dass Proteus dies tatsächlich in der dem Betrachter gegenüberstehenden Skulptur gemacht hat … Hat sich Proteus hier selbst in Stein verwandelt? Die für die Gattung des Epigramms konstitutive ironische Wendung macht klar, dass diese Frage nicht ernst gemeint ist, sondern sich viel mehr über den Betrachter, der eine solche Frage an eine Skulptur stellt, lustig macht, und dessen Staunen zum Ausdruck bringt. Es kann also nicht darum gehen, ob das Bild des Proteus mit dem „realen“ Proteus identisch ist: Nicht in diesem Sinn ist Proteus Proteus. Stattdessen verneint Marino, dass die Vorstellungskraft und damit die Fiktion bloß eine Täuschung ist, sondern gesteht ihr auch eine Wahrheit zu. Über das Wesen einer Skulptur reflektiert auch ein Epigramm über die Nacht von Michelangelo Buonarroti: In diesem Fall also gibt es eine reale Entsprechung. Die Skulptur befindet sich in der Medici-Kapelle in Florenz und ist Teil des Grabmals von Giuliano II. Doch Marino ist nicht der erste Dichter, der sich Michelangelos Nacht annahm: Der Bildhauer selbst hat als Antwort auf ein Epigramm von Giovanni Strozzi bereits ein Gedicht über seine Nacht verfasst, womit sich Marinos Text in eine Tradition einschreibt. Giovanni Strozzi nutzt sein Gedicht dazu, Michelangelo durch das Eponym „Engel“ zu loben (denn Michelangelo setzt sich aus Michele ‚Michael‘ und angelo ‚Engel‘ zusammen) und damit die übermenschliche Leistung des göttlich inspirierten Dichters herauszustellen: „Die Nacht, die du in so schönen Akten / schlafen siehst, wurde von einem Engel / in diesen Stein gehauen, und weil sie schläft, hat sie Leben: / Wecke sie, wenn du es nicht glaubst, und sie wird zu dir sprechen.“12 Michel angelo Buonarroti lässt seine Nacht selbst antworten: „Lieb ist mir der Schlaf und mehr noch, aus Stein zu sein, / während die Schande und die Scham andauern; / nicht zu sehen, nicht zu fühlen sind mir großes Glück;/ doch wecke mich nicht, ach, sprich leise.“13 Bereits Strozzi behauptet eine Lebendigkeit der Skulptur und hebt den Widerspruch zwischen dem vermeintlich toten Material Stein und ihrem „Leben“ hervor: Weil sie schlafe, gebe sie keine „Lebenszeichen“ von sich, doch der ungläubige Betrachter könne sie ja wecken, damit sie zu ihm spreche.14 Strozzis Epigramm läuft also auf eine Pointe hinaus, deren concetto noch einfach gestaltet ist. Michelangelo entwickelt diesen concetto weiter, indem er das Wort der
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Nacht selbst gibt, die jedoch vom Leser gerade verlangt, sie nicht aufzuwecken, was wiederum bedeutet, dass die Nacht im Zustand des Schlafes spricht und daher gereizt – was durch den Ausruf „ach“ (deh) und den kurzen Imperativ „sprich leise“ (parla basso) ausgedrückt wird – auf das laute und daher störende Gerede des Betrachters (gemeint ist Strozzi) reagiert … Der Schlaf sei ihr teuer, sodass Michelangelo seine Nacht „paradox auf ihrer Unlebendigkeit beharren“15 lässt, anders ausgedrückt: Sie weigert sich, ihre Lebendigkeit unter Beweis zu stellen. Marino übernimmt mehrere Motive aus diesen beiden Epigrammen: erstens den Gegensatz zwischen dem toten Material des sasso – der Begriff fällt bei allen drei Dichtern – und des Lebens. Marino legt Strozzis ha vita („sie hat Leben“) der Nacht selbst in den Mund: ho vita („ich habe Leben“). Zugleich greift er den Reim scolpita-vita auf. Zweitens übernimmt Marino das Sprechen der Statue: Bei Strozzi könne die Nacht nach dem Erwachen sprechen, bei Michelangelo spricht sie während des Schlafes und bittet den Betrachter „leise zu sprechen“, bei Marino spricht sie auch und behauptet paradoxerweise aber nicht zu sprechen: non parlo. Lediglich schlafen lässt Marino die Nacht nicht mehr; stattdessen ist sie in einem doppelten Sinne „von Natur aus“ (per natura) „träge“ (pigra) und „stumm“ (muta): Zum einen nämlich ist die Nacht träge und stumm, wie es ja Strozzi und Michelangelo schon in ihren Darstellungen einer „verschlafenen“ Nacht angelegt haben, zum anderen sind Skulpturen buchstäblich träge und stumm, da sie sich weder bewegen noch sprechen können. Marino entwickelt den concetto von Michelangelo und Strozzi also paradoxerweise dadurch weiter, dass er ihm seinen Literalsinn zurückgibt. Anders als im Epigramm über Proteus geht es im Epigramm über die Nacht jedoch weniger um die Frage, ob die Statue die Nacht ist, sondern darum, ob sie lebendig ist. Das Epigramm über die Nacht wird von der Skulptur der Nacht selbst gesprochen: Sie richtet sich an den Betrachter und fragt, weshalb er sich darüber wundere, dass sie „Leben und Atem“ (vita e spiri) habe (V. 1), obwohl sie doch „aus kaltem Stein“ (di freddo sasso) (V. 2) bestehe. Die Skulptur erklärt diesen Sachverhalt mit dem Argument, dass sie nur „insofern lebe“ (tanto [h]a vita, V. 4), „als sie in ein Bild gehauen ist“ (quant‘[è] qui scolpita, V. 5). Dies legt nahe, dass es unterschiedliche Begriffe von „Leben“ gibt: Auch eine Skulptur kann lebendig sein, aber eben nur insofern sie eine Skulptur ist und ihr nicht das Lebendigsein anderer Lebewesen zugesprochen wird. Marino macht hier also den Unterschied zwischen Literalsinn und Metaphorik der Lebendigkeit deutlich. Das Ende des Epigramms hält wieder eine ironische Spitze bereit: Da die Nacht selbst ja von Natur aus „stumm und träge“ (muta e pigra) (V. 8) sei, könne es nicht verwundern, wenn auch die Skulptur der Statue nicht spreche und sich nicht bewege (V. 6–7). Die dahinterstehende Botschaft ist, dass Skulpturen selbstverständlich nicht sprechen und sich bewegen können. Dennoch haben sie eine Lebendigkeit, die sich von der Lebendigkeit anderer Lebewesen unterscheidet, gleichwohl aber ein Staunen beim Betrachter hervorrufen kann. Die Lebendigkeit der Skulptur ist eine Metapher, die die künstlerische Leistung der naturgetreuen Nachbildung hervorhebt, die so wahrhaftig erscheint, dass die Statue zu
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leben und atmen scheint und so über ihren Status als Kunstwerk hinwegtäuscht. Marinos Pointe besteht nun darin, dass er zum Literalsinn zurückkehrt und die Metapher der Lebendigkeit als rhetorische Figur entlarvt. Daniel Fliege
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Volker Kapp: Seicento, in: ders. (Hg.): Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart 2007, S. 171–208, hier S. 182. Für einen kurzen Überblick über das Leben von Marino sei empfohlen Alessandro Martini: Marino, Giovan Battista, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 70, Rom 2008, S. 517–531. Ausführliche Lebensbeschreibungen haben vorgelegt James V. Mirollo: The Poet of the Marvelous. Giambattista Marino, London 1963, u. Emilio Russo: Marino, Rom 2008. Als ältestes von sieben Kindern wird Marino 1569 in Neapel geboren und beginnt 1583 dem Vorbild – und dem Druck – seines Vaters folgend ein Studium des Rechts, das er jedoch nach drei Jahren abbricht. 1596 wird er persönlicher Sekretär von Matteo di Capua, der zu seinem ersten Mäzen wird. Zwei Jahre später wird Marino zum ersten Mal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, dessen Umstände bis heute unklar sind. Spekuliert wird, dass es wegen der Anschuldigung von Sodomie war (Martini 2008) oder dass er ein Mädchen geschwängert habe, das nach einer Fehlgeburt gestorben sei (Christiane Kruse u. Rainer Stillers: Nachwort, in: Giambattista Marino: La Galeria. Zweisprachige Auswahl (Italienisch-Deutsch), hg. v. dies., Mainz 2009, S. 387–420, hier S. 389). Wieder zwei Jahre später wird er nochmals inhaftiert, da er Dokumente gefälscht hat, um einen zum Tode verurteilten Freund – vergebens – vor der Urteilsvollstreckung zu retten. Marino schafft es nach Rom zu fliehen, wo er ab 1603 im Dienst des Kardinals Pietro Aldobrandini steht. In Rom lernt er den Maler Caravaggio kennen. Zu dieser Begegnung siehe Elizabeth Cropper: The Petrifying Art: Marino’s Poetry and Caravaggio, in: Metropolitan Museum Journal 26/1991, S. 193–212; Valeska von Rosen: Caravaggio, Marino und ihre ‚wahren Regeln‘. Zum Dialog der Malerei und Literatur um 1600, in: Christiane Kruse u. Rainer Stillers (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos „Galeria“, Wiesbaden 2013, S. 307–334. Allgemeiner zum Verhältnis Marinos zur Kunsttheorie seiner Zeit siehe Gerald Ackermann: Gian Battista Marino’s Contribution to Seicento Art Theory, in: The Art Bulletin 43.4/1961, S. 326–336. In Rom arbeitet Marino zudem an der Veröffentlichung seiner ersten Werke: Seine Rime werden 1602 in Venedig gedruckt, 1608 folgt eine erste erweiterte Ausgabe unter dem Titel La Lira, 1614 eine nochmals erweiterte Edition. 1606 folgt Marino Aldobrandini nach Ravenna, 1608 nach Turin an den Hof von Herzog Carlo Emanuele. Dort provoziert er den Hofdichter Gasparo Murtola durch eine Satire, La Murtoleide, der daraufhin versucht, Marino umzubringen. Murtola muss das Piemont verlassen und so kann Marino 1609 dessen Stellung als Hofdichter einnehmen. Jedoch beginnt sich die Inquisition für Marino zu interessieren und auch seine Dicerie sacre von 1614 können nicht abhelfen, sodass sich Marino 1614 einer möglichen Inhaftierung durch die Inquisition durch Flucht nach Paris, an den Hof von Maria de’ Medici, entzieht. In diese Zeit fallen die Veröffentlichung seiner bedeutendsten Werke: La Galeria wird 1619 in Venedig gedruckt, die Sampogna 1620 und der Adone 1623 in Paris. Hier lernt er auch den noch jungen Maler Nicolas Poussin kennen, den
La Galeria er in die römische Gesellschaft einführen sollte, nachdem er 1623 nach Italien zurückgekehrt war. Zur Zusammenarbeit von Poussin und Marino siehe Robert B. Simon: Poussin, Marino, and the Interpretation of Mythology, in: The Art Bulletin 60.1/1978, S. 56–68. Ende 1624 gelangt er in seine Geburtsstadt Neapel, wo er nach kurzer schwerer Krankheit 1625 verstirbt. 2 Reale Vorbilder wurden jedoch von der Forschung gesucht und mitunter in der Galerie von Giovan Carlo Doria in Genua erkannt. Vgl. Kruse u. Stillers 2009, S. 402. Siehe zu diesem Thema auch Marc Fumaroli: La Galeria de Marino et la Galerie Farnese: épigrammes et œuvres d’art profanes vers 1600, in: André Chastel (Hg.): Les Carrache et les décors profanes, Rom 1988, S. 163–182. Zur Galeria vgl. Rainer Stillers u. Christiane Kruse (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos „Galeria“, Wiesbaden 2013. 3 Kruse u. Stillers 2009, S. 405. 4 Zur Form des Epigramms und insbesondere zur zeitgenössischen Debatte um diese Form siehe Bernhard Huss, Florian Mehltretter u. Gerhard Regn: Sonett und Epigramm, in: dies.: Lyriktheorie(n) der italienischen Renaissance, Berlin 2012, S. 138–181. 5 Übersetzung: Daniel Fliege nach Giambattista Marino, La Galeria, hg. von Marzio Pieri und Alessandra Ruffino, Trento 2005, S. 7: l’intentione principale dell’Autore non è stata di comporre un Museo uniuersale sopra tutte le materie, che possono essere rappresentate dalla Pittura & dalla Scultura, ma di scherzare intorno ad alcune poche, secondo i motiui Poetici che alla giornata gli son venuti in fantasia. 6 Kruse u. Stillers 2009, S. 396. 7 Ebd. Zum Staunen siehe Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine Ideengeschichtliche Analyse, Tübingen 1991; Elisabeth Oy-Marra: „Immobile riman per meraviglia.“ Staunen als idealtypische Betrachterreaktion in den Bildgedichten Giovan Battista Marinos zu Tizians hl. Sebastian, in: Rainer Stillers u. Christiane Kruse (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos „Galeria“, Wiesbaden 2013, S. 251–271; Christine Ott: Terribile meraviglia: Animismo artistico, empatia ed ekplexis nella poesia di Giovan Battista Marino, in: Modern Language Notes 130.1/2015, S. 63–85. 8 Vgl. Kruse u. Stiller 2009, S. 397: „Die Sprache der barocken Dichtung gipfelt jedoch in jener Strategie, die die Barockpoetik als ‚concetto‘ bezeichnet: eine zugespitzte, stark verdichtete Gedankenführung oder Metaphorik, auf die das Gedicht hinausläuft oder die seinen gedanklichen Kern ausmacht und die den Leser durch ihre Neuartigkeit und Kühnheit frappieren soll.“ 9 Ebd., S. 397. 10 Der Meeresgott Proteus ist eine Figur der griechischen Mythologie und besitzt die Fähigkeit seine Gestalt zu wandeln. In Homers Odyssee versuchen Menelaos und seine Gefährten von Proteus den richtigen Weg zur Heimkehr zu erfahren und möchten ihn befragen, doch Proteus entzieht sich ihren Fragen, indem er immer wieder seine Gestalt wandelt (Odyssee 4,349–570). 11 Vgl. die Definition des Grande dizionario della lingua italiana, hg. von Giorgio Barberi Squarotti, Bd. 10, Turin 2002, S. 110: „menzógna (ant. mensógna; dial. menciógna), sf. affermazione contraria a ciò che è o si crede corrispondente a verità, pronunciata o propalata
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Giambattista Marino
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con l’intenzione esplicita di ingannare e confini malvagi o utilitaristici; deformazione volontaria, travisamento deliberato del vero.“ Übersetzung: Daniel Fliege nach Giambattista Marino: La Galeria, hg. v. Marzio Pieri u. Alessandra Ruffino, Trento 2005, S. CCXI: La notte, che tu vedi in sì dolci atti / dormir, fu da un angelo scolpita / in questo sasso, e perchè dorme ha vita: / Destala, se nol credi, e parleratti. Übersetzung: Daniel Fliege nach Michelangelo Buonarroti: Rime, hg. v. Enzo Noè Girardi, Bari 1960, S. 117 (Nr. 247): Caro m’è’l sonno, e più l’esser di sasso, / mentre che’l danno e la vergogna dura; / non veder, non sentir m’è gran ventura; / però non mi destar, deh, parla basso. Marianne Albrecht-Bott hat den Topos der Lebendigkeit in fünf motivische Aspekte aufgeteilt: „a) Die Lebendigkeit der qualitätvollen Darstellung wirkt unmittelbar auf den Betrachter […], in Varianten auch auf Götter und Tiere, welche sie – zur Täuschung gesteigert – sogar zu affektiven Handlungen veranlaßt; b) dem Portrait wird vom Betrachter die Fähigkeit zu sprechen beigelegt; c) die dargestellte Person unterläßt es zu sprechen in Rücksicht auf den Betrachter (aus verschiedenen Gründen) oder, da es das Bildmaterial verbietet (z. B. Marmor, Bronze); […] d) ein Memorialportrait als Atelierstück oder ein vor dem Tod nach Modell gemaltes Bildnis erweckt den Verstorbenen zum Leben; e) die Natur wird neidisch über die kunstvolle (und natürlich mehr oder minder idealisierende) Darstellung. Dieses Motivgerüst zum Topos des bis zur naturalistischen oder ‚sprechenden‘ Lebendigkeit gelungenen Portraits zeigt sich beliebig variiert kontinuierlich bis zum Barock, wo es wegen seiner reizvollen Gestaltungsfähigkeit bevorzugt aufgegriffen werden wird.“ (Marianne Albrecht-Bott: Die bildende Kunst in der italienischen Lyrik der Renaissance und des Barock. Studie zur Beschreibung des Porträts und anderen Bildwerken unter besonderer Berücksichtigung von G. B. Marions Galleria, Wiesbaden 1976, S. 71). Zum Topos des lebendigen Kunstwerkes im Barock siehe außerdem Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitae. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen Bildes‘ in der frühen Neuzeit, in: Ulrich Pfisterer u. Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München 2003, S. 151–170; ders.: Colpi vitali. Berninis Beseelungen, in: Erika Fischer-Lichte u. Nicola Suthor (Hg.): Verklärte Körper: Ästhetiken der Transfiguration, München 2006, S. 91–144. Frank Fehrenbach: „Tra vivo e spento.“ Marinos lebendige Bilder, in: Rainer Stillers u. Christiane Kruse (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos „Galeria“, Wiesbaden 2013, S. 203–222, hier S. 211 n. 35.
Ulisse Aldrovandi
Musaeum metallicum 1648 Liber IV
Buch IV
Caput LVII. De marmore MARMOR lapidem valdè durum, & si poliatur, ad recipiendum nitorem valdè idoneum esse observamus. Politiam autem admittit ob puritatem materiæ exactè, & æqualiter concretæ: quandoquidem puritas optimam concretionem, & nitor æqualitatem materiæ concomitatur. At colorum varietas cuioscumq; Marmoris à perfectione coctionis, in eorum generatione, dependet; quoniam synceri, & genuini colores nonnisi à perfecta coctione resultant. Namque exhalatio sicca, & ignita, ut Aristoteles1 animaduertit, pulueres coloratos constituit, deinde ex huiusmodi pulueribus solutis lapides simili colore decorati integrantur. Varietas igitur colorum, quæ in marmoribus quotidie observantur, à varietate exhalationum emergit: nam quemadmodum arenæ diversi generis, calce admixta, in unum lapidem ferruminantur; pariter interdum varia marmorum fragmenta, adveniente nova exhalatione, veluti calce, unum lapidem maculis diversis refertum constituunt. Id autem magis marmoribus, quàm alijs saxis contingere opinantur, ob tenues exhalationes, quæ intimas Marmorum partes penetrate possunt. Inter alias Marmoris proprietates, unam ad miracula Italiæ referendam esse Plinius2
Kapitel LVII. Über Marmor Wir beobachten, dass Marmor ein sehr harter Stein ist, und wenn er poliert wird, sehr geeignet ist Glanz anzunehmen. Glattheit erlaubt er wegen der Reinheit des Materials und gleichfalls wegen seiner Dichte, weil nämlich Reinheit die beste Dichte und der Glanz die Gleichmäßigkeit des Materials mit sich bringt. Die Unterschiedlichkeit der Farben eines jeden Marmors hängt vom Hitzeeinfluss [eigentl.: vom Kochen] bei deren Entstehung ab, da natürliche und echte Farben nur aus perfekter Hitzeeinwirkung resultieren. Denn trockene und feurige Ausdünstung erzeugt, wie Aristoteles1 bemerkt, farbige Sande, dann entstehen aus derartigen aufgelösten Sanden in gleichen Farben dekorierte Steine. Die Vielfalt der Farben, die in Marmor täglich beobachtetet werden, kommt also aus der Vielfalt der Ausdünstungen, denn auf welche Weise Sande verschiedener Art mit Kalk vermischt zu einem Stein sich zusammenfügen, so bilden in gleicher Weise bisweilen auch Marmorstücke, wenn eine neue Ausdünstung hinzukommt, wie durch Kalk bewirkt, einen mit Flecken reich gefüllten Stein. Man glaubt aber, dass dies öfter bei Marmor als bei anderen Steinen geschieht, wegen der dünnen Ausdünstungen, die innere Teile der Marmorsteine durchdringen können.
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scripsit, nempè Marmor in lapidicinis augeri; idq; probat authoritate Papyrij Fabiani, quem rerum naturalium peritissimum nuncupavit. Quinimò addit repleri paulatim novo Marmore montium cavitates, unde prima marmora cæsa fuerunt. Deinde omne ferè genus marmorum, cum primum à fodinis eruitur, mollius est, progressu tamen temporis adeò durescit, ut vix scalpi possit. Verùm hæc proprietas cæteris etiam lapidibus communis esse solet. Hoc quidem observatione dignum est, quòd marmora quædam ocyus, & quædam feriùs indurantur. Postmodum nonnulla etiam sunt, quæ, diuturnitate temporis, rursus mollescunt, exeduntur, & tandem in terram resolvuntur. Insuper habent marmora hoc insitum à natura, ut substantia quandoque nodos habeat, nempè duritias clavo similes, & ferris inimicas, quæ Plinio3 centra appel lantur; quando scribebat : in Marmore sicuti in arboribus centra identidem observari.
Unter den anderen Eigenschaften des Marmors beschreibt Plinius2 eine, die unter die Wunder Italiens zu zählen sei, nämlich dass sich Marmor in Steinbrüchen vermehrt, und dies belegt er mit der Autorität des Buches des Fabianus, den er als besten Kenner der Naturwissenschaften bezeichnet. Tatsächlich fügt er hinzu, dass Aushöhlungen in Bergen, aus denen zuvor Marmor herausgeschlagen worden war, sich wieder anfüllen. Von daher ist beinahe jede Art von Marmor, wenn sie zuerst aus dem Steinbruch gebrochen wird, weicher, wird aber mit fortschreitender Zeit so hart, dass sie kaum bearbeitet werden kann. Aber diese Eigenschaft ist bekanntlich auch anderen Steinen zu eigen. Beachtenswert ist freilich, dass manche Marmore schneller, andere später verhärten. Schließlich gibt es auch einige, die nach längerer Zeit wieder erweichen, ausgemeißelt werden und sich dennoch in Abfall auflösen. Darüber hinaus haben Marmorsteine von Natur aus in sich, dass das Material mitunter Knoten hat, nämlich Verhärtungen, die Streifen ähnlich und den Sägen feindlich sind, die bei Plinius centra [etwa „Kernringe“] genannt werden, wenn er schreibt: Im Marmor können wie bei Bäumen gleichfalls Ringe beobachtet werden.3
Ampliùs marmor hoc sibi à natura com paravit, ut á multis rebus abhorreat. Primùm calcis contactu non solùm candorem ammittit, sed etiam nitor marmoris obscuris maculis fædatur : Fumo etiam inquinatur, & oleo perlinitum pallescit. Item vino nigro perf usum, tanquam indignabundum, mirabiliter lutescit. Tandem aqua ex castaneis deducta contactum ita fuscatur,
Mehr noch hat der Marmor von der Natur mitbekommen, dass er gegen viele Dinge Abneigung hegt. Zuerst verliert er durch den Kontakt mit Kalk nicht nur seine Weiße, sondern auch sein Glanz wird durch dunkle Flecken verunstaltet. Durch Rauch wird er verschmutzt, mit Öl beschmiert erblasst er. Desgleichen zeigt er mit Rotwein übergossen seinen Unwillen und wird wundersamerweise
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atq; insicitur, ut nec etiam ubrasione, maculæ illæ deleantur.4
schlammfarbig. Mit aus Kastanien gewonnenem Wasser benetzt, schwärzt er sich und nimmt dies so sehr an, dass diese Flecken nicht einmal durch Abschaben getilgt werden.4
Postremò Marmor, & potissimùm varia tum, veluti illud, quòd Brocetellum, & pedi culosum vocant, recepit hoc à natura, ut in aceto positum, ad instar lapidis Astroitis, spontè moveatur. Hocq; ei accidere existima mus, propter substantias diversorum colorum in materia existentes; namq; acetum, cum sit tenuium partium, penetrans, aerem expellit, qui per acetum egrediens efficit, ut Marmor, vel lapis moveatur. Etenim id in multis lapidibus, varijs venarum distantijs patentibus, contingere multi observarunt. Quinimò Io. Baptista Porta fatetur se habuisse frustum Marmoris, quod Vulgus Codogninum appellat, & hoc in aceto movebatur, quoniam diversis, & varijs venis erat distinctum.5
Schließlich hat Marmor und von den verschiedenen Sorten am meisten jener, den man broccatello und pidocchioso nennt, von der Natur die Eigenschaft erhalten, dass er in Essig gelegt nach Art eines Sternsteines sich von allein bewegt. Wir glauben, dass ihm dies geschieht wegen der Substanzen der verschiedenen Farben, die im Material enthalten sind. Denn der Essig dringt ein, wenn er an den schwächeren Stellen ist, treibt das Erz heraus, das durch den Essig austretend bewirkt, dass der Marmor oder ein anderer Stein sich bewegt. Und dass dies viele verschiedene Steine mit unterschiedlichen Abständen der Äderung betrifft, haben viele beobachtet. Tatsächlich berichtet Giovan Battista della Porta, er habe einen Stein besessen, den er in der Heimatsprache codognino nennt und der sich in Essig bewegte, weil er mit verschiedensten Äderungen ausgezeichnet war.5
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Lib. 3. meteor. ca. vlt. Lib. 36. ca. 15. Lib. 16. ca. 39. Marmor quibus maculetur. Marmor movetur in aceto.
