Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittelalterlichen gentes 9783412300067, 9783412001773


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Stammesbildung und Verfassung: Das Werden der frühmittelalterlichen gentes
 9783412300067, 9783412001773

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R. WENSKUS • STAMMESBILDUNG UND VERFASSUNG

STAMMESBILDUNG U N D VERFASSUNG Das Werden der frühmittelalterlichen gentes

VON

REINHARD

WENSKUS

19 6 1

BÜHLAU

VERLAG

KÖLN

GRAZ

Gedruckt mit Unterstützung der Deutsdien Forschungsgemeinschaft

Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1961 by Böhlau Verlag, Köln Gesamtherstellung: A. Laumannsdie Verlagsbuchhandlung, Dülmen (Westf.) Printed in Germany

INHALT

Vorwort

VII

I. Einleitung

1

II. Die Aspekte des Stammesbegriffs 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

14

Der Stamm als Abstammungsgemeinschaft . . Der Stamm als Heiratsgemeinschaft Gautyp und Rasse Die Einheitlichkeit der Abstammung Der Stamm als Friedensgemeinschaft Der Stamm als Rechtsgemeinsdiaft Der Stamm als Siedlungsgemeinschaft Der Stamm als politische Gemeinschaft Der Stamm als Traditionsgemeinschaft Der Stamm als Teil eines Volkes Der Stamm als Sprach- und Kulturgemeinschaft . Einige Schlußfolgerungen

.

.

.

.

14 17 32 33 35 38 44 46 54 82 87 107

III. Bemerkungen zum Problem der sogen, „ethnischen Deutung" vorgeschichtlicher Fundgruppen

113

A. Wieweit kann man damit rechnen, daß sich Fundgruppe und Sprachgruppe decken, bzw. überhaupt in eine unmittelbare Beziehung bringen lassen?

124

B. Sprachliche Zuordnung und ethnische Deutung .

133

.

.

.

C. Die Fundgruppe als Einheit IV. Die Entstehung der ethnischen Verhältnisse Germaniens zur Römerzeit

134

143

A. Zwei Denkschemata

143

B. Kann man mit einem indogermanischen „Urvolk" rechnen?

146

Inhalt

VI

Das Germanentum als ethnische Größe

152

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Das Germanentum als sprachliche Einheit . . . . Die Volcae Die Veneter Mannus Die Kultverbände und die Ethnogenese der Germanen . Die Sueben

152 210 228 234 246 255

D. Die Entstehung und Struktur der germanischen Stämme in der römischen Kaiserzeit

272

1. Die ersten „Stämme" in Mittel- und Nordeuropa 2. Stämme, die älter sind als das Germanentum . 3. Struktur und Verfassung der alten Stämme und Umgestaltung in der vorchristlichen Eisenzeit .

. .

. . ihre . .

273 285 299

a) Der Stamm als politische Einheit (299), b) Sippe und Stamm (300), c) Das archaische Sakralkönigtum und das erste Auftreten herrschaftlicher Züge in der Verfassung (305), d) Die Vorrangordnung urtümlicher Verfassungen: König und Adel — Älteste — Abkunft, Amt und Besitz — Reiterei (314), e) Die Hundertschar, Männerbünde (335), f) Herrschaft und Führung (339), g) Die Entstehung der Gefolgschaften (346), h) Die erste germanische Wanderungsbewegung und ihre sozialen Folgen (374), i) Die gallisch-westgermanische „Revolution" (409)

V. Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

.

A. Die neuen Formen der Stammesbildung

429 429

1. Abspaltung unter gleichzeitiger Verlegung des Siedlungsraumes 2. Die Abspaltung bei Beibehaltung des Siedlungsraumes . 3. Angliederung und Ansaugung während der Wanderung 4. Akkumulationserscheinungen bei und nach der Landnahme und im Heimatgebiet

445

B. Die gentes der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters

458

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Die Die Die Die Die

Goten Langobarden Alamannen Franken Sachsen und Friesen Thüringer

431 437 439

462 485 494 512 541 551

Inhalt

VII

7. Die Baiern

560

8. Die Hessen

570

C. Ausblick

573

Exkurs: hendinos und sinistus.

Bemerkungen zur Entstehung des

Heerkönigtums

576

Nachtrag

583

Abkürzungen

586

Literatur

589

Register

633 Am Schluß des Bandes:

Karte 1: Kulturgruppen und Stämme vor der ersten germanischen „Völkerwanderung" mit Erläuterungen Karte 2: Die Verfassung der keltisch-germanischen Völkerschaften in der Zeit zwischen Caesar und Tacitus mit Erläuterungen

V O R W O R T

Vor etwa 150 Jahren mag die Verknüpfung der Begriffe „Stammesbildung" und „Verfassung" einigermaßen befremdlich angemutet haben. Sah man doch gerade im Stamm etwas „natürlich" Gewordenes, organisch Gewachsenes, das in scharfem Gegensatz stand zur Rationalität der Verfassung der „künstlich" aufgebauten, von der Aufklärung überkommenen Staatsmaschine. Die Wissenschaften, die sich bislang vor allem mit der Erforschung der Stämme beschäftigt hatten, mußten jedoch im Laufe der Zeit einsehen, daß sich Stämme dieser Art nirgends fassen ließen. So sagte man sich ausdrücklich vom romantischen Stammesbegriff des 19. Jahrhunderts los. Dieser Absage stand auf der anderen Seite die Einsicht gegenüber, daß die Stämme nicht zu übersehende Faktoren unserer mittelalterlichen Geschichte gewesen sind, hatte doch schon A. D o v e , an dessen Forschungen man vor allem nach dem zweiten Weltkrieg in zunehmendem Maße anzuknüpfen begann, in diesem Zusammenhang vom „Wiedereintritt des nationalen Prinzips in die Weltgeschichte" zu Beginn des Mittelalters gesprochen. Diese Stämme aber, die gentes der zeitgenössischen Quellen, waren — wenigstens der Idee nach — in erster Linie politische Einheiten. Ihre Verfassung und Struktur konnte für die Formung Europas im frühen Mittelalter nicht gleichgültig sein. Die Institutionen ihrer Verfassung reichten einmal zum großen Teil weit in die Zeit vor der Völkerwanderung zurück und standen andererseits in enger Beziehung zum Werden der einzelnen gens. Hier nun ergab sich ein Problem, Gerade die Formen der Verfassung altgermanischer Zeit, über die sich — abgesehen von Unterschieden in Einzelheiten — im Laufe des 19. Jahrhunderts eine einhellige in sich geschlossene Anschauung gebildet hatte, sind heute in weiten Bereichen wieder stark umstritten. Dieses den Historiker des Mittelalters bewegende Problem kann nun leider nur dann gelöst werden, wenn er auf Quellen zurückgreift, die ihm von Haus aus nicht vertraut sind. Er würde gerne darauf verzichten, in den Bereich des Althistorikers, des Prähistorikers und des Sprachwissenschaftlers einzudringen. Aber seine Fragestellung liegt diesen Disziplinen ferner, und er erhält über das, was ihn in jenen Zeiten besonders interessiert, keine oder doch nur ungenügende Auskunft. So muß er denn immer wieder die Gefahren eines Vorstoßes in eine terra incognita auf sich nehmen und das Risiko einer Fehlinterpretation eingehen. Auch diese Untersuchung ist voll solcher Übergriffe auf das Gebiet fremder Disziplinen, und der Verfasser kann nur hoffen, daß man seinem Bemühen

X

Vorwort

um die Erkenntnis im allgemeinen den Irrtum im einzelnen nachsehen möge. Er wird f ü r jede Richtigstellung dankbar sein. Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung von verschiedenen Seiten kaum zustande gekommen. Für vielerlei Hinweise bin idi den Herren Professoren H . Büttner, W. Dehn und W. Sdilesinger zu großem Dank verpflichtet. Für die großzügige Förderung seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch Forschungsstipendien und einen nicht unerheblichen Zuschuß zu den Druckkosten möchte ich an dieser Stelle gleichfalls meinen Dank aussprechen. Marburg a. d. Lahn, Frühjahr 1961 R. W e n s k u s

I. E I N L E I T U N G

Nichts kann die Bedeutung politischer Ideen im Geschichtsprozeß besser beleuchten als die Zertrümmerung des römischen Reiches. Diese Behauptung mag übertrieben erscheinen; w a r es nicht im Gegenteil die nackte Gewalt naivunbefangener Barbarenheere, die den Raum eines sich als universale Macht verstehenden Reiches mit einem ausgeprägten Staats- und Kulturbewußtsein aufsplitterte und für die ganze Folgezeit zu einem System rivalisierender Nachfolgestaaten umgestaltete? So selbstverständlich diese Auffassung noch vor kurzem erschien, so fragwürdig ist sie uns heute. Es lag keine geschichtliche Zwangsläufigkeit darin, daß die erobernden Germanenstämme, angetrieben vom Streben nach Macht und Reichtum und scheinbar ohne eigene politische Konzeptionen, zu Reichsbildnern werden mußten. Vergleichen wir doch die Verhältnisse in dem Universalreich am anderen Ende der Alten Welt. Große Teile Chinas wurden fast zur gleichen Zeit (vom 4. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts) die Beute verschiedener „barbarischer" Völker und Dynastien. Doch die „sechzehn Reiche" im Norden des Landes hatten keinen Bestand. Der konfuzianische Universalismus triumphierte über sie und wurde nach der Einigung durch die Sui zur Grundlage des neuen Weltreichs der T'ang. Die Fremdstämmigen wurden sehr rasch eingeschmolzen und traten als Typen eigener Prägung nicht mehr hervor. Warum gelang es dann im Westen nicht, die Mehrzahl der eindringenden Barbaren zu Trägern des römischen Staats- und Kulturbewußtseins zu machen? Es müßte doch ein leichtes gewesen sein, unter den vom Glanz Roms geblendeten Barbaren aus dem Norden den römischen Reichsgedanken zu erhalten. Warum wurde Norditalien zur Lombardei, Britannien zu England, Gallien zu Frankreich? Wie konnte es dazu kommen, daß der Romanisierung der Franken eine „Frankisierung der Romanen" parallel lief 1 , daß die Romanen Nordgalliens das fränkische Volksbewußtsein annahmen? Es war eben mehr geschehen als nur eine Besitzergreifung von Teilen römischen Bodens. Gleichzeitig vollzog sich der Einbruch eines neuen politischen Bewußtseins in den Raum der antiken Geschichte, das dem spätrömischen Staatsdenken geradezu „entgegengesetzt" war 2 . Diese Er») H . LÖWE, i n : D A 9 ( 1 9 5 2 ) , S. 3 7 3 . H . BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staats Vorstellungen, i n : Vorträge und Forschungen III (1956), S. 219 f. 2)

2

Einleitung

kenntnis, bereits 1916 bei A. D o v e in seinen „Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens" 3 aufleuchtend, blieb lange Zeit unbeachtet, bis sie gleichzeitig und unabhängig voneinander von zwei Seiten wieder aufgegriffen wurde 4 . Der „G e n t i 1 i s m u s" der landnehmenden Stämme war als Denkform politisch stärker als das römische Reichsbewußtsein der Provinzialen. Die gentes der Barbaren, die sich als Abstammungsgemeinschaften empfanden, preßten in ihr politisches Denkschema auch das Römertum hinein, das fortan als eine gens unter anderen betrachtet wurde. Die Gedankenwelt dieses gentilen Bewußtseins, besonders von W. F r i t z e eingehend dargestellt 5 , weist nun eine ganze Reihe gemeinsamer Züge mit dem von der Ethnosoziologie in neuerer Zeit herausgearbeiteten ethnischen Bewußtsein der sogenannten „Naturvölker" auf. Daneben gibt es jedoch manche Besonderheit, die sich gegen den Hintergrund der ethnosoziologischen Typik abhebt. Die Bedeutung dieser Erscheinungen f ü r die spätere abendländische Geschichte erfordert eine eingehendere Analyse dieser Übereinstimmungen und Unterschiede, die uns den „Gentiiismus" als die besondere völkerwanderungszeitliche germanische Form des ethnischen Bewußtseins in ihrer Eigenart näherbringen soll Die allgemeinste Aussage, die wir über den Stamm machen können, ist die, daß er als eine Gemeinschaft von Menschen ein s o z i a l e s G e b i l d e ist. Als ein solches ist er Gegenstand der Ethnosoziologie und politischen Ethnologie. Beides sind vergleichsweise sehr junge Disziplinen mit allen Vorzügen und Mängeln, die einer jungen Wissenschaft anhaften. Daher sind sie auch noch nicht imstande, uns eine ausgebildete „Theorie vom Ethnos" zu liefern, die das letzte Ziel dieser Forscbungsrichtung bleibt 6 . Für unsere Zwecke ist dieser Forschungsstand nicht einmal immer von Nachteil. Die zahlreichen Beobachtungen und Einzelsätze erhielten so noch keine feste Funktion innerhalb eines theoretischen Systems, das vielleicht unserem Gegenstand nicht ganz gerecht wird. Sie sind daher noch nicht durch dieses System mitdeterminiert und eignen sich so besser zum Vergleich. Um Mißverständnisse zu vermeiden, müssen einige Worte zur Rechtfertigung der Methode vorausgeschickt werden. Die unliebsamen Erfahrungen mit anderen soziologischen und ethnologischen Theorien haben bei vielen Historikern und Rechtshistorikern eine ablehnende H a l t u n g gegen3) SB. Heidelb., phil.-hist. Kl. (1916). 4) H . LÖWE, in: D A 9 (1952), S. 373 ff. W. FRITZE, Untersuchungen zur frühslavischen und frühfränkischen Geschichte bis ins 7. Jahrhundert. Diss. Masch. (Marburg 1951). 5 ) Vgl. Anm. 4. Bis zur Veröffentlichung dieser Arbeit vgl. H. BEUMANN in dem Anm. 2 genannten Aufsatz S. 219 ff. «) Vgl. W. MÜHLMANN, Methodik der Völkerkunde (1938), S. 227.

Ethnosoziologie und vergleichende Methode

3

über der Anwendung soziologischer Sätze und ethnologischer Parallelen hervorgerufen. Es ist sicher gerechtfertigt, daß K . S. B a d e r 7 mahnt, nur wirklich Vergleichbares zu vergleichen. Wir können nicht leugnen, daß ein Hottentottenkral oder eine „indianische Horde" kein dem olkoq oder der römischen gens u n m i t t e l b a r vergleichbarer Verband ist. Doch erhebt sich jetzt die Frage, woher wir denn Kriterien besitzen, die zwei oder mehr Objekte vergleichbar machen. Die bisher herrschende Meinung hielt offenbar die Sprachgemeinschaft für ausreichend, um einen Vergleich zu rechtfertigen. So billigt etwa auch K . S. B a d e r 8 — bei aller Vorsicht — einen Vergleich innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie. Eine solche Einstellung beruht nun aber auf der heute sehr umstrittenen Annahme, daß es so etwas wie ein indogermanisches Urvolk mit relativ einheitlicher Kultur und Verfassung gegeben habe. Die ethnographische Erfahrung lehrt jedoch, daß sich Kulturraum und Sprachgemeinschaft sehr selten decken. Doch selbst wenn die erwähnte Annahme zutreffen sollte, bleibt die Schwierigkeit, daß gerade die ältesten Zeugnisse von indogermanisch sprechenden Gemeinschaften aus Räumen stammen, in denen sich indogermanische Gruppen über kulturell schon stärker differenzierte Gemeinwesen geschichtet haben, was nicht ohne nachhaltige Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse geblieben sein kann. Den gleichen Einwand kann man grundsätzlich auch dann erheben, wenn man den Vergleich auf germanisch sprechende Völkerschaften begrenzt. Immerhin liegt hier die Sache insofern etwas anders, als das Germanentum um Christi Geburt keine bloße Sprachgemeinschaft mehr war, sondern sich auf dem Wege zur ethnischen Konzentration befand 9 , der allerdings durch das Zusammentreffen mit Rom abgeschnitten wurde. Doch auch hier sind die Grundlagen in den einzelnen Räumen, die durch gemeinsame Sprachentwicklung zusammenwuchsen, durchaus verschieden gewesen. Ein Vergleich kann hier — soweit die Quellen es zulassen — dennoch fruchtbar sein. Fragwürdig wird er jedoch, wenn wir voraussetzen, es habe zu irgendeiner Zeit eine einheitliche germanische Kultur und Verfassung gegeben, und wenn der Vergleich dann benutzt wird, um diese germanische Normalverfassung zu rekonstruieren. Dieses Vorhaben erweist sich bereits im Ansatz als verfehlt, besonders dann, wenn sich damit die romantisch-idealisierende Vorstellung verbindet, diese Verfassung sei ein harmonisches System aufeinander abgestimmter Institutionen gewesen10. Isländische Quellen mögen in einzelnen Punkten eine 7) H Z 176 (1953), S. 451, Anm. 1. 8 ) Vgl. oben Anm. 7. ») Vgl. unten S. 2 1 0 — 2 7 2 . 1 0 ) Vgl. als Beispiel H . J . MADER, Sippe und Gefolgschaft bei Tacitus, S. 1. H . JANKUHN, Gemeinschaftsform S. 16, weist mit Recht auf die unerklärlichen Gegensätze innerhalb des Germanentums hin. „Darum das eine für echt germanisch, das andere für fremd zu halten, liegt zunächst keine Veranlassung vor."

Einleitung

4

gute H i l f e bei der I n t e r p r e t a t i o n der Germania des Tacitus sein, in manchen haben sie nachweislich zu Fehldeutungen geführt 1 1 . Dabei ist erst noch zu beweisen, d a ß es sich dort, wo die Parallelität bestand, u m spezifisch germanische u n d nicht allgemeinere Erscheinungen gehandelt h a t . Andererseits l ä ß t sich an vielen Stellen der Erde zeigen, d a ß die Gebiete gleicher sozialer u n d politischer S t r u k t u r nicht notwendig auf Sprachgrenzen Rücksicht nehmen 1 2 . Schon aus diesem G r u n d e müssen die N a c h b a r n immer in den Vergleich mit einbezogen werden. Tatsächlich l ä ß t es sich auch in u n serem Falle wahrscheinlich machen, d a ß die Verfassung benachbarter keltischer u n d germanischer civitates ähnlicher sein k a n n 1 3 als die der germanischen b z w . keltischen untereinander. Aus diesen Überlegungen ergibt sich erstens, d a ß der Vergleich benachbarter R ä u m e E r f o l g verspricht, u n d zweitens, d a ß der Vergleich nicht mehr mit der Absicht u n t e r n o m m e n werden d a r f , bestimmte „ U r " - F o r m e n zu rekonstruieren. D e r Vergleich von Verfassungsformen ist in seiner Anwendungsmöglichkeit noch nach einer anderen Seite hin begrenzt. Die vergleichende M e t h o d e ist in der Rechtsgeschichte nur mit Vorsidit zu benutzen, w e n n es gilt, die Verwandtschaft u n d die H e r k u n f t bestimmter Rechtsordnungen zu beweisen. B. R e h f e l d t h a t die Situation der vergleichenden Rechtswissenschaft der der vergleichenden Sprachwissenschaft gegenübergestellt 1 4 u n d k o m m t zu dem Ergebnis, d a ß in der ersten bei weitem nicht die Sicherheit zu erreichen ist wie in der zweiten. „Finden sich dagegen bei zwei Völkern gleiche Rechtsinstitutionen selbst in großer Zahl vor, so beweist das f ü r ihre U r verwandtschaft dennoch nichts. Die Ähnlichkeit zweier Rechte h ä n g t fast mehr von der allgemeinen K u l t u r - u n d Entwicklungsstufe ihrer Völker als von deren gegenseitiger Verwandtschaft ab." Als Ursache erkennt B. R e h f e l d t , d a ß die G r u n d t y p e n aller Rechtsinstitutionen auf dem ganzen E r d b a l l in vergleichsweise geringer Variationsbreite wiederkehren 1 5 .

n ) Über die Ausnahmestellung Islands in der germanischen Welt vgl. O. HÖFLER, Politische Leistung, S. 13; DERS., in: Germanien (1937), S. 193 ff.

12) V g l . U . KAHRSTEDT,

in:

PZ

28/29

(1937/38),

S. 4 0 5 ,

der

dabei

auf

die

Gleichzeitigkeit der Entwicklung zur Polis bei kleinasiatischen Griechen, Karern und Lykern hinweist. 13 ) Vgl. die besonders großen Gemeinsamkeiten, die das Germanische und das Keltische in den Bereichen des Rechts- und Staatswesens verbinden; H. KRÄHE, Sprache und Vorzeit, S. 134 ff. — Für uns ist dabei interessant, daß bei den meisten Ausdrücken sich keine Priorität des Keltischen nachweisen läßt; H. KRÄHE, aaO., S. 136. 14 ) Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, S. 105 ff. 15 ) Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, S. 106; DERS., Grenzen der vergleichenden Methode in der rechtsgesch. Forsch. (Antrittsvorlesungen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn a. Rh., H. 6). Bonn 1942, S. 6 f.

5

Ethnosoziologie und vergleichende Methode

Das beruht wieder darauf, daß viele soziale Prozesse und Strukturen sich überall auf der Welt wiederholen 16 . „Die Elemente politischer Bildung sind an keine Epoche oder Völkergruppe, an keinen Kulturkreis gebunden" 17 . Die kulturhistorische Methode 18 der Wiener ethnologischen Schule ist hier also nur sehr bedingt anwendbar. Ohne auf den Methodenstreit zwischen dieser Schule und den sogenannten „Funktionalisten" weiter einzugehen, bleibt festzustellen, daß das Material der letzteren für unsere Zwecke brauchbarer erscheint, weil sie die soziologisch-politische Seite des Völkerlebens mehr betonen 16 . Die vergleichsweise einfachen „Modelle", die uns von der Ethnosoziologie und politischen Ethnologie geliefert werden, können zuweilen auch verwickeitere Vorgänge höher organisierter Völker durchsichtiger machen20. Gerade aber der Umstand, daß sie so universal sind und daher eine Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen verhindern, macht sie für unsere Zwecke geeignet. Ihre Universalität läßt vermuten, daß sie innerhalb des Variationsbereichs auch für unseren Raum gelten. Die Beweislast für die Behauptung, diese These sei unberechtigt, liegt damit jedenfalls bei denen, die sie bestreiten. Die ethnosoziologischen Modelle entsprechen auch dem E i n z e l f a l l um so mehr, je weniger differenziert eine ethnische Einheit ist21. Während bei großen Völkern das Individuelle überwiegt, sollen die alten stammhaften Grundlagen dieser Völker noch mehr der Typik der Ethnosoziologie entsprechen22. Wir erwähnten schon, daß bereits im frühen Mittelalter bestimmte Sonderheiten des ethnischen Denkens erkennbar werden. Doch herrscht weitgehende Ubereinstimmung darüber, daß die ethnologische Typik auf die germanischen Stämme noch ohne große Bedenken angewandt werden kann 23 . Diese Gruppen sollen also noch wie „Naturvölker" zu behandeln

16

) W. E. MÜHLMANN, Gesch. d. Anthropologie, S. 223. ) W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 15. 18 ) Wie sie etwa von H . TRIMBORN, Die Methode der ethnologischen Rechtsforschung, in: Zs. f. vgl. Rechtswiss. 43 (1928), S. 416—464, angewandt wird. 19 ) Auch in der Volkskunde kann man in den letzten Jahrzehnten eine stärkere Hinwendung zu solchen Fragestellungen beobachten; vgl. O. HÖFLER, Volkskunde und politische Geschichte, in: H Z 162 (1940), S. 1—18. 20 ) W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 3. 17

21

)

V g l . B . REHFELDT,

Todesstrafen

und

Bekehrungsgeschichte,

S. 1 4 ;

DERS.,

Grenzen d. vgl. Methode, S. 6, 13. 22 ) W. E. MÜHLMANN, in: Universitas Litterarum 1954, S.274 (nach O. Hintze); DERS., Gesch. d. Anthropologie, S. 237. Audi R. THURNTFALD, in: Studium Generale 3 (1950), S. 588, warnt: „Schon das Exemplifizieren auf mittelalterliche Ereignisse kann leidit Einseitigkeiten und Voreingenommenheiten wachrufen." 23

)

V g l . e t w a A . DOVE, S t u d i e n . . . , S. 18, A n m . 4 ; S. 2 0 ; S. 2 4 ; W . E . MÜHL-

MANN, in: Universitas Litterarum (1954), S. 271; DERS., in: Studium Generale 7 (1954), S. 165.

6

Einleitung

sein. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch auch hier bereits gewisse Einschränkungen. Was ist eigentlich ein Naturvolk? W. E. M ü h l m a n n hat versucht, diese Frage zu beantworten, indem er fünf Aspekte herausstellte, nach denen ein Naturvolk zu definieren sei24. Versuchen wir einmal, diese fünf Aspekte auf die germanischen Verhältnisse anzuwenden: 1. D e r z i v i l i s a t o r i s c h e A s p e k t . Ein Naturvolk verfügt in jedem Fall nur über eine mehr oder weniger „arme Technik", wiewohl hier Unterschiede bestehen. Hier ist nach dem Maßstab zu fragen. Nehmen wir die heutigen Hochkulturen als Maßstab, so sind die Germanen offensichtlich als „Naturvolk" zu bezeichnen. Aber auch vom Standpunkt der zeitgenössischen mediterranen Hochkultur waren die Germanen zweifellos ein Naturvolk, wenn auch der Abstand nicht annähernd so groß war wie der zwischen heutigen Hochkulturvölkern und „Naturvölkern". 2. D e r p s y c h o l o g i s c h e A s p e k t . Die Angehörigen der Naturvölker verfügen nur über ein „mangelhaftes Training in gerichtetem, gezügeltem und systematisch-methodischem Denken". Dieses primitive Denken ist jedoch noch bei uns als Unterschicht vorhanden, wenn es auch „bei Naturvölkern in höherem Grade autonom" ist. Dieser Aspekt ist bereits von der antiken Ethnographie beachtet worden. Doch gerade hier werden für die Germanen verschiedene Ausnahmen angegeben, die aus dem Rahmen des Erwarteten fallen. Vellerns25 rühmt an Arminius die unbarbarische geistige Gewandtheit. Auch Marbod war nach ihm mehr seinem Volkstum als seinem Verstände nach ein Barbar 26 . Civilis war nach Tacitus ein gescheiterer Kopf, als Barbaren zu sein pflegen27 usw. Es ist auch bezeichnend, daß Angehörige heutiger Naturvölker — vor ihrer völligen Assimilation — nie in solcher Zahl Stellungen im Bereich einer Hochkultur einnehmen könnten wie Germanen im spätantiken Römerreich. 3. D e r s o z i o l o g i s c h e A s p e k t . Eigentlich gibt es gar keine Natur-„Völker". Diese sind gewöhnlich künstliche Klassifikationen. Die ethnischen Einheiten sind sehr klein und umfassen meist nur wenige hundert oder vielleicht einige tausend Personen. Selten kann man sie nach Zehntausenden zählen. Obwohl es sicher auch unter den Germanen kleinere Gemeinschaften gegeben hat, die nur einige tausend Menschen umfaßten, konnte eine größere civitas doch oft mehr als zehntausend Krieger ins Feld senden. Selbst wenn man die Phantasiezahlen römischer Feldzugs24) In: Studium Generale 7 (1954), S. 165 f. 25) I I 118. 28) II 104. 27) Hist. I V 13.

Die Germanen ein Naturvolk?

7

berichte stark reduziert 28 , so kann man doch aus der Zahl der gegen germanische Völkerschaften aufgebotenen Truppen einen ungefähren Maßstab gewinnen. Die großen Heeresverbände zählten doch zuweilen mehrere zehntausend Kämpfer 29 . Solche Zahlen werden bei Naturvölkern nur von Reichsbildungen erreicht, die durch Hochkulturen beeinflußt sind. 4. D e r a n t h r o p o g e o g r a p h i s c h e A s p e k t . „Naturvölker"bewohnen heute periphere Räume, Rückzugsgebiete. Auch der Siedlungsraum der Germanen lag vom Standpunkt des römischen Imperiums aus gesehen peripher. Er war aber kein Rückzugsraum, sondern gewöhnlich Operationsbasis. 5. D e r h i s t o r i s c h e A s p e k t . Hochkulturen weiten sich aus, der Raum der Naturvölker schrumpft ständig. Vor 2000 Jahren gab es sicher mehr Naturvölker als heute. Die Tendenz zur politischen Expansion teilten die Germanen zwar mit anderen Randvölkern von Hochkulturen, konnten jedoch im Gegensatz zu den meisten anderen selbst in hochkulturelle Formen hineinwachsen. Überblickt man diese Gesichtspunkte, so sind Zweifel nicht ganz zu unterdrücken, ob man die Germanen völlig nach Analogie der Naturvölker behandeln darf. Der Althistoriker wird den Zweifel vielleicht weniger berechtigt finden, urteilt er doch nach den gewohnten hohen kulturellen Maßstäben seiner antiken Schriftzeugnisse und Kunstwerke. Demgegenüber erscheinen ihm die doch immerhin auch recht beträchtlichen Unterschiede zwischen den sogenannten „Naturvölkern", auf die es uns hier ankommt, als verhältnismäßig belanglos. Wenn etwa G. W a 1 s e r 30 in bezug auf den Aufstand des Arminius von der „ganzen urtümlichen Wildheit der primitiven Bevölkerung" spricht und bloße Raubzüge und Steuerrevolten als einzige Ursache der römisch-germanischen Zusammenstöße anführt 31 , bemerkt er nicht, daß er ein Opfer der Topik seiner eigenen Quellen geworden ist, obwohl er vorher 32 selbst vermerkt hat: „gerade saevitia, libido und raptus 2S ) Die Zahlen für die Kimbern schwanken zwischen 100 000 und 200 000, für die Teutonen zwischen 150 000 und 290 000. Die Usipier und Tenkterer sollen nadi Caesar 430 000 Mann stark gewesen sein. 2 ») L. SCHMIDT schätzt Ariovists Heer auf 20—25 000 Krieger (ZGORh N F 51 [90], 1938, S. 264 f.). Gegen die Chatten wurden 15 n.Chr. vier Legionen und 10 000 Mann Auxiliartruppen aufgeboten (L. SCHMIDT, Westgerm. II 2 , S. 129). Das Heer Marbods zählte 4000 Reiter und 70 000 Mann Fußtruppen (L. SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 189). 30 ) Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiserzeit, Studien zur Glaubwürdigkeit des Tacitus (Baden-Baden 1951), S. 106. 8i) ebd., S. 104. »2) ebd., S. 70.

8

Einleitung

sind barbarische Wesenszüge, die schon die Griechen den Barbaren allgemein zugeschrieben haben." Die moderne Ethnographie hat uns gezeigt, daß diese Kennzeichnung der Naturvölker in den meisten Fällen keineswegs zutrifft 323 . Die vorgebrachten Zweifel veranlassen uns, die ethnologisch-soziologischen Modelle und Begriffe nicht schematisch in unsere Frühgeschichte hineinzutragen, um Verzerrungen und gezwungene Interpretationen zu vermeiden. Doch noch immer werden die Vorstellungen vieler Historiker von gewissen unrealistischen völkerkundlichen Topoi beherrscht, die zum Teil schon der antiken Tradition entstammen, während andere in der Aufklärung konstruiert wurden oder ihre Verbreitung der Romantik verdanken. Wir wollen nur versuchen, einige dieser unrealistischen Topoi vorerst heuristisch durch ethnosoziologische Kategorien zu ersetzen, die ihre Brauchbarkeit für die Deutung der uns interessierenden Vorgänge bereits an anderer Stelle bewiesen haben. Das ethnographische Beispiel soll hier nur die Funktion haben, auf bestimmte, bisher nicht wahrgenommene Erscheinungen aufmerksam zu machen. Die ethnologische Regel, deren Gültigkeit an sich im Einzelfall nicht ohne Gegengründe von vornherein geleugnet werden kann, soll dennoch nur als Folie dienen, auf der sidi unter Umständen Abweichungen als besondere Eigentümlichkeiten abheben, die historisch zu begründen sind. In vielen Fällen werden wir auch auf andere Erscheinungen stoßen, die allgemeinere Bedeutung haben können, von der Ethnosoziologie bisher jedoch nicht behandelt worden sind. Wir werden die Ergebnisse der Ethnosoziologie auf diese Weise vielleicht ergänzen bzw. die Variationsbreite ihrer Modelle modifizieren können. W. M ü h 1 m a n n 33 unterscheidet bei den völkerkundlichen Tatsachen zwischen solchen „über das geschichtliche Leben als B e w u ß t s e i n " und solchen „über das geschichtliche Leben als T ä t i g k e i t " . Die ersten nennt er i n t e n t i o n a l e D a t e n , die zweiten f u n k t i o n a l e D a t e n . Sosehr wir die Berechtigung einer derartigen Aufteilung des Materials anerkennen — der zweite Begriff erscheint uns unglücklich gewählt. Auch intentionale Daten haben funktionale Bedeutung im Leben einer Gruppe, wenn wir nicht den Begriff „Funktion" willkürlich einengen wollen. Ja, gerade die funktionalen Beziehungen zwischen beiden Tatsachengruppen sind in unserem Zusammenhang besonders bedeutsam, wie 32a

) Der Eindruck, den die Barbaren auf die Griechen machten, beruht darauf, daß die angrenzenden Fremdvölker eben keine unberührten „Naturvölker" mehr waren, sondern von der Hochkultur so weit beeinflußt waren, daß sich hier „räuberische Gruppen" gebildet haben, die sich der Güter dieser Hochkultur bemächtigen wollten. 33 ) Methodik der Völkerkunde, S. 108.

Intentionale und nichtintentionale Daten wir auf Schritt u n d T r i t t bemerken werden. W a s v o n den gewußt,

wie über sie g e u r t e i 1 1 ,

was

mit

9 Institutionen

ihnen g e m e i n t

ist,

k a n n f ü r ihr Funktionieren nicht gleichgültig sein. Wir können nicht annehmen,

daß

die uns durch die intentionalen

D a t e n vermittelte

Wert-

hierarchie eines E t h n o s 3 4 f ü r sein L e b e n als Gemeinschaft belanglos

sein

kann. Besonders wichtig f ü r uns ist nun aber eine Beobachtung über d a s V e r hältnis zwischen den v o n der modernen Wissenschaft feststellbaren

Tat-

sachen des ethnischen Lebens u n d den Vorstellungen der Angehörigen der betreffenden G r u p p e n über diese F a k t e n . H i e r ergeben sich zuweilen m e r k w ü r d i g e Unstimmigkeiten. Diese A u s s a g e m a g a u f den ersten Blick b a n a l erscheinen, begegnet doch auch der H i s t o r i k e r auf Schritt u n d T r i t t G e g e n sätzen v o n I d e o l o g i e u n d Wirklichkeit u n d berücksichtigt sie in Forschung. Dennoch ist es gerechtfertigt, a u f

seiner

diese U n s t i m m i g k e i t e n be-

sonders hinzuweisen, d a sie oft weiter gehen als die systematisch d e n k e n d e Wissenschaft f ü r möglich hält. E i n bemerkenswertes Beispiel, v o n M ü h 1 m a n n nach S h i r o k o g o r o f f a n g e f ü h r t 3 5 , zeigt, d a ß gesellschaftliche F u n k t i o n e n b z w . s o z i a l f u n k tionale G e b i l d e v o n N a t u r v ö l k e r n nicht als G a n z h e i t intendiert werden können. S o kennen die Tungusen z w a r eine P e r s o n e n g r u p p e , f ü r die bestimmte Rechte u n d Verpflichtungen gelten s o w i e d a s V e r b o t , untereinander zu heiraten; der K l a n als solcher ist bei ihnen dagegen intentional g a r nicht v o r h a n d e n . In ihrem Bewußtsein existiert eben nur ein Z u s a m m e n h a n g v o n Rechten u n d Pflichten u n d das H e i r a t s v e r b o t . „Auch die F a m i l i e w u r d e v o n den T u n g u s e n früher als s o z i a l e Einheit nicht w a h r g e n o m m e n . E s gibt keinen T e r m i n u s f ü r sie, sondern nur einen Ausdruck f ü r die Zelthausgemeinschaft im wirtschaftlichen S i n n e " 3 6 . E r s t durch v o n außen k o m m e n d e Ideen sind sie z u einem Bewußtsein v o n der F a m i l i e als sozialer Einheit gelangt. Angesichts dieser Beobachtung liegt die F r a g e nahe, ob es bei uns nicht ähnlich gewesen sein könnte. D a s F r e m d w o r t „ F a m i l i e " unter einem B e d e u t u n g s w a n d e l (ursprünglich „ H a u s g e n o s s e n s c h a f t " ) übernommen, k ö n n t e d a r a u f hindeuten. D i e v o r h e r geltende F o r m e l „Weib u n d K i n d " scheint auch nicht sehr alt z u sein, u n d die an germ. hiwa- anzuschließende W o r t s i p p e bedeutete ursprünglich ebenfalls „ z u r Hausgenossenschaft geh ö r i g " 3 7 . Wir werden also auch d a r a u s , d a ß die S i p p e als solche keine

34) ebd., S. 111. 35) ebd., S. 129. 36) ebd., S. 130. 37) KLUGE-GÖTZE, Etym. Wörterbuch, 15. Aufl. (1951), S. 311 unter „Heirat".

10

Einleitung

kennzeichnenden Namen im Germanischen hat 3 8 , nicht allzu weitgehende Folgerungen ziehen können. Genauso unberechtigt erscheint danach der Schluß, im germanischen Altertum habe es noch keine Kleinfamilie gegeben, weil ein Wort dafür nicht vorhanden gewesen sei 39 . Es ist daher auch kaum überraschend, daß es immer geraume Zeit dauerte, ehe neue soziale und politische Strukturen gedanklich erfaßt wurden. Die Begriffswelt lange überholter Lebensverhältnisse blieb weiter lebendig. Termini wurden auf Gebilde angewandt, die „etymologisch" nichts mit ihnen zu tun hatten. Die charakteristische Unfähigkeit, anders als in Begriffen antiquierter Lebensformen zu denken, führte zu merkwürdigen Diskrepanzen. Besonders bedeutsam ist in dieser Beziehung für unseren Bereich die Rolle, die dem Denken in Kategorien der Blutsverwandtschaft zukommt. Sie wirkten in der Politik bis in jüngste Zeit in dynastischen Heiratsverbindungen nach. Das verwandtschaftliche Band sollte den Friedensbereich, der die Sippegenossen umfaßte, in bestimmter Richtung ausweiten. Dabei pflegte das Sippenband in der Praxis gerade bei den herrschenden Familien häufig zu reißen. A. H e u s 1 e r 4 0 weist auf die zahllosen Beispiele hin: „Schon Arminius erlag ,dem Truge der Verwandten'; von den Fürstenhäusern der Wanderungszeit bleiben wenige frei von Sippenmord, auch hier tun's die Merwinger allen zuvor. Noch die zahlreichen Söhne des norwegischen Harald Schönhaar reiben sich in Kämpfen auf (nach 900). Man hat den Eindruck: gegen den Herrensinn der Königssprossen sind die gepriesenen Blutsbande kraftlos." Diese Erscheinung ist keineswegs nur den Germanen eigentümlich. Der Brudermord des Romulus begründete noch im hohen Mittelalter eine Abwertung Roms (Romulea urbs). Sowohl bei Galliern 41 wie später bei den Bretonen 4 2 ging es ähnlich zu. Die Nachkommen Attilas wüteten genauso untereinander wie frühe polnische, tschechische und russische Herrscher. Der Verwandtenmord, das furchtbarste Verbrechen, dessen sich ein Mensch schuldig machen konnte 4 3 , der sippegebundenem Denken verhaftet war, geschah so häufig, daß man eigentlich folgern sollte, dieses Denken hätte den Fürstenhäusern gefehlt. Das ist aber keines-

38) Vgl. F. GENZMER, in: Z R G G A 67 (1950), S. 36. Germ. *sibjö hat nach H . KUHN, in: Z R G GA 65 (1947), S. 7 f., die Bedeutung „Blutsverwandtschaft" nur in den westgermanischen Sprachen — soweit unsere Kenntnis reicht. 39) So noch F. STROH, Hdb. d. germ. Philologie, S. 179. 40) Germanentum, S. 23. Bezeichnend ist, daß in der Karolingerzeit Eide zwischen Brüdern (Straßburg, Söhne Ludwigs des Deutschen) notwendig werden, um das an sich selbstverständliche Sippenband zu festigen. « ) Vgl. Caesar b. G. V I 1 1 . 2 ; I 19 f. Vgl. Greg. Tur. I V 4 u. V 16. 43) Vgl. R . v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 32 ff.

Denkschema der Blutsverwandtschaft

11

wegs der Fall, nicht einmal bei den Merowingern 44 . Audi Theoderich d. Gr. begründete die Ermordung Odoakers mit Blutrachepflichten. Die Frage nach den Gründen dieser Diskrepanz wird uns an anderer Stelle beschäftigen; hier interessiert nur die Tatsache, daß dieser Gegensatz zwischen Denken und Handeln so selten ins Bewußtsein drang. Wenn dies zuweilen doch geschah, wie etwa beim Wechsel der ottonischen Konzeption deutlich wird, so blieb das ohne unmittelbare größere Nachwirkung45. Die Idee der Bindung durch Verwandtschaft blieb weiterhin für die politischen Entscheidungen außerordentlich bedeutsam. Das ist um so bemerkenswerter, als bereits in der römischen Kaiserzeit von in sich geschlossenen, auf Verwandtschaft beruhenden Verbänden — abgesehen von der Kleinfamilie — bei südgermanischen Stämmen wohl kaum mehr gesprochen werden kann 46 . Dennoch scheint es auch hier dem primitiven Denken unmöglich gewesen zu sein, eine Zusammengehörigkeit irgendwelcher Art anders als in Begriffen der Verwandtschaft auszudrücken47. Daher ist große Vorsicht geboten, wenn wir von politischen Einheiten hören, die als Sippen o. ä. bezeichnet werden. Die cpvXai etwa der Westgoten von 376 48 waren sicher — wie auch von anderer Seite erkannt 49 — keineswegs Geschlechtsverbände. Ihre Anführer, deren Adel betont wird, nennt Eunapius fjyejuoves60. Dieses Wort, das Luc. 2 0 , 2 0 dem römischen Prokurator entspricht, übersetzt Wulfilia mit kindins, einer Bezeichnung, die ursprünglich den Repräsentanten eines Geschlechts meint: anord. kind „Geschlecht, Art". Doch anord. kind hat seit unbestimmbarer Zeit auch räumliche Bedeutung als Heradsname bzw. Grundwort eines solchen51. Wir bewegen uns noch heute zum Teil in solchen Begriffen, wenn wir von „Landesvater", „Brudervolk" usw. sprechen. 4 4 ) Vgl. etwa Greg. Tur. VIII 4, wo Gunthramn die Hoffnung ausspricht, daß sein Stamm, der jetzt so geschwächt war, durch Childebert II. wieder zu Kräften komme. Die Anzahl der Sippenmitglieder war also noch Maßstab der Stärke. Vgl. J. P. BODMER, Der Krieger der Merowingerzeit, S. 15 ff., bes. S. 22. 4 5 ) Vgl. H. W. KLEWITZ, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10.—11. Jh. Grundfragen historischer Genealogie, in: AUf 18 (1944), S. 23—37, bes. S. 34 ff. 4 6 ) F. GENZMER, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, in: ZRG GA 67 (1950), S. 34—49. « ) Vgl. R. THURNVALD, Die menschl. Gesellschaft II, S. 164; S. 165. 4 8 ) Eunap. fr. 55. 49

j

V g l . G . WAITZ, D t . V e r f a s s u n g s g e s c h . I * , S. 8 4 f. ( g e g . SYBEL) m i t d e m H i n -

weis auf die topischen Phylen bei den Griechen (Anm. 2); R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 309. Das gleiche gilt für die yevrj der Markomannen bei Dio. 60

) Eunap. fr. 60 rcöv ) Das wurde besonders deutlich durch einen eindrucksvollen Vortrag OTTO BRUNNERS auf der Reichenau im April 1955. Vgl. seine Besprechung des Werks von K.A.

HUGELMANN, i n : H Z

1 8 6 ( 1 9 5 8 ) , S. 1 0 8 ff.

2)

Noch heute ist diese Vorstellung bei der Germanistik verbreitet. Vgl. etwa J . NADLER, Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes, S. 193: „Stämme sind natürliche Gemeinschaften. Sie gründen sich auf vorwiegende Erbmassen und werden durch ihre landschaftliche Umwelt mitgeformt." F. STROH, Hdb. d. dt. Philologie (1952), S. 175: „Stamm ist ursprünglich eine natürlich gewachsene Seinsform körperlicher wie geistiger Prägung." G. NECKEL, Altgerm. Kultur ( 2 1934), S. 57, über die innere Struktur des Stammes: „Es handelt sich um naturhafte, natürlich erwachsene Zustände, die niemals irgendwie von oben her geregelt waren." 3 ) Vgl. Herodot, Hist. VIII 144; die Athener begründen ihre Parteinahme im Perserkrieg u. a. mit der Blutsgemeinschaft der Hellenen. Vgl. auch I V 5 ff. über die Abstammungssage der Skythen und die griechische Version dieser Abstammungssage u. v . a. Stellen.

Vgl. Genesis 10. 6) Vgl. die Belege bei DOVE, Studien . .., S. 25, Anm. 2 u. S. 36 ff. «) M G SS in us. schol. X X ; vgl. E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung, S. 45.

Der Stamm als Abstammungsgemeinschaft

15

chend: diversae nationes populorum inter se discrepant gener e, moribus, lingua, legibus. In diesem Falle werden wir allerdings annehmen können, daß nicht nur antike Tradition vorliegt; die volkstümliche Überlieferung folgt der gleichen Auffassung, wie ja auch die antike ethnographische Topik in diesem Falle mit den Uberzeugungen der beschriebenen Gruppen durchaus übereinstimmt. Auf der ganzen Welt empfinden sich größere Gruppen als Abstammungsgemeinschaften 7 . Kelten 8 und Germanen 9 bildeten keine Ausnahme. Selbst in Stammesnamen hat sich diese Vorstellung vielleicht niedergeschlagen 10 . Auch dem „Volksbegriff der Wanderzeil:" dient die Idee der Abstammung als Basis 11 . Wie in der antiken Ethnographie leitete man aus den Namen der Stämme und Völker die N a m e n der Stammväter ab (Dan, Angul, N o r i usw.). Dieses Denkschema hat bis in den modernen Nationalismus hineingewirkt. Sehr langsam sah man ein, daß der Glaube an den gemeinsamen Ursprung nur eine Fiktion sein konnte 1 2 . N u r schwer überwand die Sprachwissenschaft das Stammbaumschema, und in der modernen Stammeskunde finden sich noch immer Beweisführungen, die auf „Blutsverwandtschaft" zielen 13 . Es war ein weiter Weg bis zu der Erkenntnis J. H a 11 e r s , daß das deutsche Volk jünger sei als seine Altstämme, daß es „keine natürliche, sondern eine geschichtlich gewordene Einheit" sei14. Wie viele andere der noch zu besprechenden „intentionalen Daten" deckt sich auch die Vorstellung des Ethnos über seinen Ursprung nicht mit den feststellbaren Tatsachen.

7

) Vgl. R. THURNWAI.D, D. mensdil. Gesellsch. IV, S. 22, S. 72. Es gibt jedoch — wenn auch selten — Ausnahmen (z. B. die Yukagiren IV, S. 69). Für den idg. Bereidi vgl. O. SCHRÄDER, Sprachvergleichung und Urgesch. s 1907 II, S. 372, S. 389. 8) Vgl. Caesar b. G. VI 18. 1. 9 ) Zahlreichen Belegen werden wir im Verlaufe der Untersuchung begegnen. V g l . H . v . SYBEL, K ö n i g t u m , S. 6 3 f.; W . FRITZE, U n t e r s u c h u n g e n , S. 151 f . 10 ) R. MUCH, in: Germanen und Indogermanen (Fs. H. Hirt) II, S. 504, deutet den Namen der Semnonen als Sippegenossen C'Sebnaniz als Ableitung von ''sebnö „Sippe"). Aus derartigen Namen darf man natürlich nicht schließen, daß diese Gruppen wirklich Abstammungsgemeinschaften waren. Sie glaubten nur solche zu sein.

») ")

A . DOVE, Studien . . . , S. 38. V g l . FR. STEINBACH, S t u d i e n . . . ,

S. 2 4

(nach ED. MEYER 1 , 1

1907,

bes.

S. 36); U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Der Glaube der Hellenen I 2 , 1955, S. 36; H . MOSER, i n : 2 s . f. M u n d a r t f . 2 0 ( 1 9 5 1 / 5 2 ) , S. 1 3 2 f . (mit BOHNENBERGER, i n :

PBB 52, S. 250, Anm. 1); JUL. F. GLÜCK, Zur Soziologie des archaischen und primitiven Menschen, in: Soziologie und Leben (1952), S. 157. W. E. MÜHLMANN, in: Köln. Zs. 8 (1956), S. 195. ls ) Vgl. etwa R. MUCH b. Hoops III, S. 122 f., zur Abstammung der Langobarden; DERS., in: Germ. u. Idg. (Fs. H. Hirt) II, S. 503. 14 ) Die Epochen der deutschen Geschichte, Stuttgart-Berlin 1933.

Aspekte des Stammesbegrifis

16

Dennoch wäre es verfehlt, diese Vorstellung als unwesentlich abzutun. E. Z ö l l n e r 1 5 erkannte ganz richtig: „Stammsagen und genealogische Fabeleien können f ü r das politische Bewußtsein eines Volkes viel mehr bedeuten als die tatsächliche, vergessene oder mißverstandene Abkunft." Dieser Abstammungsglaube hat ethnosoziologisch eine konstitutive Bedeutung 16 . Er wird nicht nur zur Definition der Sippe, sondern auch der des Klans benutzt. Die germanischen Stämme sind aber nach dem Begriffssystem der deutschen Ethnosoziologie am ehesten endogame Klans 1 7 . Die Zähigkeit der Idee der Abstammungsgemeinschaft hat ihren letzten Grund doch offenbar darin, daß e n g e Verwandtschaft als die stärkste und ursprünglichste Bindekraft der Vergesellung empfunden wird. U n d tatsächlich scheinen die altertümlichsten kleinen Gruppen im allgemeinen aus Verwandten zu bestehen 18 . Wo auch andere Elemente in solchen Kleingebilden auftreten, sind sie entweder durch Einheirat hineingekommen oder aber häufig durch förmliche „Adoptionen", „Blutsbrüderschaft" u. ä. aufgenommen worden 1 9 . Diese Übung kann man bereits als erste Folge einer „politischen Idee" urtümlichster Art ansehen, des Gedankens nämlich, daß Gemeinschaft grundsätzlich nur durch Verwandtschaft konstituiert wird, daß Verwandtschaft also künstlich (magisch) hergestellt werden muß, wenn sie nicht durch Geburt gegeben ist. (Selbstverständlich dürfte sein, daß dieser Gedanke niemals so abstrakt formuliert wurde.) Wir haben hier also eine bewußt erlebte und geistig begründete Gemeinschaft vor uns, die sich von der allein durch angeborene soziale Verhaltensweisen verbundenen Tiergesellung grundsätzlich unterscheidet, wobei nicht geleugnet werden soll, daß diese angeborenen medianischen Bedingungen des Gruppenlebens auch in menschlichen Gemeinschaften noch eine große Rolle spielen 20 . 15

) D . polit. Stellung d. Völker im Frankenreich, S. 29. I«) W. E. MÜHLMANN, in: Köln. Zs. f. Soz. 8 (1956), S. 194 (nach R. THURNVALD). Vgl. Methodik d. Völkerkunde, S. 229. 17 ) Vgl. die Definition bei W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 16; der „Stamm" wird in diesem System als eine „lose und nach außen hin nicht scharf abgegrenzte Gruppierung auf geographischer, sprachlicher und kultureller Grundlage" (S. 17) angesehen. Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV (1935), S. X V I I I . Über die Entstehung dieses Stammesbegriffs vgl. unten S. 87 ff. Der Stammesbegriff der abendländischen Geschichte bezeichnet jedoch ein echtes Ethnos, für das der Abstammungsglaube konstitutiv ist. 18) Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 40, S. 228, S. 235. 19 ) R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 40, S. 93; dennoch ist nicht zu übersehen, daß selbst diese Zwergverbände nicht ausschließlich Verwandte in unserem Sinne umfaßten; vgl. SARTORIUS, Gesellsch., S. 27; H. KIRCHNER, Gemeinschaftsbildung, S. 577; so lockere Lokalgruppen wie die der Eskimos, deren Zusammensetzung sich kaleidoskopartig ändern kann, dürften jedoch Ausnahmen sein. 2«) V g l . K . JASPERS, S . 6 3 ; F . W .

JERUSALEM, i n : S t u d . G e n . 3 ( 1 9 5 0 ) , S .

627;

H . PETRI, T i e f e n p s y c h . u . E t h n o l o g i e , i n : S t u d . G e n . 3 ( 1 9 5 0 ) , S . 3 5 2 ; SARTORIUS, G e s e l l s c h . , S . 2 1 ; K . LORENZ, i n : S t u d . G e n . 3 ( 1 9 5 0 ) , S . 4 9 3 .

Der Stamm als Heiratsgemeinschaft

17

Wir haben es hier tatsächlich mit einer „politischen" Idee zu tun, denn jene kleinen Gemeinschaften sind gleichzeitig unabhängige politische Einheiten mit mehr oder weniger fest umgrenzten Territorien 2 1 . M a n wird jedoch diese kleinen Horden, Banden, Klans usw. noch nicht als „Stämme" bezeichnen wollen. I m allgemeinen stellt man sich darunter doch Gemeinschaften vor, die mindestens einige hundert bis mehrere tausend K ö p f e stark sind. Doch auch Verbände dieser Größe fühlen sich meist als Abstammungsgemeinschaft, obwohl sich vielfach die heterogene Zusammensetzung noch nachweisen läßt. N u r zum kleinen Teil ist das daraus zu erklären, daß tatsächlich nach starker biologischer Vermehrung Abspaltungen vorkamen, die auch nach der Trennung das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit bewahrten. Bedeutsamer ist die Macht des einmal geprägten Denkschemas.

2. D e r

Stamm

als

H e i r a t s g e m ei n s c h a f t

Die Vorstellung, gleicher Abstammung zu sein, kann durch den Brauch gestützt werden, nur innerhalb des Stammes zu heiraten. A. D o v e wies bereits auf den Zusammenhang zwischen connubium und Abstammungsidee hin 2 2 : „Ist daher zwischen ursprünglich verschiedenen Nationalitäten erst einmal eine nahe Lebensgemeinschaft von längerer D a u e r und vor allem natürlich eine wirkliche Vermischung durch Wechselheirat zustande gekommen, so kostet es der sagendichtenden Phantasie keine Überwindung, das nämliche Verhältnis in idealer Projektion auch auf die fernste U r vergangenheit zu übertragen." Auch sonst ist die Wichtigkeit der Wechselheirat für den Zusammenhalt des Stammes nicht zu überschätzen 2 3 . Das connubium wird daher vielfach und mit Recht als ein Definitionsmerkmal des Ethnos angesehen 24 . F ü r die germanischen Stämme muß dieser Grund-

21

)

THURNWALD I V , S. 9 3 ; KIRCHNER, G e m e i n s c h a f t s b i l d u n g , S. 5 7 7 f.

22) Studien . . . , S. 90 f. 2S ) Vgl. I. SCHWIDETZKY, in: Homo 4 (1953), S. 142: „Das Konnubium ist ein wichtiger und bevölkerungsbiologisch d e r Maßstab für die soziale Annäherung." 2 4 ) Vgl. die Definition des Ethnos von Shirokogoroff (nach W. E. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 229): Gruppe mit „mehr oder weniger ähnlichem kulturellem Komplex, gleicher Sprache, gleichem Glauben an einen gemeinsamen Ursprung, Gruppenbewußtsein und endogamer Praxis". Vgl. GI ÜCK, S. 146. Dort wo das interethniscbe Gleichgewicht gestört ist, d. h. ein Stamm durch politische Macht, kulturelles Ansehen usw. hervorragt, wird das connubium zuweilen durchbrochen, jedoch nur in einer Richtung: bei patrilinearen Ordnungen heiraten dann stets die Frauen in diesen Stamm ein; vgl. die Beispiele THURNWALD II, S. 153, S. 159. Stämme mit Frauenmangel — wie etwa Räuberstämme — sind zuweilen genötigt, fremde Frauen in ihren Kreis aufzunehmen; vgl. THURNWALD II, S. 176.

Aspekte des Stammesbegriffs

18

satz ebenfalls gegolten haben, wenn audi mit einer bemerkenswerten Einschränkung, auf die wir noch zu sprechen kommen 2 5 . In neueren ethnosoziologisdien Theorien zur Stammesentstehung spielt der Begriff der Endogamie ebenfalls eine wichtige Rolle. Es ist bekannt, daß die heute noch bestehenden kleinen Wildbeutergruppen im allgemeinen ohne Heiratsordnung leben 2 6 und sich z. T. ihre Frauen von weit her holen 2 7 . D o d i kann sich schon bei Wildbeutern aus der gewohnheitsmäßigen Bevorzugung bestimmter Gruppen bei der Frauenwahl eine Beschränkung eben auf ganz bestimmte Gruppen ergeben 28 . Der auf diese Weise entstandene Verband wird gewöhnlich — nicht ganz zu Recht — schon als Stamm bezeichnet, besonders dann, wenn die Gemeinsamkeit noch durch periodische Zusammenkünfte zu bestimmten Zwecken (besonders Reifeweihen [Ostund Südaustralien] u. a. kultischen Veranstaltungen 2 9 , gemeinschaftlicher Treibjagd, Krieg usw. 3 0 ) unterstrichen wird. Man wird eine solche Stammesbildung erst dann als abgeschlossen ansehen können, wenn sich das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung eingestellt hat. Zweifelhaft bleibt, ob dies die einzige Möglichkeit zur Bildung von Primärstämmen gewesen ist. Man wird sich hier wie überall in der Geschichte vor monokausalem Denken hüten müssen, zu dem die Soziologie häufig neigt. Denn so einleuchtend auch der von D o v e erwähnte Zusammenhang zwischen connubium und der Abstammungsidee für unser Verständnis ist — wenn wir die Gedankenwelt exogamer Gruppen berücksichtigen, ist das Aufkommen der Vorstel25) Vgl. unten S. 23 ff. 26 ) GLÜCK glaubt (S. 129), eine frühe Stufe der Menschheitsentwicklung annehmen zu dürfen, in der die Horden, Banden usw. endogam waren und das Inzestverbot nur die nächsten Verwandten betraf. Erst mit wachsender Raumerfüllung der Erde und ihren größeren Kontaktmöglichkeiten seien die kleinen Verbände zu exogamer Praxis übergegangen (S. 133 ff.). Das ist weder zu beweisen noch zu widerlegen, ist aber auch hier nicht wesentlich. 27

) THURNWALD I I , S . 1 4 1 ; I V , S . 9 3 ; KIRCHNER, G e m e i n s c h a f t s b i l d u n g , S . 5 7 9 ;

I. SCHTPIDETZKY, in: Hist. Mundi I, S. 219.

28) THURNWALD I I , S . 3 0 9 ; v g l . I I , S . 1 6 4 ; GLÜCK, S . 1 4 6 ff.; K . J .

NARR, in:

Hist. Mundi I (1952), S. 514. 2«) THURNWALD II, S. 309; GLÜCK nennt daher diese Gemeinschaften Amphiktyonien (S. 138). Er betrachtet sie nur als Keimform des Stammesverbandes. Sie werden mit dem höheren Jägertum verbunden. Erst die entsprechenden Gemeinschaften der niederen Pflanzer werden von GLÜCK „Stämme" genannt (S. 146). Da aber die Verbände der höheren Jäger doch keineswegs ausschließlich Kultverbände waren, ist nicht einzusehen, warum sie nicht als „Stämme" bezeichnet werden sollten, zumal sie infolge ihrer umfassenderen Funktionen sogar stärker ins Bewußtsein getreten sein dürften als das meist völlig im Hintergrund bleibende Stammesband der Pflanzer (vgl. dazu GLÜCK, S. 149). MÜHLMANN (Köln. Zs. f. Soz. 8 [1956], S. 190 f.) spricht in solchem Zusammenhang auch bereits von einem Stammesbewußtsein, das sich auf Kultfesten „sozial realisiert". SO) K . J . NARR, in: Hist. Mundi I (1952), S.514.

19

Stamm als Heiratsgemeinschaft

lung einer gemeinsamen Abstammung, die mehrere solcher Gruppen verbinden soll, keineswegs selbstverständlich. Bekanntlich begründen die Lokalgruppen, Klans usw. ihre Exogamie gewöhnlich gerade damit, daß sie ihre Frauen nicht aus der eigenen Gruppe nehmen dürften, w e i l diese gemeinsamer Abstammung ist. Unter solchen Voraussetzungen kann zwar durch die Verschwägerung leicht ein Bewußtsein der Verwandtschaft über den K l a n , die Sippe usw. hinaus entstehen 31 , die Herausbildung eines Bewußtseins gleicher Abkunft wird durch die ideelle Begründung der Heiratsordnung behindert. Dennoch kann auch bei Stämmen, deren Klans intakt sind, zuweilen schon der Gedanke aufkommen, einen gemeinsamen Ahnen zu haben. Wir sind jedoch gar nicht genötigt, die Annahme eines derartigen Prozesses der Stammesbildung zu verallgemeinern. Die Spezialisierung der J a g d im jüngeren Paläolithikum ließ bereits größere Verbände entstehen und bot ihnen ausreichende Daseinsmöglichkeiten, wie manche Stationen deutlich erkennen lassen. Es ist vorstellbar, daß sich Gruppen, die in dieser Spezialisierung fortgeschritten waren, durch die daraus resultierenden besseren Lebensbedingungen andere Gruppen zum Anschluß veranlaßten. Mit der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht ergaben sich dann wahrscheinlich recht komplizierte Schichtungsvorgänge und symbiotische Verbindungen, die zu größeren Stammesbildungen führten. Dabei dürfen wir jedoch nidit gleich an solche Uberschichtungen nomadischer Großviehhirten über seßhafte Bauern denken, wie wir sie im Lichte der Geschichte an vielen Stellen der Erde finden. Der Hirten-Nomadismus ist eine relativ junge und sehr spezialisierte und rationalisierte Extremform und steht nidit am Anfang der Viehzucht. Dort, wo sich schon verschiedenartige, mit bestimmten Traditionen und Vorurteilen verbundene Lebensweisen gegenüberstehen, beschränkt man sich bei der Wahl der Ehepartner vielfach auf die Gruppen der eigenen kulturellen Struktur 3 2 , wobei nicht gesagt ist, daß sich a l l e Gruppen dieser bestimmten Kultur in einer Heiratsgemeinschaft verbinden 3 3 . N o d i aus der Neuzeit führt O. B r e m e r 3 4 Beispiele aus Deutschland dafür an, wie sprachlich-kulturelle Bedingungen bei der Wahl der Ehepartner beachtet werden. Es gibt eine ganze Reihe recht eindeutiger Zeugnisse dafür, daß sich dei germanische Stamm als Ehegemeinschaft betrachtete. Schon A. D o v e 3 5 wies 31) V g l . T h u r n w a l d 32) T h u r n w a l d

I V , S. 73.

IV, S. 127; vgl. II, S.

153.

) Je kleiner der gesellschaftliche Horizont, desto geringere Möglichkeit, daß die ganze Kulturgruppe ins Bewußtsein kommt (vgl. dagegen S. 127 f. das Beispiel der Eskimos). 3S

34) O .

Bremer,

Ethnogr.

(21904),

G A 5 8 ( 1 9 3 8 ) , S . 18 f . , A n m . 3 .

35) Studien S. 91, Anm. 1.

S. 73 f.

(807 f.);

vgl.

W.

Merk,

in:

ZRG

20

Aspekte des Stammesbegriffs

auf eine Nadiridit Prokops 36 hin, der als Augenzeuge und zuverlässiger Berichterstatter mit einem „ausgesprochenen Sinn für Ethnographisches"37 erzählt, daß die unter gotischer Hoheit in Italien angesiedelten Rugier das connubium mit Goten und anderen Fremden vermieden38. Sie haben also „ihre gentile Selbständigkeit demnach bewahrt und können daraus sogar noch einmal versuchen, in der Person Erarichs dem Reich einen König ihrer Nationalität zu geben" (Dove). Ein solches Verhalten war in dieser Zeit keineswegs mehr selbstverständlich, denn es scheint, als ob bereits damals — nachdem sich das alte „Sakralkönigtum" zur Königsherrschaft gewandelt hatte — der Herrschaftsbereich auch für den Bereich der Ehegemeinschaft maßgebend wurde. Dieser konnte dann eingeschränkt oder aber auch erweitert werden, wie folgendes Beispiel zeigt. Derselbe Prokop berichtet nämlich noch weitere Einzelheiten über das connubium in den Gotenreichen. B. Goth. 1 1 2 erzählt er, daß sich Goten (d. h. Ostgoten) und Westgoten, „die ja von einem und demselben Manne beherrscht wurden", zur Zeit Theoderichs daran gewöhnten, ihre Kinder wechselseitig zu verheiraten. Als später beide Reiche wieder eigene Wege gingen, ergaben sich daraus notwendig erhebliche Schwierigkeiten, die im Charakter des Personenverbandsstaates begründet liegen. Wie man nun diesen Schwierigkeiten begegnen wollte, zeigt der Bericht Prokops b. Goth. I 13: Man stellte jedem Manne, der seine Gattin aus dem anderen Volke genommen hatte, die Wahl frei, ob er seinem Weibe folgen oder sie zu seinem Volke mit hinübernehmen wolle. Es gab viele, die das letztere taten, aber auch die andere Möglichkeit wurde ausgenützt. Daß die Rugier an ihrer Ehegemeinschaft innerhalb des gotischen Machtbereiches festhielten, zeigt deutlich die stärkere Beharrung ethnischer Zustände gegenüber den politischen, was sich auch im deutschen Raum allenthalben feststellen läßt. W. M e r k 3 9 führt neben dem Rugierbeispiel weiter an, daß noch Ende des 9. Jahrhunderts in der Königs-

3«) b. Goth. I I I 2. 37)

E . NORDEN, U r g e s d i . , S. 4 1 1 .

) E. SCHWARZ, Stammeskde., S. 82, führt dieses Verhalten ganz unnötig auf Unterschiede zwischen Goten und Rugiern zurück, die sich aus der anderen Wandergeschichte erklären. Ohne leugnen zu wollen, daß sich solche Unterschiede ergeben haben und daß sie auch z. T. ethnisch betont worden sein können, halten wir diese Hypothese deshalb für entbehrlich, weil dahinter die unbegründete Anschauung steht, daß die Rugier mit den anderen Germanen zusammen vor der Wanderzeit eine Ehegemeinschaft bildeten. s8

3») Z R G 58 (1938), S. 17. E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung, S. 165, fragt, ob die Weigerung eines der rebellierenden Thüringer (786), seine Tochter einem Franken zu verheiraten, auf Stammesabneigung deutet. Obwohl eine solche Abneigung nicht auszuschließen ist, möchten wir doch annehmen, daß es sich hier eher um eine politisch zu deutende Weigerung handelt: Man wollte keinen echten Frieden.

Stamm als Heiratsgemeinschaft

21

pfalz zu Tribur die Frage erörtert wurde, „ob die Ehe zwischen einem Franken und einer Baierin gültig sein könne". Diese sicher anachronistische Erörterung — waren doch Ehen des Adels damals schon lange nidit mehr an Stammesgrenzen gebunden — zeigt jedoch, daß im Volke dieses Hinübergreifen der Ehegemeinsdiaft auf eine andere gens an sich nicht als selbstverständlich galt, wie ja auch noch in der Neuzeit einzelne Stammesgrenzen durchaus als Grenzen der Ehegemeinsdiaft empfunden wurden 40 . Wir werden um so bestimmter damit rechnen müssen, daß in früherer Zeit das connubium an die Stammesgemeinschaft gebunden war. Schon einzelne Stammesnamen deuten darauf hin: Während die der Fosi (*Fözös oder *Fösöz nach R. M u c h 41 zu griech. nrjö? dor. naög, lat. *pärus in päricida) und der Semnonen (< "Sebnanez zu germ. *sebnö-) einfach die Verwandten, Sippengenossen bedeuten und damit eine bloße Abstammungsgemeinschaft bezeichnen können, stellt R. M u c h 42 den Namen der Suiones mit L. L a i s t n e r 43 u. a. zu ahd. ge-swio „Schwager, Sdiwestermann", er bedeutet also etwa „die Verschwägerten, die durch Heirat Verwandten" 44 . Der Name bezeichnet also nichts anderes als eine durdi das connubium verbundene Gemeinschaft. Gleichzeitig zeigt dieser Name, daß die Ehegemeinschaft i. allg. in taciteischer Zeit wie auch später die Grenzen des einzelnen Stammes nidit überschritten haben dürfte. Auch der Satz in Tacitus Germ. c. 4 über die Germanen insgesamt (nullis aliis aliarum nationum conubiis infectos) kann nicht beweisen, daß die Ehegemeinschaft sich auf alle Germanen bezog. Aus dem Text geht deutlich hervor, daß es sich hier um die opinio einiger Leute handelt, der sich Tacitus anschließt, während andere anders dachten45. Wir haben also kein Zeugnis des germanischen ethnischen Gefühls vor uns, sondern antike gelehrte Theorie. Solange die Skiren und mit Plinius n. h. IV 99 die Bastarnen als fünfte selbständige Gruppe der Germanen 46 mit sehr langer eigener Geschichte 40

) Vgl. etwa die beiden Beispiele bei O. BREMER, Ethnographie, S. 73 f. (Friesen — Sachsen und Schwaben — Franken). 41 ) Germania, S. 320. 42

)

Fs. H .

H I R T I I , S . 5 0 3 ; DERS., G e r m a n i a , S . 3 9 1 .

« ) Germ. Völkernamen, in: Württ. Vjh. 1892, S. 39 f.; vgl. zuletzt W. STEINHAUSER, i n : R h e i n . V j b l l . 2 0 ( 1 9 5 5 ) , S. 18. 44 ) Audi der Name der Sueben ist vielfach so gedeutet worden, z. B. von M. SCHÖNFELD, Pauly-Wissowa RE 2. R. VIII, S. 579. Vgl. dagegen jedodi W. STEINHAUSER, in: Rhein. Vjbll. 20 (1955), S. 18 f. « ) z . B . Seneca Dial. 1 2 . 7 , 1 0 ; vgl. R. MUCH, Germania, S. 65. Gerade die hierin enthaltene Auseinandersetzung ist ein traditionelles Thema der antiken Ethnographie, wie E. NORDEN, Urgesdi., S. 54 f., nadiweist. 46 ) So z . B . FR. MAURER, Nordgermanen u. Alemannen, S. 9 6 f f . ; vgl. oben S. 158 f.

22

Aspekte des Stammesbegriffs

angesehen wurden, konnte sich auch die Meinung halten, die Bastarnen hätten ihren N a m e n bekommen, weil sie im Gegensatz zu den Skiren, den „reinblütigen", und damit im Gegensatz zu den anderen „unvermischten Germanen" Mischlinge waren 4 7 . Wenn M u c h s Namensdeutung zutrifft — und sie ist nach wie vor wahrscheinlich richtig —, ergeben sich jedoch Bedenken gegen die übliche Gleichsetzung der Bastarnen mit der Gesichtsurnenkultur 4 8 und damit ihrer seit langer Zeit selbständigen Stellung innerhalb des germanischen Bereichs. Die im N a m e n angedeutete Mischung verschiedener ethnischer Gruppen müßte dann in die Bronzezeit zurückverlegt werden. D a n n müßte aber der Name, unter dem sie um 200 v. Chr. am Pontus auftauchen, eine Eigenbezeichnung mit langer Tradition sein. Das ist jedoch wenig wahrscheinlich. Kaum ein Ethnos dieser Stufe wird sich selbst als gemischter Herkunft bezeichnen. Einen weiteren Hinweis darauf, daß der Bastarnenname nicht vom Volke selbst benutzt wurde, sehen wir in der Formulierung des Tacitus Germ. c. 46: Peucini, quos quidam Bastarnas vocanti9. Unter den quidam werden wir wohl kaum die Bastarnen selbst begreifen können. Wenn sie oder ein Teil von ihnen sich aber selbst Peucini nach ihrem neuen Wohnsitz — der Donauinsel Peuce — nannten, so deutet das wie bei den ähnlich gelagerten Fällen alamannischer Gruppen darauf, daß sie sich wenigstens in einzelnen Gruppen als Ethnos erst nach der Landnahme konstituierten. Wir werden in ihnen — wie auch in den Skiren, bei denen der N a m e Bastarnen wohl zuerst aufkam — recht junge Abspaltungen der Sueben vor uns haben 5 0 . D a n n aber bezieht sich auch die in der Mischung liegende Abwertung dieser G r u p p e nicht als Gegensatz auf das Germanentum als Ganzes, sondern nur auf die Sueben 51 . Auch der Bastarnenname ist also kein Zeugnis f ü r eine alle Germanen

47

) So R. MUCH, Germania, S. 416 f.; K. WÜHRER, Germ. Zusammengehörigkeit, S. 54. « ) Vgl. unten S. 204 u. 206 ff. Vgl. S. 34 und S. 63. 50 ) Es mag jedoch dahingestellt bleiben, ob sich der Bastarnenname erst auf die Mischung mit Sarmaten am Pontus bezieht, auf die Tac. Germ. c. 46 hinweist. Der Name der Skiren kann bereits im Norden vorhanden gewesen sein, wenn der bei Ptolemaios II 11.12 überlieferte Ortsname 2xovQyov östlich der unteren Oder damit verbunden werden darf. In diesem Falle dürfte aber auch für den im Namen der Bastarnen enthaltenen Gegenbegriff schon damals ein Anlaß vorhanden gewesen sein. D a ß Tacitus Germ. c. 46 sie nicht zu den Sueben rechnet, liegt darin begründet, daß er aufgrund des weitgehenden Verlusts der besonderen germani-

schen somatischen Kennzeichen (connubiis mixtis nonnihil in Sarmatarum habitum foedantur) ihr Germanentum selbst anzweifelt. 51 ) Das gleiche gilt aber auch für den Namen der Markomannen, die K. WÜHRER, Germ. Zusammengehörigkeit, S. 54, als „Mannen, die an der Grenze, natürlich des germanischen Gebietes wohnten" betrachtet. Nichts hindert uns anzunehmen, daß es sich um die suebische Grenze handelt, die jene schützten.

connubium des Hodiadels

23

umfassende Ehegemeinschaft, wohl aber dafür, daß wenigstens einzelne Stämme eine solche bildeten 52 . Dieses Ergebnis scheint nun einer Aussage des Tacitus zu widersprechen. Suebisdie Tracht soll sich cognatione zu anderen Stämmen verbreitet haben 53 . Denn wenn es keine Möglichkeit der Heirat über die Stammesgrenzen hinweg gab, konnte sidi auf diesem Wege auch kein Brauch verbreiten. Doch seit Germanen in das Blickfeld der mediterranen Quellen treten, berichten uns viele Zeugnisse von Verschwägerungen zwischen Angehörigen verschiedener Stämme. Bezeichnenderweise finden wir eine solche Ausnahme auch bei den sonst so auf die Binnenheirat bedachten Rugiern: Das rugische Königshaus war mit Theoderich d. Gr. verwandt, und dieser begründete die Ermordung Odoakers mit seiner Rachepflicht für den von Odoaker hingerichteten Rugierkönig 54 . Für das Königshaus galten hier also andere Normen als für die Allgemeinheit. Genau dasselbe können wir aber bei vielen anderen Stämmen beobachten, wobei zu beachten ist, daß auch für die Heiratsverbindung der Fürsten das Germanentum als Gesamtheit keine nach außen abgrenzende Rolle spielte 55 : Im Jahre 182 v. Chr. kommen bastarnische nobiles iuvenes et regii quosdam generis an den makedonischen Hof 5 6 , einer von ihnen sagt einem der makedonischen Prinzen seine Schwester zu. Caesar 57 berichtet, daß Ariovist neben einer Suebin auch die Tochter des norischen Königs geheiratet hatte. G. S c h ü t t e 5 8 schließt mit Recht aus dem sarmatischen Namen des Quadenkönigs Furtius ( = „Sohn") auf eheliche Beziehungen zwischen dem Hochadel der häufig zusammen genannten Quaden und Jazygen. Ähnliche Schlüsse lassen sich aus dem Namengut vieler königlicher Familien ziehen, in denen fremdstämmige Personennamen schon früh auf

5 2 ) Über die Sonderentwicklungen der Ehegemeinschaft in der derungszeit siehe unter Goten — Burgunder — Franken usw.

Völkerwan-

53) Germ. c. 38. Vgl. S. 261 ff. ) Vgl. die Belege bei L. SCHMIDT, Ostgerm. I 2 , S. 122, Anm. 1. 55) Das Problem sah schon richtig E. HEYCK, in: H Z 85 (1900), S. 68. Vgl. F. STEINBACH, Studien, S. 7. K. WÜHRER, Germ. Zusammengehörigkeit, S. 61 f., betont die Notwendigkeit „rein germanischer Abkunft", ohne überzeugende Gründe dafür anzuführen. Vgl. dagegen A. HEUSLER, Germanentum, S. 37; W. SCHULZ, Fremdes Blut im germanischen Adel der geschichtlichen Frühzeit, in: Volk und Rasse 3 (1928), S. 206—210; E. WAHLE, Fremdes Blut im germanischen Adel geschichtlicher Frühzeit, in: Zs. f. Rassenkunde 4 (1936), S. 201—203. 54

5®) Das erste Zeugnis für die Sitte der jungen germanischen Adligen, in fremden Diensten Ruhm zu erwerben. Livius 40 5 . 1 0 ; vgl. F. DAHN, Könige I, S. 98; L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S. 8 9 .

57) b. G. I 53; vgl. F. DAHN, Könige I X , 2, S. 13 m. Lit. 58) Our Forefathers § 47, S. 68.

24

Aspekte des Stammesbegriffs

Ehebindungen nach außen deuten 59 . A m deutlichsten ist dies bei jenen Namen, die unmittelbar aus Stammesnamen abgeleitet sind 60 . Die große Zahl dieser Namen 6 1 — deren Existenz nur aus zwisdienstammlichen Beziehungen erklärbar ist — zeigt, daß wir es hier nidit mehr mit vereinzelten Ausnahmen, sondern mit einer in bestimmten Kreisen üblichen Regel zu tun haben. Die Quellenlage gestattet vorerst keine bestimmte Aussage, wie weit der Kreis reichte, der seine Frauen auch aus anderen Stämmen nahm. Die Könige gehörten mit Sicherheit dazu. Bei Völkerschaften, die keinen König hatten, gab es audi in den Familien der principes fremde Frauen, wie das Beispiel der Verschwägerung führender chattischer und cheruskischer Sippen um Christi Geburt zeigt 6 2 :

Chatten

Cherusker

Ucromerus Chattenfürst Strabon VII 1,4 Ramis

Seg;mer

Segithank

Chatten X

X Segestes

Inguiomer

Segimer

Segimund Thusnelda Arminius Flavus Thumelicus

^atumerus Chattenfürst Tacitus ann. X I 1 6 (Actumerus) I

X

Italicus I ? .1 Chariomerus

59 ) G . S C H Ü T T E , Our Forefathers II, S. 3 9 ; über langobardische Namen in der ostanglischen Stammtafel und angelsächsische Namen in langobardischen Stammtafeln vgl. G . BAESECKE, in: G R M 2 4 ( 1 9 3 6 ) , S. 1 6 3 f., S. 1 6 6 . 60 ) Vgl. S . G U T E N B R U N N E R , Germ. Frühzeit, S . 30 f.; A . B A C H , Die dt. Personennamen (1943), § 93; W. SCHLESINGER, Heerkönigtum, S . 117. Hier ist jedoch auch die Möglichkeit künstlicher Verwandtschaft — Waffensohnschaft u. ä. — zu berücksichtigen. Der Gebrauch von Volksnamen als Personennamen ist auch außerhalb des germanischen Gebietes verbreitet, vgl. P . K R E T S C H M E R , Glotta 30 (1943), S . 157. 61 ) Nicht alle diese Namen werden — besonders in späterer Zeit, als man sich ihrer Bedeutung nicht mehr bewußt war (vgl. A . SCHERER, in: BzN 4, 1951/52, S. 15) — als Hinweise auf zeitgleiche zwisdienstammliche Beziehungen gelten können. Ihre Entstehung läßt sich jedodi kaum anders als eben durch solche Beziehungen erklären. Bei der Interpretation solcher Namen wird man jedodi vorsichtig sein müssen. Vgl. N. MENZEL, Stammesgeschichtliche Rückschlüsse aus germanischen Personennamen, in: BzN 11 (1960), S. 78—90.

«2) L . SCHMIDT, W e s t g e r m . I 2 , S. 101.

connubium des Hochadels

25

Unsicher ist jedoch, ob auch in Völkerschaften, die Königen unterstanden, andere bedeutende Geschlechter mit ausländischen Familien versippt waren. Die Vorfahrenreihe des langobardischen Königs Rothari zeigt für Zeiten, als dieses Geschlecht noch keine Könige stellte, bereits Namen, die auf andere Stämme deuten (ex genere Harodos, Alaman, Fronchononus [?]), aber da die Langobarden nicht immer Könige hatten, läßt sich daraus nicht viel entnehmen. Immerhin scheint manches dafür zu sprechen, daß der ganze Hochadel seit früher Zeit zu diesem Kreis gehörte. Schon die Sitte der jungen Edlen, an fremden Höfen zu leben, sei es als Gefolgsmann, sei es als vornehme Geisel63, mußte solche Verbindungen begünstigen. Die Versuche der gotischen Könige, die politischen Folgen solcher Verbindungen ihres Adels auszuschalten, von denen wir oben berichteten64, wären dann Ergebnisse der gesteigerten Königsmacht dieser Zeit. Seit wann wir mit einer derartigen Verschiedenheit zwischen Hochadel und sonstigen Stammesgenossen bei der Gattenwahl 65 innerhalb der germanischen Ethne rechnen dürfen, ist schwer zu sagen. Ethnographische Parallelen zeigen ähnliche Verhältnisse bei manchen sozial schon geschichteten Stämmen 66 . Auch die Kelten unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von den Germanen 67 . Soziale Schichtung an sich kann jedoch nicht als entscheidend für ein solches Verhalten angesehen werden. Sie kann bestenfalls erklären — besonders wenn sich die soziale Schichtung aus politischethnischer Überschichtung ergab —, daß der Adel sich nach unten absetzt 68 und sich schließlich, ähnlich wie der Stamm selbst, auch als ge-

63

) Vgl. etwa aus der Heldensage das Verhältnis von Walther und Hildgund am Hofe Etzels. 84) S. 20. 65

) Die Ehebräuche des Adels unterschieden sich von denen des Volkes noch in einem zweiten Punkte — der allerdings mit dem behandelten zusammenhängt: Politische Erwägungen durchbrechen hier das sonst gewahrte Prinzip der Einehe. Vgl. Tac. Germ. c. 18. Das früheste bekannte Beispiel der Mehrehe in der Oberschicht bietet Ariovist mit seinen zwei Frauen. Vgl. F. DAHN, Könige I, S. 63; R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 59. O«) Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. II, S. 158 f.; IV, S. 151; IV, S. 156. R. BENEDICT, Urformen der Kultur, S. 137. 87 ) Vgl. die Heirat des Häduers Dumnorix mit der Tochter des Helvetiers Orgetorix und deren politische Folgen: Caesar b. G. 13 u. 9. Dumnorix verheiratet seine Mutter an einen Biturigen, die Schwester seiner Mutter und andere Verwandte an Angehörige anderer Stämme: b. G. I 18. a8

) Wie etwa in extremer Form im altsächsischen Recht, das, nach der Translatio s. Alexandri c. 1 (MG SS II 675), die Todesstrafe für die Heirat eines Nichtadligen mit einer Adligen vorsah.

