Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie: Schritte zu einer normativen Systemtheorie [1 ed.] 9783428433483, 9783428033485


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Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie: Schritte zu einer normativen Systemtheorie [1 ed.]
 9783428433483, 9783428033485

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 265

Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie Schritte zu einer normativen Systemtheorie

Von

Helmut Willke

Duncker & Humblot · Berlin

HELMUT WILLKE

Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie

Schriften zum öffentlichen Rech t Band 265

Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie

Schritte zu einer normativen Systemtheorie

Von

Dr. Helmut Willke

DUNCKER

& H Ü M B L O T

/

BERLIN

Alle Hechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03348 5 D 21

Für Elke

Vorwort Die Arbeit lag i m WS 1974/75 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Tübingen als Dissertation vor. Danken möchte ich Herrn Prof. Dr. Günter Dürig für seine großzügige und freundliche Betreuung der Arbeit. Daß m i r sein wissenschaftlicher Kampf u m die Grundrechte Vorbild ist, gebe ich gern zu. Z u Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Josef Esser für kritische Anregungen. Zu danken habe ich insbesondere Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Otto Bachof für die Förderung während meiner dreijährigen Tätigkeit an seinem Lehrstuhl. Er hat durch großes Verständnis und geduldige Nachsicht ermöglicht, daß die Arbeit i n dieser Zeit fertiggestellt werden konnte. Herzlich danken möchte ich auch meinen Kollegen Dr. Jost Pietzcker und Dr. Gunther Teubner für ausführliche und weiterführende Diskussionen. Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann danke ich für die A u f nahme der Arbeit i n die Reihe „Schriften zum öffentlichen Recht". Tübingen, i m Februar 1975 Helmut Willke

Inhaltsverzeichnis I . Einleitung

13

1.

K r i t i k der Grundrechtstheorie i n praktischer Absicht

13

2.

Z u r Methode u n d Sprache

16

3.

Gegenstand u n d A u f b a u der Arbeit

20

I I . Die Grundrechte als Wertsystem

24

1.

Das Wertsystem der Grundrechte nach D ü r i g

1.1. 1.1.1.

Elemente u n d S t r u k t u r des Grundrechtssystems 33 Präponderanz der Freiheit u n d die F u n k t i o n des allgemeinen Gleichheitssatzes 36 Wie verhält sich dieses „System" zur allgemeinen Wertordnung der Verfassung? 40

1.2.

24

2.

Z u m Problem der Wertanalyse

44

2.1. 2.1.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2.

F i x i e r u n g des Wertbegriffes Rationalisierung v o n Wertentscheidungen durch Folgendiskussion? Wertanalyse aus soziologischer Sicht Allgemeines zum soziologischen Ansatz Parsons

44 46 49 49 52

2.2.3. 2.2.4. 2.3.

Luhmann Habermas Folgerungen

55 67 72

3.

Z u m Problem des Systemdenkens

75

3.1. 3.1.1.

Z u m Problem des Systemdenkens aus juristischer Sicht 75 Normatives Systemdenken als Voraussetzung juristischer Prospektik 79 3.2. Z u m Problem des Systemdenkens aus soziologischer Sicht 85 3.2.1. Parsons — Die Tendenz zur Herausbildung von Wertsystemen . . 87 3.2.2. L u h m a n n — Der Einbau von Lernfähigkeit i n das Redit 90 3.2.2.1. Einschub: Rechtsgewinnung als Lernprozesse eines kybernetischen Systems 94 3.2.2.2. Luhmanns Bezugsproblem: Die Interdependenz von Entscheidungen 97 3.3. Folgerungen 100 4.

Welchen heuristischen Sinn hat die Konzeption der Grundrechte als symbolisches System? 104

10

Inhaltsverzeichnis I I I . Die institutionelle Seite der Grundrechte

111

1.

Das institutionelle Verständnis der Grundrechte nach Häberle . . . . 111

1.1.

Die Grundrechte als Gleichgewichtssystem

1.2.

Der Doppelcharakter der Grundrechte: die u n d die institutionelle Seite

111 individualrechtliche 118

2.

Z u r Unterscheidung v o n Rechtsinstitutsgarantien u n d Institutionsgarantien 121

2.1. 2.2.

Rechtsinstitutsgarantien Institutionsgarantien

2.2.1. 2.2.2.

Welchen Zweck haben grundrechtliche Institutionsgarantien? 126 Welche Grundrechte umfassen nach der neueren Grundrechtstheorie auch Institutionsgarantien? 130

122 124

3.

„ I n s t i t u t i o n " i n sozialwissenschaftlicher Sicht

3.1. 3.2. 3.2.1. 3.3. 3.4. 3.5.

Hauriou ; 134 Gehlen 136 E x k u r s zur Entlastungsinstanz »Bewußtsein 4 — Das Bewußtsein als inneres Modell der Außenwelt 138 Schelsky 141 Parsons 144 Luhmann 147

4.

Folgerungen I V . Die funktionale Seite der Grundrechte

133

151 157

1.

Der funktionale Ansatz i n der Grundrechtstheorie nach L u h m a n n 157

1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2.

Der theoretische Rahmen Abgrenzung Naturrecht Die geisteswissenschaftliche Methode

157 162 162 163

1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4. 1.3.5.

Einzelgrundrechte i n kommunikationstheoretischer Sicht Würde u n d Freiheit Kommunikationsfreiheit Marktfreiheit Wahlrechte Gleichheit

164 164 169 170 175 177

2.

Zusammenfassung

179

3.

Kritik

180

3.1. 3.2.

Z u r Frage der Systemsteuerung durch Wertentscheidungen Z u r Frage der L e g i t i m a t i o n verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen Opportunismus u n d L e g i t i m i t ä t Legitimationskrise, Interessenrepräsentation u n d strukturelle Gewalt

182

3.2.1. 3.2.2.

192 195 199

Inhaltsverzeichnis

11

V . Multifunktionalität der Grundrechte und strukturelle Grundrechtswirkung

204

1.

Z u r M u l t i f unktionalität der Grundrechte i n der modernen Demokratie 204

1.1.

Demokratisierung der Gesellschaft als Vorbedingung staatlicher Demokratie 207

1.2.

Die Grundrechte als Teilhaberechte

2.

Die Konsequenz: Neugewichtung des Verhältnisses von Freiheit u n d Gleichheit 224

2.1.

Freiheit u n d Gleichheit

226

2.2.

Sozialität

236

216

V I . Schlußbetrachtung

241

Literaturverzeichnis

244

Namenverzeichnis

262

Stichwortverzeichnis

263

Abkürzimgsverzeichnis AcP AöH ARSP BBauG bes. BGB BGH BSHG BVerfG BVerfGE

= = = = = = = = = =

ders. DÖV DVB1. ebd. f., ff. GG JR JuS JZ KZSS LS m. E. m. w. N. Ν NJW PVS R StbFG VerwA VDStRL VVDStRL

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

ZfP ZfSoz. ZgesStW ZRP

= = = =

A r c h i v f ü r die civilistische Praxis A r c h i v des öffentlichen Rechts A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie Bundesbaugesetz besonders Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundessozialhilfegesetz Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtl. Sammlung derselbe Die öffentliche V e r w a l t u n g Deutsches Verwaltungsblatt ebenda folgend(e) Grundgesetz Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung K ö l n e r Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie Leitsatz meines Erachtens m i t weiteren Nachweisen (Fuß-)Note Neue Juristische Wochenschrift Politische V i e r t e l jahresschrift Randnummer Städtebauförderungsgesetz Verwaltungsarchiv Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift f ü r P o l i t i k Zeitschrift f ü r Soziologie Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift f ü r Rechtspolitik

Artikelangaben ohne weitere Hinweise beziehen sich auf das Grundgesetz.

Einleitung 1. Kritik der Grundrechtstheorie in praktischer Absicht Absicht dieser Arbeit ist es, einige Theorien über Grundrechte darzustellen und sie unter dem Leitgedanken ihrer praktischen Wirkung zu kritisieren. Dabei w i r d versucht, zwei mögliche Ebenen der K r i t i k zu verbinden: die K r i t i k einer Theorie kann sich auf die Theorie selbst beziehen, also auf metatheoretischer Ebene den Wissenschaftsanspruch einer Theorie prüfen. Sie kann sich auch auf die Praxis der Theorie beziehen, also auf pragmatischer Ebene Anwendbarkeit und die Folgen der Anwendung einer Theorie analysieren 1 . Eine Verbindung dieser Ebenen w i r d deshalb angestrebt, w e i l Rechtstheorie und Rechtspraxis i m Bereich der Grundrechte insbesondere unter dem Aspekt ihrer Vermittlung problematisch sind, während ihre gegenseitige Abgrenzung eher akademisches Interesse hat. Erst ihre gemeinsame Abgrenzung gegenüber der Rechtspolitik ist von praktischer Bedeutung, weil diese die Frage der demokratischen Legitimität normativer Geltungsbehauptungen aufwirft. Die Rechtstheorie ragt i n die Rechtspolitik hinein, weil sie nicht nur solche Erörterungen meint, „die sich m i t den Voraussetzungen, Strukturen oder Funktionen von Zeichen oder Zeichensystemen der Rechtssprache oder m i t Institutionen befassen, auf die sich die Rechtssprache bezieht", sondern auch Erörterungen, „die Konstruktionen von Zeichensystemen der Rechtssprache vorschlagen" 2 . Sie umfaßt die Antinomien von Sein und Sollen, von Dogmatik und Zetetik, von Systemstabilisierung und Systemtransformation und muß sich deshalb gegenüber dem permanenten V o r w u r f verantworten, die prekäre Grenze zur Rechtspolitik überschritten zu haben. Gerade die Grundrechtstheorie überschneidet sich m i t der Rechtspolitik, w e i l i h r als Bezugssystem ausdrücklich oder stillschweigend eine bestimmte Verfassungs- und Demokratietheorie zugrundeliegt. Dies ist insoweit unvermeidlich, als es gerade die Funktion der Grundrechtstheorie ist, die Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen nicht einer auf klassische Gesetze zugeschnittenen Dogmatik 1 Z u r entsprechenden Doppelfunktion von Theorie vgl. Habermas, u n d Praxis, S. 10. 2 Schreckenberger, Pragmatik der Rechtstheorie, S. 562.

Theorie

14

I. Einleitung

zu überlassen, sondern i n den Gesamtzusammenhang einer Verfassungs- und Demokratietheorie einzubinden 8 . I n dieser Lage bietet sich einerseits eine Vermeidungsstrategie und andererseits ein kritisch-rekonstruktiver Ansatz an. Die eine Strategie, die m i t der Spannung der Antinomien die Nähe zur Rechtspolitik vermeiden w i l l , w i r d sich auf einen »neutralen 4, metatheoretischen Standpunkt zurückziehen, „der sich auf die erklärende Analyse von »formalen 4 Strukturen und Funktionen des positiven Rechts oder auf die Analyse rechtswissenschaftlicher Probleme beschränkt" 4 . Dies ist der Ort einer neopositivistischen Dogmatik, die nach Esser ihren „hermeneutischen Z i r k e l " nicht bemerkt, w e i l sie ignoriert, daß „ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt w i r d : die gerechte Lösung" 6 . Dieser „neutrale" Standpunkt geht von einer totalen Systemautonomie des Rechts aus, der, wie Esser betont, dem Interpreten jede kritische Reflexion über Bedingungen und Motivationen seines Vorverständnisses verbiete und das ideologisch abgedichtete und sich autonom gebärdende Rechtssystem entgegen dem eigenen Anspruch gerade i n die Arme der politischen Manipulation führe®. Andererseits könnte ein kritisch-rekonstruktiver Ansatz die immer schon wirksamen metajuristischen Bedingungen der Interpretation offen legen und sie darüber hinaus als rechtspolitische Bewertungen i n den Systemkreis dogmatischer und hermeneutischer Verfahren eingliedern 7 , m i t h i n kontrollierbar machen. Die von Habermas vorgeschlagene Unterscheidung zwischen „deskriptiven Aussagen über geltende Normen einerseits und präskriptiven Aussagen andererseits, die die Wahl von Normen betreffen" 8 ergibt eine Grundlage für eine Rechtstheorie, die ihr rechtspolitisches Anliegen nicht verschleiert. Denn diese Unterscheidung zwischen geltenden Normen und zur Geltung drängender „normativer Optionen" 9 macht deutlich, daß eine klare Trennung zwischen rechtstheoretischen und rechtspolitischen Aussagen nicht möglich ist, w e i l jede Interpretation Selektion aus kontingenten Möglichkeiten ist. Sowohl Aussagen über Normen als auch normative Optionen sind deshalb legitimierungsbedürftig: beide müssen sich kritisch eva8 4 5 β 7 8 9

Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 1529. Schreckenberger y S. 568. Esser, Vorverständnis, S. 134. Esser , S. 138, vgl. auch S. 116. Vgl. Esser, S. 196 u n d v. Pestalozza, Grundrechtsauslegung, S. 430 ff. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 192. Diese Begriffsbildung bei Minssen, Legitimationsprobleme, S. 10.

1. K r i t i k der Grundrechtstheorie i n praktischer Absicht

15

luierender Aussagen über die Rechtfertigungsfähigkeit und Einlösbarkeit ihrer normativen Geltungsansprüche stellen 10 . Aussagen über Normen und normative Optionen sind Diskussionsangebote an eine Fach-Öffentlichkeit, die gerade dann, wenn i n die Normexegese das Wissen anderer Sozialwissenschaften einbezogen wird, einen Anspruch darauf hat, nicht m i t unüberschaubaren Fremderkenntnissen überrannt zu werden 1 1 . Die Unterscheidung von Normen und normativen Optionen kann auch die Darstellung der individuellen oder gesellschaftlichen Interessen erleichtern, die rechtstheoretische Erörterungen leiten 1 2 . Denn das, was als normativ geltend behauptet wird, muß intersubjektiv begründbar sein, also entweder auf bereits bestehenden Konsens zurückgreifen oder seine Mit-Legitimierung durch bereits legitimierte Problemlösungen nachweisen 18 ; und gerade dies setzt eine Interessenbewertung voraus, die nur nachvollziehbar ist, wenn die Verallgemeinerungsfähigkeit der Interessen (bzw. bei partikularen Interessen: deren Kompromißfähigkeit) auf gewiesen w i r d 1 4 , und die als Wertung nur dann rational überprüfbar ist, wenn sie die Folgen der Wertung expliziert; d. h. wenn „die fragliche Wertung wenigstens prinzipiell und m i t dem Plausibilitätsgrad, der i m juristischen Bereich möglich ist, durch Wertungen ihrer Folgen i m gesellschaftlichen Zusammenleben diskutier- und begründbar ist" 1 5 . Die Rationalisierung der Wertdiskussion durch eine Folgendiskussion koppelt zugleich die abstrakte und generalisierte Wertebene an die gesellschaftliche Praxis zurück. I n ähnlicher Weise kann eine K r i t i k von Theorien, die als Analyse der Folgen dieser Theorien betrieben wird, die Praxis der Theorie 1 6 problematisieren und durch die Rück10 Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 192 aus dem B l i c k w i n k e l einer k o m m u n i k a t i v e n Planungstheorie. 11 Vgl. dazu Bachof, Dogmatik, S. 217 f. 12 Dazu Schreckenberger, S. 567 f. ; zum Zusammenhang m i t Wertannahmen vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 156 f. 18 Vgl. Esser, Dogmatisches Denken, S. 97 ff., bes. S. 100; i m Falle i m m a nenter M i t - l e g i t i m i e r u n g rechtsdogmatischer oder rechtstheoretischer A b l e i tungen bezieht sich „ I n t e r s u b j e k t i v i t ä t " auf die Fach-Öffentlichkeit, p r a k tisch also auf die herrschende Meinung. Erst bei originärer Rechtssetzung umfaßt „ I n t e r s u b j e k t i v i t ä t " die jeweils betroffene Gesamt-Öffentlichkeit. Daraus folgt, daß — idealtypisch gesehen — Rechtstheorie u n d Rechtspolitik unterschiedliche Legitimationskonzepte erfordern. Vgl. auch Podlech, L o gische u n d hermeneutische Probleme, S. 339 N i l . 14 Dazu Habermas, Legitimationsprobleme, S. 149 ff.; zu den i m Verfassungsrecht notwendigen Stufungen des Interessen-Arguments vgl. Müller, Theorie der Praxis, S. 165 ff. 15 Podlech, Wertungen, S. 200; vgl. auch Goerlich, Wertordnung, S. 184 ff. u n d unten II.2.1.1. 16 E i n anderes Verständnis der „Praxis der Theorie" bei Luhmann, Die Praxis der Theorie, jedenfalls S. 253: hier versteht L u h m a n n unter „Praxis"

16

I. Einleitung

beziehung der Theorie auf ihre gesellschaftliche Praxis selber i n praktischer Absicht arbeiten: z.B. indem sie Zielfunktionen von Grundrechtstheorien (wie Individualschutz, Institutionenschutz oder Erhaltung der Systemdifferenzierung) nicht nur auf ihre aktuelle, sondern auch auf ihre prospektive Problemlösungskapazität h i n befragt 1 7 . 2. Zur Methode und Sprache I n der vorliegenden Arbeit w i r d Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft verstanden. Dies bedingt, daß die der Untersuchung zugrundegelegte Methode nur eine sozialwissenschaftliche sein kann. Eine Ausw a h l aus der Vielfalt sozialwissenschaftlicher Methoden zu begründen, w i r d dadurch erleichtert, daß die den Positivismusstreit ablösende Konfrontation zwischen Systemtheorie und neo-marxistischer kritischer Gesellschaftstheorie neuerdings dem Versuch (!) einer gegenseitigen Verständigung gewichen ist 1 8 . Dadurch ist zumindest deutlich geworden, daß „der V o r w u r f der unvermeidlich harmonischen und statischen Betrachtungsart der Systemtheorie i n der Soziologie bloß auf Ignoranz (beruht)" 1 9 und andererseits die kritische Reflexion des gesellschaftlich Gewordenen unter dem Aspekt seiner Veränderung auf bestimmte Ziele hin nicht ausschließliches Reservat der kritischen Gesellschaftstheorie ist 2 0 . Dies ermutigt zu dem Versuch, i n dieser Arbeit den analytischen Rahmen der Systemtheorie zugrundezulegen und i h n als Instrument der K r i t i k einzusetzen. E i n Hintergedanke spielt m i t : i n der Rechtstheorie setzt sich die Erkenntnis durch, daß topisches Denken (Problemdenken) und systematisches Denken nicht prinzipiell gegeneinander zu stellen sind, sondern sich als Methoden der Normkonkretisierung ergänzen können 2 1 . So schreibt Kriele: „Die These vom topischen Denken wendet sich nicht gegen das dogmatische System, sondern gegen das Vorurteil, ein System könne vollständig und endgültig sein. Sie plädiert für ,Systemoffenheit' 22 ." Anhand neuer Konfliktstellungen prodie Voraussetzungen i m Wissenschaftssystem, die Theorie als A r b e i t bedingen; etwas anders die Fragestellung dann auf S. 257 ff. 17 Vgl. Böhler, Rechtstheorie, S. 115 ff. 18 Vgl. Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 142 f., 270 ff. u n d Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 398 ff. 19 Τ jaden, Soziale Systeme, S. 30; ähnlich Kiss , Gleichgewicht u n d Wandel, S. 574. 20 Vgl. Luhmann, Bürgerliche Gesellschaft, S. 192 ff., 203 f., 206, 210; verm i t t e l n d Hondrich, Systemtheorie als Instrument, S. 14 f. 21 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 153 f.; Canaris, Systemdenken, S. 149 ff.; Otte, Topik-Diskussion, S. 189 ff. m. w. N.; kritisch Struck, Topische Jurisprudenz, S. 4 ff. 22 Kriele, Theorie der Rechtgewinnung, S. 150; zur Systemoffenheit vgl. Canaris, Systemdenken, S. 62 ff.; Ballweg, Rechtswissenschaft, S. 78.

2. Zur Methode und Sprache

17

blematisiert topisches Denken eingefahrene dogmatische Lösungen und holt sie „aus dem dogmatischen System i n eine vordogmatische Einsichtigkeit (zurück)" 23 , u m sie nach einer Anpassung an pragmatisch und teleologisch abgeleitete Systemnotwendigkeiten i n ein verbessertes System wieder einzufügen. Daß der Systemwandel pragmatisch und teleologisch, nicht aber logisch abgeleitet wird, weist darauf hin, daß das Systemdenken i n der Jurisprudenz nicht mehr auf das logischdogmatische „System" beschränkt ist 2 4 , sondern — insbesondere nach den Vorarbeiten von Canaris (dazu unten I I . 3.1.) — ein Denken i n normativen Systemen als teleologisch auf soziale Systeme bezogene symbolische Systeme m i t bestimmten Funktionen, bestimmten Strukturen, Umweltbeziehungen und Entwicklungsprozessen möglich erscheint. Dazu ist es notwendig, den Systembegriff nicht mehr als interne Ordnimg von Teilen zu einem Ganzen zu definieren, sondern den Sinn der Systembildung i n der Auseinandersetzung des Systems m i t seiner Umwelt zu sehen. Dann w i r d verständlich, daß die wechselnden Anforderungen der Umwelt überhaupt erst vorzeichnen, welche interne Ordnung (Systemstruktur) dazu taugen kann, das System gegenüber einer sich wandelnden Umwelt zu erhalten. I n Anlehnimg an die A l l gemeine Systemtheorie lassen sich auch normative, symbolische Systeme dann als umweltoffene, umweltempfindliche, Informationen verarbeitende und dadurch anpassungsfähige Leistungseinheiten bezeichnen 25 . Durch diese Neuorientierimg könnte auch wieder deutlicher werden, daß Kodifikationen nicht selbstgenügsam i m Räume schweben, sondern i n Entstehimg, Anwendung und Weiterentwicklung i n vielfältiger Weise abhängig sind von den Systembedingungen und -notwendigkeiten des geregelten sozialen Systems. Die Verengung des juristischen Reflexionspotentials auf den isolierten Interpretationsvorgang, die „Dogmatik" i m Sinne der Auslegung des positiven Rechts, verdeckt diese Abhängigkeiten und verhindert zugleich, daß die Jurisprudenz Fragen der Steuerungskapazität normativer Systeme gebührend berücksichtigt. Dadurch w i r d nicht nur auf die Dauer die gesellschaftliche Leistung des Rechts (und damit der Rechtswissenschaft) entwertet 2 6 , sondern auch die Chance verspielt, i m Rahmen einer allgemeinen Systemtheorie den Zusammenhang sozialer und normativer Systeme zu untersuchen. Wenn man dagegen von dem engen Begriff des dogmatischen „Systems" abrückt und eine Menge zu28

Esser, Vorverständnis, S. 155. Wobei auch hier Weiterentwicklungen des Systembegriffes u n d B e m ü hungen u m Anschluß an die Methodologie anderer Disziplinen zu beobachten sind. Vgl. Alchourrón / Bulygin, Normative Systems, bes. S. 53. 25 Vgl. Luhmann, Zweck — Herrschaft — System, S. 101. 26 Wie Schelsky, Nutzen u n d Gefahren, S. 413 hervorhebt. 24

18

I. Einleitung

sammenhängender Rechtssätze i m Verhältnis zu ihrer Umwelt — wobei diese Umwelt symbolische, soziale oder psychische Systeme sowie K o m binationen davon sein können — als dynamisches und teleologisches normatives System sieht, dann könnte sich ergeben, daß Ansätze, Modellbildungen und Ergebnisse der Allgemeinen Systemtheorie auch für eine Theorie normativer Systeme von analytischem und heuristischen Wert sind und das theoretische Verständnis des Rechts als Bestandteil sozialer Systeme verbessert 27 . Festzuhalten ist, daß der Systembegriff der soziologischen Systemtheorie m i t dem Begriff des dogmatischen „Systems" der Rechtswissenschaft nichts zu t u n hat, daß aber der Systembegriff der Allgemeinen Systemtheorie auch normative symbolische Systeme umfassen kann, wenn eine Menge von Normen nicht logisch, sondern teleologisch problematisiert wird. Die Schwierigkeit einer Verbindung von Rechtstheorie und Systemtheorie könnte darin gesehen werden, daß die funktional-strukturelle Systemtheorie i n erster Linie soziale Systeme zum Gegenstand hat, während die Rechtstheorie primär symbolische Systeme betrifft. Bei genauerem Hinsehen aber w i r d deutlich, daß symbolische Systeme i n vielfältiger Weise auf den Interaktionszusammenhang sozialer Systeme einwirken und für soziale Systeme spezifische Funktionen — wie Handlungsorientierung 2 8 und Entscheidungsprodukt i o n 2 9 — erfüllen. Andererseits sind Systeme von Rechtssätzen als symbolische Systeme insbesondere unter den Aspekten ihrer Entstehung, Anwendung und Transformation durchgehend i n soziale Interaktionszusammenhänge eingebettet; ja, sie erschließen sich einem praktischen Verständnis erst als „angewendete" symbolische Systeme 30 . Darüber hinaus laufen die neuere Rechtstheorie und die soziologische Systemtheorie i n dem Versuch zusammen, Strukturbildung als den Prozeß der Problemlösung i n Systemen zu begreifen 31 . Eine als Struk27 Daß hier dogmatisches u n d soziologisches Problem- u n d Systemdenken nicht über die Maße parallelisiert werden, soll dieses Z i t a t verdeutlichen: „ B e sonders Esser steuert die Dogmatik juristischer Probleme i n eine überraschende Parallellage z u m soziologischen Problemfunktionalismus." Luhmann, Grundrechte, S. 203 Ν 5. 28 Vgl. Parsons / Shils, Values, S. 179 ff.; Parsons, Social System, S. 12. 29 Weshalb Luhmann, Systemtheoretische Beiträge, S. 255 der Rechtstheorie eine M i t t l e r r o l l e zwischen systemtheoretischen u n d entscheidungstheoretischen Ansätzen zuweist. 30 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 210, der aber zu apodiktisch formuliert, die Rechtssoziologie könne „ n u r " als Theorie der Praxis, nicht aber als Theorie von Modellen Erkenntnisse erbringen. Dies verkennt die heuristische F u n k t i o n von Modellen als Experimentierfelder, wobei allerdings der Praxisbezug als Kontrollinstanz weiter w i r k t . Vgl. Hopt, Simulation u n d Planspiel, S. I f f . ; Callies, Strukturwissenschaft, S. 280 ff.; Wüstneck, Modell, S. 731 f.; zur praktischen Bedeutung der Analyse normativer Systeme vgl. Raz, The I d e n t i t y of Legal Systems, bes. S. 789 ff.

2. Zur Methode und Sprache

19

turtheorie betriebene Rechtstheorie 32 ließe sich möglicherweise i n Richtung auf das Desiderat einer normativen Systemtheorie entwickeln. Jetzt schon läßt sich jedenfalls absehen, daß i n steigendem Maße die Rechtspraxis neuartigen Anforderungen einer Gesellschaft ausgesetzt ist, welche ihre Steuerungsprobleme nicht mehr nur über positive Rechtssätze löst, sondern über ein System krypto-normativer Zieldefinitionen, Interventionen, Pläne und Projekte 3 3 . Solange die dann u m Hilfe gerufene Rechtstheorie 34 wenig mehr als positivistische Dogmatik und rechtsphilosophische Ermunterung anzubieten hat, könnte der hier vorgelegte, auf eine normative Systemtheorie zielende methodologische Versuch neue Ansatzpunkte ergeben. Leider drückt sich dieser Versuch auch i n einer — gemessen an der traditionellen Rechtswissenschaft — etwas ungewohnten Sprache aus. Auch wenn man sich nicht damit zufrieden gibt, daß wissenschaftliche Innovation n u n eben auf einen esoterischen Code angewiesen sei 35 , bleibt das Problem, die Sprache der K r i t i k so zu halten, daß sie einerseits noch verständlich ist, andererseits aber nicht m i t den alten Begriffen auch die alten Vorstellungen übernimmt. Die Sprache der Systemtheorie ist wie i h r Gegenstand sehr abstrakt, sehr differenziert und deshalb sehr der Gefahr der Reifikation ausgesetzt. Wer sich ihrer bedient, mutet nicht nur dem Leser etwas zu, sondern auch seiner eigenen kritischen Absicht, die oft i m Sog eingängiger und selbst-evidenter Formulierungen unterzugehen droht. Aber gemäß der systemtheoretischen Einsicht, daß Strukturen übernehmen, was Prozesse nicht schaffen, w i r d i m folgenden versucht, die Ungewohntheit der Sprache und die Schwierigkeit des Verständnisses der zugrunde gelegten Methoden und Modelle durch die relativ überschaubare Struktur der Arbeit selbst abzumildern. 31 Vgl. Luhmann, Funktionale Methode, S. 42; Callies, Rechtstheorie als Systemtheorie, S. 154 ff. 82 Dazu Callies, Strukturwissenschaft, durchgehend u n d f ü r die Dogmatik Esser, Dogmatisches Denken, S. 115; eine interessante Vergleichsmöglichkeit ergibt sich zu dem i n der D D R vorzeitig abgeblockten Versuch Kienners, Rechtstheorie als Regelungstheorie politischer Systeme aufzufassen, vgl. Klenner, Grundfragen der Rechtstheorie, bes. S. 1618 einerseits u n d Leichtfuß, Bericht, S. 107 ff. andererseits. 88 Vgl. Böhler, S. 75, der deshalb von Justiz u n d Jurisprudenz „ e i n q u a l i t a t i v neues Maß an Eigenreflexivität" verlangt, „das freilich eine gewisse Revolution i n Selbstverständnis, Methoden, Fragestellungen u n d i m Prozeß voraussetzen dürfte". Ä h n l i c h Callies, Rechtstheorie als Systemtheorie, S. 151 u n d S. 161. 84 Ζ. B. v o n Drath, Diskussionsbeitrag, i n : Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20, S. 106 ff.; vgl. auch Luhmanns „Fragen an die Rechtstheorie", ders., Rechtssoziologie, S. 354 ff. 85 Vgl. aber Deutsch, zit. bei Naschold, Demokratie u n d K o m p l e x i t ä t , S. 517.