Ulisse Aldrovandi: Musaeum metallicum in libros IV distributum Bartholomaeus Ambrosinus … labore, et studio composuit cum indice copiosissimo, Bologna: Marcus Antonius Bernia 1648, S. 747.
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Vgl. Aristoteles: Meteorologie [Die Lehrschriften, Bd. 7.1], hg. v. Paul Gohlke, Paderborn 1955, S. 136–137 (3.378a-b). Vgl. Plinius d. Ä.: Naturkunde, hg. v. Roderich König, München 1992, Bd. 36, S. 88 (XXXVI, 125). Vgl. ebd., Bd. 16, S. 126 (XVI, 199). Marmor quibus maculetur. Marmor movetur in aceto. [vgl. Giovan Battista della Porta: Magiae naturalis libri XX, Neapel 1589, S. 652 (lib. 20, cap. 4)].
Übersetzung: Arwed Arnulf
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Ulisse Aldrovandi
Kommentar Als der französische Reiseschriftsteller Maximilian Misson (um 1650–1722) in seinem Buch Reise nach Italien (1688) über die Sehenswürdigkeiten Bolognas berichtet, zählt er zu diesen auch die damals schon zu einer Sammlung zusammengeführten „Kunstkammern“ von Ulisse Aldrovandi (1522–1604) und Ferdinando Cospi (1606–1686). Erstaunlicherweise nennt Misson aber als wichtigste Stücke dieser Sammlung nicht die zahlreichen naturalia, sondern „die hundert und sieben und achtzig bände in folio, welche Aldrovandus mit eigener hand geschrieben hat, wobei zweihundert säcke von unterschiedlicher grösse, und mit abgepflockten blättern angefüllet“.1 Für Aldrovandi hingegen waren seine Sammlung und sein Schrifttum eng miteinander verbunden. Aldrovandi war 1522 in Bologna geboren und studierte – nach einigen unruhigen Jugendjahren – in seiner Geburtsstadt und anschließend in Padua.2 1553 kehrte er als Doktor der Philosophie und Medizin nach Bologna zurück und nahm dort im Folgejahr eine Lehrtätigkeit zunächst im Fachgebiet Logik, dann in Philosophie auf. Sein Hauptinteresse galt jedoch der Natur in allen ihren Manifestationen. 1568 begründete er den Botanischen Garten in Bologna, allerdings hatte er sich bereits früher empirisch mit der Natur auseinandergesetzt. Schon während seiner Studienzeit hatte er ausgedehnte Reisen in Norditalien unternommen mit dem Ziel, sowohl die Natur zu erkunden als auch sich mit anderen Menschen auszutauschen, die dasselbe Interesse mit ihm teilten. Dabei sammelte er nicht nur Objekte für sein geplantes „Museum“, sondern schuf auch ein weitreichendes Netzwerk von Gleichgesinnten, das maßgeblich auf dem Austausch von Informationen und Musterstücken gründete. 1577 schreibt Aldrovandi darüber: „keine Woche vergeht – nicht einmal ein Tag – an dem ich nicht etwas Bemerkenswertes zugesandt bekomme“.3 So waren es denn auch die Objekte in seiner Sammlung, welche die Grundlage für seine theoretischen Abhandlungen bildeten – „ich beschreibe nichts“, notiert er, „was ich nicht mit den eigenen Augen gesehen, und mit den eigenen Händen berührt habe“ –, und seine Schriften dienten umgekehrt dazu, Ordnung in seine stetig wachsende Sammlung zu bringen.4 Paula Findlen beobachtete in Bezug auf diese enzyklopädischen Bestrebungen pointiert: „the encyclopedia was located neither in the text nor in the object alone; rather it was the dialectic between res and verba that fully defined the universality of his project.“5 Nur ein Bruchteil von Aldrovandis Schriften erschien zu seinen Lebzeiten in gedruckter Form. Bis lange nach seinem Tod wurden noch Werke veröffentlicht, die sich auf Aldrovandis Material stützten, wie auch das Musaeum metallicum, aus dem die hier ausgewählte Passage stammt. Dieses Buch, vom Bologneser Naturkundler Bartolomeo Ambrosini (1588–1657) herausgegeben, handelt von den geologischen Objekten in Aldrovandis Sammlung. Anders als der Titel es vermuten lässt, behandelt das Werk nicht nur Metalle; vielmehr umfasst es, eingeteilt in vier Bücher, (1) Metalle (De metallis), (2) Erde (De terra), (3) Mineralien (De succis concretis, wörtlich „versteinerte Säfte“) und schließlich (4) Steine (De lapidibus). Alle vier Bücher
Musaeum metallicum
beginnen mit einer allgemein gehaltenen Einführung über die jeweilige Kategorie, gefolgt von einer Reihe von Kapiteln über spezifischere Erscheinungsformen. Jedes dieser Kapitel ist seinerseits nach mehr oder weniger wiederkehrenden Beschreibungskategorien strukturiert wie beispielsweise dem Namen des Materials (synonima, et etymum), dessen Qualitäten (natura, et affectiones), unterschiedlichen Ausprägungen (differentiae), Angaben zum Fundort (locus), Formen und Eigenschaften (generatio et natura, natura, et affections) sowie Verwendungszwecke (usus). Insbesondere der letzte Abschnitt ermöglichte es dem Verfasser, die mannigfaltigen Artefakte seiner eigenen Sammlung zu erwähnen, zu denen auch zahlreiche Objekte aus der „Neuen Welt“ zählten.6 Entsprechend nähert sich der Naturkundler Aldrovandi den von ihm gesammelten Objekten von der Perspektive der Materialität aus. Die hier ausgewählte Passage stammt aus dem Kapitel über Marmor (Buch 4, Kapitel 57) und umfasst den Abschnitt „natura, et affectiones“. Der Autor konzentriert sich hier besonders auf die Erscheinungsformen des Marmors und die Art und Weise, wie diese Erscheinungsformen mit dem Entstehungsprozess des Materials zusammenhängen; gerade hinsichtlich der später im Kapitel diskutierten Objekte aus der Sammlung Aldrovandis kommt den Prozessen bei der Entstehung von Marmor hierbei besondere Bedeutung zu. Auf Aristoteles bezug nehmend, scheint sich Aldrovandi vor allem für die Frage zu interessieren, wie verschiedene Farben und Linien im Marmor entstehen. Dieses Interesse ist eng verbunden mit dem grösser angelegten Projekt der Kategorisierung. Der eminente Stellenwert, den Aldrovandi den Farben beimisst, wird dabei zusätzlich bestätigt durch den Traktat De coloribus, der unlängst von Valentina Pugliano diskutiert wurde. Dieser Text zeigt, so betont sie, „an effort to build a language of colour, in the sense both of a standard nomenclature of hues and of a lexicon, a dictionary of their denotations and connotations as documented in the literature of ancients and moderns.“7 Mit seiner enzyklopädischen Herangehensweise, welche charakterisiert ist durch die Verbindung von exakten Beschreibungen mit dem Zusammenführen von damals selten hinterfragten Äußerungen früherer Autoren, steht Aldrovandis Projekt im Zentrum des umfassenden Bruchs in der neuzeitlichen Wissensgeschichte, den Michel Foucault als Umschwung vom System der Signaturenlehre zum System der von Differenzen ausgehenden Kategorisierungen umschrieben hat.8 Die Farben und Muster im Marmor waren auch wesentlich für die Frage nach den von der Natur geschaffenen „Bildern“. Solche Bilder nahmen eine Sonderstellung innerhalb der frühneuzeitlichen Wunderkammern ein, und auch Aldrovandis Sammlung bildete hierbei keine Ausnahme. Wie Robert Felfe zeigen konnte, bedient sich Aldrovandi bei der Beschreibung derartiger Bilder suggestiver Referenzen auf die künstlerische Praxis: die Bilder im Stein sind bei ihm „gezeichnet“, „eingraviert“ oder von der Natur „gemalt“.9 Die Auseinandersetzung mit derartigen Zufallsbildern im Stein hat eine lange Tradition, und auch Aldrovandi selbst rekurriert in seiner Beschreibung auf Autoren wie Plinius den Älteren, Albertus Magnus und Joseph Justus Scaliger. Dennoch spielte die tastbare Evidenz eine zentrale Rolle für Aldrovandi, während derartigen Textverweisen die Funktion eines historischen Bezugsrah-
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Abb. 8 Cristoforo Coriolano: Marmor cum icone Mariæ semper Vergine, Holzschnitt, in: Ulisse Aldrovandi: Musaeum metallicum, Bologna 1648, S. 760
mens für die steinernen Objekte zukam, die er entweder selbst gesammelt hatte oder aus Zeichnungen aus seinem ausgedehnten Netzwerk kannte. Es sind genau solche Objekte, die in Holzschnitten wiedergegeben wurden und als solche seinen Band schmücken. Mit dem gleichzeitigen Ziel, sowohl den Stein als auch das darin eingeschriebene Zufallsbild zu zeigen, stellten die Holzschnitte eine besonders knifflige Herausforderung für die ausführenden Künstler dar, vor allem wegen des Fehlens von Farbe, die, wie bereits gezeigt wurde, von zentraler Bedeutung für Aldrovandis Projekt war. Einer der Holzschnitte soll einen in dunklen Grün- und Schwarztönen geäderten Serpentinstein zeigen, auf dem gemäß Aldrovandi „ein Bild der Jungfrau Maria erscheint“ (Marmor cum icone Mariæ semper Vergine). Eingebettet in einen hölzernen Rahmen, verziert mit Pilastern und einem Kreuzabschluss, lässt sich in den schlangenlinienförmig geführten Linien des Holzschnitts jedoch nur mit Mühe eine mensch-
Musaeum metallicum
liche Figur erahnen (Abb. 8).10 Aldrovandis Beschreibung bringt uns aber dazu, genauer hinzublicken; sie versucht, eine Identifikation anzuleiten, indem sie nicht nur die Grenzen des graphischen Mediums aufzeigt, sondern dieses auch zu einem Vorzeigefall der Dialektik zwischen Wissen und Sehen, Text und Bild erhebt. Wie lässt sich nun aber die im Text erwähnte Bewegung des in Essig gelösten Marmors deuten? Indem er auf Giovan Battista della Portas Beschreibung über die Bewegung der Steine im letzten, bezeichnenderweise Chaos genannten Buch von dessen Magiae naturalis verweist, greift Aldrovandi die neueste Literatur seiner Zeit auf.11 Was vordergründig als merkwürdiges Spektakel anmutet, lässt sich gleichwohl an die sogenannte „Neue Wissenschaft“ rückbinden, in der das wissenschaftliche Experiment an die Stelle des Buchwissens trat. Für Della Porta, dessen Studien noch tief in die lange Traditionslinie des magischen Denkens reichten, waren derartige Experimente stärker auf die Zuschaustellung der Wunder der Natur ausgerichtet, als dass sie der Wissensgenerierung dienten; „the science of the marvellous manifests itself in Della Porta’s experiments in a decidedly histrionic manner“, so Sergius Kodera.12 Im Gegensatz dazu scheint Aldrovandi weniger an dramatischen Effekten interessiert gewesen zu sein, zumal er den Abschnitt seines Buchs mit der Behandlung von Della Portas Beobachtung als ein „Experiment“ abschließt, womit er schließlich seine eigene Theorie über die Entstehung der Farben und Muster im Marmor bestätigt. Joris van Gastel Übersetzung: Isabella Augart und Alexandra Jud 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Maximilian Misson: Reise nach Italien, Leipzig 1713, S. 1061. Vgl. Giuseppe Montalenti: Aldrovandi, Ulisse, in: Dizionario Biografico degli Italiani, hg. v. Alberto Ghisalberti, Bd. 2, Rom 1960, S. 118–124. Zit. nach Paula Findlen: Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley u. a. 1994, S. 63. non iscrivendo cosa alcuna, che co’ proprij occhi, io non habbi veduto, et con le mani mie toccato […], zit. nach Giuseppe Olmi: Ulisse Aldrovandi. Scienza e natura nel secondo Cinquecento, Trient 1976, S. 13. Findlen 1994, S. 65. Giuseppe Olmi: Ulisse Aldrovandi e la natura del Nuovo Mondo, in: Giorgio Antei (Hg): Tesoro mexicano, Parma 2015, S. 179–203. Valentina Pugliano: Ulisse Aldrovandi’s Color Sensibility. Natural History, Language and the Lay Color Practices of Renaissance Virtuosi, in: Early Science and Medicine 20/2015, S. 358–396, hier S. 358. Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966. Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 122–123.
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Ulisse Aldrovandi 10 Ulisse Aldrovandi: Musaeum metallicum […], Bologna 1648, S. 761: Hoc in loco sub nu. 3. Damus iconem Marmoris insertum fuit ligneo nucis Mariae semper Virgines apparet. Hoc frustum Marmoris insertum fui ligneo nucis instrument, columnis Ionicis ornato, cruce lignea superposita. Huius Marmoris maculae, & lineamenta colore errant nigro viridi obscure, atq; diluto, & figuram semper Virginis Christum in sinu gestantis ostendebant. 11 Olmi 1976, S. 13. 12 Sergius Kodera: Giambattista della Porta’s Histrionic Science, in: California Italian Studies 3.1/2012: http://escholarship.org/uc/item/5538w0qd, S. 4.
Athanasius Kircher
Mundus Subterraneus 1665 Tomus II Liber VIII. Sectio I Caput IX. De admirandis Naturæ pictricis operibus, formis, figuris, imaginibus, quas in lapibus & gemmis delineat, eorumque origine & causis […] Natura ludibunda cum vegetativam sensitivamque facultatem in regno mineralium attingere non posset, fecit quod potuit, id est, cum vitam & sensum eis dare non posset, saltem figuram eis indidisse satis esse rata, pictores imitata, omnium, quæ in Mundo continentur, rerum figuras ambitioso penicilli magisterio delineasse visa est; nam qui paulo attentius consideraverit lapidum, marmorum gemmarumque, earum potissimum, quæ multiplici striarum ductuumque varietate dotatæ sunt, constitutionem, is sane aperte videbit, mira quadam industria, primo omnis generis instrumenta artificialia, cultros, ferras, harpagines, incudes, lanceas, vexilla, cruces, circulos, corbes, circinos & geometricas figuras sine numero, triangulos, quadratos, parallelogramma, cubos, rhombos, atque omnis generis prismata in iisdem depicta. Secundo, Natura quasi cœlum contemplata, in iis stellas in asterismos quosdam digestas, ut in Astroite apparet, vel ad pictorum invidiam depinxit; In
Kapitel IX. Über der bildenden Natur bewundernswerte Werke, Formen, Figuren und Bilder, die sie in Steine und Edelsteine zeichnet, deren Ursprung und Ursachen [...] Die Natur scheint verspielt, wenn sie die wachsenden und fühlenden Möglichkeiten im Reich der Mineralien nicht erreichen kann, und tut was sie kann, das heißt, da sie ihnen Leben und Wahrnehmung nicht geben kann, hält sie es für ausreichend, ihnen we nigstens Form einzuschreiben, und scheint, die Maler imitierend, Bilder aller Dinge, die auf der Welt vorkommen, mit der eifrigen Meisterschaft des Pinsels gemalt zu haben. Denn wer ein wenig aufmerksamer den Zustand der Steine, Marmore und Edelsteine bedacht hat, am meisten jener, die mit einer mannigfachen Varietät von Streifen und Zügen begabt sind, der wird deutlich sehen, mit welch wundersamen Fleiß sie erstens künstliche Instrumente jeglicher Art, Messer, Hacken, Ambosse, Lanzen, Fahnen, Kreuze, Reifen, Körbe, Zirkel und geometrische Figuren ohne Zahl, Dreiecke, Quadrate Parallelogramme, Kuben, Rhomben und Prismen jeder Sorte auf diesen dargestellt hat.
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nonnullis gemmis solem radiosa projectione stupendum effigiavit, uti in Camæa quadam, quam olim mihi ceu grande Naturæ miraculum ostendit in Musæo suo similibus rebus instructissimo curiosissimus Franciscus Qualdus Eques. Pari pacto, Lunæ figuram non plenæ tantum, sed & cornutæ & dichotomæ in lapidibus gemmisque non infrequenter inveniri, Selenites docet, qui proindè à Lunæ figura nomen meruit. Narrat Ambrosinus in libro de lapidibus, Achaten se vidisse, in quo & circuli cœlestes unà cum stellis delineati videbantur, & in alio Ursæ majoris asterismum, similia in lapide Lazuli me observasse memini lucidissimis stellis referto. Sed hæc notoriora sunt, quàm ut dici debeant. Habet & nobilissimus Magninus Eques & Patritius Romanus lapidem Heliotropinum in quo 4 Elementa una cum coloribus singulis propriis, ita depicta spectantur, ut non à natura sed ab eximio pictore delineata videantur. Tertiò. Natura mari, urbibus, sylvis, fluminibus delectata, non tantum illa omnia pulchrè depinxit, sed & convenientibus coloribus adumbravit ita, ut artificialibus vix cedere videantur, cujusmodi ex Hetruria, ubi Natura ipsos producit, non exiguam copiam allatam Musæo meo intuli. Inter alia Achates nonnulli uti & Iaspides flumina rivosque, & urbes unà cum sylvis campisque ita perfectè, secundum omnes prospectivæ leges exhibent, ut nihil illi addi posse videatur. Quartò. Non hic desistere videtur, sed & vegetabilis Oeconomiæ officinam ingressa, omnis generis flores, ut rosas in Entrocho, & lilia in Encrino delineat. Videas in multis Iaspidum generibus narcissos, hyacinthos, tulipas, pœoniæ, gelsaminæ cæterarumque
Zweitens, hat die Natur gleichsam den Himmel betrachtet und auf ihnen Sterne zu gewissen Sternzeichen geordnet, wie auf dem Sternstein, oder auch zum Neid der Maler gemalt. Auf einigen Edelsteinen hat sie die staunenswerte Sonne in strahlender Ausbreitung dargestellt, wie in einer Kamee, die mir einst als gleichsam großes Wunder der Natur der höchst wissbegierige Ritter Franciscus Qualdus in seinem durch viele ähnliche Dinge sehr lehrreichem Museum gezeigt hat. In gleicher Weise lehrt der Selenit, dass nicht nur die Gestalt des vollen Mondes, sondern auch des gesichelten und halbierten auf Steinen und Edelsteinen häufig gefunden wird. Ambrosinus berichtet im Buch über Steine, dass er einen Achat gesehen habe, auf dem die Himmelskreise zusammen mit den Sternen aufgezeichnet schienen und auf einem anderen das Sternbild des großen Bären, desgleichen gesehen zu haben, erinnere ich mich, auf einem Lapislazuli, angefüllt mit leuchtendsten Sternen. Aber das sind die bekannteren, so dass sie genannt werden sollen. Der höchst ehrenwerte Maginus, römischer Ritter und Patrizier, besitzt auch einen Heliotrop, auf dem die vier Elemente in den ihnen eigenen Farben so dargestellt zu sehen sind, dass sie nicht von der Natur, sondern von einem herausragenden Maler gezeichnet zu sein scheinen. Drittens, die durch Meer, Städte, Wälder und Flüsse erfreute Natur hat diese nicht allein schön dargestellt, sondern auch in den geeigneten Farben getönt, so dass sie Kunstgefertigtem kaum nachzustehen scheinen. Von dieser Art habe ich aus Etrurien, wo sie diese hervorbringt, eine kleine herbeigeschaffte Menge meinem Museum eingefügt.
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plantarum flores unà cum ipsis plantis mira arte effigiatos. Quintò. Non contenta hisce, ulterius progressa sensitivæ naturæ ergasterium intuens, omnis generis animalia, volucria, quadrupedia, natatilia, insecta depingit, uti postea ex ipsis figuris constabit. Sextò. Ne hominis omnium nobilissimam formam neglexisse videatur, in lapidibus pari pacto humanæ figuræ vario gestuum habituumque ludibrio, non solum quoad integram corporis symmetriam, sed & quoad singula ejus membra depingere conata fuit hinc alibi capitis, cordis, hepatis, ibi oculorum, aurium, narium, hic pectoris, brachiorum, pedumque figuris imbutos non superficie tantum, sed & in lapidibus solidis expressos reperies ; quin & uti in enorchide utriusque hominis sexum expressit, de quibus vide fusius agentem Agricolam & Gesnerum lib. de lapidibus. Septimò. Natura ulterius progressa, & quod Naturæ terminos excedit, in nonnullis lapidibus vel ipsos Angelos Cœlitesque, uti Deiparam Virginem, cæterosque Sanctos, quin & Christum Dominum crucifixum delineare attentavit, ut in sequentibus Figuris eorum apparebit. [...]
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Unter anderem einige Achate und Iaspiden, die Flüsse, Bäche und Städte zusammen mit Wäldern und Feldern so perfekt und allen Regeln der Perspektive folgend darbieten, dass es scheint, ihnen könne nichts hinzugefügt werden. Viertens, es scheint hier nicht zu übergehen, dass sie auch die Arbeit der Landwirtschaft anging, jede Blütensorte, wie die Rosen im Entrochus und die Lilien im Encrinus stellt sie dar. Du siehst in vielen Sorten des Iaspis Narzissen, Hyazinthen, Tulpen, Päonien, Jasmine und Blüten anderer Pflanzen zusammen mit diesen Pflanzen in wunderbarer Kunst dargestellt. Fünftens, damit nicht zufrieden, ist sie weiter gegangen und hat, das Werk der fühlenden Natur beobachtend, jede Art Tier, Vogel, Vierfüßler, Fisch und Insekt gemalt, so dass es später in diesen Figuren Bestand haben wird. Sechstens, damit sie nicht die edelste aller Formen, die des Menschen, vernachlässigt zu haben scheint, hat sie auf Steinen in gleicher Weise mit variierender Spielerei der Gesten und Ansichten der menschlichen Figur, nicht nur soweit es die vollständige Symmetrie des Körpers betrifft, sondern auch dessen einzelne Glieder zu malen versucht, hier und dort Kopf, Herz und Leber, hier findest du nicht nur in Bildern der Augen, Ohren, Nasen, der Brust, Arme und Füße diese der Oberfläche eingebracht, sondern auch in soliden Steinen ausgeformt. Und wie sie darüber hinaus eines jeden Menschen Geschlecht auf dem Enorchis darstellt, darüber findest du ausführlich handelnd Agricola und Gessner in den Büchern über Steine.
