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German Pages 425 Year 1981
HANS
VORLÄNDER
Verfassung und Konsens
Beiträge z u r P o l i t i s c h e n Wissenschaft Band 40
Verfassung u n d Konsens Der Streit um die Verfassung in der Grundlagen- und Grundgesetz-Diskussion der Bundesrepublik Deutschland Untersuchungen zu Konsensfunktion und Konsenschance der Verfassung i n der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie
Von
Hans Vorländer
D U N C K E R
&
H U M B L O T / B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1981 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1981 bel Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 04982 9
Vorwort
Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist ein doppeltes: Ziel ist zum einen die Dokumentation und kritische Analyse jener politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen i n den siebziger Jahren der Bundesrepublik, die nur zu oft den Ruf nach der „Solidarität der Demokraten" i n der beschwörenden Verknüpfung mit dem grundgesetzlichen „Verfassungskonsens" laut werden ließen. Was aber heißt „Verfassungskonsens"? Kann es i n der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie der „spätkapitalistischen" Industriegesellschaft überhaupt einen festen Konsens über die Verfassung geben? Wurde die Verfassung i n diesen Fundamentalauseinandersetzungen als das gesellschaftliche Konsensprinzip begriffen? Damit ist das zweite Interesse der Arbeit als Problem gestellt. Die Verfassung ist nicht nur ein Stück Papier — wie es Lasalle meinte —, sondern von ihrem Anspruch her die normative Regelung der politischen Organisation der Gesellschaft. Die Fragestellung verschärft sich also: Welches sind die Prinzipien, die Werte, die Vorstellungen, die ,normativen' Leitideen, die Normen, nach denen sich die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts verfaßt? Können sich die Meinungs- und Handlungsträger auf solche Prinzipien so einigen, daß diese zudem allgemeine Zustimmung erlangen? Oder zeigt gerade der Streit um Verfassung und Werte, um Innere Sicherheit, Terrorismus, Extremisten, Schutz der Verfassung und Verfassungsschutz und um Grundwerte an, daß eine konsensuale Verständigung über Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung nicht oder nur bedingt möglich ist? Auf diese leitende Frage nach den Bedingungen eines Konsenses über die Verfassung, wobei die Konsensfunktion der Verfassung als Hypothese angenommen wird, versucht die Arbeit eine nicht nur analytische, sondern auch systematisch-konstruktive Antwort zu geben. Das Interesse gilt der Normativität der Verfassung und ihren sozialen und politischen Voraussetzungen. Der sozialstaatliche Strukturwandel der Verfassung i m Zeichen von pluralistischer Werte- und Interessenheterogenität und verschärfter Verteilungskämpfe um knapper werdende Ressourcen macht die Verfassung und damit die Ordnungsgrundlagen der „postindustriellen" Demokratie per se streitbefangener, ohne daß andererseits aber auf einen verfassungsmäßig-institutionalisierten Konsens über Grenze und Richtung sozialstaatlicher Ordnungs- und Verteilungsfunktionen verzichtet werden kann. Hier ist ein Verfassungsver-
Vorwort
VI
ständnis herausgefordert, das jenseits positivistisch-rechtsstaatlicher Verkürzung und marxistisch-materialistischer Generalkritik die normative Konsensfunktion und die tatsächliche Konsenschance der pluralistischen und sozialstaatlichen Verfassung zu erhalten vermag. Dieses Verfassungsverständnis ist sowohl eine wissenschaftliche Aufgabe wie auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Entwicklungen der letzten zehn Jahre sowie die Besonderheiten deutschen Verfassungsdenkens — zeitgenössisch-symptomatischer Ausdruck ist die Verfassungszentriertheit der politischen Auseinandersetzung — stehen jedoch einem Verfassungsverständnis entgegen, das i n der Offenheit des Verfassungssystems und der Beachtung der Leistungsgrenzen und der beschränkten sozialen Steuerungskapazität der Verfassung die Postulate demokratischer Verfassungskultur sieht, ohne die die Verfassung nur schwerlich ihren Anspruch einlösen kann, Konsensprinzip konfligierender politischer Auseinandersetzung zu sein. Die vorliegende Studie wurde i m Herbst 1980 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn als Dissertation angenommen. Dank zu sagen gilt es vor allem Professor K a r l Dietrich Bracher, der dieses für einen Politikwissenschaftler nicht alltägliche Projekt mit Wohlwollen, Interesse und Zuspruch in jeder Phase seiner Entstehung unterstützt und gefördert hat. Zu danken habe ich auch den Professoren Klaus Schiaich und Josef Isensee, in deren verfassungs- und staatsrechtlichen Seminaren ich Anregung und Widerspruch gefunden habe. Beständig war es auch das fortdauernde Spannungsverhältnis der zwei Disziplinen von Politischer Wissenschaft und Rechtswissenschaft, das mich herausgefordert, angefochten und befördert hat. Die Theorie der Verfassung ist kein exklusives Geschäft i r gendeiner Disziplin, die Verfassung geht uns alle an. Die Danksagung wäre unvollständig, ohne der Friedrich-Naumann-Stiftung für stets großzügige Unterstützung bei Promotion und Drucklegung sowie der Universität Bonn für einen Druckkostenzuschuß zu danken. Besonderer Dank gilt meinen Eltern, meinen Freunden und Christina. Bonn, i m Juni 1981 Hans
Vorländer
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel Der Streit um die Verfassung und die Frage nach dem Verfassungskonsens — Propädeutik der politischen und theoretischen Problemstellung I . Das Problem
1 1
1. „Scharen w i r uns u m die Verfassung" — Die Verfassung als Feldzeichen i m politischen K a m p f
2
a) Die Verfassung i m Schnittpunkt der rechtspolitischen A u s einandersetzung
3
b) Die Verfassung als Bezugspunkt der tagespolitischen Auseinandersetzung
8
c) Die Verfassung i m M i t t e l p u n k t der Grundlagendiskussion ..
15
2. Phänomen u n d Gefahren der „Verfassungsmäßisierung" der politischen Auseinandersetzung
20
I I . Fragen I I I . Erkenntnisinteresse
23 26
1. Das spezifische Probleminteresse
26
2. Der theoretische H i n t e r g r u n d des politischen Problems: Das V e r hältnis von Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, von N o r m u n d Faktizität
28
3. Begriffszuordnungen u n d Erkenntnisziele
32
a) Begriffszuordnungen
32
b) Erkenntnisziele (Fortgang der Untersuchung)
36
I V . Juristische Normwissenschaft versus politologisch-soziologische Wirklichkeitswissenschaft? — E i n methodologischer E x k u r s zu Statusfragen der Verfassungstheorie zwischen Recht u n d P o l i t i k
41
1. Erkenntnisgegenstand u n d Erkenntnisinteresse der Staatsrechtslehre
43
2. Das Erkenntnisinteresse der Politikwissenschaft an der (rechtlichen) Verfassung
47
3. Gemeinsamkeit u n d Differenz
51
4. Zum Status der Verfassungstheorie
52
Vili
Inhaltsverzeichnis Zweites
Kapitel
Faktische Konsensprobleme der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie — Paradigmata einer sozialwissenschaftlichen und politischen Grundlagendiskussion in der Bundesrepublik Deutschland
59
I . Vorbemerkung
59
I I . „ K r i s e " — Sozialwissenschaftliche Krisendiagnose
61
1. Die Frage nach der Überlebensfähigkeit der pluralistischen Demokratie i n der „gegenwärtigen K r i s e " (A. Schwan)
63
2. Gesellschaftswandel u n d K u l t u r k r i s e (R. Löwenthal)
64
3. Wertewandel u n d Politikwechsel (Politische Kultur-Forschung)
66
4. Sozialer Wandel als Konsensproblem
67
I I I . „Legitimationsverlust" u n d „Unregierbarkeit"? — Z u r Auseinandersetzung u m Habermas „Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus"
71
1. Der politisch-wissenschaftliche Streitwert
71
2. Das Modell der „Legitimationsprobleme i m Spätkapitalismus"
74
3. Die Replik von Hennis
77
4. „Legitimationskrise" u n d „Unregierbarkeit" als Probleme der westlichen demokratischen Industriegesellschaften? — Theoriediskussion u n d Realgehalt a) Strukturähnlichkeiten von Legitimationskrisen-Theorie Unregierbarkeits-These b) Wandlungstendenzen (Kaase)
der
„postindustriellen
und
Demokratien"
79 79 83
c) Herausforderungen für die demokratische politische Ordnung
85
I V . „Systemüberwindung" u n d „demokratisches Verfassungssystem" — Z u r Auseinandersetzung u m Schelskys „ M e h r Demokratie oder mehr Freiheit"?
87
1. Die Schelsky-Kontroverse: Das demokratische Verfassungssystem als Konsensgrundlage
87
2. „Systemüberwindung" = „Verfassungsüberwindung"
89
a) Die Grundthesen
89
b) Die Systembegrifflichkeit
90
3. Demokratie versus Freiheit — Der begriff von Schelsky
Gewaltenteilungs-System-
4. Die parteiideologisierende Verfassungsinterpretation Schelskys — Die K r i t i k an Schelsky
95 97
Inhaltsverzeichnis a) Verkürzter Demokratiebegriff
98
b) Dichotomie von Demokratie u n d Gewaltenteilung
98
c) Das L e i t b i l d prästabilisierter Harmonie
100
d) Politisierung u n d Polarisierung als normale periodische E r scheinungen i n Massendemokratien — Ignoranz des Wandels 101 e) „Self-fulfilling-prophecy" u n d „Alternativ-Radikalismus" f) Parteiideologisierende Verfassungsinterpretation densfunktion der Verfassung
und
102 Frie-
104
V. „Besteht noch ein Konsens?" — Verfassung u n d Konsens i n der V e r fassungsdebatte des Deutschen Bundestages (1974) u n d der G r u n d wertediskussion der politischen Parteien 106 1. Verfassungskonflikt, ständnis
Verfassungskonsens
und
VerfassungsVer-
106
2. Die Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages v o m 14. u n d 15. Februar 1974 111 a) Das statische Verfassungsverständnis: Die Verfassung als I n teressenbunker u n d K a m p f instrument Ill aa) Der Fraktionsantrag der CDU/CSU 111 bb) Die Debattenbeiträge von Dregger und Filbinger 112 b) Das dynamische Verfassungsverständnis: Die Verfassung als Politikagende u n d Aufgabenkatalog 119 aa) Gemeinsamkeiten u n d Unterschiede zum statischen V e r fassungsverständnis 119 bb) Die Debattenbeiträge von Schöfberger u n d Brandt cc) I n k u r s : Z u den I r r t ü m e r n des Auftragsdenkens
120 121
c) Das Verständnis der Verfassung als D i a l e k t i k von statischen u n d dynamischen Elementen: Die Verfassung als Rahmenordnung 122 aa) Die K r i t i k an dynamischen u n d statischen Verfassungsverständnissen durch Vertreter aller Parteien i n der V e r fassungsdebatte 122 bb) Die Verfassung als Rahmenordnung: Der Konsens über den Dissens 127 cc) Das Rahmenordnungsverständnis u n d die Realprobleme demokratischer Verfassungsordnung 130 3. Die Diskussion u m Grundwerte u n d Konsenssicherung a) Dynamisches (H.Schmidt)
Konsensverständnis
b) Statisches Konsensverständnis (H. Kohl)
und
Mehrheitsgeltung
u n d staatlicher
Werteschutz
136 137 138
c) Konsens qua Wertevollzug oder Konsens qua Wertebildung? 139 d) Sozialer u n d demokratischer Staat u n d der Ausgleich von Zielkonflikten (Maihofer) 141
Inhaltsverzeichnis e) Wertkonsens u n d Verfassungskonflikt (Η. Maier)
143
aa) Wertzuständigkeit und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft 143 bb) Lokalisierung der Wertkonflikte innerhalb von Staat u n d Verfassung 145 cc) Verfassungsimmanenter Verfassungskonflikt? — Z u m Z u sammenhang von Verfassungsstruktur u n d Konsens 146 V I . Resümee — Grundlagendiskussion u n d das Problem des Verfassungskonsenses 150
Drittes
Kapitel
Ordnungspolitischer, prozessualer und legitimatorischer Konsens in der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie — Normative und empirische Dimensionen des Konsensbegriffs in der politischen und sozial wissenschaftlichen Theorie
157
I. Das Instrumentarium der Analyse: Ordnungspolitische, prozessuale u n d legitimatorische Dimension des Konsensbegriffs 157 1. Die S t r u k t u r des Kapitels
157
2. „ K o n f l i k t u n d Konsens", „Konsens u n d Dissens"
159
3. Konsensbegriffsvielfalt
162
I I . Die Idee des allgemeinen Konsenses als Konstitutions- und L e g i t i mationsprinzip politischer Herrschaft — Der Konsensbegriff i n der Sozialvertragslehre bei John Locke 165 1. Der Konsensbegriff i n der Ideengeschichte vor der Sozialvertragslehre 165 2. Der Konsensbegriff i n der Sozialvertragslehre bei John Locke: „common consent" u n d „consent of the m a j o r i t y " 167 a) Grundkonsens u n d Mehrheitsprinzip
167
b) Die herrschaftskonstitutive F u n k t i o n des Grundkonsenses: Das Mehrheitsprinzip als prozedurales Formprinzip des vertragskonstituierenden Konsenses zur B i l d u n g prozessualen Konsenses 172 c) Die herrschaftslimitative F u n k t i o n des Grundkonsenses: Die material-inhaltlichen Sachprinzipien des vertragskonstituierenden Konsenses als Dispositionsschranke prozessualer K o n sensbildung 174 d) Die Frage der Konsens-Kompetenz — Wer wacht über den Grundkonsens? 177 e) Der Ertrag für die Verfassungskonsensproblematik
180
3. „Volonté générale" oder „common consent" u n d „consent of the m a j o r i t y " ? — Rousseau, Hobbes u n d Locke i m Vergleich 183
Inhaltsverzeichnis I I I . Institutioneller, prozeduraler Konsens u n d knapper, faktischer K o n sens — Der Konsensbegriff i n Luhmanns funktional-struktureller Systemtheorie 187 1. Institutioneller u n d faktischer Konsens
188
2. Verfahren als prozedurales Prinzip des institutionellen Konsenses 191 a) Verfahren als Legitimationsprinzip i n komplexen Gesellschaften 191 b) Leistungen u n d Restriktionen: „Konsensrelevanz aller" u n d „aktuelles Erleben einiger" 194 3. K r i t i k u n d Erkenntnisgewinn: Verfahren als essentiales Prinzip des ordnungspolitischen Konsenses 197 I V . „Vernünftiger" u n d „beschaffter" Konsens (Massenloyalität) i m spätkapitalistischen Sozialstaat — Der Konsensbegriff i n der kritischen Theorie bei Habermas u n d Narr/Offe 204 1. Prozedurales Konsensprinzip durch prozessuale Konsensbildung i m bürgerlich-neuzeitlichen Staat 205 2. „Beschaffter" Konsens (Massenloyalität) i m Spätkapitalismus . . . 209 a) Scheinlegitimation durch prozedurale Konsensbildung — Die „Formaldemokratie" 209 b) Manipulierte Massenloyalität (Narr/Offe) 3. Der „vernünftige" Konsens a) Verallgemeinerungsfähige Unterdrückung
211 215
Interessen u n d das Modell ihrer
215
b) „Vernünftiger" Konsens qua herrschaftsfreiem Diskurs: eine reale Grundlage legitimer politischer Ordnung? 217 4. K r i t i k u n d Erkenntnisgewinn — Die material-inhaltlichen Sachprinzipien des Sozialstaates 219 V. Ordnungspolitischer u n d prozessualer Konsens i n der pluralistischen Demokratie — Der Konsensbegriff i n der Pluralismustheorie bei Ernst Fraenkel 223 1. Prozessuale Konsensbildung: Das Gemeinwohl a posteriori
223
2. Ordnungspolitischer Konsens u n d prozessuale Konsensbildung: Nicht-kontroverser u n d kontroverser Bereich 228 a) Übereinstimmung u n d Differenzierung
228
b) Die Unterscheidung von kontroversem u n d nicht-kontroversem Sektor u n d die inhaltliche Bestimmung des Konsensbereiches 229 c) Die F u n k t i o n des ordnungspolitischen Konsenses i n der p l u r a listischen Demokratie u n d das Problem der E q u i l i b r i s t i k z w i schen kontroversem u n d nicht-kontroversem Bereich 232 aa) Der Konsensbereich ist kein Aktionsprogramm des Gemeinwohls 233
XII
Inhaltsverzeichnis bb) Gleichgewichtigkeit u n d dynamische Grenzverschiebung 234 cc) Konsens u n d öffentliche Meinung
235
dd) Unterschiedliche Geltendmachung des Konsens- oder Kontroversprinzips gegen anti-pluralistische K r i t i k von „rechts" u n d „ l i n k s " 236 3. Erkenntnisgewinn, Erweiterungen, Anwendung u n d Konsequenzen für die Verfassung als normatives gesellschaftliches Konsensprinzip 238 a) „Konsens" i n der pluralistischen Demokratie: ein komplexer Vorgang, k e i n fixierter Zustand 238 b) Legitimatorischer Konsens u n d Zwangsgewalt
240
c) Das analytische Erklärungsmodell f ü r empirische Konsenswandlungen — A n w e n d u n g auf die Grundlagendiskussion (Exkurs) 241 d) Das ordnungspolitische Konzept: Die Verfassung als n o r m a t i ves gesellschaftliches Konsensprinzip bei Fraenkel 245 V I . Freier Konsens u n d restriktiver Pluralismus — Ergebnisse e m p i r i scher Konsens- u n d Pluralismusforschung i n den U S A 247 1. Der „freie" Konsens als empirisches (Forschungs-)Problem
247
2. Allgemeines Konsenspostulat u n d empirischer Elitenkonsens
249
3. Demokratie- u n d pluralismustheoretische Konsequenzen
251
4. Restriktiver Konsens u n d begrenzter Pluralismus — Ergebnisse 253 5. A k t i v e r Konsens u n d Offenheit i n einer komplexen Gesellschaft 255 V I I . Normativ-institutionalisierter ordnungspolitischer Konsens, prozessualer Einzelkonsens u n d das Problem des legitimatorischen K o n senses — Konsens u n d L e g i t i m i t ä t i n Zuordnung u n d verfassungstheoretischer Perspektive 257 1. Empirischer, freier Konsens u n d die L e g i t i m i t ä t der politischen Ordnung 258 2. Der normative ordnungspolitische Konsens — Funktion, S t r u k tur, Geltung u n d legitimatorischer Konsens 262 a) F u n k t i o n u n d S t r u k t u r
262
b) Geltung u n d Konsens
266
aa) Formale u n d materiale Prinzipien — Geltungsgründe legitimer Herrschaft 266 bb) Wie ist ein wertrationaler Konsens möglich? 3. Die Verfassung als rechtlich-positiviertes, schaftliches Konsensprinzip
normatives
269 gesell271
Inhaltsverzeichnis Viertes
Kapitel
Die Verfassung als normatives Konsensprinzip? Funktion und Struktur der Verfassung in der Diskussion der Staatsrechtslehre
275
I. Konsensproblem u n d Verfassungsbegriff 1. Der pluralismustheoretische Konsens
Ansatz: Normative
275 Geltung
qua
275
2. Verfassungspositivismus u n d Verfassungssoziologismus: Normative Geltung qua Setzung u n d Machtgeltung 278 3. Problemzusammenhänge u n d Strukturen des Kapitels
281
4. Soziologische Begründungsversuche der normativen Verfassungsgeltung jenseits des Verfassungspositivismus i n der Weimarer Grundlagendiskussion 284 a) Hermann Heller: Die Verfassung als Rechtsordnung des organisierten gesellschaftlichen Zusammenwirkens 236 b) Rudolf Smend: Die Verfassung als Integrationsprinzip
287
c) Carl Schmitt: Die Verfassung als Dezision
291
d) Konsensfunktion u n d Konsenschance der Verfassung i m Zeichen veränderter staatlicher Legitimitätsansprüche bei Smend und Heller 292 I I . Rechtsstaatlicher Verfassungsbegriff u n d Funktionswandel der V e r fassung — Die Infragestellung des Verfassungsgedankens durch Verfassungspositivismus u n d Verfassungssoziologismus i n der Diskussion u m das Grundgesetz 297 1. Die „ U m b i l d u n g des Verfassungsgesetzes" durch den Sozialstaat — Die positivistische K r i t i k Forsthoffs 298 2. Die Verfassung als Ausdruck kapitalistischer Produktionsweise? — Positionen materialistischer Verfassungstheorie 302 a) Unterschiede i n der Bestimmung normativer Konsensfunktion 302 b) Sozialstaatliche L e g i t i m i t ä t als Zerstörung bürgerlich-rechtsstaatlicher Legalität 306 3. Der Funktionswandel der Verfassung i m Sozialstaat: V o n der rechtsstaatlichen Grenzziehung zur sozialstaatlichen Richtungsbestimmung 310 a) Der sozioökonomische Systemzusammenhang des rechtsstaatlichen Verfassungstypus 310 b) A l t e r n a t i v e n zum bürgerlichen Verfassungsstaat: Institutionslose Identitätsdemokratie oder autoritäre Staatlichkeit? 311 c) Die Unentbehrlichkeit eines verfassungsmäßig-institutionalisierten Konsenses über Grenze u n d Richtung sozialstaatlicher Ordnungs- u n d Verteilungsfunktionen 314
V
Inhaltsverzeichnis
I I I . Der S t r u k t u r w a n d e l der Verfassung i n der pluralistischen u n d sozialstaatlichen Demokratie und das Problem allgemeingültig-befriedender Verfassungsinterpretation — Neuere verfassungstheoretische Ansätze i n der Verfassungslehre 316 1. Der Strukturwandel: V o n der abschließenden Regelung zu Rahmenordnung u n d Offenheit 316 a) Das Problem allgemeingültiger Interpretation
317
b) Strukturelle Offenheit u n d der „Konsens aller Vernünftigu n d Gerecht-Denkenden" (Ehmke) 321 c) Rahmenordnung u n d Rechtsvernunft (Kriele)
322
d) Wirklichkeitsbezogene Methodik u n d Ausbau des Verfassungsstaates (Müller) 325 2. Rechtliche Festlegung und politische Offenheit — Funktions- u n d Strukturbestimmung der Verfassung bei K . Hesse 326 a) Zusammenhang von Verfassungsinterpretation sungsbegriff