26

Aspekte des Stammesbegriffs

schlossene Abstammungsgemeinsdiaft empfindet 69 . Vor allem dort, wo der Kulturstolz stark betont ist, finden wir häufig die Beschränkung der Ehegemeinschaft auf einen kleinen Kreis von Ebenbürtigen des eigenen Ethnos, eine Beschränkung, die im Königsgesdiledit bis zur Sitte der Geschwisterehe führen kann 70 . Jedoch nur dort, wo der Gedanke, andere Gruppen in die ideelle Abstammungsgemeinschaft einzubeziehen, um damit den Friedensbereich zu vergrößern 71 , nicht auf ein solches Hindernis stößt, ist die politische Heirat über die Stammesgrenzen hinaus möglich. Vorstellungen des Sippendenkens, die in anderer Form bereits in der Auffassung vom Stamm als Abstammungsgemeinschaft wirksam sind, werden auf den Bereich der interethnischen Beziehungen übertragen, um einem Bündnis Dauer zu verleihen. Aus der Erfahrung heraus, daß die meisten Heiraten zur Erweiterung des Friedensbereiches um die verschwägerte Sippe führten, schloß man Ehen zu diesem Zweck. Diese Erfahrung war jedoch nur möglich, wenn die Sippe der Frau sich verpflichtet fühlte, den Verwandten des Schwagers im Streitfall beizustehen. Unter streng patrilinear organisierten Verbänden ist eine solche Haltung zwar möglich, dürfte jedoch in ihrer Entfaltung stark gehemmt sein. Wenn es nun zutrifft, daß in der angeblich in streng patrilinearen Vorstellungen verhafteten indogermanischen Vorzeit die Frau „durch ihre Heirat keine neue Verbindung zwischen ihrer Abstammungsgruppe und dem Verwandtenkreis, in den sie einheiratet" geschaffen hat, wie es auf Grund der Analyse der idg. Verwandt-

69 ) D a s eindrucksvollste Beispiel für die A u f f a s s u n g der Stände als besonderer Abstammungsgemeinschaften im germanischen Bereich ist das Lied v o n Rig (Rigsfiula). Mit einer solchen A u f f a s s u n g steht für unser D e n k e n die Gleidisetzung der mythischen Abstammung des Königs mit der des Volkes in unvereinbarem Widerspruch, der jedoch damals nicht e m p f u n d e n w o r d e n sein kann. Z u m ständischen C o n n u b i u m vgl. H . BRUNNER, D t . Rechtsgesch. I 2 , S. 346. 70 ) Wie e t w a in Ä g y p t e n . W e n n ein Pharao sich bereit fand, aus politischen Gründen eine fremde Prinzessin zu heiraten, so w u r d e diese gewöhnlich nicht H a u p t g e m a h l i n . So nimmt — nach siebenmaliger Werbung — Thutmosis IV. eine Tochter des Mitannikönigs zur N e b e n f r a u ; A . SCHARFF, in: Ä g y p t e n und Vorderasien im Altertum, S. 136. D i e beabsichtigte H e i r a t der K ö n i g i n w i t w e N o f r e t e t e mit einem hethitischen Prinzen sdilug fehl; A . SCHARFF, ebd. S. 146 f. Erst Ramses II. machte eine Tochter des Hethiterkönigs Chattusil II. zur H a u p t g e m a h l i n , um den Frieden mit den Hethitern zu festigen; A . SCHARFF, ebd., S. 160. U b e r die mit der Gesdiwisterehe verbundenen Vorstellungen vgl. K . DITTMER, Allg. Völkerkde., S. 52.

" ) H . KUHN weist in Z R G G A 65 (1947), S. 10, auf ein Zeugnis solchen D e n kens hin: „Beowulf 2 0 1 7 w i r d eine Königin, die verheiratet war, um den Frieden zwischen z w e i V ö l k e r n z u festigen, friöusibb folca .Friedesippe der Völker' genannt."

Heiratspolitik

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schaftsnamen von R. v. K i e n 1 e 72 im Anschluß an B. D e l b r ü c k 7 3 und S c h r ä d e r 7 4 behauptet wird, so erheben sich Bedenken, solche Absichten schon in dieser Zeit vorauszusetzen, wenn auch sicher in einigen Gruppen schon früh die politische Heirat eine Rolle spielte, wie die Praxis der Hethiter und Mitannikönige zeigt75. Dagegen bieten die germanischen Verhältnisse mit der Rolle des Mutterbruders als Schützer und Erbe neben den Agnaten — wie sie von Tacitus Germ. c. 20 beschrieben werden — eine geeignete Grundlage für die Vorstellung der Verbindung zweier Sippen durch eine Heirat. Nur dort, wo auch die Verwandten der Mutter zum Schutzverband aufgeboten werden können, kann eine Heirat aus solchem Gesichtswinkel heraus geschlossen werden. Unter der Voraussetzung, daß die herrschende Auffassung vom Eherecht der Indogermanen zutreffend ist, müßte sich dieser Gedanke also irgendwann im Verlaufe der Vorgeschichte oder der Entstehung der germanischen Sprachgemeinschaft durchgesetzt haben. Sicheres werden wir jedoch kaum aussagen können. Die Übertragung des Gedankens, durch Verschwägerung ein Bündnis zu begründen oder Frieden zu schließen, auf die interethnischen Beziehungen scheint die wichtigste Grundlage dafür zu sein, daß sich das ethnische Zusammengehörigkeitsgefühl — das wesentlich von den führenden Schichten getragen wird — auf weitere Bereiche ausdehnen kann. Die anderen Erscheinungsformen der Übertragung des Sippedenkens auf zwischenstammliche Verhältnisse stehen dahinter zurück. Das gilt auch besonders für die Formen der künstlichen Verwandtschaft. Weder die Annahme „an Sohnes Statt" 76 (besonders im gotischen Bereich in der Form der „Waffen72

) Germ. Gemeinschaftsformen, S. 5 f. Nur die Frau selbst tritt danach „in den Kreis der als verwandt bezeichneten Persönlichkeiten ein, während eine alte Terminologie des Schwiegersohnes und der Schwiegereltern, vom Schwiegersohn aus gesehen, nicht vorhanden ist". 73 ) Die indogermanischen Verwandtschaftsnamen. Ein Beitrag zur vergleichenden Alterskunde. Abh. d. phil.-hist. Kl. d. sächs. Ak. d. Wiss. XI 5 Abh. (1889), S. 537 ff. 74 ) Sprachvergleichung und Urgeschichte (19073), S. 303 ff. 73) Vgl. S. 26 Anm. 70. 76 ) Die Adoption gilt in der Ethnosoziologie als bedeutsames Mittel ethnischer Assimilation (vgl. W. E. MÜHLMANN, SOZ. Mechanismen, S. 7 ff.) und politischer Expansion (z.B. Irokesenbund; vgl. W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 50 f.). Im germanischen Bereich ist das Vorhandensein einer eigentlichen Adoption umstritten. Vgl. H. KUHN, Philologisches zur Adoption bei den Germanen, in: ZRG GA 65 (1947), S. 1—14. Die hier vorhandenen analogen Formen erscheinen nach der einen oder anderen Seite hin irgendwie abgeschwächt. Vgl. K. v. AMIRA, Grundriß, S. 175, S. 187 f.; S. HELLMANN, in: GDV 2. Ausg. Bd. 9,1, S. 34 f., Anm. 2; J. DE VRIES, Altgerm. Religionsgesch. 12, S. 184; R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 25 ff. Im slavisdien Bereich ist die Adoption als politisches Mittel bei der Aufnahme des litauischen Adels in die polnischen Geschlechter außerordentlich wirksam geworden.

Aspekte des StammesbegrifFs

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sohnschaft" zu ähnlichem Zweck wie die politische Heirat geübt 77 ) noch die im Norden übliche Pflegesohnschaft, noch „Anbrüderung", Blutsbrüderschaft oder „Schwurfreundschaft" 78 konnten eine ähnliche Bedeutung für die Ethnosbildung erlangen. D i e Bündnisse mehrerer Völkerschaften, die auf diesen Formen beruhen, erwiesen sich vielfach als wenig fest und überdauerten gewöhnlich nicht die betreffende Generation 79 . Sie waren daher selten geeignet, ein dauerndes Zusammengehörigkeitsgefühl aufkommen zu lassen 80 , besonders dann nicht, wenn der Zweck des Bündnisses (Abwehr eines Feindes, eine Landnahme usw.) nicht erreicht wurde. Nach der Schlacht bei Straßburg schließen die verbündeten Alamannengruppen e i n z e l n mit den Römern Frieden 81 . Das kultisch gefestigte Bündnis der Cherusker, Sueben und Sugambrer 82 v o m Jahre 11 v. Chr. 77 ) Das bekannteste Beispiel ist das im Zusammenhang seiner Heiratspolitik zu sehende Bündnis Theoderichs d. Gr. mit dem Herulerkönig Rodulf, den er zu seinem Waffensohne machte (F. DAHN, Könige II, S. 142; L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 340, S. 552). Der Westgote Theoderich II. hat wahrscheinlich den Sueben Ramismund zum Waffensohn gemacht (F. DAHN, Könige V, S. 88; VI, S. 567). Theodemir, der Vater Theoderichs d. Gr., nahm den von ihm geschlagenen Suebenkönig Hunimund als Waffensohn an (F. DAHN, Könige I, S. 118; L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 274). Der Gepidenkönig Thorisind überreichte sogar dem Langobarden Alboin die Waffen seines von diesem getöteten Sohnes Thorismud (F. DAHN, Könige II, S. 26). Selbst byzantinische Kaiser griffen zu dieser Form der Verbindung. Theoderich d. Gr. war Waffensohn Zenos (F. DAHN, Könige II, S. 70 f.; L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 280, S. 291) und sein Schwiegersohn Eutharich der Justins I. (F. DAHN, Könige II, S. 181; L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 351). Möglicherweise ist schon ein ähnliches Verhältnis bei Tacitus Germ. c. 13 angedeutet, wo berichtet wird, daß auch principes statt des Vaters oder der Verwandten dem Jüngling bei der Wehrhaftmachung Schild und Speer überreichen. Diese Einrichtung scheint demnach überhaupt im Gefolgschaftswesen beheimatet zu sein. Im Bereich der Mythologie finden wir ähnliche Beziehungen. Nach der Völsunga Saga c. 3 (THÜLE 21, S. 43) tritt Sigmund durch Odins Waffengabe in ein besonderes Verhältnis zu dem Gott, der ihn später zu sich heimholt; vgl. R. v. KIENLE, Germ. Gemeinsdiaftsformen, S. 158. 78

) W. FRITZE, Die fränkische Schwurfreundschaft der Merowingerzeit, in: ZRG GA 71 (1954), S. 74—125, behandelt ausführlich die zwischenstaatlichen Verbindungen auf dieser Grundlage. 79 ) Alboin kämpft bis zur Vernichtung mit dem Sohn Thorisinds. Hunimund hetzte bald nach seiner Rückkehr in die Heimat die Skiren gegen die Goten; L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 275. Die Schwurfreundschaft Alaridis II. und Chlodwigs (Greg. Tur. Hist. Franc. II 35; vgl. W. FRITZE, Fränkische Schwurfreundschaft, S. 101) verhinderte nicht die Vernichtung des Tolosanischen Reiches. 80 ) Erst recht gilt dies für jene Bündnisse, die nur durch gegenseitige Geiselstellung gesichert waren, wie etwa beim Aufstand des Civilis, Tac. Hist. IV 28. 81) L . SCHMIDT, W e s t g e r m . I I 2 , S. 7 0 . 82 ) Florus II 30. 22 (aus Livius). Sie kreuzigten — als Bundesopfer — 20 Zenturionen, was sie wie ein Fahneneid aneinander band.

„Völkerbünde" durch politische Heirat

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wurde durch den römischen Sieg bei Arbalo gesprengt 83 . Die Schwurbrüderschaft von gleichrangigen Königen, wie sie O. H ö f 1 e r aus der Inschrift des Runensteines von Rök erschließt84, kann also kaum als d e r „Keimtypus von Großverbänden" angesehen werden. Beschworene Bündnisse wurden eben gewöhnlich nur für einen bestimmten Zweck geschlossen und verloren ihre verbindende Wirkung, wenn der Zweck erreicht war oder aufgegeben wurde. Wo e i n e Völkerschaft nach Macht und Ansehen eindeutig führt 85 , ist die Dauer einer solchen Konföderation eher möglich86, aber sie überlebt auch hier kaum eine Niederlage 87 , wie das Beispiel Ariovists mit seinem aus sieben Stämmen gebildeten Heer und des auf Unterwerfung und Vertrag 88 beruhenden Stammesgefüges unter Marbods Herrschaft zeigt. Dagegen begründete Heirat ein Band, dessen Dauerhaftigkeit durch die dadurch begründete Blutsverwandtschaft gesichert war. Wenn auch gerade in den Königshäusern die Bande des Blutes häufig zu reißen pflegen, so wird doch zusammen mit den ehelichen Verbindungen — besonders wenn sie sich nicht auf e i n e Heirat beschränken — auch der Schatz an mythischen und ethnischen Traditionen übertragen 89 . W. G r ö n b e c h 90 hat mit Recht betont, daß auch im germanischen Raum „die Lieder und Sagen nicht lose weitergegeben" w u r d e n . . . „Sie gingen mit dem Mädchen, das in reichem Schmuck in das Heim des Gatten trat und eine Ehre mit sich brachte, die hochgesinnt war und zur Tat anspornte; sie wurde verbreitet, wenn ein Mann sich mit seinem Blutsbruder vereinigte und ein Teil von ihm wurde, seine Vorfahren, seine Taten, seine Gedanken empfing." — So ist es denn auch kein Wunder, daß sich manche norwegische und isländische Familie „mit dem berühmten Töter des Drachens und mit seinen burgundischen Schwägern verwandt" fühlte 91 . Gerade aber die Gemeinsamkeit der Mythen und Sagen bildet einen der wichtigsten Beweise

83) L. SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 144. 84 ) Germ. Sakralkönigtum, S. 341 ff. 85 ) Für solche Fälle scheint sich als Form des Bündnisses im germanischen Bereich neben gefolgschaftsähnlichen Bindungen die Waffensohnschaft anzubieten, die nicht wie die Schwurfreundschaft eine strenge Nebenordnung (vgl. W. FRITZE, Fränkische Schwurfreundschaft;, S. 112 ff.), sondern eine Unterordnung des einen unter den anderen ausdrückt: Dem Herulerkönig sagt Theoderich d. Gr. defensio zu und erwartet dafür devotio und obsequium (Cass. Var. IV 2). 88 ) Für solche Fälle lassen sich auch ethnologische Parallelen beibringen. Vgl. W. E. MÜHLMANN, in: Köln. Zs. 8 (1956), S. 196. 87 ) Nach der Schlacht bei Straßburg schließen die Römer gesondert mit den einzelnen Fürsten Frieden, nicht mit der Gesamtheit der Verbündeten. Genauso verhielt sich Marc Aurel im Markomannenkrieg. Vgl. Cassius Dio 71 11. 88 ) Vell. Pat. II 105. 89 ) Eine ethnologische Parallele bei R. BENEDICT, Urformen, S. 137. 90 ) Kultur u. Religion der Germanen I 5 , S. 386. 91 ) W. GRÖNBECH, Kultur u. Religion der Germanen I 5 , S. 384.

30

Aspekte des StammesbegrifFs

derer, die ein germanisches „Einheitsbewußtsein" behaupten 92 . Die Heldendichtung war nach A. H e u s 1 e r 93 oft das einzige, was ein Stamm von dem andern wußte, und somit ein verbindendes Moment. Aber daraus wird man noch nicht schließen können, daß sich das ganze germanische Gebiet „geeint weiß in der Verehrung derselben Helden" 94 . Bei der Gemeinsamkeit der Stoffe wird immer übersehen, daß hier ein deutliches Gefälle der Stoffübermittlung zu beobachten ist. Der Norden empfing und gestaltete eine Fülle gotischen und deutschen Sagengutes. Umgekehrt ist ursprünglich nordische Heldensage zwar zu den Angelsachsen, aber kaum in den deutschen Bereich gelangt. Auch hier handelt es sich nicht um ursprüngliche Gemeinschaft, sondern um kulturellen Anschluß an ein Vorbild. Ein solches Gefälle entspricht auch dem Charakter der ethnisch-politischen Bindungen im germanischen Bereich. Immer wieder wird von „Völkerbünden" gesprochen, die die Grundlage der großen Stämme des frühen Mittelalters sein sollen. Da aber das Wesen, die Form und die Folgen solcher Verbindungen im Dunkeln blieben, wurden bei der Argumentation stillschweigend ähnliche Verhältnisse vorausgesetzt, wie sie für moderne völkerrechtliche Verträge üblich sind. Wenn also etwa R. M u c h 95 von dem „Völkerbund" spricht, „den der Markomanne Maroboduus gegründet hatte", muß immer mitgedacht werden, daß die Stellung der Völker in jenem Verband eine ungleiche war. In diesem Falle wissen wir aus Vellerns Paterculus II 105 etwas über sein Zustandekommen: Marbod unterwarf alle seine Nachbarn durch Krieg oder machte sie durch Verträge a b h ä n g i g . In welcher Form die Verträge hier geschlossen wurden, ist uns nicht überliefert. Das erwähnte Beispiel der Ehepolitik Ariovists zeigt uns jedoch, daß wir schon damals mit jenen Mitteln rechnen dürfen, die später zur Festigung von Bündnissen benutzt wurden und die in dem System Theoderichs des Großen so eindrucksvoll hervortreten 96 :

• 2 ) O. HÖFLER, Gab es ein Einheitsbewußtsein der Germanen? in: Deutsche Kultur im Leben der Völker 15 (1940), S. 177—189; K. WÜHRER, Germ. Zusammengehörigkeit, S. 53, der allerdings Anm. 4 mit A. HEUSLER (Geschichtliches und Mythisches in der germanischen Heldensage, SB preuß. Ak. d. Wiss. 1909, S. 925) darauf hinweist, daß die Heldensage inhaltlich nicht „national" sei; „sie kennt vielmehr keinen Nationalfeind, ist unempfindlich für Volksgegnerschaft, Vaterland und Volkstum sind keine Triebkräfte für sie". »3) Die altgerm. Dichtung 2 o. J. (1941), S. 126 f. »«) O . HÖFLER, Einheitsbewußtsein, S. 187. »5) Dt. Stammeskde. 2 , S. 111; DERS., Germania, S. 331, S. 387. »«) Vgl. H . MITTEIS, Polit. Verträge im Mittelalter, in: ZRG GA 67 (1950), S. 85 mit Anm. 22 (Lit.). Ein ähnlich umfassendes Bündnissystem versuchte der Langobardenkönig Wacho; vgl. L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 579.

Heiratspolitik Thiudimir

Amalaberga Q O Herminafrid König der Thüringer

31 Childerich

Amalafrida Q O Thrasamund König der 'Wandalen

Theoderich Q Q Audafleda König der Ostgoten Waffensohn des Kaisers Zeno (Ostrom)

Ariagne (Ostrogotho) ( 3 0 Sigismund König der Burgunder

Thiudigotho 0 0 Alarich II König der Westgoten

Clodwig König der Franken

Waffensohn Rodulf König der Heruler

L. S c h m i d t glaubt sich zu dem Schlüsse berechtigt, d a ß in diesen Bündnissen „von einer den Ostgoten eingeräumten Vormachtstellung keine Rede w a r " 9 7 . Diese Vorstellung, die moderne Verträge als M a ß s t a b benutzt, wird der Sachlage nicht gerecht. Wie diese Bündnisse a u f g e f a ß t w u r d e n , zeigen deutlich einige Stellen aus Cassiodors Varien. Seinem Waffensohn Rodulf verspricht Theoderich defensio und verlangt devotio u n d obsequium9S. So eindeutig wie hier w i r d das Unterordnungsverhältnis bei den durch Verschwägerung verbundenen Königshäusern nicht ausgedrückt w o r den sein. H i e r w a r wohl die wirkliche Macht u n d das Ansehen f ü r die R a n g o r d n u n g der einzelnen Bündnispartner entscheidend. Nach Ennodius p a n . 70. 54 w u r d e ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis des vandalischen u n d burgundisdien Reiches geltend gemacht 9 9 . Auf alle Fälle sollten die gotischen Prinzessinnen einen Einfluß auf die Regierung ausüben 1 0 0 . M a n w i r d zweifeln dürfen, ob solche Absichten i m m e r mit der Verschwägerung verbunden w a r e n ; sicher ist, d a ß solche Verbindungen eingegangen w u r den, um die eigene Herrschaft zu stärken 1 0 1 . D a z u t r a t aber das Bestreben kleinerer Herrscher, durch die Verschwägerung mit ruhmreichen H ä u s e r n an deren H e i l und G l a n z teilzuhaben. Andererseits w a r man sich b e w u ß t , d a ß es eine besondere Gunst w a r , wenn der König eines kleineren Reidies

»7) Ostgerm.2, S. 34. »8) Var. IV 2. ®») L. S C H M I D T , Ostgerm.2, S . 340. 10 °) Cass. var. IV 1: Mittimus quae dominatum iure vobiscum impleat et nationem vestram meliore institutione componat. loi) Vgl. Jord. Get. X 65, wo solche Intentionen dem Vater Alexanders d. Gr. unterschoben werden.

32

Aspekte des Stammesbegriffs

ausersehen wurde, die Tochter eines berühmten Geschlechts heimzuführen. So wird die Heirat der ostgotischen Prinzessin Amalaberga mit dem Thüringerkönig Herminafrid mit folgenden Worten begleitet: Ut qui de regia Stirpe descenditis, nunc etiam longius claritate Hamali sanguinis fulgeatis102. So konnte es schließlich für den König zum Brauch werden, seine Frau aus dem ebenbürtigen Hause des anderen Volkes zu wählen 103 . 3. G a u t y p

und

Rasse

Das Hineinwirken ethnischer Vorstellungen in biologische Bereiche durch Heiratsordnungen und Heiratsbeschränkungen kann sich bei längerer Dauer in nicht zu großen Räumen im körperlichen Erscheinungsbild bemerkbar machen: Es bilden sich lokale Gautypen heraus, die für Naturvölker besonders charakteristisch sind 104 , aber auch im modernen Deutschland durchaus auffallen 105 . Hier ist jedoch zwischen dem Anteil, den — etwa bei der Gesichtsbildung der deutschen Stämme — rein biologische Faktoren haben, von anderen, etwa umweltpsychologischen, zu unterscheiden 106 . Eine andere Frage ist wieder, wie schwer unter den biologischen Faktoren rassische ins Gewicht fallen 107 . Auf alle Fälle dürfte es unmöglich sein, Stammeszugehörigkeit auf Grund des nur bei einem mehr oder weniger großen Teil der Individuen auftretenden Stammestypus zu bestimmen 108 . Das gilt besonders auch für die ethnische Zuordnung vorgeschichtlicher Bestattungen. Mit Recht hat C h i 1 d e 1 0 9 nur einen abrupten Wechsel des physischen Typs als Indiz eines Wechsels der Bevölkerung angesehen und sonst wenig auf anthropometrische Methoden gegeben. Völlig unbekannt ist bisher, wieweit ein Gautyp von den Stammesgenossen als Zeichen der Zugehörigkeit betrachtet wird. Daß starke rassische Unterschiede dagegen ethnisch betont sein können, ist bereits aus ägyptischen Darstellungen bekannt. 102) Cass. var. I V 1 . 1 (MG A A X I I , S. 114). »0»)

V g l . G . WAITZ, D t .

104)

THURNWALD I I , S . 1 6 4 ;

105)

Vgl. W .

MERK,

in:

Verfassungsgesch. I V , S . 2 5 0 , S.

ZRG

GA

58

I I , l 4 , S.

184.

267.

(1938),

S.

18 ff.;

F.

MAURER,

in:

Ger-

manen und Indogermanen (Fs. H . Hirt) II, S. 367. 108) W . HELLPACH, D. anthrop. Grundlagen, S. 241. 107) ebd., S. 238 ff. 108)

W . M E R K , i n : Z R G G A 5 8 ( 1 9 3 8 ) , S. 1 9 . V g l . d i e v o n O . BREMER,

Ethnogr.,

S. 17 (S. 751), zitierten Worte Virchows: „Es liegt auf der Hand, daß bei dem Mangel einer erkennbaren Übereinstimmung in den physischen Merkmalen die Entscheidung über die ethnologische Stellung eines Volkes widerstandslos den Sprachforschern in die H a n d gegeben wird." 109) Prehist. Migr., S. 1 f. Der Einstrom neuen Bluts mag sich besonders in Gebieten bemerkbar machen, die lange isoliert geblieben sind; N . - G . GEJVALL, in: Fornvännen (1955), S. 24.

Gautyp und Rasse — Einheitlichkeit der Abstammung

33

Im allgemeinen werden solche Gegensätze doch nur dann bewußt werden, wenn ein andersrassiger Stamm durch Wanderung in einen fernen Raum gelangt 1 1 0 ; unter Nachbarn sind rassische Unterschiede gewöhnlich sehr gering. Rasse und Volk sind nicht identische Größen 1 1 1 . Dennoch gibt es hier Zusammenhänge, die jedodi zu wenig erforscht sind, als daß wir sie beurteilen könnten. Die These „Der Vorgang der Rassenbildung verläuft innerhalb des Ethnos" 1 1 2 ist zu allgemein, als daß sie uns weiterführen könnte. Genauso allgemein und daher nutzlos ist — ehe genügende Unterlagen vorhanden sind — die bloße gegenteilige Behauptung, daß Rassenbildung der Großräumigkeit bedarf 1 1 3 . D a ß für die Zugehörigkeit zu einem Volk die Rasse grundsätzlich irrelevant sei 114 , wird man nicht uneingeschränkt bejahen dürfen. Die intentionalen Daten der Naturvölker — aber nicht n u r der Naturvölker —, die auch wieder in die antike literarische Tradition hineinwirkten 1 1 5 , sprechen vielfach dagegen. Audi die frühmittelalterlichen Stämme waren nicht ganz blind für somatische Unterschiede 116 . Doch ist hier eines zu beachten. Unser Rassebegriff bezieht sich auf den nackten Körper. Wahrscheinlich aber betrachtete das frühe Mittelalter — so wie wohl die meisten Völker der Erde — die gesamte Erscheinung des Menschen als Einheit 1 1 7 . Tracht, Ausdruck, Gestik und Sprechweise gehören mit zu diesem Erscheinungsbild. Die rein „anthropologischen" Merkmale sind verhältnismäßig unwichtig 118 , obwohl das körperliche Schönheitsideal der einzelnen Gruppen zu beachten bleibt 1 1 9 . 4. D i e E i n h e i t l i c h k e i t

der

Abstammung

Obwohl von einem eigentlichen Rassebewußtsein — jedenfalls in unserem Bereich — kaum gesprochen werden kann, spielt die „Reinheit" der Abstammung auch bei den Europäern eine große Rolle. Nicht nur die Teilhabe HO) Vgl. die Betonung der Farbe als Kastenzeichen der Inder. M)

V g l . F R . STEINBACH, S t u d i e n . . S .

14 f.

H2) W. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 236. n 3 ) J . F. GLÜCK, in: Soziologie u. Leben, S. 159. 1«) Wie Anm. 113. 115) Vgl. etwa Tacitus Germ. c. 4, c. 46; Agricola c. 12; Prokop b. Vand. I 2; Jordanes Get. c. 23; Isidor Etym. X I X 23. II«) Vgl. die Belege bei E. ZÖLLNER, D. polit. Stelig., S. 46, Anm. 39. m ) Audi in der antiken Überlieferung ist der habitus als Ganzheit häufig ethnisches Kriterium, obwohl gerade in der antiken Kunst der nackte Körper eine solche Rolle spielte. Vgl. Tacitus Germ. c. 45; Isidor Etym. X I X 23 u . a . HS) Vgl. W. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 154 f. Ii') So etwa bei den Montenegrinern die Körpermerkmale der sogen, dinarischen Rasse; W. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 155 nach Gesemann.

Aspekte des Stammesbegriffs

34

an dem gemeinsamen Stammesahn wird behauptet, sondern auch, daß a l l e Vorfahren e i n e s Blutes waren. Diese Haltung widerspricht der des exogamen Klans aufs schärfste und ist nur denkbar vom Standpunkt des endogamen Stammes.' In der antiken Literatur galt es als eine Abwertung einer Gruppe, wenn man von ihr gemischte Zusammensetzung behauptete 120 . J e nachdem, ob die Autoren einem bestimmten Ethnos gegenüber anerkennend oder ablehnend eingestellt waren, entstanden wissenschaftliche Polemiken über die Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit eines Volkes 121 . Tacitus etwa hat — wie Poseidonios für die Kimbern — für die Germanen insgesamt den einheitlichen Ursprung verfochten: ipsos Germanos indigenas crediderim

minimeque

aliarum

gentium

adventibus

et hospitiis

mixtos122.

Doch auch die einzelnen germanischen Stämme betonten ihre reine Abkunft 123 . Wenn sich dieser Glaube auch in Stammesnamen widerspiegelt, so dürfte es sich allerdings um Sonderfälle handeln, wie etwa bei den Skiren, deren Name „die Reinen" bedeutet (zu got. skeirs, anord. skirr, ae. scir, afries. skire, as. skir, skiri „klar, rein, lauter", vgl. anord. skirborinn, skirgetinn „von echter Geburt") 124 . Eben diese Skiren dürften es gewesen sein, die ihre Wandergenossen, die Bastarnen, mit diesem Namen versehen haben, der wohl nach R. M u c h als „Bastarde" zu deuten ist 125 . Aus einer Wendung des Tacitus 126 scheint hindurch, daß dieser Name von den Bastarnen selbst nicht gebraucht wurde, wie wir schon oben bemerkten. Dies wäre gegen deren Selbstbewußtsein gegangen. Die Abwertung des nicht Stammesgemäßen führte dazu, fremde Abkunft als Makel zu betrachten. Rassestolz spielt dabei kaum mit. Wohl aber können kulturelle Verschiedenheiten, die mit Vorurteilen von einer Seite belastet sind, eine solche ablehnende Haltung bestärken 127 . Audi die Vorstellung von der Rechtlosigkeit des Fremden, die ihn dem Sklaven gleichstellte, wirkte hierbei mit 128 . Wir brauchen uns nicht eingehend damit auseinanderzusetzen, daß auch die Vorstellung der reinen Abkunft trotz connubium der Stammesgenossen eine bloße Fiktion war. In der römischen Kaiserzeit hatten schon durch 120) Vgl. G. J. WAIS, Die Alamannen . . ., S. 16 f. mit mehreren Belegen. Vgl. E. NORDEN, D. germ. Urgeschichte . . ., S. 47 u. 68 ff. 1 2 2 ) Germ. c. 2; vgl. c. 4 tantum sui similem gentem exstitisse arbitrantur. 121)

125)

V g l . E. HEYCK, i n : H Z

85 ( 1 9 0 0 ) , S.

68.

Vgl. M. SCHÖNFELD, WB. d. altgerm. Personen- und Völkernamen, S. 200; R. MUCH, Germania, S. 4 1 7 ; J. TRIER, in: Westf. 2s. 97 (1947), S. 23 f., erwog, ohne die Möglichkeit der Muchschen These zu leugnen, eine Deutung als „Ringgenossen". !2S) Germania, S. 416 f. 126) Germ. c. 46: Peucini, quos quidam Bastarnas vocant. >27) Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. II, S. 153 u. IV, S. 127. 12 8) So konnte etwa in Island sogar eine gefangene irische Königstochter als nidit ebenbürtig angesehen werden. 124)

Der Stamm als Friedensgemeinschaft

35

manche Jahrtausende hindurch immer wieder Schichtungs- und Assimilationsprozesse die Zusammensetzung der ethnischen Einheiten verändert. W i r werden solchen Vorgängen vielfach begegnen. 5. D e r

Stamm

als

F r i e d en s g em e i n s c h a f t

„Das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern des Verwandtenkreises ist bestimmt durch den Zustand eines tiefen, heiligen Friedens, der zwischen den einzelnen Gesippen herrscht" 1 2 9 . Die Vorstellung vom Stamm als einer Abstammungs- und Blutsgemeinschaft, einer Sippe im großen, bedingt gleichzeitig die Auffassung vom Stamm als einer Friedensgemeinschaft 130 . Diese Vorstellung wird bereits von der oben 1 3 1 erwähnten politischen Verschwägerung als einem Mittel der Bündnispolitik vorausgesetzt. Insofern kann von einem tiefen Unterschied zwischen dem Frieden der Sippe und dem des Stammes nicht gesprochen werden. Wenn R . v. K i e n 1 e 1 3 2 gegen V. G r ö n b e c h darauf hinweist, daß ahd. fridu, as. jriöu,

a f r i e s . fretho,

ae. frid,

aisl. friÖr

n i e das

Verwandtschaftsgefühl,

sondern „lediglich den Zustand der Geneigtheit und des Vertrauens zum Ausdruck" bringt, „der die Angehörigen eines Stammes umschließt" 1 3 3 , so begründet das noch nicht einen solchen Unterschied. Ein Stammesfriede, „der &eoei, durch religiöse und rechtliche Bindungen geschaffen wird", im Gegensatz zu einem Verwandtschaftsfrieden als einem „Gefühl, das cpvoet vorhanden ist", hat jedoch in der Vorzeit kaum existiert 134 . Dennoch wird man die isländischen Verhältnisse nicht verallgemeinern dürfen und sich den germanischen Stamm von ständigen Fehden durchtobt vorstellen müssen. Hierzu hat O. H ö f l e r 1 3 5 mit Recht bemerkt: „hier wenden sich die kämpferischen Kräfte fast ganz nach innen, da Island allein nie einen Volkskrieg geführt hat und weder Volksheer noch Außenpolitik kannte". Der Verlust der Selbständigkeit durch das straffer or129) R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 28. Vgl. V. GRÖNBACH, Kultur und Religion der Germanen I, S. 36. 1 S 0 ) Vgl. R . THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 6 9 ; W. FRITZE, Untersuchungen, S. 290 f. 131) S. 27 ff. 132) R . v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 28 f., vgl. S. 243. 133) Entsprechend heißt der Ausgestoßene Friedloser (westnord. gutn. friölaus, aschwed. friplös, ae. friöleas, afries. fretholäs, mhd. vridelos) vgl. K. v. AMIRA, Grundriß d. germ. Rechts (31913), S. 237. 134) Vgl. H . MITTEIS, in: Z R G GA 58 (1938), S. 863; DERS., in: Fs. Zycha, S. 59; W . SCHLESINGER, in: H Z 176 (1953), S. 239 f. ( = Wege der Forschung II, S. 151 f.).

1 35 ) D. polit. Leistung . . .. S. 13. Vgl. R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 313: „auf Island mangelt all diesen Sippen mit ihrem Drang nach Kampf um Ehre die Möglichkeit, sidi im Kampf mit Stammesfeinden jene Ehre zu erwerben."

36

Aspekte des Stammesbegriffs

ganisierte Norwegen konnte nicht ausbleiben. — Die Kämpfe im Markomannenstamm zwischen Marbod und Katwald, an sich nur ein Machtkampf, wie er auch in festgefügten Staatsgebilden vorkommt, sind untypisch, führten jedoch dazu, daß die Macht des Stammes für immer gebrochen wurde. Das Schicksal der Cherusker, deren Untergang durch innere Kämpfe und Parteiungen verursacht wurde, ist ein weiteres, noch deutlicheres Beispiel. In diesen Fällen handelt es sich wohl nur um die in den meisten Herrschergeschlechtern tobenden Kämpfe um das Königtum innerhalb einer stirps regia,

w o allgemein selbst das S i p p e n b a n d nicht v o r

Verwandtenmord schützt. Wir können also wohl umgekehrt schließen, daß innerhalb von Stämmen, die ihre Kontinuität wahren konnten, das Fehdewesen kein Dauerzustand war und in gewissen Grenzen blieb. Dies entspricht durchaus der allgemeinen Feststellung des Tacitus über die inimicitiae

d e r S i p p e n : nec

implacabiles

durant136.

Dennoch muß betont werden, daß die Möglichkeit der Fehde innerhalb keltischer 137 und germanischer 138 Stämme nur zeigen kann, wie sehr auch die Vorstellung vom Stamm als einer Friedensgemeinschaft fiktiv war 1 3 9 . Sie wurde nur dann wirksam, wenn der Stamm als solcher handelnd auftrat: in der Kultfeier, im Ding, im Heeresverband 1 4 0 . Nach W. B a e t k e 1 4 1 hat „Frieden" im vorgeschichtlichen Germanentum zudem einen anderen Sinn als heute; „es bedeutet den unter dem Schutz der Götter stehenden heiligen Zustand, wie er im Tempel, beim Opfer, auf dem Thing, aber auch im Volksgesetz und in der Sippenordnung herrscht". Der kultische « « ) Germ. c. 21. 137) Vgl. U . N o a c k , Nordische Frühgeschichte u. Wikingerzeit, S. 191. >38) K . v. A m i r a , Grundriß d. germ. Rechts (31913), S. 237 f. Vgl. die Möglichkeit der Raubehe innerhalb des Stammes: R . v. K i e n l e , Germ. Gemeinschaftsformen, S. 57 f. 139) Wenn W . E. M ü h l m a n n , Krieg und Frieden, S. 17, feststellt: „Die Gruppe, innerhalb deren Kriege undenkbar sind, ist der Klan, nicht der Stamm", muß beachtet werden, daß für ihn der „Stamm" nur eine kulturelle Einheit ist und keine politische wie der Klan. 140) Vgl. Tacitus Germ. c. 4 0 (während des Nerthusfestes): non bella inennt, non arma sumunt; clausum omne ferrum; vgl. c. 44 über den Verschluß der Waffen bei den Suiones. Die allgemein gehaltene Formulierung bei Tacitus wird m. R. auf die Sonderverhältnisse während des Kultfestes gedeutet, c. 11: silentium per sacerdotes, quibus tum et coercendi ins est. c. 7 über die Strafgewalt des Priesters im Heeresverband. 141) Die Religion der Germanen in Quellenzeugnissen, S. V I I I , Anm. 2 ; vgl. ebd., S. 32. Für W . F r i t z e , Untersuchungen, S. 306 f., ergibt sich für die Merowingerzeit die Auffassung, daß Friedenswahrung bedeutet, den Rechtsgedanken zur Geltung zu bringen. Auch nach ihm ist der Friede nicht nur negativ das Gegenteil des Krieges, sondern kennzeichnet positiv einen bestimmten Zustand: Es ist eine Rechtsbeziehung zwischen den „Friedensgenossen" hergestellt worden, die sich erst im Frieden als Rechtspersonen anerkennen.

Kultischer Friede — Kampfregelungen

37

Frieden 1 4 2 w i r k t e lange n a d i in den Sonderfrieden, u n t e r denen n o d i im Mittelalter K u l t - u n d Gerichtsstätte standen. Island, f ü r das H e u s 1 e r sogar das Fehlen der Vorstellung einer Friedensgemeinsdiaft behauptet 1 4 3 , ist auch hierin ein Sonderfall, der aus seinen geschichtlichen Bedingungen zu erklären ist. Die südgermanischen Zeugnisse setzen die Vorstellung an vielen Stellen voraus. M a n hielt an dieser Fiktion sogar d a n n noch fest, wenn der Stamm sich politisch gespalten hatte. So hält Jordanes einen K a m p f zwischen Gepiden und Westgoten f ü r einen Krieg zwischen Blutsverwandten 1 4 4 . M a n vergleiche audi den Eindruck der Schlacht bei Fontenoy auf die Zeitgenossen 145 , um zu erkennen, d a ß ein solches G e f ü h l selbst den F r a n k e n späterer Zeit nicht mangelte. Aus der Diskrepanz zwischen dieser Vorstellung des Stammes als einer Friedensgemeinschaft: und den tatsächlichen Verhältnissen ergibt sich, d a ß m a n selbst aus kriegerischen Verwicklungen „ v e r w a n d t e r " Stämme untereinander nicht zwingend auf einen Mangel an Zusammengehörigkeitsbewußtsein schließen kann 1 4 6 . Dennoch scheinen Einwirkungen des ethnischen Bewußtseins — oder besser eines gewissen Gefühls der Vertrautheit 1 4 7 und der Achtung — auf die Kampfesweise nicht ganz zu fehlen. G e r a d e zwischen ständig im K a m p f liegenden G r u p p e n pflegen sich im L a u f e der Zeit Regelungen der K a m p f e s weise u n d schließlich Friedenszustände einzustellen 1 4 8 . D i e Fehden innerhalb des Stammes dürften sich bereits in germanischer Zeit an bestimmte Formen gehalten haben, werden doch gewisse Regeln selbst in den Stammeskriegen eingehalten. M a n denke auch an das Angebot der Kimbern an Marius, den T a g der Schlacht zu bestimmen 1 4 9 . Das ist merkwürdig, denn gewöhnlich setzten solche Regelungen ein gewisses gegenseitiges Verstehen voraus, das sich nur bei kultureller Verwandtschaft ergeben k a n n . Der Krieg zwischen ethnisch f r e m d e n G r u p p e n w i r d gewöhnlich erbarmungslos und ohne jede Rücksicht geführt 1 5 0 . D i e A r t u n d Weise, in der die R ö m e r seit "2) W. SCHLESINGER, in: Hess. Jb. f. LG 3 (1953), S. 2. 113) Strafrecht der Isländersagas (1911), S. 225. i « ) XLVIII 253 (MG AA V 1, S. 123, 13 f.): quibus nec contra parentes Vesegotbas licuisset recusare certamen, sed nécessitas domini, etiam parricidium si iubet, implendum est. Vgl. auch Jordanes XXV 133 (MG AA V 1, S. 92). Später brachten diese (die Vesegoten) den Ostgoten und Gepiden, ihren Verwandten, aus Liebe das Evangelium. I«) E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung . . ., S. 242. 148 ) Wie etwa E. F. GAUTIER, Genséric (1932), S. 65: Ils se détestaient les uns les autres, de tribu à tribu. 147) Vgl. die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Friede, vgl. oben, S. 35. 14S ) W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 178, stellt fest, „daß die Kriegsführung um so geregelter ist, je kriegerischer ein Volk ist". Vgl. S. 145, S. 114, S. 182, S. 1 8 8 . 149 ) Florus I 38 (aus Livius). Plutarch Marius c. 25. 150) w . E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 122.

Aspekte des Stammesbegriffs

38

Caesar gegen die Germanen Krieg führten, ließ solche Regelungen außer acht, weshalb schließlich auf beiden Seiten ohne Skrupel gekämpft wurde 1 5 1 . Es wäre interessant, einmal die Kriegsführung germanischer Stämme untereinander von diesem Gesichtspunkt aus zu untersuchen. Dabei müßte jedoch darauf geachtet werden, daß wir u. U . — nach einer ansprechenden V e r mutung W . S c h l e s i n g e r s 1 5 2 — mit mehreren Formen des Krieges bei Germanen zu rechnen haben: dem Volkskrieg mit stark sakralem Charakter und dem Gefolgschaftskrieg.

6.

Der

Stamm

als

Rechtsgemeinschaft

Seit Herodot 1 5 3 gehören die vöfioi zum festen Bestand der antiken E t h n o graphie, und Tacitus steht selbstverständlich in dieser Überlieferung. Audi dieser traditionell gebundene Zug der alten Völkerkunde stimmt mit dem Selbstverständnis des Ethnos auf der ganzen Welt überein. Manche N a t u r v ö l k e r " empfinden sich als geschlossene Blutracheverbände 1 5 4 . Allgemein empfindet sich das Ethnos als Rechtsgemeinschaft, vielfach sogar in dem Sinne, daß das eigene Recht als das Recht schlechthin angesehen wird, während die Fremden gesetzlos leben 1 5 5 . Außerhalb gibt es kein Recht, sondern nur Willkür. D i e Rechtlosigkeit des Fremden beruht auf solchen A n schauungen. Gerade das Recht sollte im germanischen Bereich besondere Bedeutung für Stammesgemeinschaft und Stammesbewußtsein haben, ist doch nach einem W o r t von H . M i 11 e i s die germanische Welt eine Welt des Rechts 1 5 6 . Für Regino von Prüm gehören die leges mit zu den Unterscheidungsmerkmalen der nationes populorum157. D i e mit den Langobarden nach Italien gezogenen Sachsen kehren nach Hause zurück, weil ihnen nicht gestattet 1 3 ) ) Der Überfall — vgl. Arminius in der Schlacht im Teutoburger Wald und Germanicus im Hain der Tamfana — ist von diesem Standpunkt aus ein Rückfall in „barbarische" Kampfformen. !52) In: Vorträge u. Forschgn. III, S. 119 f. Vgl. H. KUHN, in: Germ. Altertumskde. (hrsg. H. Schneider 21951), S. 98 ff. 153) Vgl. K. TRÜDINGER, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie (Basel 1918), S. 15 u. passim. 154) Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 69. 155) Vgl. etwa Herodot Hist. IV 106 (vom Standpunkt der Skythen aus berichtet) : Sie (d. h. die Androphagen) haben keine Rechtspflege und keine Gesetze (ovrs dixrjv vo aiQovxiq ovxs vö/uq) ovdsvl %Q(.ÜJ(xevoi). Vgl. dazu K. LECHNER, in: Saeculum 6 (1955) über das byzantinische Barbarenbild.

156) Der Staat d. hohen Mittelalters (1940), S. 15. 157) Vgl. oben S. 14 f.

Der Stamm als Rechtsgemeinschaft

39

wird, in proprio iure subsistere158. Widukind von Corvey weist ausdrücklich darauf hin, daß in Sachsen die Nordschwaben andere Gesetze gehabt hätten als die Sachsen: Suavi vero Transbadani ideo aliis legibus quam Saxortes utuntur159; eine Feststellung, die auch der Sachsenspiegel noch bestätigt 160 . Der N a m e des Stammesrechts k a n n — wenigstens später — sogar zum Territorialbegrifi werden: Danelag (Danelaw), Tröndelag. Es ist ein Rechtskodex, in dem das fränkische Selbstbewußtsein seinen stärksten Ausdruck fand 1 6 1 . Nach W. M e r k 1 6 2 ist das Recht bei den Germanen mehr Kennzeichen der Stammeszugehörigkeit als die Sprache. So ist es denn kein Wunder, daß man versuchte, die Stammesgebiete nach der Geltung bestimmter Rechtssätze festzulegen 163 . So konnte man vom Stamm als einer Rechtsgemeinschaft sprechen 164 . Noch H . C o n r a d 1 6 5 behauptete von den einzelnen germanischen Völkerschaften, sie hätten ein eigenes Recht besessen. Trotz dieser scheinbar nicht zu widerlegenden Auffassung meldeten sich doch ständig Zweifel. Dabei ist jedoch der Hinweis auf das Fehdewesen heute überholt, denn „auch Rache und Fehde dienen der Wiederherstellung verletzten Rechtes und sind so Elemente der objektiven Rechtsordnung 166 . Schwerer wiegt der Einwand M i 11 e i s' gegen die Vorstellung, die germanische civitas sei ein „geschlossenes" Rechtsgebiet im materiellen Sinne gewesen, da doch sicher mehrere civitates dem gleichen Stammesrechte angehörten 167 . Tatsächlich bezeugt noch Prokop 1 6 8 , d a ß Ost- und Westgoten, 158) Paul. Diac. Hist. Langob. III 6; E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung . . ., Anm. 78, bemerkt ganz richtig, daß selbst wenn das Motiv für die Sachsen zutrifft (was L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 596, Anm. 2, für unwahrscheinlich doch damit die Bedeutung des Volksrechtes für den Geschichtsschreiber belegt 159) I 14.

S. 54, nicht hält), wird.

1 60 ) Sachsenspiegel LdR I, 17 § 2, S. 18 ff. HUGELMANN, Stämme . . . , S. 61, glaubt allerdings aus dem Vergleich beider Formulierungen einen Anpassungsprozeß ablesen zu können. i®1) Prolog der Lex Salica; vgl. E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung . . ., S. 54. i«2) ZRG GA 58 (1938), S. 17. I«3) W . MERK, in: Z R G G A 58 ( 1 9 3 8 ) , S. 4 ; R. SCHRÖDER, A u s b r e i t u n g der sa-

lisdien Franken, in: Forschgn. z. dt. Rechtsgesch. 19 (1879), S. 139 ff.; DERS., Herkunft der Franken, in: H Z 43 (1875), S. 46 ff.; DERS., Die Franken und ihr Recht, in: ZRG GA 2 (1881), S. 43 ff.; E. MAYER-HOMBERG, Fränk. Volksrechte im Mittelalter Bd. 1 (1912). I«4)

H . BRUNNER, G r u n d z ü g e d. d t . R G , 7 . A u f l . ( 1 9 1 7 ) , e d . E . HEYMANN, S. 1 3 .

i«5) Dt. RG I (1954), S. 40. 166 ) H . MITTEIS, Formen der Adelsherrschaft, S. 233. Eingehend bei O. BRUNNER, Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgesdiichte Südostdeutschlands im Mittelalter ( 4 1959), S. 1—110. 167) H . MITTEIS, L a n d u n d H e r r s c h a f t , i n : H Z 1 6 3 ( 1 9 4 1 ) , S. 4 7 7 .

i«s) b. Vand. I 2.

40

Aspekte des Stammesbegriffs

Wandalen und Gepiden das „gleiche" Recht gehabt hätten. Wenn diese Aussage auch nicht zu pressen ist, so viel wird man ihr doch entnehmen können, daß in auffälligen Zügen, die in besonderem Kontrast zum römischen Recht standen, eine gewisse Übereinstimmung sichtbar war, die zu dieser Auffassung Prokops führte. Fraglich bleibt allerdings, ob Prokop vom Standpunkt des Römers urteilt oder ob die Meinung aus germanischen Kreisen stammt. V o n völliger Identität des Rechts wird man selbst innerhalb einer kleinen civitas nicht sprechen können. Schon die geringe Kompetenz des Völkerschaftsdings verhinderte völlige Einheitlichkeit 1 6 9 . K . S. B a d e r behauptet für das frühe Mittelalter sogar etwas überspitzt, daß sich das Rechtsleben in kleinen Gemeinschaften vollzog, die zäh ihr Eigenleben bewahrten: „in Familie und Sippe, in königlicher und adliger Gefolgschaft, in lokalen Siedlungs- und Sakralverbänden" 1 7 0 . Obwohl für die frühmittelalterlichen Großstämme andere Verhältnisse anzunehmen sind als für die ohnehin kleineren Völkerschaften taciteischer Zeit, wird auch damals mit Sonderentwicklungen in Teilgebieten zu redinen sein. D i e Rechtsbildung folgt, wie F. B e y e r 1 e einmal formulierte 1 7 1 , eigener Gesetzlichkeit. Die Existenz der sogenannten Volksrechte dürfte kein Gegenargument sein. Entgegen der Behauptung vom Volk als Rechtsschöpfer im Bericht der Lex Salica über die Aufzeichnung des Frankenrechts 1 7 2 neigt die heutige Forschung dazu, in diesen Volksrechten das Produkt einer bewußten königlichen Rechtspolitik zu sehen 1 7 3 . Die Lex Salica war nach K . S. B a d e r „nicht d i e Rechtsordnung der Franken, sondern allenfalls der Teil, der die Königsgewalt unmittelbar anging oder interessierte und den sie selbst abgrenzte". Trotz allem kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich die Stämme als Rechtsgemeinschaften f ü h l t e n . D e r Geächtete wurde eben als aus dem Rechtsverband ausgestoßen betrachtet: westnord. ütlagr, ostnord. utlceger, utlagper, ae. ütlah, mnd. ütlagh174. E r mußte ins Ausland, ins „Elend" 169) VGL. H . MITTEIS, Formen der Adelsherrsdiaft, S. 229. Im formellen Sinne, als Geriditsgebiet, ist auch für MITTEIS die civitas geschlossenes Rechtsgebiet: H Z 163 (1941), S. 477. 170) Volk, Stamm, Territorium, in: Wege der Forschung II, Herrschaft u. Staat im Mittelalter, S. 236. 171) Auf der Reichenautagung im April 1955. i ' 2 ) E. ZÖLLNER, D . polit. Stellung . . ., S. 54. I " ) H . MITTEIS, Formen der Adelsherrschaft, S. 227. Vgl. F . STEINBACH, Studien . . ., S. 3; K . S. BADER, Volk, Stamm, Territorium, in: Wege der Forschung II, S. 249 f. ( = H Z 176 [ 1 9 5 3 ] , S. 454) m. weiterer Literatur. Wir sehen in diesem Gegensatz eine weitere Diskrepanz zwischen der Auffassung des Ethnos selbst und den von der Wissenschaft feststellbaren Verhältnissen. " 4 ) Vgl. K . v. AMIRA, Grundriß d. germ. Rechts («1913), S. 237.

Der Stamm als Rechtsgemeinschaft

41

gehen175. Das eindrucksvollste Zeugnis für das B e w u ß t s e i n der Rechtsgemeinschaft verdanken wir dem in solchen Fragen außerordentlich zuverlässigen Prokop 176 , der berichtet, daß Wandalen aus der alten Heimat nach Nordafrika gekommen seien, um die dortigen Stammesgenossen zu bitten, auf ihre Landlose im Norden zu verzichten. Das Recht der Stammesgenossen wird trotz politischer Trennung über mehrere Jahrzehnte gewahrt. Bestimmte Rechtsgewohnheiten können darüber hinaus — wie andere Züge der Gesamtkultur — auch als Stammeskennzeichen herausgestellt oder von anderen Stämmen als solche empfunden werden. Die Verpflichtung, rechtlich zu handeln, gilt also trotz aller etwaigen Unterschiede des materiellen Rechts, die wohl meist nicht ins Bewußtsein getreten sind. Sie gilt aber auch nur innerhalb des Stammes. Außerhalb der Rechtsgemeinschaft des Stammes gibt es ja kein Recht. Die Rechtsnatur der Ordnung des Nachbarstammes wird nicht erkannt oder als verdorben betrachtet. Caesar berichtet auch von den Germanen 177 : Latrocinia nullam habent infamiam, quae extra fines cuiusque civitatis fiunt. So wie den Römern ein „Völkerrecht" gegenüber den Barbaren kaum gilt 178 , ist auch jeder „Vertrag" mit Stammesfremden stets gefährdet. Innerhalb des Stammes betont man seine Vertragstreue als Ruhmestitel: nullos mortalium armis aut fide ante Germanos esse, rufen zwei friesische Fürsten in Rom und setzen sich im Zirkus auf die Ehrenplätze bei den Senatoren 179 . Wenn Germanen beim Spiel ihre Freiheit verlieren, so gehen sie ohne Widerstreben in die Knechtschaft: ipsi fidern vocant180. Dem Feinde geschworene Verträge dagegen werden kaum länger gehalten als es die politische Notwendigkeit erfordert oder bis eine günstige Gelegenheit auftaucht, Beute zu machen. Mit Recht lehnt K. H e l m in bezug auf die Goten ab, aus solchen Zeugnissen zu schließen, ihnen habe der Eid überhaupt nichts gegolten181. Treulosigkeit 182 , Lüge 183 und Hinterlist 184 stehen I " ) Vgl. o . BRUNNER, Land u. Herrschaft lante „Ausländer, Verbannter, Friedloser").

(21942),

S. 2 0 9

(ahd. alilandi,

eli-

" « ) b. Vand. I 22. ) b. G. V I 23; vgl. V I 35 von den Sugambrern: in hello latrociniisque notos; Tacitus Germ. c. 14: Bella et raptus. Von den Venethi Germ. c. 4 6 : latrociniis pererrant. 178) VGL. W . CAPELLE, Das alte Germanien, S. 12. Selbst Augustus achtete nicht das Gesandtenrecht. E r ließ die Gesandten der Sugambrer festnehmen und internieren. Vgl. auch Caesars Verhalten gegenüber den Abgesandten der Usipier und Tenkterer: b. G. IV 13. Ein Bruch des Gesandtenrechts seitens der Barbaren löste umgekehrt Entrüstung aus. Vgl. Caesar b. G. I 47. 6 (Ariovist) u. I I I 9. 3 (Veneter). " « ) Tacitus Ann. X I I I 54. 3. 180) Tacitus Germania c. 24. 181) Altgerm. Religionsgeschichte II, 1 (1937), S. 65. 182) Einige Beispiele für die perfidia der „anderen": Caesar b. G. I V 1 3 . 4 (simulatione et perfidia usi Germani) 177

42

Aspekte des Stammesbegriffs

daher unter den abwertenden Urteilen über andere „Völker" und Stämme bis ins Mittelalter weit an der Spitze. Selbst Salvian, der die Vorzüge der Barbaren gegenüber den Römern heraushebt, kann an dieser Einstellung nicht vorbeisehen (Gotborum gens perfida sed pudica . . . Franci mendaces sed hospitales)185. Wenn man die ethnische Auffassung vom Recht als einer nur innerhalb der Gemeinschaft geltenden Ordnung berücksichtigt, so erscheint der Standpunkt L. S c h m i d t s 1 8 6 , der das Rechtsverhältnis zwischen den in Ungarn gebliebenen und den nach Afrika ausgewanderten Wandalen 1 8 7 als Vertragsrecht „zwischen zwei selbständigen Staaten" ansieht, als eine unberechtigte Übertragung moderner völkerrechtlicher Vorstellungen. Die Achtung des Rechts der Ausgewanderten über eine so lange Zeit hinweg ist nur denkbar unter Stammesgenossen. Auf dem Hintergrund dieser Vorstellungen erscheint der Zustand im fränkischen und für gewisse Rechtsgebiete auch im langobardischen 188 Reich als ein bisher unerklärtes Phänomen. Die Personalität des Rechts, die noch Dio L X X V I I 20. 2 (ämaria der Alamannen) Ammian X X V I I 10. 3 (ebenfalls über A l a m a n n e n : reparabilis gentis motus timebantur infidi) Orosius h. V I I 38. 1 (Stilico, Vandalorum inbellis, avarae perfidae et dolosae gentis genere editus) Salvian gub. Dei I V 64 (Gothorum gens perfida sed pudica) Besonders den F r a n k e n wurde häufig Treulosigkeit vorgeworfen: Hist. August, vita Proculi X X I X 1 3 . 3 : Francis, qttibus }amiliare est ridendo fidem frangere. Paneg. V I I 2 4: totius gentis lubricum fidem timore vinxisti X I I 2 22: periura gens (Weitere Belege aus den Paneg. bei A. HAUCK, KG I 8 , S. 97, Anm. 4) Salvian gub. Dei IV 67: gens . . . Francorum infidelis I V 68: Francorum perfidia Prokop b. G. II 25: eou ya,Q r o e'dvog TOVTO ra es niaxiv acpaXEQibxatov ävüaiTKüv änavxwv (vgl. II. 28). Dieser „Ruf der Treulosigkeit" kann natürlich bei der Allgemeinheit dieses Vorwurfs keine fränkische „Abhängigkeit vom romanischen Westen" andeuten, wie H. GÜNTERT, Gesch. d. germ. Völkerschaften, S. 45, erklärt. Vgl. A. LEIPRECHT, Der Vorwurf der germanischen Treulosigkeit in der antiken Literatur, Diss. Würzburg 1932; E. BICKEL, Arminiusbiographie und Sagensigfried (1949), S. 69 ff. Dieser Vorwurf war selbstverständlich nicht auf Germanen beschränkt. Zunächst sind es die Punier, denen er gilt; vgl. E. BURCK, Das Bild der Karthager in der römischen Literatur, in: Rom und Karthago (1943), S. 307. Auch die Slaven galten vom römischen Standpunkt aus als unzuverlässig (vgl. K. MÜLLENHOFF, DA II, S. 37), ja allgemein die Barbaren (Ammian X V I I I 2). Umgekehrt haben auch die Franken ihren Gegnern denselben Vorwurf gemacht: Gesta Dagoberti c. 14 (SS rer. Merov. II, S. 405): Saxonum perfidia Contin. Fredeg. c. 35 (SS rer. Merov. II, S. 182): Saxones . . . solito more iterum rebelies.

Personalität des Rechts

43

in der Ostkolonisation eine solche Rolle spielen sollte, erscheint dem an die Territorialität des Rechts gewöhnten modernen Menschen als primitiver Zug. Im Verhältnis zu wirklich primitiven Vorstellungen erweist sie sich als ein fast unvorstellbarer und einmaliger Fortschritt, dessen Bedingungen und Phasen uns noch keineswegs klar sind, der Aufhellung jedoch dringend bedürfen. Daß die Gewährung eigenen Rechts an bestimmte Gruppen keineswegs selbstverständlich war, zeigt das Verhalten der Langobarden den verbündeten Sachsen gegenüber, denen sie nicht erlaubten, in proprio iure subsisterela9. Voraussetzung scheint ein — durch die Reichsbildung hervorgerufenes oder gefördertes — Zusammengehörigkeitsgefühl zu sein 190 . Wieweit gab die durch römische Tradition bedingte Zweiteilung des Rechts für Barbaren und Römer in einigen Germanenstaaten ein Vorbild ab? Wieweit Ann. qui die. Einhardi ad a. 776: illius perfidi populi (Sachsen) 795: in odium perfidae gentis (Sachsen) 797: perfidae gentis contumaciam (Sachsen) Vita Ludov. imp. SS II, S. 616: Wascones nativum assuetumque fallendi morem exercere conati Ann. qui die. Einhardi ad a. 786: perfida gens (Bretonen) 799: perfidia Brittonum Ann. Regni Franc, ad a. 825: gentilicia perfidia Ann. Fuldens. ad a. 849: Boemani more solito fidem mentientes E. Z Ö L L N E R , D. polit. Stellung . . ., S. 74, will die Gleichförmigkeit dieser Anschuldigungen aus der Gleichartigkeit der Situation erklären, in der sich alle den Franken gegenüber befanden. Gegen deren überlegene Macht konnten sie nur mit einer Kampfesweise, die mit Hinterhalten und Uberfällen operierte, etwas ausrichten. Obwohl eine derartige Kampfesweise ethnische Distanz kennzeichnen kann (vgl. unten, S. 104 f.), beachtet diese Interpretation nicht genügend die Tatsache, daß bereits der Abfall als solcher — also der Vertragsbruch — als perfidia ausgelegt wird (vgl. den Beleg b. Contin. Fred. c. 35). Über die reimende Formel walscb und falsch vgl. L. WErsGERBER, Deutsch als Volksname, S. 249. 183) Velleius II 118 (natumque mendacio genus). Salvian gub. Dei VII 64 (Franci mendaces). Vgl. E. Z Ö L L N E R , D. polit. Stellung . . ., S. 1 3 7 (Grabinschrift des Fürsten Sico von Benevent feiert Siege über die „lügnerischen Männer der parthenopäischen Stadt"). 184) Caesar b. G. IV 13. 4 (vgl. Anm. 182). Prokop b. G. II 22 (Franken) Jordanes LVIII 302 (Franken). 185) gub. Dei VII 64. 186) Ostgerm. 2 , S. 107, Anm. 5. W) Vgl. oben S. 41. 188) Uber die wenigstens für bestimmte Rechtsbereiche geltende Personalität des Rechts im langobard. Reich vgl. L. S C H M I D T , Ostgerm. 2 , S . 612 (civis Brixianus Stavila vivens legem Gothorum v. Jahre 769). F. BEYERLE, Ges. d. Langobarden, S . 445, weist darauf hin, daß das Personalitätsprinzip für Langobarden und Römer erst Lpr 127 kennt. 18») Vgl. oben S. 38 f. 19 °) „Fremde, d. h. außerhalb des fränkischen Reiches geltende Rechte wurden nicht anerkannt"; z.B. jüdisches u. slavisches Recht; H . C O N R A D , Dt. RG I, S. 181.

44

A s p e k t e des

Stammesbegriffs

lag darin nur Resignation angesichts der Unmöglichkeit, in dem weiten Reich die Rechtseinheit durchzusetzen 191 ? Haben Unterwerfungen mit dem Vorbehalt des eigenen Rechts 192 schon bei der E n t s t e h u n g des Personalitätsprinzips eine Rolle gespielt? Sicher ist, daß die Anerkennung der Stammesrechte in ihrer Bedeutung für das Weiterleben des Eigenbewußtseins der Stämme im fränkischen und später im deutschen Reich nicht zu verkennen ist 193 . Während für die ersten autochthonen Geschichtsschreiber der Slawen (Cosmas, sog. Nestorchronik) die „Stämme" keine Realität der Gegenwart mehr sind, kann noch hundert Jahre später — wenn auch mit archaisierender Tendenz — Eike von Repkow einen „Sachsenspiegel" verfassen. Im Norden hat wieder allein ein gemeinnordisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das keine politische Grundlage hatte, die Rechtlosigkeit des Fremden im eigenen Land abgeschwächt und teilweise aufgehoben. Nach der isländischen Graugans 1 9 4 konnten Verwandte eines erschlagenen „Ausländers der dänischen Zunge" (d. h. eines Dänen, Norwegers oder Schweden), die sich in Island befanden, Klage erheben. Bei anderen Ausländern durften nur Vater, Sohn oder Bruder des Erschlagenen dies tun, dazu nur unter bestimmten Bedingungen. Im älteren Westgötalag läßt die Abstufung der Bußen für Totschlag und Verwundung je nach Volkszugehörigkeit 1 9 5 ein mit der Entfernung vom eigenen Rechtsbereich schwächer werdendes Gemeinschaftsgefühl erkennen 196 .

7. D e r

Stamm

als

Siedlungsgemeinschaft

Die Versuche, Stammesgebiete kartographisch festzulegen, gehen gewöhnlich von der Voraussetzung aus, daß der Stamm eine Siedlungsgemeinschaft ist. Das scheint selbstverständlich, ist aber nur unter bestimmten Bedingun191) D i e s e n G r u n d b e v o r z u g t F . BEYERLE, ( P r o t . d. R e i c h e n a u t a g u n g 1 6 . — 1 9 . 3 . 1 9 5 9 , S. 8 6 f . ) .

B e s t r e b u n g e n z u r V e r e i n h e i t l i c h u n g des R e c h t s sind g u t

bezeugt:

A g o b a r d i L u g d u n e n s . a r c h i e p . epist. 3 M G E p p . V , S. 1 5 8 ff. ( L i b e r a d v e r s u s l e g e m Gundobadi). 192) V g l . e t w a die F o r d e r u n g d e r s e p t i m a n i s d i e n G o t e n a n P i p p i n

(Chronicon

Moissiacense a d a. 7 5 9 , M G S S I, S. 2 9 4 ) ; v g l . E . ZÖLLNER, D . p o l i t . S t e l l u n g . . ., S. 5 4 . !»3) V g l . K . G . HUGELMANN, S t ä m m e . . . , S. 4. 194) i n

97 y g l . e n t s p r e c h e n d e B e s t i m m u n g e n des E r b r e c h t s V I I 1 2 5 ; Berücksich-

t i g u n g d e r dgnsk 195

)

tunga

(„dänische Z u n g e " ) auch I I 2 0 ; I V 1 1 4 ; V I I

120.

A u c h i m S ü d e n ist ein solches P r i n z i p in A n s ä t z e n zu e r k e n n e n ( L e x R i b . ) .

196) V g l . die B u ß e n f ü r T o t s c h l a g : 1 § 4 f. I n l ä n d e r , 5 § 1 f. S c h w e d e n u n d S m a länder, § 3 D ä n e n und N o r w e g e r , § 6 Südleute und E n g l ä n d e r . Schweden,

Sma-

länder,

bean-

Dänen

und

Norweger

haben

gleiche W u n d b u ß e

spruchen, S ü d l e u t e u n d E n g l ä n d e r nicht.

wie

Inländer

zu

Der Stamm als Siedlungsgemeinschaft

45

gen richtig. Es ist immer im Auge zu behalten, daß der Stamm an sich ein Personalverband ist. Daher rührt es ja, daß die Ländernamen vielfach aus Völkernamen zu erklären sind und daß gerade in unserem Bereich oft der Stammesname oder eine Ableitung von ihm das Stammesgebiet mitbezeichnet 197 . Andererseits ist aus Caesar 1 9 8 und Tacitus bekannt 199 , daß die Gebiete der germanischen Völkerschaften von ödmarken und Wasserläufen begrenzt waren. Diese Tatsache hat sich die Siedlungsarchäologie 200 zunutze gemacht und versucht, die sich so ergebenden Siedlungskammern zu erfassen, was in Gegenden, wo eine intensive Landesaufnahme möglich war, wie z. B. in Schleswig-Holstein, schon zu wertvollen Erkenntnissen geführt hat 2 0 1 . Eine solche germanische Siedlungsgemeinschaft ist aber primär politische Gemeinschaft 202 , die sich allerdings in vor- und frühgeschichtlicher Zeit schnell auch zu einem Ethnos entwickelte. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, daß, wie zahlreiche Beispiele zeigen (Ost- und Westgoten und Gepiden, Wandalen in Ungarn und Afrika, Angelsachsen und Sachsen usw.), das ethnische Band auch nach der räumlichen Trennung wenigstens eine gewisse Zeit hindurch erhalten bleibt. Die größere Konstanz des ethnischen Bewußtseins führt in Wanderzeiten selbstverständlich auch dazu, daß in einem Siedlungsraum kein einheitliches Stammesbewußtsein herrscht. Sicherlich wird man schon dem Zusammensiedeln als solchem eine vergesellende Wirkung nicht absprechen können 203 . Dabei brauchen in einem geographischen Raum unmittelbar benachbarte Gruppen nicht notwendig 197) Vgl. die germ. u. italischen Beispiele bei DOVE, Studien . . . , S. 18 m. Anm. 4 u. S. 19. «8) Caesar b. G. V I 2 3 . 1 . 1 9 9 ) Tacitus Germ. c. 40: fluminibus aut silvis muniuntur. 200) Der Begriff hat in der Prähistorie einen Bedeutungswandel durchgemacht. Bezeichnete er anfangs Kossinnas Methode der Gleichsetzung von archäologischen Fundgruppen mit ethnischen Einheiten ohne Rücksicht auf die geschichtliche Epoche, versteht man heute darunter die genaue Erfassung vor- und frühgeschichtlicher Siedlungsräume. 201) VGL. H . JANKUHN, Methoden und Probleme siedlungsardiäologischer Forschung, in: Archaeol. Geogr. 4 (1955), S. 73—84; DERS., Klima, Besiedlung und Wirtschaft der älteren Eisenzeit im westlichen Ostseebecken, ebd. 3 (1952), S. 23—35; DERS., Die Besiedlungsgeschichte Südostschleswigs im ersten nachchristlichen Jahrtausend, in: Gutenbrunner-Jankuhn-Laur, Völker und Stämme Südostschleswigs im frühen Mittelalter, bes. S. 22. Die Zs. Ardiaeol. Geogr. enthält noch eine ganze Reihe wertvoller Untersuchungen dieser Richtung von verschiedenen Verfassern. 2 0 2 ) Das gilt sowohl für die Völkerschaft taciteischer Zeit wie für das frühe Mittelalter, wo die Trias patria — gens — rex oftmals begegnet. Diese deckt sich (vgl. H . BEUMANN, in: Vorträge u. Forschgn. III, S. 221) mit dem von W. Schlesinger herausgearbeiteten Begriff der „Herrschaft über Land und Leute"; vgl. W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: H Z 176 (1953), S.264ff. ( = Wege der Forschung II, S.178ff.). 203) R . THURNWALD, D. menschl. Gesellsdi. IV, S. 40 f.

Aspekte des Stammesbegriffs

46

ein Gemeinschaftsbewußtsein auszubilden, ja das Gegenteil ist häufig genug 204 . Wir kennen auch viele Fälle, in denen nach Wanderbewegungen die jetzt in ethnischer Würfelung 2 0 5 durcheinandersiedelnden Fremdgruppen sich nur wenig assimilierten. Es kann auf Grund besonderer Intensität des Denkschemas der verwandtschaftlichen Bindung der Fall eintreten, daß die sich als Abstammungsgemeinschaften empfindenden Klans in mehreren Lokalgruppen wohnen und umgekehrt jede Lokalgruppe Angehörige mehrerer Klans umfaßt 2 0 6 . Bezeichnenderweise ist eine ähnliche Entwicklung in Germanien nicht zu beobachten. Erheblich wichtiger als die durch einen besonders starken Glauben an die gemeinsame Abstammung verbundenen Klans oder Sippen sind f ü r die Stammesbildung im germanischen Bereich die politischen Gemeinden. Der Hinweis auf die ersteren sollte nur zeigen, wie andersartig sich das Bild ausnehmen würde, wenn wir wirklich in Germanien mit Sippen als geschlossenen Verbänden rechnen müßten. Bei der Bildung der deutschen Neustämme waren geographische Bedingungen nicht allein entscheidend. Mit A u b i n 207 wird man, „soweit geographische Momente wirksam scheinen, immer fragen müssen, ob sie das nicht durch Koinzidenz mit anderen sind". Unter solchen anderen Bedingungen wären z. B. auch wieder Heiratsbeziehungen zu nennen 208 . Wie relativ unbedeutende Naturgrenzen — etwa der Mittelrhein — noch heute recht scharfe Grenzen f ü r die Gattenwahl bedeuten können, haben jüngere Forschungen anschaulich herausgestellt 209 .

8. D e r

Stamm

und

die p o l i t i s c h e

Gemeinschaft

In genauem Gegensatz zum Stammesbegriff der Romantik, der von allem Staatlich-politischen absah und nur das Natürlich-organische betonte, sah die Wanderzeit in der gens zugleich einen politischen Körper, einen populus210, wenn auch der Begriff der gens vielfach mit natio variiert wird, das vor allem eine bloße Abstammungsgemeinschaft bedeutet. Jede gens ist eine natio, aber keineswegs jede natio eine gens211. Populus ist vor allem — ebd., S. 4 4 . 205) ebd., S. 285; W. MÜHLMANN, in: Univ. Litt. 1954, S. 286; DERS., in: Köln. Zs. f . S o z . 8 (1956), S. 190.

20«) 207) 208) 209)

Vgl. K. J. NARR, in: Hist. Mundi I (1952), S. 516. Gesch. Gründl., S. 263. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellschaft IV, S. 40, S. 42. M. WOLF, Der Rhein als Heirats- und Wandergrenze, in: Homo VII, 1

(1956), S. 2 — 1 3 .

210) A. DOVE, Studien . . ., S. 38 ff. ebd., S. 36.

2»)

gens — *teutä

47

nach altrömischem Muster — das den Staat tragende Volk 212 . Nach den Quellen der Wanderzeit ist also die gens213 gleichzeitig natio, Abstammungsgemeinschaft, und populus, Staatsvolk 214 . Der Bedeutungsinhalt von got. piuda, anord. pjöS, ae. peod, afries. thiäd, as. thioda, ahd. diot(a) { germ. *'peuÖö legt nahe, daß die Auffassung der Quellen auch dem Selbstverständnis der Stämme entsprach. Das gotische Wort entspricht nach A. D o v e genau dem griechischen ißvoq und dem lateinischen gens, in der Bedeutung, die beide Wörter im vierten Jahrhundert besaßen215. In althochdeutschen und anderen Quellen hat das Wort gegenüber f o l c , heri, liut usw. nach G. H e r o l d den weitesten Bedeutungsumfang 216 und bezeichnet das Volk als politische, blutmäßige, kulturelle und sprachliche Einheit217. Die politische Seite des Wortinhalts wird deutlich aus Ortsnamen wie Tbiotmalli (Detmold), Roten- und Kirchditmold u. a., die auf * peuÖö als Dinggemeinschaft weisen 218 . Ja, ursprünglich scheint das Wort vor allem die politische Gemeinschaft gekennzeichnet zu haben, wie die Parallelen in anderen westindogermanischen ( = alteuropäischen) Sprachen nahelegen. Im Umbrischen (acc. totam) und im Oskischen (rco/rro, touto) haben die Entsprechungen die Bedeutung „civitas". Wenn die Bedeutung in anderen Sprachen zwischen „Volk" und „Land" schwankt, scheint das in die gleiche Richtung zu weisen219. Im Norden ist ebenfalls eine Bindung an den Raum erfolgt: aisl. Svi-piöÖ = „Land der Sviones", Gaut-piöd „Land der Gauten", piöS „Thyland" 220 . Die Wichtigs t ) ebd., S. 40. 2 1 3 ) Dieser Begriff der gens ist natürlich zu unterscheiden von dem, den manche Ethnologen gebrauchen, die darunter ebenfalls im Anschluß an antike Bedeutungsgehalte die vaterrechtliche Sippe verstehen (im Gegensatz zum mutterrechtlichen Klan). Die marxistische Terminologie ist durch den Gebrauch des Wortes bei Lewis Morgan, Ancient Society (New York 1877); dt. Die Urgesellschaft v. W . Eichhoff u. K . Kautsky, Stuttgart 1 8 9 1 , S. 53, bestimmt, der darunter allgemein alle Verbände von Blutsverwandten faßt — einschließlich der Klans. 2 1 4 ) Vgl. H. BEUMANN, Vorträge u. Forsdign. III, S. 220. 2«) Studien . . ., S. 63 f. 2 1 6 ) G. HEROLD, Der Volksbegriff im Sprachschatz des Althochdeutschen und A l t niederdeutschen, Diss. München (Halle 1940). 2")

V g l . FR. NEUMANN, in: 2 s . f . dt. Bildg. 1 6 , S. 2 0 1 f . ; TH. FRINGS, i n : Fest-

gabe A. Baesecke, S. 77; L. WEISGERBER, Deutsch als Volksname, S. 100; A. BACH, in: BzN 6 (1955), S. 2 1 4 ; P. v. POLENZ, Der Name Dithmarschen, in: Jb. d. Verein, f. niederdt. Sprachforschg. 79 (1956), S. 65. *«) Vgl. E. HEYCK, in: HZ 85 (1900), S . 6 7 f . ; U. NOACK, Nord. Frühgesch., S. 43. 2 1 9 ) Vgl. air. tuath „Volk"; kymr. tüd „Land"; alit. tauta, lett. tautet „Volk"; lit. Tauta „Deutschland", apreuß. tauto „Land". Weitere Belege b. H. K R Ä H E , Sprache u. Vorzeit, S. 65 f. u. W . PORZIG, Gliederung . . ., S. 200. 22 «) R. MUCH, FS. H. Hirt II, S. 5 0 1 ; S. GUTENBRUNNER, Völker u. Stämme Südostschleswigs, S. 163.

48

Aspekte des StammesbegrifTs

keit dieses Wortes bei den westlichen Indogermanen wird durdi zahlreiche Götter-, Personen-, Völker- und Ortsnamen unterstrichen221. Auch die germanischen Teutonen gehören hierzu. Der Sinn von idg. *teutä dürfte jedoch schon seit früher Zeit nicht auf das Politische beschränkt gewesen sein. Sonst wäre kaum einzusehen, daß die Römer das Wort durch civitas ersetzt haben. Ob der heterogene Ursprung der Bevölkerung Altroms noch so weit bewußt war, daß *teutä, das vielleicht schon den Nebensinn „Abstammungsgemeinschaft" entwickelt hatte, nicht mehr angemessen schien? Etymologisch ist das Wort nicht ganz sicher gedeutet. Im allgemeinen verbindet man es mit lat. totus, es könnte also ursprünglich „Gesamtheit" gemeint haben 222 . J . T r i e r 2 2 3 sieht darin ein Hegewort, das vom Ring des Dinges her seinen Sinn empfing. Diese offensichtliche Betonung des Staatlichen im Stammesbegriff der Zeit scheint wiederum nicht voll der Wirklichkeit entsprochen zu haben. Führt doch etwa K. S. B a d e r aus224, daß bei den auf römischem Boden sich ansiedelnden Gruppen wie auch bei den auf germanischem verbleibenden eine staatliche Ordnung „einfach nicht da" war: „Zu Stämmen im Rechtssinne wurden sie alle, Alamannen und Bayern, Sachsen und Friesen, nur dadurch, daß ihnen im Rahmen des Frankenreiches staatliche Funktionen übertragen wurden." Nun ist sicher, daß die zugegebenermaßen „nach unseren heutigen Begriffen" 225 aufgefaßte staatliche Ordnung überhaupt nicht mit dem politischen Gehalt des Stammesbegriffes gemeint war. Aber auch wenn wir mit H. M i 11 e i s 226 „jede Ordnung des Volkes zur Erreichung seiner politischen Ziele" „Staat" nennen und wenn wir den von Th. M a y e r 2 2 7 herausgearbeiteten und von W. S c h l e s i n g e r 2 2 8 gegenüber unzulässigen Vergröberungen präzisierten Begriff des „Personenverbandsstaates" zugrunde legen, bleibt für mehrere „Stämme" der Begriff des Staates für lange Zeiträume unanwendbar. Man könnte sich auf den Stand221) 222) 223) 224) S.246 225) 22«)

Vgl. H . KRÄHE, in: B z N 5 (1954), S . 2 1 2 ; DERS., Sprache u. Vorzeit, S. 66. Vgl. O. SCHRÄDER, Sprachvergleichung . . . II, S. 3 8 9 ; L. R. PALMER, S. 14. P B B 66 (1942), S. 238 ff. Volk, Stamm, Territorium, in: H Z 176 (1953), S. 4 6 0 = Wege d. Forsdig. II, ff. ebd., S. 256. Der Staat des hohen Mittelalters, S. 3.

227) Grundlagen der dt. Verfassungsentwicklung 1933; Der Staat der Herzöge von Zähringen 1933; Die Entstehung des „modernen" Staates und die freien Bauern, in: Z R G GA 57 (1937), S. 2 1 0 ff.; Die Ausbildung der Grundlagen des modernen Staates, in: H Z 159 (1939), S. 4 5 7 — 4 8 7 (jetzt in: Wege der Forschg. II [ 1 9 5 6 ] , S. 2 8 4 — 3 3 1 , mit den Zusätzen aus d. Bll. f. dt. Landesgesch. 89 [ 1 9 5 2 ] , S. 9 2 — 1 0 0 , u. d. Schaffhauser Beitr. z. vaterl. Gesch. 31 [ 1 9 5 4 ] , S. 3 0 — 3 6 ) ; Staatsauffassung in der Karolingerzeit, in: Vorträge u. Forschgn. III (1956), S. 169—183. 228) Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: H Z 176 (1953), S. 264 f. ( = Wege d. Forsdig. II [ 1 9 5 6 ] , S. 179 ff.).