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Siebentens, ist die Natur weiter noch g egangen und weil sie die Grenzen der Natur überschreitet, hat sie in einigen Steinen selbst die Engel und Himmel, wie auch die Gottgebärende Jungfrau, andere Heilige und sogar den gekreuzigten Herren Christus darzustellen versucht, wie in deren folgenden Abbildungen deutlich wird [...]. MODUS PRIMUS Primo modo plerasque formas in lapidibus exortas fortuitò & casu natas affero ; quod ut innotescat, noverit Lector, quod quemadmodum phantasia hominum, dum cœlum varietate nubium obductum videt, varia sibi, nunc dracones volantes, iam naves, modò montes, urbes & castella, nunc cruces, modo humanas figuras & similia phasmata, ex nubium incomposita repræsentatione imaginatur : ita quoque vel in sputo in terram conjecto notamus aliquid subindè figurari, quod modò huic, modò alteri rei simile est. Imò in itineribus videntes montium sub certa figura protensionem nunc mensam concipimus, uti promontorium bonæ spei, nunc sub vultu humano, ut Scyllæum promontorium Siciliæ, nunc hominem supine postratum, uti in Apennini Camertensium monte, cuius apex caput, declivis protensio, iterumque nonnihil protuberans, pectus & ventrem, brachium rupes in vallem protensas, duo fœmora in bifidam vallem subsidentia, exititiæ montis partes exprimunt. […] His itaque sic propositis, jam quæri meritò posset, undè tanta imaginum in lapidibus spectra originem suam sumpserint. Respondeo, omnia haec nata esse ex fluore salini liquoris, qui ubi terrenam & appropriatam substantiam adhuc mollem
Erste Art. Der ersten Art rechne ich die meisten Formen in Stein zu, die zufällig entstanden und aus der Gelegenheit geboren sind; damit dies bekannt wird, der Leser wird es wissen, dass derartige Einbildungen der Menschen, während er den Himmel mit der Veränderlichkeit der Wolken überzogen sieht, verschiedentlich ihm aus der ungeplanten Darstellung der Wolken zum Bild wird: bald fliegende Drachen oder Schiffe, dann Berge, Städte und Burgen, nun Kreuze, menschliche Figuren oder ähnliche Gespinste. Auf gleiche Weise bemerken wir auch, dass sich in dem zu Boden gespuckten Rotz etwas formt, was bald dieser, bald jener Sache ähnlich ist. Vielmehr noch unterwegs umschauend nehmen wir die Erhöhung der Berge in einer bestimmten Form wahr, nun als Tafel, wie der Berg der guten Hoffnung, nun als menschliches Gesicht wie das scyllische Vorgebirge Siziliens, bald sehen wir einen ausgestreckt niedergebeugten Menschen, wie beim Berg des Apennin der Camertensium, dessen Gipfel das Haupt, dessen Abhang die Ausstreckung, wiederum hervorstreckend, Brust, Bauch und arm, Schluchten ins Tal ausgestreckt, zwei Schenkel in rückwärtigem Tal sitzen darunter und drücken die Teile des daliegenden Berges aus. […] Wenn dies alles deshalb so
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& siccitate jam ingruente in multas rimas & sinuosos ductus fatiscentem se insinuaverit, uti in marmoribus videre est, fit ut ibidem spiritu lapidifico, successu temporis, omnia simul in duram & saxeam molem coalescant […].
vorliegt, kann nun mit Recht gefragt werden, woher solche Vorstellungen von Bildern in Steinen ihren Anfang genommen haben. Ich antworte, dass dies alles aus dem Fließen einer salzigen Flüssigkeit hervorgegangen ist, die, sobald sie irdische und angepasste Konsistenz angenommen hat, noch weich und bei sich einstellender Trocknung in viele Streifen und kurvige Bahnen ausgelaufen ist, wie beim Marmor zu sehen ist, und es geschieht, dass in gleicher versteinernder Weise mit voranschreitender Zeit alles zu einer harten steinernen Masse verdichtet […].
MODUS SECUNDUS Secundus Modus est, cum terrenæ substantiæ materia, ex qua marmor variegatum nascitur, ita disponitur, ut intra eam, tanquam intra formam quandam, quam modellam vulgo vocant, humor tinctus tandem spiritu lapidifico in eam figuram, quam materiæ matrix refert, induratur. [...]
Zweite Art. Die zweite Art ist, wenn der Stoff irdischer Substanz, aus dem Buntmarmor entsteht, sich so verteilt, dass in ihr, wie in irgendeiner Form, die man üblich Modell nennt, die gefärbte Flüssigkeit endlich in einem versteinernden Sinn in jener Gestalt, die die Form dem Stoff gibt, hart wird. […]
MODUS TERTIUS Fit ex aliquot singulari accidente, quo figuræ in lapidibus nunc in hanc, nunc in illam formam emergeant. [...]
Dritte Art. In dritter Weise geschieht es aus einem einmaligen Ereignis, durch das die Bilder in den Steinen mal auf die eine, mal auf die andere Weise entstehen. […]
MODUS SEXTUS De imaginibus lapidum, quibus divinum quid inesse creditur. In præcedentibus enrarravimus nonnullas imagines Christi crucifixi, Beatissimæ Virginis Matris cum divino suo filiolo brachiis excepto, cæterorumque sanctorum simulacris, de quibus meritò quaeritur, quomodo Natura eos expresserit. Dico divinæ providentiæ executionem ut
Sechste Art. Über Steinbilder, von denen man glaubt, dass etwas Göttliches ihnen innewohnt. Im Vorangegangenen erzählten wir von einigen Bildern des gekreuzigten Christus, der Seligen Jungfrau und Mutter, ihr göttliches Söhnchen mit ausgestreckten Armen auf dem Schoß, und über Bilder der übrigen Heiligen, über die mit Recht gefragt wird, auf
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plurimum mediantibus causis secundis fieri, id est, quandocunque prodigiosi in natura rerum effectus, in cælo quidem novæ stellarum geneses, in inferiori mundo monstruosi partus, & in lapidibus prodigiosæ imagines reperiuntur, illa inquam semper ex admirabili nexu, quo Divinæ providientiæ iunguntur, ad aliquid significandum dirigi […]. Athanasii Kircheri E Soc. Jesu Mundi Subterranei […], Amsterdam: Janssonius / Weyerstraten 1665, Bd. II, Kap. IX, S. 27 f., 37–39, 43.
welche Weise die Natur sie ausgeführt hat. Ich sage, dass zu allererst die Ausführung der göttlichen Vorsehung unter Einhergehen vieler günstiger Umstände stattfindet, das heißt, wann auch immer in der Natur vorausweisende Ereignisse der Dinge, im Himmel etwa die Neuentstehung von Sternen, in der Unterwelt monströse Geburten, auch in den Steinen vorausweisende Bilder beobachtet werden, und ich sage, dass dies immer in wundersamer Verknüpfung der göttlichen Vorsehung verbunden wird, um etwas zum Ausdruck zu bringen [...]. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar 1665 wurde die zweibändige Enzyklopädie über das Innere der Erde Mundus subterraneus des Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602–1680) in Amsterdam veröffentlicht. Es folgten weitere Auflagen 1668 und 1678 sowie 1682 in niederländischer Sprache.1 Nachdem sich Kircher in seinem Werk Itinarium extaticum (1656) mit geokosmischen Überlegungen auseinandergesetzt hatte, wandte er sich in Mundus subterraneus der unterirdischen Welt zu.2 Ausschlaggebend für das Verfassen dieses umfassenden Werkes zur Geologie waren auch die Vulkanausbrüche des Vesuv und des Ätna, deren anhaltende Tätigkeit Kircher auf seiner Reise nach Süditalien und Sizilien 1638 beobachten konnte.3 Kircher betrachtete die Welt wie einen lebendigen Organismus, der ähnlich pulsierenden Adern von Feuer- und Wasserkammern durchzogen war; er beschäftigte sich mit dem Entstehen von Flüssen und Vulkanausbrüchen, aber ebenso mit Mineralien, Metallen und Fossilien sowie deren Entstehung.4 Im neunten Kapitel des achten Buches im zweiten Band behandelt Kircher die sogenannten Figuren- oder Bildersteine.5 Gemeint sind Steine, in deren Maserung der Betrachter figürliche Darstellungen erkennen konnte (Abb. 9). Bereits in der Kapitelüberschrift verdeutlichte der Gelehrte, dass es sich bei diesen Steinen um die Werke einer natura pictrix handelte, also einer malenden Natur, die in der Lage war, sich selbst künstlerisch auszudrücken.6 Die Idee einer natura pictrix wurde schon von anderen Autoren vertreten, darunter von Conrad Gessner, Michele Mercati oder Ulisse Aldrovandi.7 Die Annahme, dass sich die Natur künstlerische Techniken wie malen, zeichnen oder bildhauern zunutze machte, wurde in der Frühen Neuzeit zum Erklärungsmodell für verschiedenste Naturerscheinungen, deren
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Abb. 9 Figuras humanas exhibens, Kupferstich, in: Athanasius Kircher: Mundus subterraneus, Amsterdam 1678, S. 39, Tab. IV
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rsachen man zunehmend zu verstehen suchte.8 Die der Natur zugewiesene Fähigkeit, als U Künstlerin zu agieren, ging einher mit der ebenfalls verbreiteten Deutung einer spielenden Natur (natura ludens).9 Dieser Gedanke ist schon bei Plinius d. Ä. verankert, wurde jedoch erst in der Frühen Neuzeit systematisch angewandt, um die vielfältigen Erscheinungsformen verschiedener Spezies zu erklären.10 Kircher zufolge konnte die Natur ihren Spieltrieb in dem Erscheinungsbild von Steinen besonders gut ausleben: Weil sie im Reich der Mineralien keine Möglichkeit habe, lebendig zu sein, zeichne sie eben alles, was sie in der vegetativen Welt erzeugt habe, in den Steinen nach.11 Auf ihrer untersten Stufe hielt die Natur somit alles vor, was sie in ihren sensitiven Bereichen ausprägen sollte.12 Kircher ging in seinen nun folgenden Ausführungen methodisch vor.13 Zunächst ordnete er die Erscheinungsbilder der Natur in sieben übergeordnete Motivgruppen. Sodann untersucht er die sieben Kategorien nochmals ausführlicher und führte für jede einzelne verschiedene Beispiele an, die er gesehen hatte oder die überliefert waren. Viele im Text beschriebene Bildersteine ließ er zusätzlich illustrieren.14 Schließlich erläuterte er vier verschiedene Weisen für ihre Entstehung.15 Seine Kategorisierung begann Kircher mit geometrischen bzw. mathematischen Umrissen als die einfachsten Bilder und Formen.16 Hierzu gehörten beispielsweise polygon gebildete Steine und Felsen.17 Es folgten Steine, auf denen sich die Elemente erkennen ließen und solche mit Sternen und Planeten.18 Sodann führte er Dendriten auf, in denen man Bäume und Wälder sehen kann, sowie den sogenannten Ruinenmarmor, dessen mineralische Beschaffenheit an die Form von Stadtsilhouetten erinnert.19 Es folgen vierfüßige Tiere, Insekten, Fische und Vögel.20 Beispielsweise führte Kircher eine Säule aus schwarzweißem Marmor in der Sakristei des Collegio Romano an, in die die Natur einen Pelikan gemalt habe, der sich mit geschwungenem Hals die Brust öffne.21 Impliziert ist hier ein von der Natur geschaffenes Symbol für den Opfertod Christi im Marmor. In die siebte Kategorie fasste Kircher Steine mit Menschen und Heiligen wie die Heilige Jungfrau und Engel.22 Eine ähnliche Reihenfolge hatte zuvor Ulisse Aldrovandi in seinem Musaeum metallicum (1648 posthum publiziert von Bartholomäus Ambrosinus) vorgenommen.23 Während Aldrovandi zunächst Steine aufführte, die höhere Wesen zeigten und mit einfachen Maserungen schloss, drehte Kircher diese Reihenfolge um. Damit nahm der Jesuit eine Hierarchisierung der Bildersteine von den einfachsten Formen bis zur höchsten Vollkommenheit der himmlischen Wesen vor. Diese stufenweise Betrachtung der Natur von den einfachsten Dingen hin zu einer spirituellen Gotteserfahrung lässt sich in einen Zusammenhang mit Meditationstechniken stellen, die zu Kirchers Zeiten unter Kardinälen bekannt waren. Der Jesuit Roberto Bellarmin hatte mit seinem Traktat Scala di salire con la mente a Dio (1615) eine mit der Jakobsleiter vergleichbare Meditationsübung vorgelegt, in denen der Meditant in zehn Stufen durch eine Vergegenwärtigung des Kosmos und der Planeten und die darauffolgende Naturbetrachtung bis zu einem spirituellen Gottesverständnis gelangen konnte.24 Die sinnliche Betrachtung der Natur sollte die Schöpfung Gottes in all ihrer Vielfalt vor Augen führen und
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Gottes Botschaft an die Menschen sichtbar machen. Die Suche nach Gott, der nach dem Prinzip omnia in omnibus allen Dingen innewohnte, äußert sich auch in Kirchers Naturverständnis und wird hier exemplarisch in seiner Auseinandersetzung mit den Bildersteinen sichtbar. Zuletzt führte Kircher vier Theorien an, wie die Bilder in die Steine gekommen waren.25 Die Auseinandersetzung mit den Ursachen erweiterte er durch Experimente, die er als Anleitung zum Nachmachen verfasste. Kircher beschrieb die Erzeugung von Marmoreffekten bei der Herstellung von türkischem Papier.26 Er führte ein Übertragungsverfahren von Bildern auf Papier zu Bildern auf Marmor an.27 In einem weiteren Experiment schilderte er die von Niccolò Tornioli und Michelangelo Vanni eingeführte Malerei in Stein.28 Beide Maler hatten Marmor mit chemischen Substanzen so behandelt, dass sie ein Bild im Marmor erzeugen konnten.29 Während die Maler ihre Technik selbst nicht preisgaben, versuchte Kircher in Zusammenarbeit mit dem deutschen Chemiker Albert Günter das Geheimnis zu lüften und schilderte es als EXPERIMENTUM novum & rarum.30 Aus den Ergebnissen seiner Experimente, die Kircher in seiner römischen Wunderkammer für gewöhnlich wirkungsvoll vor Publikum in Szene zu setzen wusste, leitete er jedoch keine direkten Schlussfolgerungen ab.31 Die von Kircher angeführten Entstehungsursachen der Bildersteine sind trotz des evidenzbasierten Anscheins größtenteils überliefert und greifen auf tradierte Theorien zurück. Kircher begann seine Aufzählung der Ursachen damit, dass die menschliche Phantasie Bilder in Steine hineinzudeuten vermag wie sie auch Figuren in Wolken oder Bergformationen erkennt und verwies damit indirekt auf Beispiele aus der antiken Literatur.32 Diese Interpretation revidiert Kircher jedoch anschließend selbst, indem er die Theorie eines spiritus lapidificus anführte, unter dessen Einfluss die weiche Masse zu Stein zusammenklumpte. 33 Als Modus Secundus verwies Kircher auf versteinerte Fische, die unter Einfluss dieser gesteinsbildenden Ausdünstungen (spiritus lapidificus) versteinert worden seien.34 Er griff damit die Theorie des succus lapidiscens auf, die bereits Georg Agricola in seiner Schrift De ortu et causis subterranorum (1546) entwickelt hatte. Drittens erläuterte Kircher ausgehend von Dendriten Bildersteine, die zufällig in den Stein gekommen waren.35 Da nach Kirchers Weltanschauung alles mit allem in Verbindung stand und diese Vielfalt in dem Einen, gemeint ist die Schöpfung Gottes, zusammenlief (omnia in omnibus), sei die Natur auch in der Lage, alles, was aus ihr hervorgehe, in einer anderen Materie abzubilden. Bei diesem komplizierten Prozess half – angelehnt an das antike Konzept einer Panspermia – ein spermaticum, das die Zusammenhänge zwischen Vielheit und Einheit regelte.36 Auf diese Weise ließen sich auch Bilder in Steinen wie die von Tieren oder religiösen Motiven erklären. Als vierte Kategorie führte Kircher die göttliche Vorhersehung als Modus für die Entstehung von Bildersteinen an.37 Das Gött liche selbst wohne diesen Steinen inne, sie seien als Zeichen Gottes zu deuten. Während die auf einer gesteinsbildenden Kraft und einer natura pictrix beruhenden Erklärungsversuche der Bildproduktion in Steinen zunächst von der Natur selbst ausgehen, kann, wie Fabio Barry bemerkt, die vierte Weise als eine neue Art Archeiropoieta – nicht nur
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‚nicht von Menschenhand gemachte Bilder‘, sondern durch keine natürlichen Ursachen erklärbare Bilder – verstanden werden.38 Dabei blieb für Kircher bei aller Erkenntnis, die er vor seinem Leser ausbreitete, immer ein Geheimnis übrig, das die Anwesenheit des Schöpfergottes zwar demonstrieren sollte, das aber nicht vollständig entschlüsselt werden konnte.39 Der Schöpfergott selbst zeigte sich den Menschen auf vielerlei Weise – auch in den Bildersteinen. Johanna Beate Lohff 1 Vgl. Klaus-Peter Kelber u. Martin Okrusch: Pendelschläge geowissenschaftlicher Erkenntnis, in: Spurensuche. Wege zu Athanasius Kircher, Dettelbach 2002, S. 137–162, hier S. 156, Anm. 17. 2 Vgl. Anne Eusterschulte: Naturwunder aus dem Inneren der Erde. Athanasius Kirchers Mundus Subterraneus und die Etablierung einer geokosmischen Wissenschaft, in: Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme u. Robert Felfe (Hg.): Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, München 2011, S. 177–216, hier S. 196–204. 3 Der Vesuv brach 1631 und nochmals 1660 aus, der Ätna 1638. Kircher untersuchte den Vesuv, indem er sich in seinen Krater herabseilen ließ. Vgl. Kelber u. Okrusch 2002, S. 140–142. 4 Vgl. Paula Findlen: Science, history, and erudition: Athanasius Kircher’s Museum at the Collegio Romano, in: Daniel Stolzenberg (Hg.): The Great Art of Knowing. The Baroque Encyclopedia of Athanasius Kircher, Stanford 2001, S. 40. 5 Jurgis Baltrušaitis nutzte den Begriff „pierres imagées“ in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1957. Vgl. hier die deutsche Übersetzung: Jurgis Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Tierphysiognomik, Bilder im Stein, Waldarchitektur, Illusionsgärten, Köln 1984, bes. S. 64–69. Zu den Figurensteinen oder Bildersteinen in jüngerer Zeit Robert Felfe: Figurationen im Gestein, in: Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou u. Markus Rath (Hg.): Paragone als Mitstreit, Berlin 2014, S. 153–175; Johanna Beate Lohff: Malerei auf Stein. Antonio Tempestas Bilder auf Stein im Kontext der Kunst- und Naturtheorie seiner Zeit, München 2015, S. 104–175; Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 113–144; speziell zu Kircher Eusterschulte 2011. 6 Siehe Kircher 1665, S. 27: De admirandis Naturæ pictricis operibus, formis, figuris, imaginibus quas in lapidibis & gemmis delineat, eorumque origine & causis. 7 Vgl. zu Gessner den Beitrag von Arwed Arnulf, zu Aldrovandi den Beitrag von Joris van Gastel in diesem Band. 8 Vgl. Felfe 2014, S. 162–167. 9 Zur spielenden Natur vgl. Paula Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge. The Playfulness of Scientific Discourse of Early Modern Europe, in: Renaissance Quarterly 42/1990, S. 292–331 und Adamowsky, Böhme u. Felfe 2011. 10 Plinius etwa erklärt die Verschiedenartigkeit der Menschen hiermit: Haec atque talia ex hominum genere ludibria sibi, nobis miracula, ingeniose fecit natura. – „Dies und Ähnliches erschuf nur die Natur aus dem Menschengeschlecht, sich zum Spiel, uns aber zum Wunder“.
Mundus Subterraneus C. Plinius Secundus d.Ä. : Naturkunde. Lateinisch-deutsch, Buch VII, 32, Anthropologie, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 2013, S. 34–35. Vgl. Findlen 1990, S. 296. 11 Vgl. Kircher 1665, S. 27. 12 Eusterschulte 2011, S. 207. 13 Vgl. Baltrušaitis 1984, S. 66. 14 Viele Illustrationen sind aus anderen Publikationen, insbesondere aus Ulisse Aldrovandis Musaeum Metallicum (1648) abgekupfert. 15 In der Ausgabe von 1678 sind es vier Ursachen, in der Ausgabe von 1665 ist die Zählung der Modi falsch gesetzt, was in den Folgeausgaben korrigiert wurde. Modus Sextus entspricht dann dem Modus Quartus. Vgl. dazu auch Anm. 37. 16 Siehe Kircher 1665, S. 28: Primæ Figuræ Mathematicæ & omnis generis instrumenta à Natura in lapidis depicta. 17 Siehe Kircher 1665, S. 28–29. 18 Kircher führt zwar in seiner ersten und zweiten Aufzählung jeweils sieben Motivgruppen an, diese sind jedoch nicht deckungsgleich. In der ersten Aufzählung führt Kircher unter zweitens Steine mit Sternen und Planeten an und solche, die Elemente zeigen. In seiner zweiten Reihung geht er unter zweitens auf Steine mit den Elementen ein und unter drittens auf Steine mit Planeten. 19 Siehe Kircher 1665, S. 30: Arbores, Sylvæ in lapidibus à natura exprimuntur. 20 In der zweiten Aufzählung fasste Kircher sie unter Quintò und Sextò. Siehe Kircher 1665, S. 30. 21 Siehe Kircher 1665, S. 32: Est in Sacristia collegii Romani columna marmorea ex nigro & alba mixta, in qua Natura pelicanum pinxit, contorto collo pectus sibi aparientem, […]. 22 In seiner ersten Übersicht trennte Kircher Menschen und Übersinnliches in zwei Kategorien, fasst sie aber in der anschließenden Auseinandersetzung in eine Kategorie zusammen. Siehe Kircher 1665, S. 28 u. S. 30. 23 Musaeum metallicum in libros IIII distributum bartholomaeum ambrosinus in patrio bono, Bologna 1648. 24 Vgl. Roberto Bellarmino: Scala di salire con la mente a Dio per mezo delle cose create, Rom 1615; Arnold A. Witte: The Artful Hermitage. The Palazzo Farnese as a Counterreformation „Dieta“, Rom 2008, S. 99–102. 25 Vgl. Kircher 1665, S. 37–44. 26 Ebd., S. 38: EXPERIMENTUM. 27 Siehe ebd., S. 42: EXPERIMENTUM. Eikonogenesis in lapidibus ad oculum demonstrans. Kircher beschrieb darin eine Art Abklatschverfahren von Papier auf Marmor: Mineralische Farben mit chemischen Substanzen gemischt dienten als Malmittel für ein Bild auf Papier. Wenn das Papier zwischen Marmortafeln gelegt wurde und einige Tage in einem feuchten Raum einwirken konnte, drückte sich das Motiv auf den Marmortafeln ab. 28 Vgl. Giulia Martina Weston: Invention, Ambition and Failure: Niccolò Tornioli (1606–51) and ‚Il Segreto di Colorire il Marmo‘, in: Piers Baker-Bates u. Elena Calvillo (Hg.): Almost Eternal. Painting on Stone and Material Innovation in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2017, S. 304–309; Fabio Barry: „Painting in Stone“: Early Modern Experiments in a Meta Medium, in: The Art Bulletin 99.3/2017, S. 30–61, hier S. 35–43.