u n d Verfas-
326
b) Pluralistische K o n f l i k t u a l i t ä t u n d politische Einheitsbildung als Aufgabe 327 c) F u n k t i o n u n d S t r u k t u r der Verfassung als rechtlicher G r u n d ordnung 329 3. Verfassung als öffentlicher Prozeß — Pluralistische Funktionsu n d Strukturbestimmung der Verfassung bei P. Häberle 333 a) Das Programm einer pluralistischen Verfassungstheorie offenen Gesellschaft
der
b) Verfassung u n d prozessuales Gemeinwohlverständnis
333 335
c) Verfassungsinterpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung .. 337 aa) Öffentlichkeit u n d Verfassung 337 bb) Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 338 d) Offenheit u n d Verfassung — Eine Verfassungstheorie der Verfahren u n d Alternativen aa) Hauptthesen bb) K r i t i k cc) Pluralismusrestriktionen u n d Öffentlichkeitsdefizite als Problem bei Häberle e) Die Verfassung als pluralistisch-gesellschaftliches Konsensprinzip
Fünftes
342 342 344 347 349
Kapitel
Konsensfunktion und Konsenschance der Verfassung in der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie — Verfassungstheoretische Ergebnisse und verfassungspolitische Folgerungen I. Rechtsstaatlich-liberaler u n d sozialstaatlich-pluralistischer sungstypus
351 Verfas-
353
Inhaltsverzeichnis I I . Die Verfassung als Konsensprinzip — Bedingungen u n d Möglichkeiten 357 1. Rahmenordnung: Grenzziehung u n d Richtungsbestimmung
357
a) Grenzziehung
357
b) Richtungsbestimmung
359
2. Das Soziale i n der Verfassung: Konsenschance u n d Konsensgefährdung 363 a) Konsenschance u n d ,soziale Gerechtigkeit'
363
b) Sozialordnung durch Verfassung: rechtsstaatliche Garantie u n d sozialstaatliche Gestaltung — Die qualitative Veränder u n g der Konsenschance 368 c) Möglichkeiten von Sozialnormierungen
372
3. Offene Normstruktur, pluralistische Gesellschaft u n d demokratisch-politischer Prozeß 375 a) Abstrakt-generelle N o r m und der Charakter sozialer G r u n d rechte 375 b) K o m p r o m i ß s t r u k t u r von Normen u n d pluralistische Interessen- u n d Werteheterogenität 378 c) Beachtung von Offenheit u n d Leistungsgrenzen der Verfassung — Postulate demokratischer Verfassungskultur 381
Literaturverzeichnis
384
Abkürzungsverzeichnis Abg. Anm. AöR Art. Bd. BGBl. BVerfG BVerfGE DÖV Drs. Dt. Bt. GG H. JuS JZ Lit. m.w.Nachw. NJW PVS sc., seil. Sitzg. Sten. Ber. VVDStRL WP WRV ZParl ZfP ZRP
= = = = = = =
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Abgeordneter Anmerkung A r c h i v des öffentlichen Rechts Artikel Band Bundesges etzblatt Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Amtliche Sammlung (Band und Seitenzahl) Die öffentliche V e r w a l t u n g Drucksache Deutscher Bundestag Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland Heft Juristische Schulung Juristenzeitung Literatur m i t weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Politische Vierteljahresschrift scilicet Sitzung Stenographische Berichte Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Band, Jahr, Seite) Wahlperiode Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift f ü r Parlamentsfragen Zeitschrift f ü r P o l i t i k Zeitschrift für Rechtspolitik
Z u r Zitierweise: Bei der ersten Zitation eines Werkes w i r d dieses m i t allen bibliographischen Daten angeführt. I m folgenden werden dann n u r noch der Nachname des Verfassers u n d eine verkürzte F o r m des Titels angegeben. Z u Beginn eines Kapitels w i r d der volle T i t e l jeweils wieder aufgenommen. Querverweise i n den Anmerkungen beziehen sich immer auf das gleiche Kapitel, es sei denn, eine Kapitelangabe w i r d hinzugefügt.
Erstes Kapitel
Der Streit um die Verfassung und die Frage nach dem Verfassungskonsens — Propädeutik der politischen und theoretischen Problemstellung „ . . . so oft Sie, gleichviel wo und w a n n sehen, daß eine Partei auftritt, welche zu ihrem Feldgeschrei den Angstruf macht, ,sich u m die Verfassung zu scharen!', was werden Sie hieraus schließen können? . . . Sie werden sich, ohne Propheten zu sein, i n einem solchen Falle immer m i t größter Sicherheit sagen können: diese Verfassung liegt i n ihren letzten Zügen; sie ist schon so gut wie tot." (Ferdinand Lasalle, Über Verfassungswesen,
1862)
„Das Grundgesetz ist unsere Verfassung, unsere gemeinsame Verfassung, und es sollte unsere gemeinsame Verfassung bleiben." (Bundesinnenminister H.-D. Genscher, Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages, 1974)
I . Das Problem
Was ist „Konsens", was ist „Verfassungskonsens"? Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Konsens", was hinter dem Begriff „ Verfassungskonsens " ? Umgangssprachlich genießen beide Begriffe einen inflationären Gebrauch. Man sucht „Konsens", man appelliert an den „Verfassungskonsens", man beschwört die „Solidarität der Demokraten", man spricht vom „gemeinsamen Fundament". Der politische Vielgebrauch hat die Begriffe um ihren Inhalt gebracht. „Daß heute so viel vom Konsensus gesprochen wird, daß unsere Politiker sich immer wieder bemüßigt sehen, an die ,Gemeinsamkeit der Demokraten' zu appellieren — was nur eine andere Formel für Grundkonsens ist — läßt zumindest aufhorchen . . . Ein Begriff, von Politologen geboren, hat Konjunktur 1 ." 1
Kurt Sontheimer, i n : Christ und Welt, 12.8.1977, S. 2, zitiert nach: Ernst Benda, Konflikt und Konsens i m sozialen Rechtsstaat (herausgegeben v o m 1 Vorländer
2
1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Hinter dieser begrifflichen Konjunktur verbergen sich reale politische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die auf Grund der verschärften, polarisierten und polarisierenden Austragung die Frage nach dem Konsens, dem Grund- und Verfassungskonsens aufkommen ließen. So scheint die Konsens- und Verfassungskonsensdiskussion i n der Bundesrepublik Deutschland zu einem aktuellen, besonderen Problem geworden zu sein. Indem der Konsens nicht stillschweigend vorausgesetzt wird, sondern zum Thema der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung geworden ist, hat er sich zum Problem gemacht. Das scheinbar so Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich 2 . 1. „Scharen wir uns um die Verfassung" 3 — Die Verfassung als Feldzeichen i m politischen Kampf
Die Auseinandersetzung i n der Bundesrepublik Deutschland hat sich i m letzten Jahrzehnt weitgehend u m grundlegende Probleme demokratischer Ordnung abgespielt. Grundwerte-Debatte, Innere Sicherheit, Terrorismus-Bekämpfung, Extremisten i m öffentlichen Dienst, Schutz der Verfassung und Verfassungsschutz waren die Themen. Daneben ging es u m gesellschaftspolitische Reformprojekte und -gesetze der seit 1969 amtierenden Regierungskoalition von Sozialdemokraten und Freien Demokraten (Schwangerschaftsabbruch, Ehe- und Scheidungsrecht, Wehrdienstnovelle, Mitbestimmungsgesetz). I n das Zentrum der politischen Auseinandersetzung rückte das Grundgesetz als Folge der Polarisierung des Parteiensystems nach 1969. Die Verfassung stand i m Schnittpunkt der rechtspolitischen Diskussion, die Verfassung war Bezugspunkt der tagespolitischen Auseinandersetzung, die Verfassung bildete den Mittelpunkt der Konsens- und Grundlagendiskussion. Die Verfassung wurde so zum Feldzeichen i m politischen Kampf.
Arbeitgeberverband der Metallindustrie), 4. Aufl., K ö l n 1979, S. 9. Sontheimer i r r t allerdings bezüglich der Urheberschaft des Begriffs „Konsensus". Dieser taucht bereits bei Cicero, De re publica, Buch I , 25 („iuris consensu") auf. Der Begriff i n seiner politisch-philosophischen Tradition ist v i e l älter als die vermeintlich erst heute i n den Sprachgebrauch eingeführte Chiffre glauben macht. Vgl. zum Konsensbegriff das 3. Kapitel. 2 So schreibt Ulrich Matz i n einer Betrachtung über „30 Jahre G r u n d gesetz": Das allen Gemeinsame ist auch das Selbstverständliche, das nicht diskutiert, sondern allenfalls i n Ritualen vergegenwärtigt zu werden braucht. Das g i l t i n besonderem Maße für die politische Ordnung. Sobald w i r über Grundfragen der politischen Ordnung anfangen nachzudenken u n d zu diskutieren, ist die Ordnung bereits nicht mehr selbstverständlich." Vgl. Ulrich Matz, Demokratische Ordnung nach dem Grundgesetz, i n : Politische V i e r t e l jahresschrift (PVS), H. 2, 1979, S. 183. 8 So der Abg. Dr. Dregger i m Deutschen Bundestag (Dt.BT), Stenographische Berichte (Sten.Ber.), 8. Wahlperiode (WP), 53. Sitzung (Sitzg.), 28. O k tober 1977, Plenarprotokoll (PIPr) 8/53, S. 4105 B.
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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a) Die Verfassung im Schnittpunkt der rechtspolitischen Auseinandersetzung Die Verfassung i m Schnittpunkt der rechtspolitischen Auseinandersetzung zeigte sich vor allem dort, wo politische Regelungsmaterien nach ihrer politisch-gesetzgeberischen Erledigung verfassungsrechtlich überprüft wurden. M i t dieser verfassungsrechtlichen Überprüfung ist immer auch dann eine politische Qualifizierung getroffen, wenn die Politik einer Regierung zur Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht ansteht. So vor allem i n dem Zeitraum von 1969 bis 1979, i n dem verschiedene, von der sozialliberalen Regierungskoalition und ihrer parlamentarischen Mehrheit beschlossene Gesetze von der oppositionellen CDU/CSU zumeist i m Wege der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) vor das Bundesverfassungsgericht gebracht worden sind. Hierzu zählten vor allem: — Das Gesetz zum Vertrag vom 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. Juni 1973, kurz: „Grundlagenvertrag" genannt 4 , — das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974, das die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs neu regelte („Fristenlösung") 5 , 4 Vertrag v o m 21.12.1972; Gesetz v o m 6. 6.1973, BGBl. I I S. 421. A m 28. M a i hatte die Bayerische Staatsregierung (gemäß A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i n V e r bindung m i t §13 Nr. 6 u n d §76 Nr. 1 BVerfGG) beim Bundesverfassungsgericht beantragt, festzustellen, daß das Gesetz zu dem Vertrag v o m 21. Dezember 1972 nicht m i t dem Grundgesetz vereinbar u n d deshalb nichtig sei. (Vgl. zu den Einzelheiten des Vortrags der Bayerischen Staatsregierung die Darstellung i n BVerfGE 36, 8 ff., daselbst auch Darstellung der einzelnen Vertragsvereinbarungen nebst Zusatzprotokollen. Formell hat hier also nicht die Bundestags-Opposition vor dem Bundesverfassungsgericht das Verfahren eingeleitet, sondern eine CSU-Landesregierung). Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundlagenvertrag i n seiner Entscheidung v o m 31. J u l i 1973 (BVerfGE 36, 1) jedoch m i t dem Grundgesetz f ü r vereinbar gehalten, allerdings n u r „ i n der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung" (BVerfGE 36, 3), w o m i t das Verfassungsgericht das Verfahren der „verfassungskonformen" Auslegung angewandt hat. Dieses Prinzip besagt, „daß unter mehreren möglichen Auslegungen die Auslegung zu wählen ist, nach der der Vertrag vor dem Grundgesetz Bestand h a t " (BVerfGE 36, 14; BVerfGE 4, 157 [168]). D a m i t w u r d e der Grundlagenvertrag n u r i n der v o m Bundesverfassungsgericht gemachten Interpretation rechts wirksam, m i t der Folge der Bindung des politischen Handelns aller Staatsorgane an die „sich aus den Gründen ergebenden Auslegung". δ 5. StrRG, B G B l . I S. 1297; 193 Mitglieder der oppositionellen CDU/CSUBundestagsfraktion sowie die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, des Saarlandes u n d von Schleswig-Holstein (allesamt C D U - bzw. CSU-Landesregierungen) stellten gemäß A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 B V e r f G G A n t r a g auf verfassungsrechtliche Uberprüfung des
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
— das Gesetz zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes vom 13. J u l i 19776, — zwei Gesetze, die auf andere Weise vor das Bundesverfassungsgericht gebracht worden sind, aber ebenso die von SPD und/oder FDP zu verantwortende Regierungspolitik tangieren: zum einen das Mitbestimmungsgesetz vom 4. Mai 19677, zum anderen das für bildungspolitische Reformprojekte wichtige Vorschaltgesetz für ein Niedersächsisches Gesamthochschulgesetz8. § 218 a StGB i n der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes. Sie hielten die darin enthaltene Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs während der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis f ü r unvereinbar m i t verschiedenen Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes (vgl. dazu i m einzelnen BVerfGE 39, 18 ff., S. 3 ff. die ausführliche Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens unter Zitierung der verschiedenen Änderungsvorstellungen sowie den Abdruck der wesentlichen Vorschriften des Fünften Strafrechtsänderungsgesetzes [S. 4 ff.]). Das Bundesverfassungsgericht hielt i n seiner E n t scheidung v o m 25. Februar 1975 (BVerfGE 39, 1) den reformierten § 218 a des Strafgesetzbuches m i t A r t . 2 Abs. 2 S. 1 G G i n Verbindung m i t A r t . 1 Abs. 1 GG für nicht vereinbar u n d deshalb für nichtig. (Der § 218 a wurde dann durch Gesetz v o m 18.5.1976, B G B l . I S. 1213, 15. Strafrechtsänderungsgesetz, neu gefaßt). 6 BGBl. I S. 1229; es ließ die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht mehr durch das Verfahren bei besonderen Prüfungsausschüssen feststellen, sondern sah f ü r noch nicht einberufene Wehrpflichtige die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor, w e n n diese schriftlich e r k l ä r t hatten, daß sie sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen Staaten widersetzen u n d deshalb den Kriegsdienst m i t der Waffe verweigern (vgl. § 25 a Abs. 1 WpflG n.F.). 215 Mitglieder der oppositionellen Bundestagsfraktion der CDU/CSU sowie die Landesregierungen von Bayern, Rheinland-Pfalz u n d Baden-Württemberg beantragten gemäß A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 Nr. 1 B V e r f G G das Wehrpflichtänderungsgesetz als m i t dem Grundgesetz unvereinbar u n d f ü r nichtig zu erklären (vgl. Darstellung i n BVerfGE 48, S. 138 ff.; gerügt w u r d e ein Verstoß gegen A r t . 12 a Abs. 1; 73 Nr. 1 u n d 87 a Abs. 1 S. 1 GG sowie von den Landesregierungen ein Verstoß gegen A r t . 87 b Abs. 2 S. 1 G G [erforderliche Zustimmung des Bundesrates]). Das Bundesverfassungsgericht hielt das Gesetz i n seiner Entscheidung v o m 13. A p r i l 1978 (BVerfGE 48, 127) als m i t A r t . 3 Abs. 1 i n Verbindung m i t A r t . 4 Abs. 3; 12 a Abs. 1 u n d 2 u n d m i t A r t . 78, 87 b Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar u n d daher für nichtig. 7 BGBl. I S. 1153; B V e r f G - U r t e i l v o m 1. 3.1979, BVerfGE 50, 290; über Gegenstand von Verfassungsstreit, Verfassungsbeschwerden u n d U r t e i l des B V e r f G vgl. Rüdiger Robert, Mitbestimmung u n d Grundgesetz. Der Verfassungsstreit über das Mitbestimmungsgesetz 1976, i n : A u s P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 16/79, S. 22—39. I n seinem U r t e i l v o m 1.3.1979 erklärte das B u n desverfassungsgericht die erweiterte Mitbestimmung der Arbeitnehmer nach dem neuen Mitbestimmungsgesetz als m i t dem Grundgesetz vereinbar. A r beitgeberverbände u n d verschiedene Unternehmen hatten i m J u n i / J u l i 1977 Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben, w e i l sie glaubten, durch das Gesetz i n den Grundrechten der A r t . 2 Abs. 1 ; 9 Abs. 1 u n d Abs. 3; 12 Abs. 1; 14 Abs. 1 GG verletzt zu sein. 8 Gesetz v o m 26.10.1971, GVB1. S. 317; U r t e i l v o m 29. 5.1973, BVerfGE 35, 77; die Niedersächsische Landesregierung wurde von den Sozialdemokraten gestellt. Das Gesetz regelte die Zusammensetzung der Kollegialorgane, K o m missionen u n d Ausschüsse der Hochschulen sowie die M i t w i r k u n g v o n V e r -
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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D a r ü b e r h i n a u s e r f u h r d u r c h den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v o m 22. M a i 1975 e i n weiteres politisches S t r e i t o b j e k t , das der „ E x t r e m i s t e n i m ö f f e n t l i c h e n D i e n s t " , eine verfassungsrechtliche W ü r d i g u n g u n d d a m i t eine noch s t ä r k e r e verfassungspolitische B r i s a n z 9 . Schließlich müssen — w e n n v o n d e r Verfassungsbezogenheit der p o l i tischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g i n der B u n d e s r e p u b l i k gesprochen w i r d — z w e i Verfassungsgerichtsentscheidungen E r w ä h n u n g f i n d e n , die der s o z i a l - l i b e r a l e n R e g i e r u n g s k o a l i t i o n oder T e i l e n v o n i h n e n verfassungsw i d r i g e s H a n d e l n attestieren. D i e Rede ist e i n m a l v o n d e m U r t e i l des Bundesverfassungsgerichtes v o m 2. 3.1977 z u r Ö f f e n t l i c h k e i t s a r b e i t der B u n d e s r e g i e r u n g 1 0 . Z u m a n d e r e n h a n d e l t es sich u m e i n U r t e i l des Bundesverfassungsgerichtes v o m 25. 5.1977 z u m N o t b e w i l l i g u n g s r e c h t des B u n d e s f i n a n z m i n i s t e r s nach A r t . 110 G G 1 1 . D i e „ V e r l ä n g e r u n g der O p p o s i t i o n ü b e r das Bundesverfassungsgericht" setzte das Bundesverfassungsgericht d e n V o r w ü r f e n des „Obergesetzgebers", der „ K o n t e r k a p i t ä n e v o n K a r l s r u h e " , der „ E r m ä c h t i g u n g des P a r l a m e n t e s " , der „ U s u r p a t i o n v o n e v i d e n t e n A u f g a b e n des Gesetzgebers" aus. Es blockiere die sozialliberale R e f o r m p o l i t i k d u r c h v e r f a s tretern der verschiedenen Gruppen von Hochschulangehörigen i n diesen O r ganen. Der K e r n der Regelung w a r die „drittelparitätische" Vertretung von Hochschullehrern, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Studenten u n d sonstigen Mitarbeitern i n den Kollegialorganen. Gegen diese Regelung erhoben 398 Professoren u n d Dozenten Verfassungsbeschwerde, w e i l sie sich i n ihren Grundrechten aus A r t . 5 Abs. 3 u n d 33 Abs. 5 GG betroffen meinten (vgl. i m einzelnen die Darstellung i n BVerfGE 35, 89 ff., 82 ff.). Das B V e r f G hielt das Vorschaltgesetz i n einzelnen Passagen nidht m i t A r t . 5 Abs. 3 S. 1 GG i n V e r bindung m i t A r t . 3 Abs. 1 GG vereinbar (vgl. BVerfGE 35, 80/81). Die W i r k u n g dieses Urteils w a r nicht auf die eigentliche niedersächsische Regelungsmaterie beschränkt, sie hatte bundes- u n d hochschulpolitische Auswirkungen. 9 BVerfGE 39, 334 („Extremisten-Beschluß") auf G r u n d eines Aussetzungsu n d Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichts Schleswig v o m 10. A p r i l 1973 (5 A 363/72). 10 BVerfGE 44, 125, w o r i n auf A n t r a g der C D U festgestellt w i r d , die B u n desregierung habe dadurch gegen A r t . 20 Abs. 1 S. 2 GG u n d den Grundsatz der Chancengleichheit bei Wahlen verstoßen, „daß sie v o r der Bundestagsw a h l v o m 3. Oktober 1976 durch Anzeigenserien, Faltblätter u n d sonstige Publikationen werbend i n den Wahlkampf eingegriffen u n d keine V o r k e h rungen dagegen getroffen hat, daß von i h r f ü r Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit unter Einsatz von Haushaltsmitteln hergestellte Druckwerke i n großem Umfange von den die Regierung tragenden Parteien als zusätzliches W a h l kampfmaterial bezogen u n d verwendet worden sind" (BVerfGE 44, 127). 11 BVerfGE 45, 1 ; das Verfahren wurde auf A n t r a g der CDU/CSU-Fraktion des 7. Deutschen Bundestages eingeleitet. Die BVerfG-Entscheidung stellt fest, daß der seinerzeitige Bundesminister der Finanzen (Helmut Schmidt) das Recht des Deutschen Bundestages aus A r t . 110 Abs. 1 S. 1 u n d Abs. 2 S. 1 GG verletzt habe, „ i n d e m er den zu Lasten des Haushaltsjahres 1973 geleisteten überplanmäßigen u n d außerplanmäßigen A u s g a b e n . . . zugestimmt hat, obwohl die Voraussetzungen des A r t . 112 S. 2 des Grundgesetzes nicht erfüllt waren." (BVerfGE 45, 3).