20

I. Einleitung 3. Gegenstand und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Untersuchung analysiert drei Grundrechtstheorien: die von Dürig, Häberle und Luhmann. I m darstellenden Teil geht es um die spezifisch grundrechtstheoretischen Aussagen als die vom Einzelfall abgehobenen Strukturprinzipien und Funktionszusammenhänge, die möglicherweise einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Interpretation und ein Erklärungsprinzip für die Evolution der Grundrechte ergeben. Nicht geht es u m die Herausarbeitung einer impliziten „Theorie" i n der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts oder u m die theoretische Einordnung zentraler Argumentationsfiguren dieses Gerichts. Hier kann bezüglich des grundlegenden Begriffs der „Wertordnung des Grundgesetzes" auf die geradezu komplementäre Arbeit von H. Goerlich 36 verwiesen werden, der die Verwendung dieses Begriffs und seiner Synonyma „ i n den Entscheidungsgründen der Judikate des Bundesverfassungsgerichts auf ihre juristisch-methodische und exemplarisch auf begriffsgeschichtliche L e g i t i m i t ä t " 3 7 untersucht, dagegen die Auseinandersetzung m i t der (theoretischen) Literatur und den Theoriemodellen der Grundrechtstheorie weitgehend ausklammert 3 8 . Geht es bei der Darstellung der drei Grundrechtstheorien u m deren Strukturprinzipien und Funktionszusammenhänge, so liegt das Schwergewicht bei der sich jeweils anschließenden kritischen Analyse darauf, die traditionelle Grundrechtstheorie m i t neueren erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorienbildungen zu verbinden, indem zentrale Begriffe der jeweiligen Grundrechtstheorie sozial wissenschaftlich hinterfragt werden. Die Theorien von Dürig, Häberle und Luhmann werden i n dieser Reihenfolge behandelt, w e i l sie zeitlich und sachlich aufeinander aufbauen. Dürig schrieb seine Grundrechtstheorie (ab 1952) sozusagen ins Weiße. Denn nach dem Neuanfang m i t dem Grundgesetz stand wohl auch das Bedürfnis nach einem theoretischen Neubeginn — der natür86

Goerlich, Wertordnung (1973). Goerlich, S. 15. 88 Goerlichs eingehende Untersuchung der Rechtsprechung des B V e r f G läuft auf das Ergebnis hinaus, daß der Begriff der Wertordnung „als Surrogat substantieller Wahrnehmung richterlicher Begründungspflicht dann jedes Ergebnis zu rechtfertigen (vermag)" (S. 133) u n d daß deshalb die Rechtsprechung auf diesen Begriff v ö l l i g verzichten sollte (vgl. S. 187). Leider geht Goerlich i n seiner Analyse der neueren Methodendiskussion (§ 5) über die — berechtigten — Vorbehalte gegen eine geisteswissenschaftlich verstandene Wertordnung nicht hinaus, obwohl gerade die auch v o n i h m (S. 179) angesprochene Umstellung der Wertdiskussion auf eine sozialwissenschaftlich fundierte Folgendiskussion neue Möglichkeiten der Konkretisier i m g u n d Systematisierimg eröffnet. Hieran zeigt sich, daß eine begriffsgeschichtliche Hinterfragung allein nicht i n die Lage versetzt, neue Ansätze zu entwickeln. 87

3. Gegenstand und Aufbau der Arbeit

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lieh zum großen Teil aus neuen Anknüpfungen bestand 89 — i m Vordergrund. Häberle versuchte m i t seiner Theorie (1962) bestimmte Einseitigkeiten des Grundrechtsverständnisses abzugleichen und Luhmann schließlich (1965) leistete i n seiner bisher zu wenig beachteten Arbeit über die Funktion der Grundrechte eine wichtige Neuorientierung sowohl i n methodischer als auch i n theoretischer Hinsicht. A n diesen drei Grundrechtstheorien, die ich als paradigmatisch für „die" Grundrechtstheorie i n der Bundesrepublik erachte, läßt sich zeigen, daß die jeweiligen Grundrechtstheorien Antworten auf spezifische historische und wissenschaftstheoretische Ausgangslagen sind. So baute Dürig seine individualistische Grundrechtstheorie nach der Katastrophe — auch der juristischen! — sozusagen aus dem Nichts auf und machte sie am Gegenbegriff zur totalitären »Gemeinschaft 4 fest: am I n d i v i duum. M i t der institutionellen Verfestigung der Bundesrepublik traten die überkommenen Institutionen wieder ans Licht und forderten eine theoretische Verortung. Häberle zielte m i t seiner Theorie auf ein Gleichgewicht zwischen personaler und institutioneller Sicht der Grundrechte. Inzwischen aber hatte der enorme Fortschritt der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung zu Grundeinsichten i n Funktionen und Strukturen gesellschaftlicher Systeme und Subsysteme geführt, die eine (Total-?)Revision der methodischen und theoretischen Behandlung des juristischen Regelungssystems von Gesellschaften möglich machte. Kybernetik, Kommunikationstheorie, Entscheidungstheorie und die Systemtheorie Parsons'scher Provenienz häuften Wissen, Erklärungen, Modelle, Verfahren und Vermutungen an, die auf eine rechtstheoretische Aufarbeitung drängten. Hier setzte Luhmann ein und besorgte diese Aufgabe so gründlich, daß i h m die traditionelle (Grund-)Rechtstheorie nicht mehr folgen konnte. Jedenfalls sucht man vergebens nach einer Darstellung, die die Rezeptionsarbeit Luhmanns ihrerseits für die herkömmliche Grundrechtstheorie rezipiert 4 0 . Vielleicht gründet dieser Mangel i n der Fehlvorstellung, Luhmanns Arbeit liege völlig außerhalb der traditionellen Grundrechtstheorie. Ihre Verbindung zur spezifisch juristischen Theorienbildung kann aber gerade am Verhältnis der drei hier behandelten Grundrechtstheorien aufgezeigt werden: Die soziologische Systemtheorie unterscheidet prinzipiell zwischen mindestens drei Ebenen eines Gesellschaftssystems: der Ebene der st>

Vgl. Goerlich, S. 22 f., 148 ff. Eine allgemeine Rezeption systemtheoretischen Denkens i n die Rechtstheorie aber bei Callies, Rechtstheorie als Systemtheorie, S. 146 ff.; zu pauschal u n d ohne den Versuch einer V e r m i t t l u n g dagegen Kurtz, Vorarbeiten zu einer normativen Systemtheorie, durchgehend. 40

I. Einleitung

22

Individuen, der Ebene der Rollen und Institutionen und der gesamtgesellschaftlichen Ebene der Werte 4 1 . Die drei zu behandelnden Grundrechtstheorien lassen sich diesen Ebenen nach folgendem Schema zuordnen:

Dürig

>

>

personale Ebene

Häberle—

> >

Rollen und Institutionen

Luhmann —

>

Gesamtsystem

Diese schematische (!) Zuordnung soll verdeutlichen, daß jeder der drei Autoren seinen Schwerpunkt auf einen Teilaspekt eines Zusammenhanges legt und hierin seine Berechtigung, aber auch seine Begrenzung findet. Dabei w i r d nicht verkannt, daß kein Autor ausschließlich die i h m zugeordneten Aspekte behandelt. Aber die Betonungen liegen verschieden, und ebensowenig, wie Dürig und Häberle die aus den Funktionsbedingungen des Gesamtsystems folgenden funktionalen und strukturellen Restriktionen und Chancen der Grundrechtsverwirklichung analysieren, geht Luhmann auf die Frage der individuellen Durchsetzung der Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte ein. Allerdings taucht bei L u h m a n n 4 2 bereits der integrierende Topos der „Multifunktionalität" der Grundrechte auf, wenn er auch nicht systematisch i n dem Sinne fruchtbar gemacht wird, daß die Grundrechte als durchgängige Konstitutionsprinzipien auf allen Ebenen der Gesellschaft zur W i r k u n g kommen müssen. I n den drei Hauptkapiteln der Arbeit w i r d besonderer Wert auf die sozialwissenschaftliche Hinterfragung und Erläuterung zentraler Begriffe der jeweiligen Grundrechtstheorien gelegt: so i n Kapitel I I die von Dürig verwendeten Begriffe „Wert" und „System", i n Kapitel I I I der von Häberle benutzte Begriff der „Institution" und i n Kapitel I V die auf Luhmanns Theorie bezogenen Begriffe der „Systemsteuerung" und der „Legitimation". 41 Vgl. Parsons, General Theory, S. 54 f. u n d ders., Die jüngsten E n t w i c k lungen, S. 36 f.; Luhmann, Grundrechte, S. 195 ff. u n d ders., Rechtsoziologie, S. 85 ff.; allerdings bezeichnen die unterschiedlichen Systemreferenzen bei Parsons Handlungssysteme, bei L u h m a n n Erwartungssysteme. Dieser U n t e r schied ist nicht fundamental u n d k a n n hier vernachlässigt werden. 42 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 129 Ν 53 u n d S. 134.

3. Gegenstand und Aufbau der Arbeit

23

Das abschließende Kapitel behandelt resümierend die Voraussetzungen einer Multifunktionalität der Grundrechte i m Sinne einer alle Ebenen der Gesellschaft erfassenden „strukturellen Grundrechtswirkung". Hier w i r d eine Verbindung zwischen dem neueren Verständnis der Grundrechte als Teilhaberechte und den neueren Tendenzen zur Demokratisierung der Gesellschaft gezogen. Aus den gewonnenen Einsichten ergibt sich als Konsequenz die Forderung nach einer Neugewichtung des Verhältnisses der verfassungsrechtlichen Grundwerte Freiheit und Gleichheit als gleichrangige Strukturelemente des Wertesystems der Grundrechte. Den Schlußpunkt bildet der Versuch, den Begriff der „Sozialität" als Ersatzformel der Brüderlichkeit i n den emanzipatorischen Regelkreis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzuführen. I m Folgenden w i r d zunächst die Dürigsche Konzeption des Grundrechtssystems vorgestellt. Hierbei ist durchgängig zu beachten, daß Dürigs Systembegriff ein dogmatischer ist und als solcher nichts m i t dem Systembegriff der Systemtheorie zu t u n hat. I m weiteren ist allerdings zu untersuchen, inwieweit die Behandlung der Grundrechte als „Wertsystem" einen Ansatzpunkt dafür bietet, die Grundrechte als dynamisches und zielgerichtetes „Normatives System" zu begreifen und unter systemtheoretischen Gesichtspunkten zu problematisieren.

I I . Die Grundrechte als Wertsystem 1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig Dürigs Grundrechtssystem ist vom Prozeß her gedacht 1 . Bevor er sich i n die Höhen abstrakter Grundsätze verliert, stellt er die Frage: was nützt dies dem Menschen, der sein Hecht durchsetzen will? Der hinter dieser Frage stehenden praktischen Absicht folgt das theoretische Konzept. Die Systematisierung und Vertiefung der Grundrechte durch eine — bei D ü r i g eher implizite — Grundrechtstheorie bezweckt i n erster Làide die Optimierung der Wirksamkeit der Grundrechte 2 , wobei Wirksamkeit die faktische Durchsetzbarkeit i m Prozeß umfaßt, aber auch eine i n Praxis umsetzbare Reaktion auf neue Gefährdungslagen 8 . U m zu einem solchermaßen »praktikablen' 4 Grundrechtssystem zu kommen, differenziert Dürig zwischen dem „Wertsystem" der Grundrechte und dem „Anspruchsystem" der Grundrechte. Das Wertsystem gewinnt er aus dem umfassenden A r t . 1 I, den er als „oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts" 5 betrachtet und aus A r t . 19 II, 79 ΙΠ, als Absicherung und Auslegungsgrenze der Grundrechte m i t durchaus materiellem Gehalt 6 . Ganz i m Gegensatz zu Häberle, der A r t . 19 I I nur deklaratorischen Charakter zuerkennt 7 , bezeichnet für Dürig A r t . 19 I I den Gegenpol, der zusammen m i t A r t . 1 I das Spannungsfeld bildet, i n dem die Grundrechte und deren Schranken konkrete Gestalt annehmen können. Dieses Spannungsfeld steckt gleichzeitig den Variationsbereich ab, der durch Auslegung und Schrankengesetzgebung ausgefüllt werden kann. Daraus folgt einerseits, daß 1 Übrigens nicht n u r v o m Gerichtsprozeß, sondern auch v o m Prozeß des Lehrens u n d des Lernens her. Beide Prozesse berühren sich eng. Die f a k tische Geltung des Rechts beruht auf Überzeugung, Einsicht u n d Darstellbarkeit. Andererseits ist eine einsichtige u n d darstellbare Systematik w e sentliche L e h r - u n d Lernhilfe. Was i m Hörsaal überzeugt, hat auch Chancen, i m Gerichtssaal zu überzeugen. Vgl. die bezeichnenden Ausführungen bei Dürig, Menschenwürde, S. 134 Ν 34 u n d ders., Z u r Bedeutimg, S. 46. 2 Dürig, GG, A r t . 1 R 15 u n d A r t . 2 I R 5. 8 Vgl. Dürig, GG, A r t . 2 I R 8 bei aa) u n d R 33, R 42 a. E. 4 Vgl. den U n t e r t i t e l des Aufsatzes: ,Menschenw ü r d e ' : „ E n t w u r f eines p r a k t i k a b l e n Wertsystems der Grundrechte". 5 Dürig, GG, A r t . 1 R 4 a. E. 6 Vgl. Dürig, Menschenwürde, S. 136. 7 Vgl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 234 ff.

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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außerhalb dieses Variationsbereiches unrettbare Grundrechtswidrigkeit vorliegt 8 , andererseits aber, daß die Grundrechte untereinander i n ein System gebracht werden müssen, i n dem kein einzelnes Grundrecht über den Grenzpunkt des A r t . 19 I I hinausgedrängt w i r d : Grundrechtskonkurrenzen oder Grundrechtsantagonismen dürfen nicht so gelöst werden, daß ein Grundrecht unter den Sollwert des A r t . 19 I I absinkt®. Insbesondere dieser letztere Aspekt w i r d verdunkelt, wenn man — wie z. B. Häberle — den Wesensgehalt eines Grundrechts nur i m Rahmen der eigenen immanenten Schranken zu bestimmen sucht und Art. 19 I I nur deklaratorischen Charakter zuschreibt 10 ; hier läuft Systematik und Interpretation Gefahr, aus Mangel an Fixpunkten i n Beliebigkeit umzuschlagen, da der Auslegungsprozeß zirkulär w i r d 1 1 . Zwischen den Fixpunkten des A r t . 1 I und der A r t . 19 I I , 79 I I I entwickelt Dürig das Wertesystem, das dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes zugrundeliegt. Das vom Wertsystem zumindest analytisch trennbare Anspruchssystem ergibt sich aus einer rechtstechnischen Auflösung der Werte i n Ansprüche 12 . Die Frage, warum beide Systeme sich nicht völlig decken, läßt Dürig i n einer bestechenden Formulierung eher i m Dunkeln: „Dieser Bedeutungswandel (hier: des dem A r t . 1 I Grundgesetz entsprechenden A r t . 100 der bayrischen Verfassung vom subjektiven Recht zum objektivierten Recht, das auch abstrahiert vom konkreten Rechtsträger zu berücksichtigen ist. H.W.) brachte zwar den Verlust einer für sich selbst bestehenden Klagestütze und Anspruchsgrundlage m i t sich. Gewonnen aber wurde eine Basis für ein ganzes Wertsystem, das sich weitgehend zugleich als ein rechtslogisches Anspruchsystem erweist, i n dem sich der Hauptwert zu den Teilwerten wie der rechtliche Obersatz zu den Teilrechtssätzen verhält 1 3 ." Der praktische Unterschied beider Systeme besteht darin, daß A r t . 1 I als nur objektives Recht betrachtet w i r d und deshalb die Grundlage des Wertsystems, nicht aber einen Anspruch abgeben kann. Rechtsschutzkonsequenzen hat dies indessen nicht, da nach Dürig das A n spruchssystem dennoch lückenlos bleibt, w e i l jeder staatliche Angriff auf die Menschenwürde spätestens von den Hauptgrundrechten der A r t . 2 I und 3 I abgefangen würde 1 4 . Bevor dem weiter nachgegangen 8 Vgl. Dürig, Menschenwürde, S. 135; ebenso Bachof, JZ 57, 337 gegen B V e r w G E 2, 89 u n d Jäckel, Grundrechtsgeltung, S. 25 ff. 9 Vgl. Schneider, Prinzipien, L S I I I 7 c, S. 57. 10 Vgl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 234 ff. 11 Vgl. Dürig, GG, A r t . 2 I R 70 u n d Schneider, Prinzipien, S. 33 f. 12 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 R 6. 18 Dürig, GG, A r t . 1 R 5. 14 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 R 13.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

wird, soll kurz der theoretische Unterschied beider Systeme beleuchtet werden. A u f den ersten Blick entspricht die Unterscheidung von Wertsystem und Anspruchssystem der traditionellen Unterscheidung von objektivem und subjektivem Recht 15 . Schon begrifflich aber erbringt die erste Unterscheidimg eine überfällige Klärung: auch das die „objektive" Ordnung des Gemeinwesens bestimmende objektive Redit ist gerade nicht objektiv i m Sinne von unvoreingenommen oder interessenneutral und es ist schon gar nicht ein aus sich selbst legitimiertes Recht, das als „ o b j e k t i v " der Hinterfragung nicht bedürftig wäre. Vielmehr beruht es auf Wertentscheidungen, die offen liegen müssen, u m legitimierbar und revisibel zu sein. Schon aus diesem Grunde ist die Ersetzung der „objektiven" Ordnung durch den Begriff der Werteordnung vorzuziehen. Über das Begriffliche hinaus aber ist das „objektive" Recht belastet m i t der Konnotation des nicht Durchsetzbaren, für den Bürger nicht faßbaren, sondern nur hinzunehmenden Rechtes, durch welches er i n eine vorgegebene Ordnung „eingefügt" w i r d 1 6 . Zwar besteht zwischen objektiver und subjektiver Seite der Grundrechte „ein Verhältnis der Wechselbezogenheit" 17 , i n dem Sinne, daß die objektive Seite „erst Wirklichkeit gewinnen kann, wenn sie durch Aktualisierung der Grundrechte als subjektiver Rechte m i t Leben erfüllt w i r d " 1 8 ; dennoch bleibt eine die Effektivität der Grundrechte hemmende K l u f t zwischen Garantien, die zu Elementen der objektiven Ordnung erklärt werden und Garantien, denen als subjektive Rechte „prozessuale Zähne" eingesetzt sind. So sieht Hesse ζ. B. i n A r t . 7 I überhaupt kein Individualrecht gewährleistet 19 , ohne sich daran zu stoßen, daß damit dem betroffenen Bürger i m immer entscheidender werdenden Schulbereich 20 der unmittelbare Grundrechtsschutz entzogen wäre. Die analytische Trennung von Wertsystem und Anspruchsystem dagegen hat gerade den Zweck der Wertverwirklichung über einen lückenlosen Grundrechtsschutz durch ein Anspruchssystem, welches i m Sinne einer zielorientierten Rückkopplung die vollständige Auflösung des Wertesystems i n Ansprüche anstrebt. I n der herkömmlichen Terminologie 15 Dies verkennt Hesse, Grundzüge, S. 124 i n seiner Polemik gegen den Begriff des Wertsystems: er unterschlägt den Komplementärbegriff des Anspruchssystems, sowie die Wechselwirkung zwischen beiden Systemen. 16 Vgl. Hesse, S. 121. 17 Hesse, S. 122. 18 Ebd. 19 Vgl. Hesse, S. 116 f. 20 Vgl. Heymann / Stein, Das Recht auf Bildung, S. 185 ff.

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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formuliert geht es also darum, objektives Hecht schrittweise i n subjektives Recht zu transformieren, m i t dem Ziel der Aufhebung des objektiven Rechts i m deckungsgleichen subjektiven Recht. Daß diese Verschiebung insbesondere bei den Teilhaberechten — die i m Zuge der Verrechtlichung des Sozialstaatsprinzips und einer Effektuierung des Gleichheitssatzes durch den Leistimgsstaat an Gewicht gewinnen — zu weitreichenden Konsequenzen führen muß, liegt auf der Hand. Wenn etwa i m Gewerberecht oder i m Baurecht die Entwicklung 2 1 dahin geht, „objektives" Recht über die Formel „zumindest auch i m subjektiven Interesse" auf dessen subjektivrechtlichen Gehalt h i n abzufragen, dann sollte dies für das Verfassungsrecht erst recht gelten. Die zentrale Numerus-clausus-Entscheidung des BVerfG vom 18. 7. 72 22 formuliert diese Forderung an strategischer Stelle, ohne indessen explizit zu entscheiden: „Dabei kann dahingestellt bleiben, ob ,Teilhaber echte4 i n gewissem Umfang bereits daraus hergeleitet werden könnten, daß der soziale Rechtsstaat eine Garantenstellung für die Umsetzung des grundrechtlichen Wertsystems i n die Verfassungswirklichkeit e i n n i m m t . . ." 2 8 . Implizit scheint das Gericht einer solchen Umsetzungspflicht des sozialen Rechtsstaat zuzuneigen 24 — und dies ist die Geburtsstunde eines subjektiven Rechts 26 , welches aus dem grundrechtlichen Wertsystem gewonnen wurde. Für diesen Fall gilt dann, daß „der objektive Verfassungsauftrag und das subjektive Teilhaberecht materiell-rechtlich dieselben Grenzen (haben)" 26 , während i n anderen Bereichen diese Deckungsgleichheit erst herzustellen ist. Ausdrücklich festzuhalten ist, daß hierbei das grundrechtliche Wertsystem die regulative Idee ist, aus welcher der Impetus zu weitestgehender Konkordanz von Wertsystem und Anspruchsystem entspringt. Häberle scheint diesen theoretischen Zusammenhang zu verkennen, wenn er dem BVerfG anrät: „Die oft kritisierte Argumentation m i t der ,Wertordnung' führt das BVerfG also nicht i n abstrakte Höhen, sondern i n die soziale Wirklichkeit; diese Vokabel steht, wie schon i m L ü t h - U r t e i l (E 7, 198) i m Dienst opti21

Ausführlich hierzu Bachof, Reflexwirkungen, S. 287 ff. BVerfGE 33, 303; vgl. dazu die eingehenden Besprechungen von Häberle, Das B V e r f G i m Leistungsstaat. D Ö V 72, 729 ff. u n d Kimminich, J Z 72, 696 sowie v. Mutius, V e r w A 64, 1973, S. 183 ff. 23 B V e r f G E 33, 303 (331). 24 So auch Häberle, S. 730 bei c u n d Schimanke, B V e r f G u n d numerus clausus. JR 1973, 45 ff.; allgemein hierzu Kloepfer, Entstehenssicherung, S. 2 - 1 4 ; vgl. auch § 89 der Einleitung des preußischen Allgemeinen L a n d rechts: „ W e m die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die M i t t e l , ohne welches dasselbe nicht ausgeübt werden k a n n " : ein revolutionärer Satz! 25 Allerdings m i t besonderen Schranken, insbesondere dem Vorbehalt des Möglichen; vgl. Häberle, S. 732 ff. 28 Häberle, S. 734 Ii. 22

28

II. Die Grundrechte als Wertsystem

maier Grundrechtseffektivität (sie!). Die Frage ist nur, ob sich das BVerfG dieses Terminus jetzt nicht entledigen sollte; er ist mißverständlich und ein Umweg über den ,Höhenweg 4 des ,Wertsystems' 27 !" Diesem Rat sollte das BVerfG nicht folgen. Denn erst der Umweg über das Wertsystem schafft die hermeneutischen Voraussetzungen, um neue Wege i n der Verwirklichung von Grundrechten zu finden, u m für neue tatsächliche Gefährdungslagen oder Anforderungen entsprechende subjektive Rechte zu entwickeln. Das Auseinanderhalten von Wertsystem und Anspruchssystem erlaubt eine unter Wertgesichtspunkten kontrollierbare Variation des Anspruchssystems, m i t h i n A n passung des Rechtsschutzes an den sozialen Wandel. Unter dem Aspekt der optimalen Grundrechtseffektivität — und zwar bezogen auf die soziale Wirklichkeit — ist entgegen Häberle an Begriff und Konzept des Wertsystems festzuhalten, gerade u m einen „Höhenweg" als Orientierungsmarke vor Augen zu haben 2 8 . Zur Begründung sei h i e r 2 9 nur ganz summarisch darauf hingewiesen, daß die bei Dürig vorgenommene Trennung von Wertsystem und Anspruchsystem auch neuerer soziologischer Theorienbildung standhält. So rechnete schon M. Weber den gleitenden Übergang zwischen subjektiven Rechten und „Reflexen" oder „Reglements", die keine subjektiven Rechte beinhalten, zum „Normalfall der durch das o b j e k tive Recht* m i t ,subjektiven Rechten* ausgestatteten Individuen" 8 0 . Parsons versteht Normen als Regeln, die durch ein Integrationszentrum gesetzt worden sind, während Werte ein normatives Kulturmuster zusammenfügen, welches die Stabilität des Systems leistet 8 1 . Die Normen des positivierten Rechts haben ihre Besonderheit — und ihren evolutionären Erfolg — darin, daß sie Rechtsnormänderung auf legalem Weg ermöglichen, also Strukturvariationen eines Systems zur Anpassung an veränderte Bedingungen (oder auch zur gezielten Erreichung von Veränderungen) erlauben. Dies ist aber nur möglich, ohne den Systembestand oder die Zielerreichung zu gefährden, wenn die Strukturvariation nicht beliebig, sondern berechenbar und prognostizierbar ist 8 2 . Und genau hier liegt die besondere Funktion der 27

Häberle, S. 731 (Hervorhebung von mir). Es ist zu erwarten, daß sich das N. C.-Urteil zum ,leading case' einer Teilhabe-Rechtsprechung entwickelt u n d zudem dazu führen w i r d , daß die Problematik der sozialen Grundrechte sich erneut u n d verschärft als V e r fassungsproblem stellt. Kimminich, S. 696 spricht von einem „verfassungsrechtlichem Grundsatzurteil". Eingehender hierzu unten V. 1.2. 29 Ausführlicher hierzu unten 2.1. u n d 2.2. 30 Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 398. 31 Vgl. zusammenfassend zu Parsons: Schräder, S. 111 ff. 32 Vgl. Parsons, Das Problem des Strukturwandels, S. 40. 28

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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Werte als Stabilisatoren des Wandels. Sie stecken als Kulturmuster, als ,Ethos' 33 des Systems die Grenzen ab, innerhalb derer Strukturvariation möglich ist, ohne daß die Identität (der Charakter) des Systems insgesamt verändert wird. Dies bedeutet umgekehrt auch, daß „systemüberwindende Transformation" immer erst eine Umwertimg aller Werte voraussetzt 34 . Nach diesem theoretischen Exkurs zurück zum Dürigschen Konzept eines Werte- und Anspruchssystems. Dürig sieht den Spannbereich der dem Grundgesetz zugrundeliegenden Werte innerhalb der Grenznormen des A r t . 1 I und der A r t . 19 II, 79 I I I . Dies gilt aber nur für den Geltungsbereich, nicht für den Geltungsgrund. Alleinige Basis aller Werte des Grundgesetzes ist der ethische Idealwert der Menschenwürde des A r t . 1 I 3 5 . A l l e anderen Werte können hiervon abgeleitet werden. Ganz parallel dazu bildet bezüglich des Anspruchssystems A r t . 2 I als „Muttergrundrecht" die alleinige Basis des Anspruchssystems 3®. Auffallend ist der jeweils eindimensionale, hierarchische Aufbau beider Systeme, wobei als Ziel ausdrücklich die Lückenlosigkeit beider Systeme hervorgehoben w i r d 3 7 . Ein gewisser, kaum hervortretender, aber symptomatischer Bruch dieses eindimensionalen Aufbaues des Anspruchssystems 38 findet sich darin, daß neben dem „Hauptfreiheitsrecht" des A r t . 2 I auch ein „Hauptgleichheitsrecht" i n A r t . 3 I besteht 39 , wobei das Verhältnis beider Hauptgrundrechte zueinander ungeklärt und von der Postulierung des „Muttergrundrechts" des A r t . 2 I überschattet ist. A u f einem Mißverständnis aber scheint es zu beruhen, wenn Hesse meint, nach ihrer geschichtlichen Entstehung und Entwicklung seien die Grundrechte nur „punktuelle Gewährleistungen", die darauf beschränkt seien, einzelne besonders gefährdete Lebensbereiche zu sichern und daß deshalb (!) die Grundrechte nicht als „lückenlos" verstanden werden könnten 4 0 . Denn das eine schließt das andere nicht aus. Dürig macht den Zusammenhang deutlich, wenn er sagt: „Vielmehr 88 Vgl. Naschold, Die systemtheoretische Analyse, S. 28 ff., der aus diesem Ethos des Systems dessen Z i e l f u n k t i o n ableiten w i l l , wobei allerdings ungek l ä r t bleibt, wodurch das Ethos des Systems denn seinerseits bestimmt w i r d . 84 Vgl. Parsons , Das Problem des Strukturwandels, S. 43: „ W i r definieren einen Wandel i n der S t r u k t u r eines sozialen Systems als Wandel seiner normativen K u l t u r . Wenn w i r die oberste Ebene sozialer Systeme betrachten, handelt es sich u m einen Wandel des gesamtgesellschaftlichen Wertsystems." 85 Dürig, GG, A r t . 1 R 2 bei c). 86 Dürig, GG, A r t . 2 I R 2, 3, 72; vgl. auch Nipperdey, Freie Entfaltung, S. 758 ff. m. w . N. 87 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 R 13 u n d 87. 88 Vgl. zur K r i t i k aus neuerer Sicht Scheuner, F u n k t i o n der Grundrechte, S. 506 ff. 89 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 R 11, 12. 40 Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 124.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

schirmen die Teilfreiheitsrechte gegen einige bestimmte historische Gefährdungen der Freiheit ab, ohne hierfür einen Ausschließlichkeitsanspruch zu erheben. Eben deswegen behält aber A r t . 2 1 — u m beim Bilde des B G H zu bleiben — die Bedeutung eines durchaus ,mütterlichen' Auffangrechts zur Abwehr aller praktisch werdenden Gefährdungen der Freiheit 4 1 ." Die Besonderheit und Funktion der Konstruktion eines umfassenden Auffanggrundrechts i n A r t . 2 I liegt gerade darin, über punktuelle Gewährleistungen hinaus prophylaktisch und prospektiv möglichen neuen Gefährdungen vorzubauen 42 . Könnte man die Grundrechte des Grundgesetzes als System betrachten, so handelte es sich aufgrund dieser Fassimg des A r t . 2 I gerade nicht u m ein geschlossenes System, wie Hesse vermutet 4 3 , sondern um ein offenes System 44 , welches auf Umweltveränderungen zu reagieren i n der Lage ist und welches insbesondere auch „die enge Verflochtenheit von Grundrechten und objektiver Ordnung der Verfassung" 4 5 als Variable integrieren kann, m i t der Tendenz, eine materiell-rechtliche Deckungsgleichheit zwischen grundrechtlichem Schutzbereich und objektiver Ordnung zu erzielen. Das bedeutet praktisch z.B., daß — durchaus i n Übereinstimmimg m i t Hesse — ein „allgemeines Gewaltverhältnis" nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sein kann 4 6 ; daß die „besonderen Gewaltverhältnisse" durchforstet werden müssen auf Grundrechtsbeschränkungen, die sich nicht m i t einer Gefährdung der Funktionsfähigkeit dieser besonderen Gewaltverhältnisse begründen lassen 47 ; daß Parteien, Verbände und andere intermediäre Gruppen nicht den Grundrechtsschutz unterlaufen dürfen, sondern i m Gegenteil ihre innere Ordnung den Wertungsprinzipien des Grundgesetzes anzugleichen haben, soll nicht der Grundrechtsschutz zum bloßen Formalismus ausgehölt werden. Es ist für das Verständnis der Dürigschen Konzeption erschwerend, daß Dürig vom Hauptfreiheitsrecht des A r t . 2 I und vom Hauptgleichheitsrecht des A r t . 3 I ausgeht und ausführt, diese 41

Dürig, GG, A r t . 2 I E 8 bei cc). „ . . . es gehört zu den vordringlichen Anliegen gerade auch der Verfassungstheorie, vorausschauend die Rechtsformen herauszustellen, m i t deren H i l f e die Freiheit i n unserem Jahrhundert gesichert werden kann". : Leibholz, Diskussionsbeitrag, i n : Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20, S. 120. 43 Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 125. 44 Dies zeigt gerade anhand des A r t . 2 I GG z . B . Schmidt, Die Freiheit vor dem Gesetz, S. 75 ff. : offen ist dieses System, w e i l sich aus A r t . 2 I GG neue Freiheitsgrundrechte entwickeln können. 45 Hesse, S. 125. 46 Vgl. Hesse, S. 117 f. 47 Vgl. Hesse, S. 136 f.; Fuß, Personale Kontaktverhältnisse, S. 765 ff.; B V e r f G E 33,1 ff. 42

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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würden zum Schutze vor spezifischen Gefährdungen i n verschiedene (und verschiedenwertige!) Einzelfreiheits- und Einzelgleichheitsrechte „aufgelöst" 4 8 werden. Der umgekehrte Vorgang ergibt ein historisch und systematisch zutreffenderes Bild, ohne indessen inhaltlich etwas zu ändern 4 9 : die als Reaktionen auf historische Gefährdungen entstandenen Einzelgrundrechte werden integriert und auf eine umfassende Basis i n den jeweiligen Haupt- und Auffanggrundrechten bezogen. Die praktische Absicht war wohl, auf die Erfahrung der totalen Negierung von Grundrechten i m Dritten Reich hin, einen möglichst umfassenden Schutz zu schaffen. Für die Grundrechtstheorie erlaubt diese Sicht der A r t . 2 I und 3 I als generelle Auffanggrundrechte i n der Tat die Rede vom Systemcharakter der Grundrechte (wobei vorläufig unter System nichts anderes verstanden werden soll, als ein Zusammenhang zwischen allen Grundrechten, der durch eine bestimmte Struktur geordnet ist 5 0 ). Denn an die Stelle von disparaten, durch historische Gefährdungslagen jeweils entstandenen Grundrechten t r i t t durch die Postulierung eines verbindenden, umfassenden Elementes i m Konstitutionsprinzip des A r t . 11: 1. ein Zusammenhang aller Grundrechte untereinander, 2. eine Koordination der Grundrechte unter dem Aspekt der Präzisierung der Hauptgrundrechte und 3. die Möglichkeit der Gewichtung der verschiedenen und verschiedenwertigen Grundrechte zu einer strukturierten Ordnung, wobei die Strukturprinzipien zum einen aus der Auslegung der Hauptgrundrechte und zum anderen aus den „Schwerlinien" des Spannungsfeldes zwischen A r t . 1 1 und A r t . 19 II, 79 I I I herzuleiten sind. So betont Dürig, daß das System der Freiheitsrechte ebenso wie das System der Gleichheitsrechte rechtslogisch koordiniert ist „durch das 48