Stamm und Staat

49

p u n k t zurückziehen, d a ß dies erst werdende „ S t ä m m e " waren, die aus den T r ü m m e r n älterer kleinerer Stämme erwachsen, sich nicht staatlich konsolidiert hatten. Darauf k ö n n t e zweierlei hindeuten. Erstens, d a ß bei Ostgermauen u n d im N o r d e n die N a m e n der kleineren Stämme der älteren Kaiserzeit in denen der größeren der Wanderzeit u n d des f r ü h e n Mittelalters weiterleben, w ä h r e n d im Westen u n d Süden neue N a m e n auftauchen. Vgl. Anglii (Tac., 'Ayyedoi Ptol.), 2a$ovzg (Ptol.), Frisii (Plin., Tac.), Suiones (Tac.), Tovxax (Ptol.), Gutones-Gotones (Plin. Tac.), Vandili(i) (Plin. Tac.), Burgundiones (Plin., BOVQJOVvre? Ptol.) u. a. Zweitens, und das ist noch bemerkenswerter, ist von allen diesen Völkern, soweit wir von ihnen ausreichende alte Uberlieferung in germanischen Sprachen haben, eine Zusammensetzung des Volksnamens mit dem Begriff *peuÖö bekannt, w ä h rend dies bei den südlichen und westlichen „ S t ä m m e n " nicht zutrifft 2 2 9 . Vgl. ae. Engelpeod, ae. Saxpeod, aisl. SvipiöS, aisl. GautpiöS, got. Gutp'mda. In diesen Verhältnissen spiegelt sich die Verschiedenheit der Stammesbildung des N o r d e n s u n d Ostens gegenüber der des Südwestens wider. H i e r , w o die neuen N a m e n auftauchen, haben wir es offenbar mit ganz a,nderen Gebilden zu üun, die, als sie in das Licht der Geschichte traten, noch keine politische Spitze besaßen u n d aus unabhängigen Kleinverbänden bestanden, welche nur z u m Teil die Traditionen älterer Zeit bewahrten 2 3 0 . Mit dieser Ansicht setzt man voraus, d a ß jene kleineren S t ä m m e der taciteischen Zeit wirklich politische Gemeinschaften waren. O f t w a r e n sie nicht größer als die von K . S. B a d e r 2 3 1 erwähnten lokalen Siedlungsu n d Sakralverbände, in denen sich auch noch später hauptsächlich das Rechtsleben abspielte. Wir w ü r d e n dann — durchaus vorstellbar — annehmen müssen, d a ß ein damals in seinem I n h a l t gefestigter Begrift (germ. *peu8ö) später auf G r u p pen übertragen wurde, die ihm nicht mehr voll entsprachen, ohne d a ß im Westen noch Komposita mit Stammesnamen gebildet worden wären. Wieweit diese Vorstellung berechtigt ist, w i r d der G a n g der Untersuchung zeigen. W i r müssen jedoch bereits hier darauf hinweisen, d a ß wir auch in der älteren römischen Kaiserzeit mit einer Gleichsetzung von Stamm und politischer Gemeinschaft 2 3 2 nicht unbedingt rechnen d ü r f e n , obwohl manche 229 ) Diese Tatsache ist bereits R. Much, Fs. H. Hirt II, S. 501 f., aufgefallen, ohne daß sie weiter beachtet worden wäre. Much glaubte an eine Beziehung zum „ingvaeonischen" Kultur- und Verkehrskreis. Doch dieser war damals schon lange ohne Bedeutung. Im Westen sind allerdings noch Wendungen wie Frankono thiet (Otfr. I 90) möglich. 230 ) Eine Ausnahme bilden vielleicht die Thüringer. 23») Wege d. Forschg. II (1956), S. 256. 232) w i e etwa bei S. Gutenbrunner, Germ. Frühzeit . . ., S. 183: „Mit Stamm sind die Staatswesen gemeint, in welche die alteuropäischen Völker zerfielen" oder in: Völker u. Stämme Südostsdileswigs . . ., S. 161: „Unter den Stämmen versteht

50

Aspekte des Stammesbegriffs

Formulierung bei Tacitus in diesem Sinne ausgelegt werden könnte. Wenn von Segestes berichtet wird, daß er consensu gentis in bellum tractus, zeigt das hier die gens als politischen Körper handelnd 233 . Man vergleiche auch die Variation: non solum in sua gente, sed apud finitimas quoque civitates234. Doch nicht immer geht die Gleichung auf. Die lateinische Terminologie entsprach vielfach nicht den Ansprüchen der komplizierten ethnischen Verhältnisse Germaniens. So werden die Sueben einmal von Tacitus als gens bezeichnet235, während er (an anderer Stelle) von ihnen behauptet: quorum non una, ut Cbattorum Tencterorumve gens236. Das Gefühl, eine Abstammungsgemeinschaft, ein Stamm, zu sein, erstreckte sich zuweilen über mehrere politische Gemeinschaften237: ...plurimae gentes ... ex quibus latissime patet Lugiorum nomen in plures civitates diffusum233. Auch die Wendung Suionum hinc civitates deutet ähnliche Verhältnisse an239. Im frühen Mittelalter war das nicht anders. Beda nennt die einzelnen Personenverbandsstaaten in England gentes (gens Occidentalium Saxonum, Merciorum gens, gens Orientalium Anglorum usw.). Doch auch die Gesamtheit der germanischen Ansiedler auf der Insel wird als gens bezeichnet (gens Anglorum, so schon im Titel seiner Kirchengeschichte; zuweilen auch gens Saxonum)240. Das gleiche gilt für die Goten. Jordanes spricht von Gepiden, Ost- und Westgoten als omnis ubique Linguae huius natio241. Bezeichnend ist auch, daß sich die Angehörigen aller Gotenstaaten, die wir aus wissenschaftlichen Gründen als Ost-, Westgoten usw. unterscheiden, in der Regel einfach „Goten" genannt haben, während die differenzierenden Bezeichnungen nur gelegentlich verwendet wurden. Das galt auch für den amtlichen Gebraudi, wie die Varien Cassiodors und die westgotischen Gesetze zeigen242. Daß die Stämme des frühen Mittelalters an man die politischen Einheiten, in die sich die Sprachgemeinschaften des Altertums gliederten . . H. HIRT, Die Indogermanen II, S. 4 1 2 ; R. MUCH, Dt. Stammeskde 2 , S. 74; O. BREMER, Ethnographie, S. 72; vgl. auch R. v. KIENLE, Germ. Gemeins c h a f t s f o r m e n , S. 2 9 5 ; TH. STECHE, S t a m m e s k d e . ,

S. 1 1 ;

U . KAHRSTEDT, i n :

Fs.

E. Wahle, S. 61 f. 233) Ann. 1 5 5 . 234) Germ. c. 13. 235) Germ. c. 39: initia gentis. 236) Germ. c. 38. 237) Dies betonte schon G. WAITZ, Dt. Verfassungsgesch. I 4 , S. 12 f. 238) Tacitus Germ. c. 43. 239) Tacitus Germ. c. 45. Ohne zwingenden Grund versucht K . WÜHRER, in: Z R G G A 76 (1959), S. 10 f., gegen C. Weibull die Zeugniskraft dieser Stelle zu entwerten. 240) Vgl. A. DOVE, Studien . . ., S. 93 f. mit zahlr. Belegen. 241) G e t . 1 3 3 ; v g l . A . DOVE, S t u d i e n . . ., S. 3 6 . 242) V g l . A . DOVE, S t u d i e n . . ., S. 6 5 m i t A n m . 3.

51

Stamm und Völkerschaft

manchen Stellen im Bewußtsein der Bevölkerung stärker sind als die Territorien des alten Reiches243 und auch in Sprache und Kultur immer noch in großen Zügen erkennbar sind, zeigt einmal deutlich die Beharrungskraft: des ethnischen Gefühls, dann aber auch die mangelnde Fähigkeit des Anstaltsstaates, unter seinen Angehörigen ein solches neu auszubilden. Auch umgekehrt erhielten sich Stämme innerhalb größerer politischer Verbände. Das gilt bereits für die ältere römische Kaiserzeit, gleichgültig, ob es sich um römisch organisierte germanische civitates der Provinz 244 oder um politische Gemeinschaften im freien Germanien handelte 245 . Im frühen Mittelalter sind solche Verhältnisse allgemein bekannt. In den angeführten Beispielen folgt das ethnische Gefühl den politischen Bildungen mit einigem Zeitabstand. Das gilt gleichermaßen für das Entstehen wie für das Vergehen der politischen Gemeinschaften. Es ist jedoch möglich, daß ein ethnisches Gefühl der politischen Einheit vorausgeht, was wir uns allerdings nicht nach Analogie der nationalen Einheits- und Selbständigkeitsbewegungen des vorigen Jahrhunderts vorstellen dürfen, wie dies bisher meist geschah. Wir werden anschließend darauf zurückkommen müssen. Alle diese Tatsachen legen nahe, auch begrifflich zwischen den frühen politischen Verbänden und den ethnischen Einheiten zu unterscheiden. Wenn wir das Bewußtsein gemeinsamer Abstammung als hauptsächliches Kriterium ethnischen Denkens bezeichnen, erscheint es berechtigt, den Begriff „S t a m m" nur für die ethnischen Einheiten anzuwenden. Für die politischen Gemeinschaften bietet sich dann der seit einiger Zeit von der deutschen Verfassungsgeschichte gebrauchte Begriff der „ V ö l k e r s c h a f t " an 246 , der allerdings bislang gewöhnlich auf die Römerzeit beschränkt wurde. Wir lassen jedoch mit A. D o v e 247 diese zeitliche Beschränkung nicht gelten, solange keine sachlichen Gründe dagegen sprechen. Wir müssen uns jedoch bewußt bleiben, daß der Begriff der „Völkerschaft" in anderen Disziplinen andere Bedeutungen hat 248 , und dementsprechend „übersetzen". 2«)

V g l . H . MOSER, i n : Z s . f . M a f . 2 2 ( 1 9 5 4 ) , S . 1 0 6 .

) Man denke etwa an die Baetasi und Sunuci im Cugerner- oder Ubiergebiet in Niedergermanien. 245) Eine Reihe solcher Kleinstämme, von denen nidit feststeht, ob sie besondere civitates gebildet haben, führt O. BREMER, Ethnographie, S. 74 (808) auf. 244

2«)

V g l . H . BRUNNER,

D t . Rechtsgesch.

I 2 , S. 1 7 1 ;

W . MERK, in: Z R G G A

58

(1938), S. 3 8 ; O. BRUNNER, Land und Herrschaft 2 1942, S. 2 0 8 ; H . CONRAD, Dt. Rechtsgesch. I, S. 23, vgl. S. 4 0 ; H . AUBIN, Gesch. Gründl. S. 260. N u r gelegentlich benutzen auch Sprachwissenschaftler und Prähistoriker den Begriff in diesem Sinne; vgl.

e t w a R . MUCH b. H o o p s

IV,

S. 4 3 3 ;

W.

MATTHES b. R e i n e r t h

I, S. 3 7 2 .

Bei

den Rechtshistorikern abweichend etwa SCHWERIN-THIEME ( 4 1950), S. 22. 2 4 7 ) Vgl. Studien . . ., S. 18, wo die gentes der Wanderzeit als Völkerschaften bezeichnet werden. 2 4 8 ) An sich scheint der Begriff „ V ö l k e r s c h a f t " in seinem Inhalt weniger

Aspekte des Stammesbegriffs

52

M i t der begrifflichen Scheidung v o n Völkerschaft u n d

S t a m m soll

die

außerordentliche B e d e u t u n g der politischen V e r b ä n d e für die B i l d u n g ethnischer

Gemeinschaften

W. E. M S h l m a n n a n der s o g e n a n n t e n

nicht

geschmälert

Naturvölker

verdanken

diert

zu

sein

braucht,

Gebilden

Ethnos

ist

ihr D a s e i n p o l i t i s c h e n

s a t i o n e n 2 5 0 . Bereits das h ä u f i g e r e connubium, politischen

werden.

nach

sich stets auch ein p o l i t i s c h e r B e g r i f f 2 4 9 . A u c h v i e l e

sich

aber

zwangsläufig

einstellt, begünstigt

Organi-

d a s a n f a n g s g a r nicht i n t e n das

bei

scharf

Wadisen

eines

abgegrenzten Zusammen-

g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l s 2 5 1 . S o b e s t e h t auch f ü r m e h r e r e d e r s o g e n a n n t e n d e u t schen S t ä m m e e i n e t e r r i t o r i a l e G r u n d l a g e 2 5 2 . zu schillern als der des Stammes. Doch auch hier gehen die A u f f a s s u n g e n weit ause i n a n d e r . N a c h GRIMMS W ö r t e r b u c h (12, 2, Sp. 512) bezeichnet das W o r t „ . . . eine g r ö ß e r e o d e r geringere masse v o n z u s a m m e n g e h ö r e n d e n , durch spräche, a b s t a m m u n g , staatliche Ordnung irgend welcher a r t verbundenen menschen". Gegen d e n Sprachgebrauch h a t t e jedoch bereits ADELUNG ( 1 2 , 2 , Sp. 511 f.), ausgehend v o m P l u r a l des ersten Wortgliedes, eine a n d e r e Bedeutung k o n s t r u i e r t : „ m e h r e r e kleinere v e r w a n d t e v ö l k e r , als ein ganzes betrachtet, ein v o l k , sofern es w i e d e r aus m e h reren kleinen Völkern o d e r s t a m m e n besteht". Diesen Sinn behielt das W o r t bei Sprachwissenschaftlern (vgl. O . SCHRÄDER, Sprachvergl. u. Urgesch. I I , S. 391; DERS., R L , S. 4 5 0 , u . R L , S. 9 2 1 ; R . v . KIENLE, G e r m . G e m e i n s c h a f t s f o r m e n , S. 2 9 5 )

und auch bei E t h n o l o g e n ( W . E . MÜHLMANN, i n : U n i v . Litt.1954, S.273: Eine g r ö ß e r e G r u p p e v o n k u l t u r - u n d s p r a c h v e r w a n d t e n V o l k s t ü m e r n , die aber noch kein w i r k liches, ganzes Volk sind, k a n n m a n als „Völkerschaft" bezeichnen). O . SCHRÄDER dachte sich die Völkerschaft als Vereinigung m e h r e r e r S t ä m m e , die „auch nach E r ledigung des Zweckes, d e r sie z u s a m m e n f ü h r t e , beieinander bleiben". (RL, S. 921; g a n z entgegengesetzt sieht e t w a E. NORDEN, Urgesch., S. 339, in d e r Völkerschaft ein Teilvolk.) Dieses Denkschema ist auch in den aus Engels' A r b e i t e n entwickelten T h e o r i e n der Ethnogenese e r h a l t e n geblieben. (Vgl. K . H . OTTO, E t h n o g r a p h . Archäolog. Forschgn. 1 [1953], S. 23; etwas realistischer a b g e w a n d e l t bei TOKAREWTSCHEBOKSAREW, S. 132: „Beim U b e r g a n g v o n der Urgemeinschaft z u r Klassengesellschaft, also z u r Sklaverei u n d z u m Feudalismus, zerfielen die alten S t ä m m e o d e r vereinigten sich, w u r d e n zersplittert u n d vermischten sich. A u f ihren T r ü m m e r n bildeten sich neue, stärkere ethnische Gemeinschaften, d. h. V ö l k e r s c h a f t e n . . ." D a n a c h w ä r e n die taciteischen Gemeinschaften als S t ä m m e , die f r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e n als Völkerschaften zu bezeichnen. G e n a u u m g e k e h r t w e r d e n die Begriffe v o n d e r Rechtsgeschichte b e n u t z t . (Vgl. SCHRÖDER-KÜNSSBERG, Lehrbuch d. d t . R G 7 1932, S. 2 7 : „ . . . nachdem aus der Vereinigung verschiedener Völkerschaften die großen S t ä m m e h e r v o r g e g a n g e n sind . . ."; W . MERK, i n : Z G R G A 58 [1938], S. 13.) 2 « ) .Gesch. d. A n t h r o p o l o g i e , S. 236. 250) W . E . MÜHLMANN, i n : U n i v . L i t t . (1954), S. 272. 251) F . MAURER, FS. H . H i r t I I , S. 3 6 6 , v g l . S. 3 6 7 ; v g l . O . BREMER, E t h n o g r a -

phie . . ., S. 73. Besonders w o staatliche u n d konfessionelle G r e n z e n z u s a m m e n fielen, h a t auch noch das neuzeitliche T e r r i t o r i u m das connubium auf das S t a a t s g e b i e t e i n g e s c h r ä n k t ; v g l . H . MOSER, ZS. f . M a f . 2 2 ( 1 9 5 4 ) , S. 9 2 .

252) Vgl. H . AUBIN, Gesch. G r u n d l a g e n , S. 264 f.: H e s s e n ; P f ä l z e r ; F r a n k e n (Begriff durch den fränkischen Reichskreis eingeengt); L o t h r i n g e r , S. 263: P o m m e r n , Mecklenburger; Steirer; bei O s t p r e u ß e n u. Schlesiern k o m m t die Isolierung durch fremdvölkische U m g e b u n g hinzu. F ü r den slawischen R a u m b e t o n t e n J . MATL,

Zonen gleicher Gesinnungslage

53

Doch nicht nur innerhalb der politischen Gemeinschaften erwächst ethnisches Zusammengehörigkeitsbewußtsein. Auch an der Peripherie politisch übermächtiger

Staaten

Abwehrreaktion

nach

Gesinnungslage,

entstehen aus dem Kontrasterlebnis 2 5 3

und

außen

gleicher

kaum

abgrenzbare

Zonen

einer

die ethnisch bindende Kräfte entwickeln können.

D e r Kolonialethonologe begegnet häufig ähnlichen Erscheinungen, die eine Grundlage des überhitzten „Nationalismus" ehemaliger Kolonial-,.Völker" bilden, wobei diese Gruppen oft erst durch die von der

Kolonialmacht

geschaffenen Raumgebilde zu einer Bindung untereinander geführt worden sind. Zuweilen ergibt sich ein Zustand nervöser Gereiztheit, der nahmen

gegen eine

Einzelgruppe

mit

spontanen

kollektiven

Maß-

Abwehr-

reaktionen beantwortet. Auch an der römisch-germanischen Grenze ist dies zu beobachten. Als Germanicus 14 n. Chr. ins Gebiet der Marser einfiel und unter den nach einem Kultgelage fest schlafenden Männern im Heiligtum der T a m f a n a ein Blutbad anrichtete, griffen die benachbarten Brukterer, Tubanten und Usipier schlagartig zu den Waffen und verlegten ihm den Rückzug 2 5 4 . Nun wird es sich hier um Angehörige eines Kultverbandes gehandelt haben, die zu solcher Solidarität wohl verpflichtet waren, aber die Schnelligkeit der Reaktion zeigt deutlich die Gereiztheit der Grenzstämme, die durch solche Handlungen

zur Entladung

gebracht

wurde.

H . E . S t i e r glaubte allgemein feststellen zu können, daß die römischen Operationen in Germanien zu einem stärkeren völkischen Bewußtsein geführt hätten 2 5 5 . Im Frühmittelalter beobachtete E . Z ö l l n e r

einen „Parallelismus zwi-

schen politischem Gegensatz und gesinnungsmäßiger Abneigung unter den V ö l k e r n " 2 5 6 . Die sich bedroht fühlenden Gruppen neigen dazu, Bündnisse einzugehen und diese durch Wechselheiraten der Fürsten zu festigen. Doch dürfen moderne Beispiele nicht dazu verleiten, diese in wechselnden Bündnissen gegen stets den gleichen Feind verbundenen Gruppen als „Stammesbund"

zu bezeichnen. Das

19. Jahrhunderts

kann

Gedankengut

der Einigungsbewegungen

des

nicht auf die Verhältnisse jener Zeit übertragen

werden. Die bisher als Stammesbünde bezeichneten Gruppen hatten kaum ständige gemeinsame Institutionen und waren nach außen nicht fest ab-

Okzidentale oder eurasische Auffassung der slawischen Geschichte, in: Saeculum 4 ( 1 9 5 3 ) , S. 2 8 9 u n d M . HELLMANN, i n : J b b . f. Gesch. O s t e u r . N F 2 ( 1 9 5 4 ) , S. 3 9 0 ff.

die Bedeutung der politischen Geschichte für die Volksgeschichte. 253) VGL. dazu W. MÜHLMANN, Methodik der Völkerkunde, S. 151 f. 254) Tacitus Ann. I 51. 2 5 5 ) H. E. STIER, Die Bedeutung der römischen Angriffskriege für Westfalen. Ein Beitrag zum Verständnis der „germanischen Revolution", in: Westf. Forschgn. 1 (1938), S. 269—301, bes. S. 278 ff. 25«) D. polit. Stellung . . . , S. 191.

Aspekte des Stammesbegriffs

54

gegrenzt. Man ist in Verlegenheit, wie man diese Stammesagglomerationen nennen könnte; im Zustand der A k t i v i t ä t wohl am ehesten als „Stammesschwärme". W i e bei den innerhalb politischer Gemeinschaften entstehenden ethnischen Einheiten erwachsen auch bei den zuletzt beschriebenen Gebilden aus dem Erlebnis gemeinsamen Schicksals 257 bestimmte Traditionen, deren Kraft den Bestand des neuen Ethnos sichert.

9.

Der

Stamm

als

Traditionsgemeinschaft

Sobald eine Gemeinschaft eigene historisch-ethnische Traditionen entwickelt hat, von denen wir einige bereits gekennzeichnet haben 2 5 8 , beginnt ihre ethnische Existenz. Die Traditionsbildung ist die Voraussetzung geschichtlicher Kontinuität 2 5 9 . Gegen die hegelianische Auffassung muß betont werden, daß auch die kleinen ethnischen Einheiten der sogenannten „ N a t u r v ö l k e r " durchweg solche Traditionen und damit eine „Geschichte" besitzen 2 6 0 . Diesen Überlieferungen fehlt nur die Bestimmtheit und U n veränderlichkeit schriftlicher Geschichtswerke. Auch reichen sie gewöhnlich nicht weit in die Vergangenheit zurück. N u r dort, wo g e n e a l o g i s c h e s D e n k e n stark ausgebildet ist, wie in Polynesien und bei einzelnen Bantuvölkern, bilden die Stammbäume der Häuptlinge die Grundlage oft beträchtliche Zeitspannen umfassender geschichtlicher Berichte 2 6 1 . I m frühmittelalterlichen germanischen Bereich hat genealogisches Denken nach W . G r ö n b e c h 2 6 2 nur in Island zu klaren und historisch verläßlichen genealogischen Linien geführt — bewirkt durch den Umsturz aller F a 257) VGL. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 41; H. AUBIN, Gesch. Grundlagen . . . , S. 266, vgl. S. 257. 258) Der Stamm als Abstammungsgemeinsdiaft, S. 14 ff. 2 5 9 ) So richtig H. KIRCHNER, in: Sociologus N F 4 (1954), S. 10, der allerdings darin zu weit geht, wenn er „jegliche Weitergabe einmal erworbenen kulturellen Wissens und Könnens" mit darunter faßt. Sicher wird auch durch diese Weitergabe eine gewisse Kontinuität hergestellt. Eine eigentlich historische Kontinuität ist diese jedoch nicht immer. Nur wenn die Weitergabe einen Bezug zu einer Gemeinschaft hat — und nur eine solche kann Subjekt der Geschichte sein —, ist historische Kontinuität gegeben. Dieser Bezug wird aber nur durch Reflexion hergestellt. Mit anderen Worten: historische Tradition gehört stets zu den „intentionalen Daten" der Ethnographie. 280) W . E . MÜHLMANN, i n : U n i v . L i t t e r . ( 1 9 5 4 ) , S. 2 8 4 . 2«)

e b d . , S. 2 7 9 ; H .

KIRCHNER, i n : S o c i o l o g u s N F

4 ( 1 9 5 4 ) , S. 1 7 f. i m

An-

schluß an. F. GRAEBNER, Das Weltbild der Primitiven (1924), S. 67 f., der solche Erscheinungen besonders bei vaterrechtlichen Kulturen beobachtet hat, und D. WESTERMANN, Der Afrikaner und seine Geschichte, in: Passat I (1949), H. 3, S. 2 2 . 2«2) Kultur und Religion der Germanen I®, S. 372 f.

Traditionen audi bei den „Naturvölkern"

55

milienangelegenheiten im Verlaufe der Auswanderung aus Norwegen und durch den Kontakt mit dem Westen. Im Mutterland wurde „alle Geschichte in einem anderen Geiste ersonnen". Sogar in der königlichen Familie beschränkten sich die genauen Angaben auf nur wenige Generationen. Die eigenartige Zusammenfügung der weiter in der Vergangenheit zurückliegenden Verwandtschaftskreise in den älteren Formen germanischer Genealogien hat G r ö n b e c h 263 sehr anschaulich beschrieben. Genaue Daten lassen sich aus diesen Angaben schwer gewinnen. Die auswählende und vereinfachende Tradition läßt uns besonders in Zeiten mehrfacher Umwälzung als geschichtliche Quelle gewöhnlich im Stich264. Dennoch ist erstaunlich, über wie lange Zeiträume hinweg sich historisch glaubwürdige Angaben bei den Germanen erhalten haben 265 . Dies trifft allerdings immer nur für Einzelzüge zu, nicht für die Gesamtheit der S t a m m e s s a g e . Für das geschichtliche Bewußtsein jedoch erfüllen diese Mythen die gleiche Funktion wie die schriftliche Überlieferung. Daher die Wichtigkeit der Stammessagen für unser Problem 266 . Soweit sie in dichterischer F o r m überliefert sind, liegt darüber eine unübersehbare Literatur vor, die für unsere Fragestellung leider nicht allzu ergiebig ist. Inhaltlich ist dieser Überlieferungszweig vor allem von R. M u c h 267 und seiner Schule für die Stammeskunde ausgewertet worden. Ihre Bedeutung für das ethnische Bewußtsein ist jedoch erst in letzter Zeit stärker betont worden 268 . Aus der Art, wie die einzelnen Sagenkreise sich bei Wandlungen der politischen Gegebenheiten verhalten, lassen sich manche Schlüsse ziehen. Zuweilen bleibt bei der Vereinigung mehrerer Stämme unter einer Herrschaft nur die Uberlieferung des „Reichsvolkes" erhalten. In anderen Fällen werden jedoch die Sagenkreise der einzelnen Bestandteile des neuen Reiches miteinander verschmolzen. Das kann sich in verschiedenen Formen voll2«3) ebd., S. 374 ff. 2M) V g l . L. SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S. 2 5 7 . 265

) K. HELM, Altgerm. Religionsgesch. I, S. 328 f.; R. BUCHNER, Das Geschichts-

b e w u ß t s e i n der G e r m a n e n , in: M a n n u s 2 9 ( 1 9 3 7 ) , S. 4 5 9 — 4 7 7 ; O . HÖFLER, D . p o l i t . L e i s t u n g , S. 6 f f . ; DERS., in: Fs. F. G e n z m e r ( 1 9 5 2 ) , S. 7 f . ; K . TACKENBERG,

Zur Dauer mündlicher Überlieferung bei den Nordgermanen, in: E. BICKEL, Arminiusbiographie u. Sagensigfrid (1949), S. 113 ff.; H. KIRCHNER, in: Sociologus N F 4 ( 1 9 5 4 ) , S. 10 ff.; E . SCHWARZ, G e r m . S t a m m e s k d e . , S. 110. 266 ) Über die Kraft solcher Überlieferungen vgl. O. HÖFLER, Zur Bestimmung mythischer Elemente in der geschichtlichen Überlieferung, in: Beiträge zur dt. u. nord. Gesch., Fs. Otto Scheel (1952), S. 9—27. 267) Vgl. etwa R. MUCH, Der germanische Osten in der Heldensage, in: ZfdA 57

( 1 9 2 0 ) , S. 145 ff., DERS., D i e G e r m a n i a des T a c i t u s , S. 3 8 9 f. u. p a s s i m ; O . HÖFLER,

Das Opfer im Semnonenhain und die Edda, in: Edda — Skalden — Saga, Fs. F. Genzmer (1952), S. 1—67; im Norden hat G. SCHÜTTE diese Traditionen in seinen Werken besonders berücksichtigt. 2«8) K . HAUCK, i n : S a e c u l u m 6 ( 1 9 5 5 ) , S. 2 0 6 ff.

Aspekte des Stammesbegriffs

56

ziehen. S. G u t e n b r u n n e r h a t derartige Vorgänge bei den D ä n e n beschrieben 269 : Die als Ahnen der D ä n e n u n d Angeln aufzufassenden D a n bzw. A n g u l werden in einer Genealogie zusammengebracht. „Die Sage sollte die Verbindung der Völker genealogisch legitimieren" 2 7 0 . Fraglich ist nur, ob sich der Angelname auf die Gebiete an der Schlei oder auf England z u r Zeit K n u t s des G r o ß e n bezog. Ähnliche Tendenzen zeigen sich in der sogenannten Fränkischen Völkertafel, w o die gentes des Frankenreichs, Römer, Bretonen, F r a n k e n und Alamannen, genealogisch v e r b u n d e n werden 2 7 1 . In D ä n e m a r k sind auch die langobardischen, anglischen, herulischen Herrscherdynastien in den eigenen Sagenschatz einbezogen worden 2 7 2 . O b die in unserem Nibelungenlied vollzogene Verschmelzung fränkischer u n d gotisdi-bairischer T r a d i t i o n v o m Zusammenwachsen der deutschen Stämme zeugt 2 7 3 ? Neben der dem D e n k e n in Begriffen der Sippe entsprechenden Genealogie nehmen in der Überlieferung der Stämme u n d Völker die H e r k u n f t s s a g e n großen R a u m ein. Die Frage nach der H e r k u n f t auch im r ä u m lichen Sinne lag ja jedem nahe, der sich G e d a n k e n über die Geschichte seiner Gemeinschaft machte. Wie in vielen anderen folgt auch hierin bereits die antike Ethnographie der Schematik ethnischen Denkens überh a u p t : D i e origines sind eines ihrer Hauptbestandteile 2 7 4 . Als literarisches Element h a t der antike orzgo-Gedanke sicher auf das mittelalterliche u n d besonders das humanistische Schrifttum eingewirkt 2 7 5 ; m a n w i r d aber 269

) S. GUTENBRUNNER, Völker und Stämme Südostschleswigs im frühen Mittelalter, S. 95 ff. 270) ebd., S. 96 f. 271) MG AA XIII, S. 159, Anm. 4; MG SS rer. Merov. VII, S. 851; K. MÖLLENHOFF, D A I V , S. 1 1 5 f . ; E. HEYCK, i n : H Z 85 ( 1 9 0 0 ) , S. 7 1 ; J. FRIEDRICH, SB d .

bayr. Ak. d. Wiss. philos.-philol. u. hist. KL. 1910, 11. Abh.; B. KRUSCH, in: NA 47 ( 1 9 2 8 ) , S. 3 1 — 7 6 ; K . WÜHRER, G e r m . Z u s a m m e n g e h . , S. 4 8 f . ; K . A . ECKHARDT,

I n g w i . . . , S. 77 ff.; L. SCHMIDT, Westgerm. 12, S. 195; E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung . . . ,

S. 4 7 ; F. PETRI, i n : R h e i n . V j b l l . 1 5 / 1 6

( 1 9 5 0 / 5 1 ) , S. 6 6 ; W .

FRITZE,

Untersuchungen zur frühslawischen und frühfränkischen Geschichte bis ins 7. Jahrhundert, Diss. Masch. Marburg 1951; H. LÖWE, DA 9 (1951/52), S. 373. 272) s. GUTENBRUNNER, Völker und Stämme Südostschleswigs im frühen Mittelalter, S. 101 f. Vgl. W. GRÖNBECH, Kultur und Religion der Germanen I 5 , S. 376 ff., über die in der Ynglingatal vereinten Herrschersippen. 273) Über die Verschmelzung der Sagenkreise vgl. A. HEUSLER, Nibelungensage u n d N i b e l u n g e n l i e d ( « 1 9 5 5 ) , S. 2 9 ff.

274) VGL. E. NORDEN, Urgesch., S. 46 ff.; K. TRÜDINGER, Studien zur Gesch. d. griech.-röm. Ethnographie (Basel 1918), S. 16, S. 18, S. 75, S. 130 f., S. 149 ff.; E. BICKERMANN, Origines gentium, in: Class. Phil. 47 (1952), S. 65 ff., A. GRAU, Der Gedanke der Herkunft i. d. dt. Geschichtsschreibung des Mittelalters (Diss. Leipzig 1938), S. 3, Anm. 7 m. weit. Lit.; E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung, S. 46. 275) Vgl. E. NORDEN, Urgesch., S. 47, Anm. 2 (Byzanz); A. GRAU, D. Gedanke der Herkunft . . . , S. 3, Anm. 7, u. S. 14, Anm. 66.

Herkunftssagen

57

A. G r a u 276 zustimmen müssen, daß er keineswegs die Herkunftssagen der germanischen Stämme erst hervorgebracht hat. Solche Überlieferungen entstehen überall und unabhängig auch von älteren literarischen Vorbildern. Ganz allgemein lassen sich bei der Reflexion über die Herkunft eines Stammes oder Volkes drei Möglichkeiten beobachten. Dem das Alter betonenden Selbstgefühl eines Ethnos entspricht wohl am besten die Auffassung, U r e i n w o h n e r zu sein (avToyßovsg, indigenae) und daher die ältesten Rechte auf das jetzt bewohnte Land zu besitzen. So beanspruchten etwa die Arkader und Athener Autochthonen zu sein277. Ihre Einwanderung war selbst dem mythischen Gedächtnis entfallen. N u r die letzte große Zuwanderung der Dorer blieb in der geschichtlichen Erinnerung der Griechen enthalten. Im germanischen Bereich findet sich die Behauptung, zu den ältesten Einwohnern zu gehören, nur sehr vereinzelt und erst sehr spät 278 . Eine verkehrte Etymologie des Sachsennamens (aus lat. saxum „Fels") mag die im Froschmäuseier I c. 2 enthaltene Fabel veranlaßt haben, daß die Sachsen aus dem Harzfelsen herausgewachsen seien. In Schweden fehlen Einwanderungshypothesen selbst in den humanistischen Urgeschichtsfabeleien279. Hier ist bereits ein Autochthonismus faßbar, der besonders für den ostmitteleuropäischen Nationalismus (Tschechen, Polen) bezeichnend ist. Dieser Autochthonismus tritt in dem Augenblick stärker hervor, in dem das „Recht der Eroberung" sittlich fragwürdig erscheint. Dieses Recht der Eroberung war nun den germanischen Stämmen der Völkerwanderung keinen Augenblick fragwürdig. Das hervorstechende Merkmal der südgermanischen Uberlieferungen zur Herkunft der Stämme ist, daß sie durchweg eine E i n w a n d e r u n g behaupten, wobei die ältesten die realistischsten sind, obwohl auch hier mitunter Jahrhunderte verstrichen, ehe sie schriftlich niedergelegt wurden. Die Frage, ob mit Einwanderung oder Autochthonie eines Volkes zu rechnen sei, lag den kolonisierenden Griechen nahe und wurde so Bestand276) S. 3, Anm. 7. 277 ) Vgl. U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Der Glaube der Hellenen I 2 (1955), S. 53; K. KERÉNYI, Die Mythologie der Griechen (1956), S. 205. 278 ) Eine Ausnahme bildet nur die Behauptung des Tacitus Germ. c. 2: ipsos Germanos indígenas crediderim. Zwar könnte es sich hier um einen ethnographischen Topos handeln, der keinen Rückhalt an den Auffassungen der Germanen selbst hatte. Auf Autochthonismus weist jedoch auch die Angabe, daß Tuisto, der den Stammvater Mannus hervorbrachte, deum terra editum war. Vgl. F. KAUFFMANN, D A I, S. 63 mit Anm. 5. 279 ) A. HEUSLER, Die gelehrte Urgeschichte im altisländischen Schrifttum, Abh. d. preuß. Akad. d. Wiss. (1908) phil.-hist. Kl., Abh. 3, S. 8.

58

Aspekte des Stammesbegriffs

teil der antiken Ethnographie, wobei die Tatsache, daß gelegentlich mehrere Überlieferungen vorlagen, eine Erörterung begünstigte 280 . Die dritte Möglichkeit war, M i s c h u n g von Ureinwohnern und Zuwanderern anzunehmen. Dies entsprach am wenigsten der ethnischen Denkweise, und auch in der antiken Ethnographie verbindet sich mit dieser Behauptung fast stets eine Abwertung 281 . Tacitus, der die Germanen idealisiert, stellt sie aus eben diesem Grunde als unvermischte Ureinwohner hin 282 : Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos. Das war wohl aucli die Meinung der Germanen selbst. — Dennoch bildete sich bei einzelnen Völkern die Auffassung heraus, gemischter Herkunft zu sein. Das geschah z. B. in den Fällen, wo es galt, die Behauptung der Autodithonie mit der These der Abstammung von einem berühmten Volk zu verbinden. Ein bekanntes Beispiel bietet die Darstellung bei Livius I 1 f., nach der durch die eheliche Verbindung des Trojaners Aeneas mit der Tochter des Königs der Aboriginer eine neue Gemeinschaft, die der Latiner, begründet wurde. Nun ist die Tendenz, eines der aus der Überlieferung bekannten und somit in ihrem Wert anerkannten Heldenvölker zum eigenen Vorfahren zu machen, nicht nur bei Römern, Galliern 283 und Briten 284 vorhanden, sondern auch germanische Stämme haben sich bemüht, dadurch die Geschichte des eigenen 280) Vgl. E. NORDEN, Urgesch., S. 47. Ein besonders schönes Beispiel die Kap. 171 f. des ersten Buches bei Herodot. Die Kreter behaupten, die Karer seien von den Inseln auf das Festland gezogen; die Karer selbst glauben, autochthon zu sein. Die Kaunier behaupten, von Kreta zu stammen; Herodot hält sie für Ureinwohner usw. Eine Reihe von Belegen bietet K. T R Ü D I N G E R (wie Anm. 2 7 4 ) , S . 7 5 mit Anm. 4. Ein bemerkenswertes Beispiel für verschiedene sich widersprechende Traditionen überliefert Amm. Marc. X V 9. 2 ff. nach Timagenes. Danach gab es bei den Kelten alle drei erwähnten Möglichkeiten. Einige behaupteten, sie seien aborigines (Amm. Marc. X V 9. 3). Die Druiden lehrten, ein Teil des Volkes sei einheimisch, ein anderer von fernen Inseln und von jenseits des Rheins gekommen — wohl die der Wirklichkeit am nächsten stehende Überlieferung (Amm. Marc. X V 9. 4). Schließlich gab es andere, die an eine Einwanderung von Trojanern in das damals leere Land glaubten (Amm. Marc. X V 9. 5). 281 ) Oben S. 21 f. Vgl. etwa die Rede Pisos in Athen, die Tacitus Ann. II 55 überliefert: „At Cn. Piso .. . civitatem Atheniensium turbido incessu exterritam oratione saeva increpat, oblique Germanicum perstringens, quod contra decus Romani nominis non Athenienses tot cladibus extinctos, sed conluviem illam nationum comitate nimia coluisset.. 282 ) Germ. c. 2 vgl. c. 4: Ipse eorum opinionibus accedo, qui Germaniae populus nullis aliis aliarum nationum conubiis infectos proprium et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse arbitrantur. 283) Vgl. Anm. 280 über die Trojanersage bei den Galliern. 284 ) H E E G E R , Ober die Trojanersage der Briten (München 1886); Zs. f. dt. Philol. 28, S. 86 ff.; A. H E U S L E R (wie Anm. 279), S. 8 f.

THURNEYSEN,

Der Stammesname Volkes in den großen Zusammenhang

59

der Weltgeschichte

einzureihen 285

und sie mit den Historien der „klassischen" Völker gleichzusetzen. Aber da hier kein Wert auf Autochthonie gelegt wurde, konnte der Gedanke, ein Misdivolk zu sein, bei den Germanen nicht aufkeimen. Erst im 13. J a h r hundert leitet Alexander von Roes die Deutschen aus einer Verbindung trojanischer Männer mit eingeborenen Frauen her, die von dem Riesen Theutona abstammten 286 . Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Stammestradition ist der S t a m m e s n a m e . Die von ihrer Methode her zu einer mehr „kulturhistorischen" Einstellung neigenden historischen Disziplinen unterschätzen die Bedeutung dieses Teils der Tradition leicht 287 . Eine Ausnahme bilden die Philologen, die seit Wilhelm von Humboldt die Stammes- und Völkernamen als wichtige Quelle der vor allem von ihnen betreuten „Stammeskunde" betrachtet haben. Sie folgen damit jedoch einer bereits in der antiken Ethnographie stets berücksichtigten Übung 2 8 8 . Der N a m e erschien damals als so wichtig, daß das Wort nomen

selbst vielfach an Stelle von gens trat 2 8 9 . Doch be-

schränkte sich die Behandlung des Volksnamens von der Antike bis in die moderne Stammeskunde wesentlich auf die etymologische Deutung 2 9 0 . Ob285)

S . HELLMANN, D a s F r e d e g a r p r o b l e m , i n : H V S

2 9 ( 1 9 3 5 ) , S. 8 6 ff. A . GRAU,

Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters (1938); künftig bes. W. FRITZE, Untersuchungen zur frühslavischen und frühfränkischen Geschichte bis ins 7. Jahrhundert. Diss. Masch. Marburg 1951. 28«)

V g l . A . GRAU ( w i e A n m . 2 8 5 ) , S . 5 4 f .

287) Vgl. unten S. 141 die Auffassung einiger Prähistoriker. Auch O. MENGHIN, Methodik, S. 42, sieht in den Völkernamen im Rahmen der Urgeschichte nur „Symbole". 288)

K . TRÜDINGER ( w i e A n m . 2 7 4 ) , S . 1 3 0 f . ; E . NORDEN, U r g e s c h . , S . 3 1 2 .

28») Vgl. die Belege aus der Wanderzeit bei A. DOVE, Studien, S. 26, denen sich aus älterer Zeit weitere anfügen ließen (vgl. etwa Tacitus Germ. c. 43 Lugiorum nomen in plures civitates diffusum u. a.). 29 °) So vor allem Jacob Grimm, Kaspar Zeuß, Karl Müllenhoff, Hermann Hirt, Rudolf Much. Aus der unübersehbaren neueren Literatur seien folgende Werke genannt: R. MUCH, Deutsche Stammsitze, in: PBB 17 (1892), S. 1—224 (vgl. dazu DERS. PBB 20 [1895], S. 1 ff., u. ZfdA 39 [1895], S. 20 ff.; G. KOSSINNA, in: IF 7, S. 284 f., S . 3 0 2 ff., d a g . H . H I R T , i n : P B B 1 8 [ 1 8 9 4 ] , S . 5 1 1 ff. u . 2 1 [ 1 8 9 6 ] , S . 1 2 5

ff.);

DERS.,

Germ. Völkernamen, in: ZfdA 39 (1895), S. 20—52; DERS., „Völkernamen" b. Hoops IV, S.425—433; DERS., Urgerm. Kolonien im Spiegel der Völkerschaftsnamen, in: Volk und Rasse 5 (1930),S.193—201; DERS., Germ.Stammesnamen, in: Germ.u. Indogerm. ( = Fs. H. Hirt) II, S. 493—505; L. LAISTNER, Germanische Völkernamen, in: Württ. Vierteljahreshefte f. Landesgesch. NF 1 (1892), S. 1—57; M. SCHÖNFELD, Wörterbuch der altgerm. Personen- u. Völkernamen, Heidelberg 1911; G. LANGENFELDT, On the Origin of Tribal Names, in: Anthropos 14/15 (1919/20), S. 295 ff.; F. SOLMSEN, Indogerm. Eigennamen als Spiegel der Kulturgeschichte, Heidelberg 1922, S. 95—110; R. v. KIENLE, Tiervölkernamen bei indogerm. Stämmen, in: Wörter u. Sachen 14 (1932), S. 25—67; J . SCHNETZ, Germ. Völkernamen, in:

60

Aspekte des Stammesbegriffs

wohl die Ergebnisse nodi weithin strittig sind, ergeben sich doch für uns zahlreiche wertvolle Hinweise auf das ethnische Selbstverständnis einzelner Gruppen. Abgesehen davon, daß in manchen „Völkernamen ein Stück Völkersdiicksal lebt" 291 und sie dadurch zu einer historischen Quelle werden, ist man in letzter Zeit auch auf die Bedeutung des Namens für die ethnische Existenz des Stammes aufmerksam geworden. D i e religiösen Hintergründe des Namenwechsels der Langobarden z. B., die vorher Winniler hießen, konnten von K. H a u c k herausgearbeitet werden 292 . Auch für andere Stämme war der N a m e in ähnlicher Weise bedeutungsvoll. Wir sehen daher manche ihren Namen dem Feind als Schlachtruf entgegenschleudern 293 . Die Marser, Gambrivier, Sueben und Wandilier betonen, daß ihre N a m e n vera et antiqua nomina sind 294 . N u r aus der Konstanz der Stammesnamen ist zu erklären, daß während und nach der Wanderzeit derselbe N a m e gleichzeitig an verschiedenen Stellen Europas auftaucht 295 . Dennoch zeigen die Quellen ein stets w e c h s e l n d e s B i l d d e r S t a m m e s b e z e i c h n u n g e n , das R. v. U s l a r mit einer gewissen „Leichtigkeit in der Änderung und Übertragung des Stammesnamens" zu erklären glaubt. Wie ist diese Diskrepanz zu verstehen? D a ß von einer Leichtigkeit, mit der der Stammesname gewechselt wird, nicht die Rede Z O N K 11, 13, 17, 19; T. E. KARSTEN, Völker- und Ortsnamen der Ostseeländer, in: Germ. u. Indogerm. ( = Fs. H. Hirt) II, S. 471—492; G. SCHÜTTE, Ethnische Prunknamen, in: ZfdA 67 (1930); DERS., Gotthiod, die Welt der Germanen, Jena 1939, passim; E. NORDEN, Alt-Germanien, Völker- und namengeschichtliche Untersuchungen, Leipzig u. Berlin 1934; M. DEUTSCHBEIN, Geographie der Wortbildung der germ. Völkernamen nach angelsächsischer Überlieferung, in: Zs. f. Maf. 16 (1942), S. 113 ff.; TH. STECHE, Volks- u. Stammesnamen in der deutschen Frühgeschichte, in: Germanen-Erbe 7 (1942), S. 2—15; J. TRIER, Völkernamen, in: Westf. Zs. 97 (1947), S. 1—37; W. STEINHAUSER, Kultische Stammesnamen in Ostgermanien, in: Die Sprache 2 (1950), S. 1—22; H . LUDAT, Farbenbezeichnungen in V ö l k e r n a m e n , i n : S a e c u l u m 4 ( 1 9 5 3 ) , S. 1 3 8 — 1 5 5 ; H . KRÄHE, V ö l k e r n a m e n

und

Flußnamen, in: Fs. f. Friedrich Zucker, Berlin 1954, S. 227—250. 291 ) L. WEISGERBER, Deutsch als Volksname, S. 96; vgl. bes. d. Abschnitt „Völkernamen als Ausprägung tragender Ideen des Völkerlebens", S. 155—159. 292 ) K. HAUCK, Lebenjnormen und Kultmythen in germ. Stammes- u. Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955), S. 206 ff., vgl. W. GRÖNBECH, Kultur u. Religion d. Germ. II 5 , S. 45. 293) So etwa die Ambronen bei Aquae Sextiae (Plutarch Marius c. 19). 284 ) Tacitus Germ. c. 2. Die Bedeutung des Völkernamens im frühen Mittelalter unterstreicht folgende Bemerkung Walahfried Strabos, Vita S. Galli (MG SS rer. Merov. III, S. 281 f.): Seimus similiter Francos partes Germaniae vel Galliae non solum potestati sed etiam suo nomine subiugasse. 295) Vgl. R. MUCH, Urgerm. Kolonien im Spiegel der Völkerschaftsnamen, in: Volk u. Rasse 5 (1930), S. 193—201; DERS., Germ. u. Indogerm. ( = Fs. H . Hirt) II, S. 499; E. NORDEN, Altgermanien, S. 312; TH. STECHE, Dauer und Schwund germanischer Volksnamen in Deutschland, in: Germanen-Erbe 5 (1940).

Uneigentliche Stammesnamen

61

sein k a n n , ist nach dem soeben Gesagten klar. W i r müssen n a d i anderen G r ü n d e n f ü r diese m e r k w ü r d i g e Erscheinung suchen. Soweit wir heute übersehen können, lassen sich drei F a k t o r e n f ü r diesen Wechsel der Stammesnamen auf den K a r t e n der historischen Geographie verantwortlich machen. a) Vielfach sind die N a m e n der Quellen k e i n e e c h t e n S t a m m e s n a m e n . Noch die moderne E t h n o g r a p h i e hat damit zu k ä m p f e n , die ethnischen Selbstbenennungen von solchen Bezeichnungen zu trennen, die sich nur auf sprachliche G r u p p e n , Kulturgemeinschaften, politische Verbände, die — ethnisch oft uneinheitlichen — Bewohner einer Landschaft, Kasten, Sekten usw. beziehen 2 9 6 u n d die darüber hinaus z. T. auf M i ß verständnissen europäischer Reisender beruhen, z. T. aber auch ihr Dasein nur dem Bestreben der Wissenschaftler verdanken, bestimmte kleinere autonome G r u p p e n ü b e r h a u p t zu klassifizieren. Das ist in der antiken E t h n o g r a p h i e nicht anders gewesen; n u r haben wir es ungleich schwerer, hier den wirklichen Sachverhalt aufzudecken. Immerhin lassen sich auch hier einige Feststellungen treffen. So bezeichnet z. B. ein großer Teil der sogenannten Stammesnamen ursprünglich nur die Bewohnerschaft eines bestimmten Gebietes. Typologisch gesehen h a n d e l t es sich hier um eine relativ junge Namenschicht 2 9 7 . Die umfangreichste G r u p p e im germanischen Bereich sind die mit -varii (germ. * w a r j ö z ) zusammengesetzten N a m e n , die teils die A n w o h n e r eines bestimmten Flusses (Amsivarii, Chasuarii, Meanware am Meon/Hants.), teils Bewohner einer natürlichen Landschaft (Angrivarii, Ripuarii, Vidivarii) oder eines Landes (Raetobarii, Cantwaere, Wihtwaere), aber auch die Nachfolger eines anderen Stammes als Besiedler eines Gebietes bezeichnen (Baiuvarii, Chattuarii, Bomctuarii)298. Dazu treten andere Zusammensetzungen (Brisigavi, Bucinobantes, Tubantes, Marcomanni, Bainochaimai, Teuriochaimai, Wisburgi u. a.) u n d Ableitungen (Aviones, Peucini, Centingas, Greutungi, Tervingi usw.), die ebenfalls von geographischen und topographischen N a m e n abhängen. Welche dieser G r u p pen wirklich ethnische Gebilde geworden sind, ist nicht a priori zu bestimmen. D i e N a m e n , die politisch aktive Einheiten bezeichnen, kommen a m ehesten in Frage. W i r werden also die in historischen Berichten angeführten N a m e n bis z u m Beweise des Gegenteils als Stämme ansehen können. D i e zahlreichen N a m e n , die n u r in geographischen Quellen (Strabon, Ptolemaios usw.) auftauchen, sind dagegen verdächtig. So sind etwa

296) Vgl. W . E . Mühlmann, in: Dt. Arbeit 4 2 ( 1 9 4 2 ) , S . 2 9 3 . 297) Vgl. A. Dove, Studien . . ., S. 19, Anm. 1, der mit Recht darauf hinweist, daß Neubildungen gewöhnlich lokal gefärbte Stammesnamen haben. 2oa ) Eine Sonderstellung nimmt Dornwaere ein, das die Bewohner einer britischen Stadt bezeichnet. Hier ist aber der Name der Stadt = Durnovaria umgedeutet worden; vgl. G. Schütte, Gotthiod, S. 47.

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Aspekte des Stammesbegriffs

die nur bei Ptolemaios überlieferten Teuriochaimai und Bainochaimai mit einiger Sicherheit keine Namen für ethnische Einheiten, sondern bezeichnen lediglich die Bewohner Böhmens und Mitteldeutschlands. Anders steht es mit den von H e r r s c h e r n a m e n abgeleiteten Personenverbandsnamen. Auch hier sind wohl zuweilen keine ethnischen Einheiten gemeint, sondern eher gefolgschaftsähnlich organisierte Personenverbände, die nur kurze Zeit bestanden haben. Vielleicht trifft dies bei einigen der vielen nur im Widsith genannten Namen zu (etwa Frumtmgan299 u. a.). Doch bei längerer Dauer des Verbandes stellte sich hier die ethnische Bindung ein und gestattet uns, ihn als Stamm zu bezeichnen. Dagegen ist damit zu rechnen, daß Stämme, die politisch unter die Herrschaft eines anderen Stammes gerieten, ihr ethnisches Bewußtsein bewahrten, obwohl sie bei den Geschichtsschreibern nun nicht mehr erwähnt werden300. Vielfach ist auch zu beobachten, daß ein Stamm neben seinem Stammesnamen die Bezeichnung seiner Dynastie als Namen mitbenutzt (Wandalen-Asdingen, Ostgoten-Amalungen, Skiren-Turcilingen, Frankenae. Merowioingas, vielleicht Sachsen-Myrginge). Doch konnte ein Stamm auch noch auf andere Weise zu mehreren Namen kommen, die z. T. aus dem Kreis seiner Angehörigen, z. T. aber auch von Fremden herrührten 301 . Da sind einmal die K u r z - u n d S c h w u n d f o r m e n zum eigentlichen Stammesnamen aufzuführen, die gelegentlich Verwirrung anrichten. So steht neben Visigothi ein einfaches Visi, neben Langobardi ein Bardan. Das sprachliche Gegenstück hierzu sind die meist der gehobenen Sprache angehörenden P r u n k n a m e n 302 , die auf Variation des alten Namens oder Komposition desselben mit einem zweiten Wort beruhen: Heado-beardan „Kampfbarden" (Langobarden), Gar-dene „Speerdänen", Sige-scildingas „Sieg-Skjöldunge" (Skjöldunge = Dänen, nach dem Namen ihres Herrschergeschlechts) usw. Inhaltlich das Gegenteil sind die S p o t t - u n d S c h e l t n a m e n , die dem Stamm ursprünglich von den Nachbarn angehängt wurden. Unter bestimmten Umständen konnte ein solcher Name aber auch vom betroffenen Stamm aufgegriffen und mit Stolz mitbenutzt werden. Der Name der Quadi bedeutet ¿die Bösen", der der Marsi „die Aufsässigen, Trotzigen, Schlimmen", der der 29») Vgl. R. MUCH, ZfdA 60 (1925), S. 137. 3 0 0 ) Auch in Afrika werden von den Eingeborenen ethnische Bezeichnungen nicht nur in ethnischem, sondern auch in rein politischem Sinn gebraucht; vgl. W. E. MÜHLMANN, i n : S t u d . G e n . 3 ( 1 9 5 0 ) , S. 5 7 3 . 3 0 1 ) Die Mehrnamigkeit einzelner Stämme ist auch antiken Beobachtern nicht entgangen. Plinius weist z. B. n. h. IV 106 darauf hin, daß die Texuandri mehrere Namen hatten. Übersichten über die verschiedenen Namen germanischer Stämme sind bei G. SCHÜTTE, Our Forefathers u. Gotthiod, den einzelnen Artikeln beigegeben. 302) VGL. z u diesen beiden Formen R. MUCH, Dt. Stammeskde.2, S. 76.

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Bructeri „die Widerspenstigen, Empörer" 303 . Zuweilen wurde ein unverstandener Name von Nachbarn „volksetymologisch" zu einem Spottnamen umgedeutet: So etwa der der Gibedi nach R. M u c h zu Gepides, das nach Jordanes 304 tardiores ingenii et graviores corporum velocitate bedeutet. Auch der Name der Bastarnen, „Mischlinge", gehört in diese Kategorie. Er wird dem Stamm von den mit ihnen auftretenden Skiren, den „Reinen", gegeben worden sein. Der abwertende Sinn machte diesen Namen zur Selbstbezeichnung ungeeignet; daher nannte der Stamm sich selbst nach seinen Wohnsitzen auf der Donauinsel Peuke auch Peukiner, Die Nachbarn sind auch verantwortlich für mancherlei Verwirrung in der Zuordnung einzelner Gruppen zu einem Stammesnamen. Ihnen wird die kulturelle Zusammengehörigkeit mehrerer Verbände häufig eher bewußt als den Benannten, die sich noch nicht als ethnische Einheit fühlen 305 . Aber auch politische Zusammenfassungen wurden, wie wir sahen, mit einem ethnischen Etikett versehen. Die Ausweitung von Stammesnamen auf weitere Gruppen, für die E. N o r d e n eine ganze Reihe von Beispielen zusammengetragen hat 306 , ist aus solchen Vorgängen zu erklären. b) Das durch zahlreiche überlieferte Fremd- und Nebenbezeichnungen hervorgerufene bunte Bild der Benennungen mag bereits zur Vorsicht mahnen, nicht allzu schnell einen echten Namenwechsel anzunehmen. Wenn man jedoch den Stammesnamen als Bestandteil der ethnisch-politischen Tradition in seiner wirklichen Bedeutung erfassen will, muß man sich mit einer Tatsache vertraut machen, die wir zu leicht aus dem Auge verlieren, indem immer wieder unbewußt gewisse erst dem modernen Nationalismus zukommende Gedanken und Reaktionen dem ethnischen Bewußtsein unterlegt werden. Dieser moderne Nationalismus ist in seiner Entstehung ohne die demokratische Idee nicht zu begreifen. Die Forderung der Demokratie nach Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte bedingt die Gleichheit der nationalen Pflichten. Es wird vorausgesetzt, daß jeder Angehörige der Nation mit dem anderen durch das gleiche Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit verbunden ist. Diese Idealforderung entspricht auch heute durchaus nicht der Wirklichkeit. Auch heute steht der Gesamtheit der Nation keineswegs nur das einzelne gleichartige Individuum gegenüber, sondern innerhalb 303) Vgl. A . BACH, D t . Namenkde. I, 12 ( 1 9 5 2 ) , S. 3 0 8 f. 304) Get. X V I I 95. 305) VGL. schon FR. RATZEL, Anthropogeographie I I , S. 5 6 2 , nach R . MUCH, Germ. u. Indogerm. ( = Fs. H . H i r t ) I I , S. 5 0 9 f.; W . E . MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 4 2 . 306) Urgesch., S . 3 1 8 f f . (Germanen, Hellenen, Italia, Makedonen [ S . 3 2 1 , A n m . 1 ] ) , S. 4 0 6 ff. (Pelasger, Danaer, Grai ) Griechen, Illyrier, Saker, Ruotsi, Volcae, Kelten, Gallier, Iberer, Alemanni). Ihnen lassen sich zahlreiche andere Beispiele anreihen. Vgl. unten S. 9 9 f.

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dieser großen Gruppe befinden sich kleinere soziale Gesellungseinheiten, die ebenfalls ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und in stark abgestufter Form am Leben der N a t i o n teilhaben. Noch heute können innerhalb der großen N a t i o n Freundschaften und Feindschaften von Dorf zu Dorf eine gewisse Rolle spielen 307 . In ländlich bestimmten Räumen Deutschlands bewahren Kleinlandschaften und Einzelsiedlungen ein besonderes Gemeinschaftsgefühl 308 , wobei das ausschließlich auf den jeweiligen Heimatort bezogene Zusammengehörigkeitsgefühl noch am häufigsten ist. „Die sprachliche Formung dieses selbstgefälligen Gefühls einer örtlichen Gemeinschaft wird in Spottnamen deutlich, die Volksdichtung greift zu Spottversen" 3 0 9 . Bestimmte Klassen sind stärker von nationalistischen Gedanken durchdrungen als andere. Die aktive Teilhabe der großen Massen an der politischen Ideologie ist eine verhältnismäßig junge Erscheinung. C. E r d m a n n hat dies an einem Beispiel deutlich gemacht 310 : Während der heilige Krieg zunächst eine spezifische Aufgabe des Königs war, wird diese Aufgabe durch dip Reformbewegung auf das Rittertum ausgeweitet. So erst konnten die Kreuzzüge zu einer Massenerscheinung werden. Audi die Ethnologie hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Vordergrund des Interesses steht immer nur das Dorf, der Kleinraum; auch dort, wo sich ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund kultureller Gemeinsamkeiten ausgebildet hat 3 1 1 . Die Überlieferungen und Stammeslehren sind keineswegs gleichmäßig über die ganze Bevölkerung verteilt. Wer sich über einen Mythos, einen Glauben usw. unterrichten will, kann sich nicht an den erstbesten Vertreter eines Stammes wenden, sondern muß versuchen, an führende Persönlichkeiten heranzukommen. Es besteht eine Abstufung „von den führenden Personen über die durchschnittliche Masse bis zu den schlechthin passiven und gleichgültigen Individuen" 3 1 2 . Die Auffassung eines alle Stammesangehörige gleichmäßig erfassenden Stammesbewußtseins d ü r f t e auch f ü r unser Untersuchungsgebiet schwerlich zutreffen. Das Bewußtsein, eine „Wir-Gruppe" zu sein, reicht bei bestimmten Schichten vielfach nicht über die kleine Siedlungskammer hinaus 313 . 307

) Ein bezeichnendes Beispiel aus dem Mittelalter gibt das Epos Heinrich Wittenwilers „Der Ring" wieder. Vgl. zu dem Problem H. KOHN, Die Idee des Nationalismus, S. 27 f., 39 f. 308) VGL. DIE v o n W. MITZKA für Hessen dargestellten Verhältnisse, hess. Maf., S. 31. SO») W . MITZKA, hess. M a f . , S. 86.

310) Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (1935, 2 1955). 311 ) Vgl. das Beispiel v. W. TRANEL, Völkerkundliche und sprachliche Aufzeichnungen aus dem moändo-Sprachgebiet in Nordost-Neuguinea, in: Anthropos 47 (1952), S. 456. 312) W. E. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 110. 313) E. LEMBERG, Geschichte des Nationalismus in Europa (1950), S. 54 ff., hat das „kleinräumige Denken des Bauern" im Mittelalter behandelt. Es ist jedoch selten

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Dieser Raum war der Wirkungsbereich der vielgenannten Bünde, von denen R. v. K i e n 1 e mit Recht betont, sie seien „zu engräumig, zu stark lokal gebunden" gewesen, als daß sie für die Gestaltung des Stammes ausschlaggebend sein konnten 314 . Hier vollzog sich zwar nicht die gesamte, aber doch ein großer Teil der Rechtsbildung, wie K. S. B a d e r erkannte 315 . Nur die Gruppen, deren a l l t ä g l i c h e s Interesse über diese Kleinräume hinwegreichte, waren die eigentlichen T r ä g e r d e r e t h n i s c h e n T r a d i t i o n . Die glaubhafte Angabe des Tacitus 316 , daß Lieder die einzige Art geschichtlicher Uberlieferung in Germanien gewesen sind, mag dazu verführen, in den D i c h t e r n dieser Verse eine solche Gruppe zu sehen. Es gibt zwar ethnographische Beispiele für solche Träger der Überlieferung 317 , aber wie weit an germanischen Höfen der frühen Kaiserzeit bereits mit einem ständigen H o f a m t dieser Art gerechnet werden kann, wissen wir nicht318. Möglich ist auch, daß die Bewahrung der Traditionen dieser Form zu den priesterlichen Aufgaben gehörte 319 . Vielleicht gehörten zu diesem Kreis auch jene Leute, die die Jugend zur Initiation vorbereiteten, die bei den Germanen mit der Wehrhaftmachung identisch war. Sicheres können wir nicht aussagen. Der junge Adlige, der außerhalb seiner Heimat an fremdem Fürstenhof G e f o l g s d i e n s t e leistete, gehörte sicher zu denjenigen, denen ihre ethnische Herkunft etwas bedeutete. In besonderem Maße traf das für die Edelinge zu, die diesen Dienst im römischen Heere verrichteten. Das beweisen zahlreiche Inschriften mit der Angabe der Stammeszugehörigkeit. Der ganze Streit darum, ob die Germanen sich selbst Germanen genannt haben 320 , erscheint dadurch in einem anderen Licht. Innerhalb Germaniens bestand weniger Veranlassung zu einer derartigen Selbstbezeichnung, wenn es auch trotz aller gegenteiligen Behauptungen an einer solchen nicht geder Bereich einer „Grundherrschaft", der den Rahmen für dieAusbildung des lokalen Gemeinschaftsbewußtseins abgab, wie L. das behauptet. Vgl. die Beispiele in dem oben (Anm. 308) angeführten Werk W. Mitzkas. 3U ) Germ. Gemeinschaftsformen, S. 243. 315) Volk, Stamm, Territorium, in: Wege d. Forschg. II, S. 256. sl6 ) Germ. c. 2: Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud Mos memoriae et annalium genus est.. . Vgl. Jordanes Get. IV 28: quemdadmodum et in priscis eorurn carminibus pene storico ritu in commune recolitur ... V g l . H . KIRCHNER, i n : S o c i o l o g u s N F 4 ( 1 9 5 4 ) , S. 18. 318

) Die bei G. EHRISMANN, Gesch. d. dt. Lit. I, S. 18, angeführten Belege über die antiqui homines, denen die Uberlieferung verdankt wird, betreffen nur Verhältnisse aus der Zeit nach der Völkerwanderung. Mit der Möglichkeit, daß es den pulir entsprechende Personen schon früher gegeben hat, muß jedoch geredinet werden. Vgl. A. HEUSLER, Altgerm. Dichtung, S. 83, S. 110. 319 ) L. WOLFF, Das deutsche Schrifttum bis zum Ausgang des Mittelalters I, S. 19. 820) Vgl. den Abschnitt „Germani als Selbstbezeichnung" bei E. NORDEN, Urgesch., S. 4 2 3 — 2 8 .

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Aspekte des Stammesbegriffs

fehlt hat, wie später zu zeigen sein wird. Germanen, die in das Imperium kamen, haben sich jedoch oft als solche bezeichnet321. Diese in der Fremde weilenden Krieger konnten jedoch für das ethnische Gefüge des Stammes nicht allzu viel bedeuten. Entscheidend war die politisch führende Schicht des Stammes selbst. Schon vor mehr als drei Jahrzehnten vermutete Fr. S t e i n b a c h 322 , daß der „wichtigste Bestandteil" des Stammesbewußtseins im 10. Jahrhundert „die Erinnerung der Großen des betreffenden Gebietes an eine weitergehende politische Selbständigkeit ihrer Vorfahren" gewesen sei. Diese Großen sind die eigentlichen Repräsentanten des Stammes. Wobei wir den Begriff des Repräsentanten nicht in dem abgeschwächten modernen Sinne verstehen, sondern mit H. M i 11 e i s 323 in ihm nicht nur einen „Vertreter" des Volkes sehen: die Großen „repräsentieren" das Volk in dem Sinne, daß sie es selbst verkörpern, es selbst vorstellen. Man hat neuerdings erkannt, daß der populus der Quellen nur eine gehobene Schicht meint, daß die „Volksrechte nicht für alle Stände unmittelbar galten und auch nicht gelten konnten, weil sie nicht allgemein anwendbar waren" 324 . Diese Gruppe war es, die den höchsten „Repräsentanten" wählte, sie allein nahm aktiv an der Wahl teil. Dort, wo unter den Großen aus Rivalität oder anderen Gründen keine Einigung über die höchste Repräsentanz zustande kommt, ist die ethnische Tradition bereits in Gefahr. Das gilt erst recht dann, wenn der Adel zugrunde gegangen ist. Man kann in manchen Fällen sogar noch weitergehen. Oft scheint es so, als ob das Bestehen des Stammes von der Existenz seines Herrschergeschlechts unmittelbar abhängig ist. Vielfach hört ein Stamm einfach auf zu existieren, wenn seine Dynastie verlischt. Das mag übertrieben erscheinen, aber eine ganze Reihe von Belegen läßt sich anführen: Nachdem die stirps regia der C h e r u s k e r 3 2 5 in inneren Kämpfen ausgerottet ist, verklingt selbst dieser berühmte Name. Tacitus, der sie noch als heruntergekommenes Volk schildert326, ist der letzte, der von ihnen sichere Kunde gibt 327 . — Als Maelo, der König der S u g a m b r e r , als Gesandter in die 321) Vgl. E. NORDEN, Urgesch., S. 424: „Auf den recht zahlreichen Inschriften von Germanen, die unter der Julisch-Claudischen Dynastie zur kaiserlichen Leibwache gehörten, steht neben der Stammesbezeichnung natione Bata(v)us, Ubius,

Frisius usw. stets die Volksbezeichnung ex collegio Germanorum." Beispiele aus

späterer Zeit ebd., S. 424, Anm. 4. 322) Studien . . ., S. 122. 323) Der Staat des hohen Mittelalters (31948), S. 10. 324) TH. MAYER in seinem Nachwort zur Neuausgabe v. H . HIRSCH, Die hohe Gerichtsbarkeit im Mittelalter (21958), S. 248, vgl. auch S. 247. 325) Tacitus Ann. X I 16. 326) Tacitus Germ. c. 36. 327) L. SCHMIDT, Westgerm. I«, S. 123 f.

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Hände des Augustus fiel328, war die Kraft des in der Zeit Caesars mächtigsten Stammes am Rhein gebrochen. Die Sugambrer — angeblich 40 0 0 0 Köpfe — ließen sich auf römischem Gebiet ansiedeln, wo ihr Name bald erlosch und nur in der dichterischen Tradition weiterlebte, bis er durch die Merowinger wieder aufkam 3 2 9 . O b im Stamme der Kugerner am Niederrhein die Nachkommen der alten Sugambrer zu sehen sind, wie die Mehrzahl der Forscher annimmt, bleibt zweifelhaft. — Nachdem Mallovend-us, der „dux" der M a r s e r , sich den Römern unterworfen harte, konnte Germanicus 16 n. Chr., ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, ihr Land verheeren und zahlreiche Gefangene fortführen 3 3 0 . Ihr Name lebt seitdem nur in abgeleiteter Form in einigen Kolonien weiter, die wohl vorher abgespalten waren (Marsaci an den Rheinmündungen, Marsigni in den: Sudetenländern). — Die in Pannonien und Ufernoricum Ende des 4. Jahrhunderts angesiedelte g e n s M a r c o m a n n o r u m hatte keinen König mehr, sondern stand nach der Notitia dign. 331 unter einem römischen Offizier, einem tribunus. Ihr Name verschwindet noch im Verlaufe des 5. Jahrhunderts aus den Primärquellen. — Als die im Auftrag Roms gegen die S i 1 i n g e n und A l a n e n in Spanien operierenden Westgoten den König Fredbai 416 n. Chr. durch List gefangennehmen, ist der Untergang des Stammes der Silingen besiegelt. D a ß er in den sich noch bis 418 hinziehenden Kämpfen fast ausgerottet wurde 332 , ist unwahrscheinlich. Silingen wie auch die spanischen Alanen, die ihren König Aldac ebenfalls verloren hatten, unterstellten sich nun dem Asdingenkönig. Damit verhallt auch der Silingenname. — Der der G o t e n in Italien war nach dem Verlust des Königtums so weit verschwunden, daß erst die Forschung der jüngsten Zeit feststellen konnte, daß die Goten nicht abgewandert, sondern assimiliert worden waren. — Während der König der asdingischen W a n d a l e n mit dem wohl größeren Teil des Stammes 400 aus Ungarn über Gallien nach Spanien auswanderte, muß ein immerhin noch beträchtlicher Teil in der Heimat zurückgeblieben sein, sonst wäre jene Gesandtschaft an Geiserich, mit der Bitte, daß die Ausgewanderten auf ihre Anrechte an den ererbten Ländereien verzichten mögen, kaum verständlich. Dennoch war ihr N a m e schon zur Zeit Prokops zu dessen Verwunderung völlig verschwunden 333 . 328) So die Darstellung bei L. SCHMIDT, Westgerm. I I 2 , S. 178. Das Mon. Ancyr. c. 32 behauptet, daß Maelo als Flüchtling ins Römerreich kam. 32») Deudorix, ein Neffe Maelos, wird noch zu 17 n. Chr. als Sugambrer unter den Gefangenen des Germanicus erwähnt.

330) Tacitus Ann. II 2 5 ; vgl. L. SCHMIDT, Werstgerm. I I 2 , S. 181 f. S3I) Occ. 34, 2 4 ; vgl. L. SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 185 f. u. Ostgerm. 2 , S. 420. 832

)

So

L.

SCHMIDT,

S. 3 8 .

333) b. Vand. I 22.

Ostgerm.2,

S.

460;

vgl.

W.

CAPELLE,

Völkerwanderung»

68

Aspekte des Stammesbegriffs

In der Schlacht am Flusse Bolia ist wahrscheinlich Edica, der König der S k i r e n , gegen die Goten gefallen. Seine Söhne wurden Würdenträger im Römischen Reich; Onoulf in Konstantinopel, Odoaker in Italien, wo er sogar König wurde. Nach deren Tod ist der Name der Skiren sowohl an der Donau wie auch im Reich erloschen. — In fast all diesen Fällen handelt es sich um einst große, mächtige Stämme, die zeitweilig in größeren Räumen eine hegemoniale Stellung innehatten. Bei wie vielen kleineren und abgelegenen Stämmen wird sich ein ähnliches vollzogen haben? Schon seit einiger Zeit ist beobachtet worden, daß das Königtum für die Macht eines Stammes entscheidende Bedeutung gehabt hat 334 . Der gewaltsame Tod des Königs hat häufig das Schicksal seiner Gemeinschaft besiegelt 335 . Das war auch den Zeitgenossen bewußt. Als um 497 der Alamannenkönig gegen Chlodwig fällt, wird dies mit dem Verlust der Selbständigkeit gleichgesetzt336. In dem Briefe Theoderichs an Chlodwig 337 heißt es: „illum regem cecidisse cum gentis superbia". Gregor von Tours 338 berichtet über das Verhalten der Alamannen nach dem Tod des Königs: cumque regem suum cernirent interemptum, Chlodovechi se ditionibus subdunt. Ähnliches kann beim Untergang des Thüringerreiches festgestellt werden 339 . Der Verlust des Königsheils ist in diesen Fällen gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Für Pseudo-Fredegar ist, wie W. F r i t z e festgestellt hat 340 , der Staat „die Herrschaft eines politisch organisierten Blutsverbandes über ein begrenztes Gebiet; deren völlige Unabhängigkeit . . . ihren Ausdruck im regnum, der Königsherrschaft", findet. Das Heil der stirps regia verbindet selbst versprengte Glieder eines Stammes. Wenn etwa die Cherusker aus Italien den Neffen des Arminius heimholen, weil die einheimische Linie ihres Königshauses erloschen ist 341 , oder wenn die Donau-Heruler eine Gesandtschaft nach Norden schicken, um aus den bei den dortigen Stammesgenossen weilenden Angehörigen ihres Herrschergeschlechtes einen neuen König auszuwählen342, zeigt sich einmal mehr, wie sehr das Stammesschicksal mit dem der Königssippe verbunden ist. 33^) Vgl. etwa R . MUCH, Germania, S. 255. 335)

V g l . G . W A I T Z , D t . V g . I , S . 3 3 3 , I I , 1 , S. 6 3 .

336)

L . SCHMIDT, W e s t g e r m . I I 2 , S .

71.

337) Var. II 41; vgl. Ennodius paneg. auf Theoderich c. 15. 338) 33«) S.

Hist. Franc. II 30. V g l . L . SCHMIDT, W e s t g e r m . I I 2 , S . I l l ; W . SCHLESINGER,

Landesherrschaft,

41. 340

) Untersuchungen, S. 304.

341) Tacitus Ann. X I 16. 342) V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 5 5 4 f . ; E . SCHWARZ, S t a m m e s k u n d e , S .

110.

Königtum und Stammestradition

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Dieser Bindung entspricht, daß Herrscher- und Stammesgenealogien nicht voneinander zu trennen sind, sondern ineinander gesdiaut werden 343 . Wir können diese Identität nur feststellen, doch nicht rational erklären. Wenn O. H ö f 1 e r 344 in Anlehnung an die weithin abgelehnten Erstgeburtshypothesen Herbert M e y e r s diesen Tatbestand im Bilde einer Primogenitur des Königshauses innerhalb des Stammes sieht, können wir ihm hier nicht folgen. Uns ist von solchen Spekulationen — wie er zugibt — nichts überliefert 345 . Die eddische Rigsfmla ist eine späte Gelehrsamkeitsdichtung 346 und besagt zudem eher das Gegenteil: der König ist der l e t z t e Sproß des Asen Rig. Nach allem Gesagten dürfte es kaum ein Zufall sein, daß der älteste germanische Königstitel got. p'mdans, anord. piödann, ae. peoden, as. thiodan, eine -n-Ableitung mit individualisierender und repräsentierender Bedeutung von got. piuda, anord. pjoÖ, ae. peod, as. thioda „gens", eigentlich nur den Repräsentanten des Stammes meint 347 . Ähnliche Bedeutung ist auch bei anderen Herrscherbezeichnungen vorauszusetzen. So bei ae. léod m. „princeps", das zu ae. léod f. „gens" gehört; bei salfr. theod „dominus" zu ahd. diot „Volk"; bei anord. fylkir „Herrscher" zu anord. fylki „Volk" 348 . Danach scheint sich die Idee der Selbständigkeit nicht erst in der Wanderzeit, wie A. D o v e meint 349 , mit dem Vorhandensein eines Königs verknüpft zu haben. Erst aus der Zeit der Völkerwanderung haben wir jedoch eindeutige Zeugnisse. Es bereitet dem Geschichtsschreiber der Goten, Jordanes, sichtlich eine gewisse Befriedigung, wenn er darauf hinweisen darf, daß die Goten selbst unter hunnischer Herrschaft einen eigenen regulus be8«) Vgl. F. DAHN, Könige II, S. 98; W. GRÖNBECH, Kultur und Religion d. Germ., «1954, S. 390; H . MEYER, in: ZRG G A 58 (1938), S. 58, Anm. 3; O. HÖFLER, Fs. Otto Scheel (1952), S. 13; DERS., Vorträge u. Forschgn. I I I , S. 100; K. HAUCK, in: Saeculum 6 (1955), S. 193. Die deutsche Heldensage ist im wesentlichen aus Stämmen unter Königen hervorgegangen (Franken [Siegfried], Burgunder [Gunther], Goten [Dietrich], Ostseestämme [Gudrun], Thüringer [Iring]), wogegen Stämme, die entweder kein Königtum kannten bzw. es früh verloren (Alamannen, Sachsen, Baiern) auch keine eigenen Sagenkreise überliefert haben. Es wäre einmal eingehender zu untersuchen, wieweit nur literar-historische Gründe dafür vorliegen oder ob die Stammestraditionen so stark an dynastische Traditionen gebunden waren, daß ohne letztere auch Stammesüberlieferungen schwer auszubilden waren. 3«) in; Fs. Otto Scheel, S. 13 m. Anm. 12. 345) Vorträge u. Forschgn. I I I , S. 79. 846) F. GENZMER, Thüle II, S. 112; O. HÖFLER, Vorträge u. Forschgn. I I I , S. 79. 347) V g l . R . v . KIENI.E,

G e r m . G e m e i n s d i a f t s f o r m e n , S. 2 7 0 ;

W.

SCHLESINGER,

Herrschaft u. Gefolgschaft, S. 228 ( = Wege d. Forschg. I I , S. 139); DERS., Vorträge u. Forschgn. I I I , S. 107. 348) R . v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 269. 34») Studien . . ., S. 45.

Aspekte des Stammesbegriffs

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sessen haben 350 . Zwei inzwischen häufiger zitierte Stellen aus Paulus Diakonus' Langobardengeschichte zeigen die Verbindung zwischen der Stärke des Stammes und dessen Königtum 3 5 1 . Gerade die Langobarden scheinen von ähnlichen Gedanken mitbestimmt worden zu sein, als sie nach zehnjährigem Interregnum 5 8 4 wieder einen König wählten. Fredegar 3 5 2 stellt sich die Landnahme der Franken unter Königen vor. Das geschwächte Volk soll dann aber später nur noch unter duces

gestanden haben 353 .

Die Tendenz der abendländischen gentes, eine repräsentative Spitze aus sich hervorzutreiben, war bis in das hohe Mittelalter hinein wirksam. Beobachten wir doch, wie selbst der königliche „Amtsherzog", der aus fremden Stamme genommen ist 354 , im Laufe relativ kurzer Zeit immer wieder auch zum „Stammesherzog" und damit zum „Repräsentanten" des Stammes wird. Seit jeher versuchten die nach Selbständigkeit strebenden Fürsten,

als

Könige anerkannt zu werden. Radulf, der Herzog der Thüringer, bemüht sich darum wie Radbod, der Friesenherzog 355 .

Nach der Unterwerfung

unter fränkische Gewalt waren nach Gregor von Tours die Könige der 850) Get. X L V I I I 249. 351 ) I 20: atque iam ex illo tempore ita omnis Herulorum vir tus concidit, ut ultra supra se regem non haberent; I 27: Gepidarum vero ita genus est deminutum, ut ex illo iam tempore ultra non habuerint regem. Vgl. G. WAITZ, Dt. Vg. I, S.307f.; A. DOVE, Studien . . . , S. 45, Anm. 1; W. SCHLESINGER, in: Vorträge u. Forschgn. I I I , S. 113. Es fehlt nicht ganz an kritischen Stimmen am Königtum. Vgl. die Bemerkungen Jordanes' X X X V I 193 zur Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, über die Willkür übermütiger Könige, die zum Niedermetzeln ganzer Völker führt. Doch mag diese Stelle auf Cassiodor zurückgehen und als germanisches Selbstzeugnis ausscheiden. II 5 (MG SS rer. Merov. II, S. 46); vgl. W. SCHLESINGER, in: Vorträge u. Forschgn. III, S. 113 nach W. FRITZE. S53) Weitere Hinweise dieser Zeit bei A. DOVE, Studien . . S. 45, Anm. 1. 354 ) Selbst für die Baiern hat E. KLEBEL, Die Ostgrenze des karolingischen Reiches, Jb. f. Landeskde. v. Niederöst. 21 (1928), S. 530 ff. die Möglichkeit erwogen, daß auch das jüngere Stammesherzogtum nicht einheimischer Herkunft war, sondern der Einsetzung durch den fränkischen König sein Dasein verdankt; vgl. DERS., Herzogtümer und Marken bis 900, in: DA 2 (1938), S. 1 ff. u. Vom Herzogtum zum Territorium, in: Fs. Th. Mayer I (1954), S. 205; K. S. BADER, Volk, Stamm, Territorium, jetzt in: Wege d. Forschg. II, S. 257 ff. Zur nichtbairischen Abkunft der Agilolfinger vgl. die S. 569 Anm. 900 zitierte Literatur. Dagegen wird das herzogliche Geschlecht in Alemannien jetzt als einheimisch angesehen; vgl. O. FEGER, Zur Geschichte des alemannischen Herzogtums, in: Zs. f. Württ. Landesgesch. 16 (1957), S. 41—94. Die Entstehung des sogen, jüngeren Stammesherzogtums ist ohne die erwähnte Tendenz kaum denkbar. Vgl. W. SCHLESINGER, Entstehung der Landesherrschaft . . ., S. 58; G. TELLENBACH, Vom karol. Reichsadel z. dt. Reichsfürstenstand, jetzt in: Wege d. Forschg. II, S. 201; DERS., Königtum u. Stämme in der Werdezeit d. dt. Reiches (1939). 355) Vgl. E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung, S. 164 u. S. 167.