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
sungsrechtliche Z u r ü c k w e i s u n g u n d A u f l a g e n z u g u n s t e n der p a r l a m e n tarischen O p p o s i t i o n 1 2 . W e n n g l e i c h die a b s t r a k t e N o r m e n k o n t r o l l e auch v o n der S P D als O p p o s i t i o n s p a r t e i v o r 1966 gegen v o n C D U / C S U d o m i n i e r t e n M e h r h e i t e n beschlossene Gesetze g e l t e n d gemacht w o r d e n i s t 1 3 , so scheint doch die S p r u c h p r a x i s des Bundesverfassungsgerichtes w i e n i e z u v o r i n W i d e r s p r u c h m i t d e m W i l l e n der (parlamentarischen) M e h r h e i t g e r a t e n z u s e i n 1 4 . D e r P r ä s i d e n t des Bundesverfassungsgerichtes, E r n s t B e n d a , k o n s t a t i e r t e „gewisse U n s i c h e r h e i t e n " i n bezug a u f d e n V e r f a s s u n g s k o n sens 1 5 . Das Bundesverfassungsgericht „als H ü t e r der V e r f a s s u n g " sei auch „ o b e r s t e r H ü t e r des a l l g e m e i n e n G r u n d k o n s e n s e s " , d e m f o l g l i c h die S i c h e r u n g des Konsenses obliege. I n j e d e r Entscheidung, die i n v e r fassungsrechtlichen G r u n d f r a g e n an d e n „ d u r c h das Grundgesetz gestellt e n K o n s e n s " erinnere, „ s t e c k t zugleich der A p p e l l a n die p o l i t i s c h e n K r ä f t e , z u diesem Konsens z u r ü c k z u k e h r e n " 1 6 . H i e r i n steckt aber i m p l i z i t der V o r w u r f Bendas, die p o l i t i s c h e n K r ä f t e h ä t t e n d e n G r u n d k o n s e n s v e r l e t z t , w o b e i m i t „politische(n) K r ä f t e " n u r der Gesetzgeber b z w . seine gesetzgeberische M e h r h e i t g e m e i n t sein k a n n . D e r „ L a b i l i s i e r u n g des staats- u n d gesellschaftspolitischen G r u n d k o n s e n s e s " 1 7 d u r c h die p a r l a 12 Vgl. einzelne Nachweise bei: Ernst Benda, Zukunftsfragen der Parlamentarischen Demokratie, i n : ZParl. 9. Jg. (1978), H. 4, S. 519; Hans-Jochen Vogel, Videant judices! Z u r aktuellen K r i t i k am Bundesverfassungsgericht, i n : DÖV, 31. Jg. (1978), H. 18, S. 666 ff.; Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit i m demokratischen System, i n : JZ, 31. Jg. (1976), S. 697 ff.; Martin Kriele, Recht u n d P o l i t i k i n der Verfassungsrechtsprechung. Z u m Problem des j u d i c i a l selfrestraint, i n : N J W , 29. Jg. (1976), H. 18, S. 777 ff.; Peter Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 1 ff.; Wolf gang Däubler / Gudrun Kusel (Hrsg.), V e r fassungsgericht u n d Politik. Kritische Beiträge zu problematischen Urteilen, Reinbek b. H a m b u r g 1979. 13 So u. a. das U r t e i l zum Deutschlandvertrag 1952 (BVerfGE 1, 396), das Saarurteil 1955 (BVerfGE 4, 157), das U r t e i l zur Parteienfinanzierung 1966 (BVerfGE 20, 56). Z u r „Oppositionsrechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts: Hans-Peter Schneider, Die parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band I : Grundlagen, F r a n k f u r t am M a i n 1974, S. 225 ff.; Arnulf Baring, Außenpolitik i n Adenauers Kanzlerdemokratie. Westdeutsche I n n e n p o l i t i k i m Zeichen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München 1971, Bd. 2, S. 110 ff. (zum EVG-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht); Uwe Thaysen, Grenzlinien der Regierbarkeit 1974—1979. Fragen zum 30jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 20/79, S. 38 ff., der darauf hinweist, daß es vor 1966 ganze 109 Fälle gab, i n denen das Bundesverfassungsgericht Gesetze der von der CDU/CSU dominierten Mehrheit wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig erklärte (ebd., S. 39). 14 So auch Thaysen, S. 40. 15 Benda, Zukunftsfragen der Parlamentarischen Demokratie, S. 520. 16 Ernst Benda, Bundesverfassungsgericht u n d Gesetzgeber i m dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, i n : DÖV, 32. Jg. (1979), H. 13/14, S. 469, 470; ders., K o n f l i k t u n d Konsens, S. 31. 17 Benda, Bundesverfassungsgericht u n d Gesetzgeber, S. 470.
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mentarische Mehrheit der Gesetzgebung steht die durch das Bundesverfassungsgericht zu leistende „Sicherung eines einmal erreichten breiten Verfassungskonsenses gegen ein bewußtes oder unbewußtes Drängen vielleicht schnell wechselnder einfacher Parlamentsmehrheiten nach einer diesem Grundkonsens widersprechenden Änderung" 1 8 gegenüber. Die Frage stellt sich natürlich hier, wer dieser „oberste Hüter des allgemeinen Grundkonsenses" i m politischen System der Bundesrepublik ist, das demokratische Hepräsentativorgan, das Parlament, oder aber das Bundesverfassungsgericht 19 . Diese tatsächlich virulent gewordene Unsicherheit des institutionellen Verfassungskonsenses wurde vollends deutlich i n der Kontroverse zwischen Bundeskanzler Schmidt und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes auf der Tagung 1978 der Stiftung Theodor-Heuss-Preis und des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. Schmidt sprach von der „Notwendigkeit der Selbstbeschränkung der Verfassungsorgane", die „auch für das Verfassungsgericht" zu gelten habe: „Es kann nicht jeder seine Kompetenzen bis an den Rand ausschöpfen wollen 2 0 ." Benda erklärte daraufhin, daß es eine Frage des Geschmacks sei, wenn der Bundeskanzler vor diesem Forum Urteile über ein anderes, i h m nicht unterstehendes Verfassungsorgan ausspreche: „Ich glaube nicht, Herr Bundeskanzler — allgemein gesprochen —, daß Ihre Worte, Verfassungsorgane sollten doch nicht ihre Kompetenz bis an den Rand ausüben wollen, verfassungsrechtlich haltbar ist . . . Ich würde sehr gern dem Eindruck entgegentreten wollen . . . , als gehöre es zu den Aufgaben des Chefs der Bundesregierung, dem obersten Gericht eines Landes, das auch ein Verfassungsorgan ist, Zensuren zu erteilen 2 1 ." Es zeigt sich also, daß die Uberprüfung legislativer Akte an der Verfassung und auf Antrag der jeweiligen parlamentarischen Minderheiten, hier CDU/CSU bzw. CDU/CSU-geführte Landesregierungen, die Ver18
Benda, K o n f l i k t u n d Konsens, S. 30. Ganz abgesehen von der i n dieser A r b e i t zum Thema gemachten Frage, daß die Verfassung als konsensuales Prinzip auf allgemeinen, nicht nur i n stitutionellen Konsens angewiesen ist: „ H ü t e r der Verfassung ist i m Rechtsstaat jeder u n d jedes Organ." Vgl. Klaus Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 79. 20 Norbert Schreiber (Hrsg.), Die Z u k u n f t unserer Demokratie. I n i t i a t i v e — Verantwortung — Gemeinsamkeit. Die Tagung 1978 der Stiftung TheodorHeuss-Preis u n d des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing, München 1979, S. 121 f. 21 Ebd., S. 125/126. Vgl. zu dieser Kontroverse zwischen Bundeskanzler u n d Bundesverfassungsgerichtspräsidenten auch die — ebenfalls kontroversen — Beiträge von Otwin Massing, „Verfassungskonsens" als A l i b i . Anmerkungen zur K r i t i k des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes an Kanzler u n d Parlament u n d von Winfried Steff ani, Verfassungskonsens als Problem. A n merkungen zu einer Kontroverse, beide i n : ZParl, 10. Jg. (1979), H. 1, S. 119 f. 19
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
fassung n i c h t n u r p o l i t i s c h i n v o l v i e r t , sondern zugleich auch i m F a l l e einer ausgebauten, m i t w e i t r e i c h e n d e n K o m p e t e n z e n ausgestatteten V e r fassungsgerichtsbarkeit z u F r i k t i o n e n des i n s t i t u t i o n e l l e n Verfassungskonsenses zwischen Gesetzgeber u n d Verfassungsgericht u n d s o m i t z u i n s t i t u t i o n e l l e n Gleichgewichtsverschiebungen f ü h r t 2 2 . b) Die Verfassung der tagespolitischen
als
Bezugspunkt
Auseinandersetzung
D a ß die V e r f a s s u n g m i t i h r e r gerichtlichen S t r a p a z i e r u n g u n d das Bundesverfassungsgericht als das v e r b i n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n s o r g a n m i t d e r politischen B e l a s t u n g der b e f r i e d e n d e n K o n f l i k t l ö s u n g i n d e n p o l i t i schen P a r t e i e n k a m p f einbezogen w o r d e n sind, erscheint angesichts der P o l a r i t ä t i m P a r t e i e n s y s t e m selbst w e n i g v e r w u n d e r l i c h . Das G r u n d gesetz w u r d e d a m i t z u m B e z u g s p u n k t der tagespolitischen A u s e i n a n d e r setzung. D i e C D U / C S U - O p p o s i t i o n versuchte, i n f o l g e der Beschlüsse u n d U r t e i l e des Bundesverfassungsgerichtes d i e sozial-liberale R e g i e r u n g s k o a l i t i o n als die R e g i e r u n g der „ v e r s u c h t e n u n d v o l l e n d e t e n Verstöße gegen die V e r f a s s u n g " darzustellen, w o h i n g e g e n C D U u n d C S U als die P a r t e i e n „verfassungsgemäßen H a n d e l n s " bezeichnet w u r d e n : „ I h r e r P o l i t i k der Verfassungsverstöße setzen w i r eine P o l i t i k des verfassungsgemäßen H a n d e l n s e n t g e g e n 2 3 . " 22 E i n weiteres Beispiel der politischen Tangierung verfassungsrechtlichinstitutioneller Kompetenzabgrenzung durch starke politisch-parteiliche Polarisierung ist die Bundestags-Bundesrats-Konfrontation i n der Folge gegensätzlicher Mehrheitsverhältnisse. Auch hier wurde unter dem Stichwort der „Machtverlagerung der Gesetzgebung v o m Bundestag auf den Bundesrat" das Bundesverfassungsgericht einbezogen. I m Zusammenhang m i t dem V i e r ten Rentenversicherungs-Änderungsgesetz v o m 30. März 1973 (BGBl. I S. 257) erging der sog. „Bundesrats-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts (vom 25. 6.1974, BVerfGE 37, 363). Die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz u n d die Bayerische Staatsregierung hatten gemäß A r t . 93 Abs. 1 S. 2 GG den A n trag gestellt, das Bundesverfassungsgericht möge das Rentenversicherungsänderungsgesetz als m i t dem Grundgesetz unvereinbar erklären, w e i l — u n d so die Begründung — jedes Gesetz, das m i t Zustimmung des Bundesrates ergangen ist, auch n u r m i t seiner Zustimmung geändert werden könne, selbst w e n n die Änderung keine zustimmungspflichtigen Teile des Gesetzes betrifft. Das Bundesverfassungsgericht bejahte die Zustimmungspflicht jedoch n u r i n dem Fall, daß ein Gesetz „den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung u n d Tragweite verleihe" (BVerfGE 37, 383). Der Erfolg für die Opposition u n d B u n desrats-Mehrheit w a r n u r ein halber. Vgl. zu dieser Kontroverse „Bundestag contra Bundesrat": Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb i m Bundesstaat, Stuttgart 1976; Friedrich Karl Fromme, Gesetzgebung i m Widerstreit. Wer beherrscht den Bundesrat? Die Kontroverse 1969—1976, Bonn 1978; Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, München 1979, S. 199 ff.; Thaysen, S. 34, der i n der sog. „ K o n f r o n t a t i o n " eher einen f ü r die Regierung Schmidt — v o m Bundesrat ausgehenden — profitablen Konsensdruck sieht, der der P o l i t i k der Bundesregierung ein hohes Maß an demokratischer L e g i t i m i t ä t u n d Wählerzustimm u n g eingetragen habe.