Dürig, GG, A r t . 1 I R 11, 12. Treffend dazu Schneider, S. 38 Ν 127: „Daß sich die Grundrechtsnormierung einmal an konkreten Interessen orientiert hat, k a n n m a n nicht ernsthaft gegen ihre Systematisierbarkeit ins Feld führen. Sonst könnte m a n Rechtsvorschriften überhaupt nicht systematisieren, w e i l sich die meisten Normen aus irgendwelchen konkreten K o n f l i k t e n entwickelt haben." Ä h n lich schon Hamel, Grundrechte, S. 20 f. 50 Weder Dürig, der den dogmatischen Systemgedanken am entschiedensten f o r m u l i e r t hat, noch das BVerfG, welches diesen Gedanken aufgenommen hat, noch Hesse, der i h n heftig kritisiert, erläutern näher, was sie unter System verstehen. Doch ist durchaus erkennbar, daß alle Beteiligten von einem naiven Systembegriff i m Sinne eines systematischen Zusammenhanges ausgehen — angelehnt an den allgemeinen Begriff der Systematik i n der juristischen Methodenlehre u n d Dogmatik. Es ist daher nicht ganz v e r ständlich, w a r u m L u h m a n n diesem naiven Systembegriff — ausgehend von seinem eigenen festgelegten Systembegriff — keinerlei Aussagekraft zuerkennen w i l l ; vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 74, Ν 57. 49

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

aus A r t . 1 I i n Verbindung m i t A r t . 19 I I und 79 I I I bezogene Wertsystem" 5 1 . Allerdings fehlt auch hier ein Hinweis auf das Verhältnis beider Hauptgrundrechte zueinander 52 . Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ist indessen eine i m Rahmen eines Grundrechtsystems zu bewältigende Frage. Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit ändert nichts daran, daß die Grundrechte insgesamt als symbolisches System betrachtet werden können. Diese Frage hat auch nichts m i t dem Problem zu tun, ob durch die Konzeption eines Grundrechtsystems nicht eine der Einheit der Verfassung widersprechende Trennung zwischen dem System der Grundrechte und dem System des organisatorischen Teils der Verfassimg impliziert ist 5 3 . Die Einwände, die gegen das Konzept eines Wertsystems der Grundrechte bestehen, lassen sich i n folgenden Punkten zusammenfassen 54 : 1. der Aspekt einer Wertordnung beschränke die Vielfalt der Beziehungen zwischen den Grundrechten und den übrigen Teilen der Verfassung auf einen speziellen Gesichtspunkt; 2. der Begriff der Wertordnung sei zu allgemein und trage die Tendenz zu subjektiven Wertungen i n sich, w e i l die Wertordnung ausdrücklich als Wertrangordnung 5 5 betrachtet w i r d und dadurch die Gefahr einer arbiträren Verschiebung des Verhältnisses verfassungsmäßig normierter Werte heraufbeschwört werde, 3. die Unterscheidung eines Grundrechtssystems und eines Systems des organisatorischen Teiles der Verfassung spiegele das abzulehnende traditionelle dualistische Verständnis der Verfassung wider, nach dem der Staat antithetisch der Gesellschaft gegenüber stehe und i n ein instrumentales Verhältnis zu ihr gerückt werde; und 4. die Konstruktion zweier Systeme mache eine Entscheidung über das Verhältnis dieser zueinander unumgänglich. Jede Entscheidung hierüber müsse aber notwendig dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Verfassung widersprechen. U m gegenüber solchen Einwänden entscheiden zu können, ob man m i t Dürig und dem BVerfG aufgrund der integrierenden Funktion der Hauptgrundrechte und der Einbettung der Grundrechte i n eine von den Polen A r t . 1 I und A r t . 19 II, 79 I I I strukturierten Wertordnung von einem Grundrechtssystem sprechen kann, sind die Fragen zu klären: 61

Dürig, GG, A r t . 1 I R 12. Vgl. aber Dürig, Grundrechtsverwirklichung, S. 86, w o die Problematik k u r z angerissen w i r d . 53 So Ehmke, Prinzipien, S. 85; Hesse, Grundzüge, S. 125 ff. 64 Vgl. z u m folgenden Hesse, S. 124 ff., 172 f. u n d auch Müller, Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, S. 133. 65 BVerfGE 7, 198 (215); Dürig, GG, A r t . 1 I R 11. 52

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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1. Was sind die Elemente u n d welche Struktur hat das Grundrechtssystem nach Dürigs Entwurf? Die Beantwortung dieser Frage führt zu der Überlegung, ob das Konzept eines Wertesystems, bei dem sowohl der Wertbegriff als auch der Systembegriff erfahrungswissenschaftlich fundiert und konkretisiert ist, nicht die ersten beiden oben angeführten Einwände hinfällig macht. 2. Wie verhält sich das grundrechtliche Wertsystem zur allgemeinen Wertordnung der Verfassung? Hier w i r d zu prüfen sein, ob durch die Gegenüberstellung zweier Systeme innerhalb der Verfassimg nicht ein Scheingegensatz aufgebaut wird, der vorschnell zur A b lehnung eines grundrechtlichen Wertesystems führt. Hieran w i r d sich später bei der Überprüfung des Systembegriffes die Überlegung anschließen, was eine Sicht der Grundrechte als „offenes System" für das Gesamtrechtssystem, also auch für das Verhältnis der Grundrechte zum organisatorischen Teil der Verfassung bedeutet. 1.1 Elemente und Struktur des Grundrechts-Systems

Niemand 6 6 bezweifelt, daß zwischen den Grundrechten gewisse systematische Verbindungen bestehen. „Systematisch" ist hier i m Sinne des Wortes von H. J. Wolff gemeint: „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht 5 7 ." Sie bezeichnet also ein M i n i m u m an logischen und hermeneutischen Regeln, denen das Gesamte unterliegen soll: etwa das Verhältnis von lex specialis und lex generalis oder von Regel und Ausnahme. Die Frage ist, inwieweit darüber hinausgehend die Grundrechte ein Wertesystem bilden, dessen Besonderheit darin liegt, 1. die disparaten Einzelgrundrechte zu einer — auf die Verwirklichung des A r t . 1 I bezogenen — funktionalen Einheit organisieren zu können, 2. über die adaptativen Fähigkeiten zu verfügen, die notwendig sind, u m einen lückenlosen Grundrechtsschutz zu gewährleisten und 3. dennoch die Rechtssicherheit zu fördern, indem der Systementwurf selbst hermeneutische Plausibilität beansprucht und m i t h i n aus dem System selbst Leitlinien der Interpretation gefolgert werden können 5 8 . Dürig begründet seinen Systementwurf m i t dem Ziel, A r t . 1 I als oberstes Konstitutionsprinzip der Verfassung optimal zu verwirklichen. 56

Auch Hesse nicht, vgl. Grundzüge, S. 125. Wolff, Typen i m Recht, S. 205. 58 Vgl. Grimm, Verfassungsfunktion, S. 499, der die „Interpretationsrichtung" aus den Grundprinzipien der Verfassung e n t n i m m t u n d die N o t w e n digkeit eingebauter Interpretationsmaximen i m Anschluß an L u h m a n n aus der knappen Rechtsänderungskapazität folgert. 67

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

A r t . 1 I bilde — ohne selbst Anspruch zu sein — den Zielwert eines auf die A r t . 2 I und 3 I gegründeten Anspruchssystems. Gleichzeitig bilde er die Basis eines auch die Werte des A r t . 20 umfassenden Wertesystems 59 . Einerseits w i r d so A r t . 1 I nicht ,zu kleiner Münze verrechtlicht ' und bleibt flexible Leitidee des Anspruchssystems, andererseits sprengt die Offenheit des A r t . 1 I nicht jede Berechenbarkeit, w e i l alle Ansprüche die Filter des Anspruchssystems passieren müssen. Bereits hier zeigt sich die erstrebte Praktikabilität dieses Entwurfes. Er erlaubt einen rückgekoppelten „Stoffwechsel" zwischen den Neuerfahrungen der politischen Praxis und den Formkräften des Wertesystems. Die Frage, welche Elemente das Grundrechts-System umfaßt, ist weder vom BVerfG 6 0 noch i n der Literatur eingehender erörtert worden 6 1 . Dies zeigt, daß für das Systemdenken i n der Grundrechtstheorie kein stringenter Systembegriff entwickelt wurde, sondern daß die Wissenschaft von einem naiven Vorverständnis des Systembegriffs ausging. Dennoch läßt sich z.B. aus Dürigs Entwurf rekonstruieren, daß sein Wertesystem auf zwei Grundelementen aufgebaut ist, welche das Spannungsverhältnis Individuum — Gesellschaft reflektieren: diese Elemente sind der Wert der Menschwürde des A r t . 1 I und der Wert der Demokratie des A r t . 20 I. Aufgrund der System-Perspektive, i n der beide Werte gesehen werden, können sie von vornherein nicht absolut gedacht sein, sondern nur relational unter dem Problemaspekt ihrer Vermittlung. Diese Vermittlung w i r d geleitet durch die drei Systemelemente Freiheit 6 2 , Gleichheit 6 3 und Sozialität 6 4 , welche als Niederschlag des Wertsystems zugleich die Basis des Grundrechtssystems abgeben 65 . Während die beiden Grundwerte Menschenwürde und Demokratie 59 Daß dieses Wertsystem auch A r t . 20 umfaßt, folgt aus den von A r t . 19 I I , 79 I I I gesetzten Grenzen dieses Systems; vgl. hierzu Goerlich, S. 46 ff. m i t ausführlichen Nachweisen. 80 Wobei das B V e r f G i n der Tat darauf hinweisen kann, daß dies nicht seine genuine Aufgabe ist, sondern Aufgabe einer Verfassungstheorie, die die Wissenschaft zu leisten hätte: vgl. Drath, Diskussionsbeitrag, i n : P r i n z i pien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20, S. 106 ff. 81 Vgl. aber die Ansätze bei Wittig, Grundrechtssystematik, S. 578 u n d die Bemerkungen von Geiger, Grundwertentscheidungen, S. 297 ff. zur Rechtsprechung des BVerfG. 82 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 I R 11. 63 Dürig, GG, A r t . 1 I R 12. 84 Düng, GG, A r t . 2 I R 25: „Dabei ergibt sich schon aus A r t . 79 I I I , daß die Fundamentalentscheidungen f ü r Entfaltungsfreiheit u n d f ü r Sozialität verfassungsrechtlich i n die gleiche Wertebene gerückt worden sind." 85 Wohlgemerkt n u r unter dem Aspekt einer theoretischen Analyse; historisch mag die E n t w i c k l u n g durchaus v o n Einzelgrundrechten ausgegangen sein.

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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kaum bezweifelt werden und i n ihrer Allgemeinheit auch kaum bezweifelt werden können, ist das Verhältnis der vermittelnden — und m i t h i n die inhaltliche Ausgestaltung von Menschenwürde und Demokratie vorentscheidenden! — Werte Freiheit, Gleichheit und Sozialität kaum geklärt. Anstelle der historischen Formel der Brüderlichkeit meint Sozialität immer noch den ethischen Wert einer Freiheit und Gleichheit transzendierenden humanen Einstellung 6 8 . Darüber hinaus aber meint Sozialität i n Dürigs Entwurf auch die soziologische Kategorie der Angewiesenheit des Einzelmenschen auf Gesellschaft. I n dieser Bedeutung müsse Freiheit immer m i t Sozialität zusammen gedacht werden: „Die Entfaltungsfreiheit des A r t . 2 I ist vielmehr von vornherein sozialgebunden und sozialbereite Freiheit 6 7 ." Diese Sicht hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Grundrechtsschranken. Schrankengesetze bedeuten keine „Eingriffe" i n absolut gedachte Werte, sondern nur „Rückverweisungen" i n von vornherein bestehende Schranken 68 . Während Freiheit und Sozialität nicht nur bei Dürig, sondern überwiegend als komplementäre Werte gesehen werden, erscheinen Freiheit und Gleichheit — so die Frage ihres Verhältnisses überhaupt aufgeworfen w i r d — als antinomische Werte 6 9 . Als solche aber würden sie zur Gefahr für die funktionale Einheit des Wertesystems und des Grundrechtssystems. Der Systemgedanke w i r d daher seine Bewährung darin finden, ob es gelingt, die drei vermittelnden Werte Freiheit, Gleichheit und Sozialität i n einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Die Frage dieses systematischen Zusammenhanges ist die Frage nach der S t r u k t u r des Wertsystems. Auch diese Frage ist mangels einer fundierten Auseinandersetzung m i t dem Systembegriff kaum behandelt worden 7 0 . I n Dürigs Entwurf finden sich Anhaltspunkte und Widersprüche. E i n Anhaltspunkt ist die parallele Behandlung der Hauptgrundrechte der A r t . 2 I und 3 I i m Sinne von 1. A u f fangsrechten für Gleichheitsrechte ββ

Leerstellen

der

speziellen Freiheits-

und

Vgl. Krüger, Brüderlichkeit, S. 249 f.; Dürig, GG, A r t . 3 I R 159 ff. Düng, GG, A r t . 2 I R 25 m. w . N. u n d ders, Wohlfahrtsstaat, S. 197. 68 So ausdrücklich Dürig, GG, A r t . 2 I R 73 a. E.; ebenso Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 222 ff. 69 Vgl. die Nachweise bei Podlech, Gleichheitssatz, S. 185 Ν 38. 70 Wenn es auch an Aufforderungen hierzu nicht fehlt, vgl. Wittkämper, Interdependenz, S. 47: „Insbesondere angesichts des Geltungswillens der Grundrechte (Art. 1 I I I GG) w i r d es f ü r unsere Rechtsordnung i m m e r bedeutsamer, daß die Juristen Wertaussagen u n d Handlungsanweisungen i n widerspruchslose Zusammenhänge bringen u n d Rangordnungen unter den i m Grundgesetz gegebenen Oberwerten erarbeiten." 67

36

II. Die Grundrechte als Wertsystem

2. Basen einer Hierarchie von Einzelgrundrechten 71 und 3. einer „rechtslogischen Koordinierung" system 72 .

durch das

Gesamtwerte-

E i n Widerspruch hierzu ist allerdings die Konzeption einer Präponderanz der Freiheit vor der Gleichheit 73 . Diesen wertmäßigen Vorrang der Freiheit begründet Dürig außer m i t dem formalen Argument der Stellung i m Grundgesetz 74 damit, „daß einer ,Entfaltung' der Freiheit begrifflich nicht eine nivellierende Zustandsgleichheit, vielmehr nur eine Gleichheit i n der Entfaltungsmöglichkeit entsprechen kann. Bei deren Verwirklichung können aber auch Ungleichheiten auftreten, ohne dem Grundrechtswertsystem zu widerstreiten. I m Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit zwingt (zu Gunsten der Freiheit) die Verfassung also nur dort zu unterschiedsloser Egalität, wo die Beziehung zur gleichen Menschenwürde zu wahren i s t " 7 5 . Weder der begriffliche noch der systematische Aspekt dieses Argumentes können indessen eine Präponderanz der Freiheit plausibel machen. Daß A r t . 3 I nicht nivellierende Egalität, sondern zuerst einmal Chancengleichheit meint, sagt noch nichts aus für das Verhältnis von A r t . 2 I und 3 I. I m Gegenteil: der Grundwert der Chancengleichheit könnte ebenso gut für dominierend gehalten werden und variierend auf das Prinzip des A r t . 2 I einwirken. U n d daß spätestens die gleiche Menschenwürde unterschiedslose Egalität verlangt, verweist nur auf die Präponderanz des A r t . 11, nicht aber auf eine Präponderanz der Freiheit. 1.1.1. Präponderanz der Freiheit und die Funktion des allgemeinen Gleichheitssatzes K e i n Zweifel besteht daran, daß Dürig erst einmal von der Vorrangstellung des A r t . 1 I GG als „oberstem Konstitutionsprinzip der Verfassung" ausgeht. Er versteht A r t . 2 I, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, als primären Wert der Menschenwürde 76 ; und dieselbe Mensch71 Wobei die Einzelgrundrechte nicht i m Grundrechtsteil der Verfassung stehen müssen: „Das Grundrechtssystem als Niederschlag des Wertsystems der Verfassung ist vielmehr eine Einheit, die durch Grundrechtslokalisierungen i m organiatorischen T e i l nicht unterbrochen w i r d . " Dürig, GG, A r t . 1 I I I R 92; vgl. auch ders., GG, A r t . 3 I R 249 f. 72 Vgl. Dürig, GG, A r t . 1 1 R 11, 12. 78 Vgl. Dürig, GG, A r t . 2 I R 2, 72 u n d Nipper dey, S. 765; kritisch hierzu v. Hippel, Grenzen u n d Wesensgehalt, S. 35; vor D ü r i g postulierte schon Peters, Freie Entfaltung, S. 672 eine Präponderanz der Freiheit. 74 Vgl. Dürig, GG, A r t . 2 I R 2; richtig dagegen ders., GG, A r t . 3 I R 132. 75 Dürig, GG, A r t . 2 I R 2. 76 Vgl. Dürig, GG, A r t . 2 I R 1.

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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würde ist der erste Vergleichsgesichtspunkt, i n Bezug auf welchen alle Menschen von Verfassung wegen Gleichheit beanspruchen können 7 7 . Freiheit und Gleichheit gründen demnach i n der Menschenwürde und zielen i n gleicher Weise auf die Verwirklichung dieses obersten Wertes. Gleichheit wie Freiheit erhalten ihre Dynamik aus dieser dienenden Funktion bei der Erreichung eines nie endgültig erreichten Zieles; und sie finden je für sich ihre Grenzen dort, wo sie durch einseitige M a x i mierung ihre Zielrichtung, nämlich die gleiche Würde für alle Menschen zu ermöglichen, konterkarieren würden. Die eben skizzierte Ausgangslage müßte Dürig — so könnte man meinen — zu einem gleichgewichtigen Nebeneinander von Freiheit und Gleichheit führen, während Präponderanz nur der Menschenwürde zukommen könnte. Tatsächlich aber besteht Dürig auch jetzt noch bei seiner groß angelegten Kommentierung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf einer Vorrangstellung der Freiheit gegenüber der Gleichheit 7 8 . Seine Begründung: „Die Gleichheit hat der Freiheit gegenüber dienende Funktion, als Basis und als Bedingung der freien Entfaltung menschlicher Anders- und Einzigartigkeit. Diese dienende Funktion der Gleichheit führt i n der Wertordnung des Grundgesetzes zur »Präponderanz der Freiheit*. Eine Verfassung aber, die auf der Basis der Gleichheit, also allgemein, Verschiedenheiten gestattet, die sich aus dem verschiedenen Gebrauch menschlicher Freiheit ergeben, entscheidet sich klar gegen eine unterschiedslose Egalisierung jederzeit i n jeder Beziehung, gegen Kollektivierung, Nivellierung, Schematisierung aller Personen und Lebensbereiche 79 ." Die Frage ist, ob diese Begründung ausreicht. Es fällt auf, daß sie i n sich schlüssig ist und dennoch die Schlußfolgerung nicht trägt. Dies ist dadurch zu erklären, daß Dürig nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes — welcher doch auf die Menschenwürde des A r t . 1 I bezogen und gerichtet ist — gegen die Freiheit abwägt, sondern einen von vornherein als Gleichmacherei und Nivellierung mißverstandenen Gleichheitssatz. Dürigs Absicht ist es offensichtlich, einem solchen Mißverständnis des Gleichheitssatzes vorzubeugen — daran gibt es nichts zu kritisieren. Aber m i t dieser Absicht läßt sich keine Vorrangstellung der Freiheit vor der Gleichheit begründen. Denn der verschiedene Gebrauch der menschlichen Freiheit w i r d zwar von der Verfassung vorausgesetzt, aber eben doch von vornherein i n Grenzen, die auch durch den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG gesetzt sind. Eine Präponderanz der Freiheit läßt sich aus einer zur Gleichmacherei pervertierten Gleichheit ebensowenig be77 78 79

Vgl. Dürig, GG, A r t . 3 I R 3 u n d R 69. Vgl. Dürig, GG, A r t . 3 I R 135 u n d passim. Dürig, GG, A r t . 3 I R 135.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

gründen, wie eine Vorrangstellung der Gleichheit aus einer zur W i l l k ü r pervertierten Freiheit. Dürig verwahrt sich zu Recht gegen ein isoliert-individualistisch überzogenes Freiheitsdenken. Er betont, daß bereits i n A r t . 2 I GG „die Gleichheit zu einem durchaus die Freiheit begrenzenden Moment (wird), w e i l geradezu logischerweise jeder seine Freiheit nur i n dem Maße gebrauchen kann, soweit die gleiche Freiheit der anderen reicht" 8 0 . Aber m i t Logik ist der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht beizukommen. Diese strotzt vor Ungleichheiten, welche „die gleiche Freiheit der anderen" nur noch als Zynismus erträglich macht: von A wie Arbeitsplatzbewertung oder Allgemeine Geschäftsbedingungen über M w i e Mitbestimmung oder Minderheitenschutz (ζ. B. i m Aktienrecht) bis zu Ζ wie Zulassungsbeschränkung, die nur den trifft, der sich ein Ausweichstudium i m Wartestand nicht leisten kann. Eben w e i l der A r t . 2 I GG insoweit versagt hat, ist es dringend notwendig, endlich die scharfe Waffe des allgemeinen Gleichheitssatzes zu entmotten und den A r t . 3 I GG ernst zu nehmen. Dürig sagt ausdrücklich, daß „sowohl A r t . 2 I als auch A r t . 3 I nichts anderes sind, als die beiden Seiten desselben obersten verfassungsrechtlichen Konstitutionsprinzips i n Form des A r t . 1 I " 8 1 und er betont, daß ein i n A r t . 1 I gründender Gleichheitssatz einen „Grundstandard an Freiheit" 8 2 sichere, insoweit also kein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit bestehe. Die Spannung zwischen diesen beiden Rechtswerten entstehe erst, wenn man auf konkreterer Ebene zwischen der Entfaltungsfreiheit des Menschen und der Gleichheit des Menschen eine Wertabwägung zu treffen habe. A n diesen Aussagen ist nicht zu zweifeln. I m Gegenteil: sie drängen den Verfassungsinterpreten meines Erachtens geradezu, erst einmal unvoreingenommen Freiheit und Gleichheit als gleichgewichtige Werte zu begreifen, die unterschiedliche Dimensionen einer einheitlichen Menschenwürde verdeutlichen. Reduziert man dagegen beide Werte auf eine einzige Dimension, indem die Gleichheit n u r dienende Funktion (nicht nur i m Verhältnis zu A r t . 1 I, sondern) auch i n Bezug auf die Freiheit des A r t . 2 I hat, dann entsteht die Gefahr, daß wichtige Aspekte einer realen Menschenwürde aus dem Blickfeld verschwinden, insbesondere der Aspekt einer Gleichheit der Start- und Entwicklungschancen i n Bildung und Wirtschaft als Grundlage einer selbstverantwortlichen und würdigen Lebensführung 8 3 . 80 81 82 83

Dürig, GG, A r t . 3 I R 137. Dürig, GG, A r t . 3 I R 252. Vgl. Dürig, GG, A r t . 3 1 R 6. Vgl. aber den Ausgangspunkt bei Dürig, GG, A r t . 3 I R 91.

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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Gleichheit der Start- und Entwicklungschancen vor allem i n den Bereichen Bildung und Wirtschaft läßt sich nicht nur als dienende Funktion gegenüber „der" freien Entfaltung der Persönlichkeit sehen. Diese Gleichheit ist ein eigenständiger Wert, welcher durchaus die „freie Entfaltung" bisher Privilegierter einzuschränken verlangt zugunsten der gleichen Entfaltungschancen vieler Unterprivilegierter, wie ζ. B. der Frauen i n der Wirtschaft 8 4 , der Arbeiter i n der Mitbestimmung, der Mieter auf dem Wohnungsmarkt, der Unterschichtenkinder i n den höheren Schulen, etc. Legt man hier von vornherein eine Präponderanz der Freiheit zugrunde, so bleibt es eben weiterhin bei der nur fiktiven Freiheit der vielen Ungleichen, die sich sagen lassen müssen, daß Unterbeschäftigung eines Beamten menschenunwürdig ist, Fließbandarbeit und Nachtschicht aber nicht 8 5 . Hier bleibt festzuhalten, daß i n Dürigs E n t w u r f A r t . 2 I GG aufgrund der postulierten Präponderanz der Freiheit das gesamte Grundrechtssystem strukturiert. Die Vermittlung von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit w i r d einseitig über den Wert der Freiheit abgewickelt, wobei allerdings nicht zu vergessen ist, daß nach Dürig Freiheit und Sozialität integriert und wertmäßig auf einer Ebene zu sehen sind8®. Diese eindimensionale Struktur des Grundrechtssystems weist A r t . 3 I nur eine dienende Funktion zu und nimmt dadurch dem allgemeinen Gleichheitssatz die emanzipatorische, befreiende Schärfe, welche i h n zum Stützpfeiler der kontinental-europäischen Menschenrechtserklärungen gemacht hatte. A u f das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ist i m abschließenden Kapitel nochmals einzugehen, ebenso auf den vermittelnden Wert der Brüderlichkeit. I m Folgenden ist die allgemeinere Frage zu klären, wie sich das Grundrechtssystem insgesamt zur Wertordnung der Verfassung verhält. Die A n t w o r t auf diese Frage w i r d mit darüber entscheiden, ob es sinnvoll ist, die Grundrechte als ein System von Werten zu betrachten.

84 U n d nicht n u r dort! Vgl. BSozG: N J W 1972, S. 119 m i t treffender A n m e r k u n g von Struck. 85 Vgl. auch Däubler, Mitbestimmung, S. 135. 86 Goerlich, S. 138 f. u n d 142 scheint anzunehmen, daß der Zusammenhang von Würde, Freiheit u n d Gleichheit u n d die interpretationsleitende S t r u k t u r dieses Zusammenhanges gerade durch die Terminologie von »Wertordnung* u n d »Wertsystem' verborgen werde. Dies ließe sich aber auch anhand der Rechtsprechung des B V e r f G n u r dann behaupten, w e n n nachgewiesen wäre, daß das B V e r f G v o n einem geschlossenen Wertsystem ausgeht. Daß dies nicht der F a l l ist, zeigt Geiger, Grundwertentscheidungen, bes. S. 298.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem 1.2. Wie verhält sich dieses „System" zur allgemeinen Wertordnung der Verfassung

Bei der vorgenommenen Explikation des Systemgedankens bei Dürig fällt diese Frage auf sich selbst zurück: was ist die allgemeine Wertordnung der Verfassung? Auch zu dieser Frage gibt die Literatur keine präzisen Auskünfte. Das BVerfG versteht die Verfassung als materiale Einheit, welcher der Verfassungsgeber eine Wertordnung vorgegeben hat, die aus den Elementen der „Traditionen der liberalrepräsentativen parlamentarischen Demokratie, des liberalen Hechtsstaates und des Bundesstaates, sowie . . . namentlich des Sozialstaates" 87 besteht. B ä u m l i n 8 8 weist darauf hin, daß eine solche Wertordnimg nicht als vom gesellschaftlichen Leben abstrahierte, sondern nur als geschichtliche, gemachte und veränderliche Wertordnung aufgefaßt werden könne. I m übrigen w i r d die Frage der allgemeinen Wertordnung der Verfassung gleichgesetzt m i t dem Problem der Interpretation des Begriffes der „verfassungsmäßigen Ordnung" i n A r t . 2 I. Diese Gleichsetzung verzerrt indessen die analytische Perspektive, w e i l die „verfassungsmäßige Ordnung" als Element der Schrankentrias des A r t . 2 I primär i n der Funktion einer Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit und nicht i n der Funktion eines integrierenden Wertungsschemas für das Verfassungsganze ausgelegt wird. Die Auslegungen sind denn auch entweder so allgemein, wie diejenige des BVerfG 8 9 , so daß sie keinen Erklärungswert mehr haben, oder sie sind zwar reduziert, wie etwa die bei Nipperdey aufgeführten 9 0 , formulieren aber das Problem nur um, anstatt es zu lösen. Eine Lösung der Frage nach der allgemeinen Wertordnung der Verfassung setzt eine Wertskala voraus, welche die verschiedenen Interessen i n eine Rangfolge oder ein anderes systematisches Verhältnis bringt 9 1 . Die einzige Wertskala, die hierzu i n Frage kommt, ist nun aber das Wertesystem der Grundrechte selbst 92 . Die „tragenden Grundsätze des Verfassungsrechts", die „allgemeinsten tragenden Strukturprinzipien unseres Verfassungsrechts", die „elementaren Verfassungsgrundsätze" 87

Hesse, Grundzüge, S. 4 m. w . N. Vgl. Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte, S. 17 f. 89 Vgl. z.B. B V e r f G E 6, 32 (38); ausführlich zur Rechtsprechung des B V e r f G : Goerlich, S. 17, 45 ff. 90 Vgl. Nipperdey, S. 802 ff. 91 Vgl. dazu v. Hippel, S. 32 u n d die dort i n Ν 40 a zit. Äußerung von Maritain. 92 E i n ähnliches Ergebnis folgert Jäckel, S. 114 aus A r t . 19 I I GG: „Aus A r t . 19 I I GG folgt, daß es unter der Herrschaft des Grundgesetzes keine »ranghöheren Gemeinschaftsgüter' gibt als das öffentliche Interesse an der ungeschmälerten Aufrechterhaltung einer grundrechtlich geprägten Ordnung." 88

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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können nur Ausprägungen der Zielbestimmungen Menschenwürde und Demokratie und n u r Momentaufnahmen des Spannungsfeldes zwischen Freiheit, Gleichheit und Sozialität i n einem bestimmten historischen Zeitpunkt sein. Denn der organisatorische Teil der Verfassung hat überhaupt keine andere Funktion, als die i n den Grundrechten festgelegten Zielwerte dçr verfaßten Gesellschaft für die Staatsfunktionen zu konkretisieren. Die allgemeine Wertordnung der Verfassung kann mithin gar keine andere sein, als die Wertordnimg des Grundrechtssystems 98 . Dies bedeutet, daß Wertimgskonflikte und Zielkonkurrenzen i m — durch den organisatorischen Teil geregelten — staatlichen Bereich zu messen sind an den Wertungspräferenzen der Grundrechte, m i t h i n nicht isoliert nach Kriterien der ,Staatsraison' oder Praktikabilität* entschieden werden können. Treffend spricht i n diesem Zusammenhang Herzog von der „Richtlinienfunktion der Grundrechtsartikel" 9 4 . Es gibt demnach n u r ein einheitliches Wertesystem der Verfassung. Wenn Hesse dazu meint, dann werde übersehen, „daß die Verfassung auch i n anderen Bestimmungen als denen der Grundrechte ,Werte 4 normiert" 9 5 , dann ist dies richtig, aber kein Einwand 9 6 . Denn die Besonderheit eines von den Grundrechten normierten einheitlichen Wertesystems liegt nicht darin, daß andere Werte — etwa i m organisatorischen Teil — ausgeschlossen sind, sondern darin, daß diese anderen Werte nur nach Maßgabe des und konform zum Wertsystem der Grundrechte Geltung erlangen können 9 7 . Verfassungsrechtliche Werte, die diesem Wertsystem widersprechen, werden entweder von dem Formkräften des grundrechtlichen Wertsystems korrigiert, oder es bleibt nur das Verdikt von „verfassungswidrigen Verfassungsnormen" 98 . A u f einem Kurzschluß beruht das Argument, das Postulat zweier Systeme — des Grundrechtssystems und des Systems des organisatorischen Teils der Verfassung — sei unvereinbar m i t dem Postulat der „Einheit der Verfassung". Denn die Frage nach der Einheit der Verfassung ist nur die Frage nach dem Verhältnis beider Systeme. Diese Umformulierung hat allerdings den Vorteil, daß das Problem der Einheit der Verfassung schärfer i n den Blickpunkt gerät und nicht nur als grif98 So f ü h r t das B V e r f G i n E 7, 198 (205) aus, daß das GG i n seinem G r u n d rechtsteil eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat, die f ü r alle (!) Bereiche des Rechts — m i t h i n auch für den organisatorischen T e i l der V e r fassung gilt. 94 Herzog, Grundrechte u n d Gesellschaftspolitik, S. 75. 95 Hesse, Grundzüge, S. 126. 96 So auch Wittig, Grundrechtssystematik, S. 579; vgl. auch Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 11 f. 97 Dies verkennt auch Goerlich, S. 136. 98 Dazu BVerfGE 1, 14 (32) u n d Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, bes. S. 45 f.