Königtum und Stammestradition

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Bretonen nur noch comités: Nam semper Brittani sub Francorum potestatem post obitum régis Cblodovechi fuerunt, et comités, non régis appellati sunt356. Das hinderte allerdings ihre späteren Fürsten nicht, den Königstitel zu führen 357 . Die Vita Mathildis ant. 358 ist stolz darauf, daß die Sachsen in Heinrich I. mit einem Könige beschenkt wurden. Durch die Herrschaft der Ottonen ist Germanien aus seiner früheren Knechtschaft zu besonderen Ehren aufgestiegen. Diese durch das ganze Mittelalter hindurch zu verfolgende Einstellung braucht nicht durch weitere Belege überzeugend gemacht zu werden. Wir wollen nur noch einmal auf die Tatsache hinweisen, daß auch die Völker selbst nach den Königen (Karolini ¥ ranci) und nach den Königsgeschlechtern genannt wurden, eine Übung, die in der Heldensage noch weiterlebte (Amalungen f ü r Goten), als sie aus der Geschichtsschreibung schon verschwunden war 359 . Umgekehrt wird im frühen Altertum und im Mittelalter der König stets als König eines Stammes, eines Personenverbandes bezeichnet: rex Francorum, Gotorum, Vandalorum usw. Erst später ist er König eines Landes: rex Franciae usw. Keine der Völkerschaften, die in der Römerzeit nachweislich ohne Könige waren, Chatten, Usipier, Tenkterer usw., hat die Völkerwanderungszeit ohne Bruch der Tradition überdauert, selbst wenn keine Ortsveränderung anzunehmen ist. Damit vergleiche man die Kontinuität des Schwedennamens aus taciteischer Zeit, in der das Königtum der Suiones zuerst bezeugt ist, bis in unsere Gegenwart hinein. Damals ist es noch der König allein und nicht jeder einzelne, der sein Handeln bewußt nach dem Nutzen des Stammes auszurichten hat. Man vergleiche die Proklamation des Witiges 360 : ad gentis utilitatem respiciet omne quod agimus. Freilich mögen in solchen Wendungen schon römische Ideen mitwirken. Durch die Mehrung seines Hortes steigert der König auch den Ruhm seines Stammes. König Chilperich behauptet von einem Tafelgerät, er habe es zum Ruhme der Franken angefertigt: Ego haec ad exornandam atque nobilitandam Francorum gentem feci361. Alles „nationale" Handeln ist auf den König bezogen. Das „Volk" kämpft für den König; die Siege des Königs vermehren den Ruhm des „Volkes"; aber der einzelne 358

) Greg. Tur. Hist. Franc. IV 4. ) Fredegar IV 78; Ann. regni Franc, ad. a. 818; vgl. E. Z ö l l n e r , D . polit. Stellung, S. 179, S. 181, S. 182. 358) C. 4 (MG SS X , S. 577); vgl. M. L i n t z e l , Heinrich I. u. d. fränk. Königssalbung, S. 49 u. S. 51; H . Beumann, Die sakrale Legitimierung . . ., in: Z R G GA 357

7 9 ( 1 9 4 8 ) , S. 3 7 f.

358} Vgl. s . G u t e n b r u n n e r , in: Germ. Ak. 2 , S. 40. Die Benennung nadi dem N a m e n der Führer war bereits Prokop aufgefallen; b. Vand. I 2. a«») Var. X 31. 3«i) Greg. Tur. Hist. Franc. VI 2.

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Aspekte des Stammesbegriffs

ist — im Gegensatz zur römischen Auffassung und audi zum modernen Nationalismus — nicht aufgerufen, für das eigene Volk zu sterben. Schon E. N o r d e n hat erkannt, daß die in antiken Quellen überlieferten Appelle an das Nationalbewußtsein weitgehend rhetorische Übungen sind 362 , die römisches Denken widerspiegeln. In dieser Tradition stehen auch die mittelalterlichen Chronisten. Die außerordentlich enge Bindung zwischen Königtum und Stammestradition erscheint uns heutzutage besonders merkwürdig, wenn wir bedenken, daß ausgerechnet im Königshaus, das sich nicht an die Beschränkung des connubium auf den eigenen Stamm hielt und ebenbürtige Ehepartner aus den Herrscherhäusern anderer Stämme bevorzugte 363 , ausländischer geistiger Einfluß am ehesten spürbar sein mußte. Nicht nur, daß in diesem Falle die Idee der Abstammungsgemeinschaft der Wirklichkeit besonders stark widerspricht, auch das Hereinziehen des Heils berühmter fremder Geschlechter in die eigene Familie 364 muß heutigem Denken als starker Widerspruch zur Betonung und Bewahrung der Stammestradition erscheinen. Der besonderen Bedeutung des Königtums für das Leben des Stammes entsprechend, werden wir uns mit seiner Entstehung, seinem Wesen und seiner Rolle noch ausführlich zu beschäftigen haben. Besonders starken Anteil an der Stammesüberlieferung hatten weiterhin alle die Personen, die in einem engeren Verhältnis zum König standen. Audi hier erheben sich beachtliche Widersprüche, wenn wir berücksichtigen, daß gerade in diesem Personenkreis Stammesfremde besonders häufig waren. Einige Beispiele werden uns im Laufe der Untersuchung begegnen 365 . Halten wir uns vor Augen, daß die Stammestradition nur begrenzten Kreisen ein Lebenswert war, während für weite Schichten die lokalen Bindungen weit mehr bedeuteten, so werden uns manche bisher rätselhafte Erscheinungen erklärlicher. Alle Argumente der bisherigen Stammeskunde, die sich auf die Größe bzw. Enge einer angenommenen Urheimat bestimmter wandernder Stämme bezogen, erscheinen durch unsere Feststellung überholt. Wenn etwa O. S c h e e l 366 sich gegen das angebliche Dogma wendet, daß „gerade der am schwächsten besiedelte Raum Germaniens, nämlich das 382) Urgesch., S. 4 2 4 ; vgl. A . G u n z , Die deklamatorische Rhetorik in der Germania des Tacitus, Diss. Lausanne 1934. s«3) Vgl. unten S. 451 u. 538 ff. »«4) Vgl. W . G r ö n b e c h , Kultur u. Religion d. Germ. I 5 (1954), S. 348 f., über die fränkische Völsungentradition in führenden nordischen Geschlechtern. Auch im südgerm. Bereich lassen sich mehrfach ähnliche Erscheinungen beobachten. »«5) Vgl. S. 23 ff386) D i e Heimat der Angeln (Festgabe z. 1. Jahrestag d. Inst. f. Volks- u. Landesforschg. a. d. Univ. Kiel, 1939), S. 57.

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volkarme Skandinavien, die vagina gentium gewesen sei", so verbindet er wahrscheinlich mit diesem Begriff die sicher falsche Vorstellung, die betreffenden gentes seien als geschlossene Stammeskörper ausgewandert und als solche am Zielort angelangt. Überall dort, wo es gelingt, einen Ausgangsraum zu fassen, erweist sich dieser als sehr klein im Verhältnis zu der Größe, die der Stamm im Lichte der antiken Quellen hat. Der Name der K i m b e r n lebt in der kleinen nordjütischen Landschaft Himbersysael (heute Himmerland) fort. Selbst wenn wir die Angaben der Schriftquellen 367 über die Zahl ihrer Krieger ganz erheblich reduzieren, hätte ganz Jütland nicht ein solches Heer stellen können 368 . Aus dieser Zahl zu schließen, daß der Stamm vor seiner Auswanderung die ganze kimbrisdie Halbinsel bewohnte 369 , ist ebensowenig gerechtfertigt wie die Annahme, daß das Himmerland nur das Zentrum eines bereits z. Z. der Auswanderung größeren Staatsgebietes gewesen sei; denn unmittelbar dem Himmerland benachbart liegen die ebenfalls sehr kleinen Landschaften Tbythesysael (heute Ty), die Heimat der Stammestradition der T e u t o n e n , die in den antiken Quellen als zahlenmäßig den Kimbern noch weit überlegen angegeben werden, und weiter Hardsyssel, das Land der H a r u d e n , die nach den Angaben des Haeduers Diviciacus 370 24 000 Mann zum Heere Ariovists stellten. Die W a n d a l e n bewohnen um Christi Geburt weite Räume in Ostdeutschland und Polen. Ganz gleich, ob wir diesen Stamm aus der ebenfalls dem Himmerland benachbarten Landschaft Vaendlesysael (heute Vendsyssel) oder der noch kleineren im schwedischen Upland namens Vaendil (heute Vendel) herleiten 371 , wir stehen hier vor demselben Problem. Selbst die berechtigte Annahme, daß sich ihnen Gleichgesinnte aus den Nachbargebieten anschlössen372, kann eine solche mit den Kimbernwanderungen gleichzeitige Ausdehnung nicht erklären. Die Vorstellung M. J a h n s373, die wandalischen Siedlungen hätten „mutterseelenallein" in völliger Verlassenheit wie Farmen weit verstreut in der Naturlandschaft gelegen, beruht auf der heute wohl überholten Vorstellung, daß die Vorbevölkerung (Gesichtsurnenleute) restlos abgewandert seien, und zeigt, zu

367

) Sie bewegen sich zwischen 100 000 und 200 000 Kriegern. ) R. MUCH, Germ., S. 324; vgl. dazu E. SCHWARZ, Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 177 u. S. 215; DERS., Germ. Stammeskde., S. 56. 368

3«») S o T H . STECHE, S t a m m e s k d e . , S. 9 0 f .

3'») Caesar b. G. I 31. 10. 371) L. SCHMIDT, Gesch. d. Wandalen ( 2 1942), S. 2, tritt für die zweite Möglichkeit ein; dagegen E. SCHWARZ, Germ. Stammeskunde, S. 65 u. S. 73, Anm. 4. 372) b. REINERTH I I I , S. 965; vgl. E. SCHWARZ, Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 177, der den ganzen Kattegatraum als Auswanderungszentrum sieht. 373) w i e Anm. 372.

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Aspekte des Stammesbegriffs

welchen Konsequenzen diese Voraussetzung eines alle Personen gleichmäßig umfassenden Stammesbewußtseins führen kann. Wie schon vorher D. B o h n s a c k 3 7 4 bezweifelt auch E. S c h w a r z 3 7 5 , daß die kleine Insel Bornholm die Heimat der B u r g u n d e r sein könne. Sie heißt in der Orosiusübersetzung Alfreds des Großen Burgendiland (Burgunderland), später Burgundarholm u. ä. E. S c h w a r z sucht die burgundische Urheimat ohne zwingende Gründe in der Nähe des norwegischen Rugierlandes, obwohl jene Gegenden ebenfalls viel zu schwach besiedelt waren, um die Größe des Volkes zu erklären, das nach Ptolemaios in Ostdeutschland zwischen Oder und Weichsel und noch darüber hinaus wohnte 376 . Nach der fürchterlichen Niederlage durch die Hunnen (436) konnten Reste in einem Teil der Sapaudia Platz finden. Wenige Jahrzehnte später erstreckte sich der Burgundername bereits wieder über die ganze Provinz Lugdunensis I, große Teile der Maxima Sequanorum, von Viennensis, Narbonensis II, Alpes Graiae und Alpes maritimae 377 . Wenn O. S c h e e l die schleswigsche Halbinsel Angeln nicht als Heimat der Britannien besetzenden A n g e l n gelten lassen will 378 , weil sie ihm im Vergleich mit dem großen anglischen Gebiet vom Stour bis zum Firth of Förth viel zu klein erscheint, so läßt sich das weder mit dem Zeugnis Bedas vereinbaren, der doch wohl einheimische Überlieferung bietet, noch mit den in diesem Falle überzeugenden archäologischen Tatbeständen 379 . Die S a c h s e n werden zuerst bei Ptolemaios auf dem Nacken der kimbrischen Halbinsel erwähnt 380 , wohl aus einer Quelle der augusteischen 374)

b. REINERTH I I I , S.

1037.

375) Goten, N o r d g e r m . , Angelsachsen, S. 182; DERS. in: Saeculum 4 (1953), S. 15; DERS., Germ. Stammeskde., S. 74. 376) S. GUTENBRUNNER, Germ. Frühzeit, S. 16 f., und in: H . SCHNEIDER, Germ. Ak. 2 , S. 11, weist in diesem Zusammenhang auf die Rolle Bornholms und Gotlands als Handelsknotenpunkte hin.

377) V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 169.

378) Die Wikinger (1938), S. 42 ff.; DERS., Die H e i m a t der Angeln, S. 19 ff. 379) H . JANKUHN, Zur Frage d. Urheimat der Angeln, in: Zs. d. Ges. f. Schlesw.Holst. Gesch. 70/71 (1943), S. 1 ff.; DERS., Siedlung u. Kulturgesch. d. Angeln vor ihrer Auswanderung nach England, in: J b . d. Angler Heimatvereins 14 (1950), S. 54 ff.; DERS., The Continental home of the English, in: Antiquity (1951); DERS., in: GUTENBRUNNER-JANKUHN-LAUR, Völker u. Stämme Südostschleswigs im frühen Mittelalter (1952), S. 22 ff. A. GENRICH, Formenkreise und Stammesgruppen in Schleswig-Holstein (1954), S. 39. E. T . LEEDS, E a r l y A n g l o - S a x o n A r t and A r chaeology (1936), S. 82 ff., DERS., The Distribution of the Angles and Saxons archaeologically considered, in: Archaeologia 91 (1945), S. 1—106.

380) Ptol. I I 1 1 . 7 u. 9. D e r Versuch U . KAHRSTEDTS, Nachr. aus Nieders. U r gesch. 8 (1934), S. 18 f., die S a ^ o v e g der an sich besten Handschrift X als fehlerhafte Überlieferung f ü r "A^ovsi; bzw. Av^ovcg der anderen Hss. zu erweisen, das seinerseits Verschreibung f ü r Aviones sein soll, muß angesichts der textkritischen Untersuchungen PAUL SCHNABELS (Text u. K a r t e n d. Ptolemäus,

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Zeit. Für U. K a h r s t e d t 3 8 1 und K. T a c k e n b e r g 3 8 2 ist das kleine von Ptolemaios den Saxones zugewiesene Areal — das die Prähistoriker noch verringert und auf Westholstein beschränkt haben — viel zu eng, um als Ausgangsraum der späteren Sachsen gelten zu können. Die vorsichtige Zusammenstellung der Quellen zur Stammesbildung der Sachsen von W. L a m m e r s 383 zeigt jedoch deutlich eine aus dem nordalbingisdien Raum nach Süden gerichtete Bewegung. Weniger umstritten ist die Ausweitung des den Sachsen benachbarten L a n g o b a r d e n stammes, dessen Kleinheit schon Tacitus hervorhebt 384 , weil die langobardisdie Tradition merkwürdigerweise wiederholt von Massenfreilassungen Unterworfener berichtet, die mit dem Zwecke vorgenommen wurden, die eigene Zahl zu vermehren 385 . Die mit den Langobarden nach Italien ziehenden Stammessplitter anderer Herkunft waren zur Zeit des Paulus Diaconus anscheinend nicht ganz assimiliert386. Auf weitere Beispiele wollen wir vorerst verzichten. So viel dürfte deutlich geworden sein, daß in allen Fällen ein kleiner traditionstragender Kern zum Kristallisationspunkt einer Großstammbildung wurde 387 . Das deckt sich mit den Erfahrungen der Ethnographen, die aus den verschiedensten Gegenden Beispiele dafür anführen können, wie einzelne an Zahl geringe „Traditionskompanien" gewaltige Expansionsbewegungen auslösen; so etwa Leipzig 1938) als mißlungen bezeichnet werden. Kahrstedt wird gezwungen, die 11. 16 genannten nördlich der Elbe gelegenen vrjooi Sa^övoiv von den Sachsen zu trennen und sie auf Grund der bei anderen Hss. auftretenden Lesart 2 a C 6 v a > v als sazonische Inseln zu bezeichnen. Doch selbst diese Unwahrscheinlichkeit zugegeben, führt das nur zu weiteren Schwierigkeiten. Denn bei der Erwähnung 11.9 wird das von den Hss. R V W C U r vorher (11.7) " A ^ o v e c genannte Volk ebenfalls 2a£6vu>v (Gen ) genannt. L. SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 38, Anm. 1 (m. weit. Lit.), weist daher mit Recht das Vorgehen Kahrstedts ab. Vgl. auch M. LINTZEL, in: SuA 13 (1937), S. 28—32. 381) Nachr. aus Niedersachsens Urgesch. 8 (1934), S. 17. 382) ebd., S. 26 f. 383) U i e Stammesbildung bei den Sachsen, in: Westf. Forschgn. 10 (1957), S.25-57. 384) Germ. c. 40: Contra Langobardos paucitas nobilitat. 385) Vgl. Paul. Diac. Hist. Lang. I 13; I 20. 386) Paul. Diac. II 26. 387)

V g l . W . MERK, i n : Z R G G A 5 8 ( 1 9 3 8 ) , S . 1 5 ; L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 8 3 ,

Anm. 1. Ähnliche Gedanken sind schon vor einiger Zeit auch von Prähistorikern geäußert worden: Vgl. W. A. v. BRUNN, in: Germania 26 (1942), S. 69, für die W a n d a l e n , der, weitergehend als CH. PESCHECK (Die frühwandal. Kultur i. Mittelschlesien 1939), nicht nur in den Wandalen die Führer einer an sich größeren Wanderbewegung sieht, sondern auch Uberschichtungsvorgänge über eine zahlreichere Vorbevölkerung der Gesichtsurnenkultur annimmt; O. KUNKEL, Rugi, Liothida, Runi, in: Nachrbl. f. dt. Vorzeit 16 (1940), S. 191 ff., und H. KUHN, in: ZfdA 86

(1955),

S. 13,

für

die

R u g i er

(dag.

E.

SCHWARZ, S t a m m e s k u n d e ,

J . WERNER, i n : G e r m a n i a 2 6 ( 1 9 4 2 ) , S . 1 5 3 , f ü r d i e M a r k o m a n n e n ;

S.

80);

CH. PE-

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Aspekte des Stammesbegriffs

die Zulu- und Bantuvölker 3 8 8 . Die ständige Assimilation fremder Elemente bei den Beduinen steht im Widerspruch zu ihren Stammesbildungstheorien, die dem Filiationsschema folgen 3 8 9 . An sich neigen die Klans der Natur„Völker" nicht dazu, sich von stärkeren und größeren ethnischen Einheiten assimilieren zu lassen, solange das Klansystem wirksam ist. Erst wenn sie zu Ortsveränderungen gedrängt werden, entstehen Splittergruppen, die sich schneller an stärkere Verbände assimilieren 390 . Die Voraussetzung zur Bildung solcher Wanderlawinen scheint also zu sein, daß der ganze Raum sich schon in einem Unruhezustand befindet. „Wandernde Einheiten sind auch soziologisch ,in Bewegung'". Die demographischen Komponenten wechseln ständig, indem einzelne Gruppen zurückbleiben und andere sich anschließen. Zu einer echten Stammesbildung kann so eine Wanderlawine erst dann gelangen, wenn sie sidi für längere Zeit in einem bestimmten Raum festsetzt 391 . Daher gelangen die Wandervölker der eurasischen Steppenregion nie zu festen Gestaltungen. Das von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kaleidoskopartig wechselnde Bild, das diese aus verschiedenartigen Bestandteilen zusammengesetzten politischen Aggregate boten 392 , unterschied sich jedoch von dem der germanischen Stämme der Wanderzeit dadurch, daß die einzelnen Bestandteile der Nomadenstaaten in sidi relativ feste Gebilde waren, die zwar in ihrem Personenbestand ebenso wechselten wie die eermanischen Stämme, jedoch vielfach als geschlossene Verbände die Zugehörigkeit wechselten, während im germanischen Bereich ein Anschluß von Einzelnen und Splittergruppen an den Traditionsverband häufiger war. Wenn mehrere in ihrem Bestand und Selbstbewußtsein ungebrochene Traditionsverbände sidi zu gemeinsamem Handeln zusammenschließen, entsteht dagegen selten ein neuer Stamm. Anschlußbewegungen sind wesentlich bedeutsamer als Zusammenschlußbewegungen. Diese Erfahrung der EthnoSCHECK, in: Strena Praehistorica ( = Fs. M . J a h n ) , S. 177, f ü r die K e l t e n Wanderungen; T . G . E. POWELL, T h e Celts (1958), S. 52 f ü r A n g e 1 n und K e 11 e n. N u r sieht T . G . E . Powell zu sehr auf das Beispiel der Steppenvölker, w o sich meist intakte Kleinverbände in immer neuen Gruppierungen unter neuen N a m e n (des „royal tribe", vgl. die königlichen Skythen bei H e r o d o t u. a.) zusammenfanden, während im Westen häufiger durch Wanderbewegungen viele Einheiten zersplitterten und ihre Individuen in kleinen Gruppen Anschluß an noch festgefügte Verbände suchten. D a s liegt eben daran, daß die Steppenstämme an sich mobiler und in ihrer Struktur auf Wanderbewegungen eingestellt sind. S . u. S. 442 f. 388) W . E. MÜHLMANN, in: K ö l n . Zs. f. Soz. 8 (1956), S. 197 nach Bräunlich. 389) W, E . MÜHLMANN, Soziale Mechanismen . . . , S. 32. 890) W. E . MÜHLMANN, Soziale Mechanismen . . . , S. 16 f. 391) W. E . MÜHLMANN, Soziale Mechanismen . . . , S. 6. Vgl. f ü r den germ. B e reich U . KAHRSTEDT, Nachr. aus Niedersachsens Urgesch. 8 (1934), S. 4. 392) VGL. G . STADTMÜLLER, Geschichte Südosteuropas, S . 68 f.

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Wanderlawinen — „Wanderbünde"

graphen 393 bestätigt sich auch im keltischen und germanischen Bereich. Die zweifellos vorhandenen „ W a n d e r b ü n d e " werden als stammesbildende Kräfte stark überschätzt 394 . Die Stammesaufgebote bleiben auch im gemeinsamen Kampf deutlich getrennt. Und nach geglückter Landnahme löst sich der Wanderbund auf, und jeder Stamm begründet sein Sonderreich 395 . Man denke an die Wandergenossenschaft der Asdingen, Silingen, Sueben und Alanen, die Spanien unter sich aufteilen und nicht daran denken, sich zu einer einheitlichen gens zusammenzuschließen. Hinter der Vorstellung, daß sich Großstämme durch den politischen Zusammenschluß gleichberechtigter und gleichsprachiger Kleinstämme gebildet haben, steht ein Denkmodell des Nationalismus, das nicht auf die Vorzeit übertragbar ist. Die Einheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts wären in dieser Form damals noch nicht möglich gewesen. Es gibt in unserem Bereich keine eindeutigen Belege für solche beständigen Zusammenschlüsse396, und nirgends wird deutlich, wie wir uns das Wesen und die Verfassung solcher Bünde 397 vorzustellen haben. O. H ö f 1 e r hat einen Fall von kultischer Verbrüderung mehrerer „Könige" interpretiert und solche Verbrüderungen als einen Faktor der Großstammbildung angesehen 398 . Diese Möglichkeit ist nicht abzustreiten, doch haben die historisdien Gegenstücke, die er dabei aufführt, eine andere Struktur und führten in keinem Falle zur Bildung eines Stammes. Auch kultisch gefestigte Bündnisse wirkten nie über die Generation der Verbrüderten hinaus. Ein solches kultisch begründetes Bündnis ist uns bekannt geworden. Im Jahre 11 v. Chr. verbanden sich Sugambrer, Cherusker und Sueben gegen Rom und schlugen als Bundesopfer zwanzig römische Zenturionen ans Kreuz 3 9 9 . Ein einziger Sieg der Römer (bei Arbalo) genügte, um diesen Bund zu sprengen 400 . Die 393) VGL. W . E . MÜHLMANN Soziale Mechanismen . . . , S. 3 2 : „Dabei erweist sich der F a k t o r des Entstehens neuer Stämme durch Zusammenschluß heterogener Elemente als relativ unbedeutend . . . in der Mehrzahl der Fälle besteht das aufbauende Prinzip in einem Anschluß einzelner Teile an bereits existierende Stämme." 394) VGL. E T W A E . SCHWARZ, Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 177 u. S. 2 1 5 f.; DERS., Germ. Stammeskde., S. 119 ff. Vgl. oben S. 27 ff. 395) Vgl. die Belege unten S. 4 9 7 f . ; weitere Belege für Kelten u. Germanen bringt L . ERHARDT, Aelteste germanische Staatenbildung (Leipzig 1879), S. 21 f., der auch sonst viel zu wenig beachtet worden ist. 3 9 e ) Einzelne ethnographische Belege bei R . THURNTFALD, D. menschl. Gesellsch. I V , S. 88, w o aber im Gegensatz zu unseren Fällen gemeinsame Institutionen erkennbar sind. 397) Vgl. S. 494 ff. Bundesähnliche Institutionen können dagegen durch den Zerfall oder die Ausbreitung eines Stammes über größere Räume entstehen, dessen H a u p t ding dann nur noch von Abordnungen besucht wird und vorwiegend kultische Aufgaben hat, wenn auch politische nicht ganz fehlen. Vgl. unten S. 2 4 6 ff. 308) Germ. Sakralkönigtum, S- 341 f. Vgl. oben S. 29. 8»») Florus I I 30. 22.

400)

V g l . L . SCHMIDT, W e s t g e r m . P , S . 9 3 , S . 1 4 4 ; I P , S .

178.

78

Aspekte des Stammesbegriffs

zweifellos vorhandenen ständigen Verbindungen einzelner Stämme kamen gewöhnlich auf andere Weise zustande 4 0 1 . c) Unter den Faktoren, die den Wechsel und die Verlagerung der Stammesnamen auf der historischen Landkarte hervorrufen, ist schließlich der echte W e c h s e l d e r S t a m m e s z u g e h ö r i g k e i t auch der traditionstragenden Schicht zu erwähnen, der keinesfalls leicht eintrat, unter bestimmten Bedingungen aber doch möglich war. Wir dürfen die Hemmnisse, die sich dem Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung entgegenstellten, auch nicht überschätzen. Die Bitterkeit, mit der jeder völkische Substanzverlust vom modernen Nationalismus hingenommen wird, darf f ü r jene Zeiten noch nicht vorausgesetzt werden 4 0 2 . Dieser Wechsel kann sich in den verschiedensten Formen vollziehen. Häufig ist zu beobachten, daß unterworfene Gruppen sich dem führenden Element zuzurechnen trachten, wenn nicht bestimmte Gründe, die eine Abwehrhaltung hervorriefen, das verhindern. Mit dieser Möglichkeit ist schon immer — mit gutem Grund — gerechnet worden. Zuweilen wird eine solche Einschmelzung auch vom Sieger gefördert. Wenn etwa die langobardischen Beneventaner von den Franken gezwungen werden, ihre ethnisch kennzeichnenden langen Bärte abzulegen, ist das in diesem Sinne zu verstehen. Oft bedarf es gar keiner politischen Unterwerfung, um die Neigung zu einer „pseudologischen Gleichsetzung" hervorzurufen. Bereits hohes Ansehen einer Gruppe — auch in sozialer und kultureller Hinsicht 403 — kann dazu führen. Die politisch schwächeren und kulturell unterlegenen Gruppen setzen sich mit den als „höher" angesehenen gleich und sind darauf bedacht, diesen neuen Status allgemein anerkannt zu sehen 404 . Man nennt sich nach der führenden Gruppe und bemüht sich, kennzeichnende Bräuche zu übernehmen, zu ihrer besonderen Tradition überzugehen und ihre sprachlichen Eigenheiten zu benutzen. Umgekehrt kann eine politisch in hohem Ansehen stehende G r u p p e selbst mit rückständig wirkendem Kulturgut auch auf eine kulturell entwickeltere Bevölkerung vorbildhaft wirken. Die Autorität der antiken Schriftsteller verhalf den in ihren Werken dargestellten Völkern des Altertums bei den Gelehrten der frühmittelalterlichen gentes zu hohem Ansehen. Ganz notwendig erwuchs f ü r die Historiker dieser gentes daraus die Aufgabe, ihre eigenen Stämme diesen berühmten Völkern zuzuordnen. So wurden die Franken und andere gentes 401) Vgl. oben S. 17 ff. 402) W. E. MÜHLMANN, in: Dt. Arbeit 42 (1942), S . 2 9 4 . 403) Vgl. R . THURNVALD, D . mensdil. Gesellsdi. IV, S. 283: „Die Masai wurden von den wa-Gogo, den wa-Arusha, den wa-Kikuyu imitiert, ohne daß sie organisierte Herrschaft ausübten. Die Hirtenaristokratien erfreuten sidi großen Ansehens in Afrika, und die Sitten der Hirten wurden nachgeahmt." 404

) W . E. MÜHLMANN, Pseudolog. Gleichsetzung, S. 419.

„pseudologisdie Gleidisetzung"

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wie die Römer zu Nachfolgern der Trojaner, die Sachsen zu Nachkommen der Mazedonier usw. 405 . Bereits im 4. Jahrhundert berichtet Ammianus Marcellinus, daß die Burgunder sich für Nachkommen von Römern halten 406 . Ähnliche Gleichsetzungen hat es vor der Berührung mit der antiken Tradition ebenfalls gegeben, wie wir später sehen werden 407 . Audi im Mittelalter und in der Neuzeit blieben analoge Tendenzen wirksam, wie die Forschungen W. M i t z k a s zeigen. Der „Anschluß" in Tracht und Mundart, der häufig so willkürlich erscheint 408 , ist dabei nicht immer mit politischer oder kultureller Überlegenheit zu erklären. Wesentlich ist der Anschlußwille 409 , dessen Zustandekommen sich vielfach rationaler Begründung entzieht. J e nachdem ob der Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung nur einzelne Splittergruppen oder ganze Stämme betrifft, ob sich bei Beibehaltung einer Sondertradition eine Einordnung in einen größeren Rahmen ergibt oder ob die Sondertradition völlig zugunsten einer neuen erlischt, immer ergibt sich ein neues Bild, das allerdings nie klare Konturen zeigt. Die Unklarheit wird weiterhin vergrößert durch zwei Erscheinungen, die noch zu beachten sind. Die alten Träger des Namens machen mitunter den Neulingen die Führung des gleichen Namens streitig; deren Streben nach Gleichsetzung wird die Anerkennung versagt. Das Ansehen, das Masai und Zulu zeitweilig in Ostafrika genossen, führte eine Reihe anderer Gruppen dazu, durch Annahme der Tracht sich mit diesen gleichzusetzen. Dieses Bestreben wurde nun von den eigentlichen Masai und Zulu keineswegs gebilligt, was sich darin ausdrückte, daß die sich um den ethnischen Anschluß bemühenden Gruppen als Masai- bzw. Zulu-Affen bezeichnet werden. Dieses Beispiel ist nur eines von vielen; überall auf der Welt begegnet man derartigen Zuständen, wo den „eigentlichen" Trägern eines Volksnamens solche gegenüberstehen, die auch so heißen, aber „in Wirklichkeit" etwas anderes sind. Das kommt auch in bestimmten Stammesnamen zum Ausdruck. Im Namen der Sugambrer (eines Teils der Gambrivier?) etwa deutet das indogermanische Präfix su „bene"*10

40«) Vgl. oben S. 58 f. Vgl. A. GRAU, Der Gedanke der Herkunft in der dt. Geschichtsschreibung des Mittelalters (Trojasage und Verwandtes), Diss. Leipzig (1938), bes. S. 18 u. S. 59; A. HEUSLER, Die gelehrte Urgesch. im altisländischen Schrifttum, Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss. (1908), Phil.-hist Kl. Abh. III. 40«) X X V I I I 5.

407) s. 192 ff. 408) W . MITZKA, Beiträge zur hessischen Mundartforschung, in: Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 87 (Gießen 1946), S. 85. 409) ebd., S. 82 f. 410)

V g l . M . SCHÖNFELD, W B . , S .

217.

80

Aspekte des StammesbegrifFs

auf solche Vorstellungen 411 , was die hegemoniale Stellung des Stammes zur Zeit Caesars unterstreicht. Ähnlich bezeichnet der Name Visigothae, der nicht Westgoten bedeutet, die „edlen" Goten 412 . Gewöhnlich beruft sich die namengebende Gruppe auf ihr „Alter" oder ihren „Adel". Sie gehörten „schon immer" zu den Leuten dieses Namens. Auch in Personennamen hat sich diese Denkart niedergeschlagen. Im germanischen Bereich sei auf Beispiele wie Altthuring, Adalgöz, Adalbard hingewiesen. Die Altswäb, Adalswäb, Erchanswäb erinnern R. M u c h 413 an den Satz aus Tacitus' Germania c. 39: Vetustissimos se nobilissimosque Sueborum Semnones memorant. Auch die Betonung der vera et antiqua nominal ist in diesen Zusammenhang einzureihen. Der mittelalterliche Streit darum, wer die echten „Franken" seien, ist von hier aus zu verstehen. Das vergebliche Bemühen der Stammeskundler um die Zuordnung einzelner Stämme zu den Sueben oder die Leugnung ihres Suebenüums ist in solchen Vorgängen begründet. Die Verwirrung wird durch ein zweites Moment noch vergrößert: Der W e c h s e l d e r e t h n i s c h e n S e l b s t z u o r d n u n g vollzieht sich n i c h t „ a u f K o m m a n d o " . Es ist ein manchmal ziemlich rascher, manchmal langsamer, zuweilen überhaupt nicht zu einem eindeutigen Abschluß kommender Vorgang, der bereits nach kurzer Zeit von einer entgegengesetzten Tendenz abgelöst werden kann. Die Neigung zum Wechsel kann bestimmte Schichten stärker als andere ergreifen, sie kann räumlich gestaffelt auftreten oder auch innerhalb der Altersklassen verschieden stark sein. Dadurch ergeben sich eigentümliche Schwebelagen, bei denen eine Zuordnung unsicher wird. Bezeichnend ist etwa das Verhalten der Ubier nach Tacitus c. 28: ne Ubii quidem, quamquam Romana colonia esse meruerint ac libentius Aggrippinenses conditoris sui nomine vocentur, origine erubescunt. Schließlich ist auf die wechselnde Betonung und Benutzung einmal des übergreifenden Namens der Stammesgruppe, dann wieder des Sondernamens der Völkerschaft selbst hinzuweisen, wie wir es etwa bei den suebischen Quaden beobachten können. Wenn die Völkerschaft selbst bedeutend war und ein gewisses Ansehen genoß, so wurde ihr Name bevorzugt, andernfalls benutzte man lieber den umfassenderen Namen, unter dem auch andere gerade besonders mächtige Stämme einbegriffen waren. Die Dynamik, die durch diese Prozesse in die ethnischen Verhältnisse hereingetragen wird, verhindert grundsätzlich eine für die gesamte Ge-

411 ) Möglicherweise ist das auch bei den Hermunduren u. a. der Fall. Die Eteokreter sind die eigentlichen Kreter usw.

412) M . SCHÖNFELD, W B . , S. 2 6 8 . 4

«)

414

b. HOOPS I V , S. 4 3 3 .

) Tacitus Germ. c. 2.

Wechsel der ethnisdien S e l b s t z u o r d n u n g

81

schichte gültige Zuordnung einzelner Stämme zu bestimmten Gruppen 4 1 5 . Die Vorstellung eines Nebeneinander gleichrangiger konstanter ethnischer Größen erweist sich als ein Trugbild. Nicht nur, daß Gruppen verschiedener ethnischer Integrationsstufen gleichzeitig existieren, nein, auch neue Stammesgruppierungen überschneiden vielfach ältere 416 . Daher kann eine Beschreibung der ethnischen Zustände und Zusammenhänge jeweils nur für einen bestimmten Zeitpunkt gelten. Genauso wenig, wie wir heute sagen können, welches d i e Stämme des deutschen Volkes sind, werden wir jemals d i e Stämme der germanischen Sprachgemeinschaft oder auch nur einzelner Stammesgruppen bezeichnen können. Alte Zustände und junge ethnische Strömungen sind in ihrem Verhältnis zueinander — wenn es die Quellenlage überhaupt gestattet — stets nur im historischen Augenblick faßbar. Auch in unserem Gebiet war die Stammesbildung, -umformung und -auflösung in ständigem Fluß. Alle Versuche, die ethnische Gruppierung allein auf Grund objektiv feststellbarer Merkmale, politischer Verbände, sprachlicher und kultureller Zusammenhänge usw. grundsätzlich festzulegen, führen zu Widersprüchen und ungerechtfertigten Konstruktionen. Das ethnische Bewußtsein einer Gruppe und ihre Selbstabgrenzung kann allein das Kriterium für ihre jeweilige, vielleicht wechselnde Zugehörigkeit sein 417 . Obwohl sich dieses Bewußtsein nach sprachlichen, rechtlichen, religiösen u. a. Zügen orientieren kann, folgt es letztlich eigener Gesetzlichkeit. Andere Kriterien mögen wertvolle Hinweise geben, können für sich allein aber nie als Grundlage für eine ethnische Zuordnung dienen. Auch eine einfache Gleichsetzung von politischer und ethnischer Einheit ist — wie wir sahen — nicht statthaft. Dennoch kann man das Ethnos einen politischen Begriff nennen, weil die Vorstellungen des ethnischen Bewußtseins das politische Handeln weitgehend bestimmen und historische oder mythische Traditionen über das Schicksal der Gruppe normenbildende Kraft für das politische Handeln haben. Der sich ständig vollziehende ethnische Prozeß steht nun wiederum im Widerspruch zum ethnischen Bewußtsein der Einzelgruppe, die dazu neigt, ihre Existenz bis in graue Vorzeit zurückzuverlegen. Die Frage nach dem A l t e r e i n e s E t h n o s stand schon für Herodot an erster Stelle 418 .

415) A m sdiematischsten und daher historisch a m unglaubwürdigsten sind solche Z u o r d n u n g e n etwa b. G . SCHÜTTE, O u r F o r e f a t h e r s und DERS., G o t t h i o d durchg e f ü h r t . Ähnliches gilt f ü r die Arbeiten TH. STECHES. 416) D i e Feststellungen AUBINS, Gesch. G r u n d l a g e n , S. 257 u. S . 260, gelten grundsätzlich auch f ü r ältere E p o d i e n .

) Vgl. W. MÜHLMANN, Gesch. d. A n t h r o p . , S. 236. 418) VGL. K . TRÜDINGER, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie (Basel 1918), S. 18. 417

Aspekte des Stammesbegriffs

82

Das Alter ist für die Rangordnung entscheidend 419 ; es hat legitimierende Kraft. Diese Denkweise ist auch im modernen Nationalismus noch wirksam. Wenn früher die Germanen als „Alte Deutsche" bezeichnet wurden oder wenn der nordische Kulturkreis der Bronzezeit als „germanisch" angesehen wird, so wird dieses Bestreben deutlich spürbar. Was den N a t i o n a lismus aber in dieser Hinsicht vom ethnischen Bewußtsein unterscheidet, ist sein in die Zukunft gerichtetes Sendungsbewußtsein, das zu Aggressivität und Imperialismus führen kann. Während Stolz auf mythische Ahnen und alten Ruhm nur das Bewußtsein der Vorzugsstellung des eigenen Ethnos begründen soll, zieht der Nationalismus daraus Folgerungen für das H a n deln des einzelnen, die dem ursprünglichen ethnischen Denken fremd waren. Das Sendungsbewußtsein des Nationalismus ist ohne universalistische Strömungen, die aus Christentum und antiker Philosophie in das ethnische Denken hineinwirkten, nicht zu verstehen. Ohne die Konzeption einer allgemeinen „Menschheit", die O b j e k t dieses Sendungsbewußtseins ist und die dem ethnischen Bewußtsein fehlt, ist der Nationalismus undenkbar. Das ethnische Bewußtsein an sich hat keine missionarische Tendenz, es sucht nur die eigene Vorzugsstellung zu erhalten und zu legitimieren. Es wacht eifersüchtig darüber, daß die „richtigen" Riten nicht über seine Grenzen hinaus bekannt werden und so einem potentiellen Gegner (der entweder nicht als Vollmensch oder aber als Zauberer gilt) zu größerer Macht verhelfen. Umgekehrt suchen sich schwächere Gruppen in den Besitz des Geheimnisses der erfolgreichen zu setzen und gehen zu deren K u l t über. Noch die Christianisierung mancher germanischen Stämme ist auf diese Weise mitverursacht worden.

10. D e r

Stamm

als

Teil

eines

Volkes

Neben der Anschauung vom Stamm als einer natürlichen Abstammungsgemeinschaft trat im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zweite Vorstellung immer mehr in den Vordergrund. Gebrauchten noch J a c o b G r i m m und Kaspar Z e u ß 4 2 0 wie H e r d e r „ S t a m m " und „ V o l k " als synonyme B e 419) Vgl. Herodot Hist. II 2. Eine Ausnahme scheinen die Skythen zu sein, die sich für das jüngste Volk hielten (Herodot Hist. IV 5). Sie glaubten, daß erst 1000 Jahre seit der Herrschaft ihres ersten Königs vergangen gewesen seien (Herodot Hist. IV 7). 42 ") J. GRIMM, Dt. Gramm. I, S. X I V : „erst kraft der Schriftsprache fühlen wir Deutsche lebendig das band unserer herkunft und gemeinschaft und solchen vortheil kann kein stamm glauben zu theuer gekauft zu haben . . K. ZEUSS, Die Deutschen und ihre Nachbarstämme. Doch gebraucht auch Grimm bereits Wendungen wie: „ . . was vom gesamten Volk im gegensatz zu den einzelnen stammen gilt"; vgl. A . DOVE, S t u d i e n . . . , S. 1 3 .

Der Stamm als Teil eines Volkes

83

griffe, so begann man seit der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der Lutherbibel („die zwölf Stämme der Kinder Israels") im Stamm ein Glied oder einen Teil des größeren Volkes zu sehen 421 . Auch heute ist dieser Sprachgebrauch noch weit verbreitet 422 . Es wird dabei vorausgesetzt oder auch ausgesprochen, daß, abgesehen vielleicht von der größeren Zahl der Zugehörigen 423 und geringen Varianten im Kulturbesitz, diese höhere Einheit dem Stamm gleichartig ist 424 . Dieser Volksbegriff wird der Tatsache gerecht, daß das ethnische Bewußtsein zuweilen in der Weise differenziert ist, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl in verschiedener Intensität verschieden große Gruppen umfaßt, wobei im Normalfall die engere Gruppe durch das stärker ausgeprägte Gefühl gekennzeichnet ist 425 . Dies gilt bereits für manche Natur-„Völker" 4 2 6 . Manche Ethnosoziologen haben jedoch einen anderen Volksbegriff, der sich schärfer von dem Stammesbegriff absetzt. Für Jul. F. G 1 ü c k ist der Begriff des Volkes von dem des Staates nicht zu trennen 427 . Das setzt für das Volk höhere Organisationsformen voraus als die, die für das Stammesleben genügten. In der sowjetischen Wissenschaft werden die ethnischen Stufen 421 ) Es gibt — dies zu BRUNNER, (HZ 186 [1958], S. 169) — bereits kurz vor 1800 Belege für diesen Sprachgebrauch: vgl. Fr. Schiller 1797: Zum Kampf der Wagen und Gesänge Der auf Corinthus Länderenge Der Griechen Stämme froh vereint.. . 422) Bes. bei Germanisten (etwa H . HIRT, Indogerm. II, S. 429; R. MUCH, Stam2 meskde. , S. 74; F. MAURER, in: Germ. u. Indogerm. [ = Fs. H . Hirt] II, S. 368, Anm. 3) und Vorgesdiiditlern (vgl. etwa R. PITTIONI, Menschenbild, S. 68; H.KIRCHNER, Gemeinschaftsbildung, S.579; P.GOESSLER,in: PZ 34/35 [1949/50], S.5; O. MENGHIN, Methodik, S. 43). Audi einige Soziologen definieren den Stamm als Völkerteil; vgl. die noch auf kulturell-anthropologischen Kriterien aufbauende Bestimmung von W. HELLPACH, Anthropolog. Gründl., S. 237: „Stämme sind solche Völkerteile, welche sich aus dem Sprachganzen eines Volkes durch besondere Mundart und aus dem Gemeinbesitz eines Volkes an Eigenschaften, Lebensinhalten und Ausdrucksformen durch eine besondere Wesensfarbe herausheben, unter deren Ausprägung und Bewahrung sie für sich wandern oder siedeln." 423) Vgl. W . E . MÜHLMANN, in: Köln. Zs. f. Soz. 8 ( 1 9 5 6 ) , S. 1 9 0 . 424 ) Vgl. F. MAURER, in: Germ. u. Indogerm. ( = Fs. H . Hirt) II, S. 368, Anm. 3 425 ) Die Sonderentwicklung durch nationalistische Ideologien führt zuweilen zu einer Verschiebung der Reihenfolge. Er scheint mir jedoch zu weit zu gehen, wenn W. E. MÜHLMANN, Gesch. d. Anthropologie, S. 236, die Chinesen nicht als ein Volk ansieht, weil die Sippe die entscheidende Einheit — wenigstens bis in jüngste Zeit — blieb. 426) Vgl. z.B. J. H A E K E L , in: Anthropos 47 (1952), S. 976; W. E. MÜHLMANN sieht solche Fälle als Ausnahmen an: vgl. Köln. Zs. f. Soz. 8 (1956), S. 190. 427 ) S. 158; GLÜCK sieht aber das „Volk" wie den „Stamm" noch innerhalb des „ethnomorphen" Bereiches, während jene S. 18, Anm. 29 beschriebenen Frühformen in den paläomorphen, die Horden der Urzeit in den protomorphen und die Großformen der Jetztzeit in den megamorphen fallen. Ähnlich FRANKLIN H . GIDDINGS,

84

Aspekte des Stammesbegriffs

bestimmten gesellschaftlich-ökonomischen Formationen zugeordnet 4 2 8 . Nach W. E. M ü h l m a n n „erfordert das Erreichen der ,Volks-Stufe' methodologisch den Übergang der soziologischen Betrachtungsweise in die historische" 429 ; denn: „vor-volkliche Ethnien sind Fälle von Typen, Völker sind große Individualitäten" 4 3 0 . Dieser f ü r einen Soziologen bemerkenswerte, an einem historistischen Geschichtsbild orientierte Volksbegriff wird zwar modernen Gegebenheiten gerecht, kann aber letzten Endes etwas völlig anderes bezeichnen als eine Einheit, die aus mehreren Stämmen besteht 431 . Es ist im Rahmen dieser Arbeit unmöglich, dem Mangel an allgemein anerkannten Begriffen f ü r die verschiedenartigen Inhalte, die mit dem Wort „Volk" ausgedrückt werden 4 3 2 , abzuhelfen. Wir wollen hier nur einige Bemerkungen über das bisherige Denkschema und seine wissenschaftliche Uberwindung anführen. N a d i diesem Schema wurden die Deutschen als ein in Stämme gegliedertes Volk aufgefaßt 4 3 3 . Die anfangs übliche Gleichsetzung der Germanen mit den Deutschen 434 verband sich dann mit der Vorstellung, daß sich die späteren Stämme aus einem ursprünglich bestehenden Volk herausgegliedert hätten, ein Schema, das auch auf das Verhältnis der Germanen zu dem von der Sprachwissenschaft vorausgesetzten indogermanischen Urvolk angewendet wurde 4 3 5 . Dieser Vorstellung trat am entschiedensten J. H a 11 e r entgegen 436 , der die Stämme als die natürlichen Einheiten betrachtet, das deutsche Volk jedoch als geschichtlich gewordene Gestalt, die noch jünger ist als sein Staat. Wenn auch neuere Forschungen zeigen, daß es mindestens überspitzt war, das deutsche Volk ausschließlich als ein Produkt des Reiches zu betrachThe Principles of Sociology (zit. b. W. E. M ü h l m a n n , Gesch. d. Anthropologie, S. 132), der in seinem Schema der Gesellungsformen auf die „zoogene" die „anthropogene", die „ethnogene" (mit Klan, Stamm, Volk) und die „demogene" (hodiorganisierte Nationalstaaten u. Imperien) Gesellung folgen läßt. 428) Vgl. T o k a r e w - T s c h e b o k s a r o w , S. 129 f., Gentes (Sippen) und Stämme entsprechen der Urgemeinschaftsordnung, „Völkerschaften" der Frühklassengesellschaft (Sklaverei u. Feudalismus) usw. 42») Köln. Zs. f. Soz. 8 (1956), S. 191. «0) ebd., S. 192. 431) Man denke etwa an das amerikanische Volk, das sich schwerlich als höhere Einheit von mehreren Stämmen begreifen läßt. 432) Außer den hier genannten ist die Bedeutung Volk = vulgtts noch allgemein verbreitet. 433) Vgl, etwa J. N a d l e r , Das stammhafte Gefüge des deutschen Volkes. 434) Vgl. Wendungen wie „die alten Deutschen" u. ä., den Sprachgebrauch von Grimms „deutscher" Grammatik. 435) Vgl. S c h r ä d e r , RL, S. 790. 436) D i e Epochen der deutschen Geschichte (1923).

Der Stamm als Teil des Volkes

85

ten 437 , so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die deutschen Stämme, die gentes der damaligen Quellen 438 , älter sind als das deutsche Volk. Hatte H a 11 e r aber noch in Übereinstimmung mit der damals landläufigen Ansicht diese Stämme als den politischen Ausdruck natürlicher Einheiten angesehen, so ging Fr. S t e i n b a c h 439 noch einen Schritt weiter, als er unternahm, auch diese Stämme als Neubildungen im neuen Räume zu erweisen, dabei aber leugnete, daß die Stämme der Zeit vor der Völkerwanderung mit ihren ethnischen Unterschieden wesentlich für die Stammesbildung gewesen seien440. Obwohl sich nicht leugnen läßt, daß die großen gentes des Frühmittelalters in vielen Zügen etwas anderes sind als die Kleinstämme taciteischer Zeit, ist S t e i n b a c h s These in ihrer Allgemeingültigkeit von Historikern (L. S c h m i d t ) und Rechtshistorikern ( M e r k ) widersprochen worden 441 . Auch nach der Völkerwanderung standen Neubildungen und ältere Formen neben- und ineinander. Der Gentiiismus der Neubildungen weist zudem auf aus früherer Zeit weiterwirkende Kräfte und Anschauungen. Schließlich reichen die von S t e i n b a c h damals angeführten geschichtlichen Vorgänge nach dem, was die politische Völkerkunde über solche Bildungen heute aussagen kann, in der Tat nicht aus, um die Entstehung der neuen Großstämme zu erklären, sind doch die Traditionen der in ihnen aufgegangenen Kleinstämme häufig in viel nach437) VGL. e t w a W. SCHLESINGER, Kaiser Arnulf u. d. Entstehung des deutschen Staates und Volkes, in: H Z 163 (1941), S. 457—470 ( = Wege d. Forschg. I [1956], S. 94—109). 438 ) Es m u ß hier darauf hingewiesen werden, d a ß der Begriff gens nicht eindeutig benutzt wird. Ein Teil der ethnographischen Literatur versteht unter „gens" einen vaterrechtlichen Familienverband (im Unterschied zum mutterrechtlichen Klan). L. MORGAN (Ancient Society, N e w York 1877, dt. Die Urgesellschaft, Stuttgart 1891 [ 2 1908], S. 53) versteht unter gens „. . . eine Gesamtheit von Blutsverw a n d t e n , die alle von einem gemeinsamen U r a h n e n abstammen, durch einen Gentilnamen bezeichnet sind und durch Bande des Blutes zusammengehalten w e r d e n " , wobei er die mutterrechtlichen Klans der Indianer mit unter die gentes rechnet. Diese Definition ist die Grundlage f ü r die marxistischen Theorien zur Ethnogenese geblieben, wenn auch leichte Unterschiede in der Auffassung von der Entstehung der gens und ihrer Rolle bei der Stammesbildung bestehen; vgl. TOKAREW-

TSCHEBOKSAREW, S . 1 3 0 f . 439

) Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgesch. (1926). °) ebd., S. 124. 44 !) Eine ganz ähnliche unklare Situation ist auch bei den Germanisten festzustellen. W ä h r e n d etwa E. SCHWARZ noch ausgesprochener als MAURER die Ausgliederung der einzelnen germanischen Sprachräume in sehr f r ü h e Zeit verlegt (Goten, Nordgerm., Angelsachsen, Berlin-München 1951), glaubt H . KUHN (in: Z f d A 86, 1955, S. 47), d a ß vor den „großen Verschiebungen" die mundartliche Spaltung erst sehr gering w a r und d a ß wir fast nie hinter die Völkerwanderungszeit zurück blicken können. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Stämmen taciteischer und frühmittelalterlicher Zeit können bei diesem Forschungsstand also sprachliche Argumente nur mit Vorsicht benutzt werden. 44

86

Aspekte des Stammesbegriffs

hakigerer Weise absorbiert worden, als das beim werdenden deutschen V o l k im Verhältnis zu den in ihm aufgegangenen Stämmen möglich war. Dieser Unterschied deutet darauf hin, daß sich die Bildung des deutschen Volkes auf andere Weise vollzog als die der großen Stämme des Frühmittelalters. D i e Erhaltung des Stammesbewußtseins innerhalb der größeren Einheit des deutschen Volkes ist keineswegs so selbstverständlich, wie es meist hingenommen wird. Sie erst führte zu der Vorstellung des in Stämme gegliederten Volkes. Sehen wir uns im übrigen Europa um und vergleichen die Verhältnisse bei anderen Völkern, so erkennen wir den grundlegenden Unterschied: W o finden wir noch wirklich „stammhaft gegliederte" Völker? Am ehesten läßt sich Schweden zum Vergleich heranziehen, dessen L a n d schaften Svearike und Götarike alte ethnische Grundlagen haben. Bei allen übrigen Völkern beruhen die heutigen ethnosähnlichen Untergruppen in der Mehrzahl der Fälle auf territorialen Bildungen des Mittelalters und der Neuzeit oder sind durch Spezialanpassung an bestimmte geographische U m welten entstandene Kulturgemeinschaften ohne politisches Eigenbewußtsein. Soweit diese Völker nicht erst in der Zeit des Nationalismus zu einem Eigenbewußtsein gekommen sind, handelt es sich um Gebilde, die ihr D a sein meist politischen Konzentrationsbewegungen des Mittelalters verdanken. Fast überall sind dann die alten Stämme schon im Laufe des Mittelalters verschwunden: bei Tschechen, Polen (mit Ausnahme vielleicht der Masowier) und Russen ebenso wie bei Engländern, Norwegern und Dänen. D i e Entstehung dieser Völker könnte man in dieser Hinsicht eher mit der Entstehung der frühmittelalterlichen gentes vergleichen, die W . F r i t z e als monadenähnlidie Gebilde, d. h. ohne eine Beziehung zu einer übergeordneten Einheit darstellt 4 4 2 . D i e Entstehung des deutschen Volkes hat andere Voraussetzungen; eine davon ist die Zusammenfassung seiner Stämme im Frankenreich. I m R a h men des fränkischen Reiches vollzieht sich der ethnische Prozeß, der zur Bildung des deutschen Volkes führte. Doch ist es weder die Gesamtheit noch ein beliebiger Teil des Frankenreiches, worin wir die eigentliche Grundlage der Neubildung erblicken dürfen. Bereits während der Reichsteilungen scheint ein deutsches Volksbewußtsein in Ansätzen vorhanden gewesen zu sein, das sich dann allerdings erst im Ottonischen Reich stabilisierte. W i e wir uns die Entstehung dieses deutschen Volksbewußtseins im einzelnen vorzustellen haben, ist noch weithin unklar und bedarf der A u f hellung; so viel scheint allerdings sicher zu sein, daß das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit irgendwie abhängig war von der Erkenntnis gemeinsamer Sprache und Gesittung. Das Wissen um diese Gemeinsamkeit ist in der Folge nie mehr ganz verlorengegangen. So konnte es dazu kommen,

442

) Untersudiungen, S. 307.

Entstehung des deutschen Volkes

87

daß in der Zeit, als man sich auf die „natürlichen" Grundlagen des Gemeinschaftslebens besann, verallgemeinernd Sprach- und Kulturgemeinschaft als ausschließliche ethnische Kriterien anerkannt wurden. Da der Stamm als ein verkleinertes Abbild des Volkes aufgefaßt wurde, kam man dazu, auch ihn als eine solche Sprachgemeinschaft, wenn auch niederer Ordnung, aufzufassen. Der Sprache des Volkes entsprach die Mundart des Stammes. Analog wurde dann auch der sonstige Kulturbesitz des Stammes als Variante der Volkskultur aufgefaßt. Wir werden uns im folgenden damit zu beschäftigen haben, wieweit diese Anschauung der ethnischen Realität entspricht.

11. D e r S t a m m

als S p r a c h -

u n d K u 11 u r g e m e i n s c h a f t

Wir haben gesehen, wie unter den Lebensbedingungen im „künstlichen" Anstaltsstaat des Absolutismus die Auffassung vom Stamm als einer „natürlichen" Gemeinschaft herrschend blieb. Der Charakter des gleichzeitigen Staates begünstigte anscheinend eine Stammesbildung so wenig, daß der Eindruck entstehen konnte, der Stamm hätte keine unmittelbare Beziehung zu politischen Daseinsformen, eine Anschauung, deren Unhaltbarkeit inzwischen klar geworden sein dürfte. Die Stämme schienen in jener Zeit (aus der Perspektive des Anstaltsstaates) nur als durch bestimmte mundartliche Eigentümlichkeiten, Sitten und Gebräuche verbundene Gemeinschaften. Als solche wurden die deutschen Stämme zum Forschungsobjekt der Sprachwissenschaft und der Volkskunde. Die „Deutsche Stammeskunde" wurde und blieb zum größten Teil bis heute ein Reservat der Germanisten. Damit wurde das irrige Bild des Stammes als einer „natürlich gewachsenen Seinsform" konserviert 443 . Auch wenn man in ihm nicht mehr eine wirkliche Abstammungsgemeinschaft erblickt, so setzt man doch für die Schlußfolgerung vielfach noch eine solche voraus. Die Vorstellung des Stammes als einer Verständigungs-, Gesittungsund Blutsgemeinschaft wurde auch in andere Disziplinen hineingetragen. R. T h u r n w a l d sagt z.B. über den Sprachgebrauch der Ethnologen: „Gruppen von Familien, Sippen, Gemeinden, Siedlungen, die eine gleiche Sprache reden, ähnliche Institutionen, Sitten und Bräuche besitzen und in ihrer zivilisatorischen Ausrüstung einander ähnlich sind, werden von Europäern als .Stamm' bezeichnet" 444 . Auch dieser ethnologische Stammesbegriff 4

« ) Vgl. oben S. 14, Anm. 2. 444) D i e menschl. Gesellschaft in ihren ethno-soziologisdien Grundlagen IV, Werden, Wandel und Gestaltung von Staat u. Kultur im Lichte der Völkerforschung (Berlin und Leipzig 1935), S. X V I I I .

88

Aspekte des Stammesbegriffs

läßt politische Gegebenheiten beiseite 445 . Die Diskussion um die ethnische Deutung vorgeschichtlicher Kulturprovinzen setzt gleichfalls diesen StammesbegrifF voraus 446 , hier aus dem Umstand zu erklären, daß G. K o s s i n n a , der in jeder fest umrissenen Kulturprovinz ein bestimmtes Ethnos sah, von H a u s aus Germanist war. Zweifellos ist es wissenschaftlich berechtigt, kulturelle Gemeinsamkeiten als Merkmale dafür zu verwenden, um kleinere Menschengruppen zu größeren Einheiten zusammenzufassen. Es erhebt sich nur die Frage, in welcher Weise jene größeren kulturellen Einheiten als solche geschichtliche Kräfte sein können und gewesen sind. Sieht man die stammeskundliche germanistische und prähistorische Literatur daraufhin durch, so entsteht der Eindruck, als ob Mundart, verhältnismäßig einheitliches Brauchtum und gewisse Übereinstimmungen der sogenannten materiellen Kultur — wenigstens in der Zeit vor der Völkerwanderung — als bestimmende Merkmale eines geschlossen handelnden Stammestums ausreichten. Erst neuerdings wurde — wie schon erwähnt — das Stammesbewußtsein stärker betont; besonders seit W. M i t z k a s Untersuchungen über die ostdeutschen Mundarträume und L. W e i s g e r b e r s Aufsätzen zur Geschichte der Worte deutsch und welsch 447 . Alle diese Merkmale — Sprache, Brauchtum, Bau- und Siedlungsweise, Tracht usw. — sollten auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl hindeuten, das den Stamm als eine Gemeinschaft erweist. In ihnen sollte sich das geistige Band manifestieren, „das eine Gruppe von Menschen zusammenhält und darum erst überhaupt einen Verband bildet" 4 4 8 . Den N a t u r - „ Völkern" fehlt aber weitgehend das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit auf Grund kultureller und sprachlicher Einheit 449 . Daher betrachtet T h u r n w a l d den Stammesbegriff der Europäer auf Grund von „Ähnlichkeiten in der Sprache, im Kulturbesitz oder im Aussehen und Konstitution" als bloße 4 « ) R. THURNWALD, ebd.: vgl. S. 242 dazu die Beispiele S. 64, S. 69, S. 73; vgl. W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 17.

446) VGL.

AUC H

DIE D e f i n i t i o n e n MENGHINS, M e t h o d i k . . . , S. 4 3 u. S. 4 7 . Z u d e n

besonderen Fragen der ethnischen Deutung in der Vorgeschichte vgl. unten S. 113 bis 142. 447 ) Vgl. zuletzt H . MOSER, Sprachgrenzen u. ihre Ursachen, in: Zs. f. Maf. 22 (1954), S. 87—111, bes. den Abschnitt „Gruppensonderart und Gruppensonderbewußtsein". W. MITZKA war -wohl der erste, der die sozialpsychologische Betrachtungsweise herausstellte: Sprachausgleich in den deutschen Mundarten bei Danzig, in: Königsb. Dt. Forschgn. 2 (1928). Vgl. oben S. 12 mit weiterer Literatur in Anm. 55—57 und S. 102 mit Anm. 531. 448) \ v . SOMBART, Verh. d. VII. Dt. Soziologentages Berlin 1930 (Tübingen 1931), S. 272. 449 ) R. THURNWALD IV, S. X V I I I ; vgl. S. 40 über die beim politischen Zusammenschluß wirksamen Kräfte: „Die Gemeinschaft von Sprache und Kultur steht unbeachtet im Hintergrund." Vgl. S. 73.

D e r Stamm als Kulturgemeinschaft

89

Abstraktion 4 5 0 . Viele unserer sogenannten Völkernamen bezeichnen — wie schon erwähnt — keine eigentlichen Völker, sondern sind nur „Symbole f ü r forschungspraktische Klassifikationen" 4 5 1 . Dies ist einer der Gründe dafür, daß ein so großer Teil der Völkernamen seit jeher von Fremden geprägt wurde, denen das Bedürfnis, kulturell verwandt scheinende G r u p pen einheitlich zu benennen, am ehesten zum Bewußtsein kommt. Bei den sogenannten Natur-„Völkern" reicht das lebendige und wirksame Zusammengehörigkeitsgefühl selten über die eigene Horde, Sippe oder Siedlung hinaus 452 . Dabei kommt es dann häufig vor, daß die verwandtschaftlichen und politischen Beziehungen zu einer ähnlichen Einheit fremder Sprache und Kultur enger sind als zu solchen, die in Mundart und Gesittung gleichartige Züge aufweisen 453 . Die Grenzen solcher Kulturgebiete sind naturgemäß unscharf und wenig stabil. Ein Saum zweisprachiger, kulturell gemischter Einheiten umgibt oft das Kerngebiet 454 . D a n n ist es angebracht, den Stammesbegriff überhaupt zu vermeiden. Selbst wenn man sich der Tatsache bewußt bleibt, daß sich hinter einem Stammesnamen ein derartiges Gebilde verbergen kann, werden sich unwillkürlich immer wieder Fehlschlüsse einstellen, wie die Erfahrung nur zu deutlich lehrt. Die Begriffe „Kulturgruppe" oder „Sprachgruppe" scheinen hier eindeutiger und sachgemäßer zu sein. Mit diesen Feststellungen soll nun aber nicht geleugnet werden, daß kulturelle Gegebenheiten f ü r das Gemeinschaftsgefühl einer Gruppe bedeutsam werden können. Wenn etwa die Lebensform des Nachbarn Züge aufweist, die an der eigenen Wertskala gemessen als niedrig erscheinen, so kann sich eine abwertende Stellungnahme mit jener H a l t u n g verbinden, die man mit einem wenig glücklichen Ausdruck als „ E t h n o z e n t r i s m u s" 455 bezeichnet hat. Die ethnische Einheit fühlt sich als Mittelpunkt der Welt; der Omphalos in Delphi mag als das bekannteste Symbol dafür dienen. Wesentliche Voraussetzung ist dabei, daß sich kulturell einheitliche Gruppen ihrer Gemeinsamkeit b e w u ß t sind. Dies Bewußtsein der Ge-

«) ebd., S. 250; vgl. W. E. MÜHLMANN, Gesch. d. Anthropologie, S. 236. «»)

W . E . MÜHLMANN, i n : S t u d . G e n . 7 ( 1 9 5 4 ) , S . 1 6 5 . V g l . o b e n S . 6 f .

452) W.E.MÜHLMANN, Ethnologie u. Geschichte, in: S t u d . G e n . 7 (1954), S. 165 f.: „Ein allgemeinstes gemeinsames Charakteristikum der Naturvölker läßt sich geben: Es sind immer kleine Gruppen v o n Hunderten, Tausenden, Zehntausenden. D i e isolierten Einheiten, innerhalb deren ein echtes ,ethnisches' Wir-Bewußtsein besteht, sind stets gering an Zahl. Es sind Primär- oder Intimgruppen (,face-to-face groups') im soziologischen Sprachgebrauch." «3)

R . THURNWALD I V ,

S . 2 5 0 f . ; W . E . MÜHLMANN, K r i e g u . F r i e d e n , S . 1 7 .

« 4 ) Vgl. H . BAUMANN, in: Stud. Gen. 7. 3 (1954), S. 155. 45S

) V o n WILLIAM G. SUMNER, Folkways (Boston 1907) zuerst beschrieben.

Aspekte des Stammesbegriffs

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meinsamkeit wird durch „interethnische" Berührung geweckt und geschärft 456 . Bei größeren Gruppen kann dieses Bewußtsein blaß und ohne starke Wertvorstellungen verbunden sein und dann bedeutungslos bleiben 457 ; es kann hinter den betonteren Varianten und Unterschieden der kleineren Einheiten dennoch durchschimmern 458 . Man könnte hier von e t h n i s c h b e t o n t e n K u l t u r g r u p p e n im Gegensatz zu den oben gekennzeichneten ethnisch unbetonten Kulturgruppen sprechen. Von einem wirklichen Ethnos sind wir allerdings noch entfernt, wenn sidi auch die einzelnen Gruppen gegen fremde Lebensformen kulturell betont absetzen. Es muß zu diesem gewissermaßen negativen Distanzgefühl noch positiv ein ausgeprägtes Wir-Bewußtsein hinzutreten, das sich gewöhnlich in der Form des Glaubens an die gemeinsame Abstammung äußert. Wo dieser vorhanden ist, wird das Distanzgefühl umgekehrt jedoch selten fehlen. Der Stolz, auf die eigene A r t zu leben, verbindet sich mit der A b w e r t u n g der fremden Gesittung, wobei die als „Barbaren" bezeichneten Fremdgruppen nicht immer auf der nach unseren evolutionistischen Vorstellungen „tieferen" Kulturstufe stehen müssen 459 . So wunderte sich schon Tacitus darüber, daß die wildbeuterischen, schweifenden Fenni in Nordosteuropa ihre dürftig erscheinende Lebensweise f ü r besser hielten als die ihrer ackerbauenden Nachbarn 4 6 0 , eine Erfahrung, die in der Neuzeit in gleicher Weise etwa bei nordamerikanischen Indianern gemacht werden konnte. So erscheint die eigene Lebensweise als die einzig menschenwürdige, ja der Begriff „Mensch" wird vielfach nur der eigenen Gruppe vorbehalten. Unter den echten Völkernamen, d. h. Eigenbezeichnungen, bedeutet eine große Zahl bekanntlich einfach „Menschen": koikoin (Hottentotten), yamana (Feuerländer), inuit (Eskimo), bantu (Bantu), Aehyegm, Dajak,

ud-murt

garn) 462 , Zuni, «6)

( W o t j a k e n ) , mansi

Dene,

Kiowa

(Wogulen),

magyar

< mogyeri

(Un-

u. a. N a m e n von Indianerstämmen 4 6 3 . Bei

E. MEYER, Gesch. d. A l t . 1.2® § 548, S. 8 5 1 ; W . E. MÜHLMANN, M e t h o d i k d .

Völkerkunde, S. 151. 457) VGL. d a s Beispiel V.TRANEL, in: Anthropos 47 (1952), S.456, aus Neu-Guinea. «8) Vgl. J. HAEKEL, in: Anthropos 47 (1952), S. 976. 459

) Vgl. die Beispiele bei W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 40 f. ) Germ. c. 46: sed beatius arbitrantur quam ingemere agris, illaborare domibus, suas alienasque fortunas spe metuque versare. 461 ) W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 39 f.; vgl. DERS., Gesch. d. Anthropologie, S. 222; DERS., Pseudolog. Gleichsetzung, S. 410; DERS., in: Dt. Arbeit 42 460

( 1 9 4 2 ) , S . 2 9 4 ; R Ü S T W I , S. 9 5 ; v g l . F . SOLMSEN, I d g . E i g e n n a m e n , S. 9 5 .

«2) J. v. FARKAS, in: Saeculum 5 (1954), S. 331. 463 ) RUTH BENEDICT, Urformen d. Kultur, S. 11, vgl. S. 28 f.: „Aber es gibt Völker, die sich die Möglichkeit eines Friedenszustandes überhaupt nicht vorstellen können. Friede wäre für sie gleichbedeutend mit der Zuerkennung menschlicher Natur an die Feindstämme, die natürlich für sie keine Menschen sind, wenn sie auch gleicher Rasse sein und den gleichen Kulturbesitz haben mögen."

„Ethnozentrismus"

91

manchen nordamerikanischen Indianern fällt der Stammesname mit dem Wort für „Mann" zusammen 464 . Der eigene Zustand wird als schlechthin maßgebend empfunden, was nach W. E. M ü h l m a n n mit der charakteristischen Unfähigkeit der Naturvölker zusammenhängt, anders als in den Begriffen der eigenen sozialen Lebensverhältnisse überhaupt zu denken 4 6 5 . Dem primitiven Menschen fehlen die Vorstellungen der Welt als Einheit und der Menschheit als Gesamtheit dessen, was Menschenantlitz trägt. So nennt der Verfasser der russischen sogenannten „Nestorchronik" die benachbarten Drewljanen, Vjaticen, Sewerjanen und Radimiüen wilde Tiere im Gegensatz zu seinem Stamm, den gesitteten Poljanen 4 6 6 . Solche Abwertungen sind mit Recht auch im germanischen Bereich als Zeichen eines ethnischen Sonderbewußtsein gedeutet worden 4 6 7 . Zuweilen verbindet sich dem primitiven Menschen die Vorstellung des Fremdartigen mit dunklen magischen Kräften. So galten, wie schon erwähnt, die Lappen des skandinavischen Nordens ihren germanischen Nachbarn lange als feindliche Z a u b e r e r 4 6 8 . Andererseits ist auch ein genau entgegengesetztes Verhalten möglich. Es kommt vor, daß das Fremde, eben weil es als wirksamer und erfolgversprechender gilt, höher eingeschätzt wird als eigene Formen 4 6 9 . Welche dieser Haltungen jeweils bestimmend wird, kann von den verschiedensten Zufällen abhängen. Daher ist stets im Einzelfall nachzuweisen, ob das Verbreitungsgebiet einer „Kultur" oder mehrerer „Kulturelemente" als Gebiet einer Gruppe mit ausgeprägtem Wir-Bewußtsein gelten kann. Es ist für die allgemeine Geschichte also weniger bedeutsam, ob eine Bevölkerung überhaupt gemeinsame Kulturzüge trägt. Entscheidend ist vielmehr, ob diese Kulturzüge als Gemeinbesitz e m p f u n d e n werden 470 . Dieses Bewußtsein orientiert sich naturgemäß an besonders auffälligen Erscheinungen. Das können einmal ganz grobe Unterschiede der Lebensweise sein. Als Beispiele wäre hier etwa auf das schon erwähnte Verhalten der Germanen zu den Lappen oder die Einstellung nomadischer « 4 ) W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 40. « S ) W . E. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkunde, S. 131. « « ) c. 10. 467)

VGL. H . ZATSCHECK, D a s V o l k s b e w u ß t s e i n . . . , S . 7 5 ; P . K I R N , AUS d e r F r ü h -

zeit des Nationalgefühls (1943), S. 13 f., S. 19; E . ZÖLLNER, D . polit. S t e l l u n g . . . , S. 53 u. passim. 468) VGL. unten S. 124 u. S. 185; vgl. damit die Feststellung H . BAUMANNS, in: Stud. Gen. 7. 3 (1954), S. 158, über die gleiche Erscheinung im Verhältnis afrikanischer Pflanzer zu den schweifenden Wildbeutern; vgl. auch Herodot II 33; I V 105. « » ) H . BAUMANN, in: Stud. Gen. 7. 3 (1954), S. 158. 470) Dieser Standpunkt ist dem bisher üblichen genau entgegengesetzt. So nimmt etwa O. BREMER, Ethnogr., S. 3, auf das Volks- und Stammesbewußtsein bei der Definition seiner ethnischen Begriffe keine Rücksicht u. bestimmt den Umfang eines Volkstums ausschließlich nach der Sprache.

92

Aspekte des Stammesbegriffs

Hirten zu Städtern und Bauern hinzuweisen 471 . Sprachliche Unterschiede und Ubereinstimmungen sind dabei manchmal nebensächlich472. Die sich so gegenüberstehenden Gruppen verschiedener Lebensform sind jedoch meist viel zu umfangreich oder über zu weite Räume verstreut, als daß sie ein über die negativ ablehnende Haltung hinausgehendes stärker entwickeltes positives Gefühl der Zusammengehörigkeit aller in gleicher Gesittung Stehenden entwickeln könnten, Ein solches Gefühl kann sich aber auch an b e l i e b i g e n e i n z e l n e n K u l t u r z ü g e n orientieren, die im Rahmen der Gesamtkultur an sich u n w e s e n t l i c h sein können. Die Bedeutung einzelner Bestandteile einer Gesamtkultur für das ethnische Bewußtsein entspricht vielfach nicht der Wichtigkeit dieser Bestandteile für die Gesamtkultur. Einzelne Züge werden besonders betont, obwohl sie uns unwesentlich erscheinen. Es ist umgekehrt voreilig, aus der Bevorzugung keltischer „Mode", keltischer Personennamen und selbst keltischer Sprache bei den westlichen Germanen zur Römerzeit auf mangelndes völkisches Selbstbewußtsein zu schließen473. Die Romanisierung eines Teiles der Franken hat ihren Stolz auf ihr Frankentum keineswegs beeinträchtigt. Die Goten und andere germanische Stämme des Pontusraumes haben sich in mancher Hinsicht den Steppenvölkern angeglichen und blieben sich doch ihrer Tradition bewußt. Das, was uns heute kulturell bedeutsam und als heiliges Gut der Nation erscheint, war zeitweise für das ethnische Bewußtsein neutral. Umgekehrt erschien mancher uns belanglos vorkommende Zug als ethnisches Kennzeichen. Das gilt für die Beurteilung eigener Kulturwerte wie auch für die Einschätzung der fremden. Im zweiten Fall tritt noch ein weiterer Umstand hinzu, der das Auseinanderfallen zwischen den von der Wissenschaft erarbeiteten K u l t u r gruppen und den vom naiven Bewußtsein erfaßten Einheiten begünstigt: Die an Vertretern der Fremdgruppe in die Augen stechenden Einzelheiten brauchen in dieser gar nicht allgemein zu sein, sondern können als Ausnahmeerscheinungen für sich stehen. Das sogenannte „psychologische Gesetz der numerischen Überschätzung des A u f f ä l l i g e n" 474 führt zu einer für den Wissenschaftler unberechtigten Verallgemeinerung dieser Einzelmerkmale. Bei jeder Äußerung über den Gegner ist diese Gegebenheit zu berücksichtigen. Dieses Absetzen von der Fremdgruppe aufgrund weniger, heute oft belanglos scheinender Einzelheiten deutet darauf hin, daß der tiefere Grund 471) Vgl. W . E . MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 41. 472) Man vergleiche das unterschiedliche Verhalten Timurs gegen Städter und Nomaden. 473) w i e etwa H . E. STIER, Die Bedeutung der römischen Angriffskriege für W e s t f a l e n . . . in: Westf. Forschgn. 1 (1938), S. 269—301. 474) W. HELLPACH, SB Heid. Math-naturw. Kl. (1931) Nr. 7, S. 10; vgl. W. MERK, in: ZRG GA 58 (1938), S. 19.

ethnisch betonte Kulturzüge

93

für das ausgeprägte Wir-Bewußtsein der ethnischen Einheit primär nicht im kulturellen Bereich zu finden ist, wie noch häufig angenommen wird. Das wird durch den Umstand bestätigt, daß diese ethnischen Einheiten gewöhnlich recht kleine Gruppen sind, deren Gebiet sich selten mit dem einer ganzen Kulturgruppe deckt 475 . Die E t h n o s b i l d u n g selbst geht gewöhnlich n i c h t v o n einem gemeinsamen K u l t u r b e s i t z a u s , sondern von sozialen und politischen Schicksalen und den daraus erwachsenden Traditionen 476 . Der mehr oder weniger ähnliche kulturelle Komplex 477 und die gleiche Sprache sind zwar dem Ethnos eigentümlich, sind aber im allgemeinen nicht die Quelle des Stammesbewußtseins. Entweder bildet eine Kultur- und Sprachgemeinschaft den Rahmen, innerhalb dessen sich ein Ethnos oder auch mehrere nebeneinander entwickeln können, oder aber die Kultur- und Sprachgemeinschaft entsteht erst durch Ausgleichserscheinungen innerhalb einer politischen Gemeinschaft, sofern diese eine längere Zeit hindurch besteht 478 . Es ist die politische Geschichte, die normalerweise den Anstoß zur Ausbildung des Stammesbewußtseins gibt 479 . Hierzu hat F. S t e i n b a c h schon vor drei Jahrzehnten das Entscheidende gesagt. O. M a u l l 480 leugnete überhaupt, daß von kulturell einheitlichen Menschengruppen, die noch mit „Völkern" gleichgesetzt werden, die Tendenz zur Staatsbildung ausginge. Die Großen, die sich um die Liudolfinger in Sachsen und Markgraf Luitpold in Bayern scharten, waren nicht durch „Sprache, Sitte und Art" ihres Stammes, sondern durch politisches Sonderbewußtsein und sehr reale politische Sonderinteressen dazu getrieben 481 . Die Erfahrung, daß politische Bildungen vielfach wenig Rücksicht auf kulturelle und sprachliche Verwandtschaft nehmen, beschränkt sich auch nicht auf unseren Bereich, sondern ist durch ethnographische Parallelen als allgemeine Erscheinung nachzuweisen 482 . «5)

W . E . MÜHLMANN, i n : U n i v . L i t t . ( 1 9 5 4 ) , S. 2 7 2 .

476)

E. SCHWARZ, Germ. Stammeskde., S. 219, hebt mit Recht die Bedeutung der Tradition gegenüber den kulturellen Zügen hervor. Vgl. E. LEMBERG, Gesch. d. Nationalismus in Europa, S. 63. 4 7 7 ) S. M. SHIROKOGOROFF, Psychomental Complex of the Tungus (London 1935), S. 14, definiert Ethnos als eine Gruppe mit mehr oder weniger ähnlichem kulturellem Komplex, gleicher Sprache, gleichem Glauben an einen gemeinsamen Ursprung, Gruppenbewußtsein und endogamer Praxis (zit. nach W. E. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkde., S. 229). 4 7 S ) O. BREMER, Ethnographie, S. 73; F. STEINBACH, Studien z. westdt. Stammesu. Volksgesch., S. 2 1 . J . F. GLÜCK, S. 1 5 8 f . 4 ™) V g l . E. HEYCK, i n : H Z 8 5 ( 1 9 0 0 ) ,

S. 6 9 .

«») O. MAULL, Politische Geographie (1925), S. 380. Vgl. F. STEINBACH, Studien z. westdt. Stammes- u. Volksgesch., S. 3. 4 S 1 ) Studien z. westdt. Stammes- u. Volksgesch., S. 3. 4 8 2 ) z. B. W . E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 144.

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Aspekte des StammesbegrifTs

Dennoch ist auch diese Regel nicht ganz ohne Ausnahme. Gerade die Entstehung des deutschen Volkes zeigt deutlich, daß wir nicht schlechterdings ethnische Prozesse ausschließlich auf politische Bedingungen zurückführen können 4 8 3 . Ein deutsches Volksbewußtsein war eben schon vor der Entstehung des deutschen Reiches irgendwie vorhanden, obwohl sich anfangs politische Konsequenzen daraus nicht ergaben 4 8 4 . Ein zweites Beispiel ist das griechische V o l k des Altertums 4 8 5 . Bei H e r o d o t 4 8 6 ist überliefert, wie die Athener ihr Zusammengehen mit den Spartanern gegen die Perser begründen. Abgesehen von der Rache für begangene Tempelschändungen ist es die Blut- und Sprachgemeinschaft mit den anderen Hellenen, die Gemeinsamkeit der Heiligtümer, der Opferfeste und Lebensweise. Dieses Gemeinschaftsbewußtsein der Griechen beruhte auf keiner staatlichen Gemeinschaft, aus der heraus es sich hätte entwickeln können. Für seine Entstehung waren sicher die zahlreichen interethnischen Berührungen sehr bedeutsam, die durch die Kolonisation über See eintreten mußten. Wichtig ist jedoch, daß nicht nur lokale Distanzgefühle aus dem Kontrasterlebnis zu fremder Kultur entstanden, sondern daß sich die Griechen zu einem echten Ethnos entwickelten, das auch durch einen gemeinsamen Abstammungsglauben verbunden war. Diese Stufe der ethnischen Integration wird von „ N a t u r " - V ö l k e r n kaum erreicht. Selbst wo sich ein entwickeltes Bewußtsein sprachlicher und kultureller Gemeinschaft verschiedener Stämme findet, fehlen gewöhnlich gemeinsame Abstammungsmythen 4 8 7 . Eine bestimmte Kulturhöhe, ein weiterer geographischer Horizont sind notwendig, wenn sich umfassendere Kulturgemeinschaften als Ganzes zu einem gemeinsamen ethnischen B e wußtsein erheben sollen. U n d selbst in Griechenland war dieses Gefühl nicht stark genug, die panhellenische Idee auch politisch durchzuführen. Dennoch hat der Gedanke des Volkes als einer Kulturgemeinschaft von Griechenland aus über den Umweg der ethnographisch-literarischen T r a dition weitergewirkt. Sprache, K u l t und Sitten wurden für die Ethnographen zu objektiven Kennzeichen des Volkstums. Es wäre noch eingehender zu untersuchen, wieweit die Entdeckung der deutschen oder eigentlich der germanischen Volkseinheit aufgrund solcher

«3) Vgl. S. 84 f. m. Anm. 437. «4) Vgl. H. LÖWE, in: B. Gebhardt, Hdb. d. dt. Gesch. I 8 (1954), S. 106. Ebenso war bereits zu Bedas Zeit ein englisches Gemeinschaftsbewußtsein da, wie der Titel seiner Hauptschrift bezeugt. 485) Die Parallelität der Entwicklung wird deutlich, wenn sich Schiller die ethnische Struktur des Griechentums analog der des deutschen Volkes vorstellen kann. Vgl. Anm. 421. «6) VIII 144. 487) Vgl. W. TRANEL, Anthropos 47 (1952), S. 465 f.