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So fand auf dem Hintergrund der obengenannten verfassungsrechtlichen Entscheidungen am 21. und 22. Juni 1977 die zweite Beratung des Haushaltsgesetzes 1977 24 statt. Bei der Beratung des „Kanzleretats" kam es zu einer lebhaften und hitzigen Auseinandersetzung zwischen sozialliberaler Regierung und christlich-demokratischer und -sozialer Opposition. Die CDU/CSU-Fraktion hatte einen Antrag eingebracht, nach dem das Verhalten des früheren Bundesfinanzministers Helmut Schmidt bei der Bewilligung überplanmäßiger und außerplanmäßiger Ausgaben zum Jahreswechsel 1973/1974 mißbilligt werden sollte 2 5 . Doch ging es von Seiten der Opposition nicht allein um die Mißbilligung allein dieses vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoßes aus dem Jahr 1973/1974, sondern u m einen Generalangriff gegen die Regierung. Der CSU-Vorsitzende Strauß machte der Koalition aus SPD und FDP den Vorwurf, daß „diese Regierung als Ganzes leichtfertig mit der Verfassung umgehe, wenn sie ihr nicht in den K r a m paßt" 2 6 . Strauß führte dann als zu dieser Kette „von versuchten und vollendeten Verstößen gegen die Verfassung" 27 gehörend an: das Urteil zum Grundlagenvertrag 2 8 , als verfassungswidrig bezeichnete Entwürfe zur Mitbestimmung 2 9 , das Hochschulrahmengesetz (bei dem „Verstöße gegen das Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre . . . erst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 29. M a i 1973 zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz für ein Gesamthochschulgesetz" hätten verhindert werden können) 30 , die Fristenlösung des § 218 StGB, der Versuch einer Ä n derung des Wehrpflicht- und Zivildienstgesetzes 31 sowie die Urteile zum Notbewilligungsrecht 32 und zur Öffentlichkeitsarbeit 33 . — Was Strauß als Sprecher der CDU/CSU-Opposition hier also tut, ist nicht allein die — berechtigte — Auseinandersetzung mit Verfassungswidrigkeiten (Öffentlichkeitsarbeit, Notbewilligung), sondern der Versuch, der Regierung die Verfassungsqualität abzusprechen, indem der Vorwurf gegen die 23 Vgl. u. a. die aufschlußreichen Haushaltsdebatten der Jahre 1977 u n d 1978: Dt.BT, Sten.Ber., 8.WP, 34. Sitzg., 21. J u n i 1977, P I P r 8/34 (das erste Z i t a t ist von dem Abg. Dr. Strauß [CDU/CSU], ebd., S. 2551 C); Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 35. Sitzg., 22. J u n i 1977, PIPr 8/35 (ebd., S. 2699 A das zweite u n d dritte Zitat v o m Abg. Dr. Friedmann [CDU/CSU]); Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 67. Sitzg., 24. Januar 1978, PIPr 8/67. 24 Vgl. A n m . 23. 25 BT-Drucksache 8/595. 26 Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 34. Sitzg., 21. J u n i 1977, PIPr 8/34, S. 2546 C. 27 Ebd., S. 2545 C. 28 Ebd., S. 2545 D. 20 Ebd., S. 2546 A . 30 Ebd., S. 2546 A / B . 31 Ebd., S. 2546 B. 32 Ebd., S. 2546 C, 2547—2553. 33 Ebd., S. 2553 B.
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Verfassung verstoßenden Handelns auf die gesamte Regierungspolitik und ihre politisch umstrittenen Regelungsprojekte bezogen wird. „Wenn ihr (der Regierung, H.V.) nicht durch das Verfassungsgericht Einhalt geboten wird, besteht die Gefahr, daß sie weiterhin unter Ausnutzung ihrer knappen Mehrheit i m Bundestag Grundwerte unserer Verfassung auszuhöhlen und damit Schritt für Schritt Systemveränderungen herbeizuführen versucht 34 ." Verfassungsrechtliche Argumente (verfassungswidriges Handeln) werden mit politischen Bezügen (Ablehnung der Regierungspolitik) verknüpft, um so die gegnerische Politik quasi von Verfassungs wegen zu disqualifizieren und — e contrario — der eigenen Position mehr Gewicht zu verleihen 3 5 . Politische Streitfragen werden auf diese Weise zu einem Streit um den richtigen Umgang mit der Verfassung. Politik w i r d i n die Verfassung hineinverlängert, die Verfassung w i r d zum Instrument i n der Politik. Der politisch Unterlegene findet Zuflucht in der Bastion Verfassung: „Es geht jedoch u m wesentliche gesellschaftsverändernde politische Schritte, die von der Regierung vorgeschlagen, von der Mehrheit gegen unseren Willen durchgepeitscht und uns ohne demokratischen Grundkonsens aufgezwungen worden sind und die w i r nur mit Hilfe eines unabhängigen Organs kompensieren und korrigieren können 3 6 ." Neben die Verwendung der Verfassung als verlängertes Oppositionsinstrument treten zwei weitere, typische Formen des Einbezugs der „Verfassung als Argument" i n die (tages)politische Auseinandersetzung: die Verfassung als Legitimitätsspender für das eigene politische Vorgehen und die Verfassung als das parteiliche Identifikationsinstrumentarium zur Scheidung „guter" und „schlechter" Demokraten. Der Kampf um die Legitimität der Verfassung als Handlungsauftrag und Handlungsgrundlage beseitigt jedoch bedrohlich eben diese Legitimität. Die i n diesem Zusammenhang am häufigsten verwendete Formel war die der „Solidarität der Demokraten auf der Grundlage der Verfassung". Ursprünglich die Bezeichnung einer gemeinsamen demokratischen Grundlage der drei i m Bundestag vertretenen Parteirichtungen, u m die einheitliche Ablehnungs- und Bekämpfungsfront gegen den Terrorismus verbal zu demonstrieren 37 , ließ die Auseinandersetzung u m die zuläs34
Ebd., S. 2546 C. „Unser Anliegen war, ist u n d w i r d es sein, die Substanz der durch unser Grundgesetz festgelegten u n d garantierten Rechte der Bürger u n d des Parlamentes zu erhalten." Ebd., S. 2546 D. 86 So der Abg. Strauß, i n : Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 67. Sitzg., 24. Januar 1978, PIPr 8/67, S. 5163 C. 37 So einheitlich u n d übereinstimmend gegenüber der gemeinsamen Bedrohung von außen, der terroristischen Anschläge gegen das politische System der Bundesrepublik, Vertreter aller drei i m Bundestag vertretenen F r a k t i o nen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Vogel (CDU) erklärte: „ W e n n w i r , die deutschen Demokraten, i n den entscheidenden Fragen der Verteidi35
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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sigen u n d angemessenen M i t t e l der T e r r o r i s m u s b e k ä m p f u n g — gesetzgeberische, politische w i e k r i m i n a l t e c h n i s c h e — die F o r m e l v o n d e r „ S o l i d a r i t ä t der D e m o k r a t e n " z u e i n e m r e i n e n Kampf begriff verkommen. Es w u r d e z w a r betont, daß der A p p e l l an die „ S o l i d a r i t ä t der D e m o k r a t e n " „ k e i n M a u l k o r b f ü r die M i n d e r h e i t w e r d e n " d ü r f e 3 8 , der V e r säumnisse u n d F e h l e r der V e r g a n g e n h e i t „ u n t e r d e n T e p p i c h einer f r a g w ü r d i g e n S o l i d a r i t ä t " k e h r e 3 9 , s o m i t der politische K o n f l i k t ü b e r U r sachen des T e r r o r i s m u s u n d M a ß n a h m e n gegen i h n a u f gemeinsamer G r u n d l a g e n i c h t v e r u n m ö g l i c h t w e r d e n s o l l t e 4 0 . D o c h i n der p a r l a m e n tarischen D e b a t t e n p r a x i s g i n g es sodann w e n i g e r u m die D i s k u s s i o n sachl i c h e r D i f f e r e n z e n als u m die j e w e i l i g e Begründung von Monopolund Exklusivitätsansprüchen a u f d i e I n t e r p r e t a t i o n s h e r r s c h a f t der „ S o l i d a r i t ä t der D e m o k r a t e n " . D e r B e g r i f f selbst w u r d e z u m S t r e i t o b j e k t , n i c h t die Sache, f ü r d e r e n D i s k u s s i o n die „ S o l i d a r i t ä t der D e m o k r a t e n " die V o r a u s s e t z u n g sein sollte. „ W i e stehen Sie n u n e i g e n t l i c h z u der v i e l beschworenen S o l i d a r i t ä t d e r D e m o k r a t e n ? " f r a g t e der A b g e o r d n e t e W . B r a n d t (SPD) i n d e r T e r r o r i s m u s - D e b a t t e v o m 13. M ä r z 1975 4 1 , w o r a u f i h m d e r r h e i n l a n d - p f ä l z i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t K o h l (CDU) e n t gegnete: „ V e r e h r t e r H e r r K o l l e g e B r a n d t , w e r g i b t I h n e n e i g e n t l i c h das Recht, eine solche F r a g e ü b e r h a u p t a u f z u w e r f e n 4 2 » 4 3 ? " gung der Freiheit u n d des Rechtsstaates nicht an einem Strang ziehen, dann w i r d dieser Staat kaputtgehen." — Bundeskanzler Schmidt (SPD) : „Entweder ziehen w i r alle an einem Strang, oder w i r können den Staat zumachen. Ich stimme dem ausdrücklich zu". — So i n der Beratung einer Reihe von A n t i Terror-Gesetzentwürfen i m Anschluß an die Entführung des Berliner C D U Vorsitzenden Peter Lorenz, vgl. Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 155. Sitzg., 13. März 1975, S. 10770 D (Kohl), S. 10732 A (Schmidt); ähnlich i n dieser Debatte die Abg. Dr. Dregger (CDU/CSU): „Solidarität der Demokraten auf der G r u n d lage der Verfassung" (ebd., S. 10742 S, 10743 A ) ; Abg. Brandt (SPD): „angesichts des verbrecherischen Anschlags sei diese Solidarität die vordringlichste Aufgabe" (ebd., S. 10763 C). 38 So der bayerische Innenminister Merk (CSU), ebd., S. 10751 C/D. 39 So der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger (ebd., S. 1079 D/10798 A—D) u n d der Abg. Strauß (ebd., S. 10817 B/C). 40 Bundesjustizminister Vogel (SPD) drückte dies so aus: „ D e r Streit unter Demokraten geht doch nicht u m die Frage, ob die Terroristen Sympathie, Zustimmung oder Unterstützung verdienen oder ob man sie bekämpfen muß. Der Streit geht über die Rangstelle, die die politische Auseinandersetzung, die moralische Isolierung, die moralische Solidarisierung m i t Gerichten u n d Polizei, der Vollzug der Gesetze u n d die Änderung der Gesetze haben." Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 35. Sitzg., 22. J u n i 1977, PIPr 8/35, S. 2710 D. 41 Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 155. Sitzg., 13. März 1975, S. 10764 A / B . 42 Ebd., S. 10771 D. 43 Die Beispiele gegenseitiger demokratischer u n d verfassungsmäßiger I n fragestellung lassen sich beliebig vermehren. Unausschöpflich sind hier die A n t i - T e r r o r - D e b a t t e n u n d Innere-Sicherheits-Debatten. Die Aufgabe hier i n der Einführung ist nicht die der quantitativen Gewichtung einzelner A u s sagen, sondern die an Exempeln aufgezeigte, qualitative Verdeutlichung des Problems. Vgl. die wichtigsten Debatten — sofern noch nicht zitiert — : Dt.BT,
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Es w i r d aus dieser t y p i s c h e n G e g e n ü b e r s t e l l u n g k l a r , daß es b e i der T e r r o r i s m u s - D i s k u s s i o n i m P l e n u m des Deutschen Bundestages g a r n i c h t u m die A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen unterschiedlichen K o n z e p t i o n e n d e r T e r r o r i s m u s - B e k ä m p f u n g ging, sondern i n der Hauptsache u m die „ U m d e u t u n g der D e m o k r a t i e i n P a r t e i l i c h k e i t " 4 4 , u m die D i f f a m i e r u n g des p o l i t i s c h e n Gegners i m Zeichen u n d m i t t e l s der F u n k t i o n a l i s i e r u n g der F o r m e l v o n d e r „ S o l i d a r i t ä t der D e m o k r a t e n " 4 5 . D e r A b g e o r d n e t e W e h n e r (SPD) h a t die B e d e u t u n g u n d die G e f a h r e i n e r solchen D e b a t t e e i n m a l d e u t l i c h gekennzeichnet: „ E s ist k l a r , daß diese D e b a t t e z u nichts a n d e r e m als z u r D a r l e g u n g d e r U n v e r s ö h n l i c h k e i t f ü h r e n w i r d , n i c h t n u r der Gegensätze, sondern auch I h r e s G e m ü t s , sich m i t d e n Gegensätzen sachlich zu befassen. W o r u m es i n diesem S t r e i t geht, ist d e r C h a r a k t e r unseres Staates B u n d e s r e p u b l i k Deutschland. Sie ist d e r S t a a t w e d e r e i n e r P a r t e i noch e i n e r Klasse. Sie h a t nach d e m Grundgesetz d e m o k r a tischer u n d sozialer Bundesstaat z u sein. A u f d e m B o d e n des G r u n d gesetzes, i n d e m v o m Grundgesetz gesteckten R a h m e n r i n g e n die P a r t e i e n u m d i e nach i h r e r A u f f a s s u n g besten Wege z u r E r f ü l l u n g des V e r fassungsauftrags ,demokratischer u n d sozialer B u n d e s s t a a t ' 4 6 . " D i e D e Sten.Ber., 8. WP, 53. Sitzg., 28. Oktober 1977, PlPr8/53 (1. Lesung des A n t i Terror-Paketes I I , unmittelbar nach der Entführung u n d Ermordung Hanns M a r t i n Schleyers, der Befreiungsaktion von Mogadischu u n d den Selbstmorden von Baader, Ensslin u n d Raspe i m Gefängnis Stuttgart-Stammheim); Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 72. Sitzg., 16. Februar 1978, PIPr 8/72 (2. u n d 3. Lesung A n t i - T e r r o r - P a k e t I I ) ; Dt.BT, Sten.Ber., 8.WP, 95. Sitzg., 8. J u n i 1978, P l P r 8 / 95 (Restbestand der Gesetzgebungsinitiativen zur besseren Bekämpfung des Terrorismus u n d der Gewaltkriminalität) ; dazu vor allem die Grundsatz- u n d Grundwertdebatten („Freiheit oder Sozialismus") i m Rahmen der Haushaltsberatungen 1976: Dt.BT, Sten.Ber., 7.WP, 240. Sitzg., 11. M a i 1976 u n d Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 241. Sitzg., 12. M a i 1976 — Die wesentlichen Debatten sind dokumentiert i n : Die A n t i - T e r r o r - D e b a t t e n i m Parlament. Protokolle 1974— 1978 (zusammengestellt u n d kommentiert von Hermann Vinke u n d Gabriele Witt), Reinbek b. H a m b u r g 1978; eine Gesetzgebungsübersicht zum Thema Terrorismus findet sich i n : Freiheit u n d Sicherheit. Die Demokratie w e h r t sich gegen den Terrorismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politische Bildung, Band 148), Bonn 1979, S. 86 ff.; ebd., S. 225 eine inhaltliche Übersicht über die Debatten des Bundestages u n d des Bundesrates zum Thema Terrorismus; Materialien auch zur Chronik des Terrorismus bietet Manfred Funke (Hrsg.), Terrorismus-Untersuchungen zur Strategie u n d S t r u k t u r revolutionärer Gewaltpolitik (Schriftenreihe der Bundeszentrale f ü r politische Bildung, B a n d 123), Bonn 1977. — Über die sachlichen Differenzen der B u n destagsparteien informieren zusammenfassend: Hans-Peter Schneider, Der Rechtsstaat zwischen Freiheit u n d Sicherheit, i n : Liberal, 22. Jg. (1979), H. 11, S. 814 ff. sowie Thaysen, S. 41 ff. 44 So Ministerpräsident Kohl (CDU) i n : Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 155. Sitzg., 13. März 1975, S. 10775 A . 45 Höhepunkte bilden solche Qualifikationen w i e „ I h r e Republik ist nicht unsere" (H.Kohl, i n : Dt.BT, Sten.Ber., 8.WP, 72. Sitzg., 16. Februar 1978, PIPr 8/72, S. 5719 A) u n d : „ H e r r Strauß ist geistig ein Terrorist" (H. Wehner, i n : Dt.BT, Sten.Ber., 7.WP, 155. Sitzg., 13. März 1975, S. 10839 C/D). 48 Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 240. Sitzg., 11. M a i 1976, S. 16847 A / B ; ähnlich argumentierend i n dieser Debatte Genscher (FDP), ebd., S. 16847 D, 16848 A,
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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batte u m die „Solidarität der Demokraten" auf der Grundlage der Verfassung stand somit weitgehend unter dem Zeichen des wechselseitigen Vorwurfs, die jeweils andere Seite betreibe eine parteipolitische Okkupation des Grundgesetzes und des synonymen Begriffs der „Gemeinsamkeit der Demokraten", u m damit die ausschließliche oder zumindest vorrangige Legitimität eigener Zielsetzungen nachzuweisen und zugleich den politischen Gegner i n das Solidaritäts-Aus oder/und i n die Nähe des Verfassungsfeindes drängen zu können. Ähnlich verhält es sich mit der politischen Verwendung des Begriffs des „Verfassungsauftrags". Wo dieser nicht tatsächliche Aufträge des Grundgesetzes an den Gesetzgeber statuiert (Gleichstellung der unehelichen mit den ehelichen Kindern, Art. 6 Abs. 5 GG; Parteiengesetz, Art. 21 Abs. 3 GG; Gesetzgebungsauftrag des Art. 29 Abs. 1 GG zur Neugliederung der Länder; Gleichberechtigung von Mann und Frau i n der Rentenversicherung) 47 , w i r d er politisch fungibel gemacht zur Legitimierung eigener politischer Pläne, Programme und Gesetzgebungsinitiativen. Der Inanspruchnahme der Verfassung für die eigene Politik korrespondiert der Entzug verfassungsmäßiger Legitimation für die gegnerische Politik. Dies gilt insbesondere für die politische Auseinandersetzung der Jahre nach 1969. Die Ankündigung einer umfassenden „Reformpolitik" durch die Regierung Brandt/Scheel i n der ersten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 unter dem programmatischen Motto „ W i r wollen mehr Demokratie wagen" nahm Legitimations-Rekurs auf das Grundgesetz: Zur Rechtfertigung von Steuer- und Finanzreform diente u. a.: „ W i r erfüllen damit auch das Verfassungsgebot zur Schaffung des sozialen Rechtsstaates" 48 ; die Ankündigung einer umfassenden 16848 D u n d Barzel (CDU), ebd., S. 16857 D : „Das Grundgesetz ist doch das Modell für uns alle". 47 Das Bundesverfassungsgericht hat einige dieser Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber aktualisiert: So i n BVerfGE 8, 210; 17, 148; 25, 148 die Gleichstellung des unehelichen Kindes; so i n BVerfGE 33, 1 ein Strafvollzugsgesetz zur Regelung des „besonderen Gewaltverhältnisses"; so i n BVerfGE 39, 169 die Gleichstellung von M a n n u n d F r a u i n der Rentenversicherung; so aber auch die allgemeine Auftragskonzeption, nach der es Pflicht des Staates ist, f ü r eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 5, 85 [198] ; 22, 180 [204] ; 27, 253 [283]; 35, 202 [235 f.]). — Z u r rechtlichen Problematik von „Verfassungsaufträgen" vgl. Peter Lerche, Das Bundesverfassungsgericht u n d die Verfassungsdirektiven. Z u den „nicht-erfüllten Gesetzgebungsaufträgen", i n : AöR 90 (1965), S. 341 ff.; Ekkehard Wienholtz, Normative Verfassung u n d Gesetzgebung. Die V e r w i r k l i c h u n g von Gesetzgebungsaufträgen des Bonner Grundgesetzes, Freiburg 1968. Z u r (verfassungs)politischen Problematik u. a. Wilhelm Hennis, Verfassung u n d VerfassungsWirklichkeit. E i n deutsches Problem. (Recht u n d Staat i n Geschichte u n d Gegenwart, 373/374), Tübingen 1968, wieder abgedruckt i n (und zitiert nach): Manfred Friedrich (Hrsg.), V e r fassung. Beiträge zur Verfassungstheorie, Darmstadt 1978, bes. S. 249 ff.; vgl. jetzt auch von Beyme, Das politische System, S. 25 f. 48 Hier zitiert nach: Die großen Regierungserklärungen der deutschen B u n deskanzler von Adenauer bis Schmidt. Eingeleitet u n d kommentiert von
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1. Kap.: Der Streit u m
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Bildungspolitik ließ sich leiten von dem „zentrale(n) Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben": Dieser Auftrag sei „noch nicht annähernd erfüllt" 4 9 . Schließlich wurden die Grundsätze der Gesellschafts- und Sozialpolitik der Verwirklichung des Verfassungsauftrags des sozialen Rechtsstaates zugeordnet 50 . Ungeachtet und unbestritten der Legitimität, Berechtigung und Angemessenheit der gesellschaftspolitischen Zielsetzung „ W i r vollen die demokratische Gesellschaft, zu der alle mit ihren Gedanken zu einer erweiterten Mitverantwortung und Mitbestimmung beitragen sollen" 5 1 , liegt die Crux der Ableitung dieser und einer jeden (Regierungs-)Politik darin, daß sie die Verfassung zu einer „säkularisierten Heilsordnung" 5 2 stilisiert, wobei Politik dann i n der Konsequenz nichts weiter ist als die Vergatterung des Gesetzgebers bzw. der legislativen Mehrheit zum Verfassungsvollzug 53 . Diese Ableitung politischer Ziele und Argumente aus der Verfassung ist i n den Jahren nach 1969 zu einem Stereotyp i n der parlamentarischen Debattenpraxis geworden. Der Wetteifer u m den verfassungsmäßig legitimierten Handlungsauftrag erstreckte sich auf nahezu alle politisch kontroversen Sachbereiche. Genauso wie die sozial-liberale Regierungskoalition 1969 aus dem Verfassungsprinzip des „sozialen Rechtsstaates" die zu schaffende mitverantwortete und mitbestimmte demokratische Gesellschaft deduzierte, genauso forderte die Opposition, „daß w i r die Wertvorstellungen unserer Verfassung, die w i r zur Grundlage dieses Staates gemacht haben, überall durchsetzen, i m wirtschaftlichen, i m kulturellen, i m sozialen und i m politischen Bereich" 5 4 . Zugleich w i r d die „sittliche K r a f t " der Verfassung bemüht, „die i n den Anfangsworten unserer Verfassung ihren Ausdruck gefunden hat", um sie gegen „Emanzipation, Konfliktpädagogik und antiautoritäre Erziehung" zu setzen 55 . Die „Grundwerte der Verfassung", so der Vorwurf der Opposition an Klaus von Beyme, München, Wien 1979, S. 260. I n der Begründung werden sodann auch sachlich-politische Zwecke angegeben: „ W i r wollen auch i n der Steuerpolitik die Voraussetzungen f ü r eine breite Vermögensbildung schaffen . . . Unser Ziel ist es, ein gerechtes, einfaches u n d überschaubares Steuersystem zu schaffen." 49 Ebd., S. 266. 50 Ebd., S. 270. 51 Ebd., S. 270 f. 52 Vgl. zu Begriff u n d Sache: Robert Leicht, Grundgesetz u n d politische Praxis. Parlamentarismus i n der Bundesrepublik, München 1974, S. 131 ff. 53 I n A b w a n d l u n g eines Satzes von Hennis, Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, S. 250: „Die Verfassung als Vergatterung der Nation zum G r u n d rechtsvollzug — das muß böse enden." 54 So der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kohl (CDU), i n : Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 155. Sitzg., 13. März 1975, S. 10777 B. 55 So Abg. Dr. Dregger (CDU), Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 53. Sitzg., 28. Oktober 1977, PIPr 8/53, S. 4097 A .