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Athanasius Kircher 29 Ein Beispiel für diese Technik liefert das Grabmal für seinen Vater Francesco Vanni in S. Giorgio in Siena, vgl. Barry 2017, S. 41. 30 Siehe Kircher 1665, S. 43. 31 Vgl. Tina Asmussen: Scientia Kircheriana. Die Fabrikation von Wissen bei Athanasius Kircher, Affalterbach 2016, S. 117–118. 32 Cicero berichtet etwa, Karneades habe einen Panskopf in einem Steinbruch gesehen (Cicero, De divinatione, I, xiii u. II, xxi). Vgl. Marcus Tullius Cicero: De senectute. De amicitia. De divinatione, with an engl. transl. by William Armistead, London 1959, S. 48–49. 33 Übersetzung siehe oben. Kircher 1665, S. 37; vgl. Eusterschule 2011, S. 214–215. 34 Siehe Kircher 1665, S. 38: […] hisce itaque complures pisces unà ejectos, limoque involutos constitisse. 35 Siehe ebd., S. 39: MODUS TERTIUS. Fit ex aliquo singulari accidente, quo figuræ in lapidibus nunc in hanc, nunc in illam formam emergant. 36 Thomas Leinkauf: Mundus Combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers (SJ) (1602–1680), Berlin 2009 (2. Aufl.), S. 92–109. 37 Siehe Kircher 1665, S. 43: De imaginibus lapidum, quibus divinum quid inesse creditur. Zumindest in der Ausgabe von 1665 aus der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel führt Kircher dies als Modus Sextus an, Modus quintus fehlt und Modus quartus setzt unvermittelt im Text ein. Spätestens ab der Ausgabe von 1678 ist die Auseinandersetzung mit dem Göttlichem in den Steinen unter Modus quartus aufgelistet. 38 Barry 2017, S. 43. 39 Asmussen 2016, S. 117–118.
Robert Boyle
Specimen de gemmarum origine et virtutibus 1673
Sectio I, S. 3–5 [...] Velim enim te in ipso huius discursus exordio scire, me conjecturas meas de Virtutibus Gemmarum proponentem non supponere veritatem omnium, imo ne decimae quidem partis admirandarum illarum proprietatum, quas hominibus illis tribuere placuit. Nam non solum scriptores Magiae Naturalis, sed et viri probatae fidei ac celebres, qui cautius ac moderatius progredi debuerant, exposuerunt in scriptis suis varia de Gemmis, quae adeo inepta sunt ad fidem promerendam, eorumque nonnulla adeo impossibilia et naturae repugnantia, ut opiner eorum credulos homines inter eos, Philosophorum titulum vel ambiunt, vel merentur, non minus esse raros, quam Gemmae ipsae sunt inter Lapides. Illi etiam, qui admittere possunt istius modi improbabiles fabulas, tanto afficiantur ab hominibus judicio pollentibus contemptu et vituperio, quanta gemmae a divitibus aestimatione extolluntur. Ego sane nunquam vidi magnos effectus editos a duris illis et pretiosis lapidibus, (Adamantibus, Rubinis, Sapphiris) qui solent annulis infigi. Attamen quia Medicis a tot seculis placuit praescribere fragmenta pretiosorum lapidum in quibusdam maximi nominis Cardiacis compositionibus, quia
Sectio I, S. 3–5 […] Ich möchte nämlich hier am Anfang dieser Abhandlung von Dir zur Kenntnis genommen wissen, dass ich bei Darstellung meiner Konjekturen über die Fähigkeiten der Edelsteine nicht an die Wahrheit all dieser wunderbaren Eigenschaften glaube, die den Steinen zuzuschreiben den Menschen gefiel, sondern nicht einmal an deren zehnten Teil. Denn nicht nur Autoren der Naturmagie [Alchemisten], sondern auch bekannte Männer bewiesener Glaubwürdigkeit, die vorsichtiger und maßvoller vorgehen mussten, enthüllten in ihren Schriften einiges über Edelsteine, das so ungeeignet ist Glauben zu erwecken, einiges so unmöglich und der Natur zuwider, so dass ich glaube, unter den Menschen, die als Gelehrte einhergehen oder dies zu verdienen vermeinen, seien glaubwürdige seltener noch als Edelsteine zwischen Steinen. Diejenigen aber, die zugestehen, dass derartige Geschichten unwahrscheinlich sind, werden von Menschen, die in hohem Ansehen stehen, um so mehr mit Verachtung und Tadel angegriffen, je höher Edelsteine bei den Reichen in Wertschätzung stehen. Ich nämlich habe niemals große Wirkungen ausgehen sehen, von jenen harten und wertvollen Steinen, Diamanten, Rubinen
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etiam multi viri celebres istius professionis, nonnulli eorum famosi scriptores, et quidam Virtuosi mihi familiares vel scriptis suis, vel oretenus, mihi asseruere quosdam notatu dignissimos effectus Gemmarum (inprimis Crystalli), quos propriis et particularibus observationibus edocti didicerunt, et tandem, quia (ut mox ostendam) nullam impossibilitatem comperio, quin ad minimum quaedam pretiosae et minus durae (quanquam re ipsa majoris valoris) gemmae polleant notandis operationibus in corporibus humanis, quarum aliquas experientia mihi evicit, nolo sine discrimine rejicere qua suis virtutes Medicinales, quas Traditio et Scriptores de Lapidibus Pretiosis, Nobilibus illis Mineralibus adscribere: mihique sufficit verbo declarasse, quod conjecturae meae maxima parte virtutum illarum falsitatis suspecta, duntaxat eo tendunt, ut unam causarum exhibeant virtutum Gemmis adscriptarum, quarum veritatem experientia demonstrat. Postquam hoc modo explicui, quo sensu conjectura mea de virtutibus Lapidum pretiosorum sit intelligenda, consequens est ut proponam conjecturam seu hypothesin ipsam, cuius summa commode comprehenditur his duobus particularibus: Primo, Multas Gemmas, Lapidesque Medicinales, sive olim fuisse corpora fluida, ut pellucidas, aut ex parte compositas esse ex talibus substantiis, quae fuerunt aliquando fluidae. Secundo, Multas veras virtutes illorum lapidum videri derivatas ex Mistura Metallicarum, aliarumque Mineralium substantiarum, quae (quanquam improviso) solent in illis incorporari: gradusque varietatis et efficaciae illarum virtutum attribuendas
oder Saphiren, die man Ringen einzusetzen pflegt. Dennoch, weil es den Ärzten seit so vielen Jahrhunderten gefiel, bei gewissen Krankheitsbildern mit großartiger Bezeichnung Bruchteile von Edelsteinen zu verordnen, weil auch viele gefeierte Männer dieses Berufes sind, und weil einige berühmte Autoren, manche große, mir bekannte Virtuosen, in ihren Schriften oder auch mündlich mir versichert haben, dass sie höchst bemerkenswerte Wirkungen von Edelsteinen, besonders des Kristalls, aus eigenen, speziell angestellten Beobachtungen, kennengelernt haben, weil ich aber schließlich, wie ich bald zeige, nichts Unwahrscheinliches einsehe, ferner, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass einige teure doch weniger harte Steine, mögen sie auch in der Sache selbst bedeutend sein, im menschlichen Körper in bekannter Weise einiges anrichten, möchte ich nicht unterschiedslos jegliche medizinische Wirkung bestreiten, die Tradition und Autoren Edelsteinen und wertvollen Mineralen zuschreiben. Ich beschränke mich darauf deutlich zu erklären, dass meine Untersuchungen, größten Teils unter Annahme des Unzutreffens jener Wirkungen, bloß darauf zielen, dass sie einen einzelnen Grund zugeschriebener Edelsteinwirkungen erweisen mögen, deren Zutreffen Beobachtungserkenntnis beweist. Nachdem ich auf diese Weise erklärt habe, wie meine Überlegungen über die Wirkungen von Edelsteinen zu verstehen sind, ist es folgerichtig, dass ich meine Überlegung oder Hypothese selbst vorstelle, deren Inhalt aus diesen zwei Teilen besteht: Erstens, dass viele Edelsteine oder medizinische Steine entweder einst flüssig waren, wie die Durch-
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quibusdam faustis concurrentibus substantiis illius misturae. [...]
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scheinenden, oder teilweise aus solchen Substanzen bestehen, die einst flüssig waren. Zweitens, dass viele tatsächliche Wirkungen jener Steine aus der Vermischung von Metallen und anderen mineralischer Substanzen entstehen, welche, wenn auch zufällig, in ihnen selbst pflegen vereint zu werden. Ab stufungen und Unterschiede jener Wirkungen müssen der glücklichen Zusammensetzung der Mixtur zugeschrieben werden. […] [Anm. d. V.: Boyle argumentiert für eine Ent stehung von Edelsteinen aus ehemals flüssigen Substanzen und verweist auf die kristalline Struktur von Salzen, die nach der Verdampfung bestimmter Flüssigkeiten zurückbleiben, was er auf Edelsteine überträgt.]
Sectio I, S. 10–12 Ut jam hoc applicem Gemmis, dico diversa illarum genera habere Geometricas et ordinatas figuras, quanquam illae vulgo non observentur, quoniam solemus eas videre jam politas, vel etiam jam infixas annulis et cimeliis; ego tamen saepius figuras illas observavi, quando illas inspexi rudes, prout natura produxerat, et non raro diversas ex matricibus suis excepi. Memini enim me excipere plurimos Indicos Granatos ex massa heterogenae materiae, cuius distinctae cavitates similes totidem cellulis, continebant lapides, in quorum superficiebus quibusdam videri poterant Triangula, Parallelogramma et cetera. Cum etiam aliquando essem prope rupem, unde lapides illi vel Adamantes praecipue afferuntur, qui vulgo appellantur Bristol stones, (lapides Bristolienses) memini me illuc equo vectum curasse, ut Operarii
Sectio I, S. 10–12 Wenn ich dies nun auf Edelsteine anwende, stelle ich fest, dass verschiedene Sorten von ihnen geometrisch ausgerichtete Formen aufweisen, obwohl wir diese gemeinhin nicht bemerken, da wir gewohnt sind diese erst im geschliffenen Zustand zu sehen, oder aber bereits eingesetzt in Ringen oder Schmuckstücken. Ich habe diese Formen dennoch häufig beobachtet, wenn ich diese roh untersuchte, so wie die Natur sie hervorgebracht hat, und nicht selten habe ich verschiedene aus ihrem Wuchsumfeld gelöst. Ich erinnere mich nämlich viele indische Granate aus einem Brocken uneinheitlicher Bestandteile gelöst zu haben, dessen Höhlungen ähnlich Zellen Steine enthielten, auf deren Oberflächen Dreiecke, Parallelogramme und ähnliches erkannt werden konnten. Als ich einmal bei einem Felsen war, aus dem Steine gefördert wurden,
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eorum aliquot in usum meum effoderent, quorum diversos comperi concinne et ordinate figuratos non multum absimiles Crystallis Nitri, quibuscum illos contuli. […] Cum vero adhaec consuluissem peritum Gemmarium, eúndemque perigrinantem, ille licet mihi non posset impolitorum Adamantium, quos viderat, figuras describere, tamen narrabat, se potissimum eos figuratos vidisse eodem modo, quo ille, quem ostendebam ei, figuratus erat; adeo ut talis figura signo ipsi esset, quo solitus erat Adamantem verum ab aliis lapidibus discernere, si opportunitas eum per duritiem examinandi deesset. Robert Boyle: An essay about the origine & virtues of gems, London 1672. Hier nach der vielfach aufgelegten und nachgedruckten lateinischen Ausgabe von Gottfried Schulz: Robert Boyle: Specimen de gemmarum origine et virtutibus, Hamburg/ Amsterdam 1673, Sectio I, S. 3–5 und Sectio I, S. 10–12.
besonders jene Kristalle, die Bristol Stones genannt werden, – ich hatte mich zu Pferd dorthin begeben, damit die Bergarbeiter mir etwas zu meinem Gebrauch ausgruben, – kaufte ich verschiedene von ihnen, schön und von regelmäßiger Gestalt, die Salzkristallen nicht unähnlich waren, mit denen ich sie verglichen habe. [Es folgen ähnliche hier ausgelassene Beobachtungen aus anderen Edelsteinlagern, schließlich berichtet der Autor, dass er besonders ungeschliffene Diamanten zum Vergleich gesucht und für ähnlich geformt befunden habe.] Als ich hierzu einmal einen kundigen Juwelier auf Geschäftsreise konsultierte, konnte er mir zwar nicht die Gestalt ungeschliffener Diamanten, die er gesehen hatte, exakt beschreiben, erklärte aber, dass er sie am ehesten so geformt gesehen habe, wie derjenige beschaffen war, den ich ihm gezeigt hatte. Und zwar so, dass diese Form für ihn ein Zeichen wäre, durch die man üblicher Weise Diamanten von anderen Steinen unterscheiden könne, wenn die Möglichkeit zu einer Härteprobe fehle. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Robert Boyle (1627−1691), wohlhabender Spross einer iro-englischen Adelsfamilie, gilt als einer der Väter moderner Mineralogie, stand in engem Kontakt mit den Protagonisten empirischer Naturforschung wie Isaac Newton und Robert Hooke, war Gründungsmitglied der Royal Society, entdeckte wesentliche Aspekte der Gasgesetze, also der Bezüglichkeit der Zustandsgrößen Druck, Temperatur und Volumen.1 Auch auf dem Gebiet der Mineralogie gelangen ihm wichtige Beobachtungen und Schlussfolgerungen, vor allem verwarf er die seit der Antike wirksame Vier-Elementen-Lehre zu Gunsten der Annahme einer Zusammensetzung aller Stoffe aus verschiedenen kleinsten Teilen.2 Seine Forschungen bemühten sich entsprechend um die analytische Zerlegung von Stoffen, er benutzte Indikatoren zum Nach-
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weis von Säuren und Basen, erprobte die Vakuumdestillation und andere Verfahren, die später zu wesentlichen Fortschritten analytisch arbeitender Chemie führten.3 Neben diesen Verdiensten um eine Rationalisierung der Naturforschung geriet Boyle wie auch sein Freund Newton in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts in Misskredit wegen seiner retrospektiv als alchemistisch abgewerteten Interessen und Versuche.4 Diese Trennung seiner als zukunftsweisend gefeierten Aktivitäten von denen, die fehlgehendem Aberglauben und irrationaler Spielerei zugeschlagen wurden, zeigen ein grundsätzliches Wertungsproblem wissenschaftsgeschichtlicher Einschätzungen: Dass Boyle im Zuge seiner Suche nach nicht mehr teilbaren Elementen zur Unterstützung seiner Theorie von der Zusammensetzung der Stoffe aus verschieden beschaffenen Teilchen auch die Suche nach dem Lapis philosophicus, dem Stein der Weisen, also einer absolut gedachten Grundsubstanz und ihrer Eigenschaften, suchte, mag aus heutiger Perspektive naiv, aus der zeitgebundenen aber sogar als logisch erscheinen. Falsifizierungen dieses Konzepts gelangen nämlich erst später, entsprechend konnte die Suche nach einem universalen Grundstoff, einem Stein der Weisen, auch erst später als fehlgehendes Konzept entlarvt werden.5 Zu Boyles’ Zeiten verlief die Trennung zwischen irrational wundergläubiger Alchemie und moderner Wissenschaft an anderer Stelle, wie seine Ausführungen zu den Wirkungspotentialen von Edelsteinen in medizinischen Verwendungen exemplarisch vorführen: Sein 1672 erschienener Traktat über Wesen und Entstehung von Edelsteinen,6 der wie viele seiner Schriften im kontinentalen Europa erst in lateinischer Ausgabe rezipiert wurde,7 die deshalb hier zu Grunde gelegt wird, richtet sich gegen die Zuschreibung wundersamer physiologischer und mentaler Wirksamkeiten medizinisch verabreichter Edelsteine. Es sind die Vertreter solcher astrologisch-alchemistischer Traditionen, die Boyle des verdammenswerten Aberglaubens bezichtigt. Darüber hinaus zeigt die Argumentation des zitierten einleitenden Abschnitts auch, dass Boyle auf seine Theorie der Zusammensetzung der Stoffe aus kleinsten Teilen unterschiedlicher Substanzen zurück greift: Sollten Edelsteine in medizinischem Einsatz tatsächlich nachweisbar Wirkungen zeigen, so kann dies nach Boyle nur an den eingebundenen Substanzen liegen. Diese Überlegung führt weiter zur Frage, wie diese Substanzen in die Edelsteine gelangten und wie diese entstanden, damit solches geschehen konnte. Aus diesen Überlegungen entwickelt Boyle seine Theorie der Edelsteinentstehung aus ursprünglich flüssigen Stoffen, die er in den folgenden, unten nicht mehr zitierten Abschnitten durch Beobachtungen und Versuche zu bekräftigen sucht. Es entsteht ein Traktat über Edelsteine, der von der Frage nach deren Wirkungspotentialen ausgehend, deren Entstehung und Zusammensetzung thematisiert, Erfahrungsberichte, Versuche und Beobachtungen systematisch auflistet, die Theorie der Edelsteingenese aus vormals flüssigen Stoffen vertritt und anschließend Berichte, Meinungen und Beobachtungen aufzählt und prüft. Verständlich wird die Schrift als speziell anwendungsorientierter Teil von Boyles Arbeiten zur Materie und ihren Bestandteilen. Für den hier verfolgten Zusammenhang bleibt von besonderem Interesse, wie sehr der Vorwurf irrationaler Scharlatanerien an den jeweiligen zeitge-
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gebenen Wissenshorizont gebunden ist und wie weit sich Boyles analytisch um Ursprungsund Zusammensetzungstheorien ringende Beschäftigung mit Edelsteinen von früheren und auch gleichzeitigen Autoren unterscheidet, die der Abrufung edelsteinspezifischen topischen Wissens aus der literarischen Tradition verhaftet blieben. Traktate über Edelsteine konnten nun mehr als Aufarbeitungen literarischen Erbes und Teil der naturwissenschaftlichen Diskussion sein. Anders auch als Anselm de Boodt, dessen Werk über Edelsteine Boyle zitiert und wertschätzt,8 steht nicht die Sammlung und Aufarbeitung literarisch überlieferter Inhalte − also topischen Wissens − im Vordergrund, sondern die Beurteilung von Theorien zu Genese und Eigenschaften auf Grundlage gesammelter Daten, Beobachtungen, Versuche und Schlussfolgerungen. Arwed Arnulf 1
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Zu Boyle und der ausufernden Literatur zu Leben und Werk vgl. Michael Hunter: Robert Boyle Reconsidered, Cambridge 1994; Michael Hunter: Boyle: Between God and Science, New Haven 2009; Alan Chalmers: Robert Boyle (1627–1691), in: Andrea I. Woody, Robin Findlay Hendry u. Paul Needham (Hg.): Philosophy and Chemistry, Oxford 2012, S. 47−53; John J. MacIntosh: Robert Boyle, in: Peter R. Anstey (Hg.): The Oxford Handbook of British Philosophy in the Seventeenth Century, Oxford 2013, S. 73−95. Zugang zu gedruckten und ungedruckten Schriften Boyles und einer aktuellen Bibliography bietet: The Robert Boyle Project (Birkbeck, University of London) http://www.bbk.ac.uk/boyle. Antonio Ciericuzio: Elements, Principles and Corpuscles: A Study of Atomism and Chemistry in the Seventeenth Century, Dordrecht 2000, S. 103−148. Marie Boas: Robert Boyle and Seventeenth-Century Chemistry, Cambridge 1958; Ursula Klein: Verbindung und Affinität. Die Grundlegung der neuzeitlichen Chemie an der Wende zum 17. und 18. Jahrhundert, Basel 1994, S. 56−83. Zur Forschungslage vgl. Lawrence M. Principe: The Aspiring Adept: Robert Boyle and His Alchemical Quest, Princeton/N.J. 1998. Zur Problematik mit Überblick zur Forschung vgl. Philip Ashley Fanning: Isaac Newton and the Transmutation of Alchemy. An Alternate View of the Scientific Revolution, Berkeley 2009. Robert Boyle: An essay about the origine & virtues of gems, London 1672. Hier nach der vielfach aufgelegten und nachgedruckten lateinischen Ausgabe von Gottfried Schulz: Robert Boyle: Specimen de gemmarum origine et virtutibus, Hamburg/Amsterdam 1673. Das Phänomen der europaweiten Rezeption von Boyle durch zum Teil erweiterte und kommentierte lateinische Übersetzungen scheint in der Forschung unbemerkt zu bleiben. Zum Nachweis des Phänomens genügt ein Blick auf die im deutschen Sprachraum erschienen Übersetzungen in VD 17 und VD 18. Vgl. zu De Boodt den Beitrag von Arwed Arnulf in diesem Band.