II. Die Grundrechte als Wertsystem

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fige — aber nicht näher untersuchte — Formel verwendet wird. Für Ehmke ist die „Einheit der Verfassung" nicht Faktum, sondern ein materiell-rechtliches Interpretationsprinzip bei der Verfassungsauslegung. Nach diesem Prinzip sei die Verfassung als ein Ordnungszusammenhang zu interpretieren, welcher zwar vielseitig und nicht spannungslos, aber doch immer „auf die Einheit des politischen Gemeinwesens gerichtet" ist. Keinesfalls könne diese Einheit als systematische oder werthierarchische Geschlossenheit aufgefaßt werden". Ebenso lehnt Hesse die Vorstellung von einer geschlossenen systematischen Einheit der Verfassung ab. Für i h n ist die Verfassung nur auf Einheit angelegt, d.h., „ i n der Konkretisierung und Aktualisierung ihrer Sätze soll sich politische Einheit bilden und aufgegebene rechtliche Gesamtordnung w i r k l i c h werden" 1 0 0 . Diese Formulierungen können indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß keine ausreichende Erklärung dafür geboten worden ist, was „Einheit der Verfassung" bedeuten soll. Bei Ehmke mündet der Erklärungsversuch i n die ihrerseits erklärungsbedürftige Formel der „Einheit des politischen Gemeinwesens" und bei Hesse i n die Formel der „politischen Einheitsbildung". K l a r scheint n u r zu sein, daß die „Einheit der Verfassung" nicht besteht, sondern als regulatives (Interpretations-)Prinzip 1 0 1 fungiert. Oder i n den Worten Ermacoras: „Die Vorstellung, daß die Verfassung eine Einheit sei, lebt nur i n der wissenschaftlichen Lehre, nicht aber i n der praktischen Politik. Hier erscheint die Verfassung mehr als ein Kompromiß . . , 1 0 2 . " Aufgabe der Wissenschaft und der Rechtssprechung bleibt es, i n Verfassungsrecht gegossene politische Antinomien aufzulösen, nach dem Grundsatz, daß der Richter eine entscheidungserhebliche Frage nicht unentschieden lassen darf 1 0 8 . Die Wissenschaft hat dem Richter hierbei Hilfestellung zu leisten. Denn die Verfassungsauslegung kann nur dann systematisch kontrollierbar auf die Einheit der Verfassung hinzielen, wenn eine Verfassungstheorie i h r den Weg weist. Es ist eine grundlegende Einsicht, „daß eine verfassungsrechtliche Hermeneutik, die die praktische Arbeit w i r k l i c h leiten w i l l , zur materialen Verfassungstheorie werden m u ß " 1 0 4 . Dies bedeutet für unser Problem aber, daß die Verfassungs99

Vgl. Ehmke, Prinzipien, S. 77. Hesse, Grundzüge, S. 12. 101 Vgl. Leibholz, Diskussionsbeitrag zu: Prinzipien, S. 120. 102 Ermacora, Diskussionsbeitrag zu: Prinzipien, S. 111; vgl. auch Grimm, Verfassungsfunktion, S. 501 ff., der zutreffend die Leistungsgrenzen der Verfassung gegenüber der P o l i t i k hervorhebt. los Gereche s etwa A r t . 4 Code C i v i l ausdrückt; vgl. auch Luhmann, tigkeit, S. 134 u n d 163. 104 Ehmke, Prinzipien, S. 64. 100

1. Das Wertsystem der Grundrechte nach Dürig

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theorie die Einheit der Verfassung konzeptionell vorwegnehmen muß und nicht auf einen zukünftigen politischen Prozeß abschieben darf. Denn die rechtliche, gar verfassungsrechtliche Absicherung faktischer Entwicklungen zementiert nur das naturwüchsig Gewordene und begibt sich der Chance, die Entwicklung prospektiv gemäß den legitimierten Verfassungsprinzipien zu leiten 1 0 6 . Eine materiale Verfassungstheorie, die auf die Einheit der Verfassimg hinzielt, findet ihr einheitsstiftendes K r i t e r i u m nicht i n den Prinzipien oder Werten des organisatorischen Teils der Verfassung, denn diese sind — insbesondere i n einer historischen Phase des rapiden und umfassenden sozialen Wandels — der variierenden K r a f t politischer Pragmatik ausgesetzt. Diese Variation ist einerseits notwendig, sollen politische Wirklichkeit und organisatorische Prinzipien der Verfassung nicht über das minimale Maß hinaus auseinanderklaffen 106 . Sie bedarf andererseits klarer Leitlinien, soll nicht die Variation aufgrund beliebig definierter Staatsraison die Identität der Verfassung sprengen. Diese Leitlinien sind aufgestellt i n den Elementen des Grundrechtssystems. Denn der organisatorische Teil der Verfassung hat i n erster Linie die Aufgabe, Verfahren und Organe bereitzustellen für die politische Verwirklichung der Werte des Grundrechtsystems 107 ; eine Verwirklichung, die geleitet ist von einer i n eine Gesellschaftstheorie eingebetteten Verfassungstheorie. Eine Staatsorganisation, die diese Leitwerte nicht berücksichtigt, kann keine Legitimität beanspruchen, schon gar keine verfassungsrechtliche Legitimität. Demnach sind die Grundlagen einer materialen Verfassungstheorie aus den Prinzipien des Grundrechtssystems zu entwickeln. Erste Aufgabe einer Verfassungstheorie ist die Explikation eines kohärenten Grundrechtssystems, dessen strukturierende Dynamik die ganze Verfassung zu erfassen vermag. So müssen, u m ein richtungsweisendes Beispiel zu nennen, aus der Grundrechtssystematik heraus die Anforderungen an den Leistungs105 Vgl. dazu Dürig, GG, A r t . 3 I R 314 ff. u n d Häberle, Zeit u n d Verfassung, S. 117. 108 Einen interessanten Versuch u n t e r n i m m t hier A r t . 2 I I DDR-Verfassung, der die Planung u n d L e i t u n g der gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g nach den fortgeschrittensten Erkenntnissen der Wissenschaft fordert (vgl. dazu Sorgenicht u. a., Verfassung der DDR, S. 248 u n d ausführlich Rotter, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten, S. 107 ff.), sowie A r t . 79 I I DDR-Verfassung, der ebenfalls intendiert, wissenschaftlichen Fortschritt i n die Verfassung einzubauen: f ü r die Leitung, Koordination u n d K o n t r o l l e der zentralen Staatsorgane u n d der Bezirksräte durch den Ministerrat gibt es keine festen Organisationsnormen, sondern die Vorschrift, daß diese Leitungsfunktionen „entsprechend den Erkenntnissen der Organisationswissenschaft" auszuüben sind; vgl. dazu Sorgenicht u. α., a.a.O., S. 352 ff. Stabilisierender Faktor der Variation ist hier das Prinzip des Demokratischen Sozialismus, vgl. A r t . 47 I I DDR-Verfassung. 107 Vgl. dazu Herzog, Grundrechte u n d Gesellschaftspolitik, S. 73 ff.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Staat entwickelt werden können; nicht darf die faktische Entwicklung des Leistungsstaates allein Reichweite und Inhalt der Grundrechte festlegen. Der Dürigsche E n t w u r f eines grundrechtlichen Wertsystems wurde bisher nur nachskizziert und einige auf strikt juristisch-dogmatischer Ebene erhobene Einwände abgewogen. I m Folgenden geht es darum, diesen Entwurf i n einer allgemeineren, sozialwissenschaftlichen Perspektive auf seine Möglichkeiten h i n zu überprüfen. Die Skizzierung des Grundrechtssystems als Werte-System hat zwei methodische Voraussetzungen: eine Fixierung des Wert-Begriffes und eine Klärung des System-Begriffes. Hier könnte die Konfrontation des rechtstheoretischen Problems m i t soziologischer Theorienbildung helfen, aus festgefahrenen dogmatischen Gleisen herauszukommen. 2. Z u m Problem der Wertanalyse 2.1. Fixierung des Wertbegriffes

Lautmann hat i n einer soziologischen Dissertation einhundertachtundsiebzig Wertbegriffe analysiert m i t dem Ziel einer Klärung und Präzisierung der Wissenschaftssprache 1. Sein sprachanalytischer Ansatz verzichtet bewußt auf die Formulierung von Hypothesen über Werte; es geht i h m nur u m die Explikation der Bedeutungsinhalte. Aus den Gemeinsamkeiten der Bedeutungsinhalte der unterschiedlichsten WertBegriffe lassen sich nach Lautmann einige Folgerungen ableiten, die den Wertbegriff plastischer, eindeutiger und schließlich — was auch für das Recht von Bedeutung ist — operationalisierbar machen 2 . Besonders gebräuchliche Definitionen des Begriffes ,Wert* stammen ζ. B. von Williams: „Werte sind nicht konkrete Ziele des Handelns, sondern vielmehr Kriterien der Auswahl dieser Ziele 8 ." Oder von Kluckhohn: „Ein Wert ist eine Auffassung vom Wünschenswerten, die explizit oder implizit sowie für ein Individuum oder für eine Gruppe kennzeichnend ist und welche die Auswahl der zugänglichen Weisen, M i t t e l und Ziele des Handelns beeinflußt 4 ." Aus der Gesamtheit der untersuchten Wertbegriffe schließt Lautmann, daß m i t großer Übereinstimmung der Begriff ,Wert* i m Sinne von ,Maßstab4 verwendet wird, m i t h i n Präferenzen regelt. I n beiden 1

Lautmann, Wert u n d N o r m (1969). Vgl. zur Operationalisierbarkeit Lautmann, S. 103 f. 3 Zit. bei Lautmann, S. 26. 4 Zit. bei Lautmann, S. 47; vgl. auch die v o n Podlech, Wertungen, S. 196 Ν 50 zit. Definition von K o u r i m : „ W e r t ist das Ausmaß der Vorziehungsw ü r d i g k e i t i m Hinblick auf ein gegebenes Ziel." 2

2. Zum Problem der Wertanalyse

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oben angeführten Definitionen kommt dies i n dem Wort,Auswahl' zum Ausdruck. Von besonderer Bedeutimg ist eine Sprachregelung i n Bezug auf eine Mehrheit von Werten. Selten w i r d ein Wert allein behandelt oder untersucht, sondern es w i r d eine Mehrzahl oder gar die Gesamtheit der Werte einer Person oder Gruppe betrachtet. Für solche Gesamtheiten werden die Begriffe ,Wertordnung 4 , »Wertkomplex', ,Wertgefüge 4 oder ,Wertsystem 4 verwendet. I m Anschluß an den Vorschlag Lautmanns soll eine Mehrheit von Werten als Wertkomplex bezeichnet werden. Nur wenn tatsächlich eine bestimmte Strukturiertheit eines Wertkomplexes impliziert ist, soll von ,Wertsystem 4 die Rede sein. Eine besondere Ausprägung des Wertsystems ist die Werthierarchie, i n welcher Werte niederen Ranges ihren Geltungsgrund i n Werten höheren Ranges haben 5 . Als Ergebnis seiner Untersuchung bietet Lautmann einige adäquate Wertbegriffe an, die sinngleich gebraucht werden können. Danach ist ein Wert „ein K r i t e r i u m zur Auswahl der Objekte, die w i r anstreben sollen 44 oder „ein normativer Standard zur Beurteilung von Objekten 44 6 . Nicht notwendigerweise zum Begriff ,Wert 4 gehören i n der soziologischen Literatur die Elemente der Allgemeinheit, der Dauer und der Realisierbarkeit. Diese Elemente werden indessen dann relevant, wenn die Frage des Verhältnisses von Wert und Institution aufgeworfen wird. Werte lassen sich institutionalisieren: sie werden allgemein und auf Dauer gestellt. I m Anschluß an R. C. Hanson verwirft Lautmann aber eine Gleichsetzung von Werten oder Wertkomplexen m i t Institutionen und hält fest, daß zwar alle Institutionen Werte beinhalten, nicht aber alle Werte ohne weiteres Institutionen sind. Der Wertbegriff ist m i t h i n weiter als der Institutionenbegriff 7 . Es ist unerläßlich, i m Auge zu behalten, daß Lautmann den Wertbegriff ganz allgemein behandelt und ein spezifischer Wertbegriff — etwa ein verfassungsrechtlicher — Zusatzannahmen erfordert. Die begriffliche Analyse der häufigsten Verwendungen des Wertbegriffes i m soziologischen Sprachgebrauch klärt aber erst einmal die Voraussetzungen, unter denen die Rechtswissenschaft den ,Wertbegriffs-Himmel 4 verlassen und einen auf die soziale Wirklichkeit zielenden Wertbegriff sich erarbeiten kann. Wichtiger noch ist eine erfahrungswissenschaftliche Fundierung und eine möglichst weitgehende Operationalisierung von Begriffen, Vorstellungen und Entscheidungen über Werte dann, wenn diese i n Verfassungen oder anderen Gesetzen institutiona5 6 7

VgL Lautmann, S. 52. Lautmann, S. 105. Vgl. Lautmann, S. 81 f.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

lisiert werden. Denn m i t der juristischen Institutionalisierung werden Wertvorstellungen nur bedingt fixiert. Das bedingende Element ist der Einfluß der sozialen Wirklichkeit auf die jeweilige Institution. Eine Präzisierung von Wertbegriffen, die als „idées directrices" (Hauriou) von Institutionen dienen sollen, kann nicht das Ziel haben, bestimmte Wertvorstellungen vor sozialem Wandel zu retten. I m Gegenteil: es geht darum, Werte — seien es nun Leitwerte für bestimmte Institutionen oder Elemente des Wertsystems der Verfassung — so faßbar zu machen, daß eine Entscheidimg darüber möglich ist, ob diese Werte noch orientierende Funktion für die soziale Wirklichkeit haben, oder ob sie nur noch Sprachhülsen m i t Alibifunktion für veränderte Zwecke sind. 2.1.1. Rationalisierung von Wertentscheidungen durch Folgendiskussion? Bereits i n der Einleitung wurde auf den Versuch Podlechs aufmerksam gemacht, Wertungen durch die Diskussion ihrer Folgen einer rationalen Kontrolle zuzuführen. Podlech sieht die Möglichkeit eines Rationalitätsgewinnes durch Folgendiskussion darin, daß durch den Rückgang i n die Folgen einer Wertung („Reduktion") Wertungen von einem Wertungsbereich i n einen anderen verlagert werden und dadurch die zugrundeliegenden Interessenlagen deutlicher hervortreten können. Ursprüngliche Wertungen seien großteils gesellschaftlich, nämlich rollen- und institutionenvermittelte unreflektierte Stellungnahmen, die den Umstand verdeckten, daß eine begründungsbedürftige Position unbegründet bleibe 8 . Erst die Reduktion zwinge dazu, nach der Begründetheit gängiger Wertungsformeln zu fragen: „Die Reduktion verlangt gesellschaftliche Arbeit, u m habituelle geistige Barrieren zu überwinden. Das Ergebnis der Reduktion erscheint rational, w e i l sie selbst rationales, d. h. an Gründen kontrolliertes Verhalten ist 9 ." Dieser Versuch Podlechs ist bemerkenswert, w e i l er einmal das Problem der Wertentscheidungen nicht unterläuft, sondern es seiner praktischen Bedeutung entsprechend ernst nimmt; und zum anderen, w e i l i m Topos der Folgendiskussion möglicherweise eine Nahtstelle bezeichnet ist, an der sich das traditionelle, input-orientierte Recht auf eine output-Orientierung umpolen läßt und dadurch ein fließender Übergang zu einem neuen Verständnis des Rechts als Planungsrecht (im Sinne projektiver und prospektiver normativer Systementwürfe) möglich w i r d 1 0 . 8

Vgl. Podlech, Wertungen, S. 198 f. Podlech, S. 199. 10 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 137 ff.

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2. Zum Problem der Wertanalyse

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Es fällt deshalb auf, wenn Luhmann zwar den Trend der Rechtswissenschaft zur Umstellung auf eine output-Orientierung konstatiert 1 1 und w o h l auch fordert 1 2 , aber ausdrücklich die Folgendiskussion als Orientierungs- oder Rechtfertigungsgesichtspunkt bezweifelt: „Wenn man Folgen als Orientierungs- oder gar Rechtfertigungsgesichtspunkte verwenden w i l l , muß man über Scheuklappen verfügen, die verhindern, daß man alle Nebenfolgen, alle Folgen von Folgen, etwaige Schwelleneffekte aggregierter Folgen einer Vielzahl von Entscheidungen usw. i n den Blick bekommt . . . Und m i t einer Bewertimg der Folgen, ja selbst m i t Werkonsens ist ebenfalls nicht geholfen, w e i l das Problem schon i n der Selektion der Folgen liegt, die zur Bewertung herangezogen werden 1 8 ." Richtig hieran ist, daß die Folgen einer Folgendiskussion für Dogmat i k und Rechtstheorie überlegt werden müssen. Es könnte j a sein, daß aufgrund einer Reflexion der Folgen eine Wertung, wenn sie schließlich zustande kommt, rationaler ist, daß aber der Entscheidungsprozeß so komplex wird, daß Entscheidungen schließlich ausbleiben, weil des Gedankens Blässe „die Entscheidungsfreudigkeit" des Rechtsstabes ankränkelt. Denn — auch darin ist Luhmann zuzustimmen — konsequent zweckorientierte, auf die Folgen ausgerichtete Entscheidungssysteme setzen eine sehr v i e l aufwendigere, fachlich u n d funktional differenzierte Organisationsform voraus 14 , als sie das Rechtssystem (mit Ausnahme des BVerfG 1 5 ) kennt. Aber welche Konsequenz ist aus dieser Erkenntnis zu ziehen? M . E. doch die, daß das überkommene Rechtssystem den Anforderungen zukunftsorientierten Entscheidens eben nicht genügt und daß deshalb dieses System durch neuartige Verfahren und die möglichst umfassende Einbeziehung der Sozialwissenschaften — einschließlich der Wirtschafts- und Planungswissenschaften — verändert werden muß 1 6 . Dies ist ansatzweise i m Strafrecht erkennbar, etwa an der verstärkten Einbeziehung psychologischer und kriminologischer Erkenntnisse i n den Strafprozeß, an der therapeutischen Ausrichtung des Jugendstrafverfahrens oder an der Spezialisierung der Staatsanwaltschaften ζ. B. i m Bereich der Wirtschaftskriminalität. Welchen Sinn soll es haben, hier m i t den beschränkten Möglichkeiten der Dogmatik zu argumentieren oder — bezogen auf das öffentliche Recht — die Entscheidungskonsistenz an einem statisch gedachten Gleichheits11

Vgl. Luhmann, Rechtssystem, S. 29 f. Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 298 ff. 13 Luhmann, Rechtssystem, S. 35. 14 Vgl. Luhmann, Rechtssystem, S. 39. 15 Vgl. etwa Zuck, Der ,3. Senat', S. 305 ff.; u n d insbesondere Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, bes. S. 26 ff. 16 Vgl. Opp, Soziologie i m Recht, bes. S. 126 ff. 12

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

satz zu messen17? Eine Dynamisierung des Gleichheitssatzes ebenso wie eine Dynamisierung der Dogmatik über eine an sozialwissenschaftliche Theorienbildungen angeschlossene Rechtstheorie erscheint hier erfolgsversprechender zu sein, als der Rückzug der Rechtswissenschaft auf Positionen dogmatisch unanfechtbarer Entscheidungsfindung, welche die eigentlichen Probleme — nämlich die Probleme der Folgen der Entscheidung — ignoriert. Die Umstellung des Zeithorizontes von der Vergangenheit auf die Zukunft bedeutet für die Rechtspraxis insbesondere des öffentlichen Rechts, daß ihre Entscheidungen nicht mehr so sehr an der Erwartungssicherheit 18 als vielmehr an ihrer Steuerimgsfähigkeit gemessen werden. Richtig sieht deshalb Luhmann, daß es notwendig wird, Zukunftsverantwortung i n Rechtsverhältnisse einzubauen und Kriterien zu finden, die diese Zukunftsverantwortung steuern 19 . Ob diese Kriterien allerdings dogmatische sein können, wie Luhmann meint, ist fraglich. Vielleicht muß man sich an den Gedanken gewöhnen, daß i m Zuge der Entontologisierung der Rechtswissenschaft die Dogmatik als Teilgebiet sozialwissenschaftlicher Methodologie nur dann überleben kann, wenn sie der Logik der Sozialwissenschaften und nicht mehr der Logik der Logik gehorcht 20 . Dies braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Wichtig ist, daß die Abhängigkeit dogmatischer Begriffe und Ableitungen von vorgängigen Wertungen es notwendig macht, vor aller dogmatischen Argumentation die rechtstheoretische Bedeutung von Werten und Wertungen gerade i m Verfassungsrecht zu beleuchten. Auch hier könnte eine sozialwissenschaftliche Grundlage neue Denkanstöße liefern. I m Folgenden soll daher versucht werden, einige soziologische A n sätze darzustellen, welche Werte als Systemelemente behandeln und es so erlauben, Hypothesen über die Bedeutung von Werten für das Gesellschaftssystem zu bilden. Daraus könnten Schlüsse gezogen werden über die gesellschaftlichen Funktionen der Grundrechte als zentrales normatives Wertsystem.

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So aber Luhmann, Rechtssystem, S. 38 f. ; Einschränkungen aber S. 42 ff. Wobei fraglich ist, ob Gerichtsentscheidungen je erwartbar waren. W ä ren sie erwartbar, w ü r d e n w o h l k a u m noch Prozesse geführt werden müssen. 19 Vgl. Luhmann, Rechtssystem, S. 46 f. u n d Häberle, Zeit u n d Verfassung, S. 117 ff. 20 So — jedenfalls f ü r die Rechtstheorie — w o h l auch Luhmann, Evolution, S. 22. 18

2. Zum Problem der Wertanalyse

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2.2. Wertanalyse aus soziologischer Sicht

2.2.1. Allgemeines zum soziologischen Ansatz I m Hinblick auf die allgemeine Orientierungsfunktion von Werten schreibt Parsons: „ A u f der sozialen Ebene sind die institutionalisierten Wertmuster die »kollektiven Vorstellungen', die bestimmen, welche T y pen des sozialen Systems wünschenswert sind 2 1 ." Eine so weitreichende Konsequenz, wie die Bestimmimg des Systemtypes, setzt eine hinreichende Bestimmtheit der institutionalisierten Wertmuster voraus, soll nicht praktisch jede faktische Entwicklung durch konturlose Werte abgedeckt sein. I n der Parsons'schen Formulierung w i r d zumindest deutlich, daß die institutionalisierten Wertmuster aus dem ,Kollektivbewußtsein' 22 des jeweiligen sozialen Systems abgeleitet sind; die wesentliche Frage, welcher Grad an Authentizität der Ableitung erforderlich ist, u m von legitimen Werten sprechen zu können, streift Parsons nur am Rande. Immerhin macht er deutlich, daß die Legitimität von Werten zu messen ist am Konsens der Mitglieder einer Gesellschaft über die institutionalisierten Wertverpflichtungen 2 3 . Die Frage der Legitimität von Werten, die erstmals vom formalen Aspekt der begrifflichen Bedeutungsanalyse wegführt, enthält konzentriert die Fülle der Problematik einer Wertdiskussion i n der Verfassungsrechtstheorie. Nicht nur, w e i l hier die Erkenntnis unabweisbar ist, daß Verfassungsrechtsfragen implizit auch politische Fragen sind; nicht nur, w e i l der hohe Abstraktionsgrad von Werten sich traditioneller juristischer Behandlung i n Form von logischer Subsumtion entzieht 2 4 ; sondern insbesondere auch deshalb, w e i l hier Grundrechtstheorie, Verfassungstheorie und Demokratietheorie so eng aufeinander bezogen sind, daß die speziellere ohne die allgemeinere Theorie i n der L u f t hängt. Auch i n dieser Arbeit kann keine Verfassungstheorie, geschweige denn eine Demokratietheorie 2 6 ausgearbeitet werden. Als schwacher Ersatz für einen zusammenhängenden theoretischen Rahmen bietet sich daher nur an, an einigen Punkten die leitenden Vorverständnisse aufzuweisen, die von einer übergreifenden Verfassungs21

Parsons, Das System, S. 18. Parsons Begriff der „ k o l l e k t i v e n Vorstellungen" geht zurück auf den Begriff des „Kollektivbewußtseins", den D u r k h e i m zur Bestimmung der kulturellen Grundlage sozialer Organisation benutzt u n d auf Webers K e n n zeichnung von Werten als F o r m kollektiver Vorstellungen, vgl. Parsons, S. 182, Ν 8. 23 Vgl. Parsons, S. 18. 24 „ I n W i r k l i c h k e i t fungieren Zwecke, Interessen oder Werte i n j u r i s t i schen Entscheidimgsprozessen weder als ein f ü r allemal gültiger Maßstab, n o d i liefern sie eine inhaltliche Regel zur Lösung von K o n f l i k t e n . " : K r a wietz, Rechtstheoretische Implikationen, S. 39. 25 Vgl. dazu Scharpf, Demokratietheorie, durchgehend. 22

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

theorie her die Weichen i n der Grundrechtstheorie stellen. M i t diesem Behelf sind keineswegs die Schwierigkeiten rationaler Wertdiskussion behoben; immerhin aber könnte ein kritischer Nachvollzug der hier vorgebrachten Argumente durch den Leser dadurch erleichtert werden. Die Fragen nach dem Bedeutungsinhalt des Wertbegriffes, des Zusammenhanges mehrerer Werte und — als Kernproblem — die Frage nach der Legitimität von Werten hat auch die philosophische Wertdiskussion 26 beschäftigt. Der geringe Ertrag dieser Diskussion für eine auf Praxis zielende Rechtstheorie liegt nicht zuletzt i n der mangelnden Umsetzbarkeit, Konkretisierbarkeit und intersubjektiven Begründbarkeit philosophischer Postulate oder Hypothesen über Werte 2 7 . Exemplarisch belegt dies die Arbeit von Zippelius über Wertungsprobleme i m System der Grundrechte 28 , die darauf hinausläuft, daß Wertentscheidungen sich nicht rational auflösen lassen und sie sich deshalb am „herrschenden Rechtsethos" auszurichten haben, ohne daß indessen geklärt wäre, wie dieses herrschende Rechtsethos feststellbar sei. Es ist nun keineswegs so, daß diesen Mängeln allein durch eine „soziologische Betrachtungsweise" abzuhelfen wäre. Auch eine sozialwissenschaftlich fundierte Werttheorie steht vor der bisher kaum gelösten Aufgabe, für eine an der praktischen Arbeit orientierten Rechtstheorie verwertbare Hilfestellungen zu geben. Ein Anfang ist hier die Klärimg des Begriffswirrwarres durch Lautmanns Analyse. Geht es aber u m die Behandlung konkurrierender Werte innerhalb eines institutionalisierten Wertsystems, u m die Abwägung unterschiedlicher Werte i m H i n blick auf einen übergreifenden Zielwert oder gar darum, die Konsequenzen bestimmter Wertentscheidungen 29 für die Identität und Qualität des Gesamtsystems aufzuzeigen, dann ist frappierend, i n welchem Maße die Grundrechtstheorie bisher auf sich allein gestellt ist. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive ist allgemein dadurch charakterisiert, daß Werte und Wertsysteme einer wissenschaftlichen Diskussion dann zugänglich sind, wenn die Konstitution eines Wertes auf intersubjektiv begründbaren Kriterien des richtigen Verhaltens ber u h t 8 0 , wenn die Rangverhältnisse verschiedener Werte i m Sinne von 26 Vgl. die knappe Diskussion bei Podlech, Wertungen, S. 202 ff. u n d zum begriffsgeschichtlichen H i n t e r g r u n d : Goerlich, S. 148 ff. 27 Podlech, Recht u n d Moral, S. 135 Ν 23, geht soweit, die (philosophische) Wertlehre i n der Rechtswissenschaft für überwunden zu erklären; vgl. auch die K r i t i k bei Majewski, Auslegung der Grundrechte, S. 65 ff. 28 Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, bes. die Zusammenfassung, S. 193 ff. 29 Vgl. hierzu ansatzweise Podlech, Recht u n d Moral, S. 138 ff. u n d ders., Wertungen, S. 197 ff.; Dror, Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 18 ff. 80 Vgl. i m Zusammenhang einer K r i t i k der Verwendung des Wertbegriffes durch Häberle: Podlech, Grundrechte u n d Staat, S. 45.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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Präferenzregeln definiert sind und wenn — i m Idealfall — der Inhalt der einzelnen Werte i n empirisch überprüfbarer Weise, also operationalisierbar, umschrieben wird. I n soziologischer Sicht sind Werte Regeln des Vorziehens 31 . Genauer formuliert Kluckhohn: „ A value is not just a preference but is a preference which is felt and/or considered to be justified — ^ o r a l l y ' or by reasoning or by aesthetic judgments, usually by two or all three of these. Even if a value remains implicit, behavior w i t h reference to this conception indicates an undertone of the desireable — not just the desired 32 ." Werte sind gleichzeitig Regeln des Negierens i n dem Maße, i n dem i n zunehmend komplexen Verhältnissen eine positive Entscheidung eine Vielzahl verneinender Entscheidung impliziert 3 3 : entscheide ich mich i n irgendwelchen „magischen Vielecken" 3 4 für einen bestimmten Wert, so bedeutet dies gleichzeitig die Entscheidimg gegen die übrigen korrelierenden Werte — und dies letztlich selbst dann, wenn die positive Entscheidung i n optimierender Absicht durch wechselseitige Abstimmung erfolgte. Werte beruhen i n einer säkularisierten, rationalen Welt nicht mehr auf „Wahrheiten", sondern auf Meinungen oder Überzeugungen, also auf Ideologie 36 . W e r t k r i t i k heißt demnach Ideologiekritik, also eine K r i t i k von Vorstellungen durch Logik, empirische Kontrollen und die Hinterfragung von Zwecken und Interessen: „The discussability of values is one of their most essential properties, though the discussion may be oblique or disguised — not labeled as a consideration of values 36 ." Die Konstituierung von Werten vollzieht sich i m Prozeß der Meinungs- und Konsensbildung durch die verschiedenen Sozialisierungsvorgänge, angefangen von der familiären Erziehung über die Integration i n Rollen und Institutionen bis h i n zur allgemeinen Orientierung am kulturellen Hintergrund des sozialen Systems 37 . Werte sind weder einfach vorgegeben noch ewig, sondern kritisierbar und veränderbar; durch K r i t i k werden sie von „aus sich selbst bewegenden Wahrheiten zu Teilstücken eines menschlichen Handlungskreises" 38 . 81 Vgl. Luhmann, Grundrechte, S. 44 Ν 12; ders., Wahrheit, S. 59 u n d Podlech, Wertungen, S. 195. 82 Kluckhohn, Values, S. 396. 83 Vgl. zum weiteren Rahmen des Negierens als Selektionszwang L u h mann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 291 ff. u n d ders., K o m p l e x i tät u n d Demokratie, S. 39. 84 Dies g i l t nicht n u r für das wirtschaftspolitische Vieleck des § 1 StabG, sondern z . B . auch f ü r die Spannungen zwischen Freiheit, Gleichheit u n d Sozialität. 85 Vgl. Luhmann, Wahrheit u n d Ideologie, S. 59 f. 86 Kluckhohn, Values, S. 404. 37 Vgl. z.B. die Zusammenfassung bei Parsons, General Theory, S. 224f.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Werte schweben nicht frei über dem sozialen Substrat, sondern sie sind Ausdruck der Macht-, Interessen- und Bedürfniskonstellation des sozialen Systems. Dies gilt insbesondere auch für die Rangordnung konkurrierender Werte und die konkrete Inhaltsbestimmung allgemeiner Wertformeln. So ist die dem Grundgesetz unterschobene einseitige »Präponderanz der Freiheit 4 Ausdruck einer liberalistischen Ideologie des „freien Spiels der Kräfte" unter idealisierten Wettbewerbsannahmen. Über der unbeschränkten Freiheit der Starken w i r d die nur fiktive Freiheit der Schwachen übersehen und die Freiheitsbeschränkungen durch faktische Ungleichheit der Chancen übergangen. Z u lange haben Werte die Grundrechtstheorie nur als abstrakte Formeln beschäftigt, deren „Verrechtlichung zu kleiner Münze" (Dürig) als Entweihung des pathetischen Nimbus erschien. Hinter diesen Formeln konnte guter Wille stecken, oder aber auch ideologisch verbrämte Interessen. U n d erst wenn die Götter i n die Vorhöfe gezogen wurden, war zu erkennen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren. Daß i n gleicher Weise auch i n der soziologischen Theorie — die eine empirische Entzauberung der „Werte" hätte leisten müssen — zu lange Werte nur als analytische Versatzformeln fungierten, macht die Schwierigkeiten einer auf die Realisierung von Werten zielenden, praxisbezogenen und praxisrelevanten Grundrechtstheorie nur größer. 2.2.2. Parsons Schon Max Weber setzte dazu an, die hohen Formeln der klassischen Wertphilosophie (Scheler, Rickert) i n soziologische Fragestellungen umzumünzen. Für i h n dienen Werte als verhaltenssteuernde Generalisierungen zur Legitimierung von Gruppenautorität 8 9 . Es geht i h m nicht mehr u m die Frage nach dem ,Wesen' der Werte, sondern darum, welche Funktion Werte für das Handeln oder für Handlungssysteme haben. Diese Fragestellung w i r d von Weber an Parsons vermittelt und bei diesem zu einem Eckpfeiler der strukturell-funktionalen Handlungs- und Systemtheorie. Für Parsons ist soziologische Analyse die Analyse von Handlungen, bei denen der Handelnde die Handlungssituation i n seine Motivation einbezieht 40 . Der Bezugsrahmen für eine Handlung besteht demnach aus dem Handelnden, (der nicht eine Person sein muß, sondern auch eine Gruppe oder ein System sein kann) der Handlungssituation und der Orientierung an dieser Situation. Diese 38 Jonas, Soziologie, S. 11; zur hier einsetzenden K r i t i k an Parsons W e r t konzept vgl. Schräder, S. 133 u n d Krysmanski, Soziologie des Konflikts, S. 158. 39 Dazu vgl. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 37. 40 Vgl. hierzu u n d zum Folgenden die bündige Darstellung bei Schräder, S. 112 ff.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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Orientierimg verknüpft den Handelnden und die Situation, i n der er handelt. Parsons unterscheidet hierbei eine Motivorientierung und eine Wertorientierimg. Die Motivorientierung richtet sich nach i n d i v i duellen Antrieben oder Bedürfnissen, die Wertorientierungen nach sozialen, vorgegebenen Auswahlkriterien, wie Werten oder Normen: „ I t follows from the derivation of normative orientation and the role of values i n action as stated above, that all values involve what may be called a social reference 41 ." Diese handlungsleitende Funktion von Werten w i r d noch dadurch unterstrichen, daß Parsons (zumindest i n der ersten Phase seiner Theorienbildung) das kulturelle System „als ein System von aufeinander abgestimmten Normen, Werten und Symbolen (betrachtet), die den Handelnden bei der Auswahl verschiedener Handlungsalternativen leiten und Interaktionen i n bestimmter Weise regulieren sollen" 4 2 . Das funktionelle Gewicht, das Parsons den Werten beimißt, w i r d aber erst daraus deutlich, daß er eine hierarchische Struktur des sozialen Systems konstruiert, nach der aufsteigend die vier Ebenen Rollen, Gruppen, Normen und Werte zu unterscheiden sind. Diese Ebenen b i l den eine Hierarchie der Interessenbefriedigung, w e i l zur Befriedigung der Interessen einer bestimmten Stufe die Aufrechterhaltung der übergeordneten Stufe notwendige Voraussetzung sei: „Bestimmte Grade der Interessenbefriedigung von Gruppen sind ihrerseits die notwendige — jedoch nicht hinreichende — Bedingung für die Aufrechterhaltung von Normenkomplexen, die unabhängig von der Unterscheidung verschiedener Gruppentypen existieren: zum Beispiel die Institutionalisierung von Autorität oder die Vererbung und Entäußerung von Eigentumsrechten. Das Interesse an der Aufrechterhaltung der Normen wiederum bedingt die Möglichkeit, bestimmte Werte zu verfolgen: etwa Werte wie »Gleichheit der Chance 448 ." Umgekehrt w i r k t nach Parsons eine Steuerungs- und Kontrollhierarchie von oben nach unten; hier bilden also die Werte die obersten Orientierungsmaßstäbe für alle untergeordneten Ebenen und nehmen m i t h i n eine zentrale Stellung für Identität und Integration des Systems ein. Eine evolutionäre Umgestaltung einer Gesellschaft würde nach Parsons dadurch eintreten, daß eine andere Wertordnung verbindlich w i r d und die Gesellschaft von ,oben' her umorientiert. Parsons vorrangiges Interesse gilt einerseits der Orientierungsfunktion der Werte für individuelles Entscheiden und Handeln und andererseits der Stabilisierungs- und Integrationsfunktion der Werte für das 41 42 43