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die Politik der von SPD und FDP gebildeten Regierung, „wurden nicht i n den Händen unserer Jugend verankert, sie wurden ,hinterfragt' . . . Konfliktbewußtsein und Konfliktpädagogik beherrschten das Feld. Rahmenrichtlinien, d. h. Lehrpläne, Lehrbücher und Lehrerbildung, wurden Ansatzpunkte der Agitation und Indoktrination. Gezüchtet wurde Systemverachtung" 56 . Schließlich die Aufforderung: „Notwendig ist eine Umkehr, eine geistige, moralische und eine politische Umkehr. Notwendig ist auch eine Umkehr i n der Bildungspolitik 5 7 ." Die Vorstellung von der Verfassung als Heilsordnung w i r d hier manifest. Die Regierungspolitik hat gegen die „sittliche K r a f t " und die „Grundwerte der Verfassung" verstoßen (gesündigt), folglich muß Umkehr (Buße) getan werden. Die Problematik des Kampfes u m die Legitimität der Verfassung ist evident: Regierung und Opposition berufen sich für ihre eigene Politik, die ja offensichtlich i n Zielrichtung und Mitteln differiert, auf die Verfassung, auf ihre „Aufträge", „Gebote", „Grundwerte" und „sittliche Kraft". Sind die daraus abgeleiteten „Politiken" jedoch verschieden, so sind es die Vorstellungen über jene „Aufträge", „Gebote", „Grundwerte" und „sittliche Kräfte" auch, die Verfassung w i r d i n Teilverfassungen zerlegt, die je nach politischer Willensrichtung die eine oder andere Polit i k mit dem Mantel verfassungsrechtlicher Weihe umhüllen sollen. Materielle politische Kontroversen (Bildungs-, Gesellschafts-, Rechts-, W i r t schaftspolitik) degenerieren zur Alternative von Verfassungsvollzug oder Verfassungswidrigkeit Aus politischen Streitpunkten werden Grundsatzfragen demokratischer Ordnung. Denn wenn die Verfassung die „Grundlage des Staates" (Kohl) sein soll, ihre Deutung sie jedoch, je nach politischen Präferenzen differierend, zum „Kampf instrument" i n der politischen Auseinandersetzung macht, dann standen und stehen „aus Anlaß von tagespolitischen Detailfragen" zugleich Grundprobleme demokratischer Ordnung zur Debatte 58 . c) Die Verfassung im Mittelpunkt
der Grundlagendiskussion
Das Dezennium von 1969 bis 1979 ist das Jahrzehnt der „Grundlagendiskussion", das Jahrzehnt des Streites u m das Grundgesetz. Nicht daß die grundlegenden politischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre u m Westintegration und Wiedervereinigung, u m Wiederbewaffnung und Wirtschaftsordnung am Grundgesetz vorbeigelaufen wären 5 9 , nicht daß 56
Abg. Dr. Dregger, ebd., S. 4103 C. Abg. Dr. Dregger, ebd., S. 4103 D. 58 Vgl. Matz, Demokratische Ordnung nach dem Grundgesetz, S. 183 f. 59 Vgl. etwa Baring , Außenpolitik i n Adenauers Kanzlerdemokratie; Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik, München 1970; Klaus von Schubert, Wiederbewaffnung u n d Westintegration, Stuttgart 1972. Z u 57
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
d e r K a m p f u m die Notstandsgesetze i n d e n sechziger J a h r e n u n d die A t o m b e w a f f n u n g das Grundgesetz n u r p e r i p h e r b e r ü h r t h ä t t e n 6 0 — j a es g i n g b e i W i e d e r b e w a f f n u n g u n d Notstandsgesetzen u m g r u n d l e g e n d e Ä n d e r u n g e n der V e r f a s s u n g 6 1 — , doch j e n e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n w a r e n zunächst o r i g i n ä r politische, sie w u r d e n auch p o l i t i s c h u n d m i t p o l a r i s i e r e n d e m E f f e k t ausgetragen. H i n g e g e n erscheinen die p o l i t i s c h e n Streitgegenstände der siebziger J a h r e als g r u n d s ä t z l i c h auf die V e r f a s s u n g bezogen, sei es, daß die V e r f a s s u n g herangezogen w i r d , u m das eigene politische V o r g e h e n z u b e g r ü n d e n , sei es, daß das gegnerische politische V o r g e h e n a n der V e r f a s s u n g gemessen w i r d . O r i g i n ä r p o l i t i sche R e g e l u n g s m a t e r i e n m u ß t e n sich eine V e r r e c h t l i c h u n g g e f a l l e n lassen; entscheidend ist, w a s das Grundgesetz v e r m e i n t l i c h e r l a u b t u n d f o r d e r t u n d / o d e r w a s es v e r m e i n t l i c h v e r b i e t e t . D i e D i s k u s s i o n u m e i n M e h r oder W e n i g e r a n D e m o k r a t i e , u m D e m o k r a t i s i e r u n g i m h e t e r o g e n e n S p a n n u n g s f e l d v o n I d e n t i t ä t u n d Repräsent a t i o n , v o n Sachzwang u n d P a r t i z i p a t i o n , v o n G e w a l t e n t e i l u n g u n d M i t b e s t i m m u n g w u r d e z u e i n e r F r a g e der U b e r w i n d u n g oder E r h a l t u n g des v o n der V e r f a s s u n g vorausgesetzten oder b e g r ü n d e t e n u n d g e f o r d e r t e n S y s t e m s 6 2 . D i e F r a g e der W i r t s c h a f t s - u n d Gesellschaftspolitik w a r n i c h t Fragen der Wirtschaftsordnung i n diesem Zeitraum u. a. Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat u n d gesellschaftlicher status quo, 2. Aufl., Opladen 1977. 60 Vgl. etwa Jürgen Seifert, Gefahr i m Verzuge. Z u r Problematik der N o t standsgesetzgebung, 4. Aufl., F r a n k f u r t am M a i n 1965; Hans Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition i n der Ä r a Adenauer. Der K a m p f gegen die Atombewaffnung i n den fünfziger Jahren, K ö l n 1970. 61 Z u r verfassungsrechtlichen u n d verfassungspolitischen Bedeutung u n d Problematik der Einführung von Wehrverfassung (BGBl. I 1956, S. 111) u n d Notstandsverfassung (BGBl. 1 1968, S. 709) i n das Grundgesetz vgl. zusammenfassend Hans Vorländer, Identität des Grundgesetzes nach 30 Jahren?, i n : JuS, 19. Jg. (1979), H. 5, S. 315 ff. 62 Aus der politischen Auseinandersetzung vgl. die Regierungserklärung von Willy Brandt (oben A n m . 48) : „ W i r w o l l e n mehr Demokratie wagen" u n d „ W i r wollen die demokratische Gesellschaft, zu der alle m i t ihren Gedanken zu einer erweiterten M i t v e r a n t w o r t u n g u n d Mitbestimmung beitragen sollen."; ferner die Kontroverse zwischen W i l l y Brandt u n d dem damaligen Generalsekretär der CDU, Bruno Heck: Willy Brandt, Die Alternative, i n : Die Neue Gesellschaft, 16. Jg. (1969), Sonderheft, S. 4 ( „ F ü r die SPD bedeutet die Demokratie ein Prinzip, das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinflussen u n d durchdringen muß".) u n d Bruno Heck, Demokraten u n d Demokratisierung? Eine notwendige Auseinandersetzung, i n : Die politische Meinung, 14. Jg. (1969), H. 3, S. 18 („Demokratisierung s e i . . . ein Konzept, das einer freiheitlichen Gestaltung des Staates prinzipiell widerstrebt. Demokratisierung der Gesellschaft ist n u r eine spezielle F o r m der Politisierung der Gesellschaft", dies führe zwangsläufig zum „Verlust der Freiheit".). I n der wissenschaftlichen Auseinandersetzung werden am pointiertesten die k o n trären Positionen von Habermas einerseits u n d Schelsky, Hennis andererseits bezeichnet. Vgl. Jürgen Habermas, Über den Begriff der politischen Beteiligung, i n : d e r s . / L u d w i g von F r i e d e b u r g / C h r i s t o p h O e h l e r / F r i e d r i c h Weltz,
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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eine der funktionalen Richtigkeit oder politischen Angemessenheit, sondern eine der materiellen Ubereinstimmung oder Verletzung einer i m Grundgesetz ,inkorporierten 4 Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung 63 . Student u n d Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten, 3. Aufl., Neuwied u n d B e r l i n 1969, S. 15: Das Wesen der Demokratie besteht darin, „daß sie die weitreichenden gesellschaftlichen Wandlungen vollstreckt, die die Freiheit der Menschen steigern u n d am Ende vielleicht ganz herstellen können. Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst w e n n diese w i r k l i c h ist, ist jene w a h r " ; Helmut Schelsky, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit? Der Grundsatzkonflikt der „Polarisierung" i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : ders., Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, 4. Aufl., München 1974, S. 55: „Festzuhalten i s t . . . , daß die Tendenz ,Mehr Demokratie 4 i m Sinne der höheren Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willensbildung bezahlt werden muß m i t den Tendenzen: ,mehr Konflikte', »weniger Rationalität', ,mehr Herrschaftsansprüche', »weniger Sachlichkeit', vor allem aber m i t der durchgehenden Politisierung i n Richtung auf zentralistisch-totalitäre Machtdurchsetzung."; Wilhelm Hennis , Demokratisierung. Zur Problematik eines Begriffs, i n : M a r t i n Greiffenhagen (Hrsg.), Demokratisierung i n Staat u n d Gesellschaft, München 1973, S. 59, f ü r den die abendländische Sozialordnung „durch die Unterscheidung von Politischem u n d Nichtpolitischem" gekennzeichnet ist: „ D i e Demokratisierung eines Sozialbereichs bedeutet i m strikten Sinne zunächst eine Politisierung, das heißt die Unterwerfung dieses Bereichs unter jene Prinzipien, die i m Bereich der P o l i t i k die maßgeblichen sind". — Bei der verfassungspolitischen Diskussion geht es grosso modo u m die Einschätzung der Wirkungen, die m i t einer V e r änderung des parlamentarisch-repräsentativen Systems bzw. m i t einer V e r änderung der Entscheidungskompetenzen i n den gesellschaftlichen Teilbereichen der Wirtschaft, der B i l d u n g u n d der Wissenschaft, der Massenmedien u n d des Gesundheitswesens verbunden sind. Vertreter des Rätesystems, also einer F o r m der direkten Demokratie, halten dieses System m i t der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für vereinbar. Vgl. Peter von Oertzen, Freiheitliche demokratische Grundordnung u n d Rätesystem, i n : Udo Bermbach (Hrsg.), Theorie u n d Praxis der direkten Demokratie, Opladen 1973, S. 178: „ D i e Einführung von Elementen der direkten Demokratie w ä r e . . . (zwar) n u r auf dem Wege der Grundgesetzänderung möglich; aber die Idee der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist nicht an eine repräsentative Verfassung gebunden, sie könnte prinzipiell v i e l mehr auch i n einer direkt-demokratischen Verfassung v e r w i r k l i c h t werden. Der Grundsatz der Selbstbestimmung des Volkes nach dem W i l l e n der M e h r heit wäre i m Rätesystem der Sache nach eben i n höherem Grad realisiert als i m Repräsentativsystem." — Z u r gesamten Diskussion vgl. außer den schon genannten Sammelbänden von Bermbach u n d Greiffenhagen u. a. Wolf gang Manti , Repräsentation u n d Identität. Demokratie i m Konflikt. E i n Beitrag zur Staatsformenlehre, Wien, New Y o r k 1975. 63 Vgl. hierzu aus der politischen Auseinandersetzung die schon erwähnten u n d diskutierten Bundestagsdebatten, die anläßlich der Haushaltsberatungen 1977 u n d 1978 Grundsatzdiskussionen über die Wirtschafts- u n d Gesellschaftsp o l i t i k waren: Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 34. Sitzg., 21. J u n i 1977, PIPr 8/34; Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 35. Sitzg., 22. J u n i 1977, PIPr 8/35; Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 67. Sitzg., 24. Januar 1978, PIPr 8/67 sowie die besonders aufschlußreichen Verfassungsdebatten aus dem Jahr 1974: Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 1974 (dazu ausführlich i m 2. Kapitel). — Vgl. zu diesen Fragen u. a. die beiden Aufsätze von Martin Kriele, Das Grundgesetz i m Parteienkampf, i n : Zeitschrift f ü r Rechtspolitik, 6. Jg. (1973), H. 6, S. 129—133 u n d ders., W i r t schaftsfreiheit u n d Grundgesetz, i n : ders., Legitimitätsprobleme der Bundes-
2 Vorländer
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Der politisch legitime Streit um oberste Erziehungsziele und Werte, u m die Gestaltung von Schule und Unterricht hatte seinen Bezugspunkt i m Kriterium der Verfassungsmäßigkeit 64 . Die Diskussion u m politisch bedingte Wertdifferenzen zwischen den Parteien geriet zu einem Streit um die vermeintliche Schwächung des Wertekonsenses und der verfassungsrechtlichen (Ab-)Sicherung und Bewahrung von Grundwerten 6 5 . republik, München 1977, S. 115 ff. sowie Roman Herzog, Sperre f ü r den Sozialismus u n d Hans Schueler, Marktwirtschaft ist k e i n Dogma, beide i n : Die Zeit, Nr. 14, 29. 3. 1974, S. 6 f. 64 Vgl. aus der politischen Auseinandersetzung neben den i m fortlaufenden Text schon zitierten Bundestagsdebatten die Verfassungsdebatte des Jahres 1974. Sprecher der Opposition warfen der Regierung vor, gerade i m Bildungsbereich verfassungsfeindliche Tendenzen zu tolerieren bzw. offen zu begünstigen. So meinte der Abg. Dr. Dregger (CDU), nicht n u r die Hessischen Rahmenrichtlinien, sondern auch die i n Nordrhein-Westfalen u n d i n Niedersachsen erlassenen Richtlinien seien „nicht am Grundgesetz, sondern an der spät-marxistischen Ideologie der neuen L i n k e n orientiert" u n d sprach von „Verfassungsbruch" (Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 79. Sitzg., 14. Februar 1974, S. 5009 D). Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Filbinger (CDU) fragte: „müssen w i r es hinnehmen, daß unsere K i n d e r die Schule als Gegner der Verfassung, unseres Grundgesetzes verlassen, w e i l sie dort so i n d o k t r i niert werden sollen?" (ebd., S. 5065 B). — Auch die wissenschaftlich-politischen Beiträge gingen i n der Diskussion weitgehend bei der Bestimmung a l l gemeiner Ziele ausdrücklich v o m Grundgesetz u n d den Grundrechten aus. So der S t r u k t u r p l a n für das Bildungswesen v o m 14. Februar 1970, vgl. Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission, S t r u k t u r p l a n für das Bildungswesen, Stuttgart 1970, S. 29 f. Aus der — fast unübersehbaren — L i t e r a t u r vgl. Felix von Cube, Schule zwischen Gott u n d M a r x . Konfessionelle Lernziele i n einer pluralistischen Gesellschaft, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 25/1974, der explizit fordert: „der Staat (hat) das Recht, j a sogar die Pflicht, die i n der Verfassung niedergelegten Grundwerte als effektive Lernziele verbindlich zu machen. Uber die Frage, ob eine bestimmte I n t e r pretation der Grundwerte zu den verpflichtenden Lernzielen gehört, entscheidet i n letzter Instanz das Verfassungsgericht." (S. 13) — w o m i t i n der Konsequenz das Bundesverfassungsgericht zur obersten Schulbehörde avanciert oder degeneriert, je nach Sicht. Vgl. ferner: Ernst-August Roloff, Grundgesetz u n d Geschichtlichkeit. Über das Legitimationsproblem i n der politischen Bildung, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 22/1974; Friedrich Minssen, Legitimationsprobleme i n der Gesellschaftslehre. Z u m Streit u m die hessischen Rahmenrichtlinien, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 41/1973; Christian Graf von Krockow, Wie man Reformen ruiniert. Der Streit u m die Hessischen Rahmenrichtlinien, i n : Wolf gang Schulenberg (Hrsg.), Reform i n der Demokratie. Theoretische Ansätze, Konkrete Erfahrungen, Politische Konsequenzen, Hamburg 1976, S. 235—245; Rolf Schörken, Streitpunkte des Politik-Unterrichts. Z u r K r i t i k an den nordrhein-westfälischen Richtlinien, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 8/1976; Hermann Boventer, Emanzipat i o n durch Entwicklung. K r i t i k der Emanzipationspädagogik u n d die Frage nach den Erziehungswerten, i n : Aus P o l i t i k und Zeitgeschichte, Β 13/1975; Kurt Georg Fischer, Consensus o m n i u m zwischen M i n i m u m u n d Staatsgesinnung, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 29/1972; Wolf gang Hilligen, Ziele des politischen Unterrichts noch konsensfähig?, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 15/1975; zuletzt Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem i n der politischen Bildung, Stuttgart 1977, u n d Hagen Weiler, Politischer Unterricht i m Sinne des Grundgesetzes: Wider die rechtsverbindliche Festlegung von Lernzielen, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 15/1980.