Entstehung von „Kultur"-Völkern

95

Kriterien in der Karolingerzeit 4 8 8 von literarischen Traditionen abhängig gewesen ist 489 . Benützt doch etwa Regino von Prüm noch dieselben Kriterien: diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus, lingua, legibus.. , 490 Das im Westfrankenreich bereits f ü r die Zeit um 700 zu erschließende Distanzgefühl zu den Romanen 4 9 1 bietet allein f ü r sich keine ausreichende Grundlage f ü r die erwähnte Entdeckung, da solche Gefühle normalerweise auf Grenzräume beschränkt bleiben. Ihre Funktion ist ursprünglich differenzierend, nicht verbindend. Viel deutlicher ist die Nachwirkung der antiken ethnographischen Tradition dann bei der Entstehung des neueren N a t i o n a l i s m u s zu fassen. Die Rolle der Germania des Tacitus bei der nationalen Reaktion der deutschen Humanisten gegenüber den Italienern ist bekannt 4 9 2 . Man erfaßte anschließend nun ebenfalls die primitiveren „Völker" am Rande der abendländischen Zivilisation mit gleichen Mitteln wie die Antike 4 9 3 . Seither beherrschte die Vorstellung vom Volke als einer Kulturgemeinschaft das Denken. Doch während vorher aus der Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft nur selten politische Folgerungen abgeleitet wurden 4 9 4 , verband sich diese Vorstellung beim Nationalismus mit einem kulturellen Sendungsbewußtsein und der Forderung nach nationaler Freiheit, Einheit und Größe. Damit war die normale Entwicklung des ethnischen Bewußtseins umgekehrt worden. Stand ursprünglich meist eine politische Gemeinschaft am Anfang und erwuchsen aus ihr — immer unter der Voraussetzung längerer Dauer dieser Gemeinschaft — ethnisches Bewußtsein und eine einheitliche Kultur, so war jetzt die letztere Ausgangspunkt f ü r das Volksbewußtsein und dieses die Grundlage für das Streben nach Eigenstaatlichkeit bzw. staatlicher Einheit. « 8 ) Vgl. G. B A E S E C K E , Dt. Vierteljahrssdhr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch. 23 (1949), S. 176 f.; DERS., Das Nationalbewußtsein der Deutschen des Karolingerreiches nach den zeitgenössischen Benennungen ihrer Sprache, in: Der Vertrag von Verdun, hrsg. v. T H . M A Y E R (1943), S. 121; vgl. H . L Ö W E , D A 9 (1952), S. 399.

489) Man bedenke etwa die Verbreitung der Etymologien Isidors von Sevilla, der I X 1. 71 behauptet, daß aus den Sprachen die Völker, nicht aus den Völkern die Sprachen entstanden seien. E. Z Ö L L N E R , D. polit. Stellung, S. 5 2 f., weist m. R . auf die Übernahme des Wortlauts der antiken Vorbilder hin. So übernimmt etwa Regino die Worte des Justinus über die Skythen in seiner Darstellung der Magyaren. 4

»0) MG SS in us. schol. S. X X .

4

»i) Vgl. L.

492) Vgl. E.

WEISGERBER, LEMBERG,

Deutsch als Volksname (1953), S. 77 f.

Gesch. d. Nationalismus in Europa, S. 147 ff.

4M) ebd., S. 149. 494) Wenn Liutprand von Cremona die Ansprüche Ottos I. auf Unteritalien gegenüber Byzanz mit d. Sprache dieser Gebiete begründet, ist das eine dieser seltenen Konsequenzen. Vgl. O. BÖGL, D. Auffassung von Königtum u. Staat im Zeitalter d. sächs. Könige u. Kaiser, Diss. Erlangen 1931 (1932).

96

A s p e k t e des S t a m m e s b e g r i f f s

Diese Sonderentwicklung, die den modernen Nationalismus vom ursprünglichen ethnozentrischen Weltbild hinwegführt, gilt es stets zu berücksichtigen, wenn wir ältere ethnische Verhältnisse ergründen wollen. Das ethnische Selbstgefühl orientierte sich zwar auch an kulturellen Merkmalen und Eigenheiten, doch war nicht die Gesamtheit der Kultur Basis dieses Gefühls. Immer sind es nur einzelne Merkmale gewesen, die bei der i n t e r e t h n i s c h e n B e r ü h r u n g auffielen, wenn man von den radikalen Unterschieden absieht, die etwa Ackerbauer und Jäger- oder Hirtenvölker voneinander trennen. Welche Merkmale es im einzelnen sind, hängt zum großen Teil davon ab, wie die Wertwelt eines Ethnos aufgebaut ist. Die Erforschung der ethnisch wertbetonten kulturellen Kriterien ist außerordentlich schwierig. Vor allem muß jedes Merkmal daraufhin geprüft werden, ob der betreffende Stamm es sich selbst beilegt oder ob es ihm von seinen Nachbarn zugeschrieben wird. Im ersten Falle werden Wunschbilder und Idealvorstellungen die Wirklichkeit verzerren; im zweiten können die angeblichen Kennzeichen bloße negative Spiegelungen der eigenen sein usw. Für viele Dinge ist der wissenschaftlich nicht geschulte Angehörige eines Naturvolks blind. Immerhin gibt es Merkmale, die bei jeder interethnischen Berührung sofort in ihrem Anderssein auffallen müssen. Doch auch hier wird je nach der Wertskala den einzelnen Abweichungen von der eigenen Norm verschieden starke Bedeutung zugemessen. Unter den ethnischen Merkmalen nimmt die fremde S p r a c h e seit jeher einen besonderen Platz ein. Wenn man auch die unmittelbare Gleichsetzung von Muttersprache und Nationalität 4 9 5 , wie sie im Gefolge der Romantik in Mittel- und Osteuropa besonders beliebt war 4 9 6 , mit Recht bekämpft, so bleibt doch die gemeinschaftsbildende Funktion der Sprache unbestritten. Darin stimmen mit den Linguisten 497 und Historikern auch Ethnologen 498 und Prähistoriker 499 überein.

495) Vgl. etwa die Definition des Begriffs G e r m a n e n bei O . BREMER, E t h n o graphie, S. 2 f. 496) V g l . A. DOVE, Studien . . S. 6, über J . G r i m m . Wenn MENGHIN, M e t h o d i k , S. 57, glaubt, die „ A u s s a g e n über S t ä m m e und über S p r a c h e " noch als „einheitliche G r ö ß e " betrachten zu können, so begeht er damit einen Fehler, wie die folgenden Tatsachen zeigen w e r d e n : vgl. unten S. 128 ff. 497) V g l . bes. L . WEISGERBER, D . Stellg. d. Sprache i. A u f b a u d. G e s a m t k u l t u r (1933), bes. S. 193 ff.; DERS., Deutsch als V o l k s n a m e , S. 132 f. 498) Vgl. S h i r o k o g o r o f f s Definition des Ethnos zit. b. W. E . MÜHLMANN, M e thodik, S. 2 2 9 ; W. E . MÜHLMANN, Pseudolog. Gleichsetzung, S. 413 f. 49FL) K . H .

JACOB-FRIESEN,

Grundfragen,

S.

3;

O.

MENGHIN,

Methodik,

S.

43,

S. 4 7 ; TALLGREN, T h e method of prehistoric archaeology, in: A n t i q u i t y 11 (1937), S. 157, betont z w a r ebenfalls die Bedeutung der Sprache, stellt anscheinend aber den K u l t als wichtigsten F a k t o r heraus. TOKAREW-TSCHEBOKSAREW, S. 131 nach Engels.

Sprache

97

Die Kontrastwirkung der fremden Sprache wird an vielen Beispielen deutlich. So wenn die Hellenen die Nichtgriechen als ßaqßaQoi „Stammler" bezeichnen oder die Slawen von den Deutschen als den nemlci, den „Stummen", sprechen500. Umgekehrt nennt sich der Albanese skipstar „der Verstehende" 501 , und der Slovene behauptet von sich, „der verständlich Redende" zu sein502. So ist es denn audi kein Wunder, wenn seit der Antike die Sprache als bevorzugtes Merkmal der ethnischen Zuordnung benutzt wird, obwohl bei einzelnen Schriftstellern in Sonderfällen andere Kennzeichen entscheidender werden können. So rechnet etwa Tacitus 503 die Aestier, also die baltischen Völker, trotz ihrer als nichtgermanisch bezeichneten Sprache504, aufgrund ihrer Sitten und ihrer äußeren Erscheinung zu den Sueben. Er weiß andererseits nicht, ob er die Bastarnen zu den Germanen zählen soll, wenn sie auch nach Sprache, Lebensweise, Siedlung und Wohnbau den Germanen gleichen505. Auch bei Herodot können die vöfioi wichtiger sein als die Sprache506. Im allgemeinen wird jedoch die Sprache als Hinweis auf die Abstammung und damit die ethnische Zugehörigkeit auch in der Spätantike und im frühen Mittelalter ohne Bedenken benutzt 507 . Der Neuzeit erst blieb es jedoch vorbehalten, die Sprache als d a s Kennzeichen der ethnischen Zugehörigkeit schlechthin zu betrachten.

«OO) O . SCHRÄDER, R L , S. 9 2 2 .

50i) ebd.; G. SCHÜTTE, Our Forefathers I § 50, S. 71. 602) K. MÖLLENHOFF, in: DA II, S. 106. (Diese Etymologie ist allerdings nicht sicher.) 508) V g l . R . MUCH, G e r m a n i a , S. 2 6 1 . K . MÖLLENHOFF, i n : D A I I , S. 3 2 ff., e m p -

findet es — diesem unsystematischen Vorgehen gegenüber — als einen Gewinn der neueren Wissenschaft, „die entscheidende bedeutung der spräche für die Unterscheidung und bestimmung der nationalitäten und ihrer Verzweigungen" herausgearbeitet zu haben." 504) . , . Aestiorum gentes. . ., quibus ritus habitusque Sueborum, lingua Britanrticae proprior. 505) Peucinorum Venetorumque et Fennorum nationes Germanis an Sarmatis adscribam dubito, quamquam Peucini, quos quid am Bastarnas vocant, sermone, cultu, sede ac domiciliis ut Germani agunt. Vgl. dazu R. MUCH, Germania, S. 261. 50«) Vgl. K. TRÜDINGER, Studien zur Gesch. d. griech.-röm. Ethnographie, S. 17. Nach W. MERK, in: ZRG GA 58 (1938), S. 17, war auch bei Germanen das Recht in höherem Maße als die Sprache Kennzeichen der Stammeszugehörigkeit. 507) Vgl. etwa Agathias Hist. I 2; Prokop b. Vand. I 2, b. Goth. IV 20. Prokop erblickt in der gemeinsamen Sprache ein Anzeichen für ehemalige ethnische Einheit (vgl. A. DOVE, Studien . .., S. 73 f.). Die Sprache als Hinweis auf Abstammung wurde früher auch von den Indogermanisten vorausgesetzt, vgl. O. BREMER, S. 20: „Daß die übrigen europäischen Völker (außer Finnen, Türken, Ungarn, Basken) stammverwandt sind, hat die vergleichende Sprachwissenschaft bewiesen." Heute ist man zwar von der Abstammungstheorie abgekommen, doch die Sprache gilt weiter als ethnisches Kriterium. Jordanes Get. X X V 133: . . . omnem ubique linguae

Aspekte des Stammesbegriffs

98

D i e weithin a n e r k a n n t e Bedeutung der Sprache f ü r das Gemeinschaftsbewußtsein verhinderte nun anscheinend, d a ß m a n die Leistung der Sprache grundsätzlich untersuchte. Wie L. W e i s g e r b e r kürzlich betonte 5 0 8 , blieben die Ansätze der Beobachtung zu isoliert. I h m ist es durchaus b e w u ß t , d a ß die Sprache nicht allein die Volksgemeinschaft trägt u n d bestimmt. Sicher trifft es zu, „ d a ß überall, w o Gemeinschaft wirklich wird, die Sprache die notwendige Bedingung ist: Sprache ist f o r m g e w o r d e n e Gemeinschaft u n d h a t nun in sich die K r a f t , Menschen, die die Möglichkeit zur Bildung einer Gemeinschaft in sich tragen, zu wirklichen Gliedern der Gemeinschaft zu prägen" 5 0 9 . Unbestritten soll ferner die Formulierung W. H e l l p a c h s bleiben, d a ß nicht bloß der Mensch, sondern zuerst das Volk, der Stamm, das Ethnos in seiner Sprache geistige Gestalt gewinnt 5 1 0 . Dennoch k a n n nicht geleugnet werden, d a ß f ü r unsere A u f g a b e mit diesen Feststellungen noch nicht viel gewonnen ist. Die vielfach anzutreffende Unbestimmtheit, welche der zwei Bedeutungen des Wortes „Sprache" — einmal als menschliches Vermögen (langage), zum anderen als k o n k r e t e Einzelsprache (langue) — jeweils gemeint ist, v e r f ü h r t zudem dazu, immer wieder Erkenntnisse, die f ü r die Sprache als solche gelten, auch f ü r die Leistung jeder bestimmten Einzelsprache vorauszusetzen. Das zeigt sich bei Folgerungen, wie sie etwa W. W u n d t 5 1 1 gezogen hat, wenn er mit der Ansicht, d a ß Sprache nicht das zufällige W e r k eines einzelnen ist, sondern v o m Volk geschaffen w u r d e , die Behauptung verbindet, d a ß alle primitiven Stämme f r ü h e r eigene Sprachen besaßen. Diese Behauptung ist unbeweisbar, ja nicht einmal wahrscheinlich. Auf ihr aber beruhen so w i d e r sprüchliche A n n a h m e n wie die eines großen „Indogermanischen U r v o l k s " einerseits u n d andererseits die, „ d a ß in grauer Urzeit jede dieser kleinen Siedlungsagglomerationen ursprünglich einmal eine eigene Sprache redete" 5 1 2 .

httius nationem; da natio nach A. DOVE, Studien . . . , S. 36, „eigentlich nichts weiter" ausdrückt „als die Tatsache der gemeinsamen Abkunft irgendeiner Mensdiengruppe", wird hier — wie auch der Hinweis auf die Verwantschaft nahelegt — Sprachgemeinschaft und Abstammungsgemeinschaft gleichgesetzt (vgl. A. DOVE, Studien . ., S. 73); Isidor Etym. X I X 23; Beda h. eccl. I 1; I 27; III 25; Paul. Diac. I 27 u. a.; vgl. auch Jordanes Get. XXV 131; XVII 95; weitere Belege bei E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung . . . , S. 51 f. so») Wirkendes Wort 6, 6 (1956), S. 377. 509) VGL. dazu DIE treffende Formulierung H. FREYERS (Weltgesch. Europas I, S. 184): die Sprache . . . stiftet nicht Zusammenhang — diese Leistung können ihr nur ganz schlimme Rationalisten zutrauen —, aber sie drückt Zusammenhang aus und steigert sich mit ihm. «1») W . HELLPACH, V o l k s s p i e g e l 1, S. 2 1 4 . 5U

) Elemente der Völkerpsychologie (Leipzig 1912), S. 53 u. 55. ) H. PREIDEL, Slaw. Besiedig. I, S. 18; solche Auffassungen sind weit verbreitet. Eine ähnliche Vorstellung scheint man z. B. nach Stalins Äußerungen über die Sprachwissenschaft jetzt im Osten zu haben, wo eine Entwicklung „von Gentil612

Sprache

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Beide Annahmen erscheinen im Licht der ethnographischen Tatsachen gleich unglaubwürdig. Wie schon erwähnt 513 , bedingt gleiche Sprache audi bei Naturvölkern keineswegs immer ein Zusammengehörigkeitsgefühl 514 . Die sich als wirkliche Gemeinschaft empfindenden Einheiten sind gewöhnlich viel kleiner als die Sprachgenossenschaften515. Noch in der Wanderzeit war das in unseren Bereichen nicht anders, was auch von einigen Beobachtern hervorgehoben wurde. Augustinus bemerkt z.B. 516 : auctus est autem numerus gentium multo amplius, quam linguarum; nam et in Africa barbaras gentes in una lingua plurimas novimus. Die gemeinsame Sprache mehrerer Gruppen wird wie auch andere Kulturinhalte gewöhnlich dem Fremden eher bewußt als den Sprechern dieser Sprache selbst, denen die mundartlichen Unterschiede viel mehr auffallen. Die Erkenntnis der sprachlichen Zusammengehörigkeit mehrerer Fremdgruppen geht über die Kontrastwirkung hinaus, die nur die Fremdheit bewußt bezeichnet („Barbaren"), innerhalb der Fremdgruppen aber keine Gruppen zusammengehöriger ethnischer Einheiten unterscheidet. Die kleineren fremden Einheiten sind — da sie politisch handelnd mit der eigenen Gemeinschaft in Berührung kommen — ihrem N a m e n nach bekannt und eben durch ihre Benennung charakterisiert. Häufig wird dann der N a m e derjenigen Einheit, die im Augenblick des Erkennens eines größeren Zusammenhangs gerade benachbart war oder besondere Bedeutung besaß, auf die Gesamtgruppe übertragen. So erklärt z. B. R. M u c h die Ausweitung des Germanennamens, der ursprünglich auf einen Stamm der Germani cisrhenani beschränkt war. Analogien dazu sind gerade als Bezeichnungen für die Deutschen häufig: Allemands, Saxar (anord.), Svabok (magyar.), Bavarski (sorb.) u. v. a.517. Auf eine ähnliche Situation führt L. W e i s sprachen zu Stammessprachen, von den Stammesspradien zu den Sprachen der Völkerschaften und von den Sprachen der Völkerschaften zu den Nationalsprachen" behauptet wird; vgl. TOKAREW-TSCHEBOKSAREW, S. 129. 513) Oben S. 88 f. 514 ) In manchen Kulturen bilden daher sprachliche Gegensätze z. B. kein Hindernis für die Verbreitung kleinster Einzelheiten im Zeremoniell u. a. Wo verschiedene Sprachgruppen nebeneinander siedeln, ergibt sich dann häufig die Erscheinung der Mehrsprachigkeit vieler Einzelpersonen; vgl. R. BENEDICT, S. 137; H. BAUMANN, in: S t u d . G e n . 7. 3 ( 1 9 5 4 ) , S. 1 5 5 . 615 ) L. WEISGERBER, in: 20. Ber. RGK, S. 168, weist sehr richtig darauf hin, daß die Ausbreitung einer Sprache nicht immer an Völkerverschiebungen gebunden ist. Bezeichnende Beispiele sind die singhalesisch sprechenden Wedda auf Ceylon und die Negersprachen benutzenden Pygmäen, die beide früher eigene Sprachen gehabt haben, die aber beide auch ihre Eigenständigkeit dadurch bewahrt haben, daß sie mit der Sprache nicht gleichzeitig auch die Lebensform ihrer Nachbarn übernommen haben. In diesen extremen Beispielen ist also der Sprachwechsel sehr deutlich, während er in den meisten Fällen heute überhaupt nicht mehr sicher festzustellen ist. SIE) De civ. Dei XVI 6; vgl. A. DOVE, Studien..., S. 74. 5") Vgl. G. SCHÜTTE, Gotthiod (1939), S. 86.

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Aspekte des Stammesbegriffs

g e r b e r 518 die Verwendung des aus einem keltischen Stammesnamen abgeleiteten Adjektivs „welsch" bei den westlichen Germanenstämmen zurück, wobei fraglich bleibt, ob dieses Adjektiv sogleich als differenzierende Bezeichnung für e i n i g e v o n m e h r e r e n Fremdstämmen verwendet wurde oder ob es anfangs nur alle Fremden schlechthin betraf, die sich im unmittelbaren Gesichtskreis der südlichen und westlichen Germanen befanden. Man wird einwenden können, ob nicht etwa Sprachliches in anderer Weise doch auch für die kleineren Einheiten bedeutsam sein wird. Sollte nicht jedes dieser ethnischen Gebilde durch eine besondere M u n d a r t gekennzeichnet sein, die zwar gegenseitige Verständigung nicht ausschließt519, jedoch genügend auffällige Merkmale aufweist, die als Ansatzpunkte für das Bewußtsein des Eigenen und Fremden dienen können? Man wird dabei auf die aus ethnozentrischer Haltung zu deutende Erscheinung hinweisen dürfen, daß die eigene Mundart als Norm gilt, die des Nachbarstammes als „verdorben" 520 . Auch hier also Kontrastwirkung, wobei nicht ausgemacht ist, ob nicht „komisch" klingende und zu Spott Anlaß gebende Varianten der eigenen Sprache größere Feindschaften hervorrufen können als eine Abneigung gegen den in unverständlichen Lauten stammelnden Fremdstamm. Möglicherweise spielen solche an objektiv kleinen Unterschieden entzündeten Distanzgefühle auch eine Rolle bei der von Ethnologen beobachteten Tatsache, daß sprachlich verwandte Stämme sich untereinander heftig bekriegen, während sie mit anderen, fremdsprachigen Frieden halten oder selbst im Bündnis stehen522. Die Teilnahme keltischer Stämme am Kimbernzug ist nur eines unter vielen Beispielen. Vielleicht bringen die Untersuchungen des Schwerpunktvorhabens der Deutschen Forschungsgemeinschaft über „Sprache und Gemeinschaft" neue si8) Deutsch als Volksname, S. 155—232, bes. S. 170 ff. 619) Wenn hier der Unterschied zwischen Sprache und Mundart in der gegenseitigen Verständigungsmöglichkeit gesehen wird, die zwischen Angehörigen verschiedener Mundarten besteht und zwischen Verschiedensprachigen fehlt, sind wir uns der Subjektivität dieses Kriteriums durchaus bewußt. Aber die zweite A u f fassung — von PORZIG, D.Wunder der Sprache, S.314, als brauchbarer angesehen — , die als selbständige Sprache nur die gelten läßt, die über der Umgangssprache eine Hochsprache, über den Mundarten eine Reichssprache ausgebildet hat, ist in unserem Fall vielfach unzweckmäßig. So scheint auch die linguistische Feldforschung noch weithin am ersterwähnten Merkmal der Verständigungsmöglichkeit festzuhalten; vgl. F. G. LOUNSBURY, Field Methods and Techniques in Linguistics, S. 413. 520) W . E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 40. Solche Auffassung ist schon bei Herodot zu finden, der I V 117 schreibt, daß die Sauromaten ein fehlerhaftes Skythisch sprechen. 521 ) Das gilt neben sprachlichen natürlich auch für andere kulturelle Verschiedenheiten. 522) W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 139.

Mundart

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Gesichtspunkte 523 . Vorerst wird man über die Rolle der Sprache als Voraussetzung der Stammesbildung nur ganz allgemein sagen können: Die Verständigungsmöglichkeit wird in der Regel Vertrautheit und Vertrauen zwischen Menschen begünstigen, friedliche Beziehungen erleichtern 524 . Gemeinsamkeit der Sprache ist weiterhin eine wichtige — wenn auch nicht durchgängig notwendige — Voraussetzung zur Bildung einer Stammesgemeinschaft, womit aber nicht gesagt ist, daß der g a n z e Raum einer bestimmten Sprache nur e i n e Stammesgemeinschaft herausbildet. Dort wo politische Zusammenstöße zum Aufeinanderprall vorher nicht benachbarter Sprachgemeinschaften führen, wird die Sprache zu einem ethnisch stärker betonten Merkmal, als sie es vorher gewesen ist. Politische Gemeinschaft, die zu einem ethnischen Bewußtsein führt, wird den Ausgleich sprachlicher Unterschiede fördern. Von einem echten Ethnos wird man erst sprechen können, wenn dieser Ausgleich vollzogen ist 5 2 5 . So mag O. B r e m e r 5 2 6 recht haben, wenn er meint, daß „die alten Stammesgrenzen, soweit sie von längerer Dauer waren, zugleich Sprachgrenzen gewesen oder geworden seien". Wesentlich ist bei dieser Formulierung der Hinweis auf die Dauer. Es ist eben nur die Frage, wieweit wir bei unseren Völkerschaften mit der „Dauer" von Grenzen rechnen dürfen. Mit einer systematischen Sprachpropaganda der politisch führenden Gruppen 5 2 7 werden wir in unserem Bereich schwerlich rechnen können, doch wird auch hier die Sprechweise der Oberschicht normative Kraft gehabt haben.

5 2 3 ) Vgl. L. WEISGERBER, in: Wirkendes W o r t 6. 6 (1956), S. 376 ff. Die Betonung des deutschen Beispiels scheint mir bei diesem Vorhaben eine Gefahr in sich zu bergen. Die Geschichte des Wortes „deutsch" zeigt doch gerade die Ausnahmestellung unseres Raumes; vgl. L. WEISGERBER, Deutsch als Volksname, S. 40 ff. . . U m allgemeine Sätze formulieren zu können, wird man sich nicht auf dieses Beispiel beschränken dürfen. 524) R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 2 0 0 ; W . E . MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 139. 525) Vgl. W. E. MÜHLMANN, Methodik d. Völkerkde., S. 237. Das gleiche wird auch für die modernen Nationen betont; vgl. R. KJELLÉN, Der Staat als Lebensform (Leipzig 1917), S. 109: „Die Sprache ist ein wichtiges Zeugnis durchgeführter und abgeschlossener Nationsbildung, aber sie ist nicht deren Ursache, sondern eine ihrer Wirkungen." (Zit. nach F. STEINBACH, Studien . . ., S. 21.) Der Satz W . E. MÜHLMANNS, in: Dt. Arbeit 42 (1942), S.296: „ . . . es gibt wahrscheinlich keine echte Umvolkung ohne Sprachwechsel, aber nicht jeder Sprachwechsel deutet auf Umvolkung . . i s t gerade für unseren Bereich nur bedingt richtig. Die Romanen des Frankenreiches wurden zu Franken, ohne ihre Sprache aufzugeben. Voraussetzung dazu dürfte allerdings gewesen sein, daß ein Teil der Franken seine Sprache aufgab, ohne sein Volksbewußtsein aufzugeben. 526

) Ethnographie . . , , S. 15.

) Wie wir sie etwa bei der systematischen Verbreitung des Quediua durch die Inkas beobachten können. Vgl. W . E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 199 f. 527

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Aspekte des Stammesbegriffs

Die Geschichte der Dialektgeographie hat uns jedoch gelehrt, daß die allgemeine Gültigkeit der These von H a a g und W r e J e „Mundartgrenzen sind Territorialgrenzen" nicht aufrechterhalten werden kann. Auch in der allgemeineren Form „Sprachgrenzen sind Verkehrsgrenzen" 528 trifft eine solche Gleichsetzung, wie W. M i t z k a zeigte529, nicht allgemein zu. Wie neuerdings H. M o s e r 530 betonte, „erscheint es notwendig, die Anschauungen über den Zusammenhang zwischen Verkehrsgrenzen, Verkehrsströmungen, Verkehrsgemeinschaften und Sprach- und Kulturgrenzen soziologisch und psychologisch innerlich zu begründen. Der Verkehr erweist sich dann nicht als eine neutrale, von außen wirkende Größe, sondern als eine Funktion der Gruppe, die einerseits dem kulturellen und sprachlichen Ausgleich innerhalb der einzelnen Gruppe und zugleich dem Austausch zwischen den Gruppen dient. Sprachgrenzen beruhen nicht nur und nicht immer auf Verkehrsgrenzen, sondern stehen in enger Verbindung mit der Gruppensonderart und vor allem dem Gruppenbewußtsein und deren Grenzen." Das subjektive Element, das bei den sprachlichen Anschlußvorgängen immer deutlicher erkannt wurde 531 , entspricht in manchem dem, was die Ethnosoziologie beim Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung beobachtet hat. Hier sind es jedoch ausschließlich die angesehenen ethnischen Gruppen, die das Vorbild abgeben. Der Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung vollzieht sich bei Sprachverschiedenheit häufig nicht unmittelbar, sondern nur über den Umweg des Sprachwechsels532. Die angestammte Sprache wird verdrängt, nachdem anfangs die fremde Sprache nur als Verkehrssprache benützt wurde. Wenn sich mit der Sprachübernahme auch eine Übernahme der Wertungen des überlegenen Ethnos verbindet, ist es dann nicht mehr weit bis zum Wechsel des Bewußtseins der Gruppenzugehörigkeit, der sich allmählich über das Zwischenstadium einer labilen Gesinnungslage durchsetzt. Mit gewissen — oft nicht unbeträchtlichen — Variationen, auf die wir später zurückkommen werden 533 , gilt das für das Verhältnis von Sprache und Ethnos Gesagte auch für andere Kulturgüter 534 . Der arabische Beduine sieht in Städtern und Fellachen keine eigentlichen 528) VGL. F. MAURER, in: Germ. u. Indogerm. ( = Fs. H . Hirt) II, S. 363. 529) Mundart und Verkehrsgeographie, in: Zs. f. Maf. 11 (1935), S. 1 ff. 530) Zs. f. Maf. 22 (1954/5), S. 110. 531) VGL. W. MITZKA, Beiträge z. hess. Mundartforschg. (1946); DERS., Unmotivierte Mundartlinien und Mundarträume, in: Beiträge zur sprachlichen Volkskunde ( = Fs. A. Spamer 1953), S. 153 ff. Vgl. oben S. 12 m. Anm. 56 u. S. 88 mit Anm. 447. 532) Vgl. W . E . MÜHLMANN, in: Stud. Gen. 7 (1954), S. 166. 533) Vgl. unten S. 124 ff., bes. S. 128 f. 534

) Vgl. F. STEINBACH, Studien . . . , S. 21. TH. FRINGS, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, S. 5 f.

Sprache — Lebensweise — Sitte — Tracht

103

Volksgenossen — trotz der gleichen Spradie. Die völlig andere L e b e n s w e i s e 5 3 5 und die damit verbundenen anderen Wertungen 5 3 6 stehen dem entgegen. U m so ausgeprägter ist ein solches Abstandsgefühl natürlich gegen Gruppen fremder Lebensform, die erst sekundär die eigene Sprache angenommen haben (singhalesisch sprechende Wedda, ein Großteil der afrikanischen Pygmäen, die Negerspradien übernahmen). Auch wo sich die Unterschiede in der Lebensweise nur auf einzelne Züge der Gesittung usw. beschränken, können ethnische Distanzgefühle gefördert werden. Seit Herodot sind die mores auch Bestandteil der gelehrten Ethnologie 5 3 7 . Wenn sie dies auch im frühen Mittelalter bleiben, dann sicher nicht allein aus übergroßer Abhängigkeit von den antiken Autoren. H a t t e n doch auch mittelalterliche Chronisten Gelegenheit, im Grenzraum eine ethnische Wertung der Gesittung unmittelbar anzutreffen. Uberall auf der W e l t ergeben sich die gleichen Situationen. Wenn das connubium über die Grenze hinweg abgelehnt wird, so sind die Verschiedenheit der Sitten und die damit verbundenen Vorurteile vielfach ein wesentlicher Grund. Wenn S. G u t e n b r u n n e r 5 3 9 recht hat, kann man sogar in Stammesnamen die Gemeinschaft der Sitten ausgedrückt finden. Zu den am häufigsten als ethnisch kennzeichnend empfundenen Bestandteilen einer Stammeskultur gehört die T r a c h t . W i r haben oben schon ein Beispiel erwähnt, wie sich der Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung im Wechsel der Tracht spiegelt 5 4 0 . Auch germanische Stämme haben — selbst im Mittelmeerraum — ihre Tracht häufig lange bewahrt 5 4 1 . Bei einzelnen Stämmen, wie bei den Langobarden, war sie religiös begründet 5 4 2 . Den Wert der Tracht als ethnisches Merkmal für die Germanen bezeugen Angaben über einzelne römische Kaiser, die germanische Tracht anlegten, um ihren barbarischen Truppen zu schmeicheln 543 . So ist nur erklärlich, 635) Vgl. oben S. 91 f. 536) Vgl. etwa die Wertung vegetabilischer Nahrung durch ostafrikanische Hirten, die sich nach ihrem Genuß besonderen Reinigungszeremonien unterwerfen müssen. Dazu etwa das Verbot „unreiner" Nahrung bei verschiedenen Völkern wie Juden, Arabern usw. 537) Vgl. E. ZÖLLNER, D. polit. Stellung, S. 52. 538) V g l . R . THURNWALD, D . m e n s d i l . G e s . I I , S. 1 5 7 ; I V , S. 1 2 7 .

636) Germ. Frühzeit, S. 86; er glaubt, daß sich der Name der „alpengermanischen" Sedüni nur unter der Annahme eines germ. -u-Stammes sedu- „Sitte, Gewohnheit, Kult" Laut für Laut deuten läßt. Doch bleibt die Annahme von „Alpengermanen" zweifelhaft; vgl. E. SCHWARZ, Germ. Stammeskde., S. 46. 540) oben S. 79. 541) Belege bei F. G. SCHULTHEISS, Geschichte d. dt. Nationalgefühls (1893), S. 35 u. S. 45 f.; vgl. K. WÜHRER, Germ. Zusammengehörigkeit, S. 71. 542) K . HAUCK, i n : S a e c u l u m 6 ( 1 9 5 5 ) , S. 2 1 1 f .

543) Vgl. Herodian IV 7. 3 über Caracalla; Epitome de Caesaribus 47. 6 über Gratian.

104

Aspekte des Stammesbegriffs

wenn eine ganze Reihe von germanischen Stämmen sich nach ihrer Tracht benennt: Langobarden, Friesen, Armalausi, Chatti usw. 544 . D i e Haartracht tritt unter den Bestandteilen der Tracht besonders häufig als ethnisches Kennzeichen auf. Wir werden bezeichnende Beispiele aus germanischem Bereich noch kennenlernen 545 . Die Beschreibung der Haartracht gehörte nicht ohne Grund zum fast ständigen Inventar der antiken Ethnographie 546 . Gleiche Tracht ist daher auch mit Recht als Hinweis auf gleiche Abkunft benutzt worden 5 4 7 . Auch die Mehrzahl der Prähistoriker ist auf die Bedeutung der Tracht für die ethnische Interpretation ihrer Funde aufmerksam geworden 548 . Wenn die deutsche Volkskunde nachweisen konnte, daß die heutigen Trachtengrenzen sich mit alten Stammes- und Gaugrenzen nicht mehr decken, so kann das nur bedeuten, daß für das Gruppensonderbewußtsein die alten Stämme nicht mehr existieren oder wenigstens nicht im Vordergrund des Gemeinschaftsgefühls stehen 549 . Verschiedene K a m p f e s w e i s e fällt in den interethnischen Beziehungen bald ins Auge und führt vielfach zur Auffassung, der Gegner streite unfair, da er die Regeln des Kampfes nicht einhalte. Völkernamen, die auf bestimmte Bewaffnung hindeuten (z. B. Sachsen), sind daher auch nicht sel-

5«) Vgl. A. BACH, Dt. Namenskde. I, 12 (1952), S. 309 f. Andere Namen sind zweifelhaft: Bastarnae, Reudigni (Bach aaO.); Silingen (R. MUCH, Altschlesien I [1926], S. 117 f.); Haruden (K. MÜLLENHOFF, in: DA IV*, S. 469 f.). 5«) Vgl. unten S. 261 ff. u. S. 264 f., Anm. 796. 546 ) E. NORDEN, Urgesch. S. 16. Doch auch die sonstige Tracht wird häufig beschrieben (Tacitus Germ. c. 17) oder hervorgehoben (Agathias Hist. I 2). 5«) Vgl. R. HERBIG, in: Arch. Jb. 55 (1940), S. 58 ff., über den eigentümlichen bei Philistern und Doriern gleichartig auftretenden Kopfschmuck; vgl. P. KRETSCHMER, in: Glotta 30 (1943), S. 161. 548 ) E. BLUME, Die germ. Stämme u. Kulturen zwischen Oder u. Passarge zur röm. Kaiserzeit (1912), S. 1 ff.; F. HOLSTE, Die Bronzezeit im nordmainischen Hessen, S. 95; J. BERGMANN, Die lüneburgische Bronzezeit (Diss. Masch. Marburg

1941); DERS., i n : G e r m a n i a 30 (1952), S. 2 7 ; W . A . v . BRUNN, i n : G e r m a n i a 2 7 (1943), S. 117 (mit M . C l a u s ) ; J . WERNER, i n : A r c h a e o l o g i a G e o g r . 1 (1950), S. 2 6 ; R . v . USLAR, i n : H J b 71 (1952), S. 12; H . KIRCHNER, G e m e i n s c h a f t s b i l d u n g , S. 5 7 8 ;

A. GENRICH, Formenkreise und Stammesgruppen, S. 34 (der aus der Tracht Rückschlüsse auf die politische Gliederung ziehen will; eher doch wohl auf die ethnische Zugehörigkeit); H. JANKUHN, Haithabu, ein Handelsplatz der Wikingerzeit S(1956), S. 220 ff. W e n n G . NEUMANN, i n : G e r m a n i a 29 (1951), S. 268, gegen R . HACHMANN

Traditänderungen bereits für vorgeschichtliche Zeiten als Modeerscheinungen abtun will, hat er darin nur bedingt recht. Sicher hat es ethnisch neutrale Übernahme von Trachtbestandteilen gegeben, aber das Wort „Mode" ist für jene Epochen kaum a n w e n d b a r , w a s R.V.USLAR, i n : P Z 34/35 (1949/50), S. 157, richtig h e r v o r h e b t .

64») K. WAGNER, Geogr.-hist. Volkskunde, Hess. Blätter f. Volkskunde 21 (1922), S. 1 ff.; W. MERK, in: ZRG GA 58 (1938), S. 7.

Tracht — Kampfesweise — Siedlung — Kult — Religion

105

ten. Auch antike Autoren weisen auf Unterschiede der Waffen als ethnische Kennzeichen häufig genug hin 550 . Wenn die Mongolen alle Leute verachten, die in festen Bauten wohnen 551 , so ist das nur ein Zug ihrer allgemeinen Ablehnung nichtnomadischer Lebensformen 552 . Aber die A r t d e s W o h n e n s u n d S i e d e i n s beruht nach den Beobachtungen der Ethnologie — in teilweisem Gegensatz zu den Ergebnissen der Volkskunde 553 — auch auf echten ethnischen Überlieferungen. Nur so läßt sich erklären, daß verschiedene Völker des gleichen Gebiets hartnäckig an ihren besonderen Wohnarten festhalten 554 . Stark ethnisch betont ist weiterhin das gesamte Brauchtum, soweit es im K u 11 der Gemeinschaft verwurzelt ist. Hier beobachtet man die gleichen Erscheinungen wie beim Urteil über die fremde „verdorbene" Mundart. Weichen die Zeremonien der anderen Gruppe in einzelnen Punkten von den eigenen ab, so handelt es sich eben um schlechte Nachahmung der „richtigen" Übung 555 . Wenn die Sprache als Merkmal versagt, tritt der kultische Brauch um so stärker hervor. So antworten etwa Franken dem missionierenden St. Eligius, als er ihnen heidnische Bräuche untersagen will: Numquam tu, Romane consuetudines nostras evellere poteris556. Der gemeinsame Besitz r e l i g i ö s e r und mythologischer V o r s t e 1 1 u n g e n ist vielfach wichtiger Faktor des Gemeinschaftsbewußtseins557, der die Sprache an Bedeutung übertreffen kann 558 . Im germanischen Bereich wird die Religion erst im Zeitalter der Christianisierung als Faktor des Gemeinschafts- und Distanzgefühls recht faßbar. Sie spielte sicher eine Rolle, als katholische auf römischem Boden angesiedelte Westgoten ihren über die 550) z.B. Tacitus Germ. c. 45: omniumque harum gentium insigne rotunda scuta, breves gladii et erga reges obsequium. Zu Jordanes Get. L 2 6 1 vgl. A. D O V E , Studien . . . , S. 28, Anm. 2.

) Vgl. W . E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 41. 552) Wenn Tacitus Germ. c. 46 die Venedi eher zu den Germanen als den Sarmaten redinet, weil sie nicht wie diese auf Wagen, sondern in festen Häusern wohnen, so benutzt er einen Unterschied der Lebensform als ethnisches Kriterium. 553) VGL. B. SCHIER, Das deutsche Haus, in: Adolf Spamer, Dt. Volkskde. 1 (Leipzig-Berlin 1934), S. 478. 554) Vgl. R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. IV, S. 229. 555) Vgl. W . E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 40. 55«) V. Eligii II 19. 551

557)

V g l . R . THURNWALD, D . m e n s c h l . G e s e l l s c h . I V , S . 6 9 ; M A C W H I T E , i n :

Am.

Anthr. 58/1 (1956), S. 22, Anm. 22. 558) A.-M. TALLGREN, in: Antiquity 11 (1937), S. 157, Anm. 5, berichtet von Forschungen A. Kamistos in Sibirien, wo sich Wogulen und Samojeden trotz verschiedener Sprache aufgrund gemeinsamer Religion als ethnographische Einheit empfinden, während die Syrjänen für Fremde, und zwar als Christen für Russen gehalten werden. Die gemeinschaftsbildende Kraft der Religion ist auch noch bei Hochkulturvölkern durchaus wirksam. Man vergleiche die politische Ordnung des indischen Subkontinents nach Abzug der Engländer.

106

Aspekte des Stammesbegriffs

Donau gesetzten Stammesgenossen die Gefolgschaft verweigerten 559 . Die Rolle des katholischen Bekenntnisses bei den Franken (Prolog der Lex Salica) gegenüber den arianisdien Westgoten ist bekannt 5 6 0 . Gemeinsamer Kult ist jedoch nicht nur bedeutsam für die Erhaltung und Bestätigung des Wir-Bewußtseins einer ethnischen Gemeinschaft, er kann zuweilen sogar als gemeinschaftliche Veranstaltung verschiedener selbständiger kleinerer Einheiten zur Grundlage eines neuen, größere Gruppen umfassenden ethnischen Gefühls werden. Aus allen Weltteilen sind solche mehrere kleine Gruppen verbindende kultischen Zusammenkünfte bekannt 561 Dort wo die Sprache noch nicht stark ethnisch betont wurde, kommt es sogar zu Verbindungen verschiedensprachiger Einheiten. Zweisprachige überbrücken die Verständigungsschwierigkeiten. In Australien dient eine Zeichensprache diesem Zweck 562 . Auch bei den nordwestamerikanischen Indianern bilden sprachliche Gegensätze kein Hindernis für die Verbreitung kleinster Einzelheiten im Zeremoniell 563 . Doch ist die Bedeutung der Kultverbände für die Stammesbildung in frühgeschichtlicher Zeit nicht mehr allzu groß. Seitdem herrschaftliche Formen stärker das Leben der Verfassung bestimmen, sind sie eher eine Sackgasse der Entwicklung 564 . Der T o t e n k u l t erfordert wegen seiner Bedeutung für die prähistorische Methode einen besonderen Hinweis. Als gemeinsame Veranstaltung einer ethnischen Einheit wird er nur dort anzusprechen sein, wo diese ihrem Umfang nach noch nicht weit über den Kreis der eigenen Verwandtschaft hinausreicht. Aber gerade bei wenig entwickelten Wildbeutern, die in ethnischen Gruppen solcher Größenordnung leben und wahrscheinlich auch in der Urzeit lebten, ist es fraglich, wieweit man überhaupt von Totenkult sprechen kann 5 6 5 . In größeren ethnischen Einheiten dürfte der Totenkult — abgesehen vielleicht von der Bestattung des Herrschers — von kleineren verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen und bündischen Gruppen ausgeübt worden sein. War eine solche Einheit aus Splittern verschiedener kultureller Herkunft zusammengewachsen 566 , so konnte sich bei der Zähigkeit derartiger Traditionen 5 6 7 ergeben, daß die verschiedenen Kleingruppen sich 55») V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 4 0 7 . 560) V g l . GREGOR v . TOURS, H i s t . F r a n c . I I 3 5 f f . 5«I) W . EBERHARD, S t a a t e n b i l d u n g M i t t e l a s i e n s , S . 5 3 ;

R.

THURNWALD,

D.

menschl. Gesellsdi. IV, S. 97 (Neu-Guinea); W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 54 ff. (Australien, Papua, Kongo, Seran, Polynesien). 562) W. E. MÜHLMANN, Krieg u. Frieden, S. 55. 5«3)

R . BENEDICT, S.

137.

564) Näheres vgl. unten S. 246 ff. 565)

Vgl. F. J . GLÜCK, S. 134.

566) Auf andere Möglichkeiten werden wir weiter unten eingehen. 567) Noch im 13. Jh. weiß Snorri, daß es vor der Bestattung in Totenhügeln eine „Brandzeit" gegeben hat, die bei den Schweden und Norwegern länger ge-

Totenkult — Schlußfolgerungen

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noch lange in ihrem Bestattungsritus unterschieden, dieser also kein ethnisches Merkmal mehr war. So findet man in griechischen Städten Körperbestattung und Verbrennung nebeneinander 568 . Ähnlich war es in Rom. Auch in Mittel- und Nordeuropa dürften solche Fälle nicht selten gewesen sein 569 . Andererseits gibt es aus der Antike eindeutige Zeugnisse dafür, daß der Bestattungsbrauch ethnisch gebunden blieb 5 7 0 . Es dürfte schwer sein, allgemeine Kriterien zu finden, die eine sichere Entscheidung zuließen, wann diese Möglichkeit gegeben ist. Zusammenfassend läßt sich über die Bedeutung des sprachlich-kulturellen Bereichs für das Stammesleben und die Stammesbildung vorerst nur sagen, daß eine gewisse Gleichartigkeit der kulturellen Grundlage das Aufkommen eines Gefühls der Zusammengehörigkeit begünstigt. Die Kontrastwirkung gegenüber fremdartig und minder«wertig" erscheinenden — manchmal für das Ganze auch belanglosen — Zügen anderer Kulturen führt zur ethnischen Betonung der eigenen Kulturform, wobei es anscheinend von historischen Bedingungen abhängt, an welchen Kulturinhalten sich dieses Bewußtsein orientiert. Die Bildung ethnischer Einheiten kann also nicht p r i m ä r auf kulturellen Voraussetzungen beruhen. Erst bei der Bildung von Kulturvölkern werden diese kulturellen Voraussetzungen zum Anlaß und Anstoß ethnischer Prozesse. 12. E i n i g e

Schlußfolgerungen

Uberblicken wir nun noch einmal die Aspekte des Stammesbewußtseins. Schon jetzt bemerken wir, daß die Möglichkeiten, Veränderungen der ethnischen Verhältnisse zu erklären, erheblich mannigfaltiger sind, als bisher von der germanischen Stammeskunde meist vorausgesetzt wurde. Viele Schlüsse, die man aus den Quellen ziehen zu dürfen glaubte, erscheinen nicht mehr so sicher. Viele Quellenstellen können, manche müssen anders interpretiert werden. Die Ehrlichkeit gebietet uns einzugestehen, daß wir auch hier viel „weniger" wissen, als das 19. Jahrhundert zu wissen glaubte. Als besonders irreführend erwies sich die Übertragung von Denknormen und Begriffen des Nationalismus auf jene frühe Zeit. Ethnisches Denken wirkt zwar vielfach in das moderne Nationalbewußtsein hinein, doch haben wir auf Schritt und Tritt wesentliche Unterschiede feststellen können 5 7 1 . dauert hat als bei den Dänen; vgl. TRATHNIGG, in: Germanien 11 (1939), S. 18; H . KIRCHNER, in: Sociologus N F 4 (1954), S. 78. 568) V . G . CHILDE, Prehist. Migrations, S. 10. 569) Vgl. R . v. USLAR, in: H J b 71 (1952), S. 31. 570) Vgl. DIE von E. NORDEN, Altgermanien, S. 256, angeführten Stellen aus

Thukydides (I 8), Strabo (VII 321) und Varro (b. Dionys. Hai. I 14. 3). 571) s. 63 f., S. 71 f., S. 77, S. 78, S. 82, S. 95.

108

Aspekte des Stammesbegriffs

Die unberechtigte Übertragung nationalistischer Kategorien führte auf der anderen Seite dazu, daß ethnische Bindungen für das Germanentum überhaupt geleugnet wurden. Gerade ausgezeichnete Kenner germanischen Denkens mußten ein an nationalistischen Maßstäben orientiertes Volksbewußtsein für die Germanen ablehnen 572 . Vor allem die Forscher, die von den besonderen isländischen Verhältnissen her urteilten, kamen dadurch zu einer schiefen Auffassung der ethnischen Zustände im Germanien der Frühzeit. Die Historiker haben neuerdings eher Verständnis für die in den Quellen oft nicht unmittelbar sichtbaren emotionalen Regungen des Stammesbewußtseins gezeigt 573 . Als einer Ideologie ist es dem Nationalismus nidit möglich, bestimmte Seiten der Realität erfassen zu können. Eben dieselbe Neigung beobachten wir beim ethnischen Denken. Der Bereich der wahrnehmbaren Erscheinungen ist stark eingeengt. Dies verhindert, daß bestimmte Phänomene, die außerhalb des Denkschemas liegen, überhaupt in das Blickfeld der Aufmerksamkeit treten können. Die Erkenntnis, daß das Denken der Naturvölker viele soziologische Strukturen — selbst eine so einfache wie „Familie" — nicht erfaßt 5 7 4 , läßt uns viele Schlüsse der Philologen, die aus dem Fehlen entsprechender Termini das Fehlen der entsprechenden Institutionen ableiten, in zweifelhaftem Licht erscheinen. Es erweist sich weiter als notwendig, die „Kluft" aufzudecken, die zwischen den tatsächlichen Vorgängen und den Ursprungsmythen und Geschichtslegenden der ethnischen Gemeinschaften selber bestehen 575 . Das kann nicht bedeuten, daß wir in die positivistische Haltung zurückfallen und uns darauf beschränken festzustellen, wie groß der „Wahrheitsgehalt" der Stammesüberlieferungen ist. Wir müssen die Funktion, die diese Traditionen im Stammesleben hatten, stets im Auge behalten. Ihre Denkweise ist bezeichnend für das Selbstverständnis der ethnischen Einheit. Der Dorpater Geograph R. M u c k e hat zwar versucht, in den mythischen Überlieferungen durch den Vergleich mit ethnographischen Erfahrungen das „bloß Gedachte" vom „wahrhaft Tatsächlichen" zu scheiden, doch ist seine Methode, aus dem so gewonnenen Material auf statistischem Wege „d i e" Entstehungsweise der größeren ethnischen Gebilde zu erforschen 576 , ) Vgl. etwa A. HEUSLER, Germanentum, S. 36 f. 678) Vgl. die durchaus zutreffenden Bemerkungen M. LINTZELS, Heinrich I. und die fränkische Königssalbung, S. 47, Anm. 8, und das Buch P. KIRNS, Aus der Frühzeit des Nationalgefühls (1943). " 4 ) Vgl. oben S. 9 f. « « ) W. E. MÜHLMANN, in: Dt. Arbeit 42 (1942), S. 293. Oder ( (slav. ''Ina) zum N a m e n des Inn (Ptol. Alvog) gestellt und als illyrisch angenommen. D a jedoch der N a m e des Inn von K r ä h e seiner Bildung nach zu den alten voreinzelsprachlichen N a m e n gezählt wird 1 9 0 (*Oi-no-s zu idg. "'ei- „gehen"), ist an sich nicht einzusehen, weshalb er nicht auch als germanisch betrachtet werden kann. D a ß der alteuropäische N a m e der Oder ((Actara)191 kein Zeichen der Lautverschiebung aufweist, braucht uns hier nicht zu stören, da der Strom am Unterlauf bei den Germanen anders hieß; Ptolemaios 1 9 2 überliefert uns den N a m e n Suebos {2vijßov gen.). Doch wirkt auch ein „illyrischer" N a m e in dieser Gegend nicht störend. Die Jastorf-Kultur hat an der Odermündung die Lausitzer Kultur abgelöst, die um die Wende der Bronzezeit zur Eisenzeit bis hierher vordrang und wenigstens teilweise von Sprechern zentraleuropäischer Dialekte getragen wurde. Leider kann uns der N a m e nichts darüber aussagen, ob die Sprache dieses Raums mit von der Lautverschiebung erfaßt wurde oder ob seine Bewohner erst nach deren Abschluß germanisiert wurden. Unmittelbar an der Grenze der von H . J . E g g e r s 1 9 3 festgestellten Verbreitung der Jastorf-Kultur in Pommern beginnen jedoch schon Namen, die baltisch oder illyrisch sind: der westlichste davon ist der Ortsname

« 7 ) H . KRÄHE, i n : B z N 8 ( 1 9 5 7 ) , S. 6 f., 21. 188) J . POKORNY, U r g e s c h . , S . 118, nach M . VASMER; R . TRAUTMANN, D i e s l a w i -

schen Ortsnamen Mecklenburgs und Holsteins, 2. Aufl. (Berlin 1950), S. 154. 18») Urgesdi., S. 3. 19«) B z N 1 (1949/50), S. 258 f. "i)

H . KRÄHE, D i e O d e r , S . 2 3 3 f f .

192) II 11,8. I«») Bait. Stud. N F 43 (1955), T . 4 .

177

Elbe — Oder

Paculent, 10 km südlich Greifenhagen, also gerade am Rande des JastorfGebiets. Der Name wurde von R. H o l s t e n 1 9 4 als illyrisdi angesehen. H . K r ä h e folgte diesem Ansatz anfangs 195 , hat sich dann aber trotz der in Brixia in Venetien überlieferten 196 Frauennamenform Pacula für baltische Herkunft ausgesprochen (zu lit. pakulos „Heide, Weg") 197 . Hier im nördlichen Mittelpommern scheint der seit der jüngeren Bronzezeit bis zur Spät-Latenezeit durchgehend belegte Friedhof von Langenhagen, Kr. Saatzig, eine Kontinuität der Besiedlung anzudeuten, die anderwärts im Bereich der Jastorf-Kultur nicht beobachtet wurde. Im Gegenteil, trotz der Annahme, daß die Jastorf-Kultur „im Grunde weiter nichts" ist „als Wessenstedt in Eisen, also eine Fortsetzung bronzezeitlicher Oberlieferung im eisenzeitlichen Rahmen" 198 , schloß S c h w a n t e s gerade aus dem Abbruch der Friedhöfe der Jastorf-Kultur ( = „Jastorf-Störung" 1 ) in Verbindung mit der angeblichen Fundleere im Norden und dem Fundreichtum im Süden sowie der Theorie eines Klimasturzes im Norden 199 auf eine Einwanderung der Träger der Jastorf-Kultur in das Elbgebiet 200 . Da auch die neuerdings immer stärker betonten kulturellen Anregungen aus dem Mittelgebirgsraum 201 und dem Bereich der westlichen spätesten Hallstattumd der Früh-Lat^ne-Kultur 202 bei der Entstehung der Jastorf-Kultur einen durchgängigen Bevölkerungswechsel unwahrscheinlich machen, müssen wir wohl noch andere Gründe für die Jastorf-Störung suchen, die ja keine völlige Unterbrechung der kulturellen Tradition, sondern nur in bestimmten Gebieten eine Umgruppierung der Bevölkerung anzeigt. Im Gegensatz zum östlichen Randgebiet der Jastorf-Kultur — wo wir keine Sicherheit gewinnen können — scheint es im südlichen Grenzraum wenigstens einen Namen zu geben, der sich der Lautverschiebung entzogen hat. Dremse —v Sarre, Kr. Wanzleben ((* Dramisa, zu idg. *drem- „laufen", griech. ÖQÖ/uog „Lauf" usw.)203. Diese Tatsache kann eigentlich nur so gedeutet werden, daß dieses Gebiet 194 ) Illyrische Fluß- und Ortsnamen in Pommern, in: Mtsbll. f. Pomm. Gesch. u. Altertkde. 46 (1932), S. 1—5. 195) Fs. H . Hirt II (1936), S. 576 ff. ««) CIL V 4342. 1«) Altpreußen 8 , 3 (1943), S. 11 f.

198)

G.

SCHWANTES, i n :

Fs.

P.

Reinecke,

S. 1 2 9 ;

vgl.

S. 1 1 9 ,

121 f.;

DERS.,

in:

Köln. Jb. 1 (1955), S. 99. 199) Heute z . T . überholt, vgl. C. A. ALTHIN, in: Niederdt. Mitt. 2 (1946), S. 170, und besonders unten S. 375 f. 20") So noch in: Fs. P. Reinecke, S. 126 f.; in: Köln. Jb. 1 (1955), S. 99. 201) W. A. v. BRUNN, in: Germania 27 (1943), S. 126. 202 ) E. SPROCKHOFF, Methodisches, und künftig E. SANGMEISTER, in: Madrider Mitt. H . 1 (1958). 203) H . KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 57.

Ethnische Verhältnisse Germaniens

178

erst germanisiert wurde, als die Lautverschiebung 204 in den nördlich benachbarten Gebieten schon abgeschlossen war. Wir werden vielleicht diesen einen Beleg, der u. U. nur einer ehemaligen Sprachinsel im Grenzraum seine Existenz verdankt, nicht allzusehr pressen dürfen. Immerhin verstärkt sich das Mißtrauen gegen die Annahme, schon in den Trägern der im voraufgehenden Zeitraum hier blühenden Hausurnen-Gruppe „Germanen" zu sehen 205 , was nur möglich sein würde, wenn die Lautverschiebung in der Zeit der Hallstatt-Kultur schon abgeschlossen worden und diese Gruppe an ihr beteiligt gewesen wäre. Dieses Mißtrauen gilt natürlich erst recht für die Kulturprovinz der jüngeren Bronzezeit, die sich auch schon bis an die mittlere Saale erstreckte und die als Vorläuferin der Jastorf-Kultur gilt 2 0 6 . 3. Außerordentlich schwierig ist unser Vorhaben im westlich anschließenden R a u m b i s z u m R h e i n u n d d e m N o r d r a n d d e r M i t t e l g e b i r g e durchzuführen. Auch in diesem Gebiet durchdrangen sich ähnlich wie im Norden am Ende der Jungsteinzeit die Kulturen der Riesensteingrableute und der Schnurkeramiker (Einzelgrabkultur). Einige Prähistoriker schlössen daraus, daß man auch hier wie im jütisch-südskandinavischen Bereich von dieser Zeit an mit Germanen zu rechnen habe 2 0 7 . Dieser Auffassung traten K . T a c k e n b e r g und H . J a n k u h n entgegen 208 , indem sie darauf hinwiesen, daß sowohl die megalithische Grundlage wie auch das Einzelgrabelement sich von dem des Nordischen Kreises unterschied und daß hier noch zusätzlich einige andere Kulturgruppen beteiligt waren. Dementsprechend bildet der Großteil Niedersachsens in der frühen Bronzezeit eine eigene Kulturprovinz, die sich mehr an die Kultur der süddeutschen Hügelgräber als an die des nordischen Kreises anlehnt. Von der Auffassung M ü l l e n h o f f s ausgehend, der die bis in die Gegend von Bremen und bis zur Leine verbreiteten F l u ß n a m e n a u f -a p a als keltisch ansah 2 0 9 , neigte daher S p r o c k h o f f auch dazu, diese Kulturprovinz als keltisch anzusehen 210 .

204) Wenigstens die der Medien, die nach H . KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 143, vor der der Tenues durchgeführt wurde. 205)

V g l . G . M E R H A R T , i n : G e r m a n i a 2 3 ( 1 9 3 9 ) , S. 1 5 5 fF. u n d R . v . U S L A R ,

in:

H J b 71 (1952), S. 23 f. 206)

Vgl. W .

MATTHES b . R e i n e r t h I , S . 3 1 4 ; W . O .

ASMUS, i n : F s . G .

Schwan-

tes, S. 158. 207) So etwa noch H . SCHROLLER bei Reinerth I (1940), S. 72 f. 208)

K.

TACKENBERG, i n :

Fs. G.

Schwantes,

S. 1 4 3 f . ;

H.

JANKUHN,

Nordwest-

deutschland, S. 231 f.; vgl. E. SCHWARZ, Deutsche Namenforschung II (1950), S. 54. 20») DA I, S. 4 8 6 ; II, S. 192, 204, 219, 227 ff. usw. 210) 31. Ber. R G K . , S. 128 ff.

179

Nordwesten

Schon T a c k e n b e r g 2 1 1 konnte demgegenüber darauf hinweisen, daß die -ijpiZ-Namen sehr umstritten sind 212 , wobei jedoch eine ausschließliche Verbindung mit dem Keltischen heute als überholt gelten kann. Dabei steht eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Wahl: -apa- kann zurückgehen: 1. auf idg. *akuä, aus diesem entweder a) in gallischer Entwicklung zu "'-apa113 b) in oskisch-umbrischer zu *-apa2ii. In beiden Sprachen ist das Wort jedoch nicht belegt, und daher ist dieser Ansatz wenig wahrscheinlich. 2. Auf westidg. *abä, das im Keltischen (ir. ab „Fluß"; daneben Weiterbildungen *abona cymr. afon, bret. auon, gall. Abona) und Lateinischen (in der Weiterbildung amnis *abnis) belegt ist. a) An diesem westidg. Erbe könnte auch das Germanische beteiligt gewesen sein und es zu -apa weitergebildet haben 215 . b) Ein lautlich mögliche Entlehnung aus dem Keltischen 216 lehnt D' i 11 m a i e r 2 1 7 mit anderen ab, da es unwahrscheinlich genannt werden dürfte, daß ein Appellativ mit der Bedeutung „Wasser" oder „Bach" übernommen worden sei. Auch bei einer Entlehnung aus dem Keltischen müßte das Wort der ersten Lautverschiebung unterworfen gewesen sein. 3. D i 11 m a i e r 2 1 8 vertrat ursprünglich die Ansicht, daß aus einem prägermanischen *agvn- über *aqvn zu *apn- (bzw. *agvn- > *abn- ) *apn) 2U) K . TACKENBERG, Zum Ems-Weser-Kreis der Bronzezeit und seinem Urkeltentum, in: Fs. G. Sdiwantes, S. 149. 212) Man vergleiche die Übersichten bei A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 22, S. 2 5 — 3 6 , H . DITTMAIER, Das apa-Problem (Louvain 1955), S. 5 3 — 5 7 , und E . SCWARZ, Die apa-Frage, in: Z H G 67 (1956), S. 9 — 2 2 . 2 1 3 ) Nach H . DITTMAIER, Das apa-Problem, S. 53, vertreten von Hennig, Holder, Stokes, Bezzenberger, Bremer, Solmsen, Marchot.

2") 21

5)

E . SCHWARZ, i n :

Zs. f. M a f . 2 0

J . SCHNETZ, i n : Z s . f . O N f .

(1951/52),

S. 1 9 9 .

1 ( 1 9 2 5 ) , S. 2 1 ;

H.

DITTMAIER, D a s

apa-Pro-

blem, Untersuchung eines westeuropäischen Flußnamentypus (Louvain 1955), S. 54 f., 89; vgl. d. Rez. von E. SCHWARZ, in: B z N 7 (1956), S. 210 f. Dagegen J . POKORNY, Urgesdi., S. 110 f.: gerade im germanischen Kerngebiet fehlt es. Dem Versuch W . KROGMANNS, in: Zs. f. Maf. 21 (1952/53), S. 120, und B z N 3 (1951/52), S. 323 ff., auch in Norwegen das Vorkommen von -apa-Namen zu erweisen, wurde von W. STEINHAUSER, in: Rhein. Vjbll. 20 (1955), S. 28, widersprochen; vgl. H . KRÄHE, in: B z N 4 (1953), S. 38. 21

«)

S o m i t K . MÖLLENHOFF, a a O . ,

A . WALDE - J . B . HOFMANN noch E .

SCHRÖ-

DER, Deutsche Namenkde., S. 137 f. Vgl. H . DITTMAIER, Das apa-Problem, S. 53 f. 2 " ) Vgl. A BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 33 f. 2 « ) Rhein. Vjbll. 14 (1949), S. 230.

180

Ethnische Verhältnisse Germaniens

gewandelt worden sei. Das formantische n führte zum Übergang in die -»-Flexion. Diese komplizierte Annahme wurde weithin abgelehnt und auch von D i t t m a i e r selbst später aufgegeben. 4. Auf Grund des aind. ap- „Wasser", apreuß. ape „kleiner Fluß" und dem Stamm ap- in vielen illyrischen Namen behaupteten J. P o k o r ny 2 1 9 , W. K a s p e r s 2 2 0 und A. K r e b s 2 2 1 einen Zusammenhang mit dem Illyrertum der Urnenfelderkultur 222 , während P. K r e t s c h m e r 223 venetischen Ursprung annahm. K r ä h e hat die -apa-Namen ebenfalls mit dieser Wortsippe verknüpft, zählt jedoch den Grundstode dieser Namen zu den „alteuropäischen" 224 . Da im Keltischen das -p- in -apa hätte schwinden müssen, können die Germanen in diesem Fall das Wort nicht von den Kelten übernommen haben. Aber auch eine kontinuierliche Entwicklung im germanischen Bereich wäre dann unwahrscheinlich, da dann diese Namen auch auf niederdeutschem Boden ein -/- statt des -p- (in Wörpe, Alpe usw.) zeigen müßten. Das Wort sei dann als Lehnwort „Mode" geworden, wie es ähnlich auch sonst in der Geschichte der Namengebung begegnet. Daraus erklären sich die zahlreichen -apa-Namen, deren erstes Glied ein germanisches Wort ist225. Der Einwand, den A. B a c h 2 2 6 gegen ein höheres Alter der -apa-Namen anführt, nämlich daß sie zum allergrößten Teil Zusammensetzungen und nicht Ableitungen seien, sei nicht schwerwiegend, da der Grundstock, von dem die Mode ausging, verhältnismäßig klein gewesen sein kann. Andererseits kann H . K r ä h e auf solche Ableitungen wie die Apance -*• Saone ( < *Ap-antia) 227 und Apsentia/ Aps-antia226 hinweisen. -s-Suffixe sind in Illyrien (Apsus), Litauen (Apsas), Schlesien (Abs), Italien (Apsa Foglia), Frankreich (*Apsa ) Asse) und anderswo belegt229. Der Name der Efze - > Schwalm in 21») MÉLANGES H. PEDERSEN (1937), S. 541—549; Urgesch., S. 110 f. 220) Zs. f. ONf. 2, S. 74; 3, S.61; 16, S. 82; Zs. f. Nf. 18, S. 101 ff. 221) Ebert RL XIV, S. 303. 222) D a g e g e n H . ZEISS, i n : Zs. f . O N f . 3 , S. 6 3 f .

223) Glotta 30, S. 161 ff. 224) Sprache u. Vorzeit, S. 132. 225) Von 135 Bestimmungswörtern glaubt H. Dittmaier 112 als germanisch ansehen zu können, 12 als vorgermanisch (keltisch usw.). Weitere 11 sind zweifelhaft oder undeutbar. 22«) Deutsche Namenkde., II, 22, S. 30. 227) PBB 69, S. 490; allerdings könnte hier auch ein gallisches Gegenstück zu dem

Namen der Echaz -> Neckar (938 Acbaza, 1289 Aechenz { *Aquantia) vorliegen. H . KRÄHE, i n : B z N 4 ( 1 9 5 3 ) , S . 3 7 f .

228) BZN 5 (1954), S. 97. 228) Vgl. weitere Beispiele von H. KRÄHE, in: BzN 5 (1954), S. 97.

Nordwesten

181

Hessen (1267 E f f e s a ) w i r d auf *Apisa zurückgeführt 2 3 0 . Aber auch -nu n d -/-Suffixe scheinen (neben Simplicia) nicht zu fehlen 2 3 1 : Epen b. W i t t e n < Apine 1041 (Holl. Limburg) Epenebocholt 1201 = Bocholt a. d . Aa (Borken Wf.) Appelbach -*• N a h e (893 Apula, A p p u l a ) u. a. D i t t m a i e r meint, daß, da der weit überwiegende Teil der -apaN a m e n jedoch Zusammensetzungen sind u n d die zusammengesetzten N a m e n — wie allgemein angenommen — typologisch jünger sind, a l l e -apa-Namen erst seit der Völkerwanderungszeit entstanden sind. Das l ä ß t sich jedoch nicht beweisen. Gerade unter den wenigen v o n ihm als u n k l a r u n d dunkel bezeichneten Bestimmungswörtern befinden sich einige, die in das System der alteuropäischen H y d r o n o m i e passen: is-232

ï s - , ais-j 233

ar-

germ-234

(das wohl zu einer etwas jüngeren Sdiicht der alteuropäischen Gewässernamen gehört). A n d e r e Bestimmungswörter sind, wenn sie auch im Germanischen weiter lebendig blieben, auch schon in der alteuropäischen Gewässernamengebung a n g e w a n d t w o r d e n : al-235

alis-236

elv-237

war-23*

wis-239

gal-2V>

has-2ii

u n d vielleicht noch andere. Auch u n t e r den von D i t t m a i e r als vorgermanisch bezeichneten Bestimmungswörtern mögen sich ähnliche N a m e n finden (etwa am?)242. D a n n aber gibt es auch außerhalb des germanischen u n d baltischen Bereichs schon viel f r ü h e r Zusammensetzungen mit -apa-. M a n vergleiche MO) Sprache u. Vorzeit, S. 57; vgl. A Bach, Deutsche Namenkde. II, L2, S. 154. »!) Vgl. A. Bach, Deutsche Namenkde. II, l 2 , S. 154; Belege bei H. Dittmaier, Das apa-Problem, S. 13. 232) £) a s apa-Problem, S. 19, § 23 (sechs Beispiele); dazu H. Krähe, Sprache u. Vorzeit, S. 58. 233) S. 14 f., § 9 (sieben Beispiele); vgl. auch er- S. 18, §20 (zwei Beispiele); dazu H. Krähe, Sprache u. Vorzeit, S. 58. S. 27, § 53a; dazu H. Krähe, in: BzN 8 (1957), S. 15 ff. 235) S. 15 f., § 12 (zehn Beispiele). 23«) s. 16 f., § 13 (zehn Beispiele); dazu H. Krähe, Sprache u. Vorzeit, S. 52. 237) S. 18 f., §22; H. Krähe, ebd., S. 58 (*albb-). 238) S. 22, §34; H. Krähe, ebd. 239)

S. 2 4 ,

§44;

H.

Krähe,

in: B z N

4

(1953),

S. 38 f.

240) S. 27, §53; H. Krähe, in: BzN 8 (1957), S. 19 f. 2«) S. 29 f., §65; H. Krähe, in: BzN 4 (1953), S. 231 ff. 2«) S. 15, §11; vgl. H. Krähe, in: BzN 1 (1949/50), S. 258 (Ar-no-s). Vgl. F. Solmsen, Indogermanische Eigennamen, S. 44 (zu ai. arnas „Flut", Strom").

182

Ethnische Verhältnisse Germaniens

die von A. B a c h 2 4 3 angeführten Beispiele Sal-apia (Apulien) 244 , Syrapus (Lukanien), An-apos (Sizilien). Weiterhin läßt sich zeigen, daß die Bestimmungswörter manchmal identisch sind mit dem Stamm des Namens des Flusses, in den sie einmünden, wobei dieser Name eine alte — zuweilen schon in der alteuropäischen Hydronomie produktive — Ableitung aufweist. So mündet die Alpe in die Aller, die Gülpe in die Geule (holl. Limburg) 245 , die Dörpe b. Dürscheid in die Dürscbe {(*Durrisa)2i6. Nur wenn wir das Unwahrscheinliche annehmen, nämlich daß die -apa-Namen mit alteuropäischen Bestimmungswörtern d u r c h w e g sekundäre sind 247 , d. h. das Wort apa erst später zur Verdeutlichung an einfache a- bzw. o-Stämme angefügt wurde, ließen sie sich bagatellisieren. Andererseits wird man bei der von D i 11 m a i e r herausgearbeiteten Verbreitung vielfach mit späterer Übertragung rechnen müssen. Aber gerade bei den außerhalb des Kerngebiets verbreiteten -apa-Namen im Norden begegnen besonders viele alteuropäische Bestimmungswörter, beziehungsweise apa als Simplex und in Ableitungen, was doch auf größeres Alter schließen läßt 2 4 8 . Dennoch ist es unwahrscheinlich, daß diese Namen schon seit alteuropäischer Zeit hier an den Flüssen haften, denn auch in den Gebieten mit rein germanischen Namenbestand zeigt kein -apa-Name ein /, was bei einer Herleitung aus einem vorgermanischen -apa zu erwarten wäre. 5. Die Schwierigkeiten bei der Annahme einer einheitlichen Entstehung der westdeutsch-niederländisch-nordfranzösischen -apa-Namen ließ schließlich die Meinung aufkommen, daß hier mehrere Entwicklungen zusammengeflossen sind 249 . 243) Deutsche Namenkunde II, 22, S. 27. 2 4 4 ) Die Form -apia ist auch unter unseren -apa-Namen verbreitet; A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 12, S. 152, 154.

2«)

Vgl. H .

DITTMAIER, D a s a p a - P r o b l e m ,

S. 2 8 ,

§ 59.

2 « ) ebd., S. 33, § 82; auch Hesepe, S. 29, § 65, Kr. Bersenbrück, dürfte mit dem Namen der Hase zusammenhängen. Es handelt sich also um eine Erscheinung, wie sie auch von H . DITTMAIER, S. 63, erwähnt wurde, wo er benachbarte oder ineinanderfließende Gewässer mit dem gleichen Stammwort aber mit verschiedenen Suffixen aufführt: Röhr - Ruhr ( ( *Rurjö : "'Ru.ro), Wippe -Wipper b. Solingen) ( < *Wipjö : Wipparö), Wende - Wahn (Siegkreis) ( < *Wandjö-*Wandö). 2 4 ?) Wie das etwa bei (1068) Wernapi, wüst bei Essen, Wittlage § 140, S. 44, und bei Wislauf Rems (Wttbg.) § 139, S. 44, von Dittmaier mit Recht angenommen wird, die beide alteuropäische Flußnamen C'Warina und "'Wisila) als erstes Glied zeigen. 2 4 8 ) Von den 23 heute noch vorhandenen Flüssen und Orten mit -apa-Namen im Gebiet der holländischen Provinzen Friesland, Groningen und Drenthe, der Bezirke Aurich, Osnabrück, Oldenburg, Hannover, Stade, Lüneburg und des nördlichen Teils von Hildesheim gehören zu diesen Gruppen allein 14. 2 « ) z . B . J . POKORNY, in: Vox Romanica 10 (1948/49), S . 2 3 0 (westgerm. *ap-,

Nordwesten

183

Dieser Überblick zeigt uns schon, wie bedenklich es war, auf Grund dieser -apa-Namen

die Keltenheimat in Nordwestdeutschland anzunehmen.

Aber auch die weiteren Zeugnisse für die Anwesenheit von Kelten

im

Raum zwischen Rhein und Weser sind im Bereich des Tieflandes sehr zweifelhaft. Was der eine Forscher noch für keltisch hält, verwirft andere, und umgekehrt. Z . B . kann der N a m e der Lippe

(antik

von E . S c h w a r z 2 5 0 noch für keltisch gehalten, nach J .

der

Lup(p)ia),

Pokorny251

wegen der Gruppe -up- nicht keltisch sein, da idg. ku vor oder hinter u entlabialisiert worden wäre. H . K r a h e 2 5 2 zweifelt —

weil eine über-

zeugende Etymologie fehlt — , ob man den Namen einer bestimmten Sprache zuweisen kann 2 5 3 . Allein aus wortgeographischen Gründen entschied sich H . K r ä h e den Glan-Kidien

Nordwestdeutschlands (Glane

Bach - v Hunte, K r . Wittlage; Glaner Bach

Ems b. Münster;

bei

Glane-

Bever, K r . Iburg) für keltische

Herkunft 2 5 4 . Doch schon auf Grund der Belege in Kampanien

zweifelte

er 2 5 5 , ob allein Kelten diesen Flußnamen gebraucht haben. Bedeutsam ist hier jedoch,

daß das Adjektiv glan

„hell, rein, lauter" nicht nur

keltischen Sprachen bekannt ist, wie K r ä h e

aus

annahm, sondern auch im

Germanischen belegt werden kann (norw. glane „hell"), weshalb A. B a c h 2 5 6 in diesen Fällen germanische Herkunft nicht ausschließt. Unzweifelhaft keltisch ist der N a m e des Ortes Medioläviov, den Ptolemaios 2 5 7 rechts des Niederrheins angibt und der vielfach mit Metelen in Westfalen identifiziert wird 2 5 8 . Aber die ptolemäischen Namen dieser Gegend sind, wie das bei ihm benachbarte TsvÖeoiov (heute Tüddern, Kr. Heinsberg), Novaiaiov (Neuß) und 'Aaxtßovpyiov (Asberg b. Mörs) zum größten Teil aus dem Gebiet links des Rheins hinübertransponiert, und so

idg. *ab und ven.-illyr. ap-, idg. *ap); E. SCHWARZ, in: Zs. f. Maf. 20 (1951/52), S. 198 (illyr. -apa kann einheimisches -apa verstärkt haben). 250) Deutsche Namenforschung II, S. 67. 251) Vox Romanica 10 (1948/49), S.231. 252) Sprache u. Vorzeit, S. 129. 253) Etymologien bei S. GUTENBRUNNER, in: Zs. f. celt. Phil. 20, S. 455; W. STEINHAUSER, in: Fs. Kralik, S. 17; H. DITTMAIER, Bergisches Land, S. 153; L . WEISGERBER, i n : R h . V j b l l . 2 3 ( 1 9 5 8 ) , S . 1 5 ; w e i t . L i t . bei A . BACH, D e u t s c h e Namenkde.

I I , 22 ( 1 9 5 4 ) , S . 1 4 6 .

254) Sprache u. Vorzeit, S. 129 f. 255) BzN 1 (1949/50), S. 253. Es ist vielleicht auch bezeichnend, daß im „nie keltischen" Tirol und in Kärnten keine „keltischen" Flußnamen zu finden sind, „außer der Glan". W. STEINHAUSER, Actes 1er Congrès, S. 185. 25») Deutsche Namenkde. II, 22, S. 54. 257) II 11,13. 258) F. SOLMSEN, Indogermanische Eigennamen, S. 81 ; H. KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 126.

184

Ethnische Verhältnisse Germaniens

ist es ziemlich sicher, daß er mit Medioláviov den gleichnamigen Ort bei Geldern (heute Mylen) meinte. Erst südlich der Lippe und in unmittelbarer Nähe des Rheins 259 beginnen sichere Zeugnisse. D i e Embscher

( 9 4 7 Embiscara

gr. ájbupí) u n d Iscara

(Ischer

{ * Ambiscara)

z u g a l l . ambi

(=

ahd.

umbi,

i m E l s a ß ) z u "'¿sc air. esc „ W a s s e r " .

Auch der Name der von Tacitus Ann. I 50 zwischen Ruhr und Lippe bezeugten Caesia silva wird von H. K r ä h e 2 6 0 für keltisch gehalten. Ebenso kann im Gebiet der Niederlande auch rechtsrheinisch mit einzelnen keltischen Flußnamen gerechnet werden 261 , aber für das übrige Tiefland zwischen Rhein und Weser ist eine keltische Grundlage immer unwahrscheinlicher geworden 262 . Nach der herrschenden Meinung soll das nordwestdeutsche Flachland im Laufe der jüngeren Bronzezeit und älteren Eisenzeit durch Germanen besetzt worden sein. Im allgemeinen stellt man sich diesen Vorgang als „Landnahme" vor, wie sie aus der Völkerwanderungszeit bekannt ist. Ungeklärt blieb, ob diese „Landnahme" in menschenleere oder ganz menschenarme Gegenden vorstieß 263 oder ob eine ältere Bevölkerung überschichtet wurde. Zeugen einer kriegerischen Auseinandersetzung fehlen bisher. Ganz allein die alte Urvolkvorstellung von einer kleineren Urheimat, von der aus sich das Volk dann über weite Gebiete ausbreitete, führte zu der Tendenz, ganz bestimmte Kulturströmungen mit einer Expansion gleichzusetzen, die so ganz anderen Charakter zeigt als etwa die der Kelten, die sich „explosionsartig über weite Gebiete verstreuten" 264 und wie später die Germanen zur Völkerwanderungszeit nur einen Teil der eroberten Gebiete kulturell und sprachlich assimilieren konnten. Als Leitformen dieser „urgermanischen" Ausbreitung gelten in der ersten Zeit bestimmte doppelkonische Gefäße 259 ) F. SOLMSEN, aaO. Weiter landeinwärts findet sich nur das schon am Rand des Gebirges gelegene D r e w e r , das Solmsen mit Trebra und Tribur zu acymr. und abret. treb „Dorf, Wohnsitz, Haus" stellt. D a aber die Flußnamen dieser Gegend (Lippe, Pader [?], Ergste) keine verschobenen Laute zeigen, ist diese Zuordnung sehr zweifelhaft. 2 «0) Sprache u. Vorzeit, S. 127. 281 ) z . B . der Name des OviÖQog Ptol. II 1 1 , 1 ; vgl. S. GUTENBRUNNER, in: Fs. H . Hirt II, S. 454. 262 ) Vgl. J. POKORNY, Keltologie, S. 110; A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 22

( 1 9 5 4 ) , S . 3 7 u . 2 7 1 f . ; H . AUBIN, i n : R h e i n . V j b l l . 1 7 ( 1 9 5 2 ) , S . 3 2 2 . 263 ) So etwa J. POKORNY, Urgesch., S. 60 f., der weite Gebiete Nordwestdeutschlands nach Abwanderung der Latiner für menschenleer hält. STAMPFUSS, Diersfordt, S. 36, schloß aus dem Fehlen von Waffenbeigaben und Befestigungen auf die „absolut friedliche" Art dieser Bewegung. Dagegen W. KERSTEN, in: Bonn.

J b b . 148 ( 1 9 4 8 ) , S. 4 3 . 264 ) So von W. KERSTEN ganz richtig herausgestellt, in: Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 72.