Joachim von Sandrart
Teutsche Academie der Bild- Bau- und Mahlerey-Künste 1675 DER TEUTSCHEN ACADEMIE ERSTEN THEILS ERSTES BUCH VON DER ARCHITECTUR ODER BAU-KUNST Das I. Capitel. Von den Bau-Steinen SOfern ich mich dissorts unterfahen wolte/ die Notturft und Nutzbarkeiten der Weltberühmten und Hochgepriesenen Architectur oder Bau-Kunst zu beschreiben/ würde ich eben an den Stein stoßen/ an welchen sich so viel Sinn-spitzige und Hirnreiche Schriftlinge geärgert/ und darüber einen Eckel gefasset: Nämlich ich würde mich in die Weitläuftigkeit eines fast unergründlichen und Bodenlosen Meers einlassen und versenken. Ich würde auch eben dieselbe Bürde und Mühwaltung mir selbst aufbinden/ deren sich schon vorlängst Vitruvius und Leon Baptista Alberti mit Freuden entschüttet. Darüm werde ich dißmal rahtsamlich beyseits setzen/ die Arbeit/ so man in Kalch/ Sand/ Holz und Eisen/ verfärtigt/ auch nicht anziehen die Manier und Weise zu gründen/ samt allem deme/ das zu Vollziehung eines verständigen Baues gedeylich und nötig ist. Ich werde aber bloß/ zu Dienst und Frommen aller Kunstliebenden Bauleute/ beybringen/ die Manier/ Proportion und Weise/ welche in den Gebäuen soll beobachtet und gehalten
werden/ damit sie die rechte Zierde und Schönheit überkommen. Hierbey waltet nun die meiste Beschwerung/ in Zubereitund Ausarbeitung der harten/ vesten und starken Steine/ von welchen zugegen mit belieblicher Kürze solle gehandlet werden. Ich sage dann erstlich/ von dem harten Porfyr-Stein. Ist ein rohter Stein/ mit kleinen weißen Adern/ so aus Egypten in Wälschland gebracht wird. Seine Natur ist/ daß er in dem Aushauen etwas zart und lind/ doch/ so er dem Ungewitter/ Eis/ Regen/ Hitz und Kälte unterworffen wird/ allezeit mehr erhärtet: mittler zeit er/ durch vielfältige Anwendung der Sägen/ Steineisen und Räder/ mus zugericht/ polirt und geschlichtet werden. Wie dann unterschiedliche Stücke zu sehen/ welche theils viereckicht und rund/ theils eben und flach sind: die zu denen Zimmern/ Pflastern/ Gebäuen und Seulen/Statuen und Bildnußen/ auch Röhrkasten und Wasserzwingern/ bästens gedeylich. Wiewol sie auch nicht minder in denen Epitaphiis, Mahl-oder Grab-Steinen/ zu niederer und mitler Erhöhung/ zierlich und fast nutzlich anzuwenden. Ein Beyspiel und Augenschein dessen ist zu nehmen/ von der Ruh-Stätte der heiligen Jungfrauen Constantiae, einer
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Käyserlichen Prinzessin und Tochter Constantini des Großen/ in dem alten und Ruhmreichen Gebäu des Tempels Bacchi, außer der Stadt Rom: bey deren viel Kindlein und Knaben/ mit grünenden Weintrauben und Blättern/ voll höchsten Fleißes/ Kunst und Mühsamkeit/ von eben-ermeldtem Stein/ zu Trutz der Natur/ ausgearbeitet und verfärtigt stehen. Diese mögen jetziger Zeit nicht mehr von unsern Werkmeistern nachgeahmet und in gleicher Vollkommenheit erreichet werden/ weil sie die Temperatur, in Zurichtung notwendiger Instrumenten/ Werkzeug und Eisen verlohren/ mit welchen diese Steine gedemütiget und bezwungen worden. Es sind zwar öfters etliche glatte Seulen und andere Stucke/ durch gewiße Ram-Sägen/ auch Gebrauch des Wassers und Schmirkels/ aus gemeldten Steinen/ mit höchst-saurem Schweiß und Mühe/ heraus gebracht und gekünstlet worden/ insonderheit vermittels des Bocks-Bluts/ so zu Erweichung gemeldtes Steins am fürträglichsten: sie haben aber doch niemals zur Vollkommenheit ihrer Vorfahren gelangen mögen/ daß sie auch solche rare und seltsame Contrafatturen oder Bildnußen/ in großen und kleinen Stücken/ hätten mögen zuwegen bringen. Sie haben gewiße Hämmer/ mit großen und schweren Köpfen/ von Stahl erfunden/ auch vorher die Steine mit gedachtem BocksBlut geweichet/ und endlich mit langem Hämmern und Pecken es so weit gebracht/ daß sie dem Stein bald eine runde/ bald eine flache Figur oder Gestalt erworben. […]
Neben deme/ führet man/ aus Griechenland und fast allen andern Orten des Orients oder Aufgangs/ einen weißen hellglänzenden Marmor vielfärbig gestreimet/ dessen sich unsere Vorfahren meist zu den Bädern und FensterStöcken/ der stürmenden Winde Anfall zu hintertreiben/ bedienet: als bey S. Miniato, in der Wohnung gewißer Ordens-Mönche/ zu sehen/ alda die Porten und FensterStöcke von diesem Marmor/ nicht allein gegen die Winde dauren/ sondern auch mit ihrer Helle und Wettspielung das Gebäu mächtig erleuchten. Noch einen andern ganz klar-und weißen Marmor findet man daselbst/ aus welchem die schönste Bildnußen und Statuen/ wegen seiner Zärte und Kläre/ formirt werden. Dieser ist/ gleich dem vorigen/ höchst tauglich/ zu den Capitelen und Zieraten/ auf die Colonnen und BauSäulen/ wie in monte Cavallo, an den mächtigen Riesen/ und andern zierlichen Statuen des Flußes Nili in Belvedere, erhellet. In den Italiänischen Gebirgen zu Carrara bey Montiluno, findet man auch viel Gattungen von Marmelstein/ als schwarze/ gelblichte/ röhtlichte/ nach Art des Lands oder Bodens/ wo sie inligen/ die meiste aber weiß/ von bester Art/ zu allem zu gebrauchen/ und sehr große Stucke.
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Vorrede zum Edlen Leser/ über die erste zwey Bücher dieser Teutschen Academie. Ich hörte gleichsam die Scultur mich also anreden: Ich bin die jenige/ welche so vielköstliche Naturen von bäster Complexion, eifrigem und belebtem Geist/ unterrichtet und an sich ziehet. Ich bin die jenige/ welche unzahlbare Jahre vor dieser meiner Gegnerin gebohren worden. Ich bin die jenige/ deren sich der überirdische höchste Künstler/ in Plasmirund Ausformung des ersten Menschen/ zum ersten bedienet. Ich bin die jenige/ deren so viel andere fürtrefliche Künste zu Füßen fallen/ und ihr sich freywillig unterwerfen: Dann/ wem zu Dienst wurden die Bassi rilievi ersonnen/ die Plasmirung der Bild-Seulen aus Erde/ Wachs und Gyps/ erfunden? Mir/ der Scultura! Wer kunte erstlich in Stein/ Marmor und Erz arbeiten? Ich/ die Scultura! Meine Werke können durch das graue Alter und lange Zeit nicht gestürzet werden/ weil sie von einem solchen Stoffe zubereitet sind/ den kein Ungewitter/ Hitze oder Kälte/ Regen oder Schnee/ verzehren mag: daher sie zu allen langjährigen Denkmalen viel mehr/ als einige Pictura, welche bloß in den geheimesten Zimmern will eingeschlossen und verwahret stehen/ ersprießlich sind. Es ist auch der Mahlere fast eine solche Mänge anzutreffen/ daß sie die Laub und Blühten der Bäume/ und das Gestirne des NachtHimmels in der Anzahl weit übertreffen: weil zu solcher Kunst alle Complexion tauglich/ und nicht nur eine leichte und hurtige/ sondern auch eine sichere und
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langsame Hand/ alles verrichten kan. Hingegen ich/ die Scultura, erfordere nur eifrige hochbegeisterte Köpfe/ so wol bey den gemeinen Meistern/ als bey den berühmten Künstlern. Aus diesem allem ist mein Adel und billicher Vorzug sattsam zu erkennen. Glaubet hierinn/ wo nicht mir/ doch dem alten und langlebigen Naturkündiger Plinio: der wird euch sagen/ daß die Antichen/ so unser beyder Bildnußen vorstellig gemacht/ das meine aus pur- und klarem Golde/ hingegen der Pictur ihres aus Silber verfärtigen lassen/ und wurde das meine zur Rechten/ jenes aber zur Linken gestellet; womit ja mein über die Mahlerey habender Vorzug ausdrucklich angedeutet worden. Ich wil hiebey nicht anziehen die Köstlichkeit des Stoffs/ in welchem ich arbeite/ indeme mir die köstlichste Steine/ als Porfyr/ Jaspis/ Serpentin/ Marmor/ und andere/ ja wol auch Gold/ Silber/ und andere fürnehme Metalle/ unter die Hand geliefert werden: da hingegen die armselige Pictur, mit geringen und schlechten Färblein/ und mit einem Fetzen Tuch oder Leinwat/ sich mus beschlagen und befriedigen lassen. Ich fuße und gründe mich auch darauf/ daß eine Sache um so viel köstlicher/ vollkommen- und schöner ist/ je mehr sie von der Natürlichkeit in sich hat. Nun erreiche ich/ die Scultur, ja punctual die wahre und rechte Gestalt; ich entbilde mein Object, daß es auf allen Seiten völlig sichtbar und zu betrachten ist/ als ob das lebendige Formular selbst zugegen wäre. Also kan ich mit Memnons Kunst-Bilde/ bey Aufgang der Sonne/ mein Wort fürbringen. Hingegen kan die Pictura, mit ihrem leichtsinnigen Pensel/ durch so vielfältige Mühe und
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Beschwerde/ kaum den Schatten einer Gleichheit erwerben. Endlich so erfordere ich/ die Scultura, alle Vollkommenheit und Verstand/ aller Steine nicht gemeine sondern vollkommene Erkäntnus/ und daß man eines jeden Natur und Eigenschaft wol zu prüfen wisse/ damit man/ in deren Ausarbeitung/ sich nicht allzuweit verliere und einen Fehler schieße/ der nimmermehr zu vermitteln und zu verbäßern ist; da gegenseits die Mahlere allezeit mit ihrem Pensel darüber fahren/ und ihre begangene
Irrgänge mit einem Polizey-Mäntelein verbergen können. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675–1680. Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition, hg. v. Thomas Kirchner, Alessandro Nova, Carsten Blüm, Anna Schreurs u. Thorsten Wübbena, 2008–2012, TA 1675, I, Buch 1 (Architektur), S. 7–8, S. 9–10 u. I, Vorrede, S. 1–2. http://ta.sandrart.net/-text-56; http://ta.sandrart. net/-text-57; http://ta.sandrart.net/-text-58; http://ta.sandrart.net/-text-59; http://ta.sandrart. net/-text-12; http://ta.sandrart.net/-text-13 [letzter Abruf: 09.01.2020]
Kommentar Joachim von Sandrarts Teutsche Academie, 1675, 1679 und 1680 in drei Folio-Bänden erschienen, ist die erste umfassende deutschsprachige Kunstgeschichte. Basiert sein Werk zum einen auf Vorläufern wie Giorgio Vasari und Karel van Mander,1 vertritt es doch zum anderen mit seinem enzyklopädischen Anspruch weit mehr als eine kompilatorische Übersetzungsleistung. Neben den Viten der antiken, italienischen, niederländischen und deutschen Künstler, Lehrschriften zu Architektur, Bildhauerei und Malerei sowie einer Ovidparaphrase nach van Mander und einer Übersetzung von Vincenzo Cartaris Imagini de i Dei de gli antichi, interessieren Sandrart auch antiquarische Themen. So rezipiert er neueste Forschungen auf diesem damals noch jungen Gebiet2 und bietet in vielen seiner zahlreichen Kupferstiche Darstellungen antiker Skulptur und Architektur, Bildnisse der zwölf römischen Kaiser und berühmten Männer der Antike bis hin zu antiken Musikinstrumenten. Sandrarts umfangreiches Wissen, das der 69-Jährige in die Abfassung der Teutschen Academie einfließen ließ, hatte er sich als weit gereister und hochgeschätzter Künstler in den Niederlanden, Italien, England und Deutschland erworben. Nach einer Stecherlehre begann er seine malerische Ausbildung 1625 in Utrecht in der Werkstatt von Gerrit van Honthorst. Von 1629 bis 1635 hielt sich Sandrart in Rom auf, wo er nicht nur mit den führenden italienischen Künstlern seiner Zeit in Kontakt kam, sondern auch mit der Schildersbent, dem Zusammenschluss der niederländischen und flämischen Künstler in Rom. Darüber hinaus bot ihm besonders das Antikenstudium reichlich Anregung, wie viele seiner Zeichnungen und auch zahlreiche Kupferstiche in der Teutschen Academie zeigen. Als Universalakademie hielt Rom einen Schatz an vorbildlichen Skulpturen zum Studium bereit und so sind es die „in weißen
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Marmelstein gebildeten antichen Statuen zu Rom/ fürnehmlich in dem Päpstlichen Garten Belvedere, und mehr andern/ welche ich […] mir in meinen Studien/ durch nach-bosiren/ zeichnen und abmessen/ sonderlich wol zu nutzen gemacht“3. Eine besondere Auseinandersetzung mit antiken Statuen eröffnete sich Sandrart durch den Auftrag des Kunstsammlers Vincenzo Giustiniani, dessen Antikensammlung in einem Kupferstichwerk abzubilden. Auch hier lassen sich zeichnerische Vorlagen, die er für die Kupferstecher anfertigte, in den Darstellungen der Teutschen Academie wiederfinden. Zurück in Deutschland, das immer noch den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges ausgesetzt war, schuf Sandrart zahlreiche Porträts. Ab Mitte der 1660er Jahre verlegte er seine Tätigkeit vermehrt auf die Kunstschriftstellerei und war an den Akademiegründungen in Nürnberg 1662 und Augsburg 1670 beteiligt – nicht mehr allein Werkstattwissen, sondern eine breitere Bildung sollte der Nobilitierung des Künstlerstandes in Deutschland zugutekommen.4 Nach Herausgabe des Ersten Teils der Teutschen Academie wurde Sandrart 1676 in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen, eine Sprachgesellschaft, die sich mit der Pflege der deutschen Sprache auch die Verbesserung der Sitten und Kulturförderung und damit auch eine Friedenssicherung zum Ziel gesetzt hatte. Dieses Anliegen, durch Kunst Kultur und Frieden zu fördern, vermittelt Sandrart auch in seiner Teutschen Academie. Durch Zusammentragen des als notwendig erachteten theoretischen Künstlerwissens, durch Anschauungsmaterial in Form großformatiger Kupferstiche und durch die Zugänglichkeit in deutscher Sprache wollte Sandrart den deutschen Künstlern eine neue, umfassende Grundlage ihres Schaffens bieten, welche die mühseligen und kostspieligen Reisen entbehrlich machen sollte.5 Der ausgewählte Text – der Beginn des Buches zur Architektur, der ersten der drei Künste, die Sandrart im Ersten Teil der Teutschen Academie behandelt – geht ausführlich auf einige Steinsorten und ihre Behandlung als Werkstoff beim Bau ein. Dabei folgt Sandrart seiner häufig rezipierten Quelle, Giorgio Vasaris Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori, et Architettori von 1568.6 Während er wie Vasari sein Werk mit dem dauerhaftesten Material beginnen lässt und damit den Anspruch eines Monuments verbindet,7 verändert er zu Beginn die rhetorische Bescheidenheit des Aretiners: mit barockem Pathos aufgeladen, lässt er keine Zweifel, welch große Mühsal er für die Kunstliebenden auf sich genommen hat, um dieses Kapitel zu verfassen. So kann er zugleich begründen, warum er sogleich zu den Gesteinsarten übergeht, die er nach abnehmender Härte sortiert und mit dem roten Porphyr (lapis porphyrites) beginnen lässt. Da entsprechend schwer zu bearbeiten, lässt sich mit den Techniken seiner Verwendung große Kunstfertigkeit postulieren. Bestimmte Bauaufgaben werden dafür zur Anschaulichkeit angeführt. Der alchemistische Topos der in Bocksblut gehärteten Werkzeuge, der bei Plinius d. Ä., Heraclius und Theophilus Presbyter (De diversis artibus, Kap. 95) beschrieben wird, fügt sich somit als hilfreiche technische Raffinesse gut in die Erläuterung der unterschiedlichen Bearbeitungsvorgänge.8 Am Ende der Passage kommt Sandrart auch auf die Skulptur zu sprechen, die er in einem weiteren Abschnitt zum weißen Marmor noch um spezielle Ausführungen zu diesem Werk-
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stoff ergänzt. Neben den Werkzeugen und Anwendungsgebieten sowie einzelnen Beispielwerken nennt Sandrart auch weitere Steinsorten, für die er zum Teil neben der lateinischen Bezeichnung eine deutsche Übersetzung liefert (für den Ophit gibt er etwa „Schlangen-“ oder „Serpentin-Stein“ als deutschen Begriff an, für Heracleum „Goldstein“ oder „schwarzer Stein“) oder lediglich die italienische Namensgebung angibt („Cippollaccio“, „Mischio“, „Granito“, „Paragone“). Wie für den Porphyr beschreibt Sandrart auch für andere Gesteinsarten Farbe, Vorkommen, Beschaffenheit und daraus abgeleitet deren Bearbeitungsmöglichkeiten: „Diesem folget der Schlangen-Stein/ in Latein Ophites benamet dessen völlige Farbe dunkelgrün/ mit vielfältigen blauen Creutzlein durch und durch untermänget/ so ebenmäßig zu den flachen Säulen und Pflaster-Werken gedeylich/ nicht aber dienet nicht zu Bildern. zu Statuen und Bildnußen/ ob er wol zu Postementen/ Fuß-Gesimsen und Gestellen mag angewendet werden. Er schelet/ zertheilet/ und spaltet Wo er zu finden. sich leichtlich/ und wird meist in Egypten und Graecia ausgehauen und gebrochen/ aber selten/ wegen unsäglicher Stärke und Veste/ in einer denkwürdigen Größe oder Quantität überkommen.“9 Den in diesem Kapitel zu den Bausteinen ebenfalls erwähnten Dioskuren und dem Flussgott Nil widmet Sandrart auch jeweils einen Kupferstich in Buch 2 zur Skulptur. Besonders bei der Wiedergabe des Nils (TA 1679, II (Skulptur), Tafel ii), den Sandrart in eine ägyptische Landschaft mit Pyramiden einbettet und den Charakter des Steins subtil in eine lebendig scheinende Figur übersetzt, wird sein eigentliches Interesse an der (antiken) Skulptur deutlich. Während die Beschreibungen der Steinsorten und ihrer Behandlung für Architektur und Bildhauerei den Ausführungen Vasaris folgen, machen die Kupferstiche eine genuin künstlerische Auseinandersetzung in einem anderen Medium zum eigentlichen Thema. Welche Programmatik dahinter steckt, schildert Sandrart in höchst lebendiger Weise. Die hierfür ausgewählte zweite Passage – Teil der Vorrede und Auftakt des Ersten Teils der Teutschen Academie – erscheint hier als Monolog, gesprochen von der Personifikation der Skulptur, doch ist er in Wahrheit ein Dialog zwischen Skulptur und Malerei. Es handelt sich um den berühmten Wettstreit der Künste, den Paragone, den Sandrart inhaltlich nach den Argumenten von Giorgio Vasaris Proemio di tutta l’opera zu seinen Vite von 1568 gestaltet. Sprachlich und rhetorisch verändert er sein Vorbild jedoch, indem er metaphernreich die beiden verlebendigten Kontrahentinnen selbst in einen Dialog eintreten lässt.10 Weit stärker als bei Vasari scheint dabei die Malerei mit ihrer Vorrangigkeit überzeugen zu können. Sie widerlegt alle Argumente der Skulptur, die durchaus mit gewichtigen Aspekten aufzutrumpfen versucht: So sei die Bildhauerei die ältere Kunst, schließlich sei Gott der erste Bildhauer gewesen. Zudem vereine sie auch andere Kunstgattungen in sich, sie sei dauerhafter und erreiche eine weit stärkere öffentliche Wirkung. Sie sei auch natürlicher, weil ihre Werke das dreidimensionale Abbild des Dargestellten schaffen. Dass es viel weniger Bildhauer als Maler gebe, sei ebenfalls ein Ausweis besonderer Qualität, da für diese Kunst eine besondere Begabung notwendig sei. Schließlich sei auch das verwendete Material viel kostbarer und zudem noch schwieriger zu verarbeiten, da der Stein keine Fehler verzeihe, die Leinwand hingegen
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Abb. 10 Frontispiz, Kupferstich, in: Joachim von Sandrart u. Carl Gustav von Amling: Teutsche Academie der Bild- Bau- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675, S. 2
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einfach übermalt werden könne. Doch endet der Wettstreit dann doch auch mit der versöhnlichen Konstellation, dass beide Künste als Schwestern des disegno gleichrangig sind und beide Künste Geist und Hand bedürfen.11 Diese von Vasari vorgezeichnete pragmatische Lösung scheint Sandrart im Gesamtbild seiner Teutschen Academie allerdings hier und da durch eindeutige Stellungnahmen wieder zurückzustellen.12 Insbesondere in den beiden Titelkupferstichen der beiden Hauptteile, auf denen jeweils u.a. die drei Künste Malerei, Bildhauerei und Architektur dargestellt sind, erhält die Malerei eine herausgehobene Position. Im Titelkupfer zum ersten Hauptteil 1675 (Abb. 10) steht sie auf einem Podest erhöht, die beiden anderen Künste am Boden ihr zur Seite. Dass die Malerei dadurch auch der göttlichen Inspiration näher ist, beweist der vom Himmel herabschwebende Merkur, der sie leicht von hinten an den Haaren zu berühren scheint. Auch das Bild auf der Staffelei, an dem die Malerei arbeitet, nimmt ein Argument des Paragone auf: Es ist der Blitze schleudernde Jupiter mit wehenden Haaren und wallendem Gewand, der auf die Möglichkeiten der Malerei verweist, auch atmosphärische Qualitäten zu vermitteln. Der Skulptur ist jedoch der Torso vom Belvedere als Attribut zur Seite gestellt und damit ein schon damals kanonisches Werk, das nicht nur auf Italien als Ort der antiken Werke hinweist, sondern auch auf deren europäische Rezeption, was auch deutsche und niederländische Künstler miteinschloss und für Sandrarts Teutsche Academie eine wichtige Perspektive markiert. Im Titelkupfer zum Zweiten Hauptteil 1679 lagert die Malerei erhöht auf Stufen, ihre Schwesternkünste am Fuße der Treppe. Die Malerei ist zudem auserkoren, das Porträt ihrer Schutzpatronin Minerva anzufertigen. Doch hält die personifizierte Skulptur eine Statue mit Füllhorn im Arm, die „das Glück/ das Ehr und Reichtum reicht“13 darstellt, wie Sandrart in seiner Erklärung des Titelkupfers angibt. Verlebendigung lässt sich bei Sandrart und in der Teutschen Academie nicht nur als rhetorische Strategie in der Wiedergabe des Paragone beobachten. Auch zeichnerisch folgt Sandrart diesem Impetus.14 Betrachtet man die Zeichnungen nach antiken Statuen in der Teutschen Academie (vor allem 1. Teil 1675, II. Buch und 2. Teil 1679, 1. Kapitel), fallen deutliche Abweichungen von der Vorlage auf. Der Laokoon etwa wird ohne seine Söhne und vor einem dramatischen felsenartigen Chiaroscuro-Hintergrund gezeigt, wodurch die Darstellung weniger eine Statue als eine „gemalte Inkarnation des Affektes“15 repräsentiert; der Dornauszieher wird auf einen Baumstumpf gesetzt, umgeben von Bäumen und Antikenfragmenten und den Hirtenstab zu seinen Füßen. Auch aufgesetzte Pupillen sorgen für einen lebendigen Blick; Elizabeth Cropper hat dies treffend als Pygmalion-Effekt beschrieben.16 Manche Kupferstiche weisen durch Kompilation mehrerer Statuen und die Einbettung in eine antikisierende Ruinenlandschaft, zum Teil mit weiteren Verweisen auf antike Versatzstücke, einen geradezu szenischen Charakter auf.17 Die antike Skulptur besitzt somit für Sandrart deutlichen Vorbildcharakter: Nicht nur ist sie als Werkfundus ein wichtiges Element in seiner „papiernen Akademie“ und damit Teil des Künstlerwissens, das man sich durch Text und Kupferstiche der Teutschen Academie aneignen kann. Darüber hinaus hält sie auch einen Ansporn für die Imagination und inventio des
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Malers bereit, aus der Nachahmung der Skulptur zu eigenen Bildfindungen und Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen.18 Sandrart selbst konnte sich für die Strategie der Verlebendigung u.a. an Werken Hendrick Goltzius’ und Peter Paul Rubens’ schulen. Auch auf theoretischer Ebene standen ihm Vorbilder zur Verfügung; Rubens’ 1608 verfasster Traktat De imitatione statuarum warb dafür, eine steinerne Statue wie eine lebendige Figur wiederzugeben und den Eindruck einer harten Steinoberfläche zu vermeiden.19 Vincenzo Giustiniani zielte in seinem Discorso sopra la scultura (um 1627) ebenfalls auf eine Darstellung, die der Skulptur so viel Anmut und Lebendigkeit verleihen solle, dass sie nicht wie aus Stein erscheine.20 Die Antike als wichtige Lehrmeisterin vermittelt sich für Sandrart neben antiquarischen und mythographischen Texten deshalb vor allem durch die antike Skulptur. An ihrer Wiederentdeckung seit der Renaissance und Wertschätzung in herausragenden Sammlungen, vor allem in Rom, möchte er auch die deutschen Künstler teilhaben lassen. Dabei vermittelt er einen ebenso direkt am konkreten einzelnen Werk wie an der lebendigen Übersetzungsleistung im zeichnerischen bzw. graphischen Medium interessierten Blick. Nicht der tote Stein, seine Beschaffenheit und Oberflächenbehandlung werden dokumentarisch erfasst, sondern die Vorbildhaftigkeit, die für alle Künste inspirierend wirken kann. Christina Posselt-Kuhli 1
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Neben den Vite und dem Het Schilder-Boeck schöpfte Sandrart für seine Künstlerbiographien auch aus den Schriften von Carlo Ridolfi, Cornelis de Bie und Johann Neudörffer. Für die antike Architektur sind vor allem Sebastiano Serlios Regole generali di Architettura und Andrea Palladios Quattro Libri dell’Architettura seine Quellen. U. a. Octavius de Strada: Aller Römischen Keyser Leben und Thaten, Frankfurt a.M. 1618; Giovan Angelo Canini: Iconografia cioè disegni d’Imagini de famosissimi monarchi, regi, filosofi, poeti ed oratori dell’antichità, Rom 1669; Alessandro Donati: Roma vetus ac recens utriusque aedificiis ad eruditam cognitionem expositis, Rom 1648 oder Caspar Bartholin: De tibiis veterum, et earum antiquo usu libri tres, Rom 1677. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675–1680. Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition, hg. v. Thomas Kirchner, Alessandro Nova, u. a., 2008–2012, im Folgenden TA, hier TA 1675, I, Buch 2 (Skulptur), S. 33, http://ta.sandrart.net/-text-121 [letzter Abruf: 26. 09. 2019]. Vgl. dazu Christina Posselt-Kuhli: Joachim von Sandrart und seine „papierne Akademie“ – Künstlerausbildung zwischen Werkstattpraxis und Gelehrtentum, in: Berthold Heinecke u. Ingrid Kästner (Hg.): Wettstreit der Künste. Der Aufstieg des praktischen Wissens zwischen Reformation und Aufklärung (= Europäische Wissenschaftsbeziehungen, Bd. 17), Aachen 2018, S. 171–192. „In diesem herrlichen Werk werden/ die Geheimnisse besagter Profession, soviel beydes zur Theoria und Practica gehörig/ ganz klar und deutlich vorgestellet: also daß/ was unsere Vorfahren/ mit Leib- und Lebensgefahr/ mit schwerem Kosten und Verzehr ihres Vermögens/ durch lange und verdriesliche Reisen und besuchung fremder Länder/ haben
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suchen müßen/ nunmehr ein Kunstliebender aus diesem Buch viel bässer/ als in Italien/ Frankreich und anderer Orten/ ersehen/ ergreifen/ und begreifen lernen kann.“, TA 1675, Lebenslauf, S. 4, http://ta.sandrart.net/-text-622 [letzter Abruf: 26. 09. 2019]. Konkret hier die Introduzzione alle tre arti del disegno, Kap. I, Delle diverse pietre che servono agl’architetti per gl’ornamenti e per le statue della Scultura. Vgl. den Beitrag von Fabian Jonietz zu Vasaris Le vite de’ più eccellenti, Scultori, et Architettori (1568) in diesem Band. Matteo Burioni: Gattungen, Medien, Techniken. Vasaris Einführung in die drei Künste des disegno, in: ders. (Hg.): Giorgio Vasari. Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des disegno, Berlin 2006, S. 12. Vgl. die Beiträge zu Plinius d. Ä. und zu Vasari in diesem Band. TA 1675, I, Buch 1 (Architektur), S. 9, http://ta.sandrart.net/-text-58 [letzter Abruf: 20. 03. 2020]. Siehe dazu Anna Schreurs: Von den Vite Vasaris zu Sandrarts Academie: Künstler, Dichter und Gelehrte, in: Katja Burzer u. a. (Hg.): Le Vite del Vasari. Genesi, topoi, ricezione – Die Vite Vasaris. Entstehung, Topoi, Rezeption, Kongressakten Florenz, Kunsthistorisches Institut, Max-Planck-Institut 2008, Venedig 2010, S. 249–269, S. 255 u. S. 257 und Michèle-Caroline Heck: Théorie et pratique de la peinture. Sandrart et la Teutsche Academie (= passages / Passagen, Bd. 15), Paris 2006, S. 87–92. „Ich sage demnach/ daß ermeldte beyde Künste zwey lebhafte und natürliche Geschwistere seyen/ an einer Brust gesogen haben/ und von einer Mutter/ der Designation, Austheilung und Zeichnung/ zugleich/ als Zwillinge/ gebohren worden“, TA 1675, I, Vorrede, S. 4, http://ta.sandrart.net/-text-15 [letzter Abruf: 26. 09. 2019]. So erhält etwa nur das Buch über die Malerei eine eigene Vorrede, in der Sandrart u.a. von den enormen Preisen berichtet, die auf zeitgenössischen Kunstauktionen für Gemälde erzielt wurden. TA 1679, Lobgedichte auf den Autor [IV], Erklärung des Kupfertitels, http://ta.sandrart. net/-text-654 [letzter Abruf: 26. 09. 2019]. Vgl. Sybille Ebert-Schifferer: Natürlichkeit und „antike Manier“. Joachim von Sandrart als Antikenzeichner, in: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie, hg. v. Silvia Danesi Squarzina, Ausstellungskatalog, Gemäldegalerie im Alten Museum u. Palazzo Giustiniani, Mailand 2001, S. 57–63 und Brigitte Kuhn-Forte: Le statue antiche nella Teutsche Academie di Sandrart. Alcune considerazioni e identificazioni, in: Sybille Ebert-Schifferer u. Cecilia Mazzetti di Pietralata (Hg.): Joachim von Sandrart. Ein europäischer Künstler und Theoretiker zwischen Italien und Deutschland, Akten des Internationalen Studientages der Bibliotheca Hertziana, Rom 2006 (= Rom und der Norden. Wege und Formen des künstlerischen Austauschs, Bd. 3), München 2009, S. 137–163 sowie dies.: Die „höchste Vollkommenheit […] der in weißen Marmelstein gebildeten antichen Statuen zu Rom“. Sandrart und die Antike, in: Unter Minervas Schutz. Bildung durch Kunst in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie, hg. v. Anna Schreurs, Ausstellungskatalog, Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel 2012, S. 73–86. D’après l’antique, hg. v. Laurence Posselle, Ausstellungskatalog, Musée du Louvre, Paris 2000, Kat.-Nr. 82, S. 249 (Autor: Christian Klemm).