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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Schließlich mühte sich die Gratwanderung zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Bürgerrecht und Staatsräson um die Bestimmung der verfassungsrechtlichen und -politischen Grenzen des Rechtsstaates 66 . 65 Vgl. zur Grundwertedebatte i m parlamentarischen Raum u. a. die Debatten des Deutschen Bundestages, die u m das Motto der CDU/CSU zur B u n destagswahl 1976 „Freiheit oder/statt Sozialismus" kreisten: Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 240. Sitzg., 11. M a i 1976 u n d 241. Sitzg., 12. M a i 1976, d a r i n Bundeskanzler Schmidt: Sie werden sicherlich die Grundwerte i n manchem P u n k t anders interpretieren, als w i r es tun. A b e r es sind bei Ihnen dieselben drei G r u n d werte, nicht einer weniger u n d nicht einer mehr. Ich b i n deswegen glücklich d a r ü b e r . . . , nämlich daß es einen breiten Konsensus der Demokraten, der anständigen Menschen i n unserem Lande gibt." (240. Sitzg., S. 16830 A). Ä h n lich Innenminister Maihof er, 241. Sitzg., S. 16950 u n d der Abg. von Weizsäkker (CDU), 241. Sitzg., S. 16959 ff.; w i r d so prinzipiell von einem Konsens hinsichtlich der d r e i Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit u n d Solidarität ausgegangen — bei unterschiedlicher Rang- u n d Wertbeimessung u n d verschiedenartiger Begründung der inhaltlichen Ausfüllung aus christlichen, h u m a nistischen oder demokratisch-sozialistischen Traditionen (vgl. Maihof er, 241. Sitzg., S. 16950) —, so ist die verfassungsrechtliche Sicherung u n d Bewahrung von Grundwerten, also ihre rechtliche Verbindlichmachung, äußerst k o n t r o vers. A n dieser Stelle sei pauschal verwiesen auf Günter Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte i n Staat u n d Gesellschaft, München 1977. Vgl. die ausführliche Darstellung i m 2. K a p i t e l dieser Arbeit. 66 Natürlich ist hier — bei der Diskussion u m die „Grenzen des Rechtsstaats" — die verfassungsmäßige Ordnung unmittelbar tangiert, hat eine Verfassungsdiskussion ihre verfassungsrechtliche u n d -politische Berechtigung. Doch wurde — w i e die erwähnten Beispiele belegen — i n den Debatten u m „Extremisten i m öffentlichen Dienst" u n d die angemessene Bekämpfung des Terrorismus dem politischen Gegner zumeist vorgeworfen, seine V o r schläge seien gegen den Rechtsstaat selbst gerichtet. I n der Auseinandersetzung m i t dem „Kontaktsperregesetz" (Gesetz zur Änderung des E i n f ü h rungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz v o m 30. September 1977, BGBl. I S. 1877) sagte der Abg. Mischnick (FDP) hingegen: „Dieser Rechtsstaat schadet sich nicht, sondern nutzt sich, wenn die Öffentlichkeit weiß, daß auch i n einer Gefahrensituation u m jeden einzelnen P u n k t bis zur letzten Sekunde gerungen w i r d , dann aber entschieden w i r d . . . auch denen, die hier Ä n d e r u n gen einbringen wollten, muß man zugestehen, daß sie i m Rahmen des Grundgesetzes ihre Möglichkeiten f ü r den freien Rechtsstaat u n d nicht gegen i h n wahrgenommen haben." (Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 44. Sitzg., 29. September 1977, PIPr 8/44, S. 3382 C). — Der Begriff „Grenzen des Rechtsstaates" wurde zuerst von Bundeskanzler Schmidt geprägt, vgl. Dt.BT, Sten.Ber., 7. WP, 168. Sitzg., S. 11784 Β : „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen w i l l , muß innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was v o m Rechtsstaat erlaubt u n d geboten ist." — Z u m Spannungsverhältnis, das besteht zwischen individuellem Grundrechtsanspruch einerseits und Sicherheitsbedürfnis andererseits u n d dem Problem von Staats- bzw. Verfassungsräson (vgl. u. a. die Debatte über den „ F a l l Traube", Dt.BT, Sten.Ber., 8. WP, 17. Sitzg., 16. März 1977, PIPr 8/17, darin die Beiträge von Wallmann [Zitat S. 961 C] ; Hugo Brandt [SPD], S. 967 Β [„ein Verfassungsstaat hat keine andere ,Räson' als seine Verfassung"] u n d Ingrid Matthäus-Maier, S. 992 C [„Über dem Gesetz steht i n unserem Staate niemand, auch ein Minister nicht u n d erst recht nicht der Verfassungsschutz!"]). Grundlegend aus wissenschaftlicher Perspektive schon früher Adolf Arndt, Der Rechtsstaat u n d sein polizeilicher Verfassungsschutz (1961), i n : ders., Gesammelte juristische Schriften, M ü n chen 1976, S. 157—170 u n d Carl-Joachim Friedrich, Die Staatsräson i m V e r fassungsstaat, München 1961.
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Die Verfassungsrelevanz der politischen Streitmaterien und ihrer Diskussion steht nicht i n Frage. Das ist auch gar nicht das Problem. Wo eine Verfassung Verbindlichkeitsanspruch erhebt, da müssen sich politische Entscheidungen und hoheitliche Akte i m Streitfall die rechtliche Bewertung gefallen lassen. Zum Problem geworden ist aber die Konzentration der politischen Auseinandersetzung auf ihre fast ausschließliche Verfassungsbezogenheit. Die Folge der „Verfassungsmäßisierung" der Politik ist, daß der allgemeine politische Konsens und die politische Konsensfindung in streitbefangenen Materien auf diese Weise zwangsläufig zu einem verfassungsbezogenen Minimalkonsens, „Verfassungskonsens" genannt, verengt werden. Wer sich innerhalb des verfassungsmäßigen Konsensbereiches aufhält, wer sich der Interpretations- und Definitionsherrschaft dessen erfreut, was als Verfassungskonsens Geltung beansprucht, wer mithin über den Verfassungskonsens verfügt, der kann sein politisches Gegenüber schlicht, als außerhalb des Verfassungskonsenses stehend, aus dem politischen Prozeß herausdefinieren. Die freie, offene, konfligierende politische Auseinandersetzung w i r d verunmöglicht. Dies ist die Gefahr für den politisch-demokratischen Prozeß. 2. Phänomen und Gefahren der „Verfassungsmäßisierung" der politischen Auseinandersetzung
Phänomen und Gefahren einer solchen Tendenz für das politische System der Bundesrepublik Deutschland, politische Auseinandersetzungen durch die und mit der Verfassung zu führen, sind i n den letzten Jahren oft — und aus den verschiedensten politischen und wissenschaftlichen „Lagern" — beschrieben worden. Die hier und dort vorfindlichen, nicht systematisch aufgearbeiteten kritischen Fragen und Problemstellungen lassen sich — mit Vorsicht und Vorläufigkeit — zusammenfassen. A u f die Verkürzung des politischen Prozesses durch die „Verlagerung der politischen Konflikte auf eine pseudo-verfassungsrechtliche Ebene" hat vor allem Robert Leicht aufmerksam gemacht 67 : „Wenn man die ,eigentlichen' politischen Zielsetzungen und Konflikte ins Verfassungsrecht transponiert, so werden die parlamentarischen Integrationsprozesse um eben diese Dimensionen ärmer 6 8 ." Konfliktpunkte werden der parlamentarischen Diskussion entzogen, weil sie auf Grund ihrer behaupteten verfassungsmäßigen Verankerung politisch kontrovers nicht mehr diskutiert werden dürfen. Umgekehrt: Werden sie diskutiert, dann muß die politische Diskussion zu einer verfassungsrechtlichen werden. Parlamentarische Organe und parlamentarische Politik unterliegen dem 67 08
Leicht, Grundgesetz u n d politische Praxis, S. 139 ff. Ebd., S. 139.
I. Das Problem des Verfassungskonsenses
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stets dräuenden Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit bzw. Verfassungsfeindlichkeit: Die Formulierung bestimmter politischer Ziele ist der Kompetenz der parlamentarischen Willens- und Entscheidungsbildung zwar nicht entzogen, jedoch dadurch a priori begrenzt, daß nach dem verfassungsmäßig vermeintlich Zulässigen bzw. Verbotenen geschielt wird. I m institutionellen System der Bundesrepublik Deutschland w i r d diese Gefahr für den politischen Prozeß durch die weite Kompetenzausstattung des Bundesverfassungsgerichts u n d das Ausweichen der jeweiligen Opposition „ i n die dritte G e w a l t " 6 9 potenziert. Helmut Ridder spricht i n diesem Zusammenhang von der „Verklärung des Tods demokratischer
Politik
durch
die juristische
WeltanschauungDie
Einset-
zung des bundesverfassungsgerichtlichen Obersouveräns als Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem Souverän der Demokratie entspreche einer „idealtypischen Betrachtung von Politik, bei der Gesetzgebung und sonstige Staatsleitung i m bloßen Vollzug des Verfassungsgesetzes und Verwaltung i m bloßen Vollzug von Verfassungsgesetz und unterverfassungsmäßigem Recht aufgehen" 7 1 . Ridder steht m i t dieser Einschätzung nicht alleine. Ulrich Matz spricht davon, daß w i r i n Ermangel u n g einer gefestigten Tradition politischen Grundkonsenses und „getragen von einem unausrottbaren Vertrauen i n die Macht des gesetzten Rechts u n d die Weisheit der Juristen" weit mehr als jedes andere V o l k dazu neigen, „unser politisches Heil i m Buchstaben der Verfassung u n d bei dem amtlichen Interpreten der Verfassung, dem Verfassungsgericht, zu suchen" 7 2 . Die Folge davon sei: Der Minimalkonsens, sich „der Verfassung zu unterwerfen, erweist sich dann als Konsens darüber, sich der Autorität des Gerichtes zu überlassen — zweifellos ein brüchiges, vor allem aber: angesichts der nicht politischen Legitimation des Gerichtes wenig demokratisches Surrogat" 7 3 . U n d Hans Buchheim, der i n der unverhältnismäßig geringen Autorität der Politik gegenüber der des Rechts die Hauptursache der „Juridifizierung der Verfassung" sieht, stellt fest: „ M a n faßt das Grundgesetz einseitig als oberste Rechtsnorm auf und beachtet n u r wenig seine Bedeutung als politisches Konzept des 69
Vgl. Kriele, Das Grundgesetz i m Parteienkampf, S. 130. Helmut Ridder, Probleme des Grundgesetzes und der Grundgesetzinterpretation, i n : PVS, 20. Jg. (1979), H. 2, S. 179. 71 Ebd., S. 178/179. 72 Matz, Demokratische Ordnung nach dem Grundgesetz, S. 185; vgl. auch ders., Über politische Untugenden als Hemmnisse des Regierens i m demokratischen Verfassungsstaat. Einige allgemeine Bemerkungen u n d eine K r i t i k an der Bundesrepublik, i n : W i l h e l m H e n n i s / P e t e r Graf K i e l m a n s e g g / U l r i c h Matz, Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 211 ff. 73 Matz, Demokratische Ordnung nach dem Grundgesetz, S. 185. 70
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
Staates. Man trifft i n dem Bereich der Politik, i n dem die Verfassung letztlich von der Mentalität oder Meinung bzw. vom Willen der Bevölkerung getragen wird, Entscheidungen nach rechtlichen statt, wie es nötig wäre, nach politischen Kriterien. Verfassungsfragen werden fast ausschließlich als verfassungsrechtliche Fragen behandelt und gerichtlicher anstatt politischer Kontrolle unterworfen 7 4 ." Buchheim geht also noch weiter: Nicht nur die Uberlagerung der Politik durch die Verfassung, sondern zudem das streng rechtliche und rechtsbegriffliche, nicht politische Verständnis der Verfassung sei das Problem 7 5 . Das Berufen auf die Verfassung i n der politischen Auseinandersetzung, der ideologische Andrang und Zugriff auf das Grundgesetz führen zur „Denunziation des Politischen" 76 . Denn wenn sich — so R. Leicht — ein politisches Interesse voreilig die Würde des Verfassungsauftrages überstreife, täusche es über seine Legitimationsgrundlage. Nur solche Interessen werden für achtbar gehalten, die sich direkt aus der Verfassung zu legitimieren vorgeben. Damit werde dem Vorurteil Vorschub geleistet, „wonach politische Interessen für sich genommen nicht nur nicht besonders anerkennenswert sind, sondern geradezu verwerflich" 7 7 sind. Noch prägnanter bringt Christian Graf von Krockow den Zusammenhang von Leugnung der Dignität politischer Interessen und ihrer gleichzeitigen Bemäntelung durch eine „oberste" Legitimität auf den Begriff: „Politische Konflikte erscheinen als seltsam maskiert: weniger als legitime Auseinandersetzungen zwischen Anschauungen und Interessen um ihre gesellschaftliche Gestaltung und Durchsetzung, denn als Kampf um die Besetzung staatlicher Legitimität Die ihrem Anspruch und Selbstverständnis nach ,staatstragenden' Kräfte — möglichst noch mit Rechtstiteln bewaffnet — stehen gegen die wirklich oder angeblich staatsfeindlichen und ,zersetzenden' 78 ." 74 Hans Buchheim, Probleme der Juridifizierung der Verfassung, i n : Detlef Merten / Rudolf Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz (Vorträge u n d Diskussionsbeiträge der 47. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1979 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer), Berlin, München 1979, S. 19. 75 So versteht er auch unter „Juridifizierung der Verfassung", daß „erstens politische Begriffe u n d Grundsatzbestimmungen der Verfassungsurkunde als Rechtsbegriffe oder Normen aufgefaßt u n d entsprechend verwendet, daß zweitens politische Angelegenheiten des Verfassungslebens statt unter Orientierung an politischen Prinzipien unter A n w e n d u n g von Rechtssätzen behandelt werden". Ebd., S. 19. 76 Leicht, Grundgesetz u n d politische Praxis, S. 140. 77 Ebd., S. 140. 78 Christian Graf von Krockow, Die Angst vor der Z u k u n f t ist die größte Herausforderung politischer Bildung. Z u r politischen K u l t u r i n der Bundesrepublik, i n : Materialien zur Politischen Bildung, H. 1/1980, S. 10. — Hervorh. v. m i r , H. V.