Nordwesten — Küstenzone

185

und nordische Rasiermessertypen, späterhin der sogenannte Harpstedter Rauhtopf. D a die Hügel- und Flachgräberfelder der jüngeren Bronzezeit in vielen Fällen ohne Unterbrechung in die frühe Eisenzeit übergehen und der Formenbestand sich nur langsam und ohne Bruch ändert, können wir mit einer gewissen Kontinuität der Bevölkerung seit dieser Zeit rechnen 265 . In die Zeit der Herrschaft dieser Formen muß die erste Lautverschiebung fallen. Wenn wir also mit der oben eingeführten Meinung voraussetzen wollen, daß die Verbreitung der erwähnten Typen der Verbreitung der „Germanen" entspricht, müßten die alteuropäischen und die sonstigen sog. „vorgermanischen" Namen in diesem Raum verschobene Laute zeigen. Prüfen wir nun, wieweit das wirklich zutrifft. a) Die K ü s t e n z o n e von Friesland bis über die Wesermündung hinaus weist keine sicher alteuropäischen Namen auf 2 6 6 , die verschobene Formen zeigen können. D a die Namen der anderen größeren Flüsse jedoch durchweg germanische Formen haben, liegt die Annahme nahe, daß dieses Gebiet im Bereich der Lautverschiebung lag und nicht erst nachträglich germanisiert wurde. Archäologisch ist das Küstenland im Zusammenhang nur in einer Dissertation behandelt worden, die nicht allgemein zugänglich war 2 6 7 . Aus den sonstigen Veröffentlichungen ergibt sich folgendes Bild: Mit Einflüssen aus dem jeweiligen Hinterland 2 6 8 kreuzen sich alte Kulturbeziehungen, die den Raum von Holstein bis Friesland enger zusammenschließen 269 . Auch aus dem Jastorf-Bereich scheinen ziemlich stetig Kulturelemente einzufließen 270 . 2 6 5 ) K. TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 112. 2«6) D i e umstrittenen -¿/»¿-Namen, obwohl z. T. alteuropäischer Herkunft verdächtig, müssen beiseite bleiben, da sie uns nur in einen Zirkel führen. W . PORZIG, Gliederung, S. 207, weist darauf hin, daß erst festzustellen ist, ob -apa eine verschobene oder nicht verschobene Form ist, ehe man seine Herkunft bestimmen kann. Und da wir ja gerade aus verschobenen Formen auf den Umfang des germanischen Sprachgebiets bei Abschluß der Lautverschiebung schließen wollen, sind diese Namen für uns vorerst uninteressant. 2 6 7 ) P. SCHMID, Die vorrömische Eisenzeit in den Nordseemarschen, Diss. Masch. Kiel 1954 (1956), (nicht f. d. Austausch). Vgl. jedodi den Nachtrag. 2 6 8 ) W . D. ASMUS, in: Fs. G. Schwantes, S. 162; auch aus dem Mittelgebirgsraum sind nach W. KERSTEN, in: Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 56, Einströme zu spüren; vgl. oben S. 177. 269) K . TACKENBERG, in: Fs. G. Schwantes, S. 148. Auch im Namenschatz zeigt sich das Gebiet von Holstein bis Flandern, z. T. ohne Verwandtschaft nach Süden hin, verhältnismäßig einheitlich; A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 2 7 2 . 270) Vgl. K. TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 113: Die Ausprägung von Jastorf a-Formen ist schwach, doch gibt es sehr viele Jastorf b-Formen, die denen Osthannovers näher stehen als denen des Wesergebiets. Vgl. W . D. ASMUS, in: Fs. G. Schwantes, S. 161. DERS., S. 164, weist auf einen „Ripdorf-Vorstoß" aus dem gleichen Raum hin.

186

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Möglicherweise wurde auch hier die Lautverschiebung von einem solchen Strom mitgetragen. Daß wir hier kaum mit einer kriegerischen Landnahme schon germanisch sprechender Stämme zu rechnen haben, wird auch dadurch nahegelegt, daß die Siedlungskontinuität — abgesehen von der in diesem Zeitraum sich vollziehenden Besiedlung der Marschen — an einzelnen Stellen seit dem Ende der Bronzezeit bis in die römische Zeit zu verfolgen ist 27 '. b) Der Bereich der N i e n b u r g e r Kulturgruppe erstreckt sich südlich der Unterweser-Aller-Linie bis zur Lößgrenze. Das südhannoversdie Lößgebiet zeichnet sich in der vorchristlichen Eisenzeit durch seine Fundspärlichkeit aus272. Erst in der Zeit um Christi Geburt reihen sich längs des Fernstraßenzuges im Leinetal einige Siedlungen auf 273 . Die Nienburger Kultur wird als „germanisch" bezeichnet, weil einige Friedhöfe dieser Gruppe noch Gräber aus der Zeit um und nach Christi Geburt enthalten, als hier sicher Germanen siedelten274. Einflüsse aus dem Gebiet der Lausitzer Kultur und dem Mittelgebirgsraum haben jedoch wesentlich zur Entstehung der Formen dieser Gruppe beigetragen275. Später sind JastorfFormen auch in diesem Raum zu finden276. Besonders im Osten ist die Durchmischung beider Kulturen ziemlich stark 277 . Früher glaubte man sogar, das Gebiet östlich der Ocker ganz dem Elbkreis zurechnen zu müssen278. Aber auch späterhin erwog man ein Einsickern osthannoverscher Germanen in diesen Raum 279 . Sollte es sich nicht auch hier um einen Kulturstrom gehandelt haben, der möglicherweise die Lautverschiebung mit verbreitete? Wie weit die Lautverschiebung im alteuropäischen Namengut durchdrang, läßt sich nicht eindeutig im ganzen Raum bestimmen. Die Hauptflüsse, die Weser280 und Aller261, haben alteuropäische Namen, die keine 271) in die 2'2) 273) 274)

275)

In Logabirum b. Leer gehen die Gräberfelder sogar von der Steinzeit bis Eisenzeit durch; vgl. H . JANKUHN, Nordwestdeutschland, S. 232. K . TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 113, 117. R . v. USLAR, Westgermanische Bodenfunde, S. 176. K . TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 116 f. K.

TACKENBERG,

Frühe

Eisenzeit,

S. 1 1 2 f . ;

vgl.

W. A.

v.

BRUNN,

in:

Germania 27 (1943), S. 126. 2 '6) Aber auch umgekehrt ist ein Kulturstrom aus dem Braunschweiger Raum in den Jastorf-Bereich festzustellen; G. SCHWANTES, in: Nadir. Bl. Nieders. Vorgesch. 2, S. 6 f. 277) K . TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 114. 278) G. KOSSINNA, Ursprung u. Verbreitung der G e r m a n e n . . . , S. 26 ff.; dagegen K . TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 116. 279) K . TACKENBERG, Frühe Eisenzeit, S. 114; R . v. USLAR, in: Marburger Studien, S. 2 5 1 . 280) H .

KRÄHE, in: B z N

281) Vgl. oben S. 176.

4

(1953),

S. 3 8 f.

187

Nordwesten — Nienburger Gruppe

brauchbaren lautlichen Kriterien zeigen. Im stärker besiedelten Teil des östlichen Gebietes stehen uns vorerst ebenfalls keine alten Namen zur Verfügung, die uns etwas aussagen könnten 282 . Der der Nienburger Kultur benachbarte Ausläufer der „Thüringischen Kultur" im Nordostharzgebiet 283 scheint jedenfalls erst germanisiert worden zu sein, als die Lautverschiebung abgeschlossen war. Der Name der Luppbode Bode dürfte unverschobene Tenuis zeigen, da er wohl von dem Namen der Lippe, Luppe, Luppnitz u. a. nicht zu trennen ist. Das Grundwort der Namen der Holtemme-Holzemme (1050 Holtemna) -Flüsse stellen W. S t e i n h a u s e r 284 und E. S c h w a r z 285 zu lat. amnis { *abnis als Zeugnis einer früheren Herrschaft westidg. Dialekte, deren Sprecher zum Teil in Italien zu Italikern wurden. Im Westen des Nienburger Gebiets führt die Hunte einen germanischen Namen, ohne daß man über dessen Alter etwas aussagen könnte. Da aber das westelbische Nord-Niedersachsen auch in seinem westlichen Teil kaum vorgermanische Namenspuren aufweist 286 , dürfte das Gebiet im Bereich der Lautverschiebung gelegen haben. Das Leinetal weist dagegen eine beträchtliche Anzahl alteuropäisch und vorgermanisch erscheinender Namen auf. Der Name der Leine (9. Jh. Lagina, Lagena) selbst wurde früher mit dem der Lahn (Logana) zusammengestellt und für keltisch gehalten 287 , später jedoch aus dem Germanischen gedeutet 288 . Dann müssen beide Namen getrennt werden 289 . Hält man aber an der Verbindung fest, müßte der Name nach H. K r a h e290 von der Lautverschiebung unberührt geblieben sein, was ihm fraglich erscheint. Eine gewisse Stütze erhält jedoch diese Ansicht, wenn man andere Namen dieses Gebiets vergleicht. !82 ) Die beiden Flüsse Erse —>- Fuhse u. z. Peine sind die einzigen mit alteuropäischen Namen in diesem Bereich. Nicht illyrisch oder protillyrisch wie

J. POKORNY, Urgesch., S. 127, u n d W . STEINHAUSER, in: Fs. K r a l i k , S. 17; H . KRÄHE, in: Fs. M . V a s m e r , S. 2 4 6 .

vgl.

283) VGL. Karte 1 bei M. CLAUS, Die Thüringische Kultur der älteren Eisenzeit (Jena o. J.) (1942). 284) Fs. Kralik, S. 17. «85) Zs. f. Maf. 20 (1951/52), S. 199; dagegen H . DITTMAIER, Das apa-Problem, S. 61, Anm. 6: Wahrscheinlich bedeutet der Name einfach „Waldebene" (as. *ebnl, *emne); dort auch weitere Etymologien (Seelmann, E. Schröder). 286) A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 2« (1954), S. 277. 287) K . MÖLLENHOFF, D A

II,

S. 2 3 2 f . ; E . SCHRÖDER, D e u t s c h e

Namenkde.

(21944), S. 181. 288) R .

MUCH, in: A f d A

37,

S.

77;

F.

MENTZ,

in:

Zs.

f.

ONf.

10,

S.

88;

J. POKORNY, Indogerm. etym. Wb., S. 653; E.SCHWARZ, D e u t s d i e N a m e n f o r s d i . i l , S. 6 6 f . ; A . BACH, D e u t s c h e N a m e n k u n d e

I I , 22 ( 1 9 5 4 ) , S. 2 7 7 .

28») H . KRÄHE, in: Rhein. Vjbll. 20 (1955), S. 5. 280) ebd., S. 7.

Ethnische Verhältnisse Germaniens

188

Die Dramtne — L e i n e bei Göttingen zeigt wie die verwandte Dremse bei Magdeburg unversdiobenen Anlaut 2 9 1 . Die Oder -*• Rhume kann in eine alteuropäische Typenreihe gehören, die die idg. Wurzel *oudb- aufweist. Diese w u r d e sowohl illyrisch wie germanisch zu aud-292. Das urgermanische au- ist dann in altsädisischer Entwicklung zu 5 geworden. Bereits K. M ü l l e n h o f f 2 9 3 erwähnt bei Gandersheim eine Adrana. Diese Angabe wird von F. S o 1 m s e n 294 wiederholt, ohne daß Belege angegeben werden. H . K r ä h e stellt diese angebliche Adrana mit der Adrana/ Adrine = Eder in Hessen zusammen 295 . Offensichtlich ist dieses jedoch der alte N a m e der Gande, der als Aeterne (1013), Ederna, Ethrine, Eterne (Zeit unbestimmt) belegt ist 296 . Sollte der N a m e tatsädilidi mit der der Eder (alte Formen Adrana [Tac. ann. I 56], Aderna 778, Adrina 9. Jh., Adarna usw.) identisch sein 297 , könnte hier die Lautverschiebung erkennbar sein. Gehört der N a m e jedoch zu idg. *oid- „schwellen" 298 , würde er zu einem noch in der Völkerwanderungszeit lebendigen Flußnamen-Typ gehören u n d hier ausscheiden müssen. H . K u h n hat auf eine Namengruppe hingewiesen, die, vielfach deutlich indogermanisch, ein altes P im Anlaut erhalten haben soll (F1N Pader, Pagel, Pander, Pisser; O N Peetzen, Peine ( Pagina [vgl. verschoben Takina zu fak „Wehr"], Plesse, Powe, Pye), wie auch viele der Herkunft nach dunkle Wortstämme der Germanen, die aus einer Unterschicht a u f steigend, von der ältesten Dichtung fast ganz gemieden werden 2 9 9 . Sie liegen meist südlich des Lößrandes oder doch nicht weit nördlich davon. Neben dem schon vorher f ü r illyrisch gehaltenen Segeste (1019 Segaste, 1022 Segusti), Kr. Alfeld, hat H . K u h n weitere N a m e n dieser Gegend mit -«-Suffix zu einer vorgermanischen Namenschicht gerechnet 300 . Von 2»i) H. KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 57; vgl. oben S. 177. 292) H . KRÄHE, i n : B Z N 7 (1956), S. 2 2 0 f . 2

»3) DA II, S. 2 1 6 . ) Indogermanische Eigennamen, S. 49. 2 ">5) BzN 1 (1949/50), S. 255.

294

29

«) F . WITT, S. 2 0 6 f., 217, 192.

20?) So H. KRÄHE, Die Oder und die Eder, in: Fs. Debrunner (1954), S. 239. ÜOE) H. KRÄHE, in: BzN 7 (1956), S. 105—116. 299) Das deutet auf ein fremdes, aber nichtkeltisches Substrat. Niederschrift über die Verhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung in Kleve vom 28. bis 31. Oktober 1956 (Bonn 1957), S. 14 f. H. KUHN hat auch darauf aufmerksam gemacht, daß die -antia-Namen im ganzen Raum zwischen Main — Mosel im Süden und Aller im Norden fehlen. (H. Dittmaier vermutet jedoch im Namen E r k e l e n z , Reg.-Bez. Aachen, eine -antia-Bildung.) 300) S e g e s t e hielten bereits J. POKORNY, Urgesch., S. 127, und W. STEINHAUSER, in: Fs. Kralik, S. 17, für illyrisch. H. KUHN (wie Anm. 299) weist auf

Nordwesten — Nienburger Gruppe

189

diesen ist Idista-viso, weil etymologisch unklar301, für uns unsicher, während Leveste bei Hannover germanische Lauterscheinungen zeigen könnte (vgl. thrak. Libistos). Der Name der Harste (Kr. Göttingen, 952/3, 1020 Heristi u. ä.) aus * Herls ta/Heristia mit der Nebenform Harista geht auf vorgerm. ''Karista/ Korista zurück und zeigt verschobenen Anlaut 302 . Zu den alten, von einigen auch als illyrisch303 angesehenen Namen, gehört der der Innerste (1013 Indrista), der zu einer weitverbreiteten Namensippe gehört, die H. K r a h e 304 kürzlich behandelte. Er scheint von der Lautverschiebung unberührt zu sein. Ihr Nebenfluß, die Nette, die einen verhältnismäßig jungen Namen trägt 305 , scheint früher Ambra oder Amber geheißen zu haben, da ihr Tal früher Ambergawe, Ambergo, Ambrago, Ambergau genannt wurde 306 . Der Name, gewöhnlich für keltisch gehalten307, begegnet auch in eindeutig nichtkeltischen Gebieten308, z. B. bei Perugia. Nichts nötigt daher, ihn hier für Kelten reservieren zu müssen309. W. S t e i n h a u s e r 3 1 0 vermutet in der Eime (1221 Emna) wie in der Holtemme311 einen jener westidg. Namen, deren Grundwort im Lateinischen vertreten ist. drei Segesta und zwei Segestica (in Slovenien, Venetien, Ligurien, Spanien und Sizilien) hin, die als „ P a r a d e f ä l l e " für die weite V e r b r e i t u n g illyrischer O r t s namen gelten. Auch S e e s t e im Osnabrücksdien und (wahrscheinlich) Z e i s t b. U t r e d i t sowie den Personennamen des Cheruskers S e g e s t e s stellt K u h n in diesen Zusammenhang. M . SCHÖNFELD, W b . , S. 2 0 1 , deutet Segestes allerdings aus dem Germanischen. H . K u h n hält einen engen Zusammenhang dieser N a m e n im N o r d w e s t e n mit der großen „illyrisdien" G r u p p e im Süden (nördlichster N a m e J a g s t ( J a g i s t a in W ü r t t e m b e r g ) für gesichert. H . KRÄHE, in B z N 10 ( 1 9 5 9 ) , S. 13 f., betont für diese N a m e n ebenfalls den Zusammenhang mit den südeuropäischen, lehnt jedoch wohl mit Recht ihre Kennzeichnung als „illyrisch" ab. J a g s t gehört nach ihm nicht zu diesen N a m e n . 301) D I E Grimmsche E m e n d a t i o n in *Idisiaviso ist umstritten; vgl. J . DE V R I E S , Altgerm. Religionsgesch. I 2 , S. 3 2 2 m. L i t . , A n m . 5 u. 6. F . K a u f f m a n n vermutet in Idistauiso das gleiche G r u n d w o r t wie in Deistergebirge. »02)

H.

803)

J . P O K O R N Y , U r g e s c h . , S . 1 2 7 ; W . STEINHAUSER, i n : F s . K r a l i k , S . 1 7 .

KRÄHE,

in: B z N

10

(1959),

304)

BZN

sos)

H.

306)

Vgl.

7 ( 1 9 5 6 ) , S. 1 1 5 — 1 1 6 ;

KRÄHE, in:

BzN

F. WITT,

S. 22.

7

S. 11 f.

BzN

(1956),

10 (1959), S. 3.

S. 7 f.

307) S o noch H . DITTMAIER, D a s a p a - P r o b l e m , S. 4 5 . 308) VGL. j . POKORNY, Urgesch., S. 9 9 . E r hält den N a m e n für kelto-illyrisch, also allgemein zentraleuropäisch. 30») D i e Belege bei F . WITT, S. 2 2 f., zeigen die N a m e n bis in Bereiche hinein, die eindeutig der J a s t o r f - K u l t u r angehören. A u d i die G l e n e —v Leine ( K r . A l f e l d ) k a n n nach dem oben, S. 183, Gesagten nicht mehr d a f ü r angeführt werden. 3io) Fs. K r a l i k , S . 17. 3 « ) Siehe oben S. 187.

190

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Diese Namen finden wir sämtlich südlidi der Lößgrenze, also außerhalb des Hauptverbreitungsgebiets der Nienburger Gruppe. Nördlich der Lößgrenze begegnen uns außer einigen unklaren Namen (darunter die -apaNamen) fast nur germanische Namen (z. B. Fuhse) und alteuropäische Namen, die keine einzelsprachlichen Sonderzüge erkennen lassen. Es sieht so aus, als ob das Leinetal nicht mehr in seiner ganzen Ausdehnung von der Lautverschiebung erfaßt wurde, sondern daß diese Bewegung unmittelbar südlich der Lößgrenze auslief, wobei nördlich von ihr einzelne abgelegene Gegenden beim vorgermanischen Lautstand verharrt sein mögen312. Den Namen der Oker (747 Ovacra, 748 Obacra, 775 Ovacrus, korrekter 1128 Ovakara) stellt H. Krahe 312a als Ov-akara lautverschoben zu Agara (805), dem Namen der Eger. Ob dieser Name allerdings in dieser Gegend noch von der Lautverschiebung erfaßt wurde, ist nach ihm jedoch nur in größerem Zusammenhang zu beantworten. c) Das n ö r d l i c h e W e s t f a l e n und das E m s l a n d soll, wie angeblich das Vordringen des doppelkegelförmigen Gefäßtyps und der bronzezeitlichen Rasiermesser nordischer Form erweisen, bereits in der frühesten Eisenzeit (Periode V der nordischen Bronzezeit — Beginn Hallstattzeit C) zum großen Teil auf Kosten der niederrheinischen Grabhügelkultur „germanisch" geworden sein313. Das westlichste Grab dieser Art ist bei Bislich (Kr. Rees) gefunden worden314. Im Süden liegt der gesamte Lauf 3 1 2 ) H. KUHN (wie Anm. 299; S. 15) weist auf die bezeichnende Lage der Orte mit vorgermanischen Namen hin. „Im größten Teil des Untersuchungsgebiets liegen die meisten von ihnen nicht in den offenen, zugänglichsten und begehrtesten Strichen, sondern abseits und geschützt, in Bergtälern und auf Inseln im Moorland, da aber oft in kleinen Gruppen." Kuhn rechnet auch hier mit einer Eroberung durch Germanen, wobei sich diese mit der Besetzung der besten Strecken begnügten, während die Vorbevölkerung abseits noch lange in ihrem alten Volkstum fortgelebt habe. Man könnte genausogut daran denken, daß sich die Lautverschiebung nördlich der Lößgrenze eben nur bei dem in günstiger Lage siedelnden Adel und seinem Anhang aufgrund seiner außerstammlichen Verbindungen durchgesetzt hat, während die abgelegenen Gebiete erst zu der modernen Sprachform übergingen, als der Prozeß der Veränderungen schon abgeschlossen war. Dem scheint nicht zu widersprechen, daß einige der Namen im Gesichtskreis von (vorgermanischen?) Burgen liegen. Leveste bei der Gehrdener Burg kann sogar im Lautstand germanischen Einfluß andeuten, und das nicht namentlich aufgeführte Beispiel im Gesichtskreis der Syburg (wohl Ergeste) liegt ohnehin südlich der letzten Vorkommen verschobener alter Namen. Andererseits deutet die Tatsache, daß auch die Namen mancher Stämme, Gaue und Dingstätten vorgermanisch sind, eher auf eine Akkulturation als eine politische Überschichtung. Südlich der Vorkommen verschobener Namen, also vom mittleren Leinetal ab, wird man allerdings doch Eroberung in Betracht ziehen müssen.

312a) B Z N 10 ( 1 9 5 9 ) , S . 8 f .

313) H. HOFFMANN, in: Westfäl. Forsch. 2 (1939), S. 260 ff.; W. KERSTEN, in: Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 39, 43, 72; K.TACKENBERG, in: Fs. G. Schwantes, S. 148. 314) W. KERSTEN, in: Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 39.

Nordwesten — Westfalen und Emsland

191

der Lippe nodi im Bereich dieser Formen, und auch Niederhessen wird ncxh von ihnen erfaßt 3 1 5 . Die Verbreitung der Rauhtöpfe unterscheidet sich in diesem Raum davon nicht wesentlich 316 . Der umschriebene Raum weist eine ganze Anzahl vorgermanischer N a men auf. Die meisten alteuropäischen Namen (z. B. Ems ( Amisia, Alme (-*• Lippe u. -*• Exter) ( Almana, Ahse, alt Arsene { *Arsana317, Aar { * Ära mehrfach u. a.) enthalten keine uns interessierenden Laute. N u r die Hase (8. Jh. Hasa) gehört — möglicherweise — in alteuropäische Zusammenhänge 318 und zeigt verschobene alte Tenuis (idg. '-'kas- „grau"). Die Nethe -*• Weser (Kr. Höxter, der an ihr gelegene Gau: 940 Netga, 1032 Netega, 965 Nithega) gehört wohl zu den voreinzelsprachlichen Flußnamen, die verschobene Media zeigen (zu -'neiden „fließt, strömt", vgl. Nidda, Nied)™. Dagegen zeigt der Flußname *Drenus (1278: apud Stenvorde super Drenum = Drensteinfurt, Kr. Lüdinghausen) 320 , der einen alteuropäischen Eindruck macht 321 , keine Anzeichen der Verschiebung. Ganz verschieden verhalten sich auch die anderen als vorgermanisch angesehenen Namen der Südhälfte dieses Raumes. Der Name der Lippe322 verrät kein Anzeichen germanischer Lautverschiebung. Dasselbe gilt auch für eine Lippe, deren Name 1358 f ü r einen heute anders benannten Zufluß der Niese in Lippe belegt ist 323 . Für die Seeste bei Westerkappeln (Kr. Tecklenburg, 1129 Segest(en)) gilt das oben 324 f ü r Segeste Gesagte. Wenn die Pader (9. Jh. Patra, Pathera, Patris u. ä.) mit H . K r a h e 325 zu Padua und Padu-sa gestellt wird, ergeben sich einige Schwierigkeiten, da die anlautende Tenuis nicht, wohl aber die inlautende Media in den frühen Belegen verschoben scheint. N u n könnte man annehmen, daß diese Gegend germanisiert wurde, als die Medienverschiebung noch nicht durchgeführt war. Aber nach H . K r ä h e ist ja gerade die Verschiebung der Tenues 315) 316) 3") 318) 3i») 320) 321) 322 )

Vgl. B e h a g h e l , Eisenzeit, Karte 2 (HC). ebd., Karte 3 (HD). H. K r ä h e , in: Fs. M. Vasmer, S. 246. H . Krähe, in: B z N 4 ( 1 9 5 3 ) , S . 2 3 1 ff. H. K r ä h e , in: B z N 1 (1949/50), S. 248 ff.; in: B z N 7 (1956), S. 6. Vgl. F. W i t t , S.218. Vgl. H. K r ä h e , in: B z N 1 (1949/50), S.258; in: B z N 4 (1953), S. 110 ff. Vgl. oben S. 183 und A. B a c h , Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 46.

323) F. WITT, S.219.

324) s. 188. 325) B z N 7 (1956), S. 111; H. K u h n (wie Anm. 299), S. 15; vgl. oben S. 188 E. S c h w a r z , in: Verh. hist. Ver. Obpf. 93 (1952), S. 29.

192

Ethnische Verhältnisse Germaniens

als der letzte „Akt" der Lautverschiebung anzusehen 326 . Nach der herrschenden Meinung 327 ist allerdings die Medienverschiebung der letzte „Akt" der Lautverschiebung. K r ä h e führt als Beleg für seine Meinung gall. ambaktos an, das in das Germanische entlehnt wurde und in seinen Formen (z. B. ahd. ambaht) zeigt, daß b nicht mehr zu p, wohl aber noch k zu % (h) verschoben wurde. Demgegenüber könnte man vielleicht anführen, daß nach J . P o k o r n y 3 2 8 schon im Keltischen k vor t zu ^ geworden ist. (In Spanien erscheinen kelt. ambaktus (= amba/tos) und Rejtugenos als ambatus und Rhetogenes). Der von Ptolemaios II 11, 13 zwischen oberer Ems und Weser angesetzte 329 Ortsname &EV}> Dnjestr ( < germ. Marabwa). Auch der Dnjestr trug nadi dem Zeugnis der Tabula Peutingeriana einen germanischen Namen: Agalingusus. 435

) Audi die Abs Bober bei Landeshut dürfte keine Ausnahme sein. Obwohl eine -io-Bildung zu idg. *ap- „Wasser" (H. KRÄHE, in: B z N 5 [1954], S. 97), zeigt das Verhältnis des litauischen Flußnamens Apsuona zu seiner slavisdien Form Obsona, daß dieser Übergang von p ) b in slavisdiem Munde vollzogen sein kann. 436) Germanen u. Slawen in Ostdeutschland in alter Zeit, in: Namn og bygd 21 (1933), S. 113—137. Vgl. E. SCHWARZ, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, S. 35; DERS., Deutsche Namenforsch. II, S. 96; DERS., German. Stammeskde., S. 50. 437 ) J. POKORNY (nadi M. Vasmer), Urgesdi., S. 5. 438 ) J. POKORNY, Urgesch., S. 3: zu dakisch kwa „Wasser". 439 ) E. SCHWARZ, Deutsche Namenforsch. II, S. 96. 440 ) Die gelegentlich auftauchende Verbindung mit dem Namen der Chorvaten (vgl. O. BREMER, Ethnographie, S. 28 [762], nach R. HEINZEL, Über die Hervararsage, Wien 1887, S. 85) wird von E. SCHWARZ, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, S. 33, aus lautlichen Gründen zurückgewiesen. 441 ) VÄCLAV POLÄK verteidigte diese Ansicht von J. Rozwadowski, in: Slovenska r e i 8 ( 1 9 4 1 ) , S. 1 5 1 — 1 5 3

g e g e n J . MARTINKA, e b d . 8 ( 1 9 4 0 ) , S.

442

) Vgl. zuletzt K. TREIMER, Ethnogenese der Slaven, S. 38.

443

)

J. ROZWADOWSKI, i n : R o c z n i k s l a w . 6 ( 1 9 1 3 ) , S. 53 ff.

444) Nach K. TREIMER, Ethnogenese, S. 38, zu germ. Fulda.

107—109.

206

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Schließlich wird in jener Gegend bereits von Ptolemaios 446 noch ein wahrscheinlich germanischer Ortsname überliefert: Ovißavravagiov, den R. M u c h 447 als Ort eines vielleicht bastarnischen Stammes der *Vibantvarii ( = Bewohner der zwei Gaue, ähnlich wie die Tubantes im Westen) erklärt. Angesichts dieser Zeugnisse können wir die Skepsis von E. D i c k e n m a n n 4 4 8 nicht teilen, der die von R o z w a d o w s k i als germanisch bezeichneten Flußnamen San, Stynawa, Skrwa u. a. als dakisch ansehen will, obwohl er anerkennt, daß R o z w a d o w s k i s Deutungen formal einwandfrei und z.T. auch semantisch befriedigend sind. Er begründet seine Meinung damit, daß ein Beweis für einen längeren Aufenthalt von Skiren, Bastarnen und Goten in „Westrußland" nicht erbracht sei. Nun werden aber doch Bastarnen bereits spätestens zu Anfang des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts an der unteren Donau erwähnt 449 , und noch die Tabula Peutingeriana bezeichnen die Karpaten als Alpes Bastarnicae450. Wir müssen also mit einer mehrhundertjährigen Anwesenheit von Bastarnen hier rechnen, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß Daker neben ihnen ebenfalls nördlich der Karpaten gesiedelt haben müssen. Kontakte mit den Dakern können auch einige Lehnworte bezeugen: Hanf < thrak. Kavvaßig und got. paida „Hemd" altbair. pfeit < ßaizt]

„Hirtenrodk" 451 .

Die Ausbreitung der Gesichtsurnenkultur bis in die Ukraine hinein wird von Prähistorikern und ihnen folgend auch von Sprachwissenschaftlern452 als Vorstoß der B a s t a r n e n an die untere Donau gedeutet. Nach dem, was wir oben 453 sagten, können wir nur die Bedenken von R. v. U s 1 a r s454 gegen diese Auffassung nachdrücklich unterstreichen. Nicht nur die bereits von ihm 455 angeführten neueren Fundzusammenhänge zwischen späten Gesichtsurnen und Spätlateneformen sprechen gegen einen restlosen Abzug der Träger dieser Kultur nach Süden, sondern auch die Beobachtungen H . J. E g g e r s für die Mittellat^nezeit in Pommern 456 . Wenn wir aber auch 445) M. VASMER, Die alten Bevölkerungsverhältnisse Rußlands, S. 8, hält den Namen für gotisch; R. MUCH, Stammsitze, S. 38, weist darauf hin, daß die Tab. Peut. in jenem Bereich noch keine Goten kennt. 4«)

III

6. 1 5 .

bei HOOFS I I I , S. 3 8 9 .

448) ß z N 6 ( 1 9 5 5 ) , S . 2 6 1 f .

449) V g l . E . SCHWARZ, S t a m m e s k d e . , S . 4 7 .

450) Weitere historische Zeugnisse bei E. SCHWARZ, Stammeskde., S. 51. T.E.KARSTEN, Germanen, S. 98; E.SCHWARZ, in: Saeculum 4 (1953), S. 26. 452

)

z . B . E . SCHWARZ, S t a m m e s k d e . ,

S. 4 9 .

«3) s. 21 f. und 204. 454) HJb. 71 (1952), S. 30. Übrigens hielt schon P. REINECKE, in: Germania 19 (1935), S. 348, die Gesichtsurnenkultur für veneto-illyrisdi. «5) Nach W. A.V.BRUNN, in: Germania 26 (1942), S. 68; K.TACKENBERG, in: Bonn. Jbb. 146 (1941), S. 203. ««) Balt. Stud. N F 43 (1955), S. 16.

Bastarnen

207

einerseits eine unmittelbare Gleichsetzung

von

Gesichtsurnenkultur

und

Bastarnen ablehnen, braucht andererseits die erwähnte Südbewegung der Gesichtsurnenkultur nicht ohne Zusammenhang mit dem ersten Germanenzug zum Pontus zu sein. Wenn wir die beiden K a r t e n von

Petersen

Abb. 181 und 18 2 4 5 7 miteinander vergleichen, springt die fast völlige Identität der Stoßrichtung der „Bastarnenfunde" (d. h. der angeblich mit der Gesichtsurnenkultur in Verbindung stehenden vorgotischen

Brandgräber-

gruppe am unteren Dnjepr) mit der der Skirenfunde (d. h. der germanischen" Tackenberg

Funde,

Kronenhaisringe

u. a.)

in

die

Augen.

„west-

Die

von

entdeckten ukrainischen Tongefäße elbgermanischer

Art

wurden von W . M a t t h e s 4 5 8 als Zeugnisse für die Teilnahme von Sueben am Zug der Bastarnen und Skiren betrachtet, während E .

Petersen459

sie den Skiren selbst zuschreiben will, v o r allem wohl, weil in nächster N ä h e des alten Olbia selbst Funde ähnlicher A r t von M . E b e r t zutage gefördert wurden 4 6 0 . Schließlich hat man neuerdings eine Fundgruppe aus dem Anfang der Spätlatenezeit in der mittleren und nördlichen Moldau herausgearbeitet, für die nach R . H a c h m a n n

direkte Anschlußmöglich-

keiten mit brandenburgischem Fundgut bestehen 4 6 1 . Hachmann hat zwar aus chronologischen Gründen die Zuweisung dieser Funde an die Bastarnen durch R . V u 1 p e 4 6 2 abgelehnt, da der Stamm ja schon am Ende des 3. Jahrhunderts v. C h r .

an

der unteren

Donau

erscheint,

doch

deuten

diese Fundzusammenhänge zweifellos auf dauernde Verbindung m i t dem Kernraum

der Sueben bis in das 1. vorchristliche J a h r h u n d e r t

hinein.

W i r werden auch nicht jeden Fund in diesen Räumen, der elbgermanische Züge

aufweist,

den

Skiren oder Bastarnen

zuweisen

scheint die Ausbreitungstendenz dieser Kulturelemente

«?)

bei REINERTH I I I , S. 8 7 1 b z w .

«8)

bei REINERTH I , S . 3 2 3 .

««) 4

«°)

4ei

464

können463,

doch

irgendwie im Zu-

875.

bei REINERTH I I I , S. 9 2 4 ff. E . PETERSEN bei REINERTH I I I , S. 9 2 7 .

) Jastorf-Funde außerhalb der Jastorfkultur, in: Die Kunde N. F. 8 (1957),

S. 7 7 — 9 2 .

HACHMANN findet j e d o c h in d e n v o n A . AGDE,

in: Mannus 30

(1938),

S. 2 0 3 ff., E . P E T E R S E N , i n : M a n n u s 2 4 ( 1 9 3 2 ) , S. 1 6 6 ff., u n d K.TACKENBERG,

in:

Mannus 22 (1930) veröffentlichten Funden nur wenig wirkliches Jastorf-Fundgut. 462) Le problème des Bastarnes à la lumière des descouverts archéologiques en Moldavie (Bukarest 1955). 463) Vgl. di e Übersicht über die Auffassungen zur Zarubinzy-Kultur von E. STURMS, in: Zs. f. Ostf. 2 (1953), S. 424—432. R. STAMPFUSS, Germanen in der Ukraine, in: Germanen-Erbe VII (1942), S. 131 f., kehrt ebenfalls zu der ursprünglichen Ansicht Kossinnas zurück, der die Bastarnen zuerst für Westgermanen hielt. 464) Vgl. G. SCHWANTES, in: Fs. P. Reinecke, S. 125. Man könnte als Arbeitshypothese vorschlagen, in der aus Gesichtsurnentradition und Jastorf-Einflüssen ent-

208

Ethnische Verhältnisse Germaniens

sammenhang mit dem ersten Vorstoß suebisdier Völkerschaften, zu denen wir auch Bastarnen und Skiren rechnen, zu stehen. Einen weiteren — sehr wesentlichen — Anhalt für die Herkunft der germanischen Komponente des Mischvolks der Bastarnen können wir darin erblicken, daß wir aus dem Kreis der Pergamenischen Schule des 2. oder 1. Jahrhunderts v. Chr. einen Marmorkopf besitzen, der an seiner Haartracht mit dem typischen Suebenknoten als Darstellung eines Germanen zu erkennen ist. E r wird als „verwundeter Bastarne" bezeichnet, angeblich weil die Griechen nur mit diesem Volke damals Bekanntschaft gemacht hatten 4 6 5 . Diese Auffassung wird bekräftigt durch die Darstellungen bastarnischer Gefangener auf dem Denkmal von Adamklissi in der Dobrudscha, die — gleichgültig welcher Datierung wir folgen 4 6 6 — zeigen, daß suebische Haartracht noch Jahrhunderte nach ihrer Auswanderung zum Pontus bewahrt blieb. Schließlich erwähnt auch Strabon zweimal Sueben in der Nachbarschaft der Geten 4 6 7 . Gewöhnlich versteht man unter diesen Sueben die Markomannen und Quaden 4 6 8 . Aber Angehörige dieser Stämme sind erst durch die AnSiedlung der Gefolgschaften des Marbod und Catwalda in das Land östlich der March gelangt 469 , und das geschah erst nach Strabons Tod. In die Nachbarschaft von eigentlichen Geten gelangten sie selbst dann noch nicht 470 . Nur bastarnisch-skirische Gruppen sind damals in getischer Nachbarschaft nachzuweisen 471 . Als die Skiren und Bastarnen am Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. im Pontusgebiet auftauchten, muß ihre Abwanderung aus Germanien schon einige Zeit zurückgelegen haben. Zur Zeit des Aufbruchs dürfte die Laut-

standenen Kaul witzer Gruppe in Schlesien jenes Mischvolk zu vermuten, das den Namen Bastarnen von unvermisdit gebliebenen Sueben ( = Skiren) erhielt. Mehr als eine Möglichkeit ist dies jedoch auch nicht. 4 6 5 ) L. SCHMIDT, Ostgerm. I 2 , S. 9 6 ; S. GUTENBRUNNER, Germ. Frühzeit, S. 9 1 ; E. PETERSEN bei Reinerth III, S. 9 3 7 ; vgl. E. SCHWARZ, Stammeskde., S. 47. Ganz überzeugt dieses Argument nicht, denn in der sog. Protogenesinschrift von Olbia werden bereits für das 3. J h . Skiren erwähnt; vgl. FIEBIGER-SCHMIDT, Inschriflensammlg. zur Gesch. der Ostgermanen (1917), S. 1. 466) S. GUTENBRUNNER, Germ. Frühzeit, S. 9 ; L.SCHMIDT, Ostgerm. I 2 , S. 9 3 ; E . PETERSEN b e i R e i n e r t h I I I , S . 9 3 7 .

4«7) V I I , S. 290 (VII 1 . 3 ) und V I I , S. 294 f. ( V I I 3. 1). 4 «8) So etwa F. FRAHM, in: Klio 23 (1930), S. 194 u. passim. 4 8 8 j Vgl. E . SCHWARZ, Über das Reich des Vannius, in: Sudeta S. 1 4 5 — 1 5 5 ;

DERS., S t a m m e s k d e . , S . 1 6 5 ;

J.KLOSE,

S. 9 5 m . w e i t . L i t . ;

7 (1931), L.SCHMIDT,

Westgermanen I 2 , S. 158. 4 ™) Vgl. Strabon V I I , S. 304 ( V I I 3. 12); Strabon faßt hier allerdings unter dem Namen Geten die am Pontus wohnenden eigentlichen Geten und die gegen Germanien hin sitzenden Daker zusammen. 471) Vgl. auch oben S. 21 f. über weitere Hinweise auf das Suebentum der Bastarnen.

Bastarnen — Germ. „Urheimat"

209

Verschiebung noch nicht abgeschlossen gewesen sein, sonst wären die oben erwähnten Zeichen germanischen Lautwandels kaum erklärlich. Sie muß andererseits bereits eingeleitet gewesen sein, denn ohne diese Voraussetzung wäre eine gleichgerichtete Lautänderung nach der Trennung über mehrere hundert Kilometer ebenfalls schlecht vorstellbar. Damit haben wir den Umkreis der von der germanischen Lautverschiebung erfaßten Gebiete abgeschritten und gleichzeitig den Raum der germanischen „Urheimat" umgrenzt — wenn wir überhaupt dieses W o r t in solchem Zusammenhang gebrauchen können. E r erstreckt sich vom Odergebiet im Osten bis zu den Rheinmündungen im Westen und von der Lößgrenze im Süden bis Mittelskandinavien, wobei einzelne Vorposten im Wesergebiet weiter südwärts reichen. Es ist dabei verhältnismäßig belanglos, ob der eine Raum innerhalb dieses Gebietes früher vom Sprachwandel erfaßt wurde als der andere. Die einzelnen „Akte" dieses Vorgangs braudien an sich auch nicht das gleiche Ausgangsgebiet gehabt zu haben. Immerhin scheint deutlich geworden zu sein, daß dem U r sprungsgebiet der Jastorf-Kultur eine erhöhte Bedeutung zukommt 4 7 2 . Durch die erste Lautverschiebung hob sich das jetzt urgermanisch sprechende Gebiet von den Nachbarlandschaften stärker ab als vorher. Damit war eine größere Wahrscheinlichkeit erreicht, daß sich ethnische Wertungen, die über die kleine Stammesgemeinschaft hinausgingen, an einer Sprachgrenze orientieren konnten und daß sich eine ethnisch betonte Kulturgrenze als Vorstufe eines — durch ein umfassendes ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl verbundenen — Stammesgefüges herauszubilden vermochte. Wir sind nun in der glücklichen Lage, diesen Prozeß wenigstens andeutungsweise fassen zu können. An zwei Stellen des urgermanischen Grenzlandes ergab sich die Notwendigkeit, die Gesamtheit der fremdsprachigen oder fremdartigen Nachbarn mit einer Kollektivbezeichnung zu versehen, die den Abstand zu den nun ethnisch gewerteten Sonderzügen der eigenen Sprache und Sitte festlegen sollte. Wie vielfach in solchen Fällen ist auch hier jeweils der Name eines Nachbarstammes auf die übrigen als fremd empfundenen Nachbarn und die „hinter" diesen Wohnenden übertragen worden, wobei es bezeichnenderweise nicht darauf an472) G. SCHMANTES, in: Fs. K . H . Jacob-Friesen (1956), S. 205, hält die JastorfEinflüsse außerhalb des Kerngebiets „vom Rhein bis nach Schlesien" für so bedeutend, daß er glaubt, „von einer Jastorf-Zivilisation des gesamten Germanengebiets unter Einschluß von Dänemark und Skandinavien sprechen" zu dürfen. Man wird abzuwarten haben, wieweit sich diese Auffassung durchsetzen kann. Auf alle Fälle wird man auch hier nicht die Grenzen des Ausbreitungsgebiets der Jastorf-Formen mit den Grenzen des germanischen Sprachgebiets unmittelbar gleichsetzen dürfen.

210

Ethnische Verhältnisse Germaniens

kam, nun auch diese Nachbarn nach ethnischen Kriterien der Zeit, nach, der Spradie usw. zusammenzufassen, sondern ursprünglich wurden a l l e Nachbarn, soweit ihre Fremdartigkeit auffiel und sie im Blickfeld lagen, mit e i n e m Namen bezeichnet (vgl. die Polarität Hellenen : Barbaren). 2. D i e

Volcae

Die Stämme, die zuerst durch ihre Fremdartigkeit Anlaß zu bewußtem Absetzen gaben, waren die sogenannten „ F i n n e n " , die V e n e t e r und die keltischen V o l c a e . Der Name der letzteren und seine Bedeutungsgeschiichte wurde von L. W e i s g e r b e r ausführlich behandelt 473 . Der Name der Volcae wurde in germanischem Munde zu *Walhöz und ist also von der Lautverschiebung noch betroffen worden. Diese Tatsache besagt jedoch noch nicht, daß auch die Übertragung des Stammesnamens der Volcae auf die anderen Fremdstämme im Süden schon in so früher Zeit stattgefunden haben muß 474 . Immerhin kann dieser Vorgang schon in sehr alter Zeit angesetzt werden; er muß mindestens eingeleitet worden sein, als dieser Stamm noch in der Nähe der Germanen saß. Die Theorie W e i s g e r b e r s475, daß erst mit dem Zurückgehen des Einflusses der Volcae ihr Name eine gewisse „Bewegungsfreiheit" gewann und so die Voraussetzung für die Übertragung geschaffen wurde, scheint uns an gewissen ethnopsychologischen Erfahrungen vorbeizusehen. Einmal werden gerade zur Zeit des größten Einflusses eines Stammes Randgruppen am ehesten geneigt sein, sich diesem zuzuordnen. Es handelt sich dabei um die weitverbreitete Erscheinung der sogenannten „pseudologischen Gleichsetzung" 476 . Andererseits zeigt der in dieser Hinsicht eindeutige Namensatz bei Tacitus Germania c. 2, daß auch auf der Gegenseite der Name des mächtigsten Stammes zum Namen der Gruppe werden konnte, obwohl allerdings auch Fälle bekannt sind, wo nur die engere räumliche Nachbarschaft ausschlaggebend war. T. E. K a r s t e n 477 und S. G u t e n b r u n n e r 478 glauben auf Grund der ersten Erwähnungen im südlichen und östlichen Landnahmegebiet der Kelten, daß die Volcae Tectosages etwa um 300 v. Chr. ihre Heimat ver-

47S ) Walhisk. Die geschichtliche Leistung des Wortes Welsch, zuerst in: Rhein. Vjbll. 13, S. 87—146, hier zitiert nach dem Neuabdrudi in: Deutsch als Volksname (Stuttgart 1953), S. 155—232. 474 ) Wie das etwa E. NORDEN, Urgesch., S. 408, annimmt; vgl. L. WEISGERBER, Walhisk, S. 169 f., Anm. 23. «5) Walhisk, S. 170. ««) s. S. 78 f. 477 ) Germanen, S. 96. «8) Germ. Frühzeit, S. 131.

Volcae

211

ließen. Freilich ist es sehr fraglich, ob es sich um eine Totalabwanderung gehandelt hat. Caesar 479 ist der letzte, der etwas über Volcae in germanischer Nachbarschaft erwähnt, aber bereits die Anführung des Eratosthenes und anderer Graeci als Gewährsmänner deutet an, daß es sich hier um eine Nachricht handelt, die den Zustand einer früheren Zeit wiedergibt 480 . Andererseits gibt es einen Hinweis, daß bereits zu Caesars Zeit der Name der Volcae umfassendere Bedeutung erhalten hatte 481 . L. W e i s g e r b e r 4 8 2 weist mit Recht darauf hin, daß der Volcae-Name nicht bei allen Germanen als Sammelname für alle Kelten (der sdion frühzeitig auch die Römer miteinbezog) gegolten haben dürfte; dem Gotischen und seinen nächsten Verwandten z. B. sdieint der Begriff ungeläufig gewesen zu sein. Da erhebt sich die Frage: von welcher Stelle des germanischen Gebiets ist die Ausweitung des keltischen Stammesnamens auf die Fremdsprachigen im Süden ausgegangen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir versuchen, den Siedelraum der Volcae in der germanischen Nachbarschaft etwas genauer zu erfassen. In der bisherigen Literatur findet man darüber die verschiedensten Ansichten. Für Westdeutschland entschied sich S. G u t e n b r u n n e r 4 8 3 , für das Mainland und Hessen M ü l l e n h o f f 484 , für das Obermaingebiet F. K a u f f m a n n 4 8 5 , Th. S t e c h e 4 8 6 , W. S t e i n h a u s e r 487 und E. S c h w a r z 488 , für Nordböhmen § i m e k 489 , für Mähren-Schlesien K. Zeoiß 4 9 0 , R. M u c h 4 9 1 , O. B r e m e r 4 9 2 , M. J a h n 4 9 3 und R. P i 1 1 i o n i 4 9 4 , für Oberdeutschland L. W e i s g e r b e r 4 9 5 . Um hier einer Entscheidung näherzukommen, müssen wir zunächst die Gebiete ken*-!») b. G. V I 24. 4 8 0 ) Das weist mit überzeugenden Gründen L. WEISGERBER, Walhisk, S. 165 ff., nach. L . WEISGERBER, W a l h i s k , S . 1 7 2 f . , bei den Ubiern nicht viel über 5°/O. Umgekehrt steigt

Niederrhein jungen

-acum-Namen

mehr

ganz

redit zahlreich

sind.

J . d e V r i e s w o l l t e ein keltisches S u b s t r a t i m R h e i n m ü n d u n g s g e b i e t

sogar

vereinzelt

vor501,

k o m m e n im während

sie n o d i

Reg.-Bez.

213

im

Düsseldorf

Ubiergebiet

nur

v ö l l i g l e u g n e n 5 0 2 . M i t i h m w i l l auch L . S c h m i d t 5 0 3 keltische w i e Noviomagus,

Lugdunum

Ortsnamen

u . a . nicht als B e w e i s a n e r k e n n e n , d a sie v o n

d e n N a c h b a r n o d e r v o n d e r z u g e w a n d e r t e n gallischen H ä n d l e r b e v ö l k e r u n g a u s g e g a n g e n seien. D a m i t d ü r f t e e r v i e l l e i c h t e t w a s z u w e i t g e g a n g e n sein. Sicher ist j e d o c h , d a ß a l l e keltischen N a m e n

nördlich der Mosel

T y p e n anzugehören scheinen504. D i e älteren N a m e n Keltengebiet

der

Iberischen

Halbinsel

überwiegen

R ö m e r z e i t p r o d u k t i v blieben, l a u f e n m i t Boudobriga dobriga

(Bupprich Reg.-Bez. Trier)

im N o r d e n

jüngeren

a u f - b r i g a 5 0 5 , die und

dort

bis

in

(Boppard) und

aus506.

Wäre

der

im die Bau-

Nieder-

der römisch-mittelländisdie A n t e i l v o n 5 0 % bei den M e d i o m a t r i k e r n über 60°/o bei den T r e v e r e r n a u f e t w a 80°/o bei U b i e r n und K u g e r n e r n . D e r Anteil germanischer N a m e n ist bei den M e d i o m a t r i k e r n gleich N u l l , bei den T r e v e r e r n audh noch unbedeutend, bei U b i e r n und Kugernern liegt er unter 5°/o und steigt bei den T u n g r e r n auf vielleicht 20°/o. D i e weder keltischen noch römisch-mittelländischen N a m e n zählen bei den M e d i o m a t r i k e r n e t w a 16%>. T r o t z des stärkeren römisch-mittelländischen Einschlages steigt der A n t e i l dieser N a m e n bei T r e v e r e r n und T u n g r e r n a u f mehr als 20°/o, um im Gebiet der K u g e r n e r und U b i e r auf höchstens 15°/o abzusinken. 5»i) V g l . die K a r t e bei A . BACH, Deutsche N a m e n k d e . I I , 22 ( 1 9 5 4 ) , S. 66. 502) D e hypothese van het keltische Substraat, i n : Tijdschr. v. N e d e r l . T a a l - en Letterkde. 5 0 ( 1 9 3 1 ) , S. 181 ff.; vgl. dagegen S . GUTENBRUNNER, i n : Zs. f. celt. Phil. 2 0 ( 1 9 3 6 ) , S. 4 4 8 — 4 6 6 .

608) Westgerm. I I * , S. 148 f . B04) D i e Mosel als K u l t u r g r e n z e jener Zeit stellt F . TISCHLER, i n : Saeculum 5 ( 1 9 5 4 ) , S. 3 9 2 , heraus. so«) V g l . A.BACH, Deutsche N a m e n k d e . I I , 22 ( 1 9 5 4 ) , S . 4 8 ; H . R i x , Z u r V e r breitung und C h r o n o l o g i e einiger keltischer O r t s n a m e n t y p e n , i n : Fs. P . Goessler ( 1 9 5 4 ) , S. 9 9 — 1 0 7 , bes. S. 1 0 4 f . 506) Dieser Unterschied zwischen der keltischen N a m e n g e b u n g am Niederrhein und in Spanien scheint die zweite der beiden Möglichkeiten, die J . POKORNY, K e l tologie, S. 124, für die Abkunft der Goidelen erwägt, auszuschalten. Es dürfte j e t z t wenig wahrscheinlich sein, d a ß die v o n P o k o r n y in Spanien angenommenen Goidelen, wie auch die in I r l a n d , letztlich von demselben R a u m am Niederrhein ausgegangen sind. Abgesehen davon, d a ß es nach J . WHATMOUGH, i n : Language 27 ( 1 9 5 1 ) , S. 5 7 4 , in Spanien nichts gibt, was Q-keltisch sein m u ß , finden sich bis j e t z t keine S p ä t h a l l s t a t t - F r ü h l a t e n e - S i e d l u n g e n in I r l a n d , wie man es erwarten müßte, wenn die E x p a n s i o n gleichzeitig nach beiden R ä u m e n hin stattgefunden haben sollte. Vgl. H . HENCKEN, S. 12. Seine Darlegungen S. 7 ff. über die M ö g lichkeiten einer Zuordnung k o n t i n e n t a l e r archäologischer Einströme mit den W a n derungswellen der K e l t e n nach den Britischen Inseln zeigen, d a ß eine Entsdieidung über den Zeitraum, in dem I r l a n d keltisiert wurde, heute noch nicht möglich ist. Sicher scheint nur, d a ß unmittelbar a u f Verbindungen zum K o n t i n e n t deutende Funde anscheinend erst f ü r recht späte Zeit bezeugt sind. V g l . E . M . JOPE, A dec o r a t e d sword-scabbard f r o m the river B a n n a t T o o m e , i n : Ulster J o u r n a l o f

Ethnische Verhältnisse Germaniens

214

rhein in der Hallstattzeit schon keltisch gewesen, sollten hier diese Namen nicht fehlen. Nach der schriftlichen Überlieferung ist es jedoch ziemlich -wahrscheinlich, daß die Keltengrenze im Norden zur Zeit des Pytheas im 4. Jh. v. Chr. etwa in der Gegend des Oude Rijn zu suchen war 5 0 7 . In dieselbe Zeit versetzt nun die Urgeschiditsforschung auch die ältesten Lat^ne-Funde am Niederrhein, die einem jüngeren Abschnitt der Frühlat^nezeit zugesprochen werden 5 0 8 . Der keltische Einfluß mag über die jüngere Hunsrück-Eifel-Kultur Archeology III. Ser. 17 (1955), S. 90. H. HENCKEN, S. 13, sind diese Funde allerdings zu spärlich, um eine größere Einwanderung anzeigen zu können. Andererseits ist es durchaus wahrscheinlich, daß Beziehungen zum Küstengebiet der Nordsee bestanden haben. — Aber auch die besonders in England verbreitete Ansicht, daß die aus dem niederrheinischen Raum hergeleitete Eisenzeit-A-Bevölkerung Britanniens sicher keltisch war, wird vielleicht modifiziert werden müssen. Wie in Irland fallen auch in England die -¿nga-Namen, die so kennzeichnend für die seit der Hallstattzeit bzw. seit dem Übergang von der Hallstatt- zur Latenezeit in Spanien (vgl. T. G. E. POWELL, The Celts, S. 48) siedelnden Kelten sind, völlig aus (H. Rix, in: Fs. P. Goessler, S. 104). T. G. E. POWELL sagt (The Celts, S. 56) vorsichtiger von der Eisenzeit-A-Bevölkerung, „einige, wenn nicht alle" seien Kelten gewesen. Nun wird man nicht leugnen können, daß vielleicht schon in der Hallstattzeit Kelten an den Niederrhein gelangt sind (wie etwa CH. PESCHECK, Späthallstättische Kulturströmungen, S. 178, u. a. annahmen); die Masse der Bevölkerung haben sie schwerlich ausgemacht. T. G. E. POWELL (The Celts, S. 17) versucht zwar den sprachlichen Gegengründen auszuweichen, indem er den Begriff Kelten nicht auf die Keltischsprechenden einengen und ihn im eigentlich „ethnologischen" Sinne verstanden wissen will. Das kann doch nur heißen, daß er darunter entweder alle jene Gruppen subsumieren möchte, die von der antiken Ethnographie als Kelten bezeichnet wurden, oder aber jene, die sich selbst als Kelten verstanden. Im ersten Falle müßte er sicher germanische Stämme, die von der griechischen Ethnographie fast durchweg als Kelten (oder Galater) bezeichnet werden (vgl. F. FRAHM, in: Klio 23 [1930], S. 182 ff.), dazu rechnen, was ihm bestimmt fernliegt. Andererseits müßte er die Völker Britanniens und Irlands, für die nach seiner eigenen Aussage (S. 17 f.) kein Zeugnis spricht, daß sie jemals selbst diesen Namen benützten, aus seiner Betrachtung streichen. Sie sind zu Kelten ja erst durch den von ihm abgelehnten concept of academic thought aufgrund ihrer Sprache geworden. Es geht jedoch nicht an, die Gesichtspunkte zu vermengen und alles das zum Keltentum zu rechnen, was sich unter irgendeinem von mehreren Gesichtspunkten dazu rechnen läßt. 507

)

S . GUTENBRUNNER,

Germ.

Frühzeit,

S. 6 4 f.

(vgl. S. 50)

mit

K . MÜLLEN-

HOPF, in: DA I, S. 480; E. SCHWARZ, Stammeskde., S. 43. Alle anderen Zeugnisse sind weit zweifelhafter. Wenn sich C. A. R. RADFORD, Contributions to a Study of the Belgae, in: Proc. Prehist. Soc. 2 1 ( 1 9 5 5 ) , S. 2 5 2 , auf Avieni Ora maritima (129—135) beruft, die Quellen aus der Zeit vor 530 v. Chr. benutzt und nach der das Gebiet nördlich der Oestrimnides (Breton. Inseln) den „Ligurern" von den Kelten abgenommen sein soll, so kann diese Nachricht nicht ohne weiteres auch auf das Rheinmündungsgebiet übertragen werden. 508) W . KERSTEN, i n : B o n n . J b b .

148

(1948), S. 59. W . D E H N , in: Trier. Zs. 2 0

(1951), S. 42, hält auch die Latene-Fürstengräber im Räume derHunsrück-Eifel-Kultur für Zeugen einer keltischen Uberschichtung, was den philologischen Ergebnissen

Niederrhein

215

und die Marnekultur noch verstärkt worden sein, dennoch kann man von einer vollen Eingliederung in den als keltisch angesehenen Lat^ne-Kulturbereich kaum sprechen 509 . Frühzeitig dürfte der politische Einfluß wieder zurückgedrängt worden sein. Die von Timagenes über Ammianus Marcellinus 510 überlieferte druidische Tradition berichtet von der Herkunft der Gallier, daß sie z. T. eingesessen, z. T. über den Rhein herbeigezogen seien und z. T. ab insulis extimis herstammten. Man hat in diesen Inseln gewöhnlich die Inseln der Rheinmündungsarme gesehen 511 . Die britischen Inseln, von wo die Druidenreligion stammen soll 512 , schalten wohl aus, weil noch in Caesars Zeit die Wanderungsbewegung hier in umgekehrter Richtung verlief. Setzen wir jedoch die Keltisierung des Niederrheins erst in die LatfeneZeit, wird es unwahrscheinlich, daß die Germanen erst nach ihnen in dieser Gegend Fuß faßten. Aus Strabon I, 4, 3 scheint hervorzugehen, daß bereits zur Zeit des Pytheas der Name des Rheinstroms seine keltische Form Renos hatte, die aus altem *Reinos entstanden war. Seine germanische Form (ahd. Rin) kann jedoth nicht aus dem keltischen Renos, sondern ebenfalls nur aus dem voreinzelsprachlichen *Reinos entstanden sein. Waren die Germanen Neueinwanderer an den Ufern des Niederrheins, müssen sie den Namen von einer nichtkeltischen Vorbevölkerung übernommen haben, entweder noch mit idg. ei, das dann in ihrem Munde zu t geworden wäre, oder bereits in der Form Rln, da damit gerechnet wird, daß auch andere westidg. Sprachen den Wandel ei ) i durchgeführt haben 513 . Möglich ist aber, daß ein Teil der (noch) nichtkeltisierten BevölL. Weisgerbers durchaus entspricht. Vgl. F. TAEGER, Römer u. Germanen im Rheinland, in: Hess. Jb. f. LG. 7 (1957), S. 2 : Treverer und Mediomatriker erst sekundär keltisiert. W . JUNGANDREAS, in: Trier. 2 s . 22 (1953), S. 12, glaubt, daß eine Stammesgruppe, zu der er neben den später keltischen Treverern auch die später germanischen Brukterer und Tenkterer rechnet, durch die germanische Lautverschiebung, die nur von einem Teil dieser Stämme mitgemadit wurde, sprachlich gespalten wurde, wobei etwa gleichzeitig das Treverisdie vom Keltischen überlagert wurde. Vgl. H . KOETHE, in: Rhein. Vjbll. 9 (1939), S. 16; W . DEHN, K a t a log Kreuznach, S. 126, erwog ebenfalls, ob die Fürstengrabsitte von einer Herrensdiicht nur angenommen sein könnte. SO») W . KERSTEN, in: Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 56. 5»0) X V 4. 9. 5 1 1 ) O.BREMER, Ethnographie, S. 38 f. (772 f.); S. GUTENBRUNNER, Germ. Frühzeit, S. 98. Caesar b. G. VI 13. 11. 513) Vg]. oben S. 196; nebeneinander bestehende keltisch-germanische Doppelformen in diesem Raum sind auch sonst noch angenommen worden. L. WEISGERBER weist in: Bonn. Jbb. 154 (1954), S. 98, auf die Parallele Coriovallum : Heerlen C'HariafwallJ) hin. Diese Lautänderung hätte nadi ihm eine spätere Germanisierung nicht mehr herbeiführen können. Vgl. L. WEISGERBER, in: Rhein. Vjbll. 23 (1958), S. 46.

Ethnische Verhältnisse Germaniens

216

kerung am Niederrhein auch die anderen germanischen Sprachwandlungen mitvollzog und so zu Germanen wurde 5 1 4 . Einen Teil der Prähistoriker irritiert nun die Tatsache, daß sowohl von ihnen als audi seitens der Sprachwissenschaftler niditgermanischer rechnet werden

Bevölkerung muß,

obwohl

mit nichtkeltischer und

in diesem und in anderen Räumen keine anderen „Volksnamen"

ge-

überliefert

werden. So wundert sich etwa K e r s t e n 5 1 5 darüber, daß weder Caesar noch andere Quellen etwas von „Illyriern" im Westen wissen. H i e r wird deutlich, zu welch irrigen Vorstellungen es führen kann, wenn die einzelnen Dialekte und Sprachen mit ethnischen Einheiten gleichgesetzt werden, ist doch sogar die Gesamtbezeichnung „Illyrier" auf die Bevölkerung des Nordwestbalkans erst von Außenstehenden auf Grund des Namens eines ganz kleinen Stammes übertragen worden. Es ist sehr fraglich, ob

die

„illyrisch" oder „venetisch" sprechenden Stämme Mitteleuropas überhaupt eine eigene Gesamtbezeichnung für ihre Sprachgruppe besaßen. U n t e r den Stammesnamen dieser Gegend dürften sich jedoch solche erhalten haben, die ursprünglich weder keltisch noch germanisch sprechende Gruppen bezeichneten. So können etwa die belgischen Menapii

einen nicht-

keltischen Namen tragen 5 1 6 . Sie hatten zu Caesars Zeit — als sie bereits lange keltisiert waren — noch einen Streifen rechtsrheinischen Landes in Besitz 5 1 7 . I m Laufe der Zeit wurden sie jedoch über die Scheide gedrängt. O b man jedoch die Belgae

insgesamt mit O . B r e m e r noch im 3. oder

4. J h . v. Chr. rechts des Rheines ansetzen kann 5 1 8 , muß bezweifelt wer5 " ) Träfe die Vermutung L. WEISGERBERS (Bonn. Jbb. 154 [1954], S. 98 zu, daß Heerlen etymologisch Coriovallum fortsetzt, und sollte dieses Coriovallum nur aus dem Keltischen zu erklären sein, so könnte man annehmen, daß zu Germanen werdende Bevölkerung am Niederrhein ihre Tenues nodi während der Keltenzeit veränderte oder daß bereits Germanen den keltischen Namen in ihre Sprache „übersetzten". Da aber auch der umgekehrte Weg möglich — obwohl weniger wahrscheinlich — ist, können wir Sicherheit nicht gewinnen. WEISGERBER hat später (vgl. die Anm. 299 genannte Niederschrift S. 18) auf eine weitere vorgermanisch-germanische Doppelform dieses Raumes hingewiesen. Beim heutigen Ort Herwen ist ein Grabstein gefunden worden, der als römerzeitlichen Namen dieses Ortes Carvium bezeugt, c ( = k) in Carvium muß altes idg. k sein oder aus idg. g in germ. k gewandelt sein. Das h in Heeren zeigt regelrechten Lautwandel aus idg. k. Das führt zu dem Schluß, daß entweder Doppelformen aus der Zeit vor der Lautverschiebung vorhanden waren oder daß eine Benennung des Ortes von zwei Seiten aus vorliegt. Die Spuren der Lautverschiebung sind auf jeden Fall unverkennbar. Vgl. L. WEISGERBER, in: Rhein. Vjbll. 23 (1958), S. 47. 615) Bonn. Jbb. 148 (1948), S. 73.

516)

V g l . J . POKORNY,

Keltologie,

S. 1 4 3 ;

W . STEINHAUSER, i n :

Anz.

d. A k .

d.

Wiss. W i e n phil.-hist. K l . ( 1 9 4 0 ) , S . 6 1 — 8 6 . Vgl. H . v . PETRIKOVITS, i n : Fs. O x e , S. 2 2 2 .

5 " ) b.G. IV 4 . 1 , 2 ; Strabon IV 3. 5.

„Illyrer" — Menapii — Belgae

217

den. Es ist fraglich, ob die bei Mela III 5. 36 nach Eratosthenes in Sitzen südlich von Thüle erwähnten Scythici populi fere omnes in unum Belcae adpellati mit den Belgae gleichgesetzt werden können. S. G u t e n b r u n n e r 519 verbindet z. B. den Namen Belcae mit dem einer bei Plinius n. h. IV 95 aus Xenophon von Lampsakos überlieferten riesigen Insel Baicia. Der zweifelhafte Wert der Caesar-Nachricht b. G. II 4 , 2 (Plerosque Belgae esse ortos a Germanis Rhenumque antiquitus traductos) . . . ) ist von E. N o r d e n 5 2 0 herausgestellt worden. Es wird wohl nie sicher abzuschätzen sein, ein wie großer Teil der Beigen aus rechtsrheinischem Gebiet stammte. Bei einzelnen Stämmen wie den Nerviern 5 2 1 und Aduatukern wird man sogar mit einem eigentlich germanischen Einschlag rechnen können. Doch dürften unter den Skythen, die die Überlieferung aus Pytheas 5 2 2 «8) Ethnographie, S. 39 f. (773 f.) m. Anm. 3. Unter den Prähistorikern findet sich heute die Neigung, Funde, die sich nicht mehr mit gutem Gewissen als keltisch bezeichnen lassen, den Beigen zuzuschreiben (vgl. etwa die nach K. Tackenberg gezeichnete Karte bei A.BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 [1954], S. 4 m. Anmerkung). «1») Germ. Frühzeit, S. 73. 520) Urgesch., S. 353 ff. 521 ) Das legen die Flußnamen-Verhältnisse im Scheidegebiet (vgl. oben S. 198) nahe. Dazu treten noch einige Personennamen, die möglicherweise germanische Lautgestalt haben: C I L X I I I 8340 das erste Glied des Vaternamens eines cives (N)ervius namens Vellango Haldavvon(i)s (filius) (E. NORDEN, Urgesch., S. 373). M. SCHÖNFELD, WB, S. 125, hält den Namen der Wortbildung nach für „wohl keltisch". L.WEIGERBER, in: Ann. hist. Ver. Niederrh. 155/156 (1954), S. 47—61, der die aus dem Altertum überlieferten Namen mit der Gemination in der Endung untersucht hat, fand in diesen etymologisch Germanisches, Keltisches und Vorkeltisches, wobei anscheinend ein Akzentprinzip auf alle Schichten übergegriffen hat, das von keinem der historischen Einschläge aus ableitbar ist. Bonn. Jbb. 154 (1954), S. 112, setzt er Haldavvo dann als germanisch voraus. Unter Drusus fochten Nervier unter einem Chumstinctus (Liv. Ep. 141), dessen Name einen nichtkeltischen Anlaut aufweist. Man wird daher der Nachricht Strabons, der sie (IV 3.4 S. 194) als reQfiavMÖv e&vo; bezeichnet, einen wahren Kern zubilligen können (E. N O R D E N , Urgesch., S. 372 ff.). Dagegen hat R . M U C H , Die Germania des Tacitus, S. 264 f., sicher recht, wenn er die Angabe Tac. Germ, c. 28 — Treveri et Nervii circa affectationem Germanicae originis ultra ambitiosi sunt — in bezug auf die nichtbelgischen Treverer als Mißverständnis der oben erwähnten Strabonstelle ansieht. In der britischen und irischen Forschung wird das Keltentum der Beigen zu sehr als ursprünglich betrachtet. Caesars Nachricht von der germanischen Herkunft der Belgae wird nicht angefochten (vgl. C. A. R. RADFORD, Contributions to a Study of the Belgae, in: Proc. Prehist. Soc. 21, 1955, S. 250 ff.; T. G. E. POWELL, The Celts, 1958, S. 163 ff.), doch sieht man in den Germani einen ursprünglich keltischen Stamm östlich des Rheins. Dazu vgl. unten Anm. 527. C. A. R. RADFORD, S. 251, führt die Beigen auf die niederrheinische Kulturgruppe zurück, deren Träger sich in dem Machtvakuum, das sich durch die Kimbernkriege in Nordgallien gebildet hatte, in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v. Chr. ausbreiteten. 522 ) Vgl. die Zusammenstellung bei K . MÜLLENHOFF, D A I , S . 4 8 0 .

Ethnisdie Verhältnisse Germaniens

218

jenseits des Rheines und der Kelten523 ansetzt, mit K. M ü l l e n h o f f , S. G u t e n b r u n n e r524 und E. S c h w ä r z 525 bereits Germanen zu sehen sein526. Die wachsende Neigung, „das Problem des Germanennamens irgendwie in die illyrische Sphäre"527 zu rücken, hat sogar als möglich erscheinen 523) Nach den bei S. GUTENBRUNNER, Germ. Frühzeit, S. 63 f., erörterten auf Pytheas zurückgehenden Gradangaben ist es wahrscheinlich, daß Pytheas, wie auch GISINGER RE Suppl. IV 598 annimmt, auch rechtsrheinische Bevölkerungsteile noch mit dem Namen der Kelten belegt. Willkürlich ist jedoch die weitergehende Angabe von F. FRAHM, Klio 23 [1930], S. 185), Pytheas habe die Kelten-SkythenGrenze etwa an der Wesermündung oder noch weiter östlich angenommen. Diese von den überholten Müllenhoffsdien Darlegungen zur Keltengrenze an der Weser beeinflußte Vermutung wurde ohne weitere Begründung auch von G. WALSER, Caesar und die Germanen, S. 55, übernommen. 524 ) Germ. Frühzeit, S. 65; auch GISINGER RE Suppl. IV 598 scheint in diesen Skythen Germanen zu sehen; vgl. F. FRAHM, in: Klio 23 (1930), S. 184. 525) Stammeskde., S.43. 52«) Vgl. auch Plinius n. h. IV 81: Scytharum nomen usquequaque transit in Sarmatas atque Germanos. 527) E. NORDEN, Altgermanien, S. 296; J. POKORNY, Urgesch., S. 121 ff.;

L . WEISGERBER, i n :

Bonn.

Jbb.

154 (1954),

S. 9 7 ;

v g l . DUJE

RENDI£-MIO£E-

VIÖ, Neue epigraphische Belege für den Namen Germanus im illyrischen Namengut

Dalmatiens,

in:

Germania

34

(1956),

S. 2 3 7 — 2 4 3 .

H.M.CHADWICK,

The

Nationalities of Europe (Cambrigde 1945), sieht in „Germani" wie schon einzelne Forscher vor ihm einen keltischen Namen. Diese außerordentlich unsichere und umstrittene Meinung bildet eines der Hauptargumente für die oben Anm. 521 erwähnte Behauptung, die Germani seien ursprünglich ein keltischer Stamm am Rhein gewesen (T. G. E. POWELL, S. 164). Als weiteres Argument wird angeführt, daß keltische Ortsnamen sich bis zur Weser, vielleicht bis zur Elbe fänden, eine Behauptung, die wir oben S. 178—184 bzw. S. 212 dahingehend korrigieren mußten, daß keltisches Namengut nur unmittelbar in den Uferlandschaften des Rheins festzustellen ist und auch hier nördlidi der Mosel nur jüngere Namentypen anzutreffen sind. Sicher keltisches Fundgut erfaßt rechtsrheinisch nur die Südwesthälfte des Schiefergebirges (vgl. H . BEHAGHEL, Die Eisenzeit im Räume des rechtsrheinischen Schiefergebirges, Diss. Marb. 1942, 1943). Das vierte Argument, die zwei keltischen Fürstennamen bei den zu den Germani cisrhenani zählenden Eburonen (Ambiorix und Catuvolcus), kann angesichts des besonders starken germanischen Namengutes bei den Tungri (S. 213, Anm. 500), in denen nach Tac. Germ. c. 2 die alten Germani cisrhenani weiterleben (nunc Tungri, tunc Germani vocati sint), und der Beobachtung, daß uns z.B. von den zweifelsfrei germanischen Friesen nur die keltischen Fürstennamen Cruptorix, Malorix und Verritus überliefert sind, nicht schwer wiegen. Schließlich bleibt noch das fünfte Argument, das noch auf S. FEIST b. Ebert RL IV, 273 f. zurückgeht, dem sich u. a. T. F. O'RAHILLY, Early Irish History and Mythology (1945), S. 456 ff.; C. A. R. RADFORD, in: Proc. Prehist. Soc. 21 (1955), S. 25Q, und T. G. E. POWELL, The Celts (1958), S. 164, anschlössen. Es handelt sich um die Beschreibung der Keltike von Dionysios von Halicarnassos Antiqu. Rom. X I V 1, nach der jener „Teil, der jenseits des Rheines liegt gegen Skythien und Thracien hin, bis zum Herkynischen Wald Germania genannt wird". Diese Beschreibung entspreche nicht den Zu-

„Germani"

219

lassen, daß der Germanenname ursprünglich einem Stamme zukam, der einen zentraleuropäischen („illyrischen" od. „venetischen") Dialekt sprach 528 , wie er für weite Gebiete Westdeutschlands angenommen wird 529 . Sollte sich diese Anschauung durchsetzen, befänden wir uns in einer ähnlichen Lage wie im Falle der Hethiter, deren N a m e ja eigentlich die nichtidg. Vorbewohner des Landes bezeichnete, für die, nachdem ihr eigener N a m e für die idg. Neuankömmlinge üblich geworden war, ein neuer — ProtoHatti — erfunden werden mußte. Wir würden dann also auch diesen nicht germanisch sprechenden Stamm als Proto-Germanen bezeichnen müssen. Welche N a m e n diese nichtgermanischen und vorkeltischen Stämme nun auch getragen haben mögen, es scheint sicher, daß sich in ihrem Siedlungsraum am Niederrhein eine Begegnung zwischen Kelten und solchen Stämmen vollzog, die gerade dabei waren, ihren alteuropäischen westidg. Dialekt durch bestimmte Lautveränderungen zur urgermanischen Sprache auszuformen. Ja, man könnte sogar fragen, ob nicht die Beständen seiner Zeit (Ende des 1. Jh. v.Chr.) und deute auf eine frühere Nachricht. Daraus wird geschlossen, daß die Germani ursprünglich ein Keltenstamm am rechten Rheinufer waren. Hier scheint ein Fehlschluß doppelter Art vorzuliegen. Einmal zeigt doch die Ausdehnung dieser Germania bis Skythien und Thrazien hin, daß kein „Stammes-"Name mehr vorliegt, sondern bereits die Übertragung eines Stammesnamens auf eine als gleichartig empfundene Gruppe von Stämmen. Diese Übertragung aber kann kaum von anderen als den gallischen Kelten vorgenommen worden sein. Aus derartigen Übertragungen ist jedoch ein ethnisches Distanzgefühl zu erkennen, indem die als fremdartig empfundenen Gruppen ähnlicher Kultur und Sprache einem Gesamtbegriff untergeordnet werden. Das muß allerdings nicht notwendig bedeuten, daß unter Germani nun ausschließlich Germanen in unserem sprachlichen Sinn zu verstehen sind, es können darin auch teilweise keltisierte Proto-Germanen (s. oben S. 218 f.) und Germanen mit starkem keltischsprechendem Element in den Unterschichten einbegriffen sein, die von den „eigentlichen" Galliern nicht als „Volksgenossen" angesehen wurden — und das ist für die „ethnische" Zuweisung entscheidend. Dann aber läßt der erwähnte Schluß zweitens das zur Zeit des Dionysios schon seit einem halben Jahrtausend (seit Hekataios) geläufige Schema der griechischen ethnologischen Tradition außer acht, das den barbarischen Weltkreis um das hellenisch-mediterrane Zentrum in nur vier Sektoren (Inder, Skythen, Kelten und Äthiopier) einteilte. Wenn also die Germanen nicht als Skythen bezeichnet wurden wie von Pytheas drei Jahrhunderte früher, so mußten sie wohl oder übel zur Keltike gerechnet werden. Der Hinweis auf die Erstreckung bis nach Skythien hin zeigt einwandfrei, daß das Schema bei Dionysios wirksam war. 528) W. STEINHAUSER, Herkunft, Anwendung und Bedeutung des Namens „Germani", in: Fs. D . Kralik ( 1 9 5 4 ) , S . 9 — 2 5 ; nach E . S C H W A R Z , in: Z H G 6 7 ( 1 9 5 6 ) , S. 21, ist jedoch vieles problematisch. «2») J. P O K O R N Y , in: Zs. f. celt. Phil. 21, S. 108 f.: illyrisch, P. KRETSCHMER, in: Glotta 30 (1942), S. 145 ff.: venetisch, E. SCHWARZ, in: FuF 27 (1953), S. 179: ital., illyr. und venet. Stammesteile durcheinandergewürfelt.

220

Ethnisdie Verhältnisse Germaniens

gegnung mit ein Anlaß oder ein Anstoß f ü r die Durchführung des Lautwandels gewesen ist. Zu einer Beantwortung dieser Frage reichen jedoch unsere Zeugnisse nicht aus. Dennoch wird man sagen können, daß sich in diesem Raum schwerlich eine ethnisch scharf betonte Kulturgrenze herausgebildet haben dürfte. Der Streit um die „germanische" und „keltische" Herkunft eines Stammes zeigt bereits, daß wir hier mit Übergangsräumen zu rechnen haben. Der Bericht Caesars über die Behauptung angeblich germanischer Abkunft der meisten Beigen und die von Tacitus ironisierte Betonung des germanischen Blutes der Nervier (und Treverer) können auf eine Bereitschaft zum Wechsel der ethnischen Selbstzuordnung einzelner Gruppen zugunsten der siegreichen Germanen aufgefaßt werden. Die Betonung des Rheins als einer ethnischen Grenze zwischen Germanen und Kelten hat, wie schon N o r d e n 530 erkannte, wesentlich politische Bedeutung, wenn auch insofern eine gewisse Berechtigung, als der Strom gerade in der Gegend seiner Übergänge tatsächlich die Grenze der damals keltisch sprechenden Treverer und der germanisch sprechenden Ubier war 531 . Doch auch hier dürfte der kulturelle Unterschied zwischen den unmittelbaren Nadibarn sehr gering gewesen sein. Während A. Hirtius b. G. VIII 25 über die Treverer berichtet: quorum civitas p r o p te r Germaniae vicinitatem quotidianis exercitatu bellis cultu et feritate non multum a Germanis differebat, sagt Caesar selbst b. G. IV 3,3 umgekehrt von den Ubiern: ipsi propter propinquit a t e m Gallicis sunt moribus assuefacti. Mag auch R. H e n n i g s532 Ansicht, daß sidi im Westen Germanen und Kelten „fast bis zur Unterscheidungslosigkeit durchdrangen", in dieser Form nicht zutreffen, so wird doch allgemein zugegeben, daß die Bevölkerungsdurchschichtung hier sehr weit ging533. Eine solche sprachlich-kulturelle Struktur erklärt, daß gerade aus diesem Raum von den Keltenwanderungen auch Germanen mitgerissen worden sein können. W. S t e i n h a u s e r 534 hat z. B. in Irland neben nichtgermanischen Stämmen vom Niederrhein ( M a v a m o i Ptol. II 2, 8) auch mehrere germanische namhaft gemacht, deren Name teils in keltischer Form ( K a v x o i Ptol. II 2, 8 nördlich der Mavamoi; vgl. die Chauken an der Nordseeküste, aber nach Plinius n. h. IV 101 auch auf den Rheininseln, also in der 530) Urgesch., S. 94 f.; zustimmend G. WALSER, (1956), S. 37 ff., bes. S. 44.

Caesar

und

die

Germanen

531 ) Den Rhein als Germanengrenze hatte übrigens bereits Poseidonios festgestellt; vgl. U. KAHRSTEDT, in: Bonn. Jbb. 150 (1950), S. 65 f. 532) Germanen in ihrem Verhältnis zu ihren Nachbarvölkern, in: Westdt. Zs. 8 (1889), S. 42. 533) Vgl. L. WEISGERBER, Walhisk, S. 172, Anm. 29. 534 ) Altgermanisches im Irentum, in: Anz. d. Ak. d. Wiss. Wien phil.-hist. Kl. 77 (1940), S.61—86. Vgl. Rhein. Vjbll. 20 (1955), S. 20 f.

Niederrhein — Berg. Land — Sauerland

221

Nähe der Menapier) überliefert wurde, die z. T. jedoch auch in ihrem Namen deutliche Zeichen germanischer Lautvorgänge verraten: z. B. der Name der Kogiovdoi — südlich der Mavämoi, nördlich der keltischen Brigantes — germ. *Chariondiz, „die Heerenden". Nach S t e i n h a u s e r ist der Stamm zu einer Zeit in keltische Umgebung gekommen, als idg. o in den germanischen Sprachen noch erhalten war. Die innige kulturelle und politische Verflechtung keltisch und germanisch sprechender Stämme am Niederrhein ließ hier in der Früh- und Mittel-Lat^ne-Zeit auf germanischer Seite offensichtlich noch keine ethnisch betonte Kulturgrenze entstehen. Während die auf ihre höhere Kultur stolzen südlicheren keltischen Stämme auf die Bevölkerung dieses Raumes ohne Rücksicht auf deren Sprache den Namen des aus rechtsrheinischem Gebiet herübergekommenen Stammes der Germani übertrugen, von dem wir nicht wissen, ob er schon wirklich „germanisch" in unserem Sinne sprach, gelangt kein Name der hier ansässigen keltischen Stämme bei den Germanen zu umfassenderer Bedeutung: die Volcae wohnen nach Caesar b. G. VI 24,2 um den hercynischen Wald in Germanien selbst. Wir werden also den Ort der für die Ausbildung des ethnischen Bewußtseins entscheidenden Auseinandersetzung weiter im Osten suchen und dabei die Nähe zum Mittelgebirge beachten müssen. Beginnen wir am Rhein mit dem B e r g i s c h e n L a n d . Hier gibt es sicher keltische Namen, wenn auch nicht so viel wie früher angenommen 535 . Ein Teil dürfte erst während des Landesausbaus von linksrheinischen Siedlern hierher übertragen worden sein536. Immerhin werden wir hier in Rheinnähe weiterhin mit einer keltischen Namenschicht rechnen dürfen 537 . Doch bezieht sich die oben erwähnte Angabe Caesars schwerlich auf dieses Gebiet. Caesar hätte dann sicher nicht nur solch unbestimmte Angaben gemacht. Im anschließenden S a u e r l a n d wurde der Name der Mohne, 1227 Moyne, von Fr. C r a m e r 538 mit dem von ihm als keltisch angesehenen Namen des Mains (*Moinos lat. Moenus) verbunden. Auch dieser Name 53 5) Vgl. H . DITTMAIER, Bergisches Land. Er hält Bilk (S. 6), Bürgel (S. 107), Norrenber (S. 124), Pleid (S. 155) nicht mehr für keltisch. Auch die Namen auf -lar (S. 108) sollen nicht ausschließlich keltisch sein. Es scheint uns jedodi nicht ganz sicher, für Vilich (b. Bonn) allein aufgrund seiner Lage zu behaupten (S. 7), es sei kein -acum-Name. 636 } Das wird von H. DITTMAIER, Bergisches Land, z. B. S. 8 f., von Kalmünten und Nümmen angenommen. 537 ) Geber Agger 538)

Nach H. DITTMAIER, Bergisches Land, S. 7: Deutz, Vingst bei Deutz, bei Lohmar; daneben gibt es jedoch auch vorkeltische Namen: S. 150 u. a. Westfäl. Flußnamen, S. 12; zit. nach H. KRÄHE (s. folg. Anm.).