Teutsche Academie der Bild- Bau- und Mahlerey-Künste 16 Elizabeth Cropper: Vincenzo Giustiniani’s ‚Galleria‘. The Pygmalion Effect, in: Cassiano dal Pozzos Paper Museum 1/1992, S. 101–126; vgl. auch Ebert-Schifferer 2001, S. 61. 17 Zum Beispiel Artemis und flötespielender Satyr / „NYMPHA et FAVNVS“ (TA 1679, Tafel dd), vgl. Kuhn-Forte 2009, S. 144 oder Minerva und Paris / „MINERV. et PARIS“ (TA 1679, Tafel ee), vgl. Kuhn-Forte 2009, S. 148. Erstaunlich ist dabei, dass Sandrart das genaue Antikenstudium François Duquesnoys für dessen Skulpturen weit stärker honoriert als den lebendigen und erzählerischen Umgang, wie er in den Werken Gian Lorenzo Berninis vorherrscht; vgl. Saskia Schäfer-Arnold: Joachim von Sandrart über die „Scultura oder Bildhauer-Kunst“. Zeitgenössische Skulptur in der Teutschen Academie, in: Unter Minervas Schutz 2012, S. 61–70. 18 Wie eng ein Austausch speziell zwischen antiker und moderner Bildhauerei aussehen kann, vermittelt Sandrart durch die Aufnahme von François Duquesnoys Merkur und CupidoGruppe (Madrid, Palacio Real) in die Reihe der vorbildlichen antiken Statuen (TA 1679, II (Skulptur), Tafel p). Diese Skulptur, die reproduziert im Kupferstich auch in der Galleria Giustiniana erschien, war vom Marchese Giustiniani in Auftrag gegeben worden, um ein Pendant zu einer antiken Herkulesstatue zu schaffen. Ebenso findet Duquesnoys bogenschnitzender Cupido (um 1626, Berlin, Staatliche Museen, Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst) neben Michelangelos Auferstandenem Christus (1519–1521, Rom, Santa Maria sopra Minerva) als einzige moderne Skulptur Erwähnung im Abschnitt zu den „berühmtesten antichen Statuen“ (TA 1675, I, Buch 2 (Skulptur), S. 33, http://ta.sandrart.net/-text-121 [letzter Abruf: 26. 09. 2019]). Vgl. Schäfer-Arnold 2012, S. 63–64 u. S. 67. 19 Vgl. Andreas Thielemann: Rubens‘ Traktat De imitatione statuarum, in: Ulla Rombach u. Peter Seiler (Hg.): Imitatio als Transformation. Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der frühen Neuzeit, Petersberg 2012, S. 95–150. 20 Vgl. Rudolf Preimesberger: Paragone-Motive und theoretische Konzepte in Vincenzo Giustinianis Discorso sopra la Scultura, in: Caravaggio in Preußen 2001, S. 50–56.
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Metallotheca 1593, postum veröffentlicht 1717 Armarium IX. Lapides Ι∆ΙΟΜΟΡΦΟΙ
Schrank IX. Idiomorphe Steine
Loculo XII. Ceraunia vulgaris, et sicilex
Kästchen XII. Der gemeine Donnerkeil, auch Sicilex
Caput XVI Frequens in Italia Ceraunia est, quae vulgo Sagitta nominatur ad triquetram telorum aciem scalpturata, materia silicis, tenui, ac dura. De qua duplex circunfertur opinio. Magna pars hominum credit fulmine deferri. Qui historiam callent, ante usum ferri e durissimis silicibus tundendo fuisse desectam ad belli insaniam arbitrantur. Nam antiquissimis hominum segmenta silicum pro cultellis fuere. Sephoram Moysi uxorem petra acutissima filium ritu Israelitico initiasse in sacris legitur [Exodus cap. 4. Josue cap. 5.]: & Josue Palaestinam ingressus ad eundem usum duos parare cultros lapideos a Deo jussus est, unde consuetudo lapide circuncidendi in Israel invaluit. Nostra aetate nullum erat ferrum conflatile in regionibus orbis occidui, navigia, domos, omniaque fabrilia lapidibus in aciem sectis extruebant. Et quidem Silex, ut voce notatur, quasi Sicilex ad secandum lectus videtur. Sicilices dicuntur, quibus missilia, et venabula inspicantur, ut in illo Ennii versu apud Festum. Incedit veles volgo Sicilicibus latis.
Kapitel XVI Häufig ist in Italien der Donnerkeil, der, zur dreiseitigen Spitze von Geschossen gestaltet, umgangssprachlich auch Sagitta [Pfeil] genannt wird, von der feinen und harten Beschaffenheit des Flints. Über diesen gehen zwei Meinungen um. Die Mehrheit der Menschen glaubt, dass er vom Blitz gebracht wird. Diejenigen aber, die etwas von Geschichte verstehen, glauben jedoch, dass er vor Gebrauch des Eisens durch Herausschlagen aus härtesten Feuersteinen zum Irrsinn des Krieges gebraucht wurde. Denn den urältesten Menschen dienten Steinsegmente als Messer. Man liest, dass Zippora, die Gattin des Moses, ihren Sohn mit einem scharfen Stein nach israelischem Ritus initiiert hat, und auch Josua wurde, als er Palästina betrat, von Gott befohlen zum gleichen Zweck zwei Messer aus Stein zu fertigen [Ex 4, Jos 5], von woher die Gewohnheit des Beschneidens mit Stein erstarkte. In unserer Zeit gab es kein gießbares Erz in Gegenden des westlichen Erdkreises und man baute Boote, Häuser und alles Schmiedegut mit zur Schärfe geschlagenen Steinen. Und der Silex [Feuerstein], wie durch den
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Earum figuram habet haec Ceraunia, ut opinio maneat ante ferrum conflatum Sicilices fecisse e Silice veteres, & esse ex earum numero hanc Cerauniam. Nempe parvis initiis mortalium odia in immensum excrevere, praeliumque Afri fustibus, quos phalangas vocant, cum Aegyptiis commiserunt: prius tamen bellum Phoenices commentos esse Pomponius Mela, & Plinius auctores sunt [Plinius lib. 7 cap. 56. De situ orbis lib. 1 cap. 6 & lib. 5 cap. 12.]. Neque verum est quod Lucretius scribit, Arma antiqua manus, ungues, dentesque fuerunt. Cum enim iis minime valeat homo, rationem complexus est, & quae ipsa dictat perficiendis aptissima instrumenta manus illi attributae sunt, ut qui ferino more saevire non posset, generosius pugnam iniret. Primum saxa, & fustes paratam materiam conquirendam, atque eminus hostem tentandum ratio ostendit. Ac prius dissidiis privatis pugnatum est, quam populi, gentesque bello decertarent. Tum atrociora reperit aemulatio, reperit avaritia, atque ambitio sanguinem humanum avidius sitientes. Coeperunt hastilibus, & omni telorum generi spicula praefigere cornea, ossea, & silicea, ut opinantur, qui Cerauniam ex iis putant ad munitiores thoraces transverberandos fabricatam. Hoc enim praefert ejus forma rudis, superficie retusa, et margine scabrato, non serra, non lima, quae tunc non erant, concinnata; sed lapidis collisu excalpta in triangulum, vel aequalem, vel oblongum, vel acutum, & qua hastili conjugenda est relicta ligula, quae teli scapo infigitur. Nitet materia quanvis iniqua
Wortlaut angezeigt, scheint gleichsam zum Schneiden (secare) als Sicilex gelesen zu werden. Sicilices werden die Steine genannt, die als Wurfgeschosse oder Jagdgeräte angesehen werden sollen, wie in jenem Vers des Ennius an Festus: „Der Plänkler greift gewöhnlich mit breitem Schneidstein an (sicilicibus).“ Deren Form hat dieser Donnerkeil, so dass die Auffassung besteht, dass die Alten vor dem gegossenen Erz Schneidesteine aus Feuerstein gemacht haben und dass der Donnerkeil aus diesem Bestand stammt. Denn aus nichtigen Anlässen wuchsen die Hass gefühle der Sterblichen ins Unermessliche und die Afrikaner führten den Kampf mit den Ägyptern mit Holzknüppeln, die sie Phalangae nennen. Dafür dass die Phönizier zuerst den Krieg erfunden haben, sind Pomponius Mela und Plinius die Autoritäten [Plinius, Nat. Hist., VII,56; Pomponius Mela, De situ orbis, I,6; V,12]. Es ist auch nicht wahr, dass Lukrez schreibt, „die alten Waffen waren Hände, Nägel und Zähne.“ Weil nämlich mit diesen der Mensch besonders wenig auszurichten vermag, hat er den Verstand bemüht und der Hand wurden jene geeigneten Werkzeuge zugeeignet, die diese selbst zur Durchführung fordert, so wie derjenige, der mit wilder Hand nicht wüten kann, zurückhaltender in den Kampf geht. Zuerst zeigte der Verstand Steine und Holzknüppel als geeignet suchenswertes Material, auch um den Feind aus der Ferne zu reizen. Anfangs wurde in privaten Zwistigkeiten gekämpft, bevor Völker und Geschlechter sich bekriegten. Dann fand der Streit Grausameres, auch Habgier und Ehrgeiz suchten gieriger dürstend nach
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superficie propter insignem duritiam, colore candente, aut flavescente, rubido, saturato rubricae, herbaceo, nigricante, vel interdum maculis variato. Inveniuntur ejusdem materiae tenues laminae, palmum longae, latae semiunciam, vel minores, ambesis angulis, superficie, extersa, hinc plana, inde paululum eminente in angulum medias dimetientem. Qui Cerauniam telis exasperandis veteres confecisse putant, his laminis, inquiunt, arcus incrustasse. Sed quando usus earum viguit, vel quo tempore ferri tyrannis, cui ille cessit, orbem invasit? Antequam genus humanum diluvies aquae deleret, fabrefactum fuisse ferrum, ejusque auctorem sacrae literae Tubalcain asserunt, qui a primo parente originem septimam ducebat [Genesis cap. 4]. Eundem Josephus in antiquitatibus [Lib. 1] rem bellicam fortiter gessisse scribit, ut videatur unus ferri, bellique auctor, odia paucorum hominum, & sanguinis affinitate junctorum conspirasse, atque iis exercendis instrumenta reperisse ferrea, nec fuisse iis antiquiora. Quanquam vero per communem viventium stragem, quae ab aquis consecuta est, ferri factio conservata fuit, ab eo nempe, qui primi auctoris, operisque memoriam tenebat: tamen restitutis gentibus, ac rursum per orbem terrae explicatis ars ferri ducendi apud paucos relinquebatur. Non enim potuit ea comitari populos in diversa loca commigrantes, materia non sequente, ac nusquam obvia, nisi in viscera terrae altius irruatur, quo etiam sine ferramentis pervenire difficillimum est. Ipsa materia intractabilis ingenio, & labore improbo domatur. Ita cum aliquis ferri usus a prima aetate fuerit, is paucissimis contigisse
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Menschenblut. Sie fingen an den Stöcken und jeder Art von Wurfgerät Spitzen aus Horn, Knochen und Stein aufzustecken, wie man glaubt, und auch, dass der Donnerkeil hergestellt wurde, um geschützte Oberkörper zu durchschlagen. Dies legt auch seine rohe Form nahe, mit stumpfer Oberfläche und zackigen Rändern, nicht durch das Eisen oder die Feile, die es noch nicht gab, geglättet, sondern durch Auftreffen eines Steins zum Dreieck geschlagen, sei es gleichseitig, länglich oder spitz, und dort, wo er dem Schaft zu verbunden wird, mit einem stehengelassenen Zünglein, das dem Schaft des Geschosses eingefügt wird. Das Material glänzt trotz unebener Oberfläche wegen der besonderen Härte, farbig glänzend, oder rötlich, gesättigt rot, grünlich, schwärzlich oder zwischendrin variiert mit Flecken. Von diesem Material werden dünne Blätter gefunden, faustlang, einen halben Zoll breit oder weniger, mit beschnittenen Ecken, in der Oberfläche verrieben, hier glatt, dann ein wenig hochsteigend in der Spitze, die die Mitte bezeichnet. Diejenigen, die glauben, dass die Alten Ceraunia zu rauen Geschossen verarbeitet haben, sagen, dass sie mit diesen Klingen Bogen besetzt haben. Aber wann war deren Gebrauch üblich und zu welcher Zeit eroberte die Herrschaft des Eisens, dem dieser wich, den Erdkreis? Bevor die Sintflut das Menschengeschlecht vernichtete, wurde Eisen hergestellt, als dessen Erfinder die Heilige Schrift Tubal-Kain nennt, der vom ersten Urvater ab die siebente Generation darstellte [Gen 4]. Dass dieser einen heftigen Krieg geführt habe, schreibt [Flavius] Josephus in De antiquitatibus [Buch 1], so dass es einen einzigen Erfinder des Eisens und des
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potuit, primum in Armenia, ubi reliquiae diluvii consederant [Genesis cap. 8]: dein Cilicibus, atque Syris: reliquas gentes ne illam experientiam per se excitarent, simplicitas continuit, alibi inertia, & ferri asperitas, maximeque locorum iniquitas, quae non ubicunque materiam praebent. Nulla erat ferraria in Palaestina ad imperium Saul usque, qui cum Jonatha filio solus lanceam, ensemque ferreum habebat [Regum [sic]1. cap. 13]: caetera Agricolarum ferramenta, quae ab usu erant reparanda, deferebant Israelitae ad Philisthiim qui montana incolebant. Interea igitur a primis temporibus cum gentes ad bellum gerendum injuriae provocarent, absque ferro saevitum est: verum acerbissima, ut quisque reperire poterat tentata sunt. Ex ossibus piscium populi Occidentis sagittas acuebant, hoc ipsi nudi satis asperum habebant congressuri. In Italia, & praecipue in Latio, in cujus agris hoc Cerauniae genus frequentissime effoditur, Aborigines e Silicibus, si vera est opinio, spicula factitabant, ne loricae aliquem periculi locum excluderent. Quae omnia abjecit ferrum tandem commerciis gentium introductum. Quare fere singulae nationes, eos populos, a quibus sibi indicatum est, fuisse inventores ferri existimarunt; Plinius Dactylos Idaeos in Creta reperisse scribit; Strabo Telchines populos; Clemens in Cypro Selmentem, & Damnameneum Judaeos: sic inter se dissentiunt. Nobis autem satis est ostendisse Cerauniam hujusmodi potuisse a Veteribus parari. Nam hoc materia ejus et figura monstrant, nomen consentit, & usus aliquando tulit. Quae si certa cognoscerentur, non deberet haec Ceraunia inter ἰδιομόϱφους
Krieges zu geben scheint, und dieser wohl auch den Hass weniger Menschen und der durch Blutdurst verbundenen in Einklang brachte, diesen zur Ausführung eiserne Instrumente erfand, die sie vorher nicht hatten. Jedoch ist durch den allgemeinen Niedergang der Lebenden, der mit Wasser ausgeführt wurde, die Herstellung des Eisens bewahrt worden, nämlich von dem, der die Erinnerung an den Erfinder und den Vorgang behielt. Dennoch verblieb nach Wiederherstellung der Geschlechter und deren Ausbreitung über die Erde die Kunst der Eisenherstellung bei Wenigen. Diese konnte nämlich nicht die zu verschiedenen Orten wandernden Völker begleiten, das Material nicht folgen, das nirgends leicht zugänglich ist, wenn nicht tiefer in die Eingeweide der Erde eingedrungen wird, wo aber ohne Eisenwerkzeuge sehr schwer hin zu gelangen ist. Dieses schwer zu bearbeitende Material wird durch Schlauheit und harte Arbeit gezähmt. So dass es, obwohl es einen gewissen Gebrauch von Eisen seit ältester Zeit gab, es sein konnte, dass er sehr Wenige betraf, zuerst in Armenien, wo die Überbleibsel der Sintflut sich absetzten [Gen 8], dann in Kilikien und Syrien. Die übrigen Völker erweckten diese Kenntnis nicht aus sich heraus, die Einfachheit setzte sich fort, andernorts die Ungeschicklichkeit und der Mangel an Eisen, am meisten die Unzulänglichkeiten jener Orte, die das Material nirgends anboten. Es gab keine Eisenhütten in Palästina bis zur Herrschaft Sauls, der mit seinem Sohn Jonathan gemeinsam nur eine Lanze und ein Schwert besaß [1 Sam 13]. Das übrige Eisenwerkzeug, das vom Gebrauch zu reparieren war, brachten die Israeliten zu
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conlocari, quoniam ab arte perfecta esset. Magnam affert dubitationem Naturae jocus, siquidem in rerum imitatione arti non concedit. Addit suspicionem parvitas, qua interdum Ceraunia reperitur inepta spiculis. De fulmine, quae prior fuit opinio, nihil affirmari potest, quam quod sparsim inveniatur. Unicuique igitur judicium in medio relinquimus. Vim huic tribuunt, quam supradictis ad fulmina evitanda. Quamobrem caelant in auro, et foeminae e collo puerorum demittunt, cum & alia inde expectent indigna relatione. Michele Mercati: Metallotheca. Opus posthumum, auctoritate & munificentia Clementis undecimi pontificis maximi e tenebris in lucem eductum: opera autem & studio Joannis Mariae Lancisii archiatri pontificii illustratum, Rom: Giovanni Maria Salvioni 1717, S. 243-245.