Parsons, Social System, S. 12. Schräder, S. 114. Parsons, Die jüngsten Entwicklungen, S. 36.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Gesamtsystem. Zumindest diese Integrationsfunktion erscheint indessen als problematisch, w e i l alle modernen Gesellschaften i n ihre Wertsysteme auch widersprüchliche Werte einbezogen haben. Deshalb k r i t i siert Kiss: „Parsons scheint zu verkennen, daß moderne Systeme — eingeschlossen die sozialistischen — durch die Werte der Volkssouveränität, Freiheit, Chancengleichheit und — infolge der Nicht-Institutionalisierbarkeit der Brüderlichkeit (!) — Sicherheit einen potentiellen Zielkonflikt i n ihrem obersten Wertsystem enthalten . . ." 4 4 . Diese K r i t i k ist nur zum Teil berechtigt, w e i l Parsons — wenn auch auf sehr abstrakter Ebene — die Notwendigkeit der Kompromißbildung und die Möglichkeit des Wertewandels durchaus gesehen hat: „The main mechanism of accommodation is the priority scale which is implicit i n the existence of a dominant value-orientation 4 5 ." Diese herrschende Wertausrichtung: das ,Ethos 4 eines Systems ist nach Parsons das entscheidende Element der Integration eines Gesellschaftssystems. Wenn trotz dieser integrativen Funktion das Wertsystem als Gesamtheit sozialen Wandel ermöglicht oder gar induziert, so deshalb, w e i l das Wertsystem auch Werte einschließt, welche i m Widerspruch zur gerade dominierenden Prioritätenskala stehen. Ζ. B. steht i m Grundgesetz der „Präponderanz der Freiheit" der Wert der Gleichheit gegenüber und scheint bezüglich aller manifest ausgebildeter sozialer Asymmetrien wie Vermögens», Einfluß- und Machtverteilung unversöhnlich. Dennoch sprengen solche Wertwidersprüche nicht notwendig das System, w e i l Mechanismen zur Verfügung stehen 46 , welche die latenten Konflikte absorbieren, i n Untersysteme abdrängen, oder aber als ,variety pool· verwerten: „ I n this paradox (hier: dem Systemzwang zur Akzeptierung der institutionalisierten Werte und der Notwendigkeit, Kompromisse m i t widerstreitenden Werten auszuhalten H. W.) lies a principal source of strain and instability i n social systems, and many of the most important seeds of social change 47 ." I n der Parsonsschen Soziologie gewinnt der Wertbegriff zwar eine dominierende Stellung durch die Hervorhebung des mehrschichtigen Einflusses von Werten auf Handlungen, doch muß hierbei berücksichtigt werden, daß Parsons nicht nach dem Inhalt von Werten fragt, sondern nach ihrer Funktion für die Stabilität des sozialen Systems 48 . 44 Kiss , Gleichgewicht u n d Wandel, S. 570 (Hervorhebung v o n m i r ) ; vgl. auch die abgewogene K r i t i k bei Buckley, Systemtheoretische Ansätze, S. 159 ff. 45 Parsons / Shils, Values, S. 178. 46 Vgl. Parsons / Shils, S. 178 f. 47 Parsons / Shils, S. 179. 48 Vgl. auch Kluckhohn, S. 400: „Above all, values add an element of predictability to social life."

2. Zum Problem der Wertanalyse

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Diese Perspektive verhindert zwar eine Auseinandersetzung m i t den spezifischen Inhalten der geltenden Werte ebenso wie die konkrete Analyse der Entstehung neuer Werte und Wertsysteme 40 . Doch erlaubt die Analyse der Systemfunktionen von Werten Einblicke i n die gesellschaftliche Bedeutung von Werten, welche durch die herkömmliche Frage nach dem „Wesen" der Werte eher verstellt wurden. Für die Jurisprudenz ist diese funktionalistische Fragestellung u m so bedeutsamer, je mehr die Steuerungs- und Leitungsaufgabe des Rechts für alle gesellschaftlichen Bereiche i n den Vordergrund tritt. 2.2.3.

Luhmann

Noch ausschließlicher als Parsons interessiert sich Luhmann für die funktionalen Leistungen von Werten und Wertsystemen auf makrosoziologischer Ebene. I n dieser funktionalistischen Perspektive erscheinen die Grundrechtswerte des Grundgesetzes als normative, institutionalisierte Setzungen, welche die gerade erreichte differenzierte Strukt u r der Gesellschaft als soziales System absichern (ausführlicher hierzu unten, Abschnitt TV). Zwar ist i m Rahmen der vorliegenden Arbeit i n erster Linie L u h manns Grundrechtstheorie von Bedeutung, doch w i r d diese verständlicher, wenn sie i n den Zusammenhang seiner — zum größten Teil erst später publizierten — Werttheorie eingebettet wird. Zunächst frappiert der Kontrast zwischen Grundrechten und (allgemeinen) Werten, den Luhmann sieht: Grundrechte haben eine statische, bewahrende, abgrenzende Funktion, Werte eine dynamische, steuernde, integrierende. Dieser Widerspruch wäre aufgehoben, wenn Luhmann Grundrechte nicht mehr als Werte, sondern nur noch als die Differenzierung der Gesellschaft sichernde Institutionen sähe. Aber dem ist nicht so: „Daß Grundrechte die Auswahl des richtigen Handelns anleiten, also als Werte dienen sollen, steht außer Frage. Die Frage aber ist, ob diese Charakterisierung nicht vordergründig bleibt . . . " M . Grundrechte sind m i t h i n auch für Luhmann Werte, allerdings i n einem spezifisch funktionalistischen Sinn: „Als Regeln für wählende Entscheidungen sind Werte unentbehrliche Orientierungsgesichtspunkte menschlichen Handelns und gerade i n einer zunehmend rationalisierten Welt, die fast für jede Situation Handlungsalternativen offen hält, von unabschätzbarer Bedeutung . . . Grundrechte sind zweifellos Werte i n diesem funktional verständlichen Sinne 5 1 ." 49 Vgl. Schräder, S. 133 u n d Lockwood, Probleme des Konflikts, S. 184; deutlich gesehen werden diese Grenzen bei Kluckhohn, S. 433; vgl. auch Kiss, S. 572 ff. 60 Luhmann, Grundrechte, S. 213. 51 Luhmann, S. 44 Ν 12.

II. Die Grundrechte als Wertsystem

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Das Besondere an den Grundrechten gegenüber anderen Vorzugsregeln oder Programmen läßt sich — darin ist Luhmann zuzustimmen — nicht aus dem Wertbegriff entnehmen, sondern nur aus den Systemfunktionen der Grundrechte. Luhmanns Ausgangspunkt ist die Situation eines Menschen, der sich angesichts einer unübersehbaren Vielzahl von Möglichkeiten, Ursachen, Wirkungen und Folgen entscheiden muß. U m überhaupt entscheiden zu können, muß der Mensch sich seine Entscheidungssituation vereinfachen, „indem er die Welt auf bestimmte Probleme zusammenzieht" 52 . Die unterschiedlichen Mechanismen des ,Zusammenziehens4 definieren das Potential der Komplixitätsverarbeitung und sind funktional bezogen auf den Umfang der zu bewältigenden Komplexität. Einen relativ einfachen — und evolutionär frühen — Mechanismus sieht Luhmann i m Zweck-Mittel-Schema, welches für die Praxis das Problem der Kausalität „löst", indem Ausschnitte aus der Wirklichkeit so isoliert werden, daß die Annahme plausibel erscheint, man könne bestimmte Zwecke als wahr festhalten und daraufhin die M i t t e l variieren. Nur die Zweckerreichung erscheint dann i m Blickfeld, während die Unzahl der Nebenfolgen des Handelns neutralisiert wird. Das Zweck-Mittel-Schema grenzt so „die beachtlichen gegen die ignorierbaren Folgen ab und macht die Situation dadurch entscheidungsreif" 53 . Dieser Mechanismus ist überfordert, sobald i n differenzierten und säkularisierten Sozialordnungen die Nebenfolgen des Handelns unübersehbar werden. N u n muß die Gesamtheit der Folgen des Handelns sytematisch organisiert werden. Dies geschieht nach Luhmann „durch Aufstellung von allgemeinen Wertsystemen, die regeln, welche Folgen Wertcharakter haben und daher zu bezwecken (zu erstreben oder zu vermeiden) sind. Solche Wertsysteme bringen die zu bezweckenden Folgen i n eine Vorzugsordnung. Aber sie können die unbezweckten Folgen i m weitesten Sinne . . . nicht ausschließen; . . . Sie können andere Möglichkeiten n u r neutralisieren, aber nicht sicherstellen, daß die gewählten Möglichkeiten i n ihrer Wertgeltung ,nicht nicht sind 4 . Sie sind daher i m traditionellen Sinne nicht wahrheitsfähig. Sie haben nur die Bedeutung von Ideologien 4454 . Für Luhmann sind demnach die Wertsysteme moderner Gesellschaften Ideologien, w e i l Werte nicht mehr wahrheitsfähig sind: Die Funktion der Ideologien besteht darin, zu regeln, welche Folgen des Handelns beachtlich, welche unbeachtlich sind. Dadurch w i r d der unentwirrbaren Menge von Kausalbeziehungen eine ,Relevanzstruktur 4 auf52 68 54

Luhmann, Luhmann, Luhmann,

W a h r h e i t u n d Ideologie, S. 58. S. 58. S. 59.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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geprägt und die Möglichkeiten des Handelns kanalisiert, übersehbar und entscheidbar gemacht. Der Zusammenhang von Wert und Ideologie liegt demnach i n der Einheit ihrer Funktion, nämlich der Vorstrukturierung von Entscheidungen durch die Eingrenzung der für das Handeln relevanten Kausalbeziehungen. I n dieser Beziehung sind Ideologien leistungsfähiger als Werte, weil Werte i n der Form von Ideologien ihren reflexiven Mechanismus gefunden haben: Ideologien erlauben das Bewerten von Werten 5 5 , die ständige Neuorganisation und Umgruppierung von Werten je nach den aktuellen Anforderungen des sozialen Systems. I n dieser Funktion sind Ideologien „zusammen m i t der Auslegung des Handelns als Bewirken einer W i r k i m g Bedingung rationaler A k t i o n und daher wesentlicher Bestandteil der modernen Sozialtechnik" 5 6 . Unter diesem funktionalen Leistimgsgesichtspunkt sind Ideologien nichts Dämonisches oder Irrationales, sondern i m Gegenteil Bedingung rationalen Handelns. Ideologien, also die leitenden Wertsysteme einer Gesellschaft (oder eines anderen sozialen Systems), erscheinen als änderbar und änderungsbedürftig, sie können geplant 5 7 oder gar ersetzt werden, w e i l es nicht auf ihren Inhalt ankommt, sondern auf ihre Funktion der Handlungsorientierung i n überkomplexen Situationen: die Änderung einer Ideologie ist rational, wenn sie unter veränderten Bedingungen dieselbe Funktion erfüllt; und sie ist gerechtfertigt, wenn die neue Ideologie diese Funktion besser erfüllt 5 8 . Der Zerfall allgemeingültiger Wahrheiten i m Zuge der Säkularisierung der Welt bedingt nicht nur, daß die leitenden Wertsysteme zu Ideologien werden; er b e w i r k t auch, daß Ideologien einen umfassenden Orientierungsrahmen für alle Gelegenheiten abgeben müssen. Bei konfligrierenden Systemanforderungen müssen Ideologien daher zugleich Entscheidungsregeln dafür enthalten, welcher von mehreren betroffenen Werten vorzuziehen sei, w e i l sonst die innere Konsistenz einer Ideologie bedroht wäre. Luhmann meint nun, daß die Konsistenz einer Ideologie durch den Rang der Werte geleistet werde: „Die Rangordnung der Werte ist eine Form der Konsistenz widerspruchsvoller Kriterien." Und: „Aufgabe der Ideologie ist es gerade, Widersprüche zu integrieren, Handlungen m i t widersprechenden Wertorintierungen zu koordinieren 5 9 ." Diese Aufgabe meistern Ideologien nach Luhmann durch ihre abstrakte Fassung, die starke Verallgemeinerung ihrer 55 66 57 58 69

Luhmann, Positives Recht, S. 182 f. Luhmann, Wahrheit u n d Ideologie, S. 60. Vgl. Luhmann, S. 64. Vgl. Luhmann, S. 61. Luhmann, S. 62.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Zwecke und die Mehrdeutigkeit ihrer leitenden Gesichtspunkte. Darüber hinaus ist eine bestimmte Rangordnung der Werte eines Wertsystems nur auf Zeit notwendige Bedingung der Konsistenz einer Ideologie, da die Änderung von Ideologien, also die Umschichtung der Rangordnung von Werten, immer dann rational und gerechtfertigt ist, wenn die neue Ideologie die aufgetretenen Widersprüche besser integriert. Welcher Mechanismus aber leitet die Umwertung der Werte, auf welcher Basis vollziehen sich Änderungen einer Ideologie? Luhmann n i m m t an, daß Wertordnungen, sobald sie eine gewisse Komplexität überschreiten, „opportunistisch" werden müssen, d . h . sie müssen so organisiert sein, daß die Rangbeziehungen zwischen den verschiedenen Werten je nach den Möglichkeiten und dem Bedarf für Handlungen und je nach dem Erfüllungsstand der einzelnen Werte variiert werden können: „Diese Variationen zu ermöglichen, ist die Funktion der Ideologie 60 ." Ihre Leistimg besteht darin, auf der Grundlage ausdrucksstarker, konsensfähiger Symbole eine bewegliche Bewertung von Werten zu erlauben und dadurch Entscheidungen zu erleichtern. Wenn sich nun aber alles — nämlich Werte und Ideologien — opportunistisch ändern kann, dann scheint alles ins Fließen zu geraten und jegliche Orientierung verloren zu gehen. Diesen Gefahren ist nach Luhmann dadurch vorgebaut, daß i n die Ideologie Symbole einbezogen werden, „die diesem Wechsel der Werte entzogen sind und i h n steuern und legitimieren können, ohne i h n zu beeinträchtigen" 61 . Erst i n diesen ,letzten' Symbolen sieht Luhmann Werte, die nicht mehr bewertet werden und daher auch nicht umgewertet werden können. Hier erst liegt die Grenze opportunistischer Wertewahl und damit eine Absicherung gegen die volle Beliebigkeit der Entscheidungsmöglichkeiten. Demnach gilt zwar Opportunismus als Entscheidungsprinzip für Werte und Wertsysteme, doch soll selbst auf der abstrakten Ebene der Wertewahl Opportunismus nicht zu reiner Beliebigkeit führen 6 2 , weil es noch einen Steuerungsmechanismus gebe „der i m vielfältigen Wechsel der Orientierungen und Präferenzen die hinreichende Berücksichtigung aller Werte und insofern (ein) Mindestmaß an Konsistenz zu gewährleisten sucht u n d zugleich den Konsens derjenigen sicherstellt, die m i t ihren Werten warten müssen" 63 . Für die liberalistisch-pluralistischen westlichen Demokratien sieht Luhmann diesen Steuerungs60 Vgl. Luhmann, Positives Recht, S. 183; vgl. auch ders., Opportunismus, S. 166 f. 61 Luhmann, Positives Recht, S. 183. 62 Vgl. Luhmann, Opportunismus, S. 167. 63 Luhmann, S. 185; vgl. auch ders., Opportunismus, S. 177.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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mechanismus vor allem i m Verfahren der politischen Wahl, aber auch i n der Justiz, den Zentralbanken und i n den Grundrechten 64 . Den hier vor allem interessierenden Grundrechten fallen nach L u h manns Analyse m i t h i n widersprüchliche Aufgaben zu: zum einen sind sie Werte, die als solche opportunistisch behandelt werden sollen und zugleich sind sie Teil des Steuerungsmechanismus, welcher ein U m schlagen des Opportunismus i n Beliebigkeit verhindern soll. Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden könnte, ist bei Luhmann nicht zu erfahren. Meine These ist, daß die Auflösung dieses Widerspruchs theoretisch geklärt werden kann, wenn man die Grundrechte des Grundgesetzes als teleologisches normatives Wertsystem betrachtet, welches die Funktion hat, für das bezogene soziale System bestimmte Problemlösungsmöglichkeiten bereitzustellen und welches als offenes, dynamisches Symbolsystem zugleich eine systeminterne Variabilität der Wertrangstellen und eine relative Konstanz des Gesamtsystems gewährleistet. Wenn die Allgemeine Systemtheorie die Funktion von Systembildung und Systemdifferenzierimg darin sieht, daß bestimmte Sinneinheiten gegenüber einer sich wandelnden Umwelt relativ invariant gehalten werden und trotz interner Änderungs- und Anpassungsprozesse ihre Identität bewahren, dann ist damit ein Prinzip benannt, welches auch für das symbolische System der Grundrechte gilt: für das Systemganze sind Stabilität und Wandel nicht mehr Alternativen, sondern sich gegenseitig bedingende komplementäre Eigenschaften desselben Systems. A u f dem Hintergrund dieser These und der zuvor i m Zusammenhang skizzierten allgemeinen Position Luhmanns soll nun näher auf dessen Bestimmung der Funktion von Werten eingegangen werden. I m Anschluß an Parsons unterscheidet auch Luhmann die vier Systemebenen Personen, Rollen, Handlungsprogramme (Normen oder Zwecke) und Werte 6 5 . I m Gegensatz zu Parsons aber versteht er den Zusammenhang dieser Ebenen nicht in erster Linie als Kontroll- und Steuerungshierarchie, sondern als Generalisierungsstufen von Erwartungszusammenhängen, die nach unterschiedlichen Selektionsgesichtspunkten Erwartungen leiten. Luhmanns These ist, daß erst i n hochkomplexen Systemen die Trennschärfe der einzelnen Selektionsgesichtspunkte so ausgeprägt ist, „daß Rollen von Personen und Werte von Normen und Zwecken abgetrennt werden . . . Der innere Grund für diese Entwicklung ist, daß hohe Komplexität des Systems nicht durch konkret-personale, aber auch nicht durch lediglich wertbezogene 64 Vgl. Luhmann, Positives Recht, S. 184; ders., K o m p l e x i t ä t u n d Demokratie, S. 43. 65 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 85 ff.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Erwartungskombinationen dargestellt werden kann, sondern auf der mittleren Ebene der Rollen und Programme angesiedelt werden muß. Personen sind dafür zu konkret, Werte zu abstrakt" 6 6 . Hieraus leitet Luhmann ab, daß die mittleren Sinnebenen (Rollen und Handlungsprogramme) zu den das Gesamtsystem tragenden Ebenen werden, da nur sie die strukturelle Differenzierung erlauben, welche notwendig ist, u m die steigende Komplexität moderner Gesellschaften aufzufangen. Daraus folgt weiter, daß die unterste Ebene der Personen und die oberste Ebene der Werte funktional i m Hinblick auf die Anforderungen der mittleren Ebenen h i n variiert werden, „das heißt Personen müssen mobilisiert und Werte ideologisiert werden" 6 7 . Hier soll nur dem Aspekt der funktionalen Variation von Werten nachgegangen werden, welche nach Luhmann über eine Ideologisierung erreicht wird. Diese These bedarf näherer Erläuterung. ,Werte' faßt Luhmann auf als „Symbole für die Vorziehenswürdigkeit unbestimmt bleibender Handlungen", als „synthetisch-integrierende Formeln für die Darstellung sozialen Konsenses" 68 . Wertkonflikte entstehen erst, und müssen entschieden werden, wenn bestimmte Handlungen oder Handlungsprogramme entworfen werden. A u f der Ebene der Werte aber, so meint Luhmann, gäbe es keine allgemein gültigen Regeln mehr für die Entscheidung von Wertkonflikten. Die Begriffe „Werthierarchie" oder „Wertsystem" sind für ihn entweder „pure Gedankenlosigkeit" oder aber ohne Aussagekraft 69 . Wie aber sollen nun Wertkonflikte entschieden werden? Luhmann beantwortet diese Frage nicht, sondern entzieht sich i h r durch das Postulat, daß jeweils „benachteiligte", also i n einer aktuellen Konfliktsituation unterlegene Werte nicht i n ihrer Geltung bestritten, sondern nur „zeitweise und i n einer speziellen Hinsicht zurückgestellt" würden 7 0 . Dabei übersieht er aber, daß auch hierin nichts anderes liegt, als die Entscheidung eines Wertkonflikts, da Prioritätensetzungen i n der Zeitdimension m i t zunehmender Knappheit der Z e i t 7 1 zu endgültigen Entscheidungen werden 7 2 . Wenn Luhmann meint, nur Zweckprogramme würden sachlich allgemein gehaltene Wirkungsvorstellungen ββ Luhmann, Positives Recht, S. 189; vgl. auch ders., Rechtssoziologie, S. 92 ff. 67 Luhmann, Positives Recht, S. 189. 68 Luhmann, S. 190. 69 Vgl. Luhmann, S. 201 Ν 34. 70 Vgl. Luhmann, S. 190. 71 Hierzu Luhmann, Die Knappheit der Zeit, S. 143 ff. u n d ders., Weltzeit u n d Systemgeschichte, S. 104 f. 72 Deutlich gesehen bei Weinrich, System, Diskurs, D i d a k t i k , S. 151 u n d Dror, Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 19 f.; vgl. auch Häberle, „Leistungsrecht", S. 468 f.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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mit einer bestimmten zeitlichen Situation verbinden, während dann, wenn jede Zeitdimension fehle, es sich u m Zweckideen oder Werte handele 73 , so verkennt er die spezifische enge Verbindung von Werten und Normen gerade i m Verfassungsrecht. Diese Verbindung ist darin zu sehen, daß Grundrechtsartikel Normcharakter haben, also verbindlich sind und als subjektive, öffentliche Rechte prozessual durchgesetzt werden können. Inhaltlich aber sind diese Normen nicht Konditionalprogramme (wie einige einfache gesetzliche Regeln) und auch nicht Zweckprogramme 74 (wie die meisten einfachen Gesetze). Vielmehr sind sie „Wertprogramme" i m Sinne von Präferenzregeln, die auf höchster Generalisierungsstufe bestimmte Entscheidungsfelder umfassend vorstrukturieren: also auch i n zeitlicher Hinsicht, wenn der Zeitfaktor entscheidungserheblich w i r d . Die Entwicklung des Leistimgsstaates und der verfassungsrechtlich garantierten Teilhaberechte als Ausübungsmodus der Grundrechte ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß die Zeitdimension für die Verwirklichung von Werten zunehmend wichtig w i r d 7 5 : so ist ζ. B. das Problem des numerus clausus für den Betroffenen nicht zuletzt ein Zeitproblem. Darüber hinaus weisen paradoxe Aussagen Luhmanns bezüglich der Orientierungsfunktion von Werten darauf hin, daß er über die Ablehnung des hierarchischen Modells von Parsons hinaus noch zu keiner stringenten Auffassung bezüglich des Status und der Funktion von Werten vorgestoßen ist: von der mittleren Sinnebene der Rollen und Zwecke aus gesehen nehmen Werte eine ambivalente Stellung ein: i m gleichen System richten sich Handlungen nach Werten und auch Werte nach Handlungen 7 6 ; gleichzeitig spricht Luhmann von „ihrer (hier: der Werte H. W.) Funktion für die Orientierung des Handelns" 7 7 und davon, daß Werte durch die Handlungszusammenhänge — für welche sie Orientierungspunkte sein sollen — funktional variiert werden, m i t h i n abhängige Variable seien 78 . Schließlich hebt Luhmann hervor, daß bei der Behandlung und Bewertung von Werten Opportunismus bestandswesentlich werde, weil 73

Vgl. Luhmann, L o b der Routine, S. 118. Z u r Unterscheidung von Zweckprogramm u n d Konditionalprogramm vgl. Luhmann, Positives Recht, S. 191 ff. (dort w i r d die Nähe der Zweckprogramme zu Ideologien betont, die Möglichkeit von Wertprogrammen aber nicht erörtert); ders., Zweckbegriff, S. 101 ff. u. S. 257 ff. u n d ders., Rechtssoziologie, S. 227 ff. u. S. 234 ff. 76 Z u r Ungeeignetheit der philosophischen Wertediskussion, zeitliche Präferenzfragen diskutierbar zu machen vgl. Podlech, Wertungen, S. 209 Ν 103 m. w . Ν . 78 Vgl. Luhmann, Politisches Systems, S. 176 Ν 63. 77 Luhmann, S. 167. 78 Vgl. Luhmann, Positives Recht, S. 189. 74

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Werte nicht mehr durch starre Rangprioritäten i n ein System gebracht werden könnten, m i t h i n Institutionen geschaffen werden müssen, welche eine hohe Beliebigkeit des Bewertens von Werten erlauben 79 . Eine dieser Institutionen ist die Trennung von Politik und Verwaltung. Luhmann n i m m t an, daß diese Systemdifferenzierimg „ein nennenswertes Maß an Opportunismus m i t zuverlässiger Programmdurchführung zu verbinden erlaubt, indem sie für beides Positionen und Kräfte bereithält und deren Konflikte ausgleicht" 80 . Durch den Mechanismus der Wahl werden der Politik Entscheidungsmöglichkeiten offen gehalten und eine opportunistische Wertewahl ermöglicht. Die Verwaltung dagegen ist i m Prinzip durch Rechtssätze i n Form von Konditionalprogrammen i n ihren Wahlmöglichkeiten eingeengt. Die zunehmende Bedeutung der Leistungsverwaltung führt allerdings dazu, daß durch Zweckprogramme und eine verwaltungsinterne Planung ein »politisch gehemmter Opportunismus i n der Verwaltung' sich breit macht. Denn während Konditionalprogramme dahin tendieren, Opportunismus, also den Wechsel der Präferenzen politischen Zentralinstanzen zu überlassen, erlauben Zweckprogramme einen opportunistischen Wechsel von Präferenzen, w e i l sich die verschiedenen M i t t e l für den zu erreichenden Zweck danach unterscheiden, welche Werte und Interessen durch ihre Nebenfolgen berührt werden 8 1 . A m Beispiel der Trennung von Politik und Verwaltung w i r d auch deutlicher, was Luhmann unter Opportunismus versteht. Opportunismus heißt nicht Prinzipienlosigkeit, sondern Anpassungsfähigkeit: „Opportunistische Praxis besteht nicht i n ziellosem, druckunabhängigem Schlendern durch die Landschaft der Zwecke und Werte. Sie erfordert eine abstrakte, variantenreiche, problembezogene, funktionale, letztlich soziologische Begrifflichkeit, die nicht normativ, sondern gerade lernfähig konzipiert sein muß. Sie braucht Gesichtspunkte, nach denen sie auch den Wechsel der Präferenzen noch organisieren und selbst höchste Werte, wenn nicht negieren, so doch warten lassen kann 8 2 ." Opportunismus heißt dann, daß bei einer Vielzahl von Werten nicht ein Wert oder alle Werte m i t maximalem Einsatz gefördert werden, sondern daß wechselseitige Rücksicht, Abwägen und eine A r t Übermaßverbot zu einer homogenen Werterfüllung führen. Für das paradigmatische Wertsystem der Grundrechte sind aber gerade dies durchaus gängige methodische Prinzipien. I n diesem Sinne gibt es i n der Tat keine absoluten Werte, w e i l selbst ein „absoluter" Wert durch immanente Schran79 80 81 82

Vgl. Luhmann, Politisches System, S. 167 f. Luhmann, Opportunismus, S. 168. Vgl. Luhmann, S. 170 ff. Luhmann, S. 177.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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ken — und diese sind j a nichts anderes als Schranken, die durch andere Werte gezogen werden — eingegrenzt ist. Interessant ist dann nur noch, welcher A r t die Gesichtspunkte sind, die noch den Wechsel der Präferenzen organisieren und leiten. Einerseits sind nach Luhmann — wie bereits oben skizziert — Wertsysteme Ideologien, die als solche gerade opportunistische Wertewahl erlauben. Zwar behandelt Luhmann das Grundrechtssystem gerade nicht als symbolisches System i m Sinne der Allgemeinen Systemtheorrie, doch vielleicht n u r deshalb, w e i l i h m die Vorstellung fremd ist, daß auch die Gesamtheit der Grundrechte eine bestimmte Ideologie repräsentiert. Andererseits aber haben nach Luhmann Ideologien die Funktion, widersprüchliche Werte zu einer konsistenten Ordnimg zu integrieren, eine Ordnung, die auf nichts anderes hinausläuft, als eben auf ein Wertsystem: „Konsistenz i n diesem Sinne w i r d vor allem durch den Hang der Werte geleistet. Der Rang der Werte ist keineswegs eine undefinierbare, nur phänomenal beschreibbare Dimension (Nikolai Hartmann), sondern eine Vorzugsregel für den F a l l des Wertkonflikts, also ein Entscheidungsprinzip m i t bestimmt angebbarem Sinn. Die Rangordnung der Werte ist eine Form der Konsistenz widerspruchsvoller Kriterien 8 8 ." Gerade w e i l Luhmann m i t dieser letzteren Aussage Beifall verdient, kann i h m bezüglich der Grundrechte nicht i n seiner Opportunismusthese gefolgt werden. Einmal aus theoretischen Gründen, w e i l Beliebigkeit des Bewertens von Werten deren Orientierungsfunktion für das Handeln zerstören muß; w e i l durch den unterschiedlichen Abstraktionsgrad verschiedener Werte über historische und symbolische A b hängigkeiten hinaus 8 4 eine Rangordnung i n Bezug auf dem Umfang des Adressatenkreises entsteht, welche sich opportunistischer Behandlung entzieht; und schließlich, weil gerade die von Luhmann hervorgehobene integrierende Funktion von Ideologien bewirkt, daß isolierte Wertumstellungen folgenlos bleiben, es sei denn, sie werden i m Rahmen einer auf das System der Werte bezogenen Gesamtstrategie betrieben 8 5 . Dies aber ist nicht das Geschäft einer opportunistischen Wertbehandlung, sondern das einer Ideologiekritik, die das Wertsystem insgesamt i n Frage stellt. Luhmann schränkt denn auch seine These von der Möglichkeit opportunistischer Wertbehandlung gerade für die Systeme ein, welche Zwecke und Werte über Einzelwirkungen hinaus stabilisieren müssen, 88 84 85

Luhmann, Wahrheit u n d Ideologie, S. 62. Vgl. dazu Kluckhohn, S. 420. Vgl. Dror, Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 19.