222

Ethnisdie Verhältnisse Germaniens

— nach J. P o k o r n y illyrisch — gehört nach den Belegen H . K r a ll e s 539 zu einer weit über den keltischen Bereich hinaus verbreiteten Sippe 540 . D i e ersten Bewohner des S i e g e r l a n d e s wurden noch von H . B ö 11 g e r 541 als „Kelten" bezeichnet, wobei er sich allerdings bewußt blieb, daß diese nichts mit den Kelten der Lat^ne-Kultur zu tun haben. Er gibt zu, daß die Suche nach keltischen Orts- und Bergnamen ergebnislos bleibt 542 . Hingegen soll es keltische Bachnamen geben, wobei er sich auf die heute besonders durch die Forschungen H . K r a h e s zur alteuropäischen Gewässernamengebung in dieser Hinsicht weithin überholte Deutsche Namenkunde 543 Edward S c h r ö d e r s stützt. Man wird es z . B . heute nicht mehr wagen dürfen, etwa die -apa-Namen als keltisch anzusehen 544 . Die Flußnamen mit -n- oder -s-Suffixen (-arta, -ona, -una, -ina; -isa, -issa)54S können keineswegs als spezifisch keltisch gelten 546 . D a ß der N a m e der Sieg nichts mit dem der Sequana zu tun hat, ist von H . K r a h e 5 4 7 gezeigt worden. Auch der Stamm *ueis/uisiiB ist allgemein alteuropäisch, wie sich an sehr vielen N a m e n aus alten dazugehörigen Einzelsprachen nachweisen läßt 549 . Der N a m e Gilsbach dürfte ebenfalls kaum keltisch sein 550 . Wir

53») BzN 1 (1949/50), S. 256 f. 54 °) Der Vokalismus des Namens der Möhne spricht anscheinend nicht für eine unmittelbare Verbindung mit dem des Mains. 541) Siedlungsgesch. des Siegerlandes (1951), S. 22. 542) S. 29. 543) Göttingen 1938. 544) S. 29 ff.; vgl. dazu oben S. 178 ff. 545} S. 31 f.; dagegen H . DITTMAIER, Das apa-Problem, S. 85. 546) Zu den -rc-Suffixen vgl. H . K R Ä H E , in: BzN 1 (1949/50), S. 259. A. B A C H , in: BzN 6 (1955), S. 217, und W. STEINHAUSER, in: Fs. D. Kralik, S. 19, weisen auf germanische Beispiele hin; vgl. die zahlreichen Belege bei F. WITT, S. 208 ff. Zahlreiche Flußnamen auf -isa mit germanischem Stamm findet man bei H . Dittmaier, Bergisches Land, z. B. S. 154 f. (Nürsche ( '•'•'Norisa, Nurisa), S. 155 (örsche { *Urisa), S. 166 Brunsbach ( < Brunisa / * Brünisa), S. 169 Heisbeck ({Haiisa), S. 170 Kölschbach ( ( * Kolisa) u. a. Audi das Suffix -issa ist wie im Illyrischen so auch im Germanischen bezeugt; vgl. A. BACH, in: BzN 6 (1955), S..209—236: H . KRÄHE, i n : B z N 7 (1956), S. 34.

547) Rhein. Vjbll. 20 (1955), S. 8 ff.; übrigens ist selbst der Name der Sequaner keineswegs sicher keltisch; vgl. die ebd. Anm. 27 genannte Kontroversliteratur. 548) BÖTTGER, S. 3 2 .

548) Vgl. H . KRÄHE, i n : B z N 4 (1953), S. 38 f.

550) H . BÖTTGER, S. 33, sieht im ersten Glied mit FR. CRAMER, Niederrhein. Ortsnamen, in: Beitr. z. Gesdi. d. Niederrheins 1 0 ( 1 8 9 5 ) , S. 9 3 , ein keltisches gil „Wasser, (Tal)". Es ist nur merkwürdig, warum dann ein M. FÖRSTER, der die britischen Flußnamen untersucht, nicht auf diese Etymologie gekommen ist. Er ist gezwungen, für ähnliche Namen in Britannien das isländisch-norwegisthe gil „Talschlucht" zu bemühen (Therme, S. 9 6 ) . Zum Namen Gill vgl. auch B. BOESCH, in: BzN 5 ( 1 9 5 4 ) , S. 2 3 9 , der an Gülle „Pfütze" denkt und auch ahd. gil „Bruch" an. giln „Spalte, Ritze", dazu als fem. jo-Ableitung gill „Gelände an einem Wassergraben" berücksichtigt.

Siegerland — Hessen — Thüringen

223

werden in diesem R a u m also wohl eine nicht-germanische 5 5 1 , aber keine keltische Vorbevölkerung annehmen dürfen. D a ß in N o r d h e s s e n nichts sicher Keltisches zu finden ist, haben wir schon oben gesehen 552 . Von den am U n t e r l a u f d e r L a h n erhalten gebliebenen keltischen O r t s n a m e n scheint Ennerich bei Limburg 5 5 3 der östlichste zu sein. In der W e t t e r a u d ü r f t e der F l u r n a m e Daun am Glauberg ein H i n w e i s auf die keltische Befestigung dieses Berges sein 554 . Der F l u ß n a m e Amdorf im Dillkreis (1347 Amberfe, Ammerpbe, mundartlich Amrojf), in dem H . D i t t m a i e r 5 5 5 ein *Ambarapa sieht, braucht dagegen nicht keltisch zu sein 556 . Es scheint sich in diesen Verhältnissen die sprachliche Seite der kulturellen Zustände der jüngeren Eisenzeit des rechtsrheinischen Schiefergebirges zu spiegeln, wie sie v o n H . B e h a g h e l 5 5 ' beschrieben w u r d e n . Auch sprachlich scheint die südwestliche G r u p p e keltisch zu sein, w ä h r e n d die nordöstliche weder ganz z u m keltischen Süden noch z u m germanischen N o r d e n gehört. In T h ü r i n g e n sind dagegen einige N a m e n v o r h a n d e n , die w o h l mit Recht als keltisch angesehen werden, w e n n a u d i k a u m einer d a v o n unbestritten geblieben ist u n d die w o h l b e k a n n t e n keltischen O r t s n a m e n t y p e n auf -bona, -briga, -durum, -dunum, -magus, -ritum usw. völlig fehlen 5 5 8 . Selbst der N a m e E i s e n a c h , der bisher als keltischer -äcum-Name galt 5 5 9 , stößt heute zuweilen auf Zweifel, die allerdings nicht immer w o h l begründet sind 5 6 0 . D e r O r t s n a m e T r e b r a , der mehrfach in Thüringen zu 551 ) W. STEINHAUSER, der mit H . Krähe in einigen Ortsnamen des Sauerlandes (Ergste, Ennest; Steinhauser, in: Fs. Kralik, S. 17; vgl. dagegen A . BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 22) Zeugen einer „protillyrischen" Bevölkerung sieht, will in der hier lokalisierten Wielandsage eine dunkle Erinnerung an die Eisenschmiedekunst illyrischer Handwerker erblicken, die sich die Germanen nach ihrer Landnahme dienstbar machten. 552) S. 194 f. 553 ) A . B A C H , Taunus, S. 1 9 4 , hält ihn für einen -acum-Namen — gegen die

Theorie v o n

W.

KASPERS, D i e I » C « m - N a m e n

des Rheinlandes

( 1 9 2 1 ) , S. 2 0 ff.,

der

außerhalb des römischen Herrschaftsbereichs keine solchen annehmen will. « 4 ) Vgl. K. GLÖCKNER, in: Mitt. Obh. Gesdi. Ver. N F 39 (1953), S. 25 ff. «55) Das apa-Problem, S. 45, § 141 b. 556) Vgl. oben S. 195. 557) D i e Eisenzeit im Räume des rechtsrheinischen Sdiiefergebirges. Diss. Marb. 1942 (Wiesbaden 1943). 558)

K N U D B . JENSEN, A c t e s I e r C o n g r e s . . . ,

55»)

K.

MÜLLENHOFF,

D A

II,

S. 2 3 3 f . ;

O.

S. 155. BREMER,

Ethnographie,

S.

41;

R. MUCH b. H o o p s III, S. 26; E. SCHRÖDER, Deutsche Namenkde., S. 131; W. STEINHAUSER, Ier C o n g r e s . . . , S. 158, und A n z . d. Ak. d. Wiss. Wien 77 (1940), S. 86; J. POKORNY, Urgesch., S. 114 u. S. 175; R. MUCH, in: Volk u. Rasse 5 (1930), S. 194. 560) CLASSEN, in: WuS 14 (1932), S. 151, hält ihn für ligurisdi, was A. BACH, Deutsche Namenkde., II, 2 2 , S. 283, wohl mit Recht mit einem Fragezeichen ver-

224

Ethnische Verhältnisse Germaniens

finden ist 561 , wurde v o n K. M ü l l e n h o f f 5 6 2 , O. B r e m e r 5 6 3 und Edw. S c h r ö d e r 564 mit Tribur bei Darmstadt verglichen und zu kymr. treb, tref „Wohnung" gestellt. Audi für Worbis hat E. S c h r ö d e r keltische Herkunft verfochten 565 . Sehr umstritten ist der N a m e der Finne. Meist stellt man ihn zu air. cenn, kymr. penn „Kopf, Spitze, Gipfel" 5 6 6 . Andere sehen in ihm die germanische Form von lat. pinna „Feder, Flosse, Mauerzinne" 567 . "War der N a m e hier vorgermanisch schon vorhanden, mußte er von der Lautverschiebung erfaßt worden sein. Aber angesichts der Tatsache, daß es auch auf Bornholm eine Höhe gleichen Namens gibt 568 und daß auch die vorgermanischen Namen nichtkeltischer Herkunft in diesem Raum keine Zeichen der Lautverschiebung zeigen 569 , ist dies doch sehr unsicher. Der sieht; K.B. JENSEN, Actes 1er Congrès, S. 155, hält ihn für einen germanischen Namen auf -aha. Dem widersprechen die niederdeutschen Belege, die W. S T E I N HAUSER, Anz. d. Ak. d. Wiss. Wien 77 (1940), S. 86, anführt (z. B. Widukind von Corvey Isenack u.a.). Vgl. auch A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 283, der jedoch ebenfalls darin keinen -acum-Namen sieht. H . KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 124, bezweifelt wie Jensen dies nur aus dem Grunde, daß diese Namen im linksrheinischen Gebiet erst zu einer Zeit produktiv waren, als rechts des Rheins und weiter östlich von der Anwesenheit von Kelten keine Rede mehr sein konnte. Immerhin wäre darauf hinzuweisen, daß die rheinischen -acumNamen gewöhnlich von Personennamen abgeleitet sind und sich schon dadurch als jung erweisen. Es gibt im keltischen Gebiet jedoch auch nicht selten -acum-Namen, die von Flußnamen abgeleitet sind, wie A. CARNOY, in: L'Antiquité classique 11 (1942), S. 202, gezeigt hat (vgl. die Beispiele bei A. BACH, Deutsche Namenkde. II, l 2 , S. 220). Möglicherweise liegt bei Eisenach auch eine Ableitung von einem Flußnamen Isana, Isuna vor. Übrigens können wir sehr wohl um Eisenach noch mit keltischen Resten unter germanischer Herrschaft in augusteischer Zeit rechnen. sei) Nieder-Trebra a. d. Ilm, Kr. Weimar; Trebra, Kr. Sondershausen; Trebra, Kr. Gft. Hohnstein; K. MÖLLENHOFF, D A II 2 , S. 2 3 3 , kennt auch ein Trebra an der Unstrut. 582) DA II 2 , S. 233 m. Anm. 563 ) Ethnographie, S. 41. 564) Deutsche Namenkde., S. 131; W. SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 230 ( = Wege d. Forsch. II, S. 141), deutet Tribur als germ. „Dreihöfe". Trebra bei Apolda, DD. K I n. 8: curtis Thriburi (vgl. DD. O III n. 344 u. Thietmar Chron. V 39) wird zudem als fränkische Gründung angesehen, wobei an Namenübertragung vom Rhein gedacht wird; O. BETHGE, Fränkische Siedelungen in Deutschland, auf Grund von Ortsnamen festgestellt, in: WuS 6 (1914/15), S. 61. 565) Deutsche Namenkde., S. 131; dgl. K.B. JENSEN, Actes 1er Congrès, S. 156; vgl. die bei A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 9, angeführte Diskussion zum Namen Worms. 566) G. KOSSINNA, in: PBB 20, S.296; H . HIRT, Etym. Wb. d. nhd. Spr. (1921), S. 382; H . KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 127. 567) R. MUCH b. Hoops III, S. 25; K.B. JENSEN, Actes 1er Congrès, S. 156; W. STEINHAUSER, in: Fs. D. Kralik, S. 16; E. SCH\FARZ5 Deutsche Namenforsch. II, S. 65, und Stammeskde., S. 36. Weitere Anknüpfungen siehe bei A. BACH, Deutsche Namenkde. II, 2 2 , S. 44. 568) E. SCHWARZ, S t a m m e s k d e . , S. 36.

Thüringer — Herkynischer Wald Hinweis von H . R o s e n f e l d ,

225

daß unmittelbar an der Finne das H a u s -

urnengebiet beginne 5 7 0 , kann also — abgesehen von den schon oben 5 7 1 erwähnten Bedenken — keine Sicherheit für den „germanischen"

Charakter

dieser Gruppe geben. Alles was sonst gelegentlich als keltisch bezeichnet wird, ist noch weit zweifelhafter 5 7 2 . Ganz außerordentliche Rätsel gibt der N a m e des Herkynischen auf. Überliefert ist er uns in keltischer (*Erkunia 1. 13 * Aoxvvia

dar/;

Caesar mehrfach Hercynia)

scher F o r m (805 Fergunna waldus,

Virgunna

( *Fergunia

) Aristoteles und auch in

für das Erzgebirge, 8 1 4

Waldes Meteor. germaniVirgundia

u. ä. für eine H ö h e zwischen Ansbach und Ellwangen).

Im Germanischen ist der N a m e auch als Appellativ (got. fairguni, firmen niä,

u. a.) erhalten. Diese Belege führen auf eine Grundform die „Eichengebirge" bedeutet (lat. quercus

Perkünas

( ''perquus

ags. *perquu-

„Eiche",

lit.

„(Eichen-)Donner-Gott") und häufig als „urkeltisch'' bezeichnet

wird. Der für das Keltische typische Abfall des anlautenden p zeigt, daß die F o r m *Erkunia

im Munde von Kelten entstanden ist. Schwierigkeiten

ergeben sich jedoch bei der Annahme, das W o r t sei von Kelten geprägt und vor Abfall des p durch Vorfahren der Germanen entlehnt

worden.

5 6 9 ) E. SCHWARZ, in: FuF 27 (1953), S. 179, wies bereits darauf hin, daß nördlich des Erzgebirges kein vorgermanischer Name die erste Lautverschiebung mitgemacht hat. Neben dem von ihm angeführten T h a r a n d t könnten noch L u p n i t z (778 Lupentia) b. Eisenach und der Flußname T h y r a — H e l m e ( Duria, vgl. J . POKORNY, Urgesch., S. 127) angeführt werden. Der Name der S c h e r k o n d e —> Lossa —y Unstrut, von dem alte Belege nicht vorhanden sind, ist nach H. KRÄHE, in: BzN 3 (1951/52), S. 7, eine Partizipalbildung zu skarkjan „lärmen" (vgl. den norwegischen Flußnamen Skjerka, O. RYGH, S. 219), obwohl eine Nominalableitung denkbar bleibt. Wir werden hier wohl eine jüngere Bildung vor uns haben. 570) ZfdA 86 (1955/56), S. 251 f. S. 178. 5 7 2 ) Etwa der Name der L e i n a bei Gotha, den O. BREMER, Ethnographie, S. 41, mit dem der Leine (Lagina) Weser vergleicht. Abgesehen davon, daß auch die letztere wahrscheinlich germanisch ist (vgl. oben S. 187), zeigen die alten Formen der L e i n e —y Helme, Kr. Sangershausen (Linaha 8. Jh.) und der L e i n e - y Eine, Mansf. Geb.kr. (1120 Lina; vgl. F. WITT, S. 11), daß dieser Name nicht einheitlicher Herkunft und ohne alte Belege eine Deutung unmöglich ist. Der Name der W i p p e r —y Unstrut und —y Saale, den O. BREMER ebenfalls als keltisch anführt, ist nach T. E. KARSTEN, Germanen, S. 98, germanisch. Gegen den Versuch K . B . JENSENS, Actes Ier Congres, S. 156, die Namen der O h r e und der O r 1 a aus dem Keltischen zu deuten, vgl. J . POKORNY, Keltologie, S. 175. Für den Namen L u p n i t z (778 Lupentia), den Jensen ebenfalls als keltisch ansieht, gilt dasselbe wie für den der Lippe; vgl. oben S. 183. Die Namen I l m und S a a l e ( K . B . JENSEN, aaO., S. 157) gehören dagegen in alteuropäische Zusammenhänge (H. KRÄHE, in: BzN 8 [1957], S. 6 f., und BzN 3 [1951/52], S. 242 f.).

226

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Denn da im Vorkeltischen wie im Lateinischen ein p vor einem qu der Folgesilbe an dieses assimiliert wurde (idg. *perjque und *pequö „fünf" ) lat. quinque, air. cöic; im Gallobritisdien entstanden später aus diesen qu neue p: gall. pempe, kymr. pimp), sollten wir im Anlaut von *Perkunia kein p mehr erwarten. Aus diesem Grunde wollten früher einige Forscher diesen Namen überhaupt von der Sippe *perquu- abtrennen 573 , womit jedoch die Schwierigkeiten nicht ausgeräumt werden, da ja ein keltisches Wort erkos nach A. M a y e r in griechischen Quellen überliefert und durch dgojuös „Eichenwald" glossiert wird 574 . Er nimmt an, daß qu vor u entlabialisiert worden sei und das daraus entstandene rein velare q keine Handhabe zur Assimilation mehr bot 575 . Andere glauben an eine Entlehnung ins Vorkeltische, nachdem hier die Assimilation schon vollzogen war, entweder aus dem Urillyrischen 576 oder aus den Dialekten der Vorfahren der Italiker 577 . H . K r ä h e 5 7 8 hält den Namen für alteuropäisch. Wie man jedoch auch den keltischen oder nichtkeltischen Ursprung des Namens beurteilen mag, sicher scheint, daß der damit bezeichnete Gebirgszug in den Gesichtskreis der Germanen trat, ehe das p des Anlauts in keltischem Munde verklungen war. Eine Lehnübersetzung nach vollzogener Lautverschiebung scheint unglaubwürdig, da die keltische Form dann kaum mehr verstanden werden konnte. Da der Abfall des anlautenden p im Keltischen vollzogen war, ehe die keltische Expansionsbewegung in der Spät-Hallstattzeit einsetzte — alle keltischen Sprachen sind davon betroffen —, ist es auch wenig wahrscheinlich, daß die Vorfahren der Germanen diesen Namen in dem nur als keltischen Kolonialboden anzusehenden Mitteldeutschland von den Kelten selbst übernommen haben. Er dürfte ihnen von der einen alteuropäischen Dialekt sprechenden Mittelgebirgsbevölkerung vermittelt worden sein. Es wäre nun wichtig zu wissen, welchen Geltungsbereich dieser Name hatte, welche Gebirge von den zu Germanen werdenden Stämmen im Norden darunter gefaßt wurden. Der ihnen räumlich am nächsten liegende Harz — der „Wald" schlechthin — 573) Vgl. die Angaben bei A. MAYER, in: Zs. f. vgl. Sprf. 70 (1952), S. 84. 574) Zs. f. vgl. Sprf. 70 (1952), S. 80. 575) ebd., S. 84. 576) J. POKORNY, Urgesch., S. 183. A. MAYER, der auch für das Illyrische eine ähnliche Assimilation annimmt (Zs. f. vgl. Sprf. 70 [1952], S. 86 f.), redinet (S. 95) daneben mit der Möglichkeit, daß die Kelten den Namen von den Illyriern übernahmen, aber die eigene Bezeichnung der Eiche einsetzten, so daß kelt. Erkunia eine Lehnübersetzung wäre. 577) W. STEINHAUSER, in: Fs. D. Kralik, S. 16 f., der allerdings behauptet, den Kelten fehle das Wort *perquus „Eiche". Auch E. SCHWARZ, in: Zs. f. Maf. 20 (1951/52), S. 204, scheint italischen Ursprung des Namens zu erwägen. 578) Sprache u. Vorzeit, S. 68.

Der hercynisdie Wald

227

zeigt einen noch später als Appellativ verbreiteten Namen, dessen Alter aus diesem Grunde unbestimmbar bleibt. Wenn auch nidit ausgeschlossen ist, daß er ursprünglich mit unter dem Begriff des hercynischen Waldes einbegriffen war, liegt doch die Vermutung näher, daß die Beschränkung auf

das Erzgebirge in germanischem

Gebirgszug eigentlich mit Fergunna

Sprachgebrauch

andeutet,

welcher

gemeint war. N u n ist bemerkenswert,

daß das Erzgebirge mindestens 150 k m Luftlinie v o n dem R a u m entfernt liegt, der noch von der Lautverschiebung erfaßt worden sein kann. Dies zeigt die Bedeutung an, die diesem Gebirge in der Gedankenwelt jener S t ä m m e zukam. W i r werden kaum fehlgehen m i t der Annahme, daß es seine Bedeutung im R a h m e n der Auseinandersetzung m i t dem südlichen Nachbarn erhielt, sei es, daß eigene Kriegszüge hier ihre natürliche Begrenzung fanden, sei es, daß v o r einbrechenden Kelten Flüchtende den N a m e n vermittelten, oder sei es auch aus anderen von uns nicht mehr zu erahnenden Gründen. L . W e i s g e r b e r 5 7 9 hat R . H e n n i g 5 8 0 darin zugestimmt, daß der volkliche Abstand im Südabschnitt der germanischen Sprachgrenze größer und damit f ü r die Ausbildung einer begrifflichen Kennzeichnung geeigneter gewesen sei als der Westen. Diese Beobachtung in Verbindung m i t jener R o l l e , die der Herkynische W a l d im ethnischen D e n k e n jener Zeit einnahm, und m i t der Angabe Caesars über die Wohnsitze der Volcae in seinem U m k r e i s läßt uns hier im mitteldeutschen R a u m den Bereich der f ü r die Ethnosbildung entscheidenden Begegnung der N o r d stämme m i t dem schon voll ausgebildeten K e l t e n t u m vermuten. D e m gegenüber lag der schlesisch-mährische R a u m viel zu weit abseits, wenn auch der bastarnisch-skirische S t o ß dieses Gebiet b e r ü h r t haben wird. Doch dürfte die Ausweitung des Volkennamens k a u m von den in inselhafter Siedlung unter vorwiegend dakischer und vielleicht slavischer Bevölkerung lebenden Bastarnen ausgegangen sein. Weiterhin spricht gegen dieses Gebiet die Behauptung einiger Prähistoriker 5 8 1 , daß in Schlesien der keltische Kultureinfluß relativ spät einsetzt. Schließlich scheint germ. *Walha- (ahd. Walh, ags. Wealh, anord. Valir) und seine Ableitungen (ahd. walhisk, ndl. waalsch, ags. wilisc, anord. valskr usw.) im Gotischen und in anderen ostgermanischen Dialekten zu fehlen 5 8 2 . W i r werden also 57») Walhisk, S. 172, Anm. 29. ®80) Westdt. Zs. 8 (1889), S. 42. 5 8 1 ) E. PETERSEN, Die frühgerm. Kultur in Ostdeutschland und Polen (Berlin 1929). M. JAHN, Die Kelten in Schlesien (Leipzig 1931). Es ist jedoch vielleicht nicht ganz ausgeschlossen, daß auch hier Kelten schon vor der Latene-Zeit eindrangen, ohne archäologisch faßbar zu sein. 582) L. WEISGERBER, Walhisk, S. 169; S. 171 f. m. Anm. 28. Nur die Burgunder haben — wie viele ihrer Namen zeigen — das Wort besessen, wohl weil sie früh

228

Ethnische Verhältnisse Germaniens

die Begegnung mit den Volcae nicht im ostgermanischen Bereich suchen dürfen und werden damit auf den Umkreis der s u e b i s c h e n Stämme verwiesen. Wenn der oben erwähnte Zeitansatz 583 um 300 v. Chr. für die Abwanderung des Großteils der Volcae richtig ist, könnte damit die von der Urgeschichtsforschung behauptete Ausbreitung „germanischen" Kulturguts nach Mitteldeutschland und schließlich auch Nordböhmen zusammengebracht werden. Der besonders starke keltische Kultureinfluß im germanischen Bereich seit Beginn der Ripdorfstufe, deren chronologischer Schwerpunkt wohl in der zweiten Hälfte der Mittellatenezeit liegt, soll nach einer ansprechenden Vermutung von G. S c h w a n t e s584 einem kulturellen Rückstrom nach einem germanischen Einbruch in keltisches Gebiet zu verdanken sein. Noch in der Jastorf-Zeit scheint also der suebische Aufbruch eingesetzt zu haben, der Bastarnen und Skiren in das KarpatenPontusgebiet und andere Gruppen nach Mitteldeutschland führte. Die Abschließung der Jastorf-Kultur gegen südliche Einflüsse585 könnte vielleicht schon ethnisches Absetzen gegen die von Süden andringenden Volcae anzeigen. 3. D i e

Veneter

Audi an der Ostgrenze des germanischen Sprachgebiets hat sich ein ähnlicher Prozeß vollzogen wie im Süden. Hier war es der Stamm der V e n e t e r , gegen den sich ein ethnisches Distanzgefühl auf germanischer Seite entwickelte. Dieser Stamm war den Germanen schon vor der Lautverschiebung bekannt. Das wird dadurch erhärtet, daß der Stammesname in germanischem Munde in zwei Varianten auftritt, die durch den grammatischen Wechsel unterschieden sind (ah. Winida mit d < germ. p, vgl. Tacitus Germ. c. 46: Venethi; ags. Winedas mit germ. S vgl. Plinius h. n. IV 97: Venedi; Ptolemaios III 5, 7: Ovevedai)sse. Auch hier galt der Name nicht nur für eine bestimmte Sprachgemeinschaft, sondern bezog sich auf die Gesamtheit der Fremden, die im Blickfeld der Anwohner der germa-

in westgermanische Umgebung gerieten. Vgl. L. WEISGERBER, Walhisk, S. 169, S. 182, Anm. 13. Die Slaven und Byzantiner haben die Bezeichnung Walachen aus dem Frühalthochdeutschen entlehnt, nicht aus dem Gemein- oder Ostgermanisdien; v g l . L . WEISGERBER, W a l h i s k , S. 1 9 0 , A n m . 7 8 u. S. 1 8 3 , A n m . 5 6 . 583) s .

2 1 0 f.

584) Die Ripdorfstufe, in: Fs. K . H. Jacob-Friesen, S. 208 ff. 585) Wobei diese Einflüsse als Faktoren der Entstehung dieser Kultur nicht geleugnet zu werden brauchen. 586) h . KRÄHE, Sprache u. Vorzeit, S. 44; E. SCHWARZ, Stammeskde., S. 33; DERS., Deutsche Namenforschung II (1950), S. 92 f.

Die Veneter nischen

Ostgrenze

siedelten,

nachdem

er

229 allgemeinere

Geltung

hatte. So wie unter * W a l h ö z nach den Kelten auch R o m a n e n wurden,

der N a m e der Aisten zu den finnischen Esten

erlangt

einbegriffen

weiterwanderte,

übertrug m a n den Veneternamen später auch auf slavische und wahrscheinlich sogar baltische S t ä m m e 5 8 7 . Es ist unter diesen U m s t ä n d e n nicht sicher zu entscheiden, w e r sich unter diesem N a m e n in antiken Quellen jeweils verbirgt. D i e ältesten Nachrichten über diese Gegend scheint

Ptolemaios

II 11 u n d III 5 zu überliefern 5 8 8 . Ein Teil seiner A n g a b e n über die O r t e und V ö l k e r des Oder-Weichsel-Raumes reicht anscheinend in eine Zeit zurück, in der die W a n d a l e n diesen R a u m noch nicht besetzt hatten. Sonst w ä r e der einheitlich ungermanische (zentraleuropäische, zum kleinen dakische) C h a r a k t e r der O r t s n a m e n

Teil

südlich der Netzelinie kaum zu

klären. D a ß w i r hier an der H a u p t v e r k e h r s a d e r — der Bernsteinstraße

er—

587) Schon R. HENNIG, in: Westdt. Zs. 8 (1898), S. 6, vermutete aufgrund der Existenz des livländischen Volksstammes der Wenden, die nach Heinrich von Livland um 1200 von der Windau vertrieben worden waren, eine Ausweitung der Geltung des Veneternamens auch auf baltische Völker. Die Belege, die R. SCHMITTLEIN, Sur quelques toponymes lituaniens, in: Zs. f. Nf. 15, S. 53 ff., hinzufügte, lassen jedoch gleichfalls nicht erkennen, ob diese Ausweitung von Germanen vollzogen wurde oder ob einheimische Tradition urvenetischer Herkunft vorliegt. 588) D a ß Ptolemaios nicht nur zeitgenössische Nachrichten bringt, ist schon lange erkannt worden (vgl. R E II A 311, K. MÖLLENHOFF, DA IV, S. 51). Das gilt sogar für römisches Reichsgebiet, wenn er etwa in der Schweiz die zu Caesars Zeit schon helvetischen Orte Aventicum und Equestris noch den Sequanern zuteilt; vgl. F. STÄHELIN, Die Schweiz in römischer Zeit (Basel 1927), S. 12, Anm. 4; vgl. auch H. PHILIPPS, Beiträge zur Bevölkerung und Kartographie der Schweiz bei Avien, Caesar, Strabo, Ptolemaeus und deren Vorlagen, bei E. NORDEN, Urgesch., S. 48. G. MACDONALD, The Agricolan Occupation of North Britain, in: Journal of Roman Studies 9 (1919), S. 137, hat für Britannien gezeigt, daß Ptolemaios noch nichts von dem 122 errichteten Hadrianswall weiß. Vgl. M. FÖRSTER, Themse, S. 256. U. KAHRSTEDT hat dann nachgewiesen, daß im Westen Germaniens viele Angaben noch aus frühaugusteischer Zeit stammen müssen (Nachr. aus Niedersachsens Urgesch. 8 [1934], S. 7 f.). Man darf andererseits diesen Nachweis nicht verallgemeinern. E. SCHWARZ, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, S. 52, weist z. B. darauf hin, daß der Name der 'IvxoveQyoi eine Schreibung zeigt, die erst am Ende des 1. Jh. n. Chr. möglich ist (i für e vor Nasal + Konsonant). TH. STECHE hat — obwohl er zugeben muß, daß einzelne Angaben veraltet waren (vgl. Ptol., S. 72 u. S. 81) — für seine Konzeption jedoch vorausgesetzt, daß das Bild, welches Ptolemaios von Germanien zeichnet, durchaus die Zustände der Mitte des 2. Jh. n. Chr. wiedergibt, wobei er zu phantastischen Behauptungen über die Stämme und ihre politische Geschichte kommt. Vgl. auch L. SCHMIDT, Westgerm. 112, s. 97 u. S. 205, Anm. 5; H . NESSELHAUF, in: Bad. Fundber. 19 (1951), S. 72, Anm. 1. Bezeichnend für die Art der Kombination schriftlicher und archäologischer Überlieferung, wie sie STECHE anwendet, ist seine Behandlung des Veneterproblems (Ptol., S. 118 ff.). E r beruft sich dabei auf die „Vorgeschichte der altpreußischen

230

Ethnische Verhältnisse Germaniens

kaum mit einer sich über mehrere Jahrhunderte erhaltenden „Restbevölkerung" rechnen können, wurde bereits oben 589 erwähnt. Es ist durchaus möglich, daß die hier erwähnten Völkernamen noch nichtgermanische lugische Stämme bezeichnen 590 , die jedoch später großenteils germanisiert wurden 591 . Es ist vielleicht bezeichnend, daß Ptolemaios die südlich der Semnonen angesetzten wandalischen Silingen nicht zu den Lugiern rechnet. Das gleiche gilt für die bei Tacitus Germ. 43 zu den — jetzt sicher mit wandalischen Germanen verschmolzenen oder durchsetzten — Lugiern zählenden Helvecones (Ptol. II 1 1 , 9 AiXovalcovsg), die nach Ptolemaios noch zwischen Lugiern und Burgundern — also nördlich der N e t z e — sitzen. Stämme" von C A R L E N G E L (Königsberg 1935), und zwar besonders auf dessen Untersuchung der Siedlungsstetigkeit der ostpreußischen Kulturgruppen. Während die Friedhöfe des Samlandes, des Memelgebiets und Westmasurens seit etwa Christi Geburt bis zur Ordenszeit ununterbrochen belegt worden sind, brechen die kaiserzeitlichen Flachgräberfelder im Weichselgebiet, im Ermland und Oberland spätestens gegen Ende der Kaiserzeit so jäh ab, daß mit einer Abwanderung der Bevölkerung gerechnet werden muß (C. ENGEL, S. 81). Nun wird von Engel in diesem Werk die nachchristliche Eisenzeit nur im Hinblick auf die Siedlungsstetigkeit untersucht; der Hauptteil, die Darstellung der vorgeschichtlichen Kulturgruppen, die Materialsammlung und die Karten beschränken sich auf Steinzeit und Hügelgräberzeit ( = vorchristliche Metallzeit). Dies ist von T H . STECHE anscheinend übersehen worden, da er sich (S. 119, Anm. 3) auf Karten beruft, die Verhältnisse der frühen Eisenzeit und der späten Latene-Zeit veranschaulichen sollen (Karten XI und XII). Aus diesem Fehler entstand die Auffassung, daß das germanische Gebiet nie über den Bereich der weichselgermanischen (rugisch-burgundischen) Gruppe hinausging, d. h., daß das Oberland und das Ermland auch noch zur Zeit, als die Gräberfelder hier abbrechen, nichtgermanisch (nach Steche auf Grund von Ptolemaios: venetisch) waren. Gerade um Christi Geburt ist jedoch der Einbruch der Goten in diese Gebiete anzusetzen, der schließlich auch das Oberland und das Ermland in ihre Hand brachte (C. ENGEL, Aus ostpreußischer Vorzeit [Königsberg 1935], S. 86). Der Abbruch der Gräberfelder am Ende der Kaiserzeit betraf daher im wesentlichen nur germanisches Gebiet, wenn auch einige Balten von der Bewegung mit fortgerissen sein mögen (Galindername bei den spanischen Westgoten). Die westmasurische Gruppe, die Steche als „wenedisch" ansieht, war also nur auf das eigentliche Westmasuren zurückgedrängt worden und — wenigstens nicht in ihrem Hauptteil — von der Abwanderung mitgerissen worden, wie es Steche für die Veneter annimmt. Wir werden nach wie vor in ihr die Galinder wiederfinden dürfen. 58») S. 203 f., Anm. 427. 590) Vgl. j . POKORNY, Urgesch., S. 4 f. (nach M. Vasmer), zu den illyrischen Namen der Lugii und ihrer Stämme der Buri (Bovooi), Manimi ('Ojuavoß und S . 9 zu den lugischen Aovvoi. E. SCHWARZ, der noch Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, S. 175, glaubte, daß der Lugiername aus dem Norden mitgebracht worden sei, hält Stammeskde., S. 68, die Annahme eines vorgermanischen Stammesnamens für erwägenswert. 591 ) Die Buri sprachen nach Tac. Germ. c. 46, der sie nicht mehr den Lugiern zuzählt, suebisch.

Die Bernsteinstraße

231

Schon E. § i m e k erkannte 592 , daß Ptolemaios nicht der ganze Weichsellauf bekannt war, sondern nur Quellgebiet und Unterlauf 5 9 3 . Auch die Behandlung des Ostufers der Weichsel in Sarmatia bei Ptolemaios III 5 führt zu demselben Ergebnis. Während er an den Weichselquellen die ÄvaQivoi nennt, bezeichnet er als nächste Anwohner im Norden die &Q0vy0vvdia>ve?, die Burgunder. An anderer Stelle 594 setzt er die Burgunder (BovQyovvrsg) auf der H ö h e der Semnonen zwischen Oder und Weichsel an, d. h. etwa von der Neumark bis in das Brahe-Gebiet. Die Annahme liegt nahe, in den ») Vgl. oben S. 307 f. »1«) Vgl. oben S. 308 u. S. 311. 9U)

in:

Vorträge und Forschungen III,

Vgl. R. v. KIENLE, German. Gemeinschaftsformen, S. 274.

»12) D A

II,

S. 5 7 ;

vgl.

GA 76 (1959), S. 8 ff. 818) i y 22: reges habent puli sententia. » " ) Vgl. oben S. 312.

R . MUCH,

G e r m a n i a , S. 3 9 6 f.;

ex genere antiquo,

K.

WÜHRER,

in:

quorum tarnen vis pendet

ZRG

in po-

»»«) Prokop bell. Goth. I I 14; vgl. L.SCHMIDT, Ostgerm.«, S. 5 6 1 ; S.GUTENBRUNNER, in: Germ. Altertumskde., hrsg. H . Schneider ( 2 1 9 5 1 ) , S. 3 9 ; E . SCHWARZ,

Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, S. 158.

Heerkönigtum — Sakralkönigtum — Goten — Wandalen

411

Berig, nach der Weichselmündung kommen. Möglicherweise ließ die Königssippe die gotländische Heimat nun ohne König zurück 916 . Der sakrale Charakter des gotischen Königtums wird durch den von Hirschen gezogenen Wagen des Gotenkönigs bezeugt, den Aurelian nach einer freilich nicht über alle Zweifel erhabenen Stelle der Vita Aureliani des Flavius Vopiscus 917 im Triumphzug mitführte. Die ungebrochene Tradition des gotischen Königtums wird auch durch die Erhaltung des alten Wortes f ü r den König (piudans) nahegelegt, das im Westen durch eine Neubildung ersetzt wurde (kuning u. ä.). Die altertümlichen sakralen Elemente des w a n d a l i s c h e n Königtums sind seit langem bekannt 9 1 8 . N u r bei den B u r g u n d e r n scheint eine Sonderentwicklung stattgefunden zu haben, die in einem Exkurs behandelt werden soll. Aus dem Alter und der fast allgemeinen Verbreitung des sakralen Königtums bei den alteuropäischen Völkern, auf das neuerdings wieder von W. S c h l e s i n g e r 9 1 9 hingewiesen wurde, ergibt sich, daß auch jene landnehmenden Stämme, die ursprünglich unter duces standen, in der Heimat unter Königen gestanden haben werden. Sie können sich dann durch den Auszug unter einem dux und die anschließende geglückte Landnahme aus ihrer alten Völkerschaft gelöst und in den neuen Sitzen ein neues Königtum ausgebildet haben 920 , wodurch sie sich erst als neue gens konstituierten. Bei den Franken liegt dies nahe, da ihre Mutterstämme bereits in den rechtsrheinischen Sitzen vielfach als unter Königen stehend bezeugt sind 921 . Aber auch von den Ausgangsräumen der suebischen Markomannen und Quaden, die ja ebenfalls nach der Landnahme ein neues Königtum ausbildeten, ist dies schon anzunehmen. Als die ältesten Sueben betrachteten sich nach Tacitus Germ. c. 39 die Semnonen. In einem bei ihnen befindlichen H a i n wurde der Ursprung des Volkes gedacht (initia gentis). Hierher kamen die Gesandten der „blutsverwandten" ausgewanderten populi zum Kultfest zusammen. Mit diesem H a i n aber war, wie O. H ö f 1 e r 922 gezeigt hat, ein ungewöhnlich archaisches Sakralkönigtum verbunden. All diesen Behauptungen scheint nun entgegenzustehen, daß bei Tacitus — und z. T. schon bei Caesar — eine ganze Reihe von Stämmen ohne »i«) Vgl. oben S. 323. 917 ) c. 33 f.; vgl. jedoch dazu K.HELM, Altgerm. Religionsgesdi.il, 1, S. 60 f.; J. DE VRIES, Altgerm. Religionsgesch. I 2 , S. 363 u. II 2 , S. 190 f. »18) K. MÖLLENHOFF, in: ZfdA 12, S. 346 ff.; DERS., DA IV, S.487f. »»») Heerkönigtum, S. 115. 92 ) Vgl. oben S. 323. 921) VGL. DIE Zusammenstellung bei L. SCHMIDT, Gesch. der dt. Stämme II 1 , S. 520. 822 ) Das Opfer im Semnonenhain und die Edda, in: Edda, Skalden, Saga (Fs. F. Genzmer), S. 1—67.

412

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Könige war. Als ihre Führer erscheinen principes, die die Angelegenheiten der civitas vorberaten, über die geringfügigeren selbst entscheiden und die wichtigeren in der Volksversammlung vorbringen 9 2 3 . Bereits W . S c h l e s i n g e r hat sich gegen die Tendenz der klassischen Verfassungsgeschidite des 19. Jahrhunderts gewandt 9 2 4 , hierin gewissermaßen den Urzustand zu sehen, aus dem heraus sich dann das K ö n i g t u m und straffere Organisation entwickelt hätte. Doch nicht n u r die Entstehung des Königtums aus dieser Prinzipatsverfassung heraus läßt sich nicht m i t den Quellen vereinbaren, auch die Behauptung der damit verbundenen Verstärkung herrschaftlicher Züge in der Verfassung entspricht nicht i m m e r dem, was uns berichtet wird. Sehen wir uns an, w o denn eigentlich in den Quellen von strengerer Organisation gesprochen wird. D a ist, abgesehen von den ebenfalls auf Kolonialboden seßhaft gewordenen Oststämmen, zunächst Marbods Reich zu nennen. Tacitus A n n . II 45 berichtet, daß Marbods H e e r wie das des Arminius nicht m e h r so planlos kämpfte, wie man es sonst v o n G e r manen gewöhnt war, sondern daß sie jetzt ihren Feldzeichen folgten, sich durch Reserven sicherten und auf die Befehle des Feldherren achteten. Bei Marbods H e e r ist das nicht auffällig, da bei ihm als H e e r k ö n i g schon stärkere Befehlsgewalt zu vermuten ist und überdies die straffe Disziplin bereits durch seine „Fremdenlegionäre" bedingt war 9 2 5 . Beim Heer der Cherusker, einer Völkerschaft mit Prinzipatsverfassung, ist das schon erstaunlicher. Dabei ist die angeführte Stelle nicht das einzige Zeugnis. Audi von den Chatten wird berichtet, daß sie den Vorgesetzten gehorchen (audire praepositos) und geordnete Schlachtreihen kennen (nosse ordines)926. Dagegen werden die Friesen von Königen beherrscht, in quantum Germani regnantur. H i e r ist also das alte, dem R ö m e r in seinen Funktionen stark eingeschränkt erscheinende alte Königtum noch erhalten. D i e Friesen sitzen j a aber audi auf altem germanischem Boden, während Chatten und Cherusker in das Burgengebiet des Mittelgebirges eingedrungen waren. D i e von Tacitus G e r m . c. 31 besonders hervorgehobene Stärke der Berufskriegerschaft der Chatten kann mit der chattischen Landnahme in V e r bindung stehen. Bei den Friesen gibt es in vorchristlicher Zeit keine B e festigungen wie im Mittelgebirgsraum. Bei ihrem Aufstand im J a h r e 28 n. C h r . müssen die römischen Truppen sich in ein Landhaus zurück-

»23) Tacitus Germ. c. 11. »24) Heerkönigtum, S. 115. »25) Vgl. oben S. 367. »26) Tacitus Germ. c. 30. Bemerkenswert ist, daß die Chatten in diesem Zug den Helvetiern der Zeit überlegen waren. Tacitus Hist. I 68 berichtet von ihnen: non arma noscere, non ordines sequi, non in unum consulere. Uber die Plinianische Herkunft beider Stellen vgl. E. NORDEN, Urgesdi., S. 268 f.

Prinzipatsverfassung als Urverfassung — Herrschaftliche Züge

413

ziehen und geben sich hier den Tod 927 . Man könnte nun vermuten, daß sich bei den westgermanischen Stämmen, die in die wirtschaftlich und sozial bereits weiter entwickelte Mittelgebirgszone eindrangen, eine ganze Reihe neuer Aufgaben für die Führung ergeben hätte, die vom alten, auf ganz bestimmte Funktionen beschränkten Königtum nicht überall und ohne weiteres übernommen werden konnten. Analog der Ausbildung der modernen Staatlichkeit innerhalb der Territorien unter weitgehender Ausschaltung des Reiches und seiner Organe könnten auch hier jetzt die principes einen Teil der neuen Funktionen oder gar alle an sich gezogen und die Bedeutung des Königtums für den Staat geschmälert haben. Auch die Zersplitterung in Kleinstämme928, die im Westen deutlicher ist als im Osten, kann vielleicht teilweise damit erklärt werden. Dennoch läßt sich mit solchen Erwägungen nicht alles verständlich machen, hat sich doch bei den Markomannen und Quaden, die ebenfalls im Burgengebiet saßen, das Königtum erhalten, wenn auch nur unter mannigfachen Umwälzungen929 und zum Teil dank der Förderung des Römischen Reiches930. Überträgt man die Namen der keltischen und germanischen Völkerschaften, bei denen Caesar und Tacitus Könige nennen, und die, bei denen nur principes überliefert werden, auf eine Karte (vgl. zu Folgendem Karte 2), so ergibt sich das überraschende Bild, daß die Grenze beider Verfassungsformen die ethnische Grenze quer durchschneidet und daß das Gebiet der germanischen civitates mit Prinzipatsverfassung in einem zusammenhängenden Komplex mit dem entsprechenden keltischen verbunden ist. östliche Germanen wie östliche Kelten (z. B. Noricum) stehen dagegen unter Königen. Das gleiche gilt für den Norden beider Sprachgebiete. Das dürfte kein Zufall sein. Genau wie bei allen anderen indogermanisch sprechenden Gruppen stehen auch bei den Kelten Könige am Anfang ihrer Geschichte. Aber bei ihnen ist der Zeitpunkt, zu dem ein großer Teil ihrer civitates das Königtum abschaffte, deutlich zu erkennen und ist daher nicht unbemerkt geblieben931. Während zur Zeit, als Rom die Narbonensische Provinz eroberte, noch alle gallischen Stämme des Südens Könige hatten, bietet das 9 2 7 ) Tacitus Ann. IV 7 3 : et aliam quadringentorum manum occupata Cruptorigis quondam stipendiarii villa. 9 2 8 ) Es ist vielleicht kein Zufall, daß die civitas der Sugambrer, nachdem ihr rex Maelo in römische H a n d geraten war, schließlich in mehrere kleinere civitates zerfiel; vgl. L. SCHMIDT, Westgerm. I I 2 , S. 178 u. S. 184. 92») Vgl. Tacitus Ann. II 62 Sturz Marbods durch Catualda, Tacitus Ann. II 63 Sturz Catualdas bei den Markomannen, Tacitus Ann. X I I 29 Sturz des Vannius bei den Quaden usw. 9 3 °) Tacitus Germ. c. 4 2 : sed vis et potentia regibus ex auctoritate Romana.

«S1j

V g l . A . GRENIER, L e s

P O W E L L , T h e C e l t s , S . 7 9 ff.

Gaulois,

S. 1 8 0 ff.;

F.LOT,

La

Gaule,

S. 7 4 ;

T. G. E .

414

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Gallien Caesars bereits ein verändertes Bild 932 . In der Celtica zwischen Seine und Garonne haben nur noch die Nitiobrogen im Süden und die Senonen im Norden Könige. In der Belgica sind es die Suessionen, die ihr Königtum bewahrt haben, während es bei den Atrebaten zweifelhafter ist. Wenn Caesar dort einen König einsetzt, so dürfen wir wohl — wenn wir an die Analogie bei den Senonen denken — mit einigem Recht schließen, daß die Atrebaten vorher auch Könige gehabt hatten. Daneben sind nur noch bei den germanischen Eburonen, die bezeichnenderweise nach Caesar keine oppida besitzen933, Könige zu finden, die nach der Aussage des Ambiorix zu urteilen noch ganz den alten Typ des Königtums verkörperten: suaque esse eius modi imperia, ut non minus haberet iuris in se multitudo quam ipse in multitudinemgu. Doch gab es damals in Gallien eine ganze Reihe von principes, deren Väter oder Großväter noch Könige waren 935 . In anderen civitates war das regium genus noch in taciteischer Zeit bekannt 936 . Offensichtlich war diese keltische „Revolution" (Grenier), die zur Abschaffung des Königtums führte, zur Zeit Caesars noch nicht überall abgeschlossen. Es trifft zwar nicht ganz zu, wie T. G. E. P o w e 11937 meint, daß sich die königlosen Stämme auf die Celtica beschränken — denn mindestens die Remer, Nervier und Bellovaker in der Belgica stehen auch nur unter principes —, doch ist Britannien zu dieser Zeit von der Bewegung noch unberührt geblieben. Caesar weiß hier nur von civitates, die von Königen geleitet werden. Aber Tacitus Agricola c. 12 bemerkt bereits: olim regibus parebant, nunc per principes factionibus et studiis distrahuntur. Doch ist die Umsturzbewegung in Britannien anscheinend ausgelaufen. Tacitus berichtet im Laufe seiner Erzählung noch von mehreren britannischen Königen bzw. Königinnen (Prasutagus, Cogidumnus, Venutius, Boudicca, Cartimandua). Der Norden der Insel und Irland wurden anscheinend von den Wellen des Umsturzes nicht mehr erreicht. Nach dem oben Angeführten ist dieser Umsturz zeitlich erheblich später anzusetzen, als es

»32) D i e Belege für das Folgende sind bei den Anmerkungen zu Karte 2 aufgeführt. »33) b. G. VI 34.1; vgl. dazu jedoch W. DEHN, in: Saalburg-Jahrbudi 10 (1951), S. 38, Anm. 8, der darauf hinweist, daß Atuatuca möglicherweise doch ummauert war (b. G. VI 35: praesidii tantum est, ut ne murus quidem cingi possit). »3«) Caesar b. G. V 27. 3. »35) Vgl. Caesar b. G. V 25.1 (Carnuten); I 3 . 4 (Sequaner); IV 12.4 (Aquitanier). »3«) Tac. Hist. IV 55 (Treverer). »37) The Celts, S. 79. Er hat hier wohl A. GRENIER, Les Gaulois, S. 183, mißverstanden, der lediglich hervorhebt, daß besonders unter den Beigen sich nodi das Königtum erhalten habe, wobei er die germanischen Eburonen mit zu den Beigen rechnet.

„Revolution" in Gallien — Gründe

415

nadi der von U . K a h r s t e d t 9 3 8 postulierten Aufstandsbewegung, die zum Aufhören der Fürstengräber führte, anzunehmen wäre; eine neuerliche Warnung, sich in solchen Fragen vor Schlüssen e silentio zu hüten. Man vergleiche die sagenhaft prachtvolle Hofhaltung des Arvernerkönigs Luerius 9 3 9 , dessen Sohn Bituitus noch den Allobrogern in der späteren Provinz Beistand leistete, als diese von den Römern bedroht wurden, weil sie dem Saluvierkönig Tutomotulus Zuflucht gewährt hatten 9 4 0 . Welche Gründe haben aber nun zu dieser Revolution geführt? T . G. E . P o w e l l weist darauf hin, daß die Hauptstämme mit königsloser Verfassung, die Arverner, Häduer und Helvetier, sich durchweg in der Einflußzone der römischen Provinz befanden. Diesen Einfluß hält er — neben der inneren Zerrüttung durch das römische Vordringen und die germanischen Invasionen — für ein bestimmendes Moment der Verfassungsänderung. Dieser Hinweis ist wertvoll, doch kann es nicht die eigentlichen Ursachen der Bewegung erklären. D e r römische Einfluß und das römische (vielleicht auch massiliotische) Vorbild waren weniger für die Auslösung der Bewegung wichtig — die ebenfalls in der N ä h e der römischen Grenze ansässigen Teurisker in Noricum wurden ja auch nicht davon betroffen — , sie waren wohl wichtiger für die Bemühungen, wieder stabile Verhältnisse zu schaffen, d. h. für die Einrichtung der Magistrate. D e r summus magistratus, der vergobretos941, sie sind wohl nicht ohne dieses Vorbild zu denken. Als einen weiteren Wirkungsfaktor führt P o w e 1 1 942 die Entstehung der oppida im späten zweiten Jahrhundert v. Chr. an, jener stadtartigen befestigten Siedlungen der Gallier, die als Reflex der Entwicklung städtischen Lebens an der Mittelmeerküste verstanden werden und durch die Kimberneinfälle gefördert wurden. Diese soziale Umwälzung mußte Folgen für das Stammesleben haben. Neue Ordnungsaufgaben mußten bewältigt werden, für die in den Uberlieferungen keine N o r m zu finden war und deren Durchführung nicht von einem sakral gefestigten Ritual begleitet war. Das mußte zu einer Schwächung der kultischen Bedeutung des Königtums führen. Diese Erwägung findet eine überraschende Stütze im germanischen Bereich. H i e r können wir eine fast gesetzmäßige Bindung des Verbreitungsgebiets königloser Völkerschaften mit dem Raum der befestigten Höhensiedlungen feststellen (vgl. K a r t e 2). Die Ubereinstimmung geht so weit, daß auch umgekehrt die linksrheinischen Eburonen, die — 9 3 8 ) Eine historische Betrachtung zu einem urgeschichtlichen Problem, in: P2 2 8 / 2 9 (1937/8), S. 401 ff. 93») Vgl. F. LOT, La Gaule, S. 74. » « ) Vgl. F. LOT, L a Gaule, S. 33. 941

) Vgl. z u m Vergobreten A . GRENIER, Les Gaulois, S. 1 7 9 ; F . L O T , L a Gaule,

S. 75. »42) The Celts, S. 80.

416

Ethnische Verhältnisse Germaniens

wie schon erwähnt — keine oppida besitzen, ihr altes Königtum beibehalten. Doch ist der „Faktor" der oppida, so bedeutsam er auch sein mag, nur eine Voraussetzung, die den Umsturz begünstigt, nicht aber eigentlich veranlaßt. Wir wiesen schon auf die Markomannen und Quaden hin, die wie auch die Kelten Noricums unter ähnlichen Bedingungen ihr Königtum erhielten 943 . Die eigentliche Ursache scheint anderer Art zu sein. Man glaubt aus Caesar entnehmen zu können 944 , daß die Erweiterung und der Mißbrauch des Klientenwesens die alte Verfassung zerstört hätten. Die Faktionen der Aristokratie seien dadurch so stark geworden, daß sie die alten Bande zersprengt hätten. Dieser durch Parteiungen verwirrte Zustand der Völkerschaften dauerte unter der neuen Verfassung weiter an 9 4 5 . Einzig in der Zahl der ambacti und clientes erblickten die Gallier nun die Grundlage ihrer Macht 946 . Einzelne principes waren dadurch weit mächtiger als die Magistrate 947 . Sie wurden dadurch zu einer ständigen Gefahr für das Staatswesen und erhielten nicht nur in der eigenen civitas, sondern auch bei den Nachbarn eine ungewöhnliche Machtstellung 948 . Wenn ein solcher princeps wie Orgetorix angeblich 10 000 clientes und andere Angehörige und Abhängige auf der Gerichtsstätte erscheinen ließ, so konnte er sich der Verantwortung leicht entziehen 949 . Mehr als einmal werden diese Leute die Wahl eines ihnen genehmen Magistrats auch gegen die Formen der Verfassung durchgesetzt haben, wie es z. B. Caesar b. G. VII 33. 3 berichtet 950 . Die Angehörigen der ehemaligen königlichen Häuser waren selbstverständlich mit unter diesen Machthabern und versuchten ständig, die Stellung ihrer Vorfahren wieder zu erlangen 951 . MS) Vgl. oben S. 413. Wie ich nachträglich bemerkte, hat bereits 1939 H . LAAKMANN, in: Baltische Lande I, S. 236 darauf hingewiesen, daß die Ausbildung von Burgherrschaften im Baltikum zur Sprengung der größeren Verbände geführt hat. »«)

V g l . A . GRENIER, Les

Gaulois,

S . 1 8 0 ff.; T . G . E . POWELL, T h e

Celts, S. 79.

8 « ) Caesar b. G . I I 11. »4«) Caesar b. G. VI 15. 2. 9 4 7 ) Caesar b. G. 1 1 7 . 1: esse nonnullos, quorum auctoritas apud plebem plurimum valeat, qui privatim plus possint quam ipsi magistratus. 948) Caesar b. G. I 18. 3 : ipsum esse Dumnorigem, summa audacia, magna apud plebem propter liberalitatem gratia, cupidum rerum novarum . . . magnum numerum equitatus suo sumptu Semper alere et circum se habere; neque solum domi, sed etiam apud finitimas civitates largiter posse. ®49) Caesar b. G. 1 4 . Selbst wenn wir die Zahl durch zehn teilen, was dem Sachverhalt näher kommen dürfte, bleibt eine solche Schar ein gewaltiger Maditfaktor. 950) Vgl. V I I 39. 2. »5i) Caesar b. G. I 3 . 4 (Casticus, Sequaner); V I I 4 (Vercingetorix, der die Stellung seines Vaters Celtillus wieder erreichen will); vgl. auch 1 3 . 5 (Dumnorix, Häduer) und II 1 . 4 .

Gründe der gallischen „Revolution"

417

Schließlich wäre noch ein vierter Faktor zu erwähnen. Den Auflösungserscheinungen der civitates läuft ein anderer Vorgang parallel: das Bestreben, mehrere civitates unter eine Herrschaft zu zwingen. Ähnlich wie wir es im germanischen Raum — etwa bei Marbod — beobachten können, waren solche Bestrebungen auch dem vorcäsarischen Gallien und Britannien nicht fremd. Man denke an Celtillus, den Vater des Vercingetorix, der den principatum totius Galliae innehatte 952 , oder an Cassivellaunus, der den König der Trinovanten ermordete und auch bei dieser Völkerschaft die Herrschaft übernahm 953 . Endlich sei noch an die Reichbildung des Suessionenkönigs Diviciacus erinnert, totius Galliae potentissimus, der nicht nur Belgien, sondern auch Teile Britanniens beherrschte954. Möglich, daß der belgische Bund aus dieser Reichsbildung erwuchs. Wie das Beispiel des Cassivellaunus und später das Chlodwigs zeigt, könnte eine derartige Reichsbildung zur Vernichtung des Königtums der unterworfenen Stämme führen. Wenn nun das Reich zusammenbrach, konnten diese Kleinstämme dann zuweilen weiter ohne Königtum bleiben, da es anfangs nicht jeder Adelssippe möglich war, ohne besondere Legitimation zu einer königlichen zu werden 955 . Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, zu lesen, wie F. L o t 956 aus der keltischen Perspektive heraus die revolutionären Gallier mit den Römern und Hellenen des Altertums vergleicht und sie den konservativen Germanen gegenüberstellt, die das Königtum bewahrten. Galt es doch gerade als Dogma der deutschen Verfassungsgeschichte, daß sich das germanische Königtum erst aus solchen „urtümlichen" Zuständen heraus entwickelt hatte, wie sie durch die keltische Revolution in Gallien entstanden waren. Es hat freilich nicht ganz an Stimmen gefehlt, die das Übergreifen dieser keltischen Revolution auch auf germanisches Gebiet behaupteten. Schon O. S c h r ä d e r 9 5 7 hat Entsprechendes für Germanien angenommen und beide Vorgänge zusammengesehen; und später hat G. S c h ü t t e mehrfach behauptet, der „Republikanismus" Westgermaniens sei von Gallien ausgegangen958. Nur ist er der irrigen Ansicht, daß diese nunmehr „republikanischen Germanen", wo sie „auf fremden Nationalboden vordringen", Königreiche gegründet hätten 959 . Nun ist nicht zu bestreiten, daß die landnehmenden »52) Caesar b. G. VII 4. »53) Caesar b. G. V 20. »54) Caesar b, G. II 4. 7. »55) Vgl. oben S. 322. »56) La Gaule, S. 74. »57) RL, S. 452 f. »58) Our Forefathers I, S. 123 (mit Hinweis auf Dottin, 228), S. 204 u. S. 243, II, S. 81; Gotthiod, S. 43 f., S. 60 u. S. 91. »5») Gotthiod, S. 43 ( = Our Forefathers I, S. 204).

418

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Germanen neue Königtümer errichteten, wie wir gesehen haben. Aber sie kamen in diesen Fällen aus Gebieten, die das Königtum als solches kannten. Gerade die später „republikanischen Germanen" sind ihrerseits Landnehmer, die nur in ein Gebiet eindrangen, wo sie anscheinend in den Sog der keltischen Revolution hineingerieten. Dort, wo die sozialen Bedingungen für diese Revolution nicht gegeben waren, wie in der alten Heimat im Flachland, ist sie auch nicht durchgedrungen. Auch W. S c h l e s i n g e r 9 6 0 hat vermutet, daß der von Tacitus bei manchen Stämmen geschilderte Zustand nur das Ergebnis einer zeitweiligen Rückbildung des Königtums gewesen sei. Diese Rückbildung führt er darauf zurück, daß zur Zeit des Tacitus die Germanen durch die römische Abwehr einen Zustand relativer Seßhaftigkeit erreicht hätten und daß in diesem Zwischenzustand das Königtum ohne wichtige Funktion gewissermaßen verkümmerte. Das ist aus der Sicht des Heerkönigtums gesehen und trifft für die auf dem Kolonialboden neu gebildeten civitates in einzelnen Fällen wohl auch zu. Man könnte dann allerdings eher sagen, daß es bei diesen Völkerschaften überhaupt nicht zur Ausbildung eines Königtums gekommen ist. In allen Fällen kann nun aber gar nicht damit geredinet werden, daß erst durch das Römische Reich, welches den Bewegungen der Germanen vorübergehend Einhalt gebot, diese Rückbildung bedingt worden sei. Denn bereits in Caesars Zeit ist eben diese Rückbildung auch bei einigen germanischen Völkerschaften, wie den Ubiern 961 , Usipiern und Tenkterern 9 6 2 , schon vollzogen, d. h. also gar nicht so viel später als in Gallien. Wir werden hier also ganz ähnliche Faktoren wie dort voraussetzen müssen, vielleicht etwas abgeschwächt und zu weniger weit entwickelten neuen Formen führend. Die weitere Entfernung vom römischen Vorbild macht sich schon darin bemerkbar, daß es nicht zur Ausbildung von Magistraten gekommen ist. Das ist es ja gerade, was Caesar an den königslosen germanischen Völkerschaften erstaunt: In face nullus est communis magistratus, sed principes regionum atque pagorum inter suos ius dicimt controversias minuunt. Erst spät ist bei den auf Reichsboden siedelnden Batavern ein summus magistratus inschriftlich bezeugt 963 . L. S c h m i d t 9 6 4 glaubt, daß diese Einrichtung nach keltischem Vorbild und erst nach dem Bataveraufstand geschaffen worden sei, da sie während des Aufstandes noch nicht erwähnt wird. »«0) Heerkönigtum, S. 115 f. 9«i) Vgl. Caesar b. G. IV 11. 2. »82) Vgl. Caesar b. G. IV 13.

0«3) CIL XIII 8771 ( = Riese 2416): Magusano Herculi sacrum Flavus matis fil. summus magistratus civitatis Batavor. v. s. I, m. »84) Westgerm. II«, S. 164.

Vihir-

Rückbildung des Königtums in Germanien

419

Die befestigten Siedlungen reichten größenmäßig im älteren Landnahmegebiet bei weitem nicht an die gallischen heran. Dennodi haben wir schon oben eine bemerkenswerte Übereinstimmung ihres Verbreitungsgebietes mit dem der königslosen Völkerschaften festgestellt965. Hier scheint eine Beziehung vorzuliegen. Nur unvollkommen und vorübergehend ist es noch in viel späterer Zeit dem Königtum gelungen, ein Befestigungsmonopol durchzusetzen. Man könnte überspitzt formulieren: So wie das Heiligtum die Basis des alten Sakralkönigtums ist 966 , so ist die Burg das Fundament der Adelsherrschaft. Es ist auch nicht möglich, die Rückbildung des Burgenwesens um Christi Geburt mit der des Königtums in Verbindung zu bringen, da diese ja bereits über ein halbes Jahrhundert früher evident ist. Bemerkenswert ist dabei, daß im Westen wie im Norden Germaniens das aus dem Keltischen entlehnte Wort für König (*riks) nur in Namen erhalten ist 967 , ja vielleicht nur als Namenelement übernommen wurde 968 . Im Gotischen, wo sich die alte Bezeichnung für den sakralen König (piudans) erhielt, weil es dem Königtum gelang, in steter Machtsteigerung die wesentlichen Fäden in der Hand zu behalten, ist das Lehnwort aus dem Keltischen reiks abgesunken und entspricht dem gr. ägxcov, während piudans gr. ßaailevg übersetzt. Das Gotische vermittelte das Wort reiks bzw. reikeis auch an das Preußische weiter, wo rikijs in der Bedeutung „Herr" begegnet969. Aber im Gotischen sind ja daneben auch das keltische Lehnwort kelikn „Turm" 9 7 0 aus dem Befestigungswesen und sipöneis971 „Jünger" aus dem Gefolgschaftswesen erhalten. Auch hierin sehen wir Hinweise darauf, daß dort im Osten andere Voraussetzungen galten und das Königtum sich die neuen Formen, die weniger ausgeprägt als im Westen gewesen sein mögen, unterordnen konnte. Das Klientenwesen ist gleichfalls bei den Kolonialstämmen gut bezeugt. Die barbari, die Marbod und später auch Catualda nach ihrem Sturz begleiteten, dann zwischen March und Waag angesiedelt und von Rom unter die Herrschaft des Vannius gestellt wurden972, sind solche ausgeweiteten »«5) S. 415 f.; vgl. S. 414. 866) D i e Bedeutung des Heiligtums für die Stellung dieser alten Kleinkönige zeigen manche Episoden aus dem Norden. Vgl. die bei R . v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 254, angeführte Stelle, wo der Häuptling auf Mostr seinen Tempel abbricht und mit nach Island nimmt. fl«7) H . KUHN, in: Z R G GA 73 (1956), S. 74. »68) j . DE VRIES, Das Königtum bei den Germanen, in: Saeculum 7 S. 304. »«9) T . E . K A R S T E N , D i e G e r m a n e n , S . 1 5 5 .

»™j Vgl. oben S. 408. » « ) Vgl. oben S. 358 f.

9«) Tacitus Ann. II 63.

(1956),

420

Ethnische Verhältnisse Germaniens

Gefolgschaften gewesen, den späteren Königsfreien der Franken vergleichbar. Audi Vannius wurde seinerseits bei seiner Vertreibung von clientes begleitet 9 7 3 . Wir sehen auch hier das Klientenwesen deutlich in Zusammenhang mit dem Umsturz, auch wenn es hier nicht gelang, das Königtum zu beseitigen, z. T . wohl deshalb, weil die Könige hier von R o m gestützt wurden 9 7 4 . So gern R o m die Barbaren sich gegenseitig zerfleischen sah 9 7 5 , noch lieber sah es einen Anhänger auf dem Thron, und Tacitus bezeichnet es als eine lang angewandte römische Methode, auch Könige als Werkzeuge der Versklavung zu benutzen 9 7 6 . Wenn R o m den Brukterern vi et armis einen König aufzwang 9 7 7 , so wird sich dieser ebenfalls nicht ohne eine starke Klientenschar gehalten haben. Bei den Cheruskern blieben die V e r suche zur Wiederherstellung des Königtums auf die Dauer erfolglos, was den Untergang des Volkes besiegelte. H i e r ist die Bedeutung der Klientenschaft besonders klar zu erkennen. Germanicus entsetzt den belagerten Segestes magna cum propinquorum et clientium manu978. I m Krieg gegen Marbod hätte Arminius das Übergewicht gehabt, wenn nicht sein Oheim Inguiomer cum manu clientium übergegangen wäre 9 7 9 . Es müssen schon beachtliche Kräfte gewesen sein, die sich mit dem Ubergang zweier ganzer Stämme, der Semnonen und Langobarden, vergleichen ließen. Auch werden es eher solche Kliententruppen als kleine Hausgefolgsdiaften gewesen sein, f ü r die das W o r t des T a c i t u s g i l t : et ipsa plerumque

fama

bella

profligant9a0.

D i e Stelle erinnert zu deutlich an das, was Caesar von der Machtstellung der von Klienten gestützten gallischen principes selbst bei den benachbarten civitates berichtet 9 8 1 . W i r haben uns bisher bei dem Vergleich der Verfassungsentwicklung in Gallien und Germanien nur auf den räumlichen Zusammenhang und ähnliche Erscheinungsformen innerhalb beider Vorgänge gestützt. Es gibt aber auch direkte Hinweise auf die Revolution bei den Kolonialstämmen des Rhein-Weser-Mittelgebirgs-Raumes. D a ist einmal das Vorhandensein einer stirps regia bei königlosen Stämmen, das zu der Prinzipatsverfassung so gar nidit stimmen will, das aber Parallelen in Gallien hat, wo der Verlauf des Umsturzes besser zu fassen 973) 874) 975) 97«) 977) 978) schaft, 97») S. 246 980) »81)

Tacitus Ann. X I I 30. Tacitus Germ. c. 42: sed vis et potentia regibus ex auctoritate Romana. Tacitus Germ. c. 33. Tacitus Agricola c. 14. Plinius d. J . epist. II 7. 2. Tacitus Ann. I 57; vgl. dazu H. DANNENBAUER, Adel, Burg und HerrS. 18 ( = Wege der Forschung II, S. 89). Tacitus Ann. II 45; dazu W.SCHLESINGER, Herrschaft und Gefolgschaft, ( = Wege der Forschung II, S. 159). Tacitus Germ. c. 13. Vgl. oben S. 416 m. Anm. 948.

Klientenwesen — stirps

regia

421

ist. Man vergleiche etwa das regium genus der Treverer 9 8 2 . Z w a r hat es früher — besonders ehe der imposante Bau der klassischen deutschen Rechtsgeschichte in seinem Grundgerüst fertiggestellt war — nicht an Stimmen gefehlt, die ein vorher allgemeines Königtum bei den Germanen befürworteten, das bei einigen Völkerschaften dann abgekommen sein soll 9 8 3 . Sie konnten sich gegen den Strom der herrschenden Meinung nicht durchsetzen. Doch diese stand nun ihrerseits vor dem Problem, die anstößigen Stellen auszuräumen, was auf verschiedenste Weise versucht wurde. Die einen meinten, daß principes, in deren Hause ihr „ A m t " erblich war, auch reges genannt werden konnten 9 8 4 . H . B r u n n e r 9 8 5 umgeht die Schwierigkeit, indem er sich auf L. E r h a r d t bezieht und meint, daß „auch sonst die Prinzipatsgewalt manchmal als eine königliche bezeichnet w i r d " . L . E r h a r d t 9 8 6 , der manches vorausgenommen hat, worauf man heute wieder aufmerksam geworden ist, hat aber damit nur beweisen wollen, daß die principes eigentlich Kleinkönige waren, die durch die Zusammenfassung zu größeren civitates gewissermaßen mediatisiert wurden 9 8 7 . Das wird in vielen Fällen auch zutreffen. M a n kann sich jedoch bei der Nachricht des Tacitus Germ. c. 12, daß die principes, qui iura per pagos vicosque reddunt, gerade auf der Völkerschaftsversammlung ausgewählt (eliguntur) wurden, nicht des Verdachts erwehren, hier bekämen abhängige Gruppen von der führenden Einheit der civitas ihre Richter zugeteilt. Von einer „ W a h l " ihres Richters durch die „Gerichtsgemeinde" selbst ist jedenfalls nicht die Rede 9 8 8 . Wenn dann Tacitus Ann. X I 16 die Berufung des Italicus zum König aller Cherusker gerade damit begründet, daß dieser uno reliquo stirpis regiae war, hat das nicht den Anschein, als ob sich die königliche Qualität seines Geschlechtes nur auf einen pagus bezieht. Das widerlegt

»82) Tacitus Hist. IV 55. »83) CH. K.BARTH, Teutschlands Urgeschichte IV 2 (1840), S. 238; J . M . WATTERICH, de veterum Germanorum nobilitate (1853), § 17; F. M. WITTMANN, Das altgermanische Königtum (1854), S. 18, 27, 31; J. W. LOEBELL, Gregor von Tours und seine Zeit vornehmlich aus seinen Werken geschildert ( 2 1869), hrsg. H. v. Sybel, S. 401—409; zuletzt wohl D. A. BAUMSTARK, Urdeutsche Staatsaltertümer zur schützenden Erläuterung der Germania des Tacitus (1873), S. 151. «84) H. v. SYBEL, Königtum, S. 140 f.; ähnlich in dieser Hinsicht F.DAHN, Die Könige der Germanen I (1863), S. 125, der nicht erbliche „Bezirks-Grafen" und erbliche „Bezirks-Könige" unterscheidet, von denen mehrere in einer civitas vorhanden sein konnten. 485 ) Dt. Rechtsgesch. I 2 , S. 168. Auch L.SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 122 ff. und II 2 , S. 162, Anm. 4, faßt die Angehörigen der stirps regia als „Adlige". Vgl. auch H. DANNENBAUER, in: Wege der Forschung II, S. 128, Anm. 175. 9 8 6 ) Aelteste germanische Staatenbildung (1879), S. 53. »87) Diese Auffassung berührt sich in manchem mit der H. Dannenbauers; vgl. dagegen TH. MAYER, in: Rhein. Vjbll. 17 (1952), S. 357. »88)

VGL. D A Z U R . M U C H , G e r m a n i a , S . 1 5 1 .

422

Ethnische Verhältnisse Germaniens

auch die Ansichten S y b e l s und D a h n s 9 8 9 . Einen „republikanischen Rückschlag" weist aber auch E r h a r d t 9 9 0 zurück, wie auch D a h n 9 9 1 , der sonst das Alter des germanischen Königtums besonders gegen S y b e 1 betont, von einem historischen „Entwicklungsgang vom Königtum zur Republik" nichts wissen will. Andere wollen den Ausdruck stirps regia nur in übertragenem Sinne verstehen, wie etwa B e t h m a n n - H o 11 w e g 992 , der darunter ein des Königtums würdiges Geschlecht versteht und anmerkt, daß ja auch den römischen Konsuln und den keltischen Magistraten regia potestas zugeschrieben wird. Aber die Germanen haben ja eben keinen Magistrat, abgesehen von der späten Ausnahme bei den Batavern. E. v. W i e t e r s h e i m 993 meint, daß regius hier den Sinn von principalis habe, dieses Wort sich jedoch zu einer solchen Verwendung angeblich nicht eignete. F. T h u d i c h u m 9 9 4 sieht den Grund in einer römischen Titelverleihung an ein Mitglied des Geschlechts, was bloße Annahme bleibt. G. W a i t z 9 9 5 wiederum glaubt, in der stirps regia die Nachkommen der Führer bei der Landnahme zu sehen, die nicht zu regelmäßiger Herrschaft gelangen, doch eine ausgezeichnete Stellung behielten. Schließlich ist nach R. K ö p k e 996 die stirps des Arminius erst nach dessen Tod eine regia geworden, da Armins Neffe Italicus zum rex aufstieg. Aber Italicus wird doch eben nur deshalb rex, weil er der stirps regia angehört. Das Unbefriedigende all dieser Interpretationen liegt auf der Hand. Alle wirken gezwungen und dienen einzig dem Zweck, der nächstliegenden auszuweichen; diese aber ist: Wo eine stirps regia erwähnt wird, hat es einmal ein Königtum gegeben. Neuerdings hat sich W. S c h l e s i n g e r , der wie der Germanist R. M u c h 997 einen Wechsel von Königtum und Prinzipatsverfassaing an-

»8») Vgl. oben S. 421 m. Anm. 984. 990) Aelteste germanische Staatenbildung, S. 27 f. Er sieht nicht ein, „wie man eine Garantie der republikanischen Institutionen in einer Theilung der Völkerschaft unter lebenslängliche kleine Fürsten, statt vielmehr in einem auf bestimmte Zeit gewählten magistratus des ganzen Staates hätte suchen sollen". Das Königtum ist ja aber nicht durch die Macht eines demokratisch-republikanischen Gedankens beseitigt worden, wie die ganze Argumentation der Zeit voraussetzt, sondern durch den Machtkampf der principes. »»1) Könige I, S. 129. 992) D e r germanisch-romanische Civilprocess im Mittelalter (1868), S. 95, Anm. 56. »»3) Geschichte der Völkerwanderung I (1859), S. 370. 994) Der altdeutsche Staat (1862), S. 69. »95) Dt. Verfassungsgesch. I (41953), S. 189 f. 996) Deutsche Forschungen. Die Anfänge des Königthums bei den Gothen (1859), S. 27; dagegen F.DAHN, Könige I, S. 122; D. A. BAUMSTARK, Staatsaltertümer, S. 147. »97) Germania, S. 103, 255.

stirps regia — Cherusker — Chatten

423

nahm und mit einer zeitweiligen Rückbildung des Königtums rechnete998, zu dieser Frage wieder geäußert. Während er vermutet, daß bei den Batavern, wo Tacitus Hist. IV 12 eine stirps regia erwähnt, ein früher vorhandenes Königtum geschwunden sei999, schließt er bei den Cheruskern diese Möglichkeit aus1000. Er meint vielmehr, daß ein so ruhmvoller Held wie Arminius bald als Begründer eines königlichen Geschlechts gegolten habe. Hätte Arminius bereits einem Königsgeschlecht angehört, so hätte Tacitus dies wie bei Civilis zu erwähnen sicherlich nicht unterlassen. Dies ist ein redit schwerwiegender Einwand, den schon S y b e l 1001 und W a i t z 1002 vorgebracht haben. Dennoch kann er vielleicht aus dem Wege geräumt werden. Als Tacitus Ann. X I 16 die stirps regia erwähnt, sagt er, daß die C h e r u s k e r in inneren Wirren ihren Adel (nobiles) verloren hätten und nur noch einer aus der stirps regia übriggeblieben sei. Hier sind die nobiles mit der stirps regia gleichgesetzt. In der Tat scheinen alle principes der Cherusker, soweit wir von ihnen wissen, untereinander verwandt gewesen zu sein, worauf bereits K. M ü l l e n h o f f 1 0 0 3 aufmerksam machte. Da sich nun aber die Kämpfe zwischen den principes der Cherusker nur innerhalb einer Sippe — eben der stirps regia — abspielten, hatte Tacitus keine Veranlassung, bei einem einzelnen princeps auf den Vorzug seiner Geburt hinzuweisen. Diese Auffassung wird noch dadurch gestützt, daß Tacitus Ann. II 8. 8 berichtet, Arminius sei „regnum affectans" der Arglist seiner V e r w a n d t e n zum Opfer gefallen (dolo propinquorum cecid.it). Ganz wie die oben 1004 erwähnten gallischen Prinzen hat also auch Arminius danach getrachtet, das Königtum wieder herzustellen; nur spielte sich der Kampf hier unter den Mitgliedern der ehemaligen königlichen Familie ab. Die Revolution bei den Cheruskern muß schon einige Zeit zurückgelegen haben. Arminius' Vater wird bei Velleius Paterculus II 118.2 auch nur als princeps eins gentis bezeichnet. Aber von der davorliegenden Generation kennen wir keine Person. Ist der Umsturz bei den Cheruskern in das Dunkel der Vorzeit gehüllt, so haben wir über den entsprechenden Vorgang bei den C h a t t e n ausdrückliche Nachrichten. An zwei Stellen, Germ. c. 29 und Hist. IV 12, be898) Heerkönigtum, S. 115 f. Herrschaft und Gefolgschaft, S. 249 ( = Wege der Forschung II, S. 162, Anm. 67) als Vermutung; Heerkönigtum, S. 113 u. S. 121 mit größerer Bestimmtheit. >oo») Heerkönigtum, S. 119; vgl. Herrschaft und Gefolgschaft, S . 2 4 9 ( = Wege der Forschung II, S. 162). 1001) Königtum, S. 143. 1002) Dt. Verfassungsgesch. I«, S. 188. loos) D A IV, S. 186; vgl. auch R. v. KIENLE, Germ. Gemeinsdiaftsformen, S. 265, vgl. audi S. 60. 1004) s. 416 m. Anm. 951.

424

Ethnische Verhältnisse Germaniens

richtet Tacitus fast gleichlautend und aus zuverlässiger Quelle (Plinius) 1 0 0 5 , daß die B a t a v e r , vordem ein Teil der Chatten, seditione domestica in ihre neue Heimat eingewandert seien. Hist. I V 15 schließt er in diesen Ursprung die benachbarten Cannenefaten mit ein. Die Richtigkeit der A n gabe wird dadurch bestätigt, daß im mittelalterlichen Gau Marsum an der Maasmündung schon von Plinius Marsaci erwähnt werden, was nach R . M u c h 1 0 0 6 auf die Teilnahme marsischer Truppen an der Landnahme hindeutet. S. G u t e n b r u n n e r 1 0 0 7 hat sich dahin gehend geäußert, daß die Umwälzung mit dem großen Einfluß der Jugendbünde, die er mit L . W e i s e r 1 0 0 8 hinter den Tacitus Germ. c. 31 geschilderten chattischen Bräudien vermutet, irgendwie zusammenhängt: „Es wäre möglich, daß eine umwälzung, die diesen zustand herbeigeführt hat, die auswanderung der Bataver und Cannenefaten verursachte." Wir haben oben 1 0 0 9 auch die möglichen Zusammenhänge des in diesem Germaniakapitel geschilderten Berufskriegertums mit dem Gefolgswesen hingewiesen. Die besondere Verbreitung dieser Schicht bei den Chatten ist vielleicht durch den großen Bedarf der principes an solchen Kriegern hervorgerufen worden, was wiederum auf unruhige Verhältnisse innerhalb der civitas deutet. Die Jungmannschaf!:, die nur bis zu Tötung eines Feindes an diesen Bräuchen teilhatte, wird vielleicht ebenfalls ihre Probezeit zum großen Teil schon innerhalb von Gefolgschaften und nicht mehr innerhalb noch urtümlicherer Bünde abgelegt haben. Wir wollen diese Gedanken, die einmal näher untersucht werden sollten, jedoch jetzt nicht weiter verfolgen, sondern auf einen zweiten, wichtigeren Hinweis G u t e n b r u n n e r s 1 0 1 0 eingehen. Tacitus betont Germ. c. 30, die wahre Stärke der Chatten läge im F u ß volk (omne robur in pedite). Dagegen werden die ausgewanderten Bataver und Cannenefaten vielfach als ausgezeichnete Reiter erwähnt 1 0 1 1 . Dieser Gegensatz paßt nach G u t e n b r u n n e r gut zur seditio domestica, „weil die reiterei vielfach sache eines bevorzugten standes ist. D a ß bei den Chatten ein übermächtiger adel entstanden war, wäre nicht zu verwundern. Die eroberung des landes, das vorher den Kelten, also einem volke mit ausgeprägter, adeliger Oberschicht gehört hatte, bot die günstigsten 1005) VGL. E . NORDEN, Urgesch., S. 265 ff.