I I . Fragen an die Bundesrepublik
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Der „Kampf um die staatliche Legitimität" w i r d zum Kampf um die Verfügungsherrschaft des „Verfassungskonsenses", wobei die Verfassung, das Grundgesetz, oberste Legitimationsinstanz ist. Daß dabei die Verfassung ihres Charakters der „Gemeinsamkeit" verlustig geht, ist die unmittelbare Folge. Die Verfassung als Kampfinstrument w i r d untaugliche Konsensgrundlage für den Austrag gegensätzlicher politischer Interessen i n einem freien demokratischen Prozeß 79 . Die Verfassung umschreibt die politischen Grundentscheidungen, die zeitlich außer Diskussion stehen, die jenseits des Parteienstreites liegen, über die mithin ein Konsens bestehen soll. Doch „gerade dieser Konsens aller Demokraten, der von den Politikern so gern beschworen wird, leidet Schaden, wenn jede politische A k t i v i t ä t entweder als die notwendige Erfüllung eines Verfassungsauftrags oder aber als verfassungswidrige Handlung ausgegeben oder kritisiert w i r d " 8 0 . I I . Fragen Die Verfassung ist ins Gerede gekommen, sie ist zum normativen Ordnungsproblem geworden. Alle politischen Bestrebungen, Meinungen und Parteien beziehen sich auf sie als die Norm, als die politische Grundorientierung, und versuchen, sich mit ihr zu identifizieren. Das Erscheinungsbild ist mithin ein paradoxes: Einerseits ist der Bezug und die Berufung auf die Verfassung die vorherrschende Tendenz fast aller politischen Gruppen — dies i n eigenartiger Verkehrung zur Stellung und zum Ansehen der Verfassung in der Weimarer Republik, i n der die demokratische Verfassung „allzu vielen als ein lästiges, zu umgehendes Übel" erschien 81 . Andererseits erscheint die Verfassung als ein Kampfinstrument i n der politischen Auseinandersetzung, das i n Anspruch genommen wird, um dem politischen Gegner die politische Unlauterkeit anzuhängen: „Heute ist es gerade die intensive Ausdeutung und Ausnutzung, die das Grundgesetz ins Zentrum des politischen Kalküls und der Argumentation aller Gruppen rückt. Es w i r d i n übereinstimmender Emphase und zugleich widerstreitender Absicht als Grundlage und Rechtfertigung der eigenen politischen Bestrebungen zitiert 8 2 ." 79
Vgl. Vorländer, Identität des Grundgesetzes, S. 322. Sontheimer, Die verunsicherte Republik, S. 43 f. 81 Darauf macht Karl Dietrich Bracher, Bewährung und Anfechtung: Z u m Streit u m Demokratie u n d Verfassung i n der Bundesrepublik, i n : ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen. U m Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1976, S. 104 aufmerksam. 82 Bracher, Bewährung u n d Anfechtung, S. 104; vgl. jetzt auch ders., Z u m Verfassungsverständnis der Bundesrepublik Deutschland i n historisch-politischer Sicht, i n : Merten / Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz, S. 149 ff. sowie — bezogen auf das Problem der Menschenrechte — ders., Menschenrechte u n d politische Verfassung. E i n Grundproblem der politischen Ideengeschichte, i n : ZfP, H. 2, 1979, S. 109. 80
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1. Kap.: Der Streit u m die Verfassung
W a r u m ist dies so? Diese F r a g e bezeichnet e i n — deutsches? — P r o b l e m k n ä u e l , das s c h w e r l i c h d u r c h eine einzige A n t w o r t e n t w i r r t w e r d e n k a n n . V i e l e F r a g e n müssen gestellt w e r d e n : W a r u m w i r d ü b e r d e n V e r fassungskonsens d i s k u t i e r t , w o der politische G r u n d k o n s e n s i n d e r B u n d e s r e p u b l i k doch e r s t a u n l i c h hoch z u sein scheint: Es w i r d ü b e r
die
gleichen G r u n d w e r t e F r e i h e i t , G e r e c h t i g k e i t u n d S o l i d a r i t ä t d e b a t t i e r t , lediglich ihre Gewichtung untereinander
ist g r a d u e l l verschieden,
je
nachdem, ob es sich u m einen n a t u r r e c h t l i c h e n , christlichen, h u m a n i s t i schen
oder
demokratisch-sozialistischen
Begründungszusammenhang
h a n d e l t 8 3 ; L i n k s - u n d R e c h t s e x t r e m i s m u s h a l t e n sich u n t e r e i n e m P r o zent, das P a r t e i e n s y s t e m ist — b i s l a n g — e r s t a u n l i c h k o n s t a n t geblieben, v o n 72 «/o (1949) ü b e r 96 °/o (1965) k o n n t e n die d r e i großen P a r t e i e n C D U / CSU, S P D u n d F D P b e i der B u n d e s t a g s w a h l 1976 99 Vo u n d b e i der B u n d e s t a g s w a h l 1980 98 Richtungsbestimmung . , ~ j -,χ « soziale Grundrechte
(.Sozialstaaf
positiv
»Staat4 — Gesellschaft heitsrechte)
Konsenschance
Interpretation
»beredtes Schweigen4
Verfassung: Organisationsstatut
ι *
positiv: gesellschaftliche Selbstregulierung und staatliche Garantie
Gesellschaftliche (Grund- und Frei(Grund- und FreiAusgrenzung heitsrechte)
— negatorisch
material-inhaltliche Sachprinzipien
material-inhaltliche Sachprinzipien
— negatorisch
prozedurale Formprinzipien
prozedurale Formprinzipien
Regelungsbereich
»Staats'organisation
Struktur
S ο ζ i al s t a a tl iche
Struktur
Verfassung
Regelungsbereich
Formal-rechtsstaatliche
Schaubild: Strukturwandel und Konsenschance der Verfassung
I I . Die Verfassung als Konsensprinzip 371
372
5. Kap.: Konsensfunktion u n d Konsenschance der Verfassung
politischen System mehr Verantwortung und Leistungen abverlangt werden, als es aufgrund seiner nur begrenzten Verfügungsmacht über Eigentumspositionen und Ressourcen auf sich nehmen und geben kann. Denn die Verfassung des Sozialstaates gibt nicht nur die Richtung sozialen, ordnenden und verteilenden Handelns an, sondern sie zieht — als immer auch noch rechtsstaatliche Verfassung — auch Grenzen. c) Möglichkeiten
von Sozialnormierungen
So hängen Konsenschance und Konsensfähigkeit der Verfassung entscheidend von Form und Charakter normativer Verankerung der positiven, sozialgestaltenden Sachprinzipien ab. Die Grundlagen der vom politischen System sicherzustellenden sozialen Ordnung können einmal i n die Form traditioneller Grundrechtsgarantien gekleidet sein. Sind diese von ihrem Ursprung her jedoch als individuelle Schutzrechte auf die Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtet, so bedürfen sie zu ihrer sozialstaatlichen Aktivierung einer auch sozialstaatlichen Deutung. Durch diese Uminterpretation von Grundrechten wie Eigentum, Berufsund Gewerbefreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit ist der Streit u m die richtige Auslegung vorprogrammiert. Nicht selten ist von einer Umfunktionierung ehedem klassisch-liberaler, einklagbarer — also justitiabler — Abwehrrechte zu „uneinlösbaren Versprechen" die Rede, wobei die unerfüllte und unerfüllbare Verfassung zum „Rechtstitel für Revolutionäre" werde 5 3 . Der Streit u m das Grundgesetz und die Verunsicherung i n der Grundrechtsauslegung sind hier Beispiele 54 . Denn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kleidet die Aussagen über die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung i n traditionellrechtsstaatlicher Form i n das Gewand grundrechtlicher Freiheiten. Einzig die allgemeine Wendung vom Sozialstaat steht dem „als ein Mittel der Auslegung und Balancierung gegenüber. Es hängt hiermit zusammen, daß sich daher heute i n der Bundesrepublik die Auseinandersetzung u m die Grundorientierung, die der Rahmen der Verfassung gewährt, auch i n einer Kontroverse u m das Verständnis der Grundrechte abspielt" 5 5 . 53 Vgl. etwa Josef Isensee, Wo etwas fehlt, h i l f t ein „Grundrecht a u f . . . " , i n : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 118, 22.5.1980, S. 11 als erweiterte Fassung: ders., Verfassung ohne soziale Grundrechte. E i n Wesenszug des Grundgesetzes, i n : Der Staat, Bd. 19, 1980, H. 3, S. 365 ff. m i t weiteren Nachweisen (Anm. 11); ähnlich ders., Verfassung ohne Ernstfall, S. 10 ff. 54 Vgl. Scheuner, Die F u n k t i o n der Verfassung, S. 128 f.; ders., Das G r u n d gesetz i n der Entwicklung zweier Jahrzehnte, i n : AöR, Bd. 95, 1970, S. 401; Vorländer, Identität des Grundgesetzes, S. 319. 55 Scheuner, Die F u n k t i o n der Verfassung, S. 128. — Daneben lassen sich soziale u n d wirtschaftliche Grundprinzipien u n d Zielsetzungen auch der durch A r t . 109 Abs. 4 GG eingeführten Aufgabe der Erhaltung eines „gesamt-
I I . Die Verfassung als Konsensprinzip
373
T r a d i t i o n e l l e G r u n d r e c h t s v e r b ü r g u n g e n e i g n e n sich also n u r b e d i n g t als S o z i a l n o r m i e r u n g , v o n i h r e m U r s p r u n g h e r gar n i c h t , e i n z i g ü b e r F o r m e n s t i l l e n Verfassungswandels a u f d e m Wege j u r i s t i s c h e r
Inter-
p r e t a t i o n . A l s m ö g l i c h e S o z i a l n o r m i e r u n g e n d e r sozialstaatlichen V e r fassung k o m m e n f e r n e r die a l l g e m e i n e F o r m e l v o m Sozialstaat ( A r t . 20, 28 GG), a l l g e m e i n e Staatsziele u n d G r u n d p r i n z i p i e n (Bsp.: A r t . 109 GG) sowie z i e l o r i e n t i e r t e B e s t i m m u n g e n v o n K o m p e t e n z e n i m B e r e i c h d e r Wirtschafts- u n d Sozialpolitik i n Betracht 56. D i e andere F o r m n o r m a t i v e r V e r a n k e r u n g sozialstaatlicher
Gestal-
t u n g s p r i n z i p i e n besteht d a r i n , P r i n z i p i e n w i r t s c h a f t l i c h e r u n d sozialer O r d n u n g e x p l i z i t als n o r m i e r t e B e s t a n d t e i l e i n n o r m a t i v e n Verfassungsr a n g z u erheben. W e g w e i s e n d ist h i e r d e r V e r f a s s u n g s e n t w u r f d e r E x p e r t e n k o m m i s s i o n f ü r die V o r b e r e i t u n g e i n e r T o t a l r e v i s i o n der schweizerischen Bundesverfassung. I n i h m w e r d e n Sozialrechte, staatsleitende Grundsätze z u r S o z i a l o r d n u n g , E i g e n t u m s p o l i t i k , W i r t s c h a f t s p o l i t i k u n d K u l t u r p o l i t i k i n Verfassungsrang
erhoben57.
wirtschaftlichen Gleichgewichts" sowie den zielgerichteten bundesstaatlichen Kompetenzbestimmungen des A r t . 74 GG entnehmen (Bsp.: Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Kartellaufsicht, Förderung der landwirtschaftlichen Erzeugung, Sicherung der Krankenhäuser, Wirtschaftslenkung). Vgl. diesbezüglich den — etwas i n Vergessenheit geratenen — entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang des Sozialstaatsgrundsatzes des Grundgesetzes m i t den Grundrechten, Gesetzesvorbehalten u n d Gesetzgebungszuständigkeiten, der wesentlich die wirtschafts- u n d gesellschaftspolitische Offenheit des Grundgesetzes konstituiert (zur Offenheit unter 3.); vgl. Hartwich, Sozialstaatspostulat u n d gesellschaftlicher status quo, S. 45 ff. u n d Karlheinz Niclauß, Demokratiegründung i n Westdeutschland. Die Entstehung der Bundesrepublik von 1945—1949, München 1974, S. 184 ff. — Ähnliche F u n k t i o n w i e die Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes haben die sog. Wirtschaftsartikel der geltenden schweizerischen Bundesverfassung. Sie w u r d e n 1947 aufgenommen (vgl. bes. A r t . 31—33, 34ter). 56
Vgl. die vorige A n m . Vgl. den Verfassungsentwurf (1977) der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, bes. das 4. K a p i t e l („Sozialordnung, Eigentumspolitik, Wirtschaftspolitik") u n d das 5. K a p i t e l ( „ K u l t u r p o l i t i k " ) . Die staatsleitenden Grundsätze betreffen kollektive A r beitsbeziehungen (Art. 28), Ordnung des Unternehmens (Art. 29), Eigentumsp o l i t i k (Art. 30), Wirtschaftspolitik (Art. 31), Wettbewerb (Art. 32), Schutz der Konsumenten (Art. 33), Wirtschaftstätigkeit des Staates, Verstaatlichung (Art. 34) u n d Steuerpolitik (Art. 35). A r t . 26 lautet: „ A r t . 26 Sozialrechte 1 Der Staat t r i f f t Vorkehren, a. damit jedermann sich nach seinen Fähigkeiten u n d Neigungen weiterbilden kann; b. damit jedermann seinen Unterhalt durch A r b e i t zu angemessenen Bedingungen bestreiten kann, u n d damit jeder Arbeitnehmer vor einem ungerechtfertigten Verlust seines Arbeitsplatzes geschützt ist; c. damit jedermann an der sozialen Sicherheit teilhat u n d besonders gegen die Folgen von Alter, Invalidität, K r a n k h e i t , Arbeitslosigkeit oder Verlust des Versorgers gesichert ist; d. damit jedermann die f ü r seine Existenz unerläßlichen M i t t e l erhält; 57
374
5. Kap.: Konsensfunktion u n d Konsenschance der Verfassung
Prima facie stehen sich damit zwei mögliche Konzeptionen der Normierung sozialgestalterischer Sachprinzipien gegenüber, die beide gleichermaßen, und zwar wesentlich, die Konsenschance der Verfassung zu beeinträchtigen scheinen. Die Beibehaltung traditioneller Grundrechtskonzeptionen w i r d erstens dem sozialstaatlichen Bedürfnis nach Festlegung richtungsbestimmender Prinzipien der sozialen Ordnung und Gestaltung nicht gerecht, und sie ist zweitens durch die sozialstaatlich notwendige Uminterpretation ständig der Gegenstand von Streitigkeiten u m die Auslegung der Verfassung. Die explizite Normierung des Sozialen i n der Verfassung nähert sich i n der Konsequenz der Konzipierung eines Sozialprogramms von Verfassungs wegen an, dessen streitige Interpretation und partikulare Okkupation zwecks politischer Vorteilsnahme i m Endeffekt die Konsenschance ebenso gefährdet wie die nachträgliche kontroverse interpretatorische Sozialstaatsadaption von rechtsstaatlich-liberalen Grundrechten. Wie aber läßt sich dann, trotz und gerade wegen des Bedürfnisses und der Notwendigkeit, eine Rahmenfestlegung über die Prinzipien der sozialen Ordnung zu erreichen, der — wie es Scheuner bezeichnet, ohne aber diese entscheidende Frage zu stellen — „dauerhafte Grundkonsens der Bürger" begründen und „ i n seiner integrierenden Funktion" festhalten 58 ? Das Ei des Kolumbus ist hier nicht zu finden. Durch die materiale Anreicherung durch positiv-sozialgestaltende Prinzipien w i r d die Verfassung allemal streitiger, die Zeit der rechtsstaatlich-liberalen Verfassung, die sich ihre Konsenschance durch das beredte Schweigen über gesellschaftliche und wirtschaftliche Grundlagen sicherte, ist vorüber. Gleichwohl kommt es für die sozialstaatliche Verfassung darauf an, soviel allgemeine — nicht partielle — Zustimmung zu erlangen wie möglich, um ihre Durchsetzungschance nicht leichtfertig auf Spiel zu setzen. Die schon i n der soziologischen Erörterung des Zusammenhangs von inhaltlicher Strukturierung und Konsensfähigkeit des ordnungspolitischen Konsensbereiches herausgestellten Erkenntnisse führen hier weiter 5 9 . Es wurde dort erkannt, daß die positive Sozialsetzungen beinhaltende Verfassung nur so viel und so spezifizierte Sozialnormierungen wie nötig und so wenig und so abstrakte Sozialnormierungen wie möglich vorgeben darf, u m konsensual gültig zu sein — angesichts pluralistischer Grunddaten und demokratisch-politischer Erfordernisse. Offenheit der Normierung und Offenheit für die demokratisch-prozessuale Konkretisierung und „Verwirklichung" programmatisch-appellativer e. damit jedermann eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden kann, und der Mieter vor Mißbräuchen geschützt ist. 2 Der Staat schützt die Familie u n d die Mutterschaft." 58 Vgl. A n m . 6. 5» Vgl. oben 3. Kap. V I I .
I I . Die Verfassung als Konsensprinzip
375
Sozialvorgaben sind die Erfordernisse allgemeiner Geltung und der Beachtung der Leistungsgrenzen der Verfassung. Pluralität und Offenheit ist Bestandteil der Ordnungsfunktion. 3. Offene Normstruktur, pluralistische Gesellschaft und demokratisch-politischer Prozeß
a) Abstrakt-generelle Norm und der Charakter sozialer Grundrechte Offenheit auf normativer Verfassungsebene heißt einmal die offene, abstrakte Normstruktur von positiven Sozialnormierungen und zum anderen die Kompromißstruktur des Normgefüges. Beides sind Erfordernisse zur Wahrung der Konsenschance der Verfassung der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie. Genauso wie ein wertrationaler Konsens nur bei relativ abstrakten und auslegungsfähigen und -bedürftigen, aber Identifikationsmöglichkeiten eröffnenden Werten möglich ist, genauso ist konsensuale Geltung von Sozialnormierungen nur möglich, wenn diese abstrakt und offen i n dem Sinne sind, daß sie keine unmittelbaren, einklagbaren Rechtsansprüche darstellen. Soziale Grundrechte wie die Rechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheit und Umwelt — wie sie verfassungspolitisch diskutiert werden 6 0 — desavouieren sich und die Verfassung, wenn sie als subjektive Ansprüche auf einen bestimmten Arbeitsplatz, auf körperliches Wohlbefinden, auf eine bestimmte Wohnung etc. verstanden werden. Denn soziale Rechte stehen — ob man das w i l l oder nicht — unter dem Vorbehalt des Möglichen. Der „Staat" kann nur dann einen Studienplatz zur Verfügung stellen, wenn er über die notwendigen — und aufgrund seiner nur begrenzten wirtschaftlichen Verfügungsmacht auch nur begrenzten — Haushaltsmittel verfügt 6 1 . Ob er Gelder umverteilt oder Titel umwidmet, kann 60 Vgl. etwa zuletzt den 5. Rechtspolitischen Kongreß der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands v. 29.2.—2.3.1980 i n Saarbrücken unter dem Thema „ V o n der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung"; dazu den Bericht i n : ZRP, 13. Jg. (1980), H. 5, S. 125 f.; vgl. auch die kontroversen wissenschaftlichen Beiträge von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Was nützen soziale G r u n d rechte?, i n : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 49, 27.2.1980, S. 11 u n d Isensee, Wo etwas fehlt, h i l f t ein „Grundrecht a u f . . . " . A u f diese beiden Beiträge w i r d i m folgenden Bezug genommen. Vgl. auch die „Sozialrechte" des schweizerischen Verfassungsentwurfes (Anm. 57). 61 Vgl. schon A n m . 40. — Das Dilemma von sozialen Grundrechten, die als einklagbare Individualansprüche auf staatliche Leistungen verstanden w e r den, spiegelt das Numerus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 33, 303 ff., 330 ff., 332) wider. Z w a r w i r d ein individuelles A n spruchsrecht aus einer sozialstaatlich begriffenen Freiheit des Hochschulzuganges — bei bestehenden Kapazitäten — i n Verbindung m i t dem Prinzip der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) u n d der faktischen Monopolstellung des Staates bei der Vergabe von Studienplätzen entwickelt, dann aber w e r den Teilhaberechte, die nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene be-
376
5. Kap.: Konsensfunktion u n d Konsenschance der Verfassung
die V e r f a s s u n g indes n i c h t a n t i z i p i e r e n , sondern ist n u r d e m o k r a t i s c h p o l i t i s c h u n d prozessual z u entscheiden. Z u m anderen k a n n das soziale G r u n d r e c h t auch n u r deshalb , a b s t r a k t ' u n d n i c h t k o n k r e t sein, w e i l angesichts v o n Interessen- u n d W e r t e p l u ralität i m m e r konkurrierende Vorstellungen über „ A r b e i t " ,
„Umwelt",
„ G e s u n d h e i t " , „ W o h n u n g " m ö g l i c h sind. Daß sich h i n t e r d e m F o r m e l konsens des Rechts auf A r b e i t e i n Sachdissens v e r s t e c k t 6 2 , ist n a t ü r l i c h u n d w e g e n der H e t e r o g e n i t ä t v o n W e r t v o r s t e l l u n g e n ü b e r die r i c h t i g e Sozial- u n d W i r t s c h a f t s p o l i t i k auch anzunehmen. D e s h a l b die V e r a n k e r u n g sozialer G r u n d r e c h t e abzulehnen, w ü r d e bedeuten, das E r f o r d e r nis der sozialstaatlichen R i c h t u n g s b e s t i m m u n g z u v e r k e n n e n — u n d erscheint a l l e i n v e r s t ä n d l i c h a u f der G r u n d l a g e eines s t r e n g rechtsstaatl i c h e n Verfassungsverständnisses,
das n u r s u b j e k t i v e i n k l a g b a r e , also
justitiable u n d konkrete Grund-, Freiheits- u n d Abwehrrechte
kennt63.