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den Philistern, die die Berge bewohnten. Indessen ist seit ältester Zeit, wenn Völker Unrecht provozierten, um Krieg zu führen, auch ohne Eisen gewütet worden, und zwar ist das Schärfste, das ein jeder finden konnte, ausprobiert worden. Aus Fischbein schärften die Völker des Westens Pfeile, und dadurch, dass sie selbst nackt sind, war es hart genug aufeinander zu treffen. In Italien und besonders in Latium, auf dessen Feldern diese Art des Donnerkeils häufig ausgegraben wird, fertigten die Ureinwohner aus Schneidesteinen, wenn diese Ansicht richtig ist, Geschossspitzen, damit sie nicht irgendeine Stelle einer Brustpanzerung von der Gefährdung ausschlössen. Was alles aufhörte, als das Eisen schließlich von den Händlern anderer Völker eingeführt wurde. Deshalb glaubten nämlich die einzelnen Nationen, dass diejenigen Völker, durch die es ihnen bekannt wurde, die Erfinder des Eisens wären. Plinius schreibt, dass die Idäischen Daktylen auf Kreta, Strabo die Telchischen Völkern, Clemens [von Alexandria] Salmon [?] auf Zypern und Damnameneus, dass die Juden es erfunden haben. So weichen sie voneinander ab. Uns aber genügt es gezeigt zu haben, dass Ceraunia auf diese Art von den Alten verarbeitet werden konnte. Denn sein Material und seine Gestalt zeigen es, sein Name entspricht dem und sein ehema liger Gebrauch unterstützt das. Wenn dies als sicher angesehen werden würde, dürfte dieser Stein nicht unter die Idiomorphen [Selbstgeformten] einsortiert werden, da er durch Kunstfertigkeit vollendet wäre. Großen Zweifel bringt der Scherz der Natur, wenn sie bei der Nachahmung der Natur der Kunst nicht beiseite tritt. Verdacht fügt die
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Kleinheit hinzu, wodurch Ceraunia bisweilen für Geschossspitzen als ungeeignet befunden wird. Über den Blitz, der zuvor eine Erklärungsansicht war, kann nichts bekräftigt werden, außer dass er selten gesehen wird. Wir überlassen unparteiisch einem jeden die Entscheidung. Wirkung schreibt man ihm [dem Donnerkeil], wie oben gesagt zu, um Blitzeinschläge zu vermeiden. Weshalb man sie in Gold fasst und Frauen sie vom Hals der Burschen entfernen, weil sie von daher auch anderes in unschicklicher Beziehung erwarten. Übersetzung: Arwed Arnulf
Kommentar Michele Mercati (1541–1593) gilt als einer der zentralen Stichwortgeber in der frühneuzeitlichen Wissensgeschichte des Steins, verfügt jedoch aufgrund der späten Rezeption seines erst 1717 (bzw. 1719 in der überarbeiteten Version) veröffentlichten Werkes über eine schwer zu definierende Rolle in der mineralogischen Forschung. Als Aufseher des Botanischen Gartens im Vatikan hatte er Zugang zu den naturkundlichen Sammlungen des Papstes und damit einer Vielzahl von Objekten, an denen er seine Forschungsfragen entwickeln und neue Erkenntnisse erlangen konnte.1 Die Metallotheca ist als Synthese einer systematischen Steinkunde und zugleich einer Beschreibung der vatikanischen Sammlungen entstanden. Auf diese Unterbringung und Präsentation der Naturdinge rekurriert auch die Gestaltung des Buches: Die Metallotheca ist als gedruckter und illustrierter Sammlungsschrank mit vielen Schubfächern konzipiert, eine Gliederung, die Mercati von Conrad Gessner und Johannes Kentmann übernommen hatte (vgl. Abb. 2).2 So ist Mercatis Werk nicht in einzelne Kapitel unterteilt, sondern entsprechend einer museal-naturkundlichen Präsentation in Schrank (armarium) und Kästchen (loculo). Das zwischen 1575 und 1589 entstandene Manuskript, in dem bei Mercatis Tod erst die Hälfte der Sammlung beschrieben war, geriet zunächst in Vergessenheit. Erst Mitte des 17. Jahrhunderts wurde es von dem Florentiner Humanisten Carlo Dati wiederentdeckt, ebenso wie die zugehörigen über 100 kunstvollen Illustrationen von der Hand des westfälischen Kupferstechers Antonius Eisenhoit (1553/54–1603).3 Erst Giovanni Maria Lancisi (1654– 1720) und Pietro Assalti (1680–1728) veröffentlichten das Werk unter dem bereits von Mercati
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gewählten Titel Metallotheca.4 Die Publikation stellt ein bedeutsames Stück in der Wissensgeschichte des Steins dar, da sie zwei sehr unterschiedliche Erkenntnisstadien dokumentiert: Denn das Werk versammelt nicht nur naturkundliche Überzeugungen des 16. Jahrhunderts sowie älterer Überlieferungsstränge, sondern auch Richtigstellungen oder Anpassungen an neuere Erkenntnisse durch die Annotationen der Herausgeber. Versteinerungen unterschiedlichsten Ursprungs wie Fossilien, Bezoare, Belemniten, aber auch Donnerkeile (lat. cerauniae von griech. κεραυνóς)5 wurden von Mercati den frühneuzeitlichen Vorstellungen gemäß in die Metallotheca aufgenommen, da diese erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Katalog der Ludi Naturae ausschieden.6 Das Buch gliedert sich in unterschiedliche Teile mit verschiedenen Gewichtungen: So gibt es in den Kapiteln 2 bis 5 keine Darstellungen von Sammlungsobjekten, sondern es werden die chemischen Gewinnungsvorgänge von Salpeter, Alaun, Vitriol und Schwefel gezeigt.7 Wichtig ist hierbei der direkte Vergleich mit Georg Agricolas Illustrationen, sind die Abbildungen Eisenhoits doch zum Teil direkte Übernahmen – wenn auch mit größerem künstlerischem Einsatz – der bei Agricola gezeigten Werkabläufe. Es scheint einiges darauf hinzudeuten, dass zudem die Landschaften, aus denen die Stoffe gewonnen wurden, dargestellt werden sollten, wie es bei dem Krater Solfatara bei Pozzuoli der Fall ist (Abb. 1). Die folgenden Kapitel zeigen die Objekte in Kupferstichen von genauester und kunstvollster Zeichnung, ein Umstand, der für das 18. Jahrhundert zur Attraktivität des Gesamtprojektes beigetragen haben dürfte. Inhaltlich stützt sich Mercati auf die bekannten Autoren: Er rezipiert neben der Naturkunde Plinius‘ d. Ä. Schriften von Theophrast, Aristoteles und Albertus Magnus sowie eine Reihe enzyklopädischer, geographischer und Reiseliteratur. So betrachtet er etwa die Entstehung von Versteinerungen bzw. Fossilien in aristotelischer Tradition unter dem Einfluss stellarer Kräfte (vis formativa).8 Mercati unternahm eine Reihe von Exkursionen in die nähere Umgebung, etwa in die Toskana, auf die Inseln Ischia sowie Elba und gelangte am Ende seines Lebens als Begleiter einer päpstlichen Gesandtschaft bis nach Polen. Eine Sonderstellung nimmt Mercatis Behandlung der Cerauniae oder sog. Donnerkeile ein, die bei ihm im neunten Schrank der Lapides Idiomorphoi, der figurierten Steine, behandelt werden (Abb. 11).9 Hier ist ein veritabler epistemologischer Bruch gegenüber der naturkundlichen Literatur des 16. Jahrhunderts zu verzeichnen, galt der Donnerkeil aus Silex bzw. Feuerstein doch zu Mercatis Zeiten gemeinhin als durch Blitzeinwirkung vom Himmel gefallenes Objekt, das seine dreieckige, spitze Form der spielenden Natur verdankte. Mercati jedoch lehnt diese These einer der Scherzhaftigkeit der Natur geschuldeten Form ab. Er versteht die spezifische Formgebung des Steins als Ergebnis einer menschlichen Bearbeitung, begreift den Donnerkeil mithin als Artefakt. Hierin stimmt er bedeutsamerweise mit den Thesen des 18. Jahrhunderts und damit mit dem Erkenntnisfortschritt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (und nicht der Entstehung) seines Manuskriptes überein. Die Aktualität von Mercatis Manuskript zeigt sich an genau diesem Punkt, denn die älteren Erklärungsmodelle für den Ursprung und die Form von Donnerkeilen waren um 1717 zunehmend in Misskredit
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geraten: Die als Kuriositäten gesammelten bzw. als erotische Amulette verwendeten Donnerkeile waren traditionell als aus den Wolken gefallene Steine verstanden worden,10 allerdings stellten sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich Zweifel an dieser Erklärung ein. Sowohl Conrad Gessner, Georg Agricola als auch Anselm de Boodt legen sich zwar nicht fest, ob die Donnerkeile tatsächlich meteorologischen Ursprungs sind, sie schaffen es jedoch nicht die spezifische Form zu erklären.11 Für de Boodt und auch Gessner entsprechen die Donnerkeile aufgrund ihrer Form menschlichen Artefakten, die sie aber durch ihren eigenen Erfahrungshintergrund nicht als solche einordnen können, da sie im Gegensatz zu Mercati nicht die Historizität der Technik berücksichtigen. Denn der materiellen Überlieferung nach, wie sie in den meisten naturkundlich-ethnologischen Sammlungen zu bestaunen waren, wurden solche menschlichen Werkzeuge aus Metall und eben nicht aus Stein gefertigt. Damit geraten sie in Erklärungsnotstand zwischen Autopsie und Theorie: Es war vor allem das Material der Donnerkeile, das im Zusammenspiel mit der Form ein Erklärungsproblem darstellte, so dass etwa de Boodt sie kurzerhand als petrifizierte Metallwerkzeuge interpretierte.12 Mercati ist es zu verdanken, dass er das Rätsel der Donnerkeile löste und sie als von Menschen gestaltete Artefakte, als steinerne Pfeilspitzen deutete. Zwar referiert er auch die (von ihm abgelehnte) Meinung, nach der die Donnerkeile ihren Ursprung in der Blitzeinwirkung haben, stellt dem jedoch seine eigene, auf Autopsie begründete Ansicht gegenüber: Mercati zufolge sind die Donnerkeile Steine, die durch menschliche Einwirkung und technisch versierte Bearbeitung entstanden, also eben nicht aus den Wolken gefallen sind. Dabei führt er den Zweck der Donnerkeile, nämlich als Waffen in kriegerischen Auseinandersetzungen zu dienen, als zentralen movens für ihre Gestaltung an. Der Krieg wird dabei, wohl als Referenz auf Heraklits Diktum des Krieges als Vater aller Dinge, als Antrieb gesehen, dem der mensch liche Verstand unterstützend zu Hilfe kam. Mercati macht aus seinen Überlegungen zum Donnerkeil eine kulturgeschichtliche Betrachtung, in deren Zentrum die materiellen Voraussetzungen der Kriegstechnik stehen. Zugleich ist die wachsende ethnologische und antiquarische Forschung des späten 16. Jahrhunderts zu berücksichtigen, denn durch Kulturvergleich wäre es durchaus auch für andere Naturkundler möglich gewesen, die Steinspitzen als menschengemacht zu erkennen: So gab es etwa in den naturkundlichen Sammlungen des Vatikan, die Mercati zugänglich waren, zahlreiche Funde von amerikanischen Ureinwohnern.13 Ebenso hatte Ferrante Imperato kurz nach Mercatis Tod vergleichbare nordamerikanische Steinäxte abgebildet.14 Mercati befindet sich bei der Diskussion des Ursprungs der Donnerkeile an einem höchst sensiblen Punkt, denn er muss biblische Geschichte und Formevidenz der Artefakte in Einklang bringen. Den Umstand, dass diese Objekte aus Stein und nicht aus dem für das 16. Jahrhundert aufgrund seiner Stabilität präferierten und naheliegenderen Eisen gearbeitet waren, brachte er mit ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zusammen: Denn für Mercati war aufgrund der Sintflut und der Abwanderung der Menschen das Technikwissen um die
Metallotheca
Abb. 11 Cerauniae oder sog. Donnerkeile, Neunter Schrank der Lapides Idiomorphoi, Kupferstich, in: Michele Mercati: Metallotheca, Rom 1719, S. 244/245
Metallverarbeitung sowie der direkte Zugriff auf das Materialvorkommen verloren gegangen. Metallwerkzeug, wie es die Bibel bezeugt, habe nicht länger hergestellt werden können, so dass die Donnerkeile ihm als postdeluviale Artefakte galten.15 Die Sintflut dient Mercati als entscheidende Wasserscheide, da zuvor Eisen verwendet worden sei, das dann jedoch ebenso wie das Menschengeschlecht selbst vernichtet worden war. Das Wissen um Eisenwaffen bzw. -instrumente überdauerte laut Mercati jedoch bei einigen wenigen und konnte sich nur dort entfalten, wo es Eisenerzvorkommen gab.16 Mercati führt damit ganz allgemein das Materialvorkommen als materielle Grundlage für Kriegswaffen an. Er kann dabei auch auf die amerikanischen Ureinwohner („die Völker des Westens“) verweisen, die das ihnen zugängliche Material der Fischgräten als Waffen verwendeten. Dies liefert Mercati ein zentrales Argument: aufgrund des Eisenmangels war es in Italien nach der Sintflut nicht möglich gewesen, Waffen aus Metall herzustellen, so dass der hier vorhandene Feuerstein von den Menschen als Material für die Waffenerstellung eingesetzt wurde. Hier dienen ihm Nachrichten aus römischen Quellen, die von frühen Steinwerkzeugen der Britannier berichten, als Argumentationshilfe, so dass Mercati biblische Geschichte und frühe Menschheitsgeschichte zu harmonisieren versucht.17 Den wichtigsten Schluss zieht Mercati am Ende der Ausführungen,
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wenn er die Donnerkeile – im Gegensatz zu anderen naturkundlichen Darstellungen des 16. Jahrhunderts – aus der Gruppe der idiomorphen Steine ausschließt und erklärt, dass die Natur sie nicht aus Scherz produziert haben könne. Er schlägt die spezifische Formfindung der Donnerkeile der kundigen Menschenhand zu, die sich solchermaßen unter den Bedingungen des Materialmangels durch eigenen Verstand ihre Waffen schuf. Iris Wenderholm
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Zu den Vatikanischen Gärten vgl. Alberta Campitelli: Gli horti dei Papi. I giardini vaticani dal Medioevo al Novecento, Mailand 2009. Die Analogie von Sammlung und Buch entlehnt Mercati dem Werk De omni rerum fossilium genere (Zürich 1565) von Conrad Gessner und Johannes Kentmann, von denen er auch weitgehend die Gliederung übernimmt, vgl. Hans Holländer: Ein Museum der Steine: die Metallotheca des Michele Mercati und die Ordnung des Wissens, in: Wunderwerk. Göttliche Ordnung und vermessene Welt: der Goldschmied und Kupferstecher Antonius Eisenhoit und die Hofkunst um 1600, Katalog der Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn, hg. v. Christoph Stiegemann, Mainz 2003, S. 19–30, hier S. 22, sowie Arnulf, Gessner. Laut Barbara Sasse: Die Archäologien von der Antike bis 1630, Berlin/Boston 2017 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde, 69), S. 255f., ist es jedoch schwierig zu entscheiden, inwieweit eine direkte, indirekte oder vermittelte Abhängigkeit zwischen Mercati und Kentmann bestand. Angaben zu Michele Mercati und der Metallotheca nach dem grundlegenden Artikel von Bruno Accordi: Michele Mercati (1541–1593) e la Metallotheca, in: Geologica Romana 19 (1980), S. 1–50, hier S. 1. – Eisenhoit war von 1572 bis etwa 1585 in Rom tätig, zu seinem Schaffen vgl. Kat. Wunderwerk 2003. Metall dient als Oberbegriff für das Reich der Mineralien, vgl. Hans Holländer: Chiffren und Figuren. Über die vis plastica des Zufalls und der Imagination, in: Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme u. Robert Felfe (Hg.): Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, München 2011, S. 79–101, hier S. 82. Zur Etymologie des Begriffs vgl. Matthew R. Goodrum: Questioning Thunderstones and Arrowheads: The Problem of Recognizing and Interpreting Stone Artifacts in the Seventeenth Century, in: Early Science and Medicine 13,5 (2008), S. 482–508, S. 483, Anm. 1. Interessanterweise verwendet Mercati an mehreren Stellen idiomatische Begriffe wie etwa das deutsche „der glatte Donnerstein“ (Mercati 1717, S. 241). In der Terminologie wird hier Sasse 2017 gefolgt. Holländer 2011, S. 91. Das Folgende nach Holländer 2003, S. 24f. Accordi 1980, S. 1. Grundlegend zum Stellenwert der Vor- und Frühgeschichte in der frühneuzeitlichen Auseina ndersetzung mit der Vergangenheit vgl. Sasse 2017 und Dietrich Hakelberg u. Ingo Wiwjorra (Hg.): Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2010 (Wolfenbütteler Forschungen, 124). Zu archäologi-
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schen Funden in der Frühen Neuzeit vgl. ausführlich http://www.hab.de/de/home/wissenschaft/forschungsprofil-und-projekte/archaeologische-funde-in-der-fruehen-neuzeit. html (letzter Zugriff 9.11.2020). – Ich danke Arwed Arnulf für die reichen philologischen Hinweise. Goodrum 2008, S. 483. Ausführlich vgl. Sasse 2017, S. 254ff. Siehe auch Goodrum 2008, S. 488f., mit Verweis auf Conrad Gessner: De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime figuris & similitudinibus liber, Zürich 1565, S. 62r und Georg Agricola: De natura fossilium, Basel 1564, S. 262. Goodrum 2008, S. 488–490. Zu den Zusammenhängen von Sammlungen als Wissensspeichern und der frühen naturkundlichen Forschung vgl. Paula Findlen: Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley, Calif. [u.a.] 1994. Vgl. Ferrante Imperato: Dell’historia naturale libri XXVIII, Neapel 1599, S. 590. Hinweise bei Goodrum 2008, S. 495, 499. Goodrum 2008, S. 496. Bei der Identifizierung der „Erfinder des Eisens“ stützt sich Mercati auf bekannte Autoritäten wie Plinius d. Ä., Strabo und Clemens von Alexandria. Zu Damnameneus vgl. René Bloch: Damnameneus, in: Brill’s New Pauly, Antiquity Volumes, hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider, http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_bnp_e310390 (First published online: 2006, letzter Zugriff 26.10.2020). Goodrum 2008, S. 506. Weiterführend Paolo Rossi: The Dark Abyss of Time: The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago 1984, Kap. 17–36.
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Danksagung
Die Entstehungsgeschichte dieses Buches wäre eine ganz eigene Publikation wert, so intensiv, manchmal langwierig, immer aber kurzweilig stellte sich die Arbeit dar. Ermöglicht durch die Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die von 2013– 2017 das Projekt Natura-Materia-Artificio. Die Reflexion von Naturmaterialien in bildender Kunst und Kunsttheorie vom 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert unterstützte, ist das Buch das Werk vieler Hände und vieler Köpfe. Der Expertise und Tatkraft der Autorinnen und Autoren ist zu verdanken, dass nicht nur der Umfang, sondern der gedankliche Horizont ständig erweitert wurde. Allen voran habe ich Isabella Augart zu danken, mit deren tatkräftiger Unterstützung das Projekt und auch diese Publikation betrieben wurde – maßgeblich weitergeführt von Kim Sulinski. Arwed Arnulf war der zentrale Ratgeber im Bereich der vormodernen Topik und Wissensgeschichte; als Übersetzer zahlreicher mitunter schier unübersetzbarer Texte aus dem Lateinischen war er unverzichtbar. Anna Degler und Robert Felfe setzten die initialen Blöcke, die Alexander von Humboldt Forschungsstelle Naturbilder / Images of Nature unter der Leitung von Frank Fehrenbach war zwischen 2013–2018 ein wichtiger Diskussionspartner. Die Lektüre- und Projektgruppe profitierte vor allem von Franca Buss, Ilka Mestemacher und Maurice Sass, aber auch Julia Kölle, Alexandra Pietroch und Magdalena Grüner waren diskussionsfreudige Teilnehmerinnen. Viele Kollegen und Kolleginnen teilten ihre Kenntnisse bereitwillig mit uns: Christian Brockmann, Corinna Körting, Barbara Schellewald, Jochen Schlüter und Michael Thimann ist hier besonders zu danken, ebenso Marc Föcking, Melanie Möller und Claudia Schindler, die mit der Empfehlung von Autoren weiterhalfen. Viele der kommentierten Texte wurden teilweise erstmals ins Deutsche übertragen, hier ist vor allem Arwed Arnulf, Daniel Fliege, Alessandro Musino, Florian Wöller und Franziska Weise zu danken. Fabian Käs war ein besonders wichtiger Ratgeber für den Bereich der Islamwissenschaft und Fragen des Arabischen.