1006) Germania, S. 272. 1007) PBB 60 (1936), S. 359. 1008) Jünglingsweihen und Männerbünde, S. 33 ff. loo«) S. 365. 1010) PBB 60 (1936), S. 360; vgl. DERS., in: Germ. Altertumskde., hrsg. H. Schneider ( 2 1951), S. 14. L.SCHMIDT, Westgerm. II 2 , S. 126, Anm. 8, erscheinen die Vermutungen Gutenbrunners über die Gründe der Abwanderung der Bataver recht unsicher. Sie gewinnen aber im Zusammenhang mit unserer Darstellung erhebliches Gewicht. 1011) Tacitus Hist. IV 12, IV 17; Plutarch Otho c. 12; Dio Cassius LV 24.

Chatten und Bataver

425

bedingungen für die bildung von großgrundbesitz mit zahlreichen hintersassen." G u t e n b r u n n e r glaubt nun, Tacitus habe in der sedito domestica „die befreiung von einer adelsherrschaft" erblickt. Nun ist kaum anzunehmen, daß der adelsstolze Tacitus mit dem Begriff der „Germanorum libertas" eine adelsfeindliche demokratische Verfassung idealisieren wollte, wie G u t e n b r u n n e r andeutet. Er steht als republikanischer traditionsbewußter Römer eher auf der Seite der Aristokraten, die sich gegen das Königtum aufgelehnt haben. Und die Bataver besitzen ja eine stirps regia. Da wir nun aber seit der Zeit, als die Bataver am Niederrhein seßhaft werden, bei ihnen keine Könige mehr kennen1012, liegt es nahe, in ihr die alte stirps regia der Chatten zu vermuten, die durch den Umsturz vertrieben wurde und mit ihren berittenen Gefolgschaften abzog. Daß die Bataver als solche, d. h. nach der Trennung, noch eine Zeitlang das Königtum beibehielten und erst nach einiger Zeit ebenfalls beseitigten, ist möglich1013. W. S c h l e s i n g e r 1 0 1 4 sieht in der Unterwerfung unter Rom Grund genug für den Schwund des Königtums. Auch im Namen der Bataver scheint sich das Bewußtsein der stolzen Reitergefolgschaften niedergeschlagen zu haben, die sich unter Führung des Königs bzw. der stirps regia von der alten civitas absonderten. Dem Namen liegt die Wurzel von germ. -'bat-is, "'bat-iz „besser" zugrunde1015. Man fühlte sich also als die Guten oder Besseren. Bemerkenswert ist in diesem Fall noch, daß, auch von der Seite der Chatten gesehen, Indizien für den dargestellten Verlauf der Ereignisse vorhanden sind. Es ist bekannt, daß an verschiedenen Orten nach der Abschaffung des Königtums dessen sakrale Funktionen, auf die man nicht verzichten konnte, gewissermaßen einem Ersatzkönig übertragen wurden. Wir kennen solche aus Griechenland (äQ%cov ßaoilevg), aus Rom und anderen italischen Gemeinden (rex sacrorum)me. Sollte es ein Zufall sein, daß der einzige germanische Priester aus der frühen Kaiserzeit, den wir mit Namen kennen und den Germanicus am 26. Mai 17 als Repräsentanten des besiegten Chattenvolkes im Triumphzug durch Rom mitführte, gerade Alßrjg, ttöv Xarrcov tegev? war? 1017 Anscheinend sind auch einige der Funktionen

1012) VGL. L . SCHMIDT, W e s t g e r m . I I 2 , S . 1 6 4 , A n m . 4 .

1013) D a ß di e Bataver selbst noch anfangs unter Königen standen, vermutete neben R.MUCH, Germania, S. 255, und W.SCHLESINGER, Heerkönigtum, S. 113, 121, auch schon BETHMANN-HOLLWEG, Civilprocess, S. 97, Anm. 69. 1014) Heerkönigtum, S. 113. "IS)

M . SCHÖNFELD, W B . , S . 4 7 ; R . MUCH, G e r m a n i a , S . 2 7 1 ; L .

in: Rhein. Vjbll. 23 (1958), S. 22 f. ioi6) VGL. G. DEVOTO, Altitalien, in: Hist. Mundi III, S. 378. 10») Strabon VII 1 . 4 (S. 292).

WEISGERBER,

426

Ethnische Verhältnisse Germaniens

des einigemal von Tacitus genannten sacerdos königlichen Stellung 1 0 1 8 .

civitatis

Reste einer ehemals

O b die Chatten jemals wieder ein Königtum besessen haben, ist nicht sicher auszumachen. Wenn wir in der bei Gregor von Tours 1 0 1 9 überlieferten Nachricht aus dem 4. Buche des Sulpicius Alexander (von den unter M a r comer stehenden Amsivarii und Catthi) das W o r t Catthi mit F. S t e i n b a c h 1 0 2 0 nicht durch Chattuarii ersetzen, könnte man in Marcomer einen Chattenkönig sehen. Marcomer wird dabei als regalis oder subregolus bezeichnet. Das bleibt natürlich eine vage Vermutung. D e r Untergang des Chattenstammes — wenigstens in seiner ursprünglichen Form — legt einen Traditionsbruch nahe, der durch das Fehlen eines Königtums gefördert wurde. D i e Wandlungen der germanischen Gesellschaft und ihrer politischen Einheiten, die wir vom Entstehen der Gefolgschaften bis zum Sturz des Königtums in den ältesten Kolonialräumen verfolgt haben, beschränkten sich wahrscheinlich nicht auf diese Seiten des Lebens. Sie werden im religiösen Bereich genauso nachzuweisen sein 1021 wie im Bereich der Dichtung, die reichen Stoff in den tragischen Seelenkonflikten zwischen den Geboten altüberlieferter Werte — v o r allem der Sippe — und dem neuen Ethos der Gefolgschaft finden mußte 1 0 2 2 . Schon rein äußerlich drückte sich der Wandel im W e c h s e l d e r T r a c h t aus. Den Kittel oder Leibrock der Bronzezeit löste die Hosentracht der eurasischen Reitervölker ab, vielleicht neben der besseren Eignung für den berittenen Krieger der Gefolgschaft audi durch den Klimawechsel gefördert. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht, daß hier vielleicht die Kelten die Nehmenden waren: gall. bräca „Hose" ist eine Entlehnung aus germ. '"'brök- (idg. *bhrög). Sicher ist, daß erst jetzt jene Lebensform entstanden war, die wir als „germanisch" empfinden. Es erweist sich die Berechtigung der Warnung H . J a n k u h n s 1 0 2 3 , nicht die unter ganz bestimmten äußeren und inneren Verhältnissen entwickelten Gemeinschaftsformen aus der Zeit der Römerkriege in die davor liegenden Jahrtausende zurückzuprojizieren: W i e T h . M a y e r 1 0 2 4 mit H . M i t 1018) Vgl. unten Exkurs S. 581 f. Nach H. BRUNNER, Dt. Rechtsgesch. I 2 , S. 171, war der sacerdos civitatis nur „bei Völkerschaften mit Prinzipatsverfassung" notwendig. — Bezeichnenderweise fehlt er daher auch im Norden; vgl. K. WÜHRER, in: ZRG GA 76 (1959), S. 35. Vgl. jedoch Anm. 26 zu S. 582. io«) Hist. Franc. II 9. 1020) Das Frankenreich (Hdb. d. Dt. Gesch., hrsg. L. Just I), S. 3. 1021) Das w äre vielleicht am Aufstieg Wodans an die Spitze der Asen zu erkennen. 1022) Beispiele bei U. J. MADER, Sippe und Gefolgschaft bei Tacitus und in der westgermanischen Heldendichtung (Diss. Kiel 1940), S. 134 ff. 1023) Gemeinschaftsform, S. 3. 1024) Die Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters, in: Vorträge u. Forschungen II, S. 17.

Entstehung der „germanischen" Lebensform

427

t e 1 s 1 0 2 5 mit Recht betont: auch Tacitus gibt eben eine Momentaufnahme. Es dürfte deutlich geworden sein, daß wir die frühe germanische Verfassungsgeschichte nicht ohne Berücksichtigung der keltischen verstehen können, ebensowenig wie die spätere ohne Kenntnis des römischen Erbes zu begreifen ist. Schon damals hielten sich die sozialen und politischen Bewegungen nicht an sprachliche und ethnische Grenzen. Die vielerorts sich entladenen Spannungen wiederum waren nicht überall im germanischen Raum gleich stark. Während der Norden wie auch Teile des inselkeltischen Gebiets noch lange Jahrhunderte archaische Züge aufwies, die allerdings auf die Dauer auch mehr oder weniger von neuen E n t wicklungen beeinflußt wurden, zeigt der westliche Mittelgebirgsraum bereits zur Zeit des Tacitus Formen des gesellschaftlichen Lebens, die wesentlich differenzierter erscheinen als etwa die des frühmittelalterlichen Islands. Doch war hier noch alles im Fluß. Keinesfalls herrschte hier jene Harmonie einer freiheitlichen demokratischen Verfassung wie sie das 19. Jahrhundert, z. T. vom Republikanismus des Tacitus irrgeführt, in die Quellen hineingelesen hat. I m Gegenteil, gerade in den civitates mit der königlosen Idealverfassung wütete ein ständiger K a m p f der Adelsparteien, der mit H i l f e mächtiger gefolgschaftsähnlich organisierter Klientenscharen geführt wurde. Machtwille und Streben nach Herrschaft höhlten altehrwürdige Werte aus. Viele der Diskrepanzen, die wir zwischen ethnischem Selbstverständnis und feststellbarer Wirklichkeit 1 0 2 6 erkennen konnten, waren jetzt erst aufgebrochen. V o n Volksfrieden konnte in vielen civitates keine Rede mehr sein. D i e Sippenbindung in den Herrscherhäusern war zur bloßen Fiktion geworden. All das sieht nach einer negativen Wertung aus. Dabei darf es jedoch nicht bleiben. Erst jene neuentstandenen Formen politischer und sozialer Organisation, erst jene Verbände, die mit dem aus dem Bereich des Gefolgschaftswesens stammenden Ethos erfüllt waren, verliehen den aus dem germanischen Raum hervorbrechenden Wellen jene Kraft, die ein neues Zeitalter heraufführte. Erst durch die Ausbildung dieser neuen Gemeinschaftsformen wurden germanische Völkerschaften befähigt, aktiv in die Geschichte einzugreifen. Freilich gab es vorher eine Periode in der „die germanischen Gemeinwesen, wie die keltischen, sehr lockere G e f ü g e " 1 0 2 7 geworden waren. Die Gefolgschaft war ein festerer Verband geworden als der Stamm, wie W . S c h l e s i n g e r angesichts der Vorgänge bei den Cheruskern be1025) Staatliche Konzentrationsbewegungen im großgermanisdien Raum, Abh. z. Rechts- u. Wirtsdiaftsgesch. (Fs. A. Zycha 1941), S. 55 f. 1026) Vgl. oben S. 14—112. 1027) H . DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft, S. 13, Anm. 31 ( = Wege der Forschung II, S. 82), mit U . KAHRSTEDT, in: Nadir, d. Gött. Ges. (1933), S. 282.

428

Ethnische Verhältnisse Germaniens

bemerkt 1028 . Nun, die Stämme, auf die dieses Verhältnis zutraf, haben die Völkerwanderung nicht mehr erlebt. Dafür sind zum Teil neue groß geworden, bei deren Bildung jedoch auch die durch die geschilderten Umwälzungen entstandenen neuen Kräfte und Bedingungen wirksam wurden, die im nächsten Kapitel darzustellen sind.

1028) Herrschaft und Gefolgschaft, S. 246 ( = Wege der Forschung II, S. 159).

V. S T A M M E S B I L D U N G

IN

DER

RÖMER-

UND

VÖLKERWANDERUNGSZEIT

A. D I E

NEUEN

FORMEN

DER

STAMMESBILDUNG

Die Namen jener Stämme, welche die Geschichte des frühen Mittelalters bestimmen sollten, begegnen uns nicht erst in der Völkerwanderungszeit. Goten, Wandalen, Burgunder, Rugier, Skiren und andere ostgermanische Stämme erscheinen bereits in den Quellen der älteren römischen Kaiserzeit. Auch im Westen lassen sich manche Stammesnamen bis in diese Zeit zurückverfolgen. Die Friesen spielten schon in augusteischer Zeit eine Rolle, und Sachsen werden bereits im 2. Jahrhundert von Ptolemaios erwähnt — wahrscheinlich nach noch viel älteren Quellen. Die Angeln kennt schon Tacitus, die Alamannen werden zu Anfang, die Franken in der Mitte des dritten Jahrhunderts erstmalig erwähnt. Wenn die von der Sprachwissenschaft behauptete Verbindung des Hermundurennamens mit dem der um 400 zuerst genannten der Thüringer zu Recht besteht, so läßt sich auch hier an älterkaiserzeitliche Traditionen anknüpfen. Selbst für den erst im 6. Jahrhundert bezeugten Baiernnamen müssen wir voraussetzen, daß er schon Jahrhunderte vorher bestanden haben kann. Er hängt bekanntlich mit der germanischen Bezeichnung für die bis zum Markomanneneinfall (im letzten vorchristlichen Jahrzehnt) in Böhmen siedelnden1 keltischen Boier bzw. ihres Landes zusammen. Im Norden sind die Schweden (Sviones) bereits l ) Die Auffassung, sie hätten Böhmen bereits vor 58 v. Chr. vollständig geräumt, läßt sich für den Bereich der böhmischen oppida wohl kaum aufrechterhalten. Sie beruht — wie die Argumentation bei R. MUCH, Germ., S. 259, zeigt — auf der bei Caesar b. G. I 5. 4 überlieferten Nachricht, daß Boier nach Noricum übergetreten seien, ferner auf der den archäologischen Tatsachen widersprechenden Meinung, daß Böhmen daraufhin großenteils unbewohnt gewesen sei, da Caesar b. G. IV 3 . 2 auf der den Ubiern entgegengesetzten Seite der Sueben eine 600 (100) Meilen breite Wüstenzone annimmt, schließlich auf der Erwähnung von Boiern in Pannonien. Keine der Quellen gestattet jedoch die Annahme, daß die Boier bereits damals Böhmen restlos geräumt hätten. Dagegen muß R. MUCH, aaO., S. 369, dann die Nachricht bei Tacitus Germ. c. 42, nach der die Markomannen die Boier aus ihren Sitzen vertrieben, auf die Zeit Caesars beziehen, was dem Zusammenhang bei Tacitus wie auch den Bodenfunden widerspricht. Zu den Bemühungen, die pannonische Boier-Einöde zur Heimat der Baiern zu erklären, vgl. unten S. 561.

430

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

Tacitus bekannt, und die Gauten werden von Ptolemaios erwähnt. Der Dänenname erscheint allerdings erst um 500 in den Quellen, und für die Bildung des Norwegervolkes schuf erst die Reichsbildung Harald Schönhaars die Grundlagen. Abgesehen von den beiden zuletzt genannten Fällen reichen also die Traditionen der germanischen gentes des frühen Mittelalters in die Zeit vor der Völkerwanderung zurück. Das bedeutet, daß nicht erst das Erlebnis und das Schicksal dieser Epochen diese Überlieferungen geschaffen hat; wobei aber nicht zu übersehen ist, daß trotz der Kontinuität der Tradition alle diese gentes nach der Völkerwanderung völlig andere Gebilde sind als vorher. Doch nicht alle Namen reichen in p r ä h i s t o r i s c h e Zeiten zurück. Die Gepiden im Osten, im Westen vor allem Alamannen und Franken erscheinen erst im Laufe der Römerzeit in den Quellen, so daß wir annehmen müssen, daß sich ihre Traditionen erst im Laufe dieser Zeit herausgebildet haben. Es könnte auf den ersten Blick so scheinen, als ob sich in diesen Sachverhalten zwei verschiedene Phasen der Stammesbildungsprozesse spiegelten: Eine Phase, die mit der Ausbildung der Stammestradition parallel läuft und sich im Aufkommen neuer Namen zu erkennen gibt, und dann eine zweite der Um- und Ausformung dieser neuen „Stämme" zu den großen gentes des frühen Mittelalters während der Völkerwanderungszeit. Eine eingehendere Untersuchung lehrt jedoch, daß dies nur bedingt richtig ist, denn die Voraussetzungen für die Formen auch der Stammesbildung der Völkerwanderungszeit wurden bereits in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt geschaffen, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß während der Völkerwanderungszeit diese Vorgänge ungemein beschleunigt wurden und größere Ausmaße erreichten. Die Prozesse der Stammesbildung könnte man ganz allgemein nach zwei Gesichtspunkten einteilen. Der erste Gesichtspunkt beurteilt die Vorgänge danach, ob es sich um solche der Abspaltung (Filiation) 2 und Absplitterung oder um solche der Angliederung und Ansaugung (Akkumulation) handelt. Der zweite unterscheidet zwischen solchen, die sich auf einer Wanderung, und anderen, die sich ohne Verlagerung des ethnischen Zentrums vollzogen haben. Beachten wir beide Gesichtspunkte, so erhalten wir vier Grundformen, nach denen sich Stammesbildungen vollziehen können. Alle diese Grundformen sind durch die tiefgreifende Umwandlung der Stammesstruktur in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten in ihrer Eigenart verändert worden. 2 ) Früher sah man die Ethnogenese fast ausschließlich als Filiationsvorgang. Daß sich diese Vorstellung nicht halten läßt, ist schon mehrfach betont worden. Vgl. oben S. 143 f.; W . E . MÜHLMANN in: Stud. Gen. 3 (1950), S. 576.

431

Die neuen Formen der Stammesbildung

Die Umwälzung hat jedoch nicht überall im germanischen Raum völlig neue Verhältnisse geschaffen. Wir hatten bereits mehrfach Gelegenheit, auf die regionalen Unterschiede der Sozialstruktur und Verfassung hinzuweisen, die sich innerhalb Germaniens erkennen lassen. Die neuen politischen Lebensformen ebben nach Norden und Osten allmählich aus, und wenn dann in der Völkerwanderungszeit ein Stamm aus diesem abgelegenen Norden im Süden erscheint, so wirkt er besonders archaisch — wie etwa die Heruler mit ihren Patronatsverhältnissen, mit Altentötung und sakralem Königsmord. So werden wir denn neben den neuen Erscheinungsformen der Stammesbildung immer wieder auf solche stoßen, die einem älteren T y p angehören. Daher erscheint es ratsam, in den folgenden Einzeluntersuchungen beide Gestaltungen jeweils einander gegenüberzustellen und miteinander zu vergleichen. 1.

Abspaltung

unter

des

gleichzeitiger

Verlegung

S i e d 1u n g s r a u m es

Unter Abspaltung verstehen wir hier die gewollte und organisierte Absonderung eines Teiles der Stammesgenossen von ihrer alten Gemeinschaft. Dagegen bezeichnen wir mit Absplitterung alle durdi feindliche Eingriffe verursachten Absprengungen von der alten Einheit. Der zuletzt genannte Vorgang ist für die Stammesbildung gewöhnlich nur dadurch wichtig, daß er die Massen bereitstellt, die sich willig oder gezwungen einem neuen Machtpol zuordnen. Wir werden daher diese Erscheinung bei den akkumulativen Prozessen der Stammesbildung berücksichtigen und beschränken uns hier auf die gewollte Abspaltung. Eine Fülle von Beispielen für solche Abspaltungen im germanischen Bereich erschließt R. M u c h allein aus dem Vorkommen des gleichen Stammesnamens an verschiedenen Orten 3 . Über die Art und Weise, wie sich solche Abspaltungen vollzogen, herrschte lange die Meinung, die Stämme hätten sich nach V e r w a n d t s c h a f t s v e r b ä n d e n auseinandergegliedert. D a man sich seit einiger Zeit darüber einig ist, daß diese Auffassung nicht dem tatsächlichen Verlauf der Abspaltung gerecht wird 4 , können wir hier von einer weiteren Erörterung absehen. Ebenso unrealistisch ist eine andere früher sehr verbreitete Vorstellung, wonach die „ G a u e " einer Völkerschaft sich geschlossen vom alten Verband 3 ) Urgermanische Kolonien im Spiegel der Völkerschaftsnamen, in: Volk u. Rasse 5 (1930), S. 193 ff.; DERS., Germanen u. Indogermanen (Fs. H . Hirt) II, S. 499. 4 ) Vgl. F. STEINBACH, Studien . . ., S. 13 f. Wie wenig eine solche Vorstellung der Wirklichkeit gerecht wird, zeigt schon der Umstand, daß die Verwandtschaft nur bis zum 3. bis 5. Namen bekannt war.

432

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

trennten und sich ebenso geschlossen an einer anderen Stelle ansiedelten. So hielt etwa F. D a h n 5 die B a t a v e r für einen alten pagus der Chatten. Noch L . S c h m i d t 6 spricht vom „Abschieben einzelner G a u e " bei wachsender Landnot. Freiwillig wird ein „ G a u " sein Siedlungsgebiet sicher nicht geschlossen verlassen haben, nur um Platz für andere „Gaue" zu machen. Vielfach stellte man sich auch — wie bereits erwähnt 7 — den Verlauf einer Abspaltung so vor wie das altitalische ver s acrum . Die Italiker der ältesten Zeit pflegten in Fällen der N o t zu geloben, die im nächsten Frühjahr geborenen Menschen und Tiere den Göttern zu opfern. In historischer Zeit ist das Menschenopfer dann nicht mehr vollzogen worden, dafür wurden die Geweihten, wenn sie herangewachsen waren, zur Auswanderung gezwungen. Die altertümlichen Züge dieses Brauches verleiteten in V e r bindung mit ähnlichen Uberlieferungen aus anderen Räumen dazu, den „heiligen Frühling" als allgemein vorauszusetzende Erscheinung des Stammeslebens im alten Europa zu betrachten. So spricht denn noch E . S c h w a r z 8 davon, daß es sich bei den Markomannen um die jüngeren Söhne der Quaden handeln wird, „die einstmals als Ver sacrum zur Eroberung neuen Landes ausgesandt worden" seien. Tatsächlich sind gerade in suebischen Zusammenhängen ähnliche Überlieferungen bezeugt, so etwa für die Langobarden bei ihrem Auszug aus Skandinavien 9 . Eine allerdings sehr späte Tradition dieser Art enthält auch die aus dem Bereich der Nordschwaben in Mitteldeutschland stammende Schrift De origine gentis Swevorumi0. Danach zwang eine Hungersnot zu dem Entschluß, alle Söhne bis auf einen zu töten. W i e bei den Langobarden unterbleibt jedoch die Tötung, und statt dessen müssen junge Männer abwandern. Die Untersuchung dieser und ähnlicher Traditionen durch K . H e i m 1 1 ergab, daß sich zwar verwandte Züge zum italischen ver sacrum erkennen lassen (die durch eine Notlage erzwungene Abwanderung; die Abwanderung als Ablösung einer Tötung), doch sind manche Unter5) Könige I, S. 15; zustimmend G. WAITZ, Dt. Verfassungsgesch. I 4 , S. 231, Anm. 1; vgl. auch Könige VII, 1, S. 79. Die „Gaue" Betuwe, Hamaland usw. können diese Auffassung nicht stützen, sie sind nicht pagi im Sinne Tacitus', sondern eher civitates. Zum Verhältnis Bataver — Chatten vgl. oben S. 423 ff. 6 ) Ostgerm.2, S. 75; vgl. S. 57 f. Völlig abwegig sind die auf einer schematischen Interpretation Ptolemaios' beruhenden „selbständig gewordenen Gaue".

TH. STECHES, S t a m m e s k d e . , S. 2 6 , 7 4 , 8 1 , 9 3 , 1 0 1 , 1 0 5 , 1 1 2 , 1 1 5 , 1 3 6 , 1 3 8 ,

140.

') Vgl. oben S. 295. 8 ) Germ. Stammeskde., S. 159; vgl. DERS., in: Jb. f. fränk. Landesforschg. 15 (1955), S. 35. ») Vgl. unten S. 487. 10 ) Hrsg. v. P. Hirsch als Anhang zur Schulausgabe der Sachsengeschichte Widukinds, S. 155—161; vgl. die Einleitung, S. L—LIII. Die älteste Handschrift stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. » ) Ver sacrum bei den Germanen? in: PBB 69 (1947), S. 285—300.

Abspaltung und Absplitterung — ver sacrum — Heerhaufen

433

schiede nicht zu verkennen. Nirgends begegnen wir dem Gelübde. Audi die Auswahl der in einem bestimmten Frühjahr Geborenen, der die Institution ihren Namen verdankt, ist im germanischen Uberlieferungsgut nicht enthalten. Dafür wird hier — dem griechischen Brauch entsprechend — die Auslosung der zum Verlassen der Heimat Bestimmten zuweilen erwähnt. K . H e l m glaubt jedenfalls, aus diesen Zeugnissen auf einen in Notzeiten geübten Brauch schließen zu können. Wir haben bereits an anderer Stelle auf Stammesnamen mit der Bedeutung „Sprößlinge, Nachkommen" hingewiesen 12 , die vielleicht ursprünglich die ausziehende Jungmannschaft eines Stammes bezeichneten. Wieweit die germanischen Stammesnamen, die Tierbezeichnungen enthalten, dem Sinne nach Namengebungen wie bei dem ver sacrum sind, ist nach H e 1 m 1 3 nicht zu entscheiden, abgesehen davon, daß die Etymologien z. T. sehr fraglich sind 14 . Dagegen glaubt er, daß germanische Namenpaare wie Hermunduri — Thuringi, Frisii — Frisiaevones u. a., vielleicht auch die Differenz Chatti — Hassi auf eine Beziehung von Stammvolk zu Tochtervolk hindeuten könnte 15 . Doch kann man aus der Existenz solcher Namenpaare nicht immer auf eine Filiation der soeben beschriebenen Form schließen, denn ein großer Teil von ihnen stammt aus einer Zeit, in der die Abspaltung in weiten Räumen des germanischen Gebiets bereits auf andere Weise vor sich gegangen war. Da ist vor allem die zuerst bei Caesar überlieferte Form der Gefolgschaft zu nennen, die H. K u h n „H e e r h a u f e n " genannt hat 1 6 . Bereits in den Motiven unterscheidet sich diese wohl ebenfalls vorwiegend aus Jungmannen bestehende Abspaltung vom alten Stammeskörper. War es vorher die Not, die zur Auswanderung trieb, so rief jetzt ein unternehmender Mann ein freiwilliges Gefolge zusammen, wobei die Aussicht auf Ruhm und Beute an Gold, Land und Leuten im Vordergrund stand. Trennte man sich früher nur im Falle äußerster Not von der Gemeinschaft, in der allein man eigentliche Menschen verbunden sah, so lockte jetzt die Fremde, in der man eine eigene Herrschaft errichten konnte. Die Angst, von der Mitte der Welt, als die man das eigene Ethnos betrachtete, losgelöst und ins Bodenlose geworfen zu werden 17 , wurde überdeckt von dem Bestreben, an den Reichtümern des Südens teilzuhaben. Die Auflösung des suebischen Kultverbandes, der ursprünglich vielleicht aus dem Festhalten räumlich »2) oben S. 295. »3) PBB 69 (1947), S. 295 f.

Vgl. R. v. KIENLE, in: WuS 14 (1932), S . 2 5 — 6 7 .

15) PBB 69 (1947), S. 294 f.

i«) Vgl. oben S. 285 ff.; W.SCHLESINGER,

( = Wege der Forschung II, S. 154). " ) Vgl. oben S. 249.

Herrschaft u. Gefolgschaft,

S. 241

434

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

abgelöster Gruppen an der kultisch geheiligten Mitte des Stammes zu erklären ist, findet ihre Begründung in dieser neuen Denkweise. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Formen der Abspaltung liegt darin, daß bei der archaischen die auswandernden Stammesgenossen im wesentlichen unter sich blieben, es sei denn, daß sie in ein durch vorhergehende Wanderbewegungen geschaffenes ethnisches Trümmerfeld gerieten, wo sich ihnen Stammessplitter fremder Herkunft in größerer Zahl angeschlossen haben mögen. Dagegen bestand der gefolgschaftlich organisierte Heerhaufen wohl von vornherein aus Bestandteilen verschiedener Völkerschaften18. Von einer echten Filiation kann hier nur in dem Sinne die Rede sein, als der traditionstragende Kern aus dem Mutterstamm hervorging. Vielfach mögen aber die Traditionen des Neustammes auch uneinheitlich gewesen sein. In diesem Falle setzte sich auch ein neuer Stammesname durch, der gewöhnlich eine Ableitung vom Namen ihres Führers oder des neuen Siedlungsraumes war. Das erste Beispiel bieten die Bastarnen, die sich nach der Donauinsel Peuke Peukiner nannten. Die Entstehung des Gefolgschaftswesens änderte nicht nur die F o r m der Abspaltung, sie führte durch die Parteiungen, die nun innerhalb des Stammeskörpers entstanden, viel h ä u f i g e r neue Abspaltungen erst herbei. Es genügt hier, auf das oben19 beschriebene Beispiel der Bataver und Cannenefaten hinzuweisen. Befand sich eine solche Schar auf der Wanderung, so neigte sie besonders stark dazu, sich wieder zu unterteilen. E. S c h w a r z 2 0 führt dazu an, daß Ambronen sowohl im Gefolge der Teutonen als auch bei Wandalen zu finden waren. Der Name der Goten, also wohl des ausgeprägtesten Wandervolkes, begegnet nicht nur in Italien (Ostgoten), Gallien und Spanien (Westgoten), sondern auch auf dem Balkan (Kleingoten), auf der Krim und anderwärts. Man könnte auch an die Reste denken, die von den Kimbern auf ihrem Zuge an verschiedenen Stellen zurückgelassen wurden (Atuatuker in Belgien; zwischen unterem Main und Neckar, Cimbrianae bei Stuhlweißenburg). Damit kommen wir auf das Problem der Z u r ü c k b l e i b e n d e n . Auch hier läßt sich ein Unterschied zwischen der archaischen und der gefolgschaftlichen Form der Abspaltung feststellen. War von dem in Notzeiten üblichen Auszug aus der Heimat immer nur der kleinere Teil des Stammes betroffen und blieb der Mutterstamm als solcher intakt zurück, so begann jetzt in zunehmendem Maße die Masse der Bevölkerung sich an der Auswanderung zu beteiligen, und für die in der Heimat Bleibenden ergab sich, besonders wenn sich der Repräsentant des Stammes an die « ) Vgl. oben S. 347 f.; F. PETRI, in: Westfäl. Forschg. 8 (1955), S. 7. i») S. 423 ff. 2») Germ. Stammeskde., S. 108 f.

Die Zurückbleibenden — gestaffelter Ablauf der Landnahme

435

Spritze der Fortziehenden stellte, eine ganz neuartige Situation. Besonders bei den Goten ist dies mehrmals zu beobachten. Wie wir schon gesehen haben 21 , ergab sich diese Möglichkeit vielleicht bei ihnen erstmalig beim Übersetzen vom Norden Germaniens an die Weichselmündung. Sie wiederholte sich beim Zug in den pontischen Raum. Die Zurückgebliebenen erstarkten nach einer Weile wieder genügend, um nochmals eine landnehmende Schar aussenden zu können, die unter dem Namen Gepiden ein neues Königtum auszubilden vermochte 22 . Der Rest der im Weichseldelta Verbliebenen bildete dann den Kern der durch eine colluvies gentium entstandenen Vidivarier 2 3 . Audi als die Ostgoten dann nach Italien zogen, blieb ein Teil auf dem Balkan zurück. Theoderich folgten nur diejenigen, qui tarnen ei praebuere consensum, wie Jordanes sagt. Aus dieser Stelle und überhaupt aus der Tatsache, daß überall Stammesteile zurückbleiben, hat man auf die große Bedeutung des „Volkswillens" geschlossen24. Dieser Ausdruck scheint jedoch die Sache nicht ganz zu treffen. Wie L. S c h m i d t 2 5 zu der zitierten Jordanesstelle ausdrücklich betont, ist es ein Mißverständnis, dahinter den Beschluß einer Volksversammlung zu suchen. Richtig dürfte sein, daß es nicht zu den Befugnissen des alten Sakralkönigtums gehörte, einen allgemeinen Auszug anzuordnen. Auch der König konnte nur wie jeder andere princeps oder dux zur freiwilligen Teilnahme auffordern. An der Entstehungsweise des Heerhaufens hat sich in dieser Hinsicht seit den Tagen Caesars nichts geändert. Das auf Landnahme zielende gefolgschaftliche Unternehmen eines Heerhaufens vollzog sich nicht immer so, daß die überwiegende Zahl der schließlich im Neuland Ansässigen gleich mit dem Landnahmeführer auszog, wie dies etwa bei Theoderich der Fall war. Wir begegnen auch einem anderen g e s t a f f e l t e n A b l a u f d e r L a n d n a h m e . Zuerst erfolgen einzelne Vorstöße kleinerer Gefolgschaften in den neuen Raum hinein, um die Möglichkeiten abzutasten. In größeren Gefolgschaftsunternehmungen wird dann das Neuland erobert und militärisch gesichert. Erst dann, wenn die Lage einigermaßen stabil ist, folgt die bäuerliche Siedlung größeren Ausmaßes durch Nachzügler aus der Heimat. Ein Beispiel für diesen Verlauf der Landnahme ist die der Alamannen. Bereits 213 kämpfte Caracalla mit ihren vorgeschickten berittenen Gefolgschaften 26 . Nachdem der erste ernsthaftere Versuch, das Gebiet zwischen 21) Vgl. oben S. 323. 22) Vgl. L. SCHMIDT, Ostgerm.2, S. 197, 5 2 9 ; dazu unten S. 469. 23) Jordanes Get. V 36 u. X V I I 96. 24) Vgl. z . B . E.SCHWARZ, Germ. Stammeskde., S. 111. 25)

L.SCHMIDT,

Ostgerm.2,

««) Vgl. unten S. 507.

S. 2 9 2 ,

A n m . 1.

436

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

Rhein und Limes zu erobern, 2 3 3 / 3 4 mißglückt war, brachte ein zweiter um 2 6 0 den Erfolg. Die eigentliche Besiedlung des Landes begann jedodi, wie H . S c h o p p a

zeigt 2 7 , erst in konstantinischer Zeit.

Einzelne Burgundersdiaren stießen bereits im 3. Jahrhundert nach Südwestdeutschland vor. Durch die schriftlichen Nachrichten verleitet, glaubte man die Auswanderung des Hauptteils dieses Stammes in diese frühe Zeit setzen zu können. Prähistoriker glauben, daß die Siedlungsdichte im burgundischen Stammland gerade in dieser Zeit und im 4. Jahrhundert besonders stark gewesen sei. Erst am Ende des 4. Jahrhunderts habe sich dieser Raum geleert 2 8 . D i e Goten sollen ebenfalls bereits vor dem Zug der H a u p t menge (im 2. Jahrhundert)

mehrere Jahrzehnte

vorher in

Südrußland

archäologisch zu fassen sein 2 9 . Audi bei den Sachsen ist dieser T y p der Landnahme zu erkennen. B e reits seit 2 8 6 brandschatzen sie die Küsten Galliens und Britanniens. Doch erst im Laufe des 5. Jahrhunderts setzen sie sidi in einigen Küstengebieten fest, wobei nur Britannien auf die Dauer sächsisch blieb. D i e ersten Langobardenscharen tauchen ebenfalls schon einige Jahrhunderte vor ihrer Landnahme während der Markomannenkriege an der Donau auf. Die V o r bereitungen zur Landnahme, die natürlich nicht immer bewußt „geplant" waren, konnten sich also über Jahrhunderte hinziehen. Es versteht sich von selbst, daß die erobernden Gruppen das beste L a n d unter sich verteilt hatten, ehe die Masse der bäuerlichen Siedler nachrückte. Diesen blieb dann nichts anderes übrig, als sich entweder mit schlechterem Land zu begnügen oder sich in die Abhängigkeit eines der Landnahmeherren zu begeben. Eine durchgehende Ansiedlung nach „Sippen" erscheint schon aus diesem Grunde hier unrealistisch. D i e ersten Nachrichten über solche Nachzügler bringt bereits Caesar b. G . I 31. 10 f. u. I 37. 3. Hier handelt es sich allerdings um geschlossene Abteilungen, die als solche zu Ariovist stoßen wollten. Burgundische Nachzügler vom Rhein, die ins neue Reich an der R h o n e nachwanderten, werden in der L e x Burg, (extrav. 21. 12) erwähnt 3 0 . Eine Erwähnung wie diese ist natürlich ein besonders glücklicher Zufall. D a die Nachströmenden die politische Lage nicht mehr änderten, erscheinen sie sonst kaum in unseren Quellen. 2 7 ) Die Besitzergreifung des Limesgebietes durch die Alamannen, in: Nass. Ann. 67 (1956), S. 10. Vgl. zu diesem Typus der Landnahme auch F. TAEGER, Römer und Germanen im Rheinland, in: Hess. Jb. f. LG. 7 (1957), S. 5 f. 2S

)

G . MÜLLER-KUALES

b.

Reinerth

III,

S. 1 1 6 6 ;

S. 199; E. SCHWARZ, Germ. Stammeskde., S. 87. 2

»)

V g l . D . BOHNSACK b. R e i n e r t h I I I , S. 1 1 3 0 f.

so) V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S. 1 3 8 .

v g l . L . SCHMIDT,

Ostgerm.2,

Nachzügler — Abspaltung bei Beibehaltung des Siedlungsraumes

437

Die neuen Formen der Stammesfiliation auf gefolgschaftlicher Grundlage ließen, wie schon erwähnt 31 , das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den beiden nun entstandenen neuen Einheiten häufig unberührt, so daß politische Wirklichkeit und ethnisches Bewußtsein für eine Zeit auseinanderfielen. Neben den schon genannten Beispielen wäre auf die lange Bewahrung chattischer Tradition bei den Batavern, auf die Gesandtschaft der zurückgebliebenen Wandalen bei Geiserich sowie auf das anfängliche Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Altsachsen und Angelsachsen32 hinzuweisen. Selbst bei der gewaltsamen Absiedlung, die wir nur in stark eingeschränktem Sinne zu den Formen der Stammesfiliation rechnen können, da sich nur selten wirkliche Neustämme dadurch entwickelt haben, kann sich bei geschlossener Neuansiedlung ethnische Tradition jahrhundertelang erhalten: Man vergleiche die z. T. bis ins 12. Jahrhundert genannten chamavisdien und chattuarischen Ansiedlungen aus der Römerzeit im Gebiet von Langres (pagus Amavorum und pagus Attoariorum). 2. D i e

A b s p a l t u n g bei B e i b e h a l t u n g Siedlungsraumes

des

Sicher hat es bereits vor der Entwicklung des Gefolgs- und Klientelwesens im germanischen Bereich Abspaltungen einzelner Siedlungsräume vom Gesamtverband gegeben. Wir können uns nur keine rechte Vorstellung machen, in welcher Form sich diese vollzogen. Möglich ist, daß sich zuweilen nach dem T o d e i n e s K ö n i g s keine einheitliche Zustimmung zu einem Nachfolger erzielen ließ und der Verband sich so teilte 33 . In U n r u h e z e i t e n mögen größere Verbände gesprengt worden sein. So nimmt etwa L. S c h m i d t 3 4 an, daß der Teutonenname von Haus aus den größten Teil der Bevölkerung im Westen der Jütischen Halbinsel umfaßte, dann aber in seiner Geltung eingeschränkt wurde und die einzelnen Siedlungsgemeinschaften unter ihren Sondernamen hervortraten, die uns Ptolemaios übermittelt. Die Unruhen zur Zeit des Markomannenkrieges scheinen den wandalischen Kultverband in Ostgermanien gesprengt zu haben 35 . An der Römergrenze scheint sich eine ähnliche Entwicklung am Niederrhein vollzogen zu haben. Statt des mächtigen Sugambrerstammes 8») Vgl. oben S. 3 7 ; vgl. auch S. 52. S 2 ) Vgl. E. ZÖLLNER, Die polit. Stellung, S. 172 m. Anm. 12. 3 3 ) Bei sakralem Königtum kommt es gewöhnlich, wenn mehrere Prätendenten vorhanden sind, zur Entscheidung durch Rennen, Zweikämpfe usw. Vgl. J . G. FRAZER, The Golden Bough I (1944), S. 156 ff. Dieses System kann jedoch u. U. versagen. Nach H . NACHTIGALL, Das sakrale Königtum, S. 42, kommt auch Wahl, Omen und Ordal vor. Zum Ritus im irischen Königreich Tara (tarbfeis) v g l . T . G . E . POWELL, T h e C e l t s , S. 1 5 6 f .

34) Westgerm. I 2 , S. 4, 18. 3

5)

L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 ,

S. 1 0 3 .

438

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

finden wir hier nach der Umsiedlung eines Teiles der Völkerschaft auf römisches Gebiet eine Reihe kleinerer Einheiten vor (Marser, Chattuarier u. a.), die vielleicht z. T. dessen nun politisch zersplitterte Restbestände darstellen 36 . Die Besiedlung benachbarter ödmarken, wie wir sie besonders seit dem Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit archäologisch erfassen können 37 , hat wahrscheinlich schon damals das Entstehen eines Sonderbewußtseins der M a r k b e v ö l k e r u n g begünstigt und ein Auseinanderleben gefördert. Die Entstehung des Markomannenstammes ist, wie schon der Name zeigt, wohl auf solche Weise zu denken. S. G u t e n b r u n n e r 3 8 hat auch das Vorhandensein von je zwei Abteilungen bei einzelnen Völkerschaften Nordwestdeutschlands mit ähnlichen Vorgängen zusammengebracht. Neben den Frisii maiores gibt es Frisii minores39, die nach R. M u c h mit den Frisiavones identisch sein sollen40. Plinius und Ptolemaios kennen kleinere und größere Chauken, Ptolemaios auch kleine und große Brukterer. Wenn man die allgemeine Ausbreitungsriditung der germanischen Stämme berücksichtigt, hat die Annahme G u t e n b r u n n e r s manches für sich: Die kleinen Friesen westlich des Vliestroms; die kleinen Chauken bei Ptolemaios im Gebiet zwischen Weser und Ems, von wo sie im Jahre 58 die Amsivarier 41 und wahrscheinlich auch die Chasuarier 42 vertrieben haben; die kleinen Brukterer im Westen der großen. Sicherheit ist hier allerdings kaum zu erlangen. Stets bleibt die Möglichkeit offen, daß diese Abteilungen bereits die Folge früherer T e i l u n g s v o r g ä n g e sind, wie wir sie aus dem Frühmittelalter bei Franken, Thüringern und anderen Stämmen kennen. W. S c h l e s i n g e r 4 3 hat gegen E. M e y e r 44 , der die fränkischen Reichsteilungen auf römisches Vorbild zurückführte, unter Hinweis auf analoge Teilungen bei 36) Schon K. MÖLLENHOFF, in: D A IV, S. 612, hat wenigstens für die Marser ähnliches behauptet. 37) Vgl. oben S. 375 f. 38 ) In: Germ. Altertumskde., hrsg. H . Schneider, S. 10. 39) Tacitus Germ. c. 34. 40 ) Germania, S. 309; das, was L. SCHMIDT bereits Gesch. d. dt. Stämme II 1 , S. 74 f., dagegen anführte, ist kaum haltbar. Warum soll es neben den in Belgien erwähnten Frisiavonen nicht auch solche zwischen Waal und Vlie gegeben haben, wo Plinius n. h. IV 101 sie erwähnt. 4») Tacitus Ann. X I I I 55. 42 ) Diese erscheinen bei Ptolemaios in der Gegend der Warburger Börde. "3) Entstehung der Landesherrschaft I, S. 31; vgl. ZRG GA 66 (1948), S.413 ( = W e g e der Forschung I, S. 351). Weitere Beispiele bei G. WAITZ, Dt. Verfassungsgesch. I 4 , S. 321 f. 44 ) Ursprung und Entwicklung des dynastischen Erbrechts auf den Staat und seine geschichtliche Wirkung, vor allem auf die politische Gestaltung Deutschlands, SB d. Pr. Ak. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. (Berlin 1928), S. 144 ff.

Markbevölkerung — Reichsteilungen — Angliederung

439

den von den Römern unbeeinflußten Thüringern den germanischen Ursprung dieser Übung bewiesen. Audi im sogenannten Hunnenschlachtlied, einer auf gotische Überlieferungen zurückgehenden isländischen Heldendichtung, werden u. a. land ok lySir geteilt 45 . Die Realteilung des germanischen Hausrechts wird hier auf das Reichsgebiet angewendet 46 . Doch darf man nicht annehmen, daß diese Regelung ursprünglich ist. Sie ist erst dort möglich, wo die herrschaftliche Komponente des Königtums stärker hervortritt. Noch lange wirken die Widerstände gegen sie nach. Nach Jordanes 47 empören sich die bislang unter Attilas Herrschaft stehenden germanischen Völker gerade deshalb gegen seine Söhne, weil diese das Reich ad instar familiae verteilen wollen. Auch bei den Franken hat es anfangs Zeiten gegeben, in denen das Teilungsprinzip noch keineswegs selbstverständlich war. Wie R. v. K i e n 1 e bemerkt hat 48 , besaßen die Brüder Ragnachars von Cambrai anscheinend kein eigenes Herrschaftsgebiet 49 . Um so bezeichnender ist es für das frühe Auftreten stark herrschaftlicher Züge bei den Germanen auf Kolonialboden, daß Vangio und Sido nach dem Sturz ihres Oheims Vannius dessen Reich unter sich teilen. Bezeichnend auch die Worte, die Tacitus 50 dem Bericht ihrer Machtergreifung hinzufügt: subicctis, suone an servitio ingenio, dum adipiscerentur dominationis, multa caritate, et maiore odio, postquam adepti sunt.

3. A n g l i e d e r u n g

und A n s a u g u n g Wanderung

während

der

Wesentlich bedeutungsvoller als die Stammesfiliationen sind für die Geschichte des Mittelalters die Akkumulationserscheinungen gewesen, die zur Entstehung der Großstämme der Völkerwanderungszeit geführt haben. Bereits die frühen Jungmannenscharen, die aus der alten Heimat fortzogen, um sich eine neue zu suchen, werden auf der Wanderung Splitter fremder Stämme in ihren Verband aufgenommen haben. In welchen Formen sich diese Aufnahme vollzog, ist heute nicht mehr erkennbar. Ethnologische Parallelen legen es an sich nahe, daß sie durch A d o p t i o n voll-

«)

V g l . H . K U H N , in: Z R G G A 73 (1956), S . 61 f.

) W.SCHLESINGER, Herrschaft u. Gefolgschaft, S. 255 ( = Wege d. Forschung II, S. 168); DERS., in: Z R G G A 66 (1948), S. 413 ff. ( = Wege d. Forschung I, S. 350 ff.). 46

« ) Get. c. L 259 ff. 48

) Gemeinschaftsformen, S. 273.

« ) Vgl. Greg. Tur. hist. Franc. II 42. «») Ann. X I I 30.

440

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

zogen wurde 51 . O. H ö f l e r 5 2 glaubt auch, daß im germanischen Bereich eine Art von Adoption bei der Aufnahme in den kriegerischen Männerbund erfolgte. Wirklich eindeutige Hinweise auf solche Praktiken sind aber in germanischen Zusammenhängen nicht auffindbar. Dagegen spricht auch, daß in den germanischen Rechten adoptionsähnliche Institutionen nur sehr spärlich entwickelt und in ihrer Rechtswirkung nicht ganz unumstritten sind53. Wie es sich auch verhalten mag, Akkumulationen größeren Ausmaßes dürfte es in diesen Formen kaum gegeben haben. Es wird sich stets nur um die Einschmelzung zahlenmäßig nicht allzu großer Splitter in einen größeren Verband gehandelt haben. Dagegen lag die T e n d e n z z u r A k k u m u l a t i o n bereits i m W e s e n d e r G e f o l g s c h a f t begründet. Eine Institution, die von Haus aus die Angehörigen verschiedener Völkerschaften vereinigte, war geeignet, sich nahezu unbegrenzte Massen verschiedenster Herkunft einzuverleiben. Nidit immer wurde diese Möglichkeit voll ausgenutzt. In den meisten Fällen handelte es sich wohl um relativ kleine Verbände, die selbständig handelten. Besonders im Westen, wo diese Verbände, wenn sie eine Landnahme erstrebten, ohne Zwischenstation ihr Ziel erreichten, konnten sie nicht allzusehr anschwellen. Daraus erklärt sich auch die ursprüngliche Kleinräumigkeit der Herrschaftsgebiete bei Alamannen, Franken und Angelsachsen. Aber auch im Balkanraum kann man ganz ähnliche Erscheinungen in Ansätzen beobachten. Nur gelang hier in keinem Falle die Niederlassung und Herrschaftsbildung. Alatheus, Safrax, Farnobius54, Bigelis, Theoderich Strabo 55 u. a. haben vergebliche Versuche in dieser Riditung unternommen. Je länger sich eine Abteilung dieser Art auf der Wanderung befand, desto größer war die Aussicht, daß sie sich nach erfolgreichen Operationen zu einer der schon oben56 erwähnten W a n d e r l a w i n e n entwickelte. 5 1 ) Vgl. W . E. MÜHLMANN, Soziale Mechanismen, S. 9 f.; vgl. DERS., Krieg u. Frieden, S. 5 1 ; 1 4 9 ; DERS., in: Köln. Zs. 8 (1956), S. 196. 52) Kultische Geheimbünde, S. 2 5 1 , Anm. 288. 5 3 ) Vgl. H. KUHN, Philologisches zur Adoption bei den Germanen, in: ZRG G A 65 (1947), S. 1 — 1 4 ; dazu oben S. 27 Anm. 76. 54)

V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 2 5 8 .

58) V g l . L . SCHMIDT, O s t g e r m . 2 , S . 2 7 1 f .

58) S. 76. In dem nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Buch „Die Entstehung Europas" Bd. I (Stuttgart 1959), S. 186, gibt H. DANNENBAUER eine treffende Charakteristik solcher Wanderlawinen und gebraucht auch den Ausdruck „lawinengleich". Es ist nur dabei zu beachten, daß diese Charakteristik voll nur auf die ostgermanischen gentes sowie die Langobarden und Quaden, zutrifft. Im Westen ist das Bild trotz mancher Übereinstimmungen nicht in gleichem Maße anwendbar — wie noch zu zeigen sein w i r d .

Adoption — Akkumulation im Wesen der Gefolgschaft — Wanderlawinen

441

Am Beispiel der Goten werden, wir das Werden solcher Gebilde beobachten können. Sie waren besonders anfangs außerordentlich locker gefügte Verbände, die eine größere Niederlage kaum überstanden. Ein gutes Beispiel bietet der Zug des Goten Radagais nach Italien 57 . Sein Heer hatte ungeheure Scharen angesaugt, die bis vor Florenz gelangten. Die Angaben über ihre Stärke schwanken zwischen 200 000 und 400 000 Köpfen, was gewiß übertrieben ist, aber dennoch muß die Zahl der Krieger — nach dem von den Römern eingesetzten Gegenaufgebot zu urteilen — sehr beträchtlich gewesen sein. Das ergibt sich auch aus dem starken Fallen der Preise für Sklaven nach der Niederlage durch Stilicho. Diese Niederlage, bei der nach Augustin allein 100 000 niedergemacht sein sollen und nach der angeblich 12 000 in das kaiserliche Heer übernommen wurden, besiegelte das Ende des Unternehmens. Die Wanderlawine, die nicht nur Goten, sondern auch Splitter anderer Völkerschaften, z. B. Alamannen 58 , mitgerissen hatte, war zerstäubt. Auch größere Gruppen, die ihre gentile Tradition bewahren konnten, schlössen sich zuweilen diesen Wanderverbänden an. Wir kennen solche Vorgänge bereits von den Zügen der Kimbern und Teutonen, denen sich Teile der Ambronen, die keltischen Tugener und Tiguriner und wahrscheinlich noch andere anschlössen59. Ariovist folgten bekanntlich Angehörige von mehreren Völkerschaften, die ethnisch gesondert blieben60. Das Beispiel der Rugier im Verbände des Ostgotenheeres61 und das der Sachsen bei der langobardischen Landnahme 62 erwähnten wir bereits. Ostgoten unter Theoderichs Vetter Widimer und Taifalen schlössen sich den Westgoten in Gallien an. Diese Erscheinung ist nicht mit den schon oben besprochenen „Wanderbünden" gleichzusetzen, die nach der Landnahme gewöhnlich auseinanderfielen 63 und die daher für die Stammesbildung verhältnismäßig unwesentlich blieben. Hier beim Heerhaufen verhinderte eben die gefolgschaftliche Bindung an den Landnähmeführer dieses Auseinanderfallen. Bedeutsamer als der Anschluß geschlossener Gruppen war für das Anwachsen solcher Wanderlawinen anscheinend die Ansaugung einzelner und kleiner Splitter, die sich schneller der ethnischen Tradition des Kernverbandes anschlössen. Bereits bei den Kimbern und Teutonen erklärt der Anschluß einzelner anderer Stammesteile nicht ihre Stärke, die die ursprünglich nur aus kleinen Landstrichen der Jütischen Halbinsel stammenden

«8) «») «O) OÍ) «2) •*)

Vgl. L. SCHMIDT, Ostgerm.2, S. 265 ff. Vgl. F.DAHN, Könige IX, 1, S. 48. Vgl. L. SCHMIDT, Westgerm. I*, S. 7, 9. Vgl. unten S. 497. Vgl. oben S. 20. S . 38 f. S. 77, vgl. unten S. 495 ff.

442

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

Kerngruppen zur tödlichen Bedrohung Roms werden ließ. So hat man hier schon gelegentlich mit Zulauf aus anderen Völkerschaften gerechnet 64 . Wahrhaft epochemachend wurden die Wanderlawinen jedoch bei den Ostgermanen und den aus dem suebischen Bereich stammenden Völkerschaften an der mittleren Donau. Ganz besondere historische Bedingungen begünstigten hier ihre Entstehung. Diese Völkerschaften stießen in Südosteuropa in einen S t e p p e n r a u m vor, der sie zu einer weitgehenden U m s t e l l u n g i h r e r Lebensf o r m e n zwang. Im Laufe weniger Generationen entwickelten sie sich hier zu echten Reiter Völkern, wobei das Vorbild der sarmatischen Steppenstämme auch ihre Sachkultur stark beeinflußte 65 . Hier im Steppenraum vollziehen sich Stammbildung und Stammuntergang in einem viel rascheren Tempo. Die Nomaden können sich mit ihren Herden bald der einen, dann wieder der anderen Stammesgruppe anschließen. „Stoßkraft und politischer Schwerpunkt sind ständigem Wechsel unterworfen. Gewisse allgemeine Gesetze bleiben konstant, aber die Kennzeichen, der Name, die politische Zugehörigkeit können sich blitzschnell wandeln" 6 6 . Ein ganzes „Spektrum" von Stämmen ist an den jeweiligen Machtbildungen beteiligt 67 . Dieses löst sich unter bestimmten Bedingungen zwar genauso schnell auf wie eine Wanderlawine, ist aber doch nicht mit dieser gleichzusetzen. Wahrscheinlich liegt es an den viel stärkeren Klanbindungen wenigstens der türkisch-mon6 4 ) Vgl. z. B. L. SCHMIDT, Westgerm. I 2 , S. 7; E . SCHWARZ, Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 28. Gerade in bezug auf die Kimbern (Strabon V I I 294 aus Poseidonios) entspricht also der in der antiken Ethnographie gebräuchliche Topos von der „Unvermischtheit" wenig der Wirklichkeit. Vgl. E. NORDEN, Urgesdi., S . 68 f. 8 5 ) Vgl. Prokop b. Vand. I 8 (Wandalen). Nach L. SCHMIDT, Ostgerm.2, S. 553, konnte sich das Reitervolk der Heruler im verödeten Rugiland ohne unterworfene Ackerbauer nicht halten. Zu Langobarden s. u. S. 491 f., zu Goten S. 469 f., zu Quaden S. 561. 6 6 ) K . JETTMAR, Hunnen und Hsiung-nu — ein archäologisches Problem, in: Archiv f. Völkerkde. 6/7 (1951/52), S. 177. Zustimmend J.WERNER, Beiträge zur Archäologie des Attila-Reiches, S. 2. 87) K . JETTMAR, aaO., W. EBERHARD, Staatenbildung, S. 53 f., beschreibt die Entstehung solcher Verbände, die oft mehr als hundert Stämme umfaßten (die Mongolen allerdings „kaum mehr als 70 Stämme"), die sprachlich und kulturell verschiedener Herkunft waren. „Unter dem Stamm des Führers stehen fast gleichberechtigt die Stämme, mit denen der Führerstamm schon früher immer zusammen nomadisiert hatte. Dann folgen darunter die Stämme, die zuerst unterworfen wurden oder sich freiwillig unterworfen hatten, zuletzt die gewaltmäßig in die Liga gezwungenen Sklavenstämme. Während der Kern der Liga demokratisch' ist, indem der Führer mit den Häuptlingen der Kernstämme über die Zukunftspläne diskutiert, hängen die anderen Stämme direkt vom Ligaführer ab und sind ihm persönlich Untertan. Er organisiert sie nun normalerweise unter Aufbrechung des alten Stammessystems nach rein militärischen Einheiten und schafft so ein schlagkräftiges Heer."

Umstellungen im Raum der Steppe — Tausendschaften

443

golisdien V ö l k e r und an dem durch den Nomadismus bedingten Gruppenzusammenhalt, daß hier beim Zerfall sich zwar auch die einzelnen Stämme spalten, aber doch nicht so zerstäuben wie die Wanderlawinen. So finden wir bei mehreren mittelasiatischen Türkvölkern gleiche Geschlechtsnamen, die auf alte Stammesnamen zurückgehen 6 8 . Das Gotenreich in Südrußland mit seiner Vielzahl von unterworfenen und abhängigen Stämmen verschiedenster Herkunft unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den vorhergehenden skythischen 6 9 und den darauffolgenden hunnischen Machträumen. D a m i t soll natürlich keineswegs behauptet werden, daß nicht auch im Steppenraum in Unruhezeiten viele kleine Splittergruppen von ihren Verbänden abgesprengt wurden und nach Anschluß suchten. Dieser scheint sich jedoch dort, wo die Klanorganisation noch wirksam war, in der Form von Adoptionen vollzogen zu haben. Den germanischen Heerhaufen mangelte eine solche Klanordnung durchaus. D a f ü r waren sie aber besonders geeignet, derartige Splitter in sich aufzunehmen, da ohnehin Fremde in ihrer Mitte lebten und sie daher nach außen offen waren. Schlössen sich nun solche Splitter in großer Zahl an einen Machtkern an, so erhob sich zwangsläufig die Frage nach der Organisation dieser Massen. Wenn nicht alles täuscht, so haben hier die Steppenvölker das Vorbild für die germanischen Heerhaufen abgegeben. Die Ordnung der Riesenheere nomadischer Erobererscharen erfolgte seit alter Zeit, gleichgültig ob es sich um indogermanische oder türkisch-mongolische Verbände handelte, nach dem Dezimalschema. Als größte Einheit kennen bereits die Tocharer die Zehntausendschaft (toch. A tmam; toch. B t(u)mane; türk. u. mongol. tümen; vgl. russ. t'ma)10. Die Miliz der größeren Städte des Kiewer Reiches nannte sich „Tausendschaft", und in den dicht am R a n d e der Steppe gelegenen Fürstentümern, etwa in Perejaslav, gliederte sich das Aufgebot nach Hundertschaften 7 1 . M . H e l l m a n n 7 2 dürfte mit seiner Vermutung recht haben, daß die Gliederung nach dem Dezimalsystem bei den Slaven auf frühere Einrichtungen zurückgeht, die von Völkern des Steppenraumes stammen. H i e r erhebt sich nun die Frage, ob nicht auch analoge Institutionen germanischer Völker bei diesen ihr Vorbild hatten.

68) R. BLEICHSTEINER b. H. Bernatzik, Die Große Völkerkunde II, S. 40; TOKAREW-TSCHEBOKSAROW, S. 1 4 7 f.

«») V g l . F . HAN£AR, in: 3 3 . Ber. R G K ( 1 9 4 3 / 5 0 ) , S. 5 5 .

) G. VERNADSKY, in: Hist. Mundi V, S. 254; vgl. das türkische Lehnwort im ungarischen tömeny „Tausendschaft"; Z. v. FARKAS, in: Saeculum 5 (1954), S. 334. 70

T1

) G . VERNADSKY, wie A n m . 7 0 .

Saeculum 5 (1954), S. 50. Z f O 7 (1958), S. 323, weist HELLMANN dagegen

wieder auf byzantinische Parallelen hin.

444

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

Viele Forscher haben die Tausendschaft als altgermanische Einrichtung betrachtet 73 . F. F r a h m 74 z. B. verbindet sie mit der Nachricht Caesars b. G. IV 1.4, nach der jeder Suebenpagus abwechselnd jährlich tausend Krieger über die Grenzen schickt. Doch hat bereits F. D a h n 7 5 darauf hingewiesen, daß sich in früheren Zeiten bei Westgermanen nirgends eine Spur der Gliederung nach der Zehnzahl findet. Aber auch er hält die Einteilung des ostgotischen Heeres in Tausendschaften noch für altgotisch76. Andere glauben an römischen Einfluß 77 . Gerade aber die Beschränkung der Institution auf Ostgermanen — wir finden sie bei Ostgoten 78 , Westgoten 79 und Wandalen 80 — und die Tatsache, daß bereits Wulfila gr. IIUO.Q%O•') R. v. USLAR, Westgerm. Bodenfunde, S. 90. »»«) H . E. STIER, in: Westf. Forschgn. 1 (1938), S. 297, schließt aus der Steigerung des römischen Imports gerade seit dem 2. Jahrhundert auf ein stärkeres Einströmen fremder Gedanken. 197

)

E . WAHLE, D t .

Vorzeit,

S. 2 2 3 .

» 8 ) Z R G G A 58 (1938), S. 13 f. 1 9 9 ) W . MERK führt als Vertreter dieser Meinung an: H . BRUNNER, Dt. R G I 2 (1906), S. 50 (militärisch-politische Neuschöpfungen, durch den Kampf gegen Rom hervorgerufen), A. BAUER, Gau und Grafschaft in Schwaben (1927), J . DE TOURNEUR-AUMONT, Etudes de cartographie historique sur l'Alemannie (Paris 1918) und L'Alsace et l'Alemannie, in: Annales de l'Est (1919), S. 38. Es wäre besonders noch F. STEINBACH, Studien, S. 124, anzufügen („Unsere Stämme sind Neubildungen im »neuen Räume"). Vgl. oben S. 85. 20») Dafür entscheidet sich auch mit L . SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 85, R . GRADMANN, Süddeutschland I, S. 111, H.V.SCHUBERT, Die Unterwerfung der Alemannen unter die Franken (Straßburg 1884), (Fortleben alter Kultverbände) auch W. MERK selbst ( Z R G GA 58 [ 1 9 3 8 ] , S. 15).

462

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

S c h m i d t und M e r k , daß sich der Aufbau der ostgermanischen Einzelvölker, der Friesen und Chatten/Hessen „überhaupt nicht wesentlich geändert" habe. M e r k s Hinweis auf J . F i c k e r s 2 0 1 Satz: „Weder bei den Goten noch bei den Burgundern noch bei den Langobarden haben wir doch irgendeinen Grund für die Annahme, daß die Stämme selbst erst in der Zeit der Wanderungen aus der Vereinigung verschiedener Bestandteile erwachsen sind", enthält einen richtigen Kern, den wir bereits oben 202 berührt haben. Die Stämme des Westens sind offenbar ganz andere Gebilde als die gentes des Ostens. Dennoch bleibt kein Zweifel, daß die Frage — so formuliert — sich als ein Scheinproblem erweist. Wir müssen bereits bei der Fragestellung intentionale und nicht-intentionale Daten auseinanderhalten. Mit anderen Worten, wir müssen einerseits fragen, ob sich eine völlig neue ethnische Tradition gebildet hat, die nicht im Altertum wurzelt, und wir müssen weiter fragen, welche demographischen Veränderungen sich vollzogen haben. Was die zweite Frage anlangt, so ist nicht zu bestreiten, daß kein Stamm von einschneidenden demographischen Veränderungen verschont geblieben ist, auch wenn diese überall verschieden verliefen. Insofern besteht die Formulierung von der Neubildung im neuen Raum zu Recht. Die erste Frage muß für jeden Stamm besonders beantwortet werden. Bei einigen reichen die ethnischen Traditionen in vorgermanische Zeit zurück, bei anderen sind sie erst in geschichtlicher Zeit entstanden. Doch muß noch einmal betont werden: Sie sind fast alle bereits v o r der Völkerwanderungszeit vorhanden gewesen. Wir wollen nun im Anschluß einige der gentes des frühen Mittelalters in ihrem Werden verfolgen, um die tiefgehenden Unterschiede der Stammesbildungsprozesse herauszustellen und um uns ein Bild von den vielfältigen Faktoren machen zu können, die im Einzelfall wirksam waren. 1. D i e

Goten

Das Beispiel der Goten soll uns dazu dienen, um die Vorgänge bei der Bildung eines ostgermanischen Stammes deutlich zu machen. Wir wählen die Goten besonders deshalb, weil hier die einheimische Wandersage erhalten ist, so daß wir mit den Überlieferungen der Stämme im Westen vergleichen können. Im ersten Teil dieser von Jordanes 203 überlieferten Wandersage lernen wir als älteste „Heimat" der Goten die Insel Skandza kennen, von der aus 201) S. 169, 202) 208)

Untersuchungen zur Erbenfolge der ostgerm. Rechte I (Innsbruck § 135. S. 49. Get. I V 25 ff.; vgl. X V I I 94.

1891),

Die Goten — Wandersage

463

sie unter dem König Berig auf drei Schiffen nach dem Festland, seicher Gothiscandza genannt, übersetzten. Das letzte Schiff soll die Gepiden getragen haben. Im Kampf mit den Ulmerugiern haben die Goten dann angeblich das Land behauptet und später auch die Wandalen besiegt. Manches deutet darauf hin, daß in dieser Wandersage ein historischer Kern enthalten ist. Um diesen bloßlegen zu können, ist es notwendig, einmal alle jene Elemente auszusondern, die wir in den einleitenden Abschnitten unserer Untersuchung als typische Formen des ethnischen Selbstverständnisses erkannt haben und die gewöhnlich im Gegensatz zu den „objektiv" feststellbaren Tatsachen stehen. Das gilt vor allem für die Vorstellung, die Goten seien als geschlossener Stammeskörper in ihre neuen Sitze eingerückt, eine Vorstellung, die noch heute weit verbreitet ist und auf die wir im Anschluß noch einmal zurückkommen werden. Das gilt weiterhin für das in germanischen Abstammungssagen übliche Dreierschema (drei Schiffe). L. S c h m i d t glaubt zwar, dies sei der Ausdruck für die spätere Einteilung der Goten in Ost- und Westgoten sowie Gepiden 204 . Doch ist diese Einteilung bei einem Mösogoten wie Jordanes nicht unbedingt anzunehmen. Dagegen ist wahrscheinlich die Erwähnung der Gepiden aus den Verhältnissen seiner Zeit und Umwelt zu verstehen. Die angeblich von den Goten im Weichselraum um Christi Geburt angetroffenen politisch-ethnischen Verhältnisse entsprechen nun aber durchaus dem, was wir aus zeitgenössischen Quellen wissen. Die Sitze der Goten in diesem Raum werden durch eine ganze Reihe von Zeugnissen bestätigt. Bereits Strabon VII 1. 3 kennt die Goten als Klienten Marbods, wenn die verderbte Lesart Bovrmva? in rovtowag und nicht mit L. S c h m i d t 2 0 5 in Baxeivoi geändert wird. Die Nachricht bei Tacitus Ann. I I 62 über die Flucht des markomannischen nobilis iuvenis Catualda zu den Goten läßt diese ebenfalls im Umkreis des Machtbereichs Marbods erscheinen. Während Plinius n. h. I V 28 Gutones nur ganz allgemein im Nordosten Germaniens ansetzt, berichtet Tacitus Germ. c. 43, daß sie trans Lugios — also nördlich der Wandalen — säßen, und Ptolemaios I I I 5. 20 kennt sie rechts der unteren Weichsel 206 . Wenn wir auch die genauen Grenzen des Gotenlandes nicht angeben können, so ist doch gesichert, daß es am Unterlauf der Weichsel zu suchen ist. 204) Ostgerm. 2 , S. 196; vgl. S. 197. 205) W A S L. SCHMIDT, Ostgerm. 2 , S. 197, gegen diese Konjektur anführt, ist nidit zwingend. Catualda kann zu den Goten geflüchtet sein, als diese sich bereits von Marbod gelöst hatten wie die Semnonen und Langobarden. 2 0 6 ) Sie erscheinen hier irrtümlich, da Ptolemaios aus zwei zeitlich auseinanderliegenden Quellen schöpfte (vgl. oben S. 2 2 9 ff. mit Anm. 588), vom Meeresufer durch die Veneter getrennt.

464

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

Auch die sonstigen Angaben über die Völker dieses Raumes bei Jordanes entsprechen den Quellen des 1. Jahrhunderts. Tacitus Germ. c. 43 nennt als Nachbarn der Goten einmal Lugier, ein Name, der damals schon auf die Wandalen übertragen war, und am Meer u. a. Rugier. Ptolemaios II 11. 12 nennt zwischen Oder- und Weichselmündung einen Ort Rugion und I I 11. 7. 9 einen Volksnamen 'Povxixleioi, der wohl in c PovyixXeioi zu bessern ist207. Selbst die besondere Form des Rugiernamens bei Jordanes (Ulmerugi = got. *Hulmarugeis „Insel-Rugier") wird noch auf andere Weise gesichert. Die Rugier in der skandinavischen Heimat (Rygir) werden gelegentlich, wohl in unberechtigter Übertragung des Namens ihrer Stammesgenossen auf den Weichselinseln, Holmrygir („Insel-Rugier") genannt 208 . Angesichts dieser Übereinstimmung der Quellen herrscht im allgemeinen kein Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Jordanes über die Verhältnisse jm Raum an der unteren Weichsel. Strittig ist dagegen z. T. seine Angabe über das Herkunftsland Skandza. Der Streit, ob dabei an Gotland oder Gotaland zu denken ist, setzt — wie schon erwähnt — voraus, daß die Goten von ihrer „Urheimat" geschlossen auf das Festland übergesetzt seien. Daß diese Voraussetzung wahrscheinlich falsch ist, dürfte nach dem oben (S. 72 ff., 434) Gesagten einleuchten. Auch hier ist scharf zu unterscheiden zwischen der Herkunft des traditionstragenden Kerns der Völkerschaft und der Herkunft der großen Massen seiner Angehörigen. Im Lichte dieser Unterscheidung erscheinen fast sämtliche bisher für die eine oder andere Auffassung angeführten Gründe als nicht stichhaltig. Beschränken wir uns zunächst auf die erste Frage, so wäre zu klären, ob überhaupt etwas für die Herkunft aus Skandinavien spricht, abgesehen von archäologischen und sprachwissenschaftlichen Zeugnissen, die hier versagen. Bei der Suche nach den Gründen, die einen Chronisten des 6. Jahrhunderts dazu veranlassen könnten, entgegen den historischen Tatsachen die Abkunft seines Stammes aus Skandinavien zu behaupten, kommt man zu dem Ergebnis, daß es schlechterdings keine gibt. Im Gegenteil, es lag den Geschichtsschreibern dieser Zeit wesentlich näher, eine Anknüpfung an die berühmten Völker des Altertums herzustellen, wie viele Beispiele zeigen. Die Behauptung des Jordanes ist für seine Zeit ganz untypisch und beruht daher mit recht großer Sicherheit auf Überlieferungen, die einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit besitzen. Besteht also von dieser Seite her kaum ein Bedenken gegen die Angabe des gotischen Geschichtsschreibers, so erhält sie eine weitere Stütze durch die Gleichheit der Namen des Gotenvolkes und der Insel Gotland. Die A»') R . M U C H , G e r m a n i a , S. 3 8 8 . 208) R . M U C H , G e r m a n i a , S. 3 8 8 f.

Gotische Wandersage — „Urheimat"

465

Annahme einer Herkunft der Goten von Gotland ist daher das nächstliegende, wie auch die Gegner dieser Meinung zugeben 209 . Zwar nennt Ptolemaios II 11.16 die Gauten (Götar) auf der skandinavischen Halbinsel einmal auch mit der ablautenden Form des Namens Tomai, dodi bleibt dies ein Einzelfall, der zu den zahlreichen Irrtümern im Werk des Ptolemaios gehören kann 210 . Die Gutasaga, nach der eine Übervölkerung der Insel zur Auswanderung der durch Los bestimmten überzähligen Bewohner Gotlands zwang, ist allerdings kaum eine starke Stütze dieser Ansicht, wenn auch ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Auswanderern darin nachwirken kann. Nach dieser Saga 2 1 1 kamen die Auswanderer über Dago, die Düna entlang bis nach Südrußland und Griechenland. Nach E. S c h w a r z 212 stimmt die Wanderrichtung eher zu der der Warägerzeit als zu der der Goten. Dieser Hinweis will nicht recht überzeugen, haben doch die mittelalterlichen Schreiber stets die Hauptverkehrswege ihrer Zeit vor Augen, wenn sie auch über ältere Zeiten berichten. Gegen B. N e r m a n s Auffassung, der die in der Gutasaga enthaltene Tradition auf eine Abwanderung von Gotländern nach dem Südbaltikum im 5. Jahrhundert bezieht, weist O. H ö f 1 e r 213 auf die Nachricht über Krikland hin, die sich besser mit der gotischen Wanderung in den Bannkreis des oströmischen Reiches vereinbaren läßt. Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen. B. N e r m a n hat — wie in anderem Zusammenhang schon erwähnt — gegen die Herkunft der Goten von der Insel nodi eingewandt, daß es hier niemals Könige gegeben habe, während die Goten stets unter solchen gestanden hätten 214 . Dieses Argument, dem sich E. S c h w a r z anschließt 215 , ist nun, wie wir schon gesehen haben 216 , eher eines, das eine Herkunft gerade aus Gotland nahelegen kann, da der alte König selbst nach der Wandersage „die" Goten auf das Festland führte. Die ungebrochene Tradition des Königtums, die sich auch darin ausdrückt, daß der alte Begriff 20>)

z . B . E. SCHWARZ, Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 15. E. SCHWARZ, in: Saeculum 4 (1953), S. 18, will daraus schließen, daß die Beschränkung dieser Form des Namens auf die Insel Gotland damals noch nicht durchgeführt war. So viel darf man wohl allein aus Ptolemaios kaum schließen. Vgl. DERS., Germ. Stammeskunde, S. 85 f. 211) hrsg. H. PIPPING (Gutalag och Gutasaga, 1905/7), S. 63. L. WEIBULL, En forntida utvandring fran Gotland, in: Scandza 15 (1943), S. 267 ff., will der Saga jeden Quellenwert absprechen, was N. TIBERG, Utvandringsberättelsen i Gutasagan, in: Gotlandsk A r k i v (1946), S. 16 fi., zurückweist. 2 1 2 ) Goten, Nordgerm., Angelsachsen S. 16. 2 1 S ) Germ. Sakralkönigtum, S. 56. 2 1 4 ) Die Herkunft und früheste Auswand, der Germ., S. 49. 2 1 5 ) Goten, Nordgerm., Angelsachsen, S. 15; DERS., in: Saeculum 4 (1953), S. 2 0 ; DERS., Germ. Stammeskde., S. 85. 2 1 «) S. 323; vgl. S. 4 1 0 f. 21) Audi R. v. KIENLE, Der Alamannen-Name, S. 75, weist darauf hin, daß der Stammesname unlösbar mit der bezeichneten Stammesgemeinschaft verbunden gewesen ist und nicht ohne tieferen Grund neu angenommen oder preisgegeben wurde. Ähnlich A. BAUER, Gau u. Grafschaft, S. 9 f. 482)

R.

M U C H b. H o o p s

I V , S . 4 8 8 ; DERS., G e r m a n i a , S . 3 3 7 .

4«3) Germania c. 39. 4 4 « ) K. HELM, Altgerm. Religionsgesch. I, S. 308; 11,2, S. 237 f.; DERS., Wodan, S. 26 ff. 495 ) Germ. Altertumskde., hrsg. H. Schneider, S. 28; ähnlich nimmt R. v. KIENLE, Der Alamannen-Name, S. 75, an, daß der neue Name dadurch entstanden sei, daß sich die Stammesgemeinsdiaft politisch erweitert habe.

500

Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit

des Siegers mit auf sich zu beziehen. Audi die Ansicht von E. S c h w a r z 466 , der glaubt, daß sich erst die zwischen 180 und 213 am Main vor dem Limes stauenden suebischen Gruppen zu einem neuen Stammesbunde der „Alemannen" zusammengeschlossen hätten, ist m. E. in dieser Form kaum vertretbar. Sicher werden sich diese Gruppen, wie es auch später wiederholt geschehen ist, für die einzelnen Unternehmungen zusammengeschlossen haben, aber daß sie einem solchen Zweckverband auf Zeit einen Namen gegeben und dazu noch einen neuen Namen gegeben haben sollen, wäre eine Annahme ohne Parallele 467 und entspräche keineswegs dem traditionsverhafteten Denken jener Gruppen. Sicher ist bei alledem nur, daß die als alamannisch bezeichneten Verbände dazu neigten, sich gegen Rom zu verbünden. Aber dies ist — abgesehen von der wohl gemeinsam durchgeführten Landnahme — daraus zu erklären, daß hier eine durch gleichgerichtete Interessen und die Gefährdung durch den gleichen Gegner hervorgerufene Zone gleicher Gesinnungslage entstanden war, wie wir sie oben (S. 53) erwähnt haben und die zur Entstehung eines Stammessdiwarms führte. Alle Überlegungen kreisen um zwei Fragen: einmal um das Problem der Deutung des Alamannennamens als Name eines Völkerbundes und zum andern um das Problem, ob und warum hier überhaupt ein anscheinend neuer Name aufkommt. Was die erste Frage anlangt, ist die Interpretation des Namens als Bezeichnung eines Völkerbundes nicht zwingend, so daß es schon aus diesem Grunde gewagt erscheint, allein aus dem Namen auf die Existenz eines Bundes als ständiger Institution zu schließen. F. L. B a u m a n n hat es seinerzeit, da sich der Bund in den Quellen nicht nachweisen ließ und er auch dem Bestimmungswort des Namens eine selbständige konkrete Bedeutung zuzuschreiben neigte, *Alah-manni „Leute des Götterhains" als richtige Form des Namens angesehen468. Diese Auffassung ist jedoch mit gewichtigen Gründen widerlegt worden 469 . Sie wird heute nur selten vertreten. Doch auch die Form Alamanni weist nicht notwendig auf einen

48«) Herkunft der Alamannen, S. 46. Ähnlich schon E. NORDEN, Urgesch., S. 495: „Ihr Versuch also, die Reichsgrenze zu überschreiten, scheint sie zum Zusammenschluß veranlaßt zu haben." 467) Man könnte allenfalls einige keltische Stammesnamen (Tri-corii, Petricorii „die drei- bzw. vier-heerigen" [O. SCHRÄDER, RL, S. 921]) anführen. Sie sind offensichtlich Neubildungen, gehen jedoch wohl ebenfalls nicht auf einen Zusammenschluß lange vorher bestehender ethnischer Gruppen zurück, sondern bezeichnen eher die Verbindung mehrerer ethnisch heterogener Heerhaufen. 468) Forschungen zur schwäbischen Geschichte (1899), S. 520 ff. « 9 ) j . MEYER, in: A l e m a n n i a 7 ( 1 8 7 9 ) , S. 2 6 1 — 2 8 8 ;

v g l . A . BAUER,

G a u u.

Grafschaft, S. 5, Anm. 13; neuerdings noch einmal von R. v. KIENLE, Der Alamannen-Name, S. 67 ff.

Deutung des Alamannen-Namens

501

Verband mehrerer Stämme. Wie M. S c h ö n f e i d 470 betont, ist die Bedeutung des Namens nicht mit Gewißheit festzustellen. Er erwägt — da Ala- in den meisten Fällen nur eine intensive Bedeutung hatte 471 — auch „die Männer xar' f.t-o%r\v* als Sinn des Namens. J. G r i m m hatte 472 den Namen als die „ausgezeichneten Männer" gedeutet. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß man- nicht nur „Mann", sondern damals vor allem allgemein „Mensch" bedeutete, könnte man hier an den Sinn „eigentliche Menschen, Menschen im Vollsinne des Wortes" denken. Damit hätten wir ein weiteres Zeugnis für die ethnozentrisdie Namengebung im germanischen Bereich, der von der Nachkommenschaft des Mannus, „des" Menschen, bevölkert wurde. Aber neben der intensivierenden Funktion der Silbe Ala- darf wohl kaum die zusammenfassende vergessen werden. Das wird vor allem durch die Belege aus anderen germanischen Sprachen nahegelegt. Mittelniederdeutsch und holländisch bedeutet alman „jedermann" 473 , und im Gotischen meint alamans „Gesamtheit der Menschen"474. Angesichts dieser Zeugnisse scheint es Willkür, die Bedeutung des gleichen Wortes im Alamannennamen auf „alle Männner, Gesamtvolk, Männer insgesamt" einschränken zu wollen und auf den Gebrauch in Ding und Heer zu beziehen475. Die nächstliegende Annahme bleibt, auch für den späteren Stammesnamen ursprünglich eine weitere Bedeutung anzunehmen. R. v. K i e n 1 e näherte sich dieser Auffassung, als er meinte, daß „der Völkername wohl kaum erst durch die ad hoc erfolgende Zusammensetzung der germanischen Wörter ala und manna(n) erfolgt sein" dürfte. Der „Stamm wird das bereits vorhandene Wort *alamann- zu seiner Benennung verwendet haben" 476 . Hier bleibt nur die Frage, was das bereits vorhandene Wort denn für einen Sinn hatte. Sicher bedeutete es nicht „Menschheit" in unserem Sinn, der bereits im Gotischen zu erkennen ist. Die Ansicht Johannes M e y e r s477, der den Namen als „Allmensdien"

« e 1 e g e : Kelten: Allobroges (Dio 37. 47; Caes. b. G. VII 64. 8) Helvii (Caes. b. G. VII 65. 2) Arverni (VII 4. 1 f.) Lemovices (VII 88.4) Haedui (I 3.5) Helvetii (12) Bellovaci (II 14) Remi (II 3. 1) Nervi! (II 23.4; V 41); dazu die Stämme, bei denen eine stirps regia erwähnt ist. Germanen: Chatten (Tac. Ann. II SS; IT 7; XI 16) Usipier und Tcnktercr (Caes. b. G. IV 13) Ubier (Caes. b. G. IV 11. 2) Cherusker (Tac. Ann. passim) Bataver (a. a. O.j. N o r d g r e n / e der H ö h e n b u r g e n

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G r e n z e des Römischen Reiches um 100 v. C h r .

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