II. Die Grundrechte als Wertsystem

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w e i l nur Konstanz der Wertsetzungen eine geordnete Kommunikation m i t der Umwelt erlaubt. Diese Bedingung t r i f f t auf alle sozialen Systeme zu, abgesehen vielleicht von den Bereichen der Kunst und des Spiels, i n welchen die „Spielregeln" opportunistisch gesetzt werden können. Alle auf Dauer angelegten sozialen Systeme sind auf „generalisierte" Wertsetzungen angewiesen; Wertsetzungen also, welche kontrafaktisch auch gegen gelegentliche Enttäuschungen und vor allem gegenüber anderen Werten durchgehalten werden 8 6 . Solche generalisierten Werte oder Zwecke, die dem System Konstanz und Identität geben, widersetzen sich also opportunistischer Wertbehandlung: „Die Notwendigkeit, Zwecke zu generalisieren, widerspricht der Notwendigkeit, i n komplexen Wertlagen opportunistisch zu handeln 8 7 ." Da nach Luhmann dieser Widerspruch gerade i m politischen System besonders hervortritt, w e i l hier jedes Handeln auf seine wertrelevanten Folgen h i n verantwortet werden muß 8 8 , bleibt dieser Bereich — so darf man folgern — opportunisticher Wert-Wahl i n besonderem Maße verschlossen. Dennoch bleibt auch für das politische System der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit rasch auswechselbarer Zwecke und (untergeordneter) Werte einerseits und der Notwendigkeit generalisierter (übergeordneter) Werte andererseits bestehen. Der praktische Ausweg aus dieser Situation besteht darin, daß die generalisierten Werte in ein System eingebracht u n d so breit und allgemein formuliert werden, daß sie verschiedenartige Zwecke und Subwerte umfassen, also Variation i n Anpassung an eine veränderliche Umwelt erlauben. w

Für eine substanziell arbeitende, d. h. praktisch engagierte Rechtstheorie entscheidend ist die Frage der Steuerungskapazität der generalisierten Werte: während Luhmann annimmt, daß diese allgemeinen Werte nur ideologische Funktion haben, aber „als interne Rationalisierungs-, Arbeitsteilungs- und Kontrollstruktur versagen" 89 , geht es i n diesem Abschnitt u m die Frage, inwieweit selbst so allgemeine Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Sozialität i n ihrem Zusammenhang noch untergeordnete Zweck- und Wertsetzungen zu steuern vermögen; oder anders formuliert, inwieweit die i n den Grundrechten generalisierten Werte systematisierbar sind und als umfassender S t r u k t u r e n t w u r f 9 0 aufgefaßt werden können, welcher nicht die A l i b i - F u n k t i o n einer 86

Vgl. dazu Luhmann, Zweckbegriff, S. 36. Luhmann, S. 200. 88 Vgl. Luhmann, S. 216 ff.; vgl. auch Schmelzer, Systemstrukturforschung, S. 173 (zur Notwendigkeit einer Zielordnung f ü r den Planungsablauf). 89 Luhmann, Zweckbegriff, S. 217. 90 I m Sinne einer „ i n sich stimmigen strategischen Konzeption v o n Werten i m Unterschied zu den »taktischen' Werten, nach denen sich die einzelnen Entscheidungsklassen richten". (Deutsch, Politische K y b e r n e t i k , S. 321). 87

2. Zum Problem der Wertanalyse

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Ideologie, sondern die Steuerungsfunktion eines prospektiven, teleologischen Systems ausüben kann. Über die von Luhmann selbst gemachten Einschränkungen hinaus muß die Opportunismusthese auch aus praktischen politischen Gründen abgelehnt werden, w e i l es eine F i k t i o n ist, zu glauben, Werte wie „ L e ben, Hygiene, Freiheit, gesellschaftliches Ansehen, Reichtum, Rassenreinheit, Erlösung" 9 1 könnten opportunistisch i n ihren Rangstellen durcheinandergeworfen werden, je nach gerade aktuellem politischen Interesse. I n dieser These findet sich Max Webers Unterscheidimg von Gesinnungsethik und der für die P o l i t i k ausschließlich geltenden Verantwortungsethik wieder. Opportunistisches Handeln entspricht hier Webers Bestimmung des politischen Handelns als rein folgen- und mittelrationales Tun, welches verhindert, daß der Politiker sich an sachlichen allgemeingültigen Normen und Werten orientiert. Aber dieser Freibrief bis zur nächsten Wahl w i r k t e sich schon bei M a x Weber so aus, daß eine Entwicklung zumindest indirekt gestützt wurde, welche die politische Macht und eine opportunistische Wertewahl beim plebiszitären Führer konzentrierte 9 2 . Dieses Abschieben der Politik i n den Bereich irrationaler und tribaler Verhaltensmuster — Luhmanns Politik der Pinkelpause 98 — stabilisiert und legitimiert Archaismen i n der Politik, wo es doch gerade die Funktion einer positi vierten und subjektive Grundrechte enthaltenden Verfassung ist, auch noch die Politik durch ein verbindliches (Art. 20 Π Ι GG!), wenngleich offenes System von Werten zu leiten. Denn abgesehen davon, daß sich Werte nicht abgelöst von den hinter ihnen stehenden Interessen- und Machtkonstellationen behandeln lassen und diese K o n stellationen nur zu invariant sind, besteht gerade die Funktion der Verfassung m i t darin, einer opportunistischen Behandlung von Werten vorzubeugen, u m einer auf Verfassungsverwirklichung gerichteten Pol i t i k Konstanz und Ziel zu geben. Die Ablehnung der Opportunismusthese beinhaltet nicht, daß die Wertziele der Verfassung unveränderlich seien 94 . Sondern sie enthält den Anspruch, daß dann, wenn Veränderungen i n den Zielen oder Zielkombinationen entschieden werden, diese Veränderungen nicht unter dem Deckmantel einer Ideologie vertuscht, sondern als politische — und m i t h i n zu legitimierende — Ent91

Dies sind die Beispiele Luhmanns, vgl. ders., Positives Recht, S. 190. Vgl. Bosse, Säkularisierung, S. 190 ff. 98 Vgl. Luhmann, K o m p l e x i t ä t u n d Demokratie, S. 41; L u h m a n n sieht hier allerdings keine Irrationalität, sondern eine Systemrationalität, die auf einer Trennung der K r i t e r i e n der Rationalität von P o l i t i k u n d V e r w a l t u n g beruht. Die Rationalität der P o l i t i k erschöpft sich i n der Rationalität der W a h l t a k t i k . Vgl. Luhmann, Politische Planung, S. 74 f. 94 So aber K l e i n , Grundrechte, S. 78 f. 92

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Scheidung offen zu legen sind. Es t r i f f t daher gerade für moderne Demokratien nicht zu, daß hier „kontingente P o l i t i k " 9 5 praktiziert würde. Ebensowenig t r i f f t zu, daß i n Demokratien Rechtsetzung „kontingente Selektion von Recht" sei, wie Luhmann behauptet 9 6 . Kontingente Selektion von Recht wäre reine Willkürherrschaft. Warum Demokratie nicht m i t reiner Willkürherrschaft gleichzusetzen ist, obw o h l i m Prinzip die Mehrheit alles beschließen könnte, liegt an der Wertgebundenheit auch der Demokratie, ζ. B. am Wert des Minderheitenschutzes 97 . Z u erinnern ist daran, daß R. Thoma i m Minderheitenschutz sogar die gemeinsame Funktion aller Grundrechte sah 9 8 ! Wenn Luhmann postuliert 9 9 , gerade aus der Komplexität des demokratischen Systems entwickele sich ein neuartiger Konservatismus, „der es gar nicht mehr nötig hat, sich auf Werte zu berufen, sondern selbst festsitzt", so spricht diese Schlußfolgerung für sich. Wie wichtig i m Gegenteil Werte als vorgelagerte Grundorientierung sind, zeigt die Gewagtheit eines demokratischen Verfassungsstaates, die Badura treffend so kennzeichnet: „Das Verfassungsgesetz und die an das Verfassungsgesetz gebundenen Gesetze haben, nach den Grundsätzen der legitimierenden Zurechnung dasselbe Subjekt, das »Volk4, die staatlich vergesellschafteten Menschen, die selbst und autonom über die für sie geltende Rechtsordnung entscheiden. Das ist die Grundaporie des Verfassungsstaates 100 ." Der Opportunismusthese liegt das Modell eines Selbstregelungsautomatismus der Gesellschaft zugrunde, nach welchem dasjenige Recht und richtig ist, was aus dem von einer ,invisible hand 4 gesteuerten freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte herauskommt. Diese Auffassung verkennt den fundamentalen Satz, daß die Rationalität der Einzelsysteme noch lange nicht zur Rationalität des Gesamtsystems f ü h r t 1 0 1 , sondern daß das Gesamtsystem über die Teilsysteme hinaus 95

Luhmann, K o m p l e x i t ä t u n d Demokratie, S. 38. Luhmann, Rechtsprechimg, S. 47. 97 D e m widerspricht nicht die Wahrheitsunfähigkeit v o n Werten, auf die Podlech, Gleichheitssatz, S. 198 Ν 10 i m Anschluß an L u h m a n n hinweist. Voraussetzung einer W e r t b i n d u n g ist ein Umdenken des Legitimitätskonzepts von Begriffen der Wahrheit i n Begriffe des Konsenses — eines K o n senses durch rationale Diskussion; vgl. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 19 ff. u n d S. 138; zur sozialen F u n k t i o n des Minderheitenschutzes vgl. Deutsch, Politische K y b e r n e t i k , S. 337 u n d zur freiheitssichernden F u n k t i o n : die Mindermeinung B V e r f G E 35, 148 (161); zur Wertgebundenheit vgl. Dürig, A r t . 3 I R 197 Ν 1. 98 Vgl. Thoma, Die juristische Bedeutung, S. 9. 99 Vgl. Luhmann, Rechtsprechung, S. 52. 100 Badura, Verfassung, S. 25. 101 I n ganz paralleler Weise hat Luhmann, Zweck — Herrschaft — System, S. 91 den Rationalitätsbegriff von M a x Weber kritisiert. So wenig wie 98

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für das Gesamte verbindliche Zielwerte entwickeln muß, soll nicht eine vermachtete Gesellschaft naturwüchsig und steuerungslos am Gesamtinteresse sich vorbeientwickeln. Richtig hat daher Drath auf die „Regulierungsbedürftigkeit" der Industriegesellschaft hingewiesen, die aus deren strukturell bedingtem Funktionieren, aus den Friktionen und Konflikten eines dynamischen sozialen Wandels folge. Als ein auf dieses Regulierungsbedürfnis zugeschnittener Ordnungsfaktor, als Steuerungssystem i m Sinne von ,government' sieht er den Staat an, ohne indessen das enge Wechselspiel von Staat und Gesellschaft zu verkennen: „Die einseitige Auflösung der Verflechtung von Staat und Gesellschaft zugunsten der souveränen Regelungskompetenz ist jedenfalls mit dem Risiko kaum übersehbarer sozialer Kosten und politischer Friktionen und Konflikte belastet 1 0 2 ." Ganz ähnlich argumentiert auch Herzog 1 0 3 , der das Modell des Selbstregelungsautomatismus der Gesellschaft anhand von fünf Voraussetzungen kritisiert und die Grundrechte als „Konstitutionsprinzipien des Selbstregelungsautomatismus Gesellschaft" versteht 1 0 4 , also eine Selbstregelung nur i m Rahmen der Grundrechte und angeleitet durch sie für möglich hält. Insgesamt ergibt sich mithin, daß sich sowohl die Gesellschaft verändern (regeln) kann, als auch ihre i n den Grundrechten gefaßten leitenden Werte. Aber da diese Werte eine spezifische Funktion als Stabilisatoren des Wandels haben, kann nicht alles gleichzeitig geändert oder opportunistischer Behandlung überlassen werden. I m Gegenteil geht es darum, Bildung, Wandel und Wechsel von Werten einer rationalen Analyse zu unterziehen, um diesen für die Gesellschaft wesentlichen Prozessen nicht hilflos oder eben opportunistisch gegenüber zu stehen. Und es geht u m die Einsicht, daß die soziale Funktion von Werten und wertdefinierenden Normen sich nicht i n der Positivität und Instrumentalität des Rechts erschöpft, sondern darüber hinausgreift auf die Darstellung der Prinzipien einer gerechten Gesellschaftsordnung 1 0 6 . 2.2.4. Habermas M i t Recht hat daher Habermas i n seiner K r i t i k der Luhmannschen Theorie beanstandet, daß Werte irrational bleiben, wenn sie nur als Randbedingungen zweckrationalen Handelns gesehen werden; und er Rationalität auf der Ebene des Einzelhandelns dasselbe ist w i e Rationalität auf der Ebene des sozialen Systems, so wenig ergibt sich aus der Rationalität der Einzelsysteme die des Gesamtsystems. 102 Drath, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 277. 103 Vgl. Herzog, Staatslehre, S. 57 ff. u n d 134 ff. 104 Vgl. Herzog, S. 366. 105 Vgl. Badura, Verfassung, S. 27.

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hat darauf hingewiesen, daß i n dieser Sichtweise der Geltungsanspruch von Werten nur noch als Faktum hingenommen, aber nicht mehr kritisch überprüft werden könne 1 0 6 . Die Rationalität eines Gesellschaftssystems, welches i m Interesse effizienter Handlungsprogrammierung Werte — und das heißt hier: Verfassungswerte — opportunistisch behandelt, ist eine nur technologische Rationalität, welche unfähig bleibt, ihre eigenen Entwicklungsgesetze zu transzendieren: „ W e i l sich Rationalität dieser A r t auf die richtige W a h l zwischen Strategien, die angemessene Verwendung von Technologien und die zweckmäßige Einrichtung von Systemen (bei gesetzten Zielen i n gegebenen Situationen) erstreckt, entzieht sie den gesamtgesellschaftlichen Interessenzusammenhang, i n dem Strategien gewählt, Technologien verwendet und Systeme eingerichtet werden, der Reflexion und einer vernünftigen Rekonstruktion 1 0 7 ." Bei dieser K r i t i k übersieht Habermas nicht, daß die eigentliche Schwierigkeit einer rationalen Wertdiskussion i n der Frage der Begründbarkeit von Werten liegt. Gerade diese Schwäche jeder Werttheorie ist die Stärke pragmatisch-technologischer Handlungsprogrammierung auf der Ebene der Rollen und Zwecke, die L u h mann als neuen F i x p u n k t postuliert. Technologien, sogar Sozialtechnologien haben einen minimalen Kommunikationsbedarf, u m als begründet zu gelten. Das „tägliche Plebiszit funktionierender Maschinen" (Adorno) und Methoden ersetzt Argumente, macht sie überflüssig. Ganz anders steht es m i t der Begründbarkeit von Werten: „Über ,Wertsysteme1, das heißt aber: über soziale Bedürfnisse und objektive Bewußtseinslagen, über die Richtung der Emanzipation und der Regression können w i r i m Rahmen der Forschungen, die unsere technische Verfügungsgewalt erweitern, keine zwingenden Aussagen machen 108 ." Aus diesem Unvermögen folgert Habermas die Notwendigkeit, Werte, die er als „anonyme Platzhalter von intersubjektiv verbindlichen reziproken Verhaltenserwartungen" 1 0 9 , begreift, nicht durch „zweckrationales Handeln", sondern durch „kommunikatives Handeln" zu bestimmen und zu begründen 1 1 0 . A n diesem komplizierten Konstruktionsversuch ist unter verfassungsrechtlichem Aspekt zweierlei bemerkenswert: 1. Habermas unterscheidet zwischen „kulturellen Werten", welche durch Umformung vorsprachlicher Bedürfnisse i n intersubjektiv geltende Verhaltenserwartungen entstehen und „Interessen", welche dann 106 107 108 109 110

Vgl. Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 250. Habermas, Technik u n d Wissenschaft, S. 49. Habermas, Verwissenschaftlichte Politik, S. 123. Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 249. Vgl. Habermas, S. 249.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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hervortreten, wenn die normative Verteilung der Bedürfnisbefriedigungschancen streitig wird, also der Konsens zwischen den Beteiligten aufgekündigt w i r d 1 1 1 . Dies heißt, daß Grundrechtswerte verstanden werden können als juristisch eingefrorener Konsens zwischen verschiedenen Interessen; ein Konsens, der kommunikatives Handeln ermöglicht. Erst dann, „ w e n n die Legitimation geltender Normen zerbricht, treten die Interessen, die bis dahin den i n den Normen verkörperten Werten latent, w e i l miteinander konsensfähig verknüpft, zugrundelagen, manifest h e r v o r " 1 1 2 und das kommunikative Handeln weicht einem strategischen, interesseorientierten Handeln, welches darauf zielt, die eigenen Bedürfnisbefriedigungschancen zu verbessern. Hier taucht das Problem auf, inwieweit verfassungsrechtliche Interpretation noch dem Typus des kommunikativen Handelns zuzuordnen ist, sich also i m Rahmen des fixierten Konsenses hält, oder aber bereits strategisches Handeln ist, w e i l es die den Werten zugrundeliegenden Interessen neu gewichtet. (Und die weitere Frage ist dann natürlich, welche Interessenlage sich Verfassungsinterpreten, ob Richter oder Wissenschaftler, zu eigen machen.) 2. Wenn es plausibel ist, daß „Werte erst dann, wenn sie die Form von Interessen annehmen, den Status intersubjektiver Geltung einbüßen und konsensfähiger Kommunikation entzogen werden" 1 1 8 , dann beansprucht der umgekehrte Vorgang: die Verdichtung verschiedener Interessen zu konsensgetragenen Werten, verfassungsrechtlich höchste Aufmerksamkeit. Allerdings nicht unter der eher verschleiernden Parole der verfassungsgebenden, m i t h i n wertsetzenden Gewalt des Volkes 1 1 4 , sondern unter der aufgeschlüsselten Problemstellung der A r t i k u lationsfähigkeit, Organisierbarkeit, Konfliktfähigkeit und Durchsetz111 Vgl. dazu auch Hondrich, Theorie der Herrschaft, S. 47 u n d S. 80, der explizit die Interessen auf die zugrundeliegenden Bedürfnisse zurückführt; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 60 f. u n d S. 161 betont, daß bei Wertungskonflikten das Prinzip der Interessenabwägung ein Schlüsselbegriff darstellt, andererseits aber erst eine Rangordnung der Werte eine Richtschnur für Interessenabwägungen ergeben könne. Z u r genaueren Unterscheidung von W e r t k o n f l i k t e n u n d Interessenkonflikten vgL Brinkmann, Konflikt, Konfliktregulierung u n d Recht, S. 90 u n d zum Zusammenhang beider K o n fliktarten: Druckman / Zechmeister, Conflict of Interest and Value Dissensus, S. 449 ff . 112 Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 253; vgl. auch ders., L e g i t i m a tionsprobleme, S. 157. 118 Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 257. 114 Hierzu deutlich v. Beyme, Die verfassungsgebende Gewalt, bes. S. 7 f. und 55 ff.; das B V e r f G spricht von der Gesamtheit der Wertvorstellungen, „die das V o l k (!) i n einem bestimmten Z e i t p u n k t seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht u n d i n seiner Verfassung f i x i e r t hat". BVerfGE 7, 198 (206); vgl. dagegen die ausführlichen Nachweise bei Sörgel, Konsensus u n d Interessen, S. 91 ff.

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barkeit bestimmter Interessen 115 . Denn es ist heute kaum mehr bestritten, daß die vielbeschworene Krise des Parlamentarismus — die gleichzeitig eine schwelende Verfassungskrise ist! — i n erster Linie auf der einseitigen (und die gegebenen Disparitäten nur verschärfenden) Selekt i v i t ä t der Input-Strukturen des politischen Systems beruht. Diese von den Strukturen und den Verfahren 1 1 6 her angelegte Einseitigkeit bedingt, daß festorganisierte, kapitalkräftige und konfliktfähige Interessen sich politisches Gehör verschaffen, während diffuse, dem M a r k t mechanismus entzogene Interessen wie die der Verbraucher, Kranken, Mieter, Rentner, Lernenden, Kinderreichen, etc., sowie die Belange der Infrastruktur permanent draußen vor der Tür bleiben 1 1 7 . Dem Verfassungsrecht ist der Blick auf diese Realität solange versperrt, als es nicht gelingt, verfassungsrechtliche Wertsetzungen i m Zusammenhang m i t den ihnen zugrundeliegenden Interessenkonstellationen zu sehen, diese Interessenkonstellationen i m Konfliktfalle nicht isoliert zu bewerten, sondern sie i n das Spannungsfeld der verfassungsrechtlichen Fundamentalwerte Menschenwürde und Demokratie einzubeziehen. Als Konsequenz hieraus ergibt sich für die Grundrechtstheorie die Aufgabe, aktiv und prospektiv an den Wertentscheidungen der Verfassung orientiert den Prozeß der praktischen Verwirklichung der Grundrechte voranzutreiben; zum Beispiel dadurch, daß der bisher erst zaghafte Versuch ausgeweitet wird, die Grundrechte als verfassungsrechtliche Garantie von Teilhaberechten zu sehen: diese Sicht ist eine mögliche A n t w o r t auf die durch einen rapiden sozialen Wandlungsprozeß veränderten Bedingungen der Realisierbarkeit von Grundrechten. Wenn das Verfassungsrecht — und insbesondere die Grundrechtstheorie — diesen sozialen Wandel wie bisher m i t einiger Verzögerung nur registriert und darauf nur reagiert 1 1 8 , dann begibt es sich jeder Chance, vom Recht her zukunftsorientiert Einfluß auf die naturwüchsig werdenden Verhältnisse zu nehmen; Verhältnisse, die dadurch geprägt sind, daß die gesellschaftlichen Disparitäten zwischen A r m und Reich, zwischen Mächtig und Ohnmächtig, zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten weiter zunehmen, der viel beschworenen Egalisierung zum Trotz 1 1 9 . 115 Vgl. dazu die Ansätze bei Offe , Politische Herrschaft, S. 178 ff. u n d bei Naschold,Organisation u n d Demokratie, S. 57 ff. 116 Auch des Gerichtsverfahrens! I m Prozeß w i r d ein auf Knappheit beruhender Interessenkonflikt, der als solcher nicht entschieden werden kann, i n einen W e r t k o n f l i k t umgeformt. Wertkonflikte aber beruhen auf Dissens — u n d dieser k a n n i m Verfahren abgearbeitet werden; vgl. Brinkmann, Konf l i k t , K o n f l i k t r e g u l i e r u n g u n d Recht, bes. S. 90. 117 Richtig sieht Harnischfeger, Die Rechtsprechung des BVerfG, S. 292 f., daß diese Einseitigkeit den Wertkonsens der Bevölkerung zerstören kann. 118 Vgl. dazu die K r i t i k bei Harnischfeger, S. 230 ff. 119 Vgl. zur K a p i t a l v e r t e i l u n g Huffschmid, Die P o l i t i k des Kapitals, bes. S. 28 ff.; zur Machtverteilung Jaeggi, Macht u n d Herrschaft, bes. S. 40 ff.; das

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Die Verdichtung unterschiedlicher Interessen zu konsensgetragenen Werten muß demnach — betrachtet man sie unter dem Aspekt kommunikativen Handelns — als asymmetrischer Prozeß gesehen werden, welcher von vornherein durch „systematische Verzerrungen der Komm u n i k a t i o n " 1 2 0 einen „gerechten" 1 2 1 Interessenausgleich verhindert. Hieran ändert auch „Öffentlichkeit" als Verfassungsprinzip nichts, denn Öffentlichkeit als öffentliches Verfahren, öffentliche Diskussion oder öffentliche Kontrolle ist ihrerseits deformiert durch die Ungleichgewichte der M i t t e l - und Machtverteilungen, was paradigmatisch bei der öffentlichen Meinungsfreiheit des A r t . 5 I GG deutlich w i r d 1 2 2 , öffentliche Kommunikation ist Voraussetzung für einen Wertkonsens. Dies impliziert, daß alle Verzerrungen der Kommunikation unmittelbar durchschlagen auf den Charakter des Konsenses und es hier unumgänglich wird, authentischen Konsens 1 2 3 — und nur dieser kann beanspruchen, das Gemeinwohl 1 2 4 zu repräsentieren — und Scheinkonsens zu unterscheiden. Sobald das Zauberwort »Gemeinwohl* auftaucht, ist daher kritische Distanz angebracht. Denn es ist keineswegs so, daß verfassungsrechtliche Wertentscheidungen eo ipso das authentische Gemeinwohl darstellen 1 2 6 . Die Schwierigkeit rationaler Wertdiskussion, nämlich das Problem der Begründbarkeit von Werten aufgrund intersubjektiv vermittelbarer Kriterien des richtigen Verhaltens, ist insofern identisch m i t der Schwierigkeit, auf dem Anspruchniveau einer freiheitlichen Demokratie „Öffentlichkeit" herzustellen, öffentliche Diskussion als Verfahrensmaxime durchzuhalten. Zwischen der Utopie einer „all-channel-communication", einer „direkten Demokratie" 1 2 6 und der ebenso radikalen Wirklichkeit oligarchisierter und über Interessenverbände gebündelter Partialinteressen, welche zum Allgemeininteresse erhoben werden, BVerfGE 32, 157 (157) spricht sogar schon v o n einer „radikal-egalitären parteien-staatlichen Demokratie" — soweit sind w i r noch lange nicht! 120 Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 255. 121 „Gerecht" hier i m Sinne Perelmanns, der gerade den k o m m u n i k a t i v e n Aspekt der Konstitutierung von Gerechtigkeit betont: vgl. Perelmann, Über die Gerechtigkeit, S. 132 ff.; eine systemtheoretische Behandlung der „Gerechtigkeit" jetzt bei Luhmann, Gerechtigkeit, bes. S. 142 u n d S. 153 f. 122 Vgl. Ehmke, Verfassungsrechtliche Fragen, S. 77 ff. 128 Aufschlußreiche Gesichtspunkte zum Problem des authentischen K o n senses bei Etzioni, The A c t i v e Society, S. 351 f. u n d 619 ff. u n d bei Naschold, Die systemtheoretische Analyse, S. 28 ff. 124 Z u m Zusammenhang von Öffentlichkeit u n d Gemeinwohl vgl. Häberle, Öffentlichkeit u n d Verfassung, bes. S. 287. 125 Vgl. Dahrendorf, Ungleichheit, S. 30 ff., der darauf hinweist, daß die Herrschaftsstrukturen einer Gesellschaft ein System der Ungleichheit i n Form sozialer Schichtungen nach sich ziehen, welche nicht ohne Einfluß auf N o r m b i l d u n g u n d die Sanktionierung der Normen ist. 128 Vgl. dazu Naschold, Organisation u n d Demokratie, S. 24 ff. u n d S. 30.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

liegt die nicht als Kompromiß, sondern als Weiterentwicklung konzipierte Idee einer „ A k t i v e n Gesellschaft" 127 welche i n der Lage ist, Interessendivergenzen i n authentischen Wertkonsens zu transformieren. Daß Grundrechtstheorie und Verfassungsrecht solchen Konzepten nicht gleichgültig oder m i t der Arroganz selbstgenügsamer Wissenschaften gegenüberstehen können, w i r d dann deutlich, wenn Grundbegriffe der Demokratie wie Öffentlichkeit, Gemeinwohl, Konsens oder authentische Willensbildung i m Lichte grundrechtlicher Wertentscheidungen gesehen werden; und wenn diese Wertentscheidungen nicht mehr nur auf philosophischer Ebene erklärt werden, sondern durch eine sozialwissenschaftliche Infragestellung den Charakter einer Aufforderung zur Veränderung der verfassungswidrigen und überlebten Wirklichkeit erhalten: i n diesem aktivierenden Moment erst finden die Grundrechte zurück zu ihrem Ursprung: dem aufklärerischen Elan der kontinental-europäischen Menschenrechtserklärungen 128 . 2.3. Folgerungen

I n diesem Abschnitt sollte gezeigt werden, daß eine sozialwissenschaftliche Reflexion der Funktion von Werten und eine Beleuchtung des Zusammenhanges zwischen Interessen, Werten und Konsens zu einer Konkretisierung der Wertediskussion i n der Rechtswissenschaft beitragen kann. Dies i n mehrerer Hinsicht: 1. Für eine als Sozialwissenschaft sich verstehende Rechtswissenschaft sind Werte nicht metaphysische, idealistische Größen i m wertphilosophischen Sinne, sondern konsensgetragene Vorzugsregeln. Sie strukturieren Entscheidungsmöglichkeiten und leiten als Selektionsgesichtspunkte Entscheidungsprozesse. I n dieser Funktion sind sie nicht metajuristisch, wie Forsthoff 1 2 9 und Luhmann meinen, sondern auf einer höheren Generalisierungsstufe ebenso Entscheidungsprogramme, wie Zweckprogramme oder Konditionalprogramme auch. 2. Werte dienen auf einer Ebene hoher Generalisierung dazu, das Handeln sozialer Einheiten zu stabilisieren und zu orientieren. Diese Leistung können Werte erbringen, w e i l sie als Vorzugsregeln i n Bezug 127 I. S. Etzionis, The A c t i v e Society, bes. S. 4 f. u n d ders., Elemente einer Makrosoziologie, S. 165 ff. : einer Gesellschaft also, die sowohl hohen Konsens als auch intensive K o n t r o l l e bereitzustellen i n der Lage ist. 128 Vgl. n u r den kurzen Überblick bei Harnischfeger, Die Rechtsprechung des BVerfG, S. 295 ff. u n d Bloch, Würde, S. 175 ff. 129 Vgl. die Polemik Forsthoffs, Die Umbildung, S. 152 ff., gegen Werte u n d Wertsysteme, die allerdings n u r i n die Alternative eines überlebten u n d die Probleme nicht lösenden Positivismus hinausläuft, auch w e n n Forsthoff nicht als Positivist erscheinen w i l l . E i n solcher Positivismus genügt schon deshalb nicht mehr, w e i l der Sozialstaat m i t juristischen Konditionalprogrammen nicht auskommt. Vgl. dazu Luhmann, Zweckbegriff, S. 105.