Abb. 12 Bergkristall, Holzschnitt, aus: Conrad Gessner: De rerum fossilium, lapidum et gemmarum maxime, figuris et similitudinibus liber, Zürich 1565, S. 52
Register der Steinnamen
Achat 33, 37, 38, 88, 104, 113, 118, 143, 159, 185, 212, 215, 220–221, 265, 269, 345, 374–375 Alabanticus 132 Alabaster 11–12, 26, 132, 135–136, 142 Amethyst 33, 38, 120, 143, 159, 213, 217, 219, 260, 300, 344 Anteros 260, 263 Anthrax 63, 67 Aquamarin 300 Augenstein 37 Azurit 234–237 Basalt (Basanites) 132 Bergkristall 63–64, 67, 116–117, 120–121, 220, 297, 416 Bernstein 38, 53, 55, 58, 88, 159, 220, 346 Beryll 39, 143, 156, 162, 254 Bezoar 195, 409 Bildstein 24, 86 Bimsstein 55, 73, 303 Bristol Stone 388 Carbunculus (siehe Karfunkel) Ceraunia (Donnerkeil) 403–405, 407–412 Chalazias, Chalazios (Hagelkorn) 116, 120 Chalcosmaragd 174, 178 Chalzedon 39, 64, 143, 285 Chrysokorallion 328 Chrysolith 37–38, 143, 156, 162 Chrysopras 143, 300 Cippollaccio 396 Citrin 38 Coralliticus 132 Dendrit 25, 380–381
Diamant (adamas) 33, 99, 100–101, 103–109, 159, 166, 204, 207, 209–210, 219, 247, 249, 299–301, 305–307, 320, 343, 345, 347, 350–351, 353–354, 385, 388 Drakonitis (Schlangenstein) 55, 63, 65, 131 Eckstein 16, 33, 139 Edelstein 12–13, 16–18, 20–22, 26–29, 33–37, 39–41, 48, 56, 63–64, 67, 84, 86–87, 103, 109, 113, 116, 120–121, 133–134, 142–143, 145–147, 156–157, 159–163, 166–169, 173, 176, 180–181, 185, 191, 193, 205–209, 211–217, 219–221, 258–261, 269–270, 293, 296–297, 299–300, 304–307, 343–350, 352–355, 373–374, 385– 387, 389–390 Elektron, Electrum (vgl. auch Bernstein) 58, 155, 159 Erz 26, 91, 174, 178, 354, 367, 393, 403–404, 411 Eupetalos 118 Feldspat 38 Feuerstein (siehe Silex) Flint 403 Gemme 18, 26–27, 55, 59, 64–66, 84, 86, 113, 142, 155, 160, 176, 180, 187–188, 190, 196, 213–215, 217–218, 220, 270–271 giallo antico 94, 127 Goldstein 396 Goldtopas 38 Granat 35, 63, 67, 300, 344, 387 Granit 26, 94, 308, 396 Hämatit 346 Heliotrop 346, 374 Herakleia-Stein 63, 396 hyaloeides 121 hyalos 116, 120–121
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Register der Steinnamen Hyazinth 143, 167, 300, 344 hyelos 121 Jaspis 33, 38, 61, 64, 143–145, 156, 159, 162, 166, 254, 283, 285–286, 290, 345–346, 374–375, 393 Kalk 140, 234, 242, 365–366, 391 Kamee 86, 89, 187, 189, 267, 269, 272, 374 Karfunkel (Carbunculus) 35, 38, 143, 156, 162, 165–166, 168–169, 219, 255, 307, 343, 349–350 Karneol (siehe Sarder) Kiesel 134, 139, 150 Kristall 14, 48, 88, 106–107, 111, 117, 227, 255, 295–298, 301–302, 307, 352, 386, 388 krystallos (siehe Bergkristall) Lapis Philosophorum (Stein der Weisen) 321–327, 329, 389 Lapis porphyrites (siehe Porphyr) Lapislazuli 37–38, 63–64, 67, 159, 234–235, 260, 374 Lyngurion (Lyngoúrion, Ligurius, Lynkurer) 33, 38, 53, 54, 56–58, 143, 159 Magnetstein (Magnetit, Magnet, Lapis magnes) 37, 62–63, 65–67, 86, 104, 134, 247, 249–252, 294–295, 346 Magnetis 55 Malachit 38, 234, 235 Marmor 11, 13, 18–19, 23–25, 70–71, 78, 83–84, 86, 88, 91–97, 124–131, 132–137, 141–142, 146, 176, 182, 186, 188, 204, 207, 209–210, 240–241, 243–244, 246, 265–266, 272, 279, 282–283, 302–303, 307–308, 318–319, 331– 332, 334, 336, 338, 345, 364–367, 369–373, 377, 380–381, 383, 392–393, 395 Marmor, Augusteischer 131, 135 Marmor, aus Carrara 303, 307–308, 392 Marmor, Karysteischer 133 Marmor, Korinthischer 133, 136 Marmor, Lakedämonischer 131, 135, 141 Marmor, Lesbischer 133 Marmor, Parischer (Lygdinus, Lychnites, Lygnischer) 132, 136, 141, 244 Marmor, Thasischer 132–133 Marmor, Tiberischer 131–132, 135 Mischio 396
Onyx 32–33, 124, 143, 156, 159, 162, 183–184, 186, 190, 266 Ophit / Ophites (Schlangenstein, Serpentinstein) 131, 135, 396 Ophthalmius 346 Paragone (Parangon, Prüfstein) 55, 63, 334, 339, 396 Pavonazzetto 94 Porphyr (Lapis porphyrites) 13, 19, 23, 26, 86, 106, 234, 204, 207, 210, 233, 279, 285, 305, 308, 313–320, 333–334, 338–339, 341, 391, 393, 395–396 Prasem 300 Pseudodiamant 352 Pyrit (Narrengold) 63 Quarz 116 Rubin 33, 35, 63, 67, 143, 159, 162, 217, 219, 299–302, 305–307, 310–311, 348–354, 385 Sapeiros 63 Saphir 33, 143–145, 155–156, 159–160, 162, 175, 205–206, 219, 253–255, 260, 299–301, 305, 307, 349, 352, 386 Sarder (Sárdion, Sardius, Karneol) 33, 35, 37, 54, 63, 67, 120, 143, 145, 156, 159 Sardonyx 35, 37, 187, 215 Schlangenstein (Drakonitis) 55, 63, 65, 131 Serpentin 13, 26, 131, 215, 305, 308, 310, 317, 333–334, 338, 370, 393, 396 Silex (Feuerstein) 104, 403–404, 409, 411 Smaragd 11, 33, 38–39, 53, 57, 124, 143–144, 156, 159, 162, 173–178, 180, 206, 208–209, 219, 253–256, 260, 299–301, 305–307, 347 Smaragd, Ägyptischer 173, 177 Smaragd, Baktrischer 173, 177 Smaragd, Skythischer 173, 177 Spiegelstein (Fraueneis) 140 Spinell 300, 306 Syenit 132 Thebaicus (Rosengranit) 132 Topas 33, 37–38, 143, 156, 159, 162, 169, 206, 254, 352 Türkis 33, 35, 159, 253–254, 347 verde antico 94
Namensregister
Aelianus, Claudius 104 Aethicus 168 Agostino (del Riccio) 320 Agricola, Georg 15, 20, 27, 56, 87, 269, 354, 375, 381, 409, 410 Alanus (ab Insulis) 17 al-Baġdādī, Abū l-Barakāt 152 Alberti, Leon Battista 19, 87, 106, 227, 239–245, 290, 308, 314, 317–318, 391 Albertus (Magnus) 15, 24, 30, 87, 105, 153, 181–202, 206, 209, 217, 221, 247, 249–250, 260, 265–266, 269, 272, 343, 369, 409 al-Bīrūnī 27 Aldrovandi, Ulisse 15, 24–25, 28, 30, 87, 107, 269, 365–372, 378, 380, 382–383 Aldobrandini, Pietro Igneo (Kardinal) 362 Alexander (Aphrodisiensis) 57 Alexander der Große 56, 64 Alexander, III. (Papst) 167 al-Fārābī 151 Alfons, X. (Kastilien und León, König) 27, 105 Alfred von Sareshel 153 al-Ǧāhiẓ, ʿAmr ibn Baḥr 27 al-Ġazālī 152 Alhazen 226 al-Kindī 27 Alkuin 87, 146 al-Maqrīzī 152 al-Qazwīnī 152–153 Alsted, Johann Heinrich 147 al-ʿUmarī, Ibn Faḍlallāh 152–153 Ambrosini, Bartolomeo (Bartholomäus Ambrosinus) 368, 374, 380 Ambrosius (Mediolanensis) 108
Anaxarete 72 Andrea (del Verrocchio) 318 an-Nātilī, Abū ʿAbdallāh 150 Antipatros von Thessalonike 67 Apelles 93 Apollonios von Tyana 65, 151 Apuleius 119 Aratos von Soloi 63 Archias, Aulus Licinius 67 Arculf (Bischof) 79, 281 Argentarius, Marcus 67 Aristophanes 116, 120–121 Aristoteles 13–15, 19–20, 29, 54, 57–59, 97, 104–105, 150–153, 185, 197, 242, 259, 262, 269, 329, 365, 369, 409 Arnaldus (de Villanova) 324, 328 Arnoldus Saxo 105 ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn 152 Asklepiades von Samos 62, 67 Assalti, Pietro 408 at-Tamīmī 121 at-Tīfāšī, Aḥmad ibn Yūsuf 13, 27 Augustinus, Aurelius 87, 134, 159, 218–219 Avicenna siehe Ibn Sīnā Bacci, Andrea 343 Bartholomaeus (Anglicus) 14, 87, 105, 173– 180, 209 Beda Venerabilis 87 Bellarmin, Roberto 380 Bellini, Giovanni 271 Bernhard (von Clairvaux, Abt, Heiliger) 161, 167 Bernhard von Chartres 224 Bernini, Gian Lorenzo 401
420
Namensregister Biondo, Michelangelo 12, 26 Boccaccio, Giovanni 87, 207 Bocchi, Francesco 320 Bolos (von Mendes) 104 Bonincontri, Lorenzo 268 Boodt, Anselmus de (Anselmus Boetius) 14, 16, 20–22, 28, 107, 269, 296, 343–355, 390, 410 Boyle, Robert 14, 27, 385–390 Brant, Sebastian 214 Brassavola, Antonio Musa 269–270 Braulio von Saragossa 133 Breydenbach, Bernhard von 248–249 Burchardus (Wormaciensis) 279 Calcidius 49 Caravaggio (Michelangelo Merisi) 362 Carl Emanuele (Herzog von Savoyen) 362 Cartari, Vincenzo 394 Cassiodor 134 Cato, Marcus Porcius 242–243 Celano, Thomas von 227 Cellini, Benvenuto 19, 22, 291, 299, 304–312, 318, 336, 339 Cennini, Cennino 19, 87, 223–238, 309 Chigi, Agostino 96 Chrétien (de Troyes) 17 Cicero, Marcus Tullius 23, 49, 134, 219, 384 Claudianus 67, 120 Clemens, IV. (Papst) 227 Clemens (von Alexandria) 407, 413 Colonna, Francesco 253, 257, 261–263 Condivi, Ascanio 336 Constantia (Augusta) 391 Constantinus (Africanus) 196 Corbechon, Jean 179 Cornelis de Bie 399 Cosmico, Niccolò Lelio 261 Cospi, Ferdinando 368 Costa ben Luca 196 Cranach, Lucas 273 Cyrill (von Jerusalem, Bischof) 78–79 d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 87 d’Arezzo, Restoro 226, 230 Damigeron 114
Daniele (da Volterra) 335 Dante (Alighieri) 18, 87, 203–210, 258–259, 262 Dati, Carlo 408 Della Porta, Giovanni Battista 107, 367, 371 del Pollaiuolo, Piero 98 Demokrit 50, 328 Diderot, Denis 87 Diogenes Laertios 54, 57–59 Diokles (von Karystos) 53, 58 Dionysius von Alexandria 64 Dioskurides, Pedanios 14, 60, 174–175, 178, 216, 221, 247, 249, 260 Dolce, Ludovico 207, 343 Domitian (Römisches Reich, Kaiser) 92 Donatello 319 Doria, Giovanni Carlo 363 Duccio (di Buoninsegna) 224–226 Duquesnoy, François 401 Dürer, Albrecht 282 Eisenhoit, Antonius 408–409, 412 Eleonora (von Toledo) 315 Epikur 50 Erasmus von Rotterdam 89 Eriugena, Johannes Scottus 168 Este, Isabella d’ 13 Este, Lionello d’ 240 Eudoxos von Knidos 46, 63 Eugen, II. (Papst) 167 Euripides 118 Eusebius (Caesariensis) 34, 40, 78, 80 Eutychios (Konstantinopel, Patriarch) 125 Evax 114 Fabri, Felix 279–280 Federico (da Montefeltro, Herzog von Urbino) 95, 98 Francesco (Petrarca) 14, 18, 22, 87, 211–221, 229 Francesco (da Sangallo) 336, 338–339 Francesco (del Tadda) 315, 318, 320, 333, 338–339 Friedrich, III. (Sachsen, Kurfürst) 277 Ǧābir, siehe Geber Gaddi, Agnolo 224, 233
Namensregister Gaddi, Taddeo 224, 228 Gahiz, siehe al-Ǧāḥiẓ Galen (von Pergamon) 50, 60, 249 Garcia (ab Horto) 351 Geber (Dschabir / Ǧābir ibn Ḥayyān) 153, 195 Geber Hispalensis (von Sevilla) (Dschabir ibn Aflah/Ǧābir ibn Aflaḥ) 191, 194–195 Gerhard von Cremona 150 Geri, Paolo (Il Pilucca) 319 Germa (der Babylonier) 191, 194 Gessner, Conrad 15, 21–22, 27, 293–294, 296– 298, 343, 353–354, 375, 378, 408, 410, 412, 416 Ghiberti, Lorenzo 226–227, 308 Gilduin (von St. Viktor) 158 Gilliszoon, Willem 268 Gimma, Giacinto 107 Giotto (di Bondone) 188, 224, 226–228 Giustiniani, Vincenzo 395, 399, 401 Goethe, Johann Wolfgang von 87, 304 Goltzius, Hendrick 399 Gonzaga (Familie) 89 Gottfried (von Straßburg) von 17 Gottschich, Melchior 251 Gregor der Große 162 Günter, Albert 381 Gunslavi, Johannes 152 Gyges (Lydien, König) 65, 68 Hadrian (Römisches Reich, Kaiser) 78 Hadrian, IV. (Papst) 167 Hali (Abu Dschafar Ahmad ibn Yusuf / Abū Ǧaʿfar Aḥmad ibn Yūsuf) 195 Hartmann (von Aue) 106 Hedylus von Samos 62 Heinrich aus Sachsen 266, 272 Heinrich von Veldecke 17 Heraklit (von Ephesos) 410 Hermes (Trismegistos) 191, 194, 324 Hermokrates 45–46 Herodot 68, 121, 239 Heron (Alexandrius) 245 Hieronymus, Sophronius Eusebius 87, 104, 108–109, 134
Hildegard von Bingen 14, 87, 165–171, 176, 249–250 Homer 87, 119, 123, 363 Honthorst, Gerrit van 394 Hooke, Robert 388 Hrabanus (Maurus) 17, 87, 139–148, 306 Hugo (von St. Viktor) 17, 28, 87, 155–164 Humboldt, Alexander von 87 Ibn al-Akfānī 27 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī (Avicenna) 14, 20, 27, 56, 149–154, 196, 249, 322 Imperato, Ferrante 410 Innozenz, II. (Papst) 167 Isidor (von Sevilla) 14–15, 17, 23, 87, 105–106, 131–137, 146, 148, 158–159, 173–178, 217, 260 Jean (Berry, Herzog) 89 Jean (d’Outremeuse) 220 Jean, II. (Frankreich, König) 217 Johann Wonnecke (von Kaub) 247–252 Johannes Tzetzes 113, 117–118 Johannes (von Salisbury, Bischof) 230 Johannes Bonaventura (Kardinal, Heiliger) 227 Johannes von Hauvilla 17 Johannes von Rupescissa 324 Josephus, Flavius 35, 405 Julian (Römisches Reich, Kaiser) 114, 119, 130 Justinian I. (Byzantinisches Reich, Kaiser) 119, 125–126 Kallistratos 335–336 Karl, I. (Heiliges Römisches Reich, Kaiser) 146 Karl, V. (Frankreich, König) 179 Kentmann, Johannes 22, 408, 412 Kephalas, Konstantinos 66 Kepler, Johannes 50 Kindi, siehe al-Kindī Kircher, Athanasius 24–25, 30, 373–384 Konstantin, I. (Römisches Reich, Kaiser) 78–79 Kopernikus, Nikolaus 89 Krünitz, Johann Georg 22 Lancisi, Giovanni Maria 408 Landino, Cristoforo 89, 270
421
422
Namensregister Latini, Brunetto 208–209 Leibniz, Gottfried Wilhelm 25 Leo, X. (Papst) 319 Leonardi, Camillo 14, 107, 220, 265–273 Leonardo (da Vinci) 87, 228 Lesser, Friedrich Christian 105 Lessing, Gotthold Ephraim 270 Leukipp 50 Lucretius Carus, Titus (Lukrez) 24, 93–94, 404 Macrobius, Ambrosius Theodosius 158 Makarios, I. (Bischof) 78 Mander, Karel von 394 Mantegna, Andrea 271, 318 Manutius, Aldus 257, 335 Marbod (von Rennes, Bischof) 14, 17, 105–106, 147–148, 159–160, 163, 168, 174–176, 178, 205, 217, 260, 272 Marino, Giambattista 18, 357–364 Martini, Simone 213 Matteo di Capua 362 Māsawaih (Masawayh) 27 Maximos von Ephesus 114, 118–119 Maximus (Planudes) 66 Medici, Caterina de’ 287 Medici, Cosimo I. de’ (Toskana, Großherzog) 89, 315, 318, 320, 333 Medici, Giuliano di Lorenzo de‘ 360 Medici, Lorenzo de’ 95, 241 Medici, Maria de‘ 362 Megenberg, Konrad von 225, 249 Mela, Pomponius 404 Melanchthon, Philipp 89 Melozzo da Forlì 271 Mercati, Michele 16, 22, 24, 30, 378, 403–413 Michelangelo (Buonarroti) 18, 316–317, 331– 332, 335–336, 338, 357, 360–361 Mirgel, Johannes 251 Misson, Maximilian 368 Montmorency, Anne de 287 Moschus, Demetrius 113, 115, 119–120 Murtola, Gasparo 362 Mussato, Albertino 219 Myron 93
Na’aman, Nadav 40 Nelli, Francesco 213 Nero (Römisches Reich, Kaiser) 173, 176, 240, 255 Neudörffer, Johann 399 Newton, Isaac 388–389 Nikandros von Kolophon 67, 118–119 Nikolaus, IV. (Papst) 227 Nikolaus, V. (Papst) 240 Olympiodoros 57 Oppian 118 Origenes 104 Ovidius Naso, Publius 11–12, 18, 20, 23, 69–73, 118 Pacioli, Luca 270, 273 Palissy, Bernard 19, 283–292 Palladio, Andrea 168, 399 Paracelsus (Theophrast von Hohenheim) 14, 105, 321–329, 353 Parmenides 47 Paulos (Silentiarios) 18, 123–130 Pausanias 117, 121 Peckham, Johannes 226–229 Perugino, Pietro 271 Peruzzi, Baldassare 96 Petrus (de Ebulo) 17 Pfeffinger von Salmannskirchen, Degenhart 276–278 Phidias 93 Philo (von Byblos) 34 Philostratos, Flavius 65, 335 Pico della Mirandola, Giovanni 89 Piero della Francesca 271, 273 Pietro d’Abano 188 Platon 13, 15, 20, 43–51, 67, 160, 192, 201 Plinius Caecilius Secundus, Gaius (Plinius d. J.) 24, 92–93, 97 Plinius Secundus, Gaius (Plinius d. Ä.) 13, 14, 17–20, 22, 24, 35, 40, 55–56, 58–59, 64–65, 67–68, 83–89, 95, 104–106, 108, 112, 115–117, 120, 134–137, 158–159, 168, 176, 180, 216, 220–221, 242, 260, 266, 270, 272, 298–290,
Namensregister 320, 328, 343, 366, 369, 380, 382, 393, 395, 404, 407, 409, 413 Poggio Bracciolini, Gian Francesco 92 Poliziano, Angelo 96 Pollius Felix 29, 92–94, 96 Polyklet 93 Pontormo, Jacopo 336 Poseidippos (von Pella) 14–15, 18, 55, 59, 61–68, 115 Poussin, Nicolas 362–363 Proklos 50, 112 Prudentius Clemens, Aurelius 159 Pseudo-Aristoteles 20, 151, 201 Pseudo-Dionysius Areopagita 160–161, 164, 175 Pseudo-Ptolemäus 195, 198 Ptolemaios, II. Philadelphos (Ägypten, Pharao) 62, 187 Ptolemäus, Claudius 191, 193–195 Puget, Pierre 335 Pyrgoteles 216 Pyrrhus (Epirus, König) 212, 216, 265, 272 Qusṭā ibn Lūqā, siehe Costa ben Luca Reich, Gregor 147 Riario, Raffaele 334 Riccius, Nicolaus 98 Ridolfi, Carlo 399 Rößlin, Eucharius 251 Rueus, Franciscus (François La Rue) 343 Rubens, Peter Paul 399 Rudolph, II. (Römisches Reich, Kaiser) 352– 353, 355 Sabadino degli Arienti, Giovanni 98 Sallustius Crispus, Gaius 134 Sandrart, Joachim von 19, 106, 270, 391–401 Sangallo, Giuliano da 319 Scala, Cangrande della 209 Scaliger, Joseph Justus 369 Scamozzi, Vincenzo 319–320 Schelling, Friedrich Wilhelm 209 Scheuchzer, Johann Jakob 269, 297–298 Scheurl, Christoph 273 Schröter, Johann Samuel 269
Seneca, Lucius Annaeus 87, 219 Serbaldi da Pescia, Pier Maria (Tagliacarne) 319 Serapion 247, 249 Serenus Sammonicus, Quintus 168 Serlio, Sebastiano 399 Servius 136 Sforza, Battista 95 Sokrates 45–47, 120 Solinus, Gaius Julius 18, 87, 134, 212, 216, 220, 272 Sophokles 119 Sotakos 65, 68 Spalatin, Georg 214, 220 Spanheim, Jutta von 167 Stahel, Peter 214, 220 Statius, Publius Papinius 23–25, 29–30, 91–98 Stein, Gottfried 22 Strepsiades 120 Strozzi, Giovanni 360–361 Suger (Abt von Saint-Denis) 17, 28, 156–164 Suriano, Francesco 275–278, 280 Ṯābit, siehe Tebith Tebith (Thabit /Ṯābit ibn Qurra) 191, 194–195 Tertullianus, Quintus Septimus Florens 87 Theaitetos 46 Theodericus 278 Theokritos 115 Theophilus (Presbyter) 106, 306, 395 Theophilus von Edessa 121 Theophrast von Eresos 14–15, 20, 25, 27, 53–60, 63, 87, 115, 120, 242, 260, 319, 409 Theophrast Bombastus von Hohenheim, siehe Paracelsus Thomas (von Aquin) 194, 197, 250 Thomas (von Cantimpré) 105 Titus (Römisches Reich, Kaiser) 84 Tornioli, Niccolò 381 Tot der Grieche 191, 194 Typotius, Jacobus 352 Toxites, Michael (Michael Schütz) 323, 325–327 Valens (oströmischer Kaiser) 114, 119
423
424
Namensregister Vanni, Francesco 383 Vanni, Michelangelo 381 Varchi, Benedetto 308, 318, 336, 338 Varro, Marcus Terentius 87, 242 Vasari, Giorgio 19, 87, 106, 308, 313–320, 336, 338, 341, 394–396, 398 Vergilius Maro, Publius 118, 136, 204–205 Vespasian (Römisches Reich, Kaiser) 84 Vespasiano (da Bisticci) 98 Vigenère, Blaise de 19, 331–341 Villani, Giovanni 316, 319 Vinzenz (von Beauvais) 87, 105, 147–148, 272
Visconti, Galeazzo 217 Vitruvius Pollio, Marcus 87, 92, 134, 168, 240–246, 289, 391 Walafrid (Strabo, Reichenau, Abt) 168, 413 Walter (von Châtillon) 17 Wimpfen, Johann Albert von 326–327 Witelo 227–229 Wolfram (von Eschenbach) 17, 106 Xenokrates (von Ephesos) 104–105, 109, 117, 121, 255 Zosimos 328
Abbildungsnachweis
1 Iris Wenderholm/Einleitung: © Staatliche Museen zu Berlin (SMB), Kunstwissenschaftliche Bibliothek, RA A 6863 mtl, Foto: Dietmar Katz. 2 Conrad Gessner: De omni rerum fossilium genere, gemmis, lapidibus, metallis, et huiusmodi, libri aliquot, Zürich 1565, unpaginiert, hier S. 15. ETH-Bibliothek Zürich, Rar 5776, https://doi.org/10.3931/e-rara-11163 / Public Domain Mark. 3 Iris Brahms/Anglicus: gallica.bnf.fr/Bibliothèque nationale de France. 4 Johannes Tripps/Cennini: De Vecchi/Vergani 2003, S. 53. 5 Nadine Mai/Suriano, Pfeffinger: Mühldorf am Inn, Stadtarchiv. 6 RobertFelfe/Palissy: http://journals.openedition.org/techne/docannexe/image/1616/img-1.jpg © RMN-Grand Palais (musée national de la Renaissance, château d’Écouen)/Stéphane Maréchalle. 7 Andreas Plackinger/Vigenère: Plackinger 2016, S. 135. 8 Joris van Gastel/Aldrovandi: ETH Zürich. 9 Johanna Beate Lohff/Kircher: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kircher1678bd2/0049 / Public Domain Mark 10 Christina Posselt-Kuhli/Sandrart: http://ta.sandrart.net/-text-2. 11 Iris Wenderholm/Mercati: © Staatliche Museen zu Berlin (SMB), Kunstwissenschaftliche Bibliothek, RA A 6863 mtl, Foto: Dietmar Katz 12 Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.