2. Zum Problem der Wertanalyse

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auf bestimmte Ziele durch — tatsächlichen oder unterstellten — Konsens legitimiert sind. Habermas zeigt nun, daß dieser Konsens latente Interessendivergenzen innerhalb der jeweiligen sozialen Einheit überbrückt. Bricht dieser Konsens, so treten die zugrunde liegenden Interessen manifest hervor: das konsensgetragene kommunikative Handeln weicht strategischem, interessenorientierten Handeln, welches dann zu einer Neudefinition von Werten führen kann. Für die juristische Entscheidungsarbeit bedeutet dies, daß Wertkonflikte nie als solche gelöst werden können; vielmehr setzt eine rational begründbare Entscheidung voraus, daß die hinter den Werten stehenden Interessen erkannt, i n den sozialen Zusammenhang des Problembereiches, den die Entscheidung betrifft, eingeordnet und schließlich gewichtet werden. 3. Dieser Zusammenhang von Werten und Interessen, der u m die Frage kreist, ob ein vorausgesetzter Konsens aufrechterhalten oder aufgekündigt w i r d , zwingt auch zum Überdenken der Funktion des gerichtlichen Verfahrens. Die von L u h m a n n 1 8 0 herausgestellte Legitimierungsfunktion des Verfahrens als Verfahren wurde von Esser 131 bezüglich der Verfahrenswirklichkeit und von Habermas 1 3 2 bezüglich der Bedingungen der Legitimität kritisch gewürdigt. Darüber hinaus macht B r i n k m a n n 1 3 3 i m Anschluß an Aubert deutlich, daß ein Grundproblem juristischer Verfahren darin besteht, Konflikte entscheidbar zu machen 134 , und daß zu diesem Zweck Interessenkonflikte i n Wertkonflikte umgeformt werden müssen. Dies aber kann i n der Weise geschehen, daß den Kontrahenten entweder zu einem Konfliktbewußtsein verholfen wird, welches ihnen erlaubt, ihre Interessen zu artikulieren, oder daß i h r mögliches Konfliktbewußtsein abgeblockt w i r d : „diese Alternative steht für den Unterschied zwischen denkbarer Katalysatorfunktion eines Mechanismus bei rationaler Konfliktbewältigung . . . und Unterdrückungsfunktion, wo Konfliktpotentiale der subjektiven Ebene durch sprachliche Verschleierung absorbiert oder durch Rituale gebunden w i r d " 1 3 5 . 4. Gegen diese Sicht ist der Einwand denkbar, daß eine Offenlegung von Interessen- und Wertkonflikten den Bürger überfordere und die Routine der Verfahren nur störe. Aber Routine ist auch auf der Ebene der Werte nicht alles. Parsons hat, wie oben ausgeführt, darauf hinge180

Vgl. Luhmann, Legitimation, bes. S. 28 ff., 55 ff. u n d 233 ff. Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 202 ff. 182 Vgl. Habermas, Theorie der Gesellschaft, S. 243 f. u n d ders., L e g i t i m a tionsprobleme, S. 138 ff. 188 Vgl. Brinkmann, J., S. 90 f. 184 Dies verkennt auch Luhmann nicht, vgl. ders., Legitimation, S. 230 f. 185 Brinkmann, J., S. 88 f. 181

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

wiesen, daß Wertkonflikte der K e i m sozialen Wandels sind. Neue Handlungsorientierungen können sich gerade i n sozialen Spannungsfeldern herausbilden, wenn die Spannungen i n den Norm- und Wertstrukturen ausgetragen werden 1 3 6 . Hier kann sogar den Gerichten eine „Innovationsaufgabe" (Häberle) zufallen, indem verfassungsrechtlich legitimierte Wertprogramme auch gegen eingefahrene Interessengewichtungen durchgesetzt werden 1 3 7 . 5. Die i n den Grundrechten verfassungsrechtlich institutionalisierten Werte bilden den Bereich, i n dem sich der Kreis der kulturellen Werte und der Kreis der positivierten Normen überschneiden. Deshalb leisten sie die Transformation zwischen dem „Ethos" des gesellschaftlichen Systems als dem allgemeinsten Ausdruck des herrschenden Wertkonsenses und juridifizierten und juristisch behandelbaren Normen als durchsetzbaren wechselseitigen Verhaltenserwartungen. Erst dieses Verständnis der Grundrechte als Umsetzpunkte der Abstraktions- und Selektionsebenen der Werte einerseits und der Normen andererseits 138 erklärt, warum Grundrechte weder nur als Werte i m philosophischen Sinne behandelt werden können, noch Normen i m positivistischen Verständnis sind, aus welchen durch Subsumtion i m Sinne des syllogistischen Schließens bestimmte Ergebnisse explizierbar sind 1 3 9 . Nach allem scheint es sinnvoller zu sein, das Wertdenken und den Wertbegriff i m Verfassungsrecht von ihrem wertphilosophischen Ballast zu befreien und auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage neu zu durchdenken, als beides pauschal abzulehnen, wie es ζ. B. Goerlich t u t 1 4 0 . Denn ohne eine Verankerung auch i n der Werteebene der Gesellschaft hängt die Grundrechtstheorie i n der Luft, wenn sie nicht i n dezisionistischer Verkürzung die positive Setzung der Grundrechte selbst als hinreichende Legitimitätsgrundlage ansehen w i l l . Insbesondere aber bliebe offen, welches Element die hochgeneralisierte Steuerungsfunktion konsensgetragener Werte übernehmen könnte und sollte, ΐ3β y g i dazu Böhler, S. 90 m i t Hinweis auf F. Fürstenberg. Paradigma ist die Durchsetzung der Gleichberechtigung von M a n n u n d Frau, v o n ehelichen u n d unehelichen K i n d e r n durch das B V e r f G gegen das BGB. 138 Hierzu Badura, Verfassung, S. 33 ff. Die Schwierigkeiten dieser Umsetzung kennzeichnet Badura so: „Die Aufgabe der Verfassungslehre müßte aber gerade d a r i n bestehen, die N o r m a t i v i t ä t der Verfassung jenseits der Positivität des Verfassungsgesetzes zu begründen, ohne den verfassungsstaatlichen Grundgedanken preiszugeben, daß die Verfassung den politischen Prozeß durch Recht ordnen soll." (S. 36). 189 Z u r Unterscheidung u n d Unterscheidbarkeit von W e r t u n d N o r m vgl. auch Parsons , E v o l u t i o n a r y Change, S. 129 u n d Cohen, Der handlungstheoretische Ansatz, S. 130 f. 140 Vgl. Goerlich, S. 187. 187

3. Zum Problem des Systemdenkens

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wenn diese als verfassungsrechtliche Topoi entfallen oder opportunistischer Behandlung unterfielen. Z u prüfen bleibt nun, ob das Systemdenken und der Systembegriff i n paralleler Weise rationalisiert werden können, oder ob der Systembegriff hier unüberwindbare Schwierigkeiten macht. 3. Z u m Problem des Systemdenkens 3.1. Zum Problem des Systemdenkens aus juristischer Sicht

Die vielfältigen Vorbehalte gegen ein grundrechtliches Wertsystem resultieren ebenso aus der Unschärfe des Wertbegriffs, wie aus der Unklarheit über den Systembegriff. Allerdings wissen w i r inzwischen mehr. Lautmanns Begriffsanalysen erlauben eine rationale Verständigung über einen Wertbegriff. Diese Möglichkeit, festen Boden unter die Füße zu bekommen, haben w i r bereits genützt. Bezüglich des Systembegriffes hat Canaris 1 die Vorarbeit geleistet, auf welcher aufgebaut werden kann. Der allgemeine, philosophische Systembegriff, so leitet Canaris her, weist zwei konstitutierende Merkmale auf: das der Ordnung und das der Einheit, welche i n einem engen Wechselbezug stehen 2 . Diesen beiden Merkmalen entsprechen nach Canaris i m juristischen Bereich die Prinzipien der „wertungsmäßigen Folgerichtigkeit" und der „inneren Einheit der Rechtsordnung". Die Funktion des Systemdenkens und der Systembildung i n der Rechtswissenschaft sei es daher, diese Prinzipien der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und der inneren Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen 8 . Darüber hinaus wurzele der Systemgedanke mittelbar i n der Rechtsidee: „Weit entfernt, eine Verirrung zu sein, wie die K r i t i k e r des Systemdenkens behaupten, läßt sich der Gedanke des juristischen Systems somit aus einem der obersten Rechtswerte, nämlich aus dem Gerechtigkeitsgebot und seinen Konkretisierungen i m Gleichheitssatz und i n der Tendenz zur Generalisierung rechtfertigen. Es kommt hinzu, daß auch ein anderer oberster Wert, die Rechtssicherheit i n dieselbe Richtung weist. Denn auch sie drängt . . . zur Ausbildung eines Systems,.. A " Hier deutet Canaris einen zentralen Gedanken gerade der Systembildung i m Verfassungsrecht an, ohne ihn jedoch weiter auszuführen: 1 2 8 4

Canaris , Systemdenken (1969). Canaris , S. 12. Vgl. Canaris , S. 18. Canaris , S. 17.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

den Gedanken, daß Systembildung i n besonderer Weise die Leistung ermöglicht, antinomische Anforderungen wie z.B. Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gleichzeitig zu optimieren. Allerdings ist es zur Begründung dieses Gedankens nötig, über den philosophischen Systembegriff hinaus Entwicklungen der moderneren Systemtheorie m i t einzubeziehen, eine Aufgabe, die Canaris sich nicht vorgenommen hat 6 . Aus der Funktion der Systembildung leitet Canaris seinen juristischen Systembegriff ab. Er macht klar, daß das Recht keinen logischen oder axiomatischen Systemcharakter haben kann, „denn die innere Sinneinheit des Rechts, die es i m System zu erfassen gilt, ist entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken nicht logischer, sondern wertungsmäßiger, also axiologischer A r t " 6 . Erst diese Sicht werde der Tatsache gerecht, daß die entscheidenden juristischen Denkprozesse nicht formal-logisch ablaufen und nicht allein formal-logisch kontrollierbar sind, w e i l es Aufgabe des Juristen sei, „Wertungen verstehend nachzuvollziehen, zu Ende zu denken und schließlich, auf einer letzten Stufe, selbst vorzunehmen" 7 . N u r ein teleologisches System m i t der Funktion der „rationalen Erfassung der Folgerichtigkeit rechtlicher Wertungszusammenhänge" 8 eröffne die methodischen Vorteile des Systemdenkens für den Problembereich der Rechtswissenschaft. Die strukturierenden Elemente dieser teleologischen Ordnung sind für Canaris die „allgemeinen Rechtsprinzipien", welche die Reduzierung der Vielfalt des Individuellen auf wenige tragende Grundgedanken leisten. Diese allgemeinen Rechtsprinzipien vergegenständlichen das systematische Element der inneren Einheit des Rechts dadurch, daß sie nicht aus den jeweiligen Einzelwertungen, sondern aus „den tiefer liegenden Grundwertungen" gewonnen werden. Canaris selbst führt aus, daß seine Definition des Systems — als einer teleologischen Ordnimg allgemeiner Rechtsprinzipien — aufs engste zusammenhängt m i t dem Vorschlag, System als Ordnung von Werten zu verstehen, w e i l der Übergang vom Wert zum Prinzip fließend sei. Dennoch zieht er die erste Definition vor, w e i l „das Prinzip bereits eine Stufe weiter konkretisiert ist als der Wert: anders als dieser ent6 Vgl. aber Luhmann, Rechtssystem, S. 20 f.: Gerechtigkeit u n d eine über dogmatische Begrifflichkeit gesteuerte Rechtssicherheit bezeichnen eine Doppelstrategie, i n der sich die Einheit u n d die K o m p l e x i t ä t des Rechtssystems widerspiegeln. 6 Canaris , S. 21 f.; dem folgt auch Ryffei i n seiner Rezension des Buches von Canaris, i n : DVB1. 1973, S. 88 u n d Bachof, Dogmatik, S. 198. 7 Canaris , S. 23; i n gleicher Richtung argumentiert Esser, Vorverständnis, bes. S. 133 ff. 8 Canaris, S. 43.

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hält es schon die für den Rechtsatz charakteristische Zweiteilung i n Tatbestand und Rechtsfolge" 9 . Diese Differenzierung mag aus zivilrechtlicher Perspektive sinnvoll sein; i m Verfassungsrecht aber ist sie kaum durchzuhalten. Denn dessen Besonderheit ist es gerade, i m Grundrechtsbereich durchwegs m i t allgemeinsten Aussagen arbeiten zu müssen 10 . Vier Eigenschaften sind es nach Canaris, die die systemtragende Funktion der allgemeinen Rechtsprinzipien erfüllen: 1. diese Prinzipien gelten nicht ausnahmslos und sie können i n Gegensatz zueinander treten, 2. sie sind nicht m i t dem Anspruch auf Ausschließlichkeit faßbar, 3. sie entfalten ihren Sinngehalt erst i n einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung und 4. sie bedürfen zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung, wobei auf den einzelnen Stufen der Konkretisierung immer wieder neue und eigenständige Wertgesichtspunkte dazu kommen 1 1 . Diese Eigenschaften rechtlicher Systeme implizieren notwendig, daß es sich hier nicht u m geschlossene, sondern u m offene Systeme handelt 1 2 ; u m Systeme also, die durch Anpassungsfähigkeit an veränderte Umwelten gekennzeichnet sind. Unterscheidet man m i t Canaris i m Anschluß an Eisler das wissenschaftliche System (das System der Erkenntnisse) und das objektive System (das der Gegenstände der Erkenntnisse) als die beiden Seiten auch des Rechtssystems 18 , so gilt das Postulat der Offenheit auch für beide Seiten: die objektive Seite w i r d nicht nur durch Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht variiert, sondern gerade auch durch die Wandlungen der allgemeinen Rechtsprinzipien (oder Werte) als Reaktion auf oder möglicherweise Antizipation von sozialem Wandel 1 4 . U n d das wissenschaftliche System ist ein offenes, 9

Canaris, S. 51. So sieht Wieacker i n seiner ausführlichen Besprechung des Buches von Canaris [Rechtstheorie 1 (1970), S. 107 (111)] diesen „ i n der nächsten Nähe der Wertungsjurisprudenz". 11 Vgl. Canaris, S. 52 ff.; gegen eine logische Ableitbarkeit der Konkretisierungen auch Brohm, Dogmatik, S. 259 Ν 41. 12 So f ü r das Verfassungsrecht ausdrücklich Stein, Werte u n d Wertewandel, S. 52 f. u n d S. 69 f. 18 Vgl. Canaris, S. 13; diese Unterscheidung n i m m t auch Bachof, Dogmatik, S. 224 ff. auf. 14 Diese Folgerung, die darauf hinweist, daß die Rechtswissenschaft w i e jede andere Sozial Wissenschaft durch den historisch-sozialen Wandel ihres Erkenntnisobjektes gezwungen ist, kontinuierlich ihre systematischen G r u n d lagen m i t zu verändern, zieht Canaris nicht explizit, sondern n u r i n A n d e u tungen, vgl. ders., S. 70 f. u n d S. 64. 10

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w e i l wissenschaftliche Erkenntnis auch und gerade i n der Rechtswissenschaft nur vorläufig sein kann und unter dem Vorbehalt des Angemesseneren steht. Variierende Momente des wissenschaftlichen Systems sind nach Canaris Fortschritte „der Einsicht i n die Grundwertungen des geltenden Rechts" 15 und besonders das objektive System, dessen Wandlungen das wissenschaftliche System nur nachvollziehe, mithin, „jedenfalls der Idee nach, nur aus-(spreche), was ,an sich' schon g i l t " 1 6 . Obwohl Canaris an dieser Stelle eine schwer zu durchschauende „ D i a l e k t i k " von normativ geltendem und faktisch geltendem Recht einspielt, deren Vermittlung das Gewohnheitsrecht leisten soll 1 7 , fehlt i n seiner Argumentation doch ein Aspekt des Verhältnisses von wissenschaftlichem und objektivem System völlig: die Bedeutung des (wissenschaftlichen) Systemdenkens für eine juristische Prospektik 1 8 , welche das Ziel hat, die objektiven Verhältnisse nach rechtlichen Zielvorgaben zu regeln. Der Bedarf an Prospektik ist auf dem Hintergrund eines „Führungswechsels" der Zeithorizonte für Problemlösungen von der Vergangenheit an die Zukunft zu sehen 19 . A u f die Staatstätigkeit bezogen spricht Herzog treffend von „Fortschrittsvorsorge" 20 . Dieser Führungswechsel hat nichts m i t Planungseuphorie zu tun, sondern läßt sich als A n t w o r t auf Probleme der Systemerhaltung begreifen: „ N u r i n der Zukunft vermag die Orientierung i n der Zeitdimension einen Grad an Komplexität zu erreichen, der der strukturellen Komplexität des gegenwärtigen Gesellschaftssystems entspricht 2 1 ." Erst dieser Aspekt der Notwendigkeit einer juristischen Prospektik bringt die gerade für das Verfassungsrecht wichtigste Leistung des Systemdenkens i n den Blickpunkt: die Verbindung herzustellen zwischen systemimmanenter Transparenz zur Optimierung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit einerseits und der faktischen K r a f t normativ hergeleiteter Antizipationen neuer Systemzustände andererseits. Wenn das rechtswissenschaftliche Systemdenken nur den Zweck hätte, das bereits Bestehende zu sanktionieren, das bereits Geltende abzusegnen, dann sollte es abdanken, denn Legitimationswissenschaften gibt es genug. Geht es der Rechtswissenschaft aber darum, Anschluß 15

Canaris , S. 73. Canaris , S. 72. 17 Vgl. Canaris , S. 72 f. Ν 36 u n d Ν 37. 18 Vgl. Brohm, S. 250 ff.; Häberle, Leistungsstaat, S. 69 ff. u n d f ü r das Z i v i l recht Simitis, System u n d Dogmatik, S. 151 f.; f ü r ein praktisches Beispiel vgl. Bazey, L'élément prospectif, S. 855 ff.; allgemein hierzu: Maihof er, K r i tische Jurisprudenz, S. 431 u n d S. 439 f. 19 Vgl. Luhmann, Selbst-Thematisierung, S. 36 f. 20 Herzog, Staatslehre, S. 117; vgl. auch Lang, Staatskybernetik, S. 286 f. 21 Luhmann, Weltzeit u n d Systemgeschichte, S. 104 f. 16

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an fortgeschrittenere Sozialwissenschaften zu gewinnen, u m ihre Funktion der Konfliktlösung i n der modernen Gesellschaft erfüllen zu können, so müssen ihre Systementwürfe das prospektive Element enthalten, welches angesichts der Realität rapiden sozialen Wandels allein verhindert, daß die Rechtswissenschaft weiterhin der Realität nur nachläuft 2 2 . 3.1.1. Normatives Systemdenken als Voraussetzung juristischer Prospektik Das philosophisch-dogmatische Systemdenken, i n dessen Tradition Canaris noch steht, über welches er m i t der Betonung des teleologischen Charakters rechtlicher Systeme aber schon hinausgreift, behandelt Systeme von Rechtssätzen als isolierte Einheiten. Gerade i n der Isolierung sah man die Chance adäquater Analyse. I m Gegensatz hierzu liegt die Besonderheit des Ansatzes der Allgemeinen Systemtheorie darin, die Analyse komplexer Systeme auf der Untersuchung der System-Umwelt-Beziehungen aufzubauen. Systeme heben sich von ihrer Umwelt durch spezifische Formen der Grenzstabilisierung — ζ. B. selektive Informationsverarbeitung oder andere komplexitätsreduzierende Mechanismen — ab, bleiben aber auf zweifache Weise m i t ihrer Umwelt verbunden: einmal auf der input-Seite; dort gibt die Umwelt dem System Bestände, Möglichkeiten und Probleme vor zur systeminternen Selektion und Verarbeitung. Zum anderen auf der outputSeite; dort spielt das System Verarbeitetes i n die Umwelt zurück, sei es ohne jegliche systemexterne Zielsetzung, sei es m i t dem Ziel, i n irgendeinem Interesse des Systems zweckgerichtet auf die Umwelt einzuwirken. Bezieht man dieses knapp skizzierte Gerüst der Allgemeinen Systemtheorie auf das Verhältnis zwischen einem normativen System und seiner Umwelt (dem sozialen System, auf welches es gerichtet ist), so ergibt sich sachlich nichts Neues, wenn man sagt, daß auf der inputSeite des Rechtssystems Probleme und Fragen i n Form von „Fällen" anfallen, während auf der out-put-Seite Stabilisierungsleistungen i n Form von Entscheidungen abgehen. Die Notwendigkeit und der Vorteil einer prinzipiellen Einbeziehung der Umwelt des Rechtssystems zeigt sich erst, wenn man neben der Stabilisierungsfunktion des Rechts auch die Leitfunktion des Rechts fordert oder für unumgänglich hält. Denn die Bedeutung dieser Änderung — nicht nur für das Rechtssystem, son-

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Cerroni, M a r x u n d das moderne Recht, S. 15 f o r m u l i e r t : „Gerade i n dieser Fähigkeit der Theorie zur Antizipation liegt i h r authentischster politischer Nutzen, der freilich nicht m i t der kurzen Elle der unmittelbaren Opportunitäten gemessen werden darf."

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

d e m eben für die gesamten System-Umwelt-Beziehungen — w i r d dann deutlich, wenn eine systemtheoretische Reflexion dieser Funktionserweiterung auf der output-Seite des Rechts einsetzt. Es ergibt sich, daß nicht nur die Formen der Programmierung des Rechts oder die Fälle der Auslösung des rechtlichen Verarbeitungsprozesses geändert werden müssen (kann das Recht weiterhin auf seine „Fälle" warten oder müssen selbsttätige Aktivierungsmöglichkeiten entwickelt werden?), sondern daß vor allem die Möglichkeiten gesteigert werden müssen, den Rechtsstoff systemintern i n Gärung zu bringen, „ i h n nämlich i n eine dynamische, selbstkritische Masse (zu) verwandeln" 2 8 . Die überkommene Dogmatik scheint diese Leistung nicht mehr erbringen zu können; die Rechtstheorie scheint sie noch nicht erfüllen zu können. Einige Anzeichen sprechen dafür, daß der Ausweg aus diesem Dilemma über eine Umorientierung der Dogmatik von Logik auf Teleologik und darauf aufbauend über einen Wechsel des Zeithorizontes von der Vergangenheit auf die Zukunft führt. Wirkungen, die ein System i n seiner Umwelt erzielen w i l l , sind immer zukünftige. Die Dogmatik muß daher Denkfiguren entwickeln, die eine prospektive, auf künftige Wirkungen zielende Behandlung des Rechtsstoffes erlauben. Vorläufer von großer und noch wachsender Bedeutung sind hier Schematas wie Interessen- oder Güterabwägung, Übermaßverbot, „Schaukeltheorie", Gemeinwohlfunktionen. Gemeinsam ist ihnen die eine Kontrolle verhindernde Verbindung von praktischer Wirksamkeit und theoretischer Unschärfe. A u f dieser Grundlage — so läßt sich bisher nur vermuten — läßt sich eine brauchbare juristische Prospektik nicht entfalten. Vielmehr scheint es nötig zu sein, die orientierungslos gewordene Dogmatik durch ein theoretisch fundiertes Modelldenken neu zu disziplinieren und an eine systemtheoretisch ausgerichtete Rechtstheorie anzuhängen. Dies kann hier nicht ausgeführt werden. Wichtig ist, daß der Bedarf an Prospektik i n Rechtsdogmatik und Rechtstheorie, welcher bereits vielfach zum Ausdruck kommt 2 4 , i m Rahmen einer normativen Systemtheorie durchaus theoretisch verortet werden kann. Es ist kein Zufall, daß eine juristische Prospektik gerade i m Verwaltungsrecht bereits ausdrücklich gefordert worden ist. Denn hier t r i t t die Diskrepanz zwischen traditioneller Dogmatik und den Anforderungen des modernen Leistungs- und Leitungsstaates an das Verwaltungsrecht unübersehbar hervor, während das Zivilrecht bereits i m großen Ausmaße dadurch von den neueren Entwicklungen links liegen gelassen 23 24

Luhmann, Rechtssystem, S. 13. Vgl. Luhmann, S. 53 m. w . N.

3. Zum Problem des Systemdenkens wird, daß die Parteien durch Schiedsvereinbarungen ihre Rechtsdurchsetzung schaffen können — und dies auch t u n 2 5 .

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So spricht Brohm i n Bezug auf das Verwaltungsrecht von der Leitfunktion des Rechts: „Seine Leitfunktion kann es i n einer sich beschleunigt verändernden Welt nur verwirklichen, wenn die Dogmatik auch versucht, die i n der Entwicklung angelegten Umweltveränderungen vorwegzunehmen. Insofern ist die Dogmatik auch ,Zukunftswissenschaft 4. Hier ist sie i n besonderem Maße auf die sozialwissenschaftliche Forschung angewiesen 26 . 44 Vorstellung und Begriff der Leitfunktion des Rechts rühren an die empfindliche Nahtstelle zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik. Abgesehen davon, daß diese Nahtstelle nicht geradlinig verläuft und daß die Lage dieser Grenze immer u m stritten sein wird, ist zweierlei zu betonen: Auslegung und Rechtsanwendimg sind immer schon ein Teil der Rechtspolitik insofern, als sie i m Zweifel eigenständige Wertungen erfordern; und sie werden dies i n zunehmendem Maße, w e i l knappe Rechtssetzungskapazitäten einerseits und wachsende Differenziertheit der zu regelnden Materien andererseits statt geschlossener Kodifikationen nur noch relativ generelle gesetzgeberische Impulse zulassen. Ebenso wichtig ist, daß eben deshalb die Rolle der Wisenschaft nicht mehr auf Nachvollzug und dogmatischer Einordnimg beschränkt sein kann, sondern zunehmend die Verantwortung dafür m i t umfaßt, neue Systementwürfe selbst zu entwickeln 2 7 . Relativ unproblematisch ist diese Verantwortung, wenn Alternativentwürfe i n das Gesetzgebungsverfahren eingespielt und dort übernommen werden. Schwierig ist es, wenn Rechtsprechimg und Wissenschaft ganze Komplexe — wie das Allgemeine Verwaltungsrecht oder das Arbeitsrecht, aber auch z.B. verfassungsrechtliche Teilhaberechte — entwickeln und anwenden und mangels direkter legislativer Legitimierung ihre Begründungen aus den bestehenden Normen zusammensuchen müssen. Dann kommt alles darauf an, aus dem Netz bereits legitimierter Normen durch nachvollziehbare teleologische Auslegung für neue Verknüpfungen und Ableitungen Legitimität herzustellen 28 . 25

Vgl. die rechtssoziologischen Untersuchungen bei Persson Blegvad, Schiedsverfahren u n d staatlicher Prozeß, S. 126 ff. 26 Brohm, S. 251; i n der Diskussion ausdrücklich zustimmend: Ipsen, S. 313. 27 Dies entspricht dem neueren Verständnis von Theorie als eines Prozesses, der Lösungen u n d Vorschläge i n Bezug auf bestimmte Probleme produzieren soll, vgl. Luhmann, Die Praxis der Theorie, S. 260 f., ebenso w i e dem neueren Verständnis der Dogmatik, „die nicht »apodiktisch wahre Aussagen 4 erwarten läßt, sondern n u r tentative Formeln f ü r optimale ,Modelle'".; so Esser, Dogmatisches Denken, S. 101 i m Anschluß an Wieacker.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

Die Frage ist, ob Systembildung und Systemdenken ein methodischer Ansatz ist, welcher diese Aufgabe lösen kann. Canaris rührt an den K e r n des Problems, wenn er gegen die Argumentation von Kriele nachweist, daß bei der von i h m hergeleiteten Fassung des Systembegriffes aus dem System selbst heraus Interpretationsregeln — „Systemargumente" — möglich und valide sind, ein Rechtssystem m i t h i n „teleologische oder wertungsmäßige Ableitungseignung" besitzt 29 . I n diesem Sinne könnte der vom BVerfG i n E 30, 1 (25) verwendete Begriff der „systemimmanenten Modifikation" entgegen der K r i t i k durch Häberle 3 0 durchaus methodologisch verwertbar sein. Schon Smend hat unter dem dominierenden Zweck der staatlichen Integration die Flexibilität der Verfassung betont und vorausgesetzt, „daß i h r System sich gegebenenfalls von selbst ergänzt und wandelt" 3 1 . Wenn auch die Einseitigkeit seiner Zweckdefinition kritisiert werden muß, so bleibt doch seine Einsicht von der Selbstorganisationsfähigkeit der Verfassung richtungweisend. Diese Bedeutung des Systemdenkens für die Rechtsgewinnung — und auch für eine vorausdenkende Rechtsgewinnung — ist so kontrovers und so wichtig, daß i m Folgenden versucht werden soll, einige weitere Argumente zu entwickeln. Dabei ist die Warnung Essers voranzustellen, daß Systembildung als solche überhaupt keine materiale Richtigkeitsgewähr leisten könne 3 2 . Das heißt: der Rahmen und die Elemente des Rechtssystems sind von der Rechtsordnung vorgegeben. Nicht vorgegeben und interpretativ variierbar dagegen sind Gewichtung, Verknüpfimg und Differenzierung der Elemente: systemimmanente Variation ist möglich. Oder i n Begriffen der Legitimität gesprochen: die Dogmatik kann nur innerhalb des Rahmens eines legitimierten Systems neue Legitimität schaffen, nicht aber legitimerweise den Rahmen durchbrechen; sonst überschreitet sie i m Falle der Anwendung durch die Rechtsprechung die schmale Grenze zwischen Jurisdiktion und Jurisfiktion. Die Veränderung der Rahmenbedingungen ist, analytisch gesprochen, Aufgabe einer wissenschaftlich angeleiteten Rechtspolitik und Gesetzgebung, da diese — wenigstens dem A n spruch nach — demokratisch kontrolliert sind. Daß diese analytische Trennung i n der Praxis überspielt w i r d — und i m Verfassungsrecht 28 Esser, S. 97 ff., spricht v o n der Teilhabe der von D o k t r i n u n d Praxis professionell eingeführten Rechts vor Stellungen an der „dogmatischen A u t o r i t ä t " des positiven Rechts. Diese M i t - L e g i t i m i t ä t sei erobert worden durch die „Durchlässigkeit u n d Anregung dogmatischer Modelle i m »rechtspolitischen' Bereich" (S. 100). 29 Vgl. Canaris, S. 88. 30 Vgl. Häberle, Die Abhörentscheidung, S. 145 ff. 31 Smend, Verfassung, S. 191; vgl. dazu Hesse, Verfassungswandlung, S. 131 f. u n d 136 ff. 32 Vgl. Esser, Vorverständnis, S. 96.

3. Zum Problem des Systemdenkens

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durch das BVerfG sogar i n legaler Weise 88 — bedarf keiner weiteren Erwähnimg. Interessant ist dagegen, daß i m Gegensatz zur positivistischen die neuere Dogmatik ganz bewußt ihre systemüberschreitenden, vorgreiflichen und teleologisch fortschreibenden Wertungen aufzuzeigen versucht und eine Ersatz-Legitimation sucht i n der Notwendigkeit, über den bestehenden Vorrat an Normen und Konsens hinaus zusätzlichen Konsens zu bilden 3 4 . Häberle spricht den Gerichten nicht nur eine Entlastungs- und Ausgleichsfunktion zu, sondern auch eine „Innovationsaufgabe" 85 . Diese Offenlegung ist wichtig, w e i l eine transparent gemachte Innovationsaufgabe kontrollierbar ist und deshalb m i t Konsens rechnen kann: „Die vermeintliche Wertfreiheit des juristischen Denkens ist notwendig ideologieanfälliger als die Freiheit des Richters zur Wertung, die Wertungsfreiheit, die das Ergebnis rechtfertigen oder doch plausibel machen muß 8 e ." Was die Systembildung i n der neueren Dogmatik jetzt schon leistet, ist die Abgabe verläßlicher, nachvollziehbarer Ableitungs- und Verträglichkeitsurteile, „indem die i m Aufbau und i n der Begrifflichkeit des Systems implizierten Wertungen aktualisiert werden" 8 7 . Daß diese Leistung von höchsten Gerichten oft nicht ausgeschöpft wird, w e i l diese sich nicht „zur Anerkennung klarer Prioritäten von Normen und Grundsätzen i m geltenden Recht und seinem Aufbau bereitfinden" ist allerdings entgegen Esser kein Grund für die Folgerung, aufgrund der Bedeutung systemfremder Judikate verlagere sich der dogmatische Schwerpunkt „vom ,System 4 auf die Strukturvorstellungen vom Zusammenspiel der Normen wie von den einzelnen Institutionen" 8 8 . Denn zum einen ist es gerade das auf Praxis zielende Anliegen des Systemdenkens, auch höchstrichterlicher Rechtsprechung die Bedeutung kontrollierter Variabilität vor Augen zu führen, und zum anderen besteht kein alternatives Verhältnis zwischen System und Strukturvorstellungen 8 9 . 83 Daraus zieht Bachof, Verfassungsrichter, S. 43 m i t Recht den Schluß, daß der Verfassungsrichter die Folgen seines Spruches besonders mitbedenken müsse. 34 Vgl. Esser, Dogmatisches Denken, S. 101 ff. u n d Rüthers, Institutionelles Rechtsdenken, S. 14 ff. 35 Häberle, Staatslehre, S. 128. 36 Esser, Vorverständnis, S. 116. 37 Esser, Vorverständnis, S. 96; vgl. auch Canaris, S. 98 f. u n d Esser, Dogmatisches Denken, S. 104. 38 Esser, S. 115. 39 Die Bedeutung von Strukturvorstellungen i n Bezug auf das G r u n d rechtssystem ergibt sich unter systemtheoretischen Gesichtspunkten daraus, daß die eigene S t r u k t u r eines Systems Möglichkeiten bereitstellt, „die nicht m i t den Erwartungen der U m w e l t identisch zu sein brauchen, u n d Nichtidentität m i t der U m w e l t auch auf der Ebene der Möglichkeiten gibt die Chance der Selbststeuerung". (Luhmann, Politikbegriffe, S. 224). Erst diese

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

I m Gegenteil: Strukturvorstellungen vom Zusammenspiel der Normen und „Institutionen" sind abhängige Variablen der Funktionen eines bestimmten Systems. Erst die Explikation von Systemzusammenhängen erlaubt m i t h i n unter Zugrundelegung der vorgegebenen Funktionen eines Systems Schlüsse auf mögliche, brauchbare oder optimale Strukturen. Denn genau dies bedeutet die Offenheit des Systems: daß es bei festgelegten Funktionen strukturelle Variation als A n t w o r t auf veränderte Umweltbedingungen erlaubt. Treffend bemerkt M. Dias: „The reason is because, w i t h regard to rules and concepts at any rate, their structure ist i n fact shaped by the functions which they have to perform. I n this way i t can be seen that even formal analysis of rules and concepts must take account of their purpose and actual functioning, which makes their structure fluid and adaptable and certainly not rigid 4 0 ." Insofern ist es zumindest verkürzt, wenn Esser postuliert, das System als solches sei nur eine Darstellungsform von Erkenntnissen, nicht aber Erkenntnisgrund 4 1 . Denn immer dann, wenn ohne gesetzgeberische Absicherung neue Strukturvorstellungen entwickelt werden, ist das bestehende Rechtssystem, seine Funktionen, Elemente und Beziehungsmöglichkeiten ebenso Erkenntnisgrund, wie auf objektiver Seite die veränderten Umweltdaten und -anforderungen. Ja, erst wenn das System auch Erkenntnisgrund ist, kann die Gefahr eingedämmt werden, von einer nicht demokratisch legitimierten Dogmatik systemverändernde Dezisionen vorgesetzt zu bekommen, die ihr rechtspolitisches Petitum frei — und das heißt: aus den eigenen Vorverständnissen heraus — entwickeln. Die Bindung an offene Systeme eröffnet die Möglichkeit, die alte Aporie zu überwinden, daß das Recht wandlungsfähiger Stabilisator sein soll 4 2 . Wandlungsfähig ist es durch die Entwicklung neuer Strukturmodelle, Stabilisator durch die Respektierung der durch den Gesetzgeber abgesteckten Systemgrenzen. Ein Blick auf die neuere soziologische Systemtheorie kann dazu beitragen, weitere Leistungen des Systemdenkens erkennbar zu machen. Es könnte sich zeigen, daß Problemstellungen, Methoden und TheorieMöglichkeit der Selbststeuerung aber erlaubt es, bei neuen Gefährdungslagen den vorhandenen Konsens zu überziehen — u n d dennoch „ i m System" zu bleiben. 40 Dias, Legal Theory, S. 207. 41 Vgl. Esser, Dogmatisches Denken, S. 124 u n d ders., Methodik des P r i v a t rechts, S. 15. 42 So auch Simitis, System u n d Dogmatik, S. 142 f. m i t der Ergänzimg, daß offene Systeme so lange wertlos bleiben, bis dazu eine offene Dogmatik entwickelt worden ist. Schelsky, Stabilität, S. 49, faßt diese Aporie i n den Begriff des Rechts als „dynamischer Stabilitätsfaktor v o n sozialen I n s t i t u tionen".

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bildungen der Systemtheorie Anregungen auch für die Behandlung des symbolischen Systems der Grundrechte ergeben. 3.2. Zum Problem des Systemdenkens aus soziologischer Sicht

Die Betrachtung von Gruppen, Institutionen oder Gesellschaften als soziale Systeme hat i n der Soziologie eine lange Tradition 4 8 . Keineswegs soll diese hier nachgezeichnet werden. I m folgenden Abschnitt geht es nur darum, einige Charakteristika des Systemdenkens i n der Soziologie aufzuzeigen und sie für die Frage auszuwerten, welche heuristischen Vorteile eine systemtheoretische Betrachtung der Grundrechte als normatives Wertsystem erbringen könnte. Der Universalitätsanspruch der Systemtheorie 44 impliziert, daß auch eine Menge von Symbolen (wie ζ. B. Werten) als System angesehen und unter dem Aspekt ihrer inneren Organisation (Struktur), ihrer Bedeutimg für umfassendere Systeme (Funktion), ihrer Beziehungen untereinander (Prozeß) und m i t anderen Systemen (Umweltbeziehungen) analysiert werden kann. Weiter erlaubt der Allgemeinheitsgrad der Systemtheorie, formale Schlüsselbegriffe des Systemdenkens wie Struktur, Funktion, Prozeß und Evolution (hier verstanden als Folge von System-Umwelt-Beziehungen 45 zu übernehmen und auf das hier zu behandelnde symbolische System von Werten anzuwenden. Folgende Definition werden vorgeschlagen: — Struktur: die spezifische, relativ überdauernde Ordnung der Elemente eines Systems 46 . Mögliche Ordnungen sind ζ. B. eindimensional oder mehrdimensional, hierarchisch oder nebengeordnet, offen oder geschlossen. — Funktion: der Beitrag eines Elementes oder Subsystems zur Umweltanpassung, Zielverwirklichung, Integration und Strukturerhaltung eines Systems 47 . — Prozeß: die zeitliche Abfolge von Systemzuständen, insbesondere die Umsetzung von Funktionen i n Strukturen 4 8 und umgekehrt. Mögliche Richtungen von Prozessen sind z.B. Versäulung: immer 48

Vgl. hierzu Τ jaden, Soziale Systeme, bes. S. 72 ff. Dazu Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 378 ff. 45 Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S. 150 f. 46 Abweichend der kybernetische Strukturbegriff, der die Menge der Relationen zwischen den Elementen m e i n t : vgl. Klaus, Wörterbuch, S. 625. 47 Vgl. Reimann, F u n k t i o n , S. 218; Deutsch, S. 91 f. u n d Parsons, Einige Paradigmata, S. 151 ff. 48 Dazu Luhmann, Zweckbegriff, S. 261, der diese Umsetzung als Prinzip der Systembildung versteht; vgl. auch ders., Soziologie, S. 125 f. 44

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mehr Funktionen erstarren zu Strukturen; Dynamisierung: Strukturen werden i n Funktionen aufgelöst, u m etwa m i t diesen Funktionen statt Strukturerhaltung Umweltanpassung zu bewirken. — Evolution: Veränderung von Strukturen, Funktionen und Prozessen aufgrund neuer Anforderungen der Umwelt eines Systems. Die neuere Systemtheorie ist gekennzeichnet von einer Gewichtsverlagerung i n den Beziehungen zwischen Struktur, Funktion, Prozeß und Evolution. Parsons hatte seine Systemtheorie als „ s t r u k t u r e l l funktionale" Theorie angelegt, d . h . er ging von dem Bezugsproblem eines strukturellen Rahmens für soziale Handlungen aus. I n Bezug auf diesen Rahmen definierte er dann bestimmte funktionale Voraussetzungen, die das soziale System zu erfüllen hatte 4 9 . Später verlagerte er den Schwerpunkt auf eine neue Dimension, i n der „die entsprechenden Begriffe nicht S t r u k t u r und Funktion sondern Struktur und Prozeß heißen. Der Begriff der Funktion w i r d damit zum gemeinsamen Bezugspunkt bei der Formulierung von Problemen; er ist den beiden anderen Begriffen gemeinsam und verbindet sich hinsichtlich ihrer Relevanz für den Oberbegriff des Systems" 50 . Luhmanns Systemtheorie entstand aus der K r i t i k an Parsons. Gegen dessen „strukturell-funktionale" Theorie setzte Luhmann eine „funktional-strukturelle" Systemtheorie, indem er den Begriff der Funktion i n den Mittelpunkt rückte und Struktur als eine Variable begriff, welche je nach den funktionalen Systemnotwendigkeiten sich herausbilde 5 1 : „Der Grund für die Mängel der strukturell-funktionalen Systemtheorie liegt i n ihrem Prinzip selbst, darin nämlich, daß sie den Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vorordnet. Dadurch nimmt die strukturell-funktionale Theorie sich die Möglichkeit, Strukturen schlechthin zu problematisieren und nach dem Sinn von Strukturbildung, ja nach dem Sinn von Systembildung überhaupt zu fragen 5 2 ." Hier darf schon angemerkt werden, daß gerade diese veränderte Problemstellung, die ausgehend von den Funktionsbedingungen und den erwarteten funktionalen Leistungen nach dem Sinn von Struktur- und Systembildung fragt, neue Einsichten für eine Grundrechtstheorie verspricht, die die Grundrechte als ein Wertesystem begreift.

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Vgl. dazu den Überblick bei Schräder, S. 115 f. Parsons , Die jüngsten Entwicklungen, S. 34; vgl. auch ders., Evolutionary Change, S. 100. 61 Vgl. Luhmann, Soziologie, S. 113 f.; ders., F u n k t i o n u n d Kausalität, S. 10 f. u n d dazu Τ jaden, Z u r K r i t i k eines Entwurfs, S. 754 f. 52 Luhmann, Soziologie, S. 114. 60

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Der Weiterentwicklung von Parsons' Systemtheorie durch die Einbeziehung von Systemprozessen entspricht bei Luhmann das Aufgreifen von Problemen der Evolution von Systemen 63 . Evolutionstheorie ist nach Luhmann möglich als „Theorie der Systemstrukturen und -prozesse, die Evolution hervorbringen, aber nicht selbst Evolution sind" 6 4 . Er differenziert analog zur biologischen Begriffsbildung zwischen den „evolutionären Mechanismen" der Variation, der Selektion und der Stabilisierung und schlägt vor, für den Fall des Gesellschaftssystems den Variationsmechanismus primär i n der Sprache, den Selektionsmechanismus primär i n den Kommunikationsmedien und den Stabilisierungsmechanismus primär i n der Systembildung zu sehen. Es könnte aufschlußreich sein, dieses analytische Schema auf die wichtige Frage der Evolution des Grundrechtssystems anzuwenden und zu versuchen, Stabilität und Wandel der Grundrechte als Teilaspekte des Problems zu sehen, w i e Normen und sozialer Wandel zusammenhängen. I m Folgenden sollen nur einige Ansätze i m Systemdenken von Parsons und Luhmann erörtert und dann i m vierten Kapitel die Problematik unter dem Aspekt der K r i t i k von Luhmanns Grundrechtstheorie noch einmal aufgegriffen werden. 3.2.1. Parsons — Die Tendenz zur Herausbildung

von Wertsystemen

Bereits die Anfänge der moderneren soziologischen Systemtheorie bei Parsons sind gekennzeichnet durch die Auffassung, daß Werte mit der Funktion der Handlungsorientierung nicht vereinzelt nebeneinander stehen, sondern ein System bilden: „The value-orientations which commit a man to the observance of certain rules i n making selections from available alternatives are not random but tend to form a system of value-orientations which commit the individual to some organized set of rules (so that the rules themselves do not contradict one another) 5 5 ." Die Systembildung hat hier nicht nur die Funktion, die Widerspruchsfreiheit möglicher Handlungsorientierungen herzustellen, sondern sie leitet die Selektion möglicher Handlungen auch durch die Verengung der Anzahl offener Alternativen und die Hervorhebimg der Konsequenzen der verschiedenen Alternativen. Insbesondere der letzte Aspekt ist von wachsender Bedeutung i n komplexen Umwelten, i n denen eine Entscheidung eine Vielzahl von Folgen-Ketten auslöst 56 . 53 54 55 56

Vgl. Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 261 ff. Luhmann, S. 362. Parsons / Shils, S. 59. Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, S. 27 ff., 264 ff. u n d passim.

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Welche A r t des Systems aber bilden Werte? Hier kann Kluckhohn, der die Parsons / Shilssche Ausgangsthese weiterverfolgt, mangels eingehender Forschungen nur Vermutungen äußern: man kann isolierte und integrierte, allgemeine und spezifische Werte unterscheiden und ihre jeweilige Rolle bei der Entscheidung von Wertkonflikten untersuchen. Insbesondere scheint es vorgeordnete und nachgeordnete Werte zu geben, doch warnt Kluckhohn ausdrücklich vor vorschneller Hierarchie-Bildung: „There also seem to be priority values. For the most part, the more general a value the higher its priority, because i t contributes more to the coherent organization and functioning of the total system, whether a personality or a culture. However, lacking extensive research, one must be cautious about invoking the image of a pyramid of values, a neat and systematic hierarchy 5 7 ." Tatsächlich ist es nur begrenzt möglich, abstrakt Ausführungen darüber zu machen, welche A r t e n von Systemen Werte bilden. Werte sind das auf ein bestimmtes soziales System (ob Person, Gruppe, Organisation oder Gesellschaft) bezogene symbolische System 58 , welches auf höchster Ebene der Abstraktion, als „statement of central tendencies i n a range of concrete v a r i a t i o n " 5 9 bestimmte Funktionen erfüllt 6 0 . Erst wenn für einen bestimmten Fall die zu erfüllenden Funktionen expliziert sind, können auch bestimmte Folgerungen für die Struktur des jeweiligen Wertsystems gezogen werden. Allgemein läßt sich indessen schon sagen, daß Werte zwei Funktionen immer erfüllen können: die der Verhaltensorientierung (hierin sind sie funktional äquivalent zu Normen) und die der Integration (hierin liegt ihre Besonderheit gegenüber Normen). Die integrative Funktion von Werten ist für ein soziales System um so bedeutsamer, je stärker es differenziert ist und je stärker m i t h i n die zentrifugale Tendenz der relativ autonomen Subsysteme die Einheit des Gesamtsystems bedroht. Aus diesem Zusammenhang von Differenzierung und Integration leitet Parsons eine wichtige These für den Prozeß der Wert-Generalisierung ab: „The more differentiated the system, the higher the level of generality at which the value-pattern must be 57

Kluckhohn , S. 420. U n d zwar — i n der Terminologie Parsons — als T e i l des umfassenden Symbolsystems „ K u l t u r " , welches z.B. auch Sprache u n d Glaubensvorstellungen umfaßt; vgl. Parsons, Social System, S. 5 ff. Parsons weist bereits hier darauf hin, daß symbolische Systeme Kommunikationsmedien sind, ein Gedanke, den L u h m a n n aufgegriffen hat, vgl. insbesondere Luhmann, B ü r gerliche Gesellschaft, S. 186 ff. 69 Kluckhohn, S. 416. 80 Z. B. eine handlungsleitende Funktion. Während soziale Systeme Handlungssysteme sind, könnte m a n symbolische Systeme als handlungsleitende Systeme kennzeichnen. 58

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,couched' i f i t is to legitimate the more specified values of all of the differentiated parts of the social system 61 ." Gerade anhand der Integrationswirkung von Werten läßt sich zeigen, daß symbolische Systeme eine handlungsleitende Funktion für soziale Systeme haben und daß zumindest insofern die Unterscheidung von Sozialsystemen und symbolischen Systemen gerechtfertigt ist 6 2 . Die Funktionen der Verhaltensorientierung und der Integration stecken auch die beiden Problemfelder ab, der sich eine Werttheorie i m Kontext sozialen Handelns gegenübersieht: der Tendenz, über Werte Verhaltensorientierung und Verhaltensstabilisierung auf Dauer zu stellen, also Werte zu institutionalisieren und der Tendenz, über Werte Integration und Konsens der Hinterfragbarkeit zu entziehen, also Legitimität zu fingieren. Diese beiden Tendenzen sind sowohl i n der Werttheorie als auch und gerade i n der Grundrechtstheorie nicht unbekannt. Häberle hat m i t Hilfe einer institutionellen Theorie der Grundrechte ein stabiles Gleichgewichtssystem der grundrechtlichen Werte entwickelt und Luhmann hat durch die Indienstnahme der Grundrechte für die Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Differenzierimg die Frage der Legitimität durch die Feststellung des Funktionierens ersetzt. Beide Ansätze werden unten ausführlicher behandelt. Hier soll nur auf eine charakteristische Parallele aufmerksam gemacht werden: Die soziologische Systemtheorie stand von Anfang an unter dem Verdacht, als Gegenentwurf zur marxistischen Gesellschaftstheorie den Zweck zu verfolgen, die bestehenden (westlichen) Verhältnisse zu stabilisieren. I h r wurde vorgeworfen, durch eine harmonische und statische Betrachtungsweise das Problem des sozialen Wandels zu verfehlen oder es zu ignorieren; und ihr wurde vorgehalten, durch Absehen von den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft die Herrschaftsproblematik auszuklammern, m i t h i n die bestehenden Machtverhältnisse außer Frage zu stellen 6 3 . Während diese Vorwürfe gegen die Parsonssche Version der Systemtheorie zu Recht erhoben wurden und heute teilweise gegen Luhmann wieder erhoben werden müssen 64 , so steht inzwischen doch außer Zweifel, daß diese Mängel nicht notwendiger61

Parsons, Evolutionary Change, S. 126. Vgl. hierzu unter dem Aspekt der Systemsteuerung auch König, Programmsteuerungen, S. 149. 63 Vgl. n u r Narr, Der heuristische Sinn, S. 170 - 182 u n d zusammenfassend Τ jaden, Einleitung u n d Nachwort zu ders., Soziale Systeme, S. 13 ff. u n d 439 ff. 64 Der Stabilität nicht mehr vordergründig als unveränderliche Substanz begreift, „sondern als eine Relation zwischen System u n d U m w e l t , als relative Invarianz der Systemstruktur u n d der Systemgrenzen gegenüber einer veränderlichen U m w e l t " . : Luhmann, Funktionale Methode, S. 39. 62

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weise mit der Systemtheorie verbunden sind 6 5 . Vielmehr lassen veränderte Fragestellungen i m Rahmen der Systemtheorie durchaus neue Erkenntnisse zu diesen Problemen zu. Diese neueren Erkenntnisse sind deshalb für die Grundrechtstheorie von Bedeutung, weil diese nicht zufällig i n dieselben Fallen getappt ist wie die allgemeine Systemtheorie: auch die Grundrechtstheorie hat m i t der Betonung des institutionellen Charakters der Grundrechte die Tendenz bestärkt, diese m i t den hinter ihnen stehenden Werten dem sozialen Wandel zu entziehen; und sie hat das Aufgreifen der Machtproblematik gescheut, indem sie — wenn überhaupt — die Frage nach Konsens und Legitimität erst unterhalb der Ebene der Grundrechte gestellt hat. Diese Parallelität weist zugleich deutlich auf die Abhängigkeit einer Grundrechtstheorie von der zugrundeliegenden Verfassungs- und Gesellschaftstheorie hin. Erst eine i n kritischer Absicht weiterentwickelte Gesellschaftstheorie vermag die Impulse zu geben, die nötig sind, um apologetischen Elemente i n den überkommenen Grundrechtstheorien i n systematischer Weise auf die Spur zu kommen. Andererseits spricht viel für die Vermutung, daß die angedeuteten Fehlentwicklungen der allgemeinen Systemtheorie m i t darauf zurückzuführen sind, daß sie die geltende Wert-Orientierung von Systemen etwa durch Verfassungen als unwandelbare Größe übernommen hat und ohne Unterstützung und Denkanstöße durch die Verfassungs- und Grundrechtstheorie auskommen mußte 6 6 . 3.2.2. Luhmann — Der Einbau von Lernfähigkeit

in das Recht

Insofern ist es bezeichnend, daß Luhmann, der sowohl (Grund-)Rechtstheorie als auch Systemtheorie betreibt, einige Gedanken vorgebracht hat, die auf neue Lösungsmöglichkeiten weisen. I n rechtssoziologischer Perspektive fällt auf, daß modernes Recht nicht mehr das lex eternum eines göttlichen Gesetzgebers ist, sondern gesetztes, positiviertes Recht. Die Positivierung des Rechts ist die A n t wort auf das Problem, „ w i e eine Gesellschaft auf der Ebene ihrer Normen strukturelle Variabilität erreichen und sicherstellen k a n n " 6 7 . Posit i vität des Rechts bedeutet nach Luhmann: 1. daß Recht i n einem Gesetzgebungsverfahren durch Entscheidung gesetzt w i r d und daß die normative Geltung des Rechts auf dieser Entscheidimg beruht 6 8 ; 65 Vgl. Narr, Der heuristische Sinn, S. 174 f. u n d S. 181; Τ jaden, Soziale Systeme, S. 30 f.; Buckley, Systemtheoretische Ansätze, S. 161 ff. ββ Z u einer ähnlichen Folgerung k o m m t Schelsky, Personfunktionaler Ansatz, S. 39. 67 Luhmann, Positivität des Rechts, S. 176.

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2. die Legalisierung von Rechtsänderungen und 3. das Bewußtsein von der Kontingenz des Rechts, die beinhaltet, daß die Setzung Auswahl ist aus Möglichkeiten, die auch hätten gewählt werden können 6 9 . Der evolutionäre Fortschritt der Positivierung des Rechts liegt demnach darin, daß i n das Recht Lernfähigkeit eingebaut wird, obwohl diese i m Widerspruch zur normativen Grundeinstellung allen Rechts steht 7 0 : das Recht kann i m Prozeß der Rechtsetzung veränderten Umweltbedingungen angepaßt werden, ohne daß hierdurch die Stabilisierungsfunktion des Rechts als „kontrafaktisch stabilisierter Verhaltenserwartungen" 7 1 beeinträchtigt würde. Diese Lernfähigkeit des Rechts durch positive Rechtsetzung konnte i n einer Periode allmählichen sozialen Wandels genügen. Dem rapiden und umfassenden sozialen Wandel moderner hochindustrialisierter Gesellschaften ist sie indessen nicht mehr gewachsen, insbesondere, w e i l die Rechtssetzungskapazitäten nicht ausreichen. Noch weniger angemessen ist diese A r t der Lernfähigkeit aber der Aufgabe, Recht als Instrument planmäßiger Veränderung der Wirklichkeit einzusetzen, was sich exemplarisch an der Hilfslosigkeit des Rechts gegenüber bereits laufender Planung und neuer Planimgsprozesse zeigt 7 2 . Entscheidend für das Überleben des Redits als normatives Regulativ sozialer Beziehungen w i r d daher die Frage, wie sowohl kategorial als auch institutionell Problemlösungsfähigkeiten i n das Recht eingebaut werden können, „die als Kapazitäten für Analyse und Entscheidung, für lernende Umstrukturierung und Anpassung von Programmen" 7 8 dem nur scheinbar widersinnigen Postulat normativer Flexibilität genügen. Etwas unscharf spricht Luhmann i n diesem Zusammenhang von der absehbaren Tendenz „einer Verlagerung des evolutionären Primats von normativen auf kognitive Mechanismen" 74 ; denn nicht um eine Verlagerung geht es, sondern u m eine Verbindung. Recht als Struktur des Regelungszusammenhanges sozialer Prozesse behält nicht nur seinen normativen Charakter, w e i l die Vielfalt der abstimmungsbedürftigen sozialen Prozesse einen hohen Bedarf an Regeln zur Folge 68 Vgl. zur K r i t i k an dieser dezisionistischen Verkürzung aber Habermas, Legitimationsprobleme, S. 139. 69 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 208 ff. 70 Vgl. Luhmann, S. 340. 71 Luhmann, S. 43. 72 Vgl. Wagener, Entwicklungsplanung, S. 97 f. u n d Luhmann, Systemtheoretische Beiträge, S. 269 m. w . N. 78 Luhmann, Rechtsoziologie, S. 341; vgl. auch ders., Evolution des Rechts, S. 19 f. 74 Luhmann, Rechtsoziologie, S. 340.

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II. Die Grundrechte als Wertsystem

hat, die für einen kalkulierbaren Zeitraum invariant gestellt sind; sondern der normative Charakter des Rechts w i r d an Bedeutung gewinnen, w e i l die zunehmende Leitungsbedürftigkeit hochkomplexer Gesellschaften normative Entwürfe, Modelle 7 5 , gar Experimente 7 6 erfordert, die nicht als A b b i l d der Wirklichkeit diese stabilisieren, sondern die auf die Wirklichkeit planmäßig einwirken, um sie mit dem Modell i n Übereinstimmung zu bringen. Eher indirekte Leitungsmittel sind heute schon Steuern 77 , Gebühren 7 8 oder Subventionen. Bereits heute schon könnte die Verfassung selbst — nähme man ihre „erzieherische Funktion" ernst — als Gegenentwurf zur Wirklichkeit aufgefaßt werden; und teilweise w i r d sie auch so aufgefaßt 79 . N i m m t demnach die normative Bedeutung des Rechts nicht ab, so ist es u m so dringender, kognitive Mechanismen, Lernkapazitäten i n dieses Recht einzubauen, u m zu verhindern, daß das Recht m i t seiner Setzung schon Anachronismus ist. Wie oft bei der Überwindung evolutionärer Schwellen liegt auch hier die Lösung nicht i m Übergang von dem einem auf ein anderes Prinzip, sondern i n der gleichzeitigen Leistungssteigerung konkurrierender Prinzipien: normative und kognitive Mechanismen zusammen erst steigern die Lernfähigkeit des Rechts ohne dessen Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion zu beeinträchtigen. Wie aber sollen diese kognitiven Mechanismen aussehen? Hierauf geht Luhmann i n seinem eher beiläufig geäußerten Gedanken des Einbaues von Lernkapazitäten i n das Recht nicht ein. Bereits praktizierte Mechanismen dieser A r t sind z.B. die Generalklauseln 86 , die Hereinnahme von speziellem Sachverstand i n offene Tatbestände 81 oder 75

Vgl. Callies, Rechtstheorie, S. 286 f. Vgl. Beutel, Die experimentelle Rechtswissenschaft, bes. Kap. I I u n d ausführlich zu praktischen Anwendungsmöglichkeiten v o n Modellversuchen u n d Simulation: Hopt, Experiment u n d Datenverarbeitung, bes. S. 68 ff. u n d ders., Simulation u n d Planspiel, bes. S. 22 ff. ; vgl. auch die Methode des „sequential decision m a k i n g " bei Dror, Möglichkeiten u n d Grenzen, S. 14 u n d seine aufschlußreichen Beispielsfälle. 77 Dazu unter dem Aspekt einer Typologie der Leistungsgesetze: Häberle, „Leistungsrecht", S. 464 f. 78 Vgl. dazu Kloepfer, Die lenkende Gebühr, S. 232 ff. 79 So nach rückwärts, auf die Entstehungszeit des Grundgesetzes gewendet Abendroth, Das Grundgesetz, S. 12 ff. u n d auf die Z u k u n f t gerichtet Hartwich, Sozialstaatspostulat, bes. S. 344 ff., Grimm, Verfassungsfunktion, S. 499 ff. u n d Schmid , Grundgesetz, S. 12 f.; vgl. auch Hesse, Grundzüge, S. 20 u n d Herzog, Staatslehre, S. 319 ff., der die Verfassung als „besseres Gewissen der Gesellschaft" bezeichnet; dem k a n n m a n zustimmen, w e n n m a n m i t Luhmann, Gewissensfreiheit, S. 264 ff., »Gewissen4 f u n k t i o n a l als oberste Kontrollinstanz versteht. 80 Dazu aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die aufschlußreiche Arbeit von Teubner, Standards, bes. S. 65 ff. 81 So stellt z. B. das B V e r f G zu A r t . 55 E G B G B ausdrücklich fest, (BVerfGE 7, 342 [351], 7), daß dieser als „eine N o r m m i t wechselndem I n h a l t " 76

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die Koppelung von Normen m i t dem Erkenntnisfortschritt bestimmter Wissenschaften (vgl. das Beispiel oben I I . 1.2. Ν 106). Über diese eher punktuellen Ansätze hinaus geht es aber darum, auf allgemeinerer Ebene normative Strukturen flexibler und umweltempfindlicher zu machen. Theoretische Vorarbeiten hierzu bietet der Ansatz der ,institutionellen Selbstorganisation 482 und der Ansatz einer Selbststeuerung von Systemen durch Strukturvariation bei vorgegebenen Zielen, oder durch Prozeßvariation bei vorgegebenen Strukturen 8 8 . U m diese Selbststeuerung von Systemen zu veranschaulichen, kann ein Ergebnis des juristischen Systemdenkens herangezogen werden, nach dem das (bestimmte, rechtliche) System selbst als Gesichtspunkt der Rechtsgewinnung herangezogen w i r d (vgl. dazu oben II. 3.1.); dies bedeutet, daß aus dem Systemcharakter einer Menge von Rechtssätzen Ableitungen und Folgerungen möglich sind, die nicht aus den einzelnen Systemelementen selbst, sondern erst aus deren Zusammenspiel, ihren möglichen Ordnungen, ihren Kombinationsmöglichkeiten entstehen. Ja, es ist zu fragen, ob das Postulat des Systems als Erkenntnisgrund für symbolische Systeme nicht gleichbedeutend ist m i t Luhmanns Postulat der Selbstthematisierung sozialer Systeme als reflexivem Prozeß durch den „die Einheit des Systems für Teile des Systems — seien es Teilsysteme, Teilprozesse, gelegentliche A k t e — zugänglich w i r d " 8 4 . Ob eine Menge von Rechtssätzen ein System bilden, ist eine Frage des Normensystems, also des Systems der Gegenstände. Welche Arten des Zusammenspiels, welche Ordnungen und Kombinationen möglich sind, wie diese wissenschaftlich kontrollierbar darzustellen und welche allgemeinen Prinzipien hier erkennbar sind, ist eine Frage des Systems der Erkenntnisse über den Gegenstand ,Normensystem