V e r k a n n t w i r d d a m i t auch die g e w a n d e l t e N o r m q u a l i t ä t . D i e rechtsstaatliche V e r f a s s u n g k e n n t n u r R e c h t s n o r m e n m i t S t r e i t e n t s c h e i d u n g s f u n k t i o n . D i e sozialstaatliche V e r f a s s u n g setzt indes m i t i h r e n p o s i t i v e n m a t e r i a l - i n h a l t l i c h e n G e l t u n g s p r i n z i p i e n — genauso w i e die sozialen G r u n d r e c h t e auch — r i c h t u n g s b e s t i m m e n d e R a h m e n n o r m e n f ü r sozialstaatliches H a n d e l n , die sich v o n den j u r i s t i s c h - h a n d h a b b a r e n s u b s u m t i o n s f ä h i g e n klassischen G r u n d r e c h t e n d a d u r c h unterscheiden, schränkt sind, unter den „Vorbehalt des Möglichen" gestellt. Böckenförde w i l l diesen Teilhabeanspruch auf einen objektiven sozialstaatlichen Verfassungsauftrag zurücknehmen, der nur bei „evidenter Verletzung" verfassungsrechtliche Konsequenzen (bspw. subjektivrechtliche Abwehransprüche betroffener einzelner gegen eine Untätigkeit, grobe Vernachlässigung oder einen ersatzlosen Abbau getroffener Maßnahmen bei der V o l l f ü h r u n g des Verfassungsauftrags) nach sich zieht; er stehe unter dem „Vorbehalt des Möglichen", u n d das Mögliche habe i n erster L i n i e der Gesetzgeber i n eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung anderer Gemeinschaftsbelange zu beurteilen (vgl. Böckenförde, Was nützen soziale Grundrechte? und dazu Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte, S. 378 ff., 381 ff.) — Damit ist zweierlei festzuhalten: 1. Soziale Grundrechte können nur objektive Aufträge an den Gesetzgeber darstellen. 2. Sozialpolitik kann letztlich nur demokratisch-prozessual, nicht justiz- und richterstaatlich gemacht werden. 62 Dies das Hauptbedenken bei Isensee, Wo etwas fehlt, h i l f t ein „ G r u n d recht a u f . . . " . Gerade darin, daß heterogene Vorstellungen auch über Verfassungsinhalte bestehen können, erweist sich die Freiheitlichkeit u n d P l u r a l i t ä t eines demokratischen Systems. Die sozialstaatliche Verfassung ist nicht i n sich abgeschlossen. Auch läßt sich ein bestimmter (Sozial-) Sinn nicht dekretieren. D a r i n unterscheidet sich die sozial- u n d rechtsstaatliche Verfassung v o m v e r bindlichen Sozialprogramm der Verfassung sozialistischer Gesetzlichkeit. 63 So i m Ergebnis Isensee, Wo etwas fehlt, h i l f t ein „Grundrecht a u f . . . " , der einerseits konzediert, daß soziale Grundrechte „nach pragmatischem, systemimmanentem Verständnis" n u r objektiv-rechtliche Aufträge an den Gesetzgeber enthalten, der andererseits dabei aber doch die Prämisse eines subjektiven öffentlichen Rechts setzt, u m die „Wechselreiterei sozialer G r u n d rechte" bloßzustellen.
I I . Die Verfassung als Konsensprinzip
377
daß sie nicht direkt durchsetzbar sind, sondern programmatisch-offen und der gesetzgeberischen Konkretisierung bedürftig sind. Verfassungsnormen ziehen hier den staatlichen Entscheidungsinstanzen einen Rahmen, der die staatliche Entscheidungslast reduziert und selektiert, angesichts der Komplexität der modernen Gesellschaft (Luhmann) eine an Bedeutung zunehmende Funktion von Rechtsnormen 64 . Zugleich w i r ken sie für Bürger und Staat verhaltensorientierend 65 , und aufgrund ihrer unbestimmten Weite integrierend, weil das Sinnvariable eine Vielzahl von Erwartungen auf sich zu nehmen vermag 6 6 . Die Offenheit der Sozialnormierung (und der sozialen Grundrechte) erweist sich somit nicht als Verfassungsdefekt, sondern als die Konsenschance der sozialstaatlichen Verfassung schlechthin. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es sinnvoller und redlicher, soziale Grundrechte i n die Verfassung einzubauen, als mittels interpretatorischer Drahtseilakte klassisch-individuelle Abwehrrechte umzufunktionieren. Letztere werden ihrer individuellen rechtlichen Schutzfunktion besser gerecht, wenn sie von Sozialgewährungen deutlich getrennt werden, wie das auch der schweizerische Verfassungsentwurf t u t 6 7 . Diese begründen objektivrechtliche, an staatliche Organe i n Gesetzgebung und Verwaltung adressierte Verpflichtungen zur V e r w i r k lichung des i n dem Auftrag formulierten Ziels oder Programms. Weg, Ausmaß und Modalitäten der Verwirklichung jedoch sind dem politischen Ermessen der handelnden Organe und damit dem demokratischpolitischen Prozeß anheimgestellt 68 . Die Verfassung w i r d nicht überfordert. Es gilt, die normative Offenheit aufrechtzuerhalten. Dies ist ein verfassungspädagogisches Gebot zur Bewahrung der Konsensfähigkeit der sozialstaatlichen Verfassung. 64 Vgl. oben 3. Kap. I I I . ; Grimm, Verfassungsfunktion, S. 367; Böckenförde, Was nützen soziale Grundrechte; vgl. generell Axel Görlitz, Politische F u n k tionen des Rechts, Wiesbaden 1976, S. 31 ff. 65 Vgl. schon oben A n m . 103 (1. Kap.). ββ So auch Josef Isensee, Ethische Grundwerte i m freiheitlichen Staat, i n : Ansgar Paus (Hrsg.), Werte, Rechte, Normen. Kevelaer, Graz, Wien, K ö l n o. J. (1979), S. 142 (in bezug auf Begriffe w i e „Menschenwürde", „Gleichheit", „Freiheit", „soziale Gerechtigkeit", „Demokratie" — anders jedoch i n ders., Wo etwas fehlt, h i l f t ein „Grundrecht auf . . . " , i n bezug auf soziale G r u n d rechte, wo er die Integrations Wirkung geringer als die „Gefahr des Rechtst i t e l (s) f ü r Revolutionäre" einschätzt). 67 Die klassischen G r u n d - u n d Freiheitsrechte befinden sich i m 3. Kapitel, Sozialrechte i m 4. Kapitel. Abwehrrechte bleiben Abwehrrechte u n d der u n terschiedliche Normcharakter (hier subjektiv einklagbar, dort objektivrechtlicher A u f t r a g [„Der Staat t r i f f t Vorkehrungen"]), bleibt erhalten u n d w i r d nach außen h i n sichtbar. Deshalb ist diese Lösung »sauberer 4, juristisch besser handhabbar u n d i n der Unterscheidung f ü r die Erwartungshaltung von B ü r ger u n d Politiker an Staat u n d Verfassung dienlicher, w e i l aufklärender. «8 Vgl. A n m . 61.
378
5. Kap.: Konsensfunktion u n d Konsenschance der Verfassung b) Kompromißstruktur pluralistische
Interessen-
von Normen und
und
Werteheterogenität
Genauso w i e die R e d u z i e r u n g k o m p l e x e r Entscheidungslast i n sich d e n V e r w e i s a u f andere M ö g l i c h k e i t e n o f f e n h ä l t („offene I d e n t i t ä t " ) u n d diese O f f e n h e i t u m der Konsenschance w i l l e n o f f e n g e h a l t e n w e r d e n m u ß , m u ß die O f f e n h e i t a u f der Ebene der V e r f a s s u n g s n o r m a t i v i t ä t auch d o r t e r h a l t e n w e r d e n — u n d n u r v o n F a l l z u F a l l p o l i t i s c h prozessual u n d d e m o k r a t i s c h i n die eine oder andere R i c h t u n g e n t schieden w e r d e n — , w o d i e N o r m s t r u k t u r W e r t w i d e r s p r ü c h e ( W e r t k o n k u r r e n z e n u n d Wertgegensätze) a u f w e i s t , die a u f K o m p r o m i ß b i l d u n g e n i n der E n t s t e h u n g s z e i t der Verfassung, aber auch a u f h e t e r o gene W e r t v o r s t e l l u n g e n u n d Interessen des h i c et n u n c e x i s t i e r e n d e n Pluralismus zurückgehen (funktionelle Offenheit) 69. Verfassungskompromisse dieser A r t , die n i c h t n u r i m B e r e i c h der w i r t s c h a f t s - u n d sozialpolitischen G r u n d p r i n z i p i e n , s o n d e r n auch i m B e r e i c h d e r k l a s sischen A b w e h r r e c h t e a n z u t r e f f e n sind, s i n d l a b i l , w e i l sie e i n s e i t i g v o n e i n e r p o l i t i s c h e n G r u p p e u n t e r l a u f e n z u w e r d e n d r o h e n . Diese S p a n n u n g s l a g e n s i n d jedoch i m S i n n e eines verfassungspolitischen P r o g r a m m s der O f f e n h e i t z u e r h a l t e n 7 0 . 89 Hans-Peter Schneider 3 Die Verfassung, i n : AöR, Bd. 99, 1974, Beiheft 1, S. 77 ff. unterscheidet zwischen struktureller Offenheit (Lückenhaftigkeit u n d U n Vollständigkeit des Verfassungs text es), materieller Offenheit (inhaltliche Weite u n d Unbestimmtheit einzelner Verfassungsnormen) u n d funktioneller Offenheit (Heterogenität u n d Uneinheitlichkeit der Verfassung). 70 Das Grundgesetz selbst ist hier das beste Exempel. Sowohl von der Binnenstruktur als auch v o m politischen K o n t e x t der Entstehungszeit zeigt es Kompromisse u n d Offenheit sowohl i n wirtschafts- u n d gesellschaftspolitischer Hinsicht w i e auch i n bezug auf die Grundrechte — bei gleichzeitiger unverbrüchlicher Festlegung der Grundsätze demokratischer Ordnung (Unabänderbarkeit nach A r t . 79 Abs. 3 GG u n d die „streitbare Demokratie" der freiheitlich demokratischen Grundordnung [Art. 9, 18, 21 Abs. 2 GG]). Diese Wertbetonung demokratischer Ordnung w i r d ergänzt durch Sicherungsmechanismen der institutionellen K o n t i n u i t ä t des parlamentarischen Regierungssystems (Art. 62—69 GG), Grundrechtsschutz u n d Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) u n d die Verfassungsgerichtsbarkeit u n d ist so die verfassungspolitische Folgerung des Parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik u n d nationalsozialistischer D i k t a t u r (vgl. Friedrich Karl Fromme, V o n der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1960). M i t dieser rechtlichen Festlegung korreliert die politische Offenheit i m Bereich der k u l t u r e l l e n u n d sozialen „Lebensordnungen" (Carlo Schmid), die als Verfassung spolitische Kompromisse (Kirchen, Gewerkschaften) binnenstrukturelle Spannungen (Rechtsstaat — Sozialstaat; A r t . 14 Abs. 1 — A r t . 14 Abs. 2, 3; A r t . 14 Abs. 1 — A r t . 15), Grundrechtskollisionen (Art. 2 — A r t . 3) u n d ein verfassungspolitisches Programm der Offenheit bezeichnen (vgl. zu Konsensu n d Kompromißbereichen, zu rechtlicher Festlegung u n d politischer Offenheit die Studien zur Entstehung des Grundgesetzes u n d der Bundesrepublik: Niclauß, Demokratiegründung, S. 89 ff., 170 ff., 184 ff., 233 ff.; Werner Sörgel, Konsensus u n d Interessen, Stuttgart 1969, S. 55 ff., 89 ff.; Volker Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Bonn-Bad Godesberg 1971, S. 77 ff.; Hartwich, Sozialstaatspostulat, S. 49 ff.). — Gerade diese S t r u k t u r
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G e r a d e dieser Z u s a m m e n h a n g v o n O f f e n h e i t der N o r m s t r u k t u r , demokratisch-prozessualer Auflösung v o n Spannungslagen u n d Konsenschance d e r V e r f a s s u n g ist i n d e r V e r f a s s u n g s p r a x i s des p o l i t i s c h e n Systems d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d d u r c h d i e Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes n i c h t i m m e r beachtet w o r d e n , i n d e m die h a r m o n i s i e r e n d e u n d H o m o g e n i t ä t voraussetzende A r g u m e n t a t i o n s figur der „ o b j e k t i v e n W e r t o r d n u n g " e n t w i c k e l t w o r d e n i s t 7 1 , aber auch, i n d e m W e r t e n t s c h e i d u n g e n u n d - k o n k r e t i s i e r u n g e n ethischer K o n f l i k t f ä l l e des Gesetzgebers i m B e r e i c h d e r Strafrechtspflege (Beispiel: Schwangerschaftsabbruch) d u r c h W e r t e n t s c h e i d u n g e n des a m t l i c h e n V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t e n ersetzt w u r d e n 7 2 . A u c h die G r u n d w e r t e d e b a t t e 7 3 — u n d etwas anders gelagert, d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g u m die W e r t b e s t i m m t h e i t d e r f r e i h e i t l i c h - d e m o k r a t i s c h e n G r u n d o r d n u n g des G r u n d g e s e t z e s 7 4 — z i e l e n i n der K o n s e q u e n z a u f e i n v e r f a s s u n g s m ä ß i von rechtlicher Festlegung u n d politischer Offenheit des historischen Konsensprinzips des Grundgesetzes hat manchmal dazu verführt, die wertbestimmte Ordnung gegen den demokratisch-offenen politischen Prozeß geltend zu machen. Diese Befürchtung hatte schon Fromme, ebd., S. 180, nämlich, daß auf dem Wege einer angeblichen Sicherung der demokratischen Ordnung einm a l eine bestimmte Sozial- u n d Wirtschaftsordnung gesichert werden könnte. — Vgl. zum grundsätzlichen theoretischen Dilemma, vor dem n o r m a t i v institutionalisierte Konsensbereiche stehen, schon oben 3. Kap. V. 3. 71 Vgl. oben A n m . 92 (4. Kap.). 72 Die Grundrechtsspannung bestand hier zwischen Freiheitsrecht der M u t ter u n d dem Schutz ungeborenen Lebens — wobei gar nicht das Ziel (Schutz beider Güter), sondern einzig die Methode, also der Weg (Indikationslösung oder Fristenlösung) strittig war. Die W a h l der Methode aber muß — w e n n diese beide Schutzgüter gleich schützt bzw. beeinträchtigt u n d die Frage damit eine politisch-ethische Option w i r d — Sache des gesetzgeberischen Ermessens sein, d . h . der entscheidungsfähigen Mehrheit. K e i n Konsensoktroi, sondern prozessuale Konkretisierung u n d Ausgleichung von vorgegebenen G r u n d rechten u n d ihren möglichen Kollisionen! Vgl. zum Problem oben A n m . 5 (1. Kap.), 2. Kap. V. 3, A n m . 362 (2. Kap.), A n m . 96 (3. Kap.). 73 V g l oben 2. Kap. V. 3, „Grundwerte sind verfassungswidrig" — so zugespitzt Christian Graf von Krockow, E t h i k u n d Demokratie, i n : Aus P o l i t i k und Zeitgeschichte, 349/1979, S. 5. So pauschal w i r d aber verkannt, daß Recht und E t h i k nahe beieinanderliegen. Das virulent gewordene Problem ist doch nicht, daß i n Grundrechten Werte enthalten sind, das Problem ist, daß sie justizstaatlich verbindlich gemacht u n d nicht demokratisch-prozessual k o n kretisiert u n d „ v e r w i r k l i c h t " werden: „Nicht die Werte, sondern verbindlich gemachte Werthierarchien sind der Freiheit u n d der Neutralität gefährlich" (Klaus Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 264; vgl. schon A n m . 92 [4. Kap.]). 74 Überall dort, wo die „freiheitliche demokratische Grundordnung" offensiv zur Verteidigung eigener inhaltlich-politischer Positionen gegen alternative Vorstellungen u n d nicht als defensives Streitbarkeitsprinzip zum Schutz der demokratischen Ordnung u n d des demokratischen Prozesses ins Feld gef ü h r t w i r d , w i r d aus der rahmenmäßigen Einbindung des politischen Prozesses seine Verengung. Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Johannes Lameyer, Streitbare Demokratie, B e r l i n 1978; zu „Verfassungstreue u n d Schutz der Verfassung" Erhard Denninger, i n : V V D S t R L 37 (1979), S. 8 ff. sowie zum Verhältnis von verfassungsrechtlichen Werten u n d freiem demo-
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ges Wertsystem bzw. einen grundrechtsinkorporierten Wertekatalog, die beide die Konsensmöglichkeit offener Verfassungskompromisse, die wegen ihrer Sinnvariabilität die Identifikation von konfligierenden pluralistischen Interessen und Wertvorstellungen ermöglichen, auf dem Wege der Inthronisierung einer bestimmten Werteauffassung von Verfassungs wegen beschneiden oder gar gänzlich abschneiden. Gleiches gilt für wiederholte Versuche, bestimmte Wirtschaftsordnungen als grundgesetzinkorporiert auszugeben 75 . Die Verfassung aber ist dann nicht mehr das Konsensprinzip aller, sondern die Wertefibel — oder Wertebibel — einiger. U m den Zusammenhang von Strukturoffenheit und Konsenschance i n bezug auf diese i n der verfassungspolitischen Diskussion der Bundesrepublik so umstritten gewesenen — und zum Teil immer noch umstrittenen — Gegenstände noch einmal pointiert zusammenzufassen: I n einer interessen- und wertebezogenen (Gruppen, Verbände, öffentliche Meinung) Gesellschaft hat nur die Verfassung eine Konsenschance, die ihre Offenheit und ihren Kompromißcharakter bewahrt. Die geschlossene, einheitliche Verfassung „aus einem Guß" kann nur konsentiert und/oder dissentiert werden. Die politische Einzelentscheidung ist bereits durch die Verfassung getroffen, Politik ist Verfassungsvollzug. Hingegen vertagt die offene, kompromißhaltige und kompromißbewußte Verfassung die politische Entscheidung auf den politischen Prozeß. Dort w i r d ein demokratischer Wille gebildet und eine demokratisch legitimierte Entscheidung gefällt — die auch auf demokratisch-prozessualem Wege revozierbar ist. Hingegen ist die politische Dezision qua constitutione, gefällt durch den Verfassungsinterpreten, von sehr viel größerer Statik, der Disposition durch den Gesetzgeber auf Zeit bzw. ständig entzogen. Es muß dann konsensbeeinträchtigend und legitimationserschütternd für Verfassung und politisches System wirken, wenn offenkundig offene, kompromißhafte Verfassungsbestimmungen durch juristische Auslegung harmonisierend hinwegdisputiert werden 7 6 . Spankratischen Prozeß Vorländer, Identität des Grundgesetzes, S. 319 ff.; vgl. ferner A n m . 70 u n d oben A n m . 247 (2. Kap.), A n m . 156 (4. Kap.). 75 Vgl. oben A n m . 63 (1. Kap.), 2. Kap. V. 2 a, bb (von politischer Seite der Versuch, das System der Marktwirtschaft grundgesetzlich zu verankern), 4. Kap. I I . 2 a (von wissenschaftlicher Seite der Versuch, aus A r t . 15 GG eine sozialistische Verfassungsordnung abzuleiten). Schon früher die Gleichsetzung von Hans Carl Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft u n d Grundgesetz, 2. Aufl., K ö l n u. a. 1961, politisch oft kopiert, wissenschaftlich u n d v o m Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 4, 7 ff., 18 — Investitionshilfe-Urteil; BVerfGE 50, 290 — Mitbestimmungsurteil: dezidiert gegen eine wirtschaftsordnungspolitische Ausdeutung der Grundrechte) zurückgewiesen. 76 F ü r die Aufrechterhaltung von Spannungsmomenten auch Detlef Göldner, Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1977, S. 26 ff., 53 ff. Vgl. auch Ludwig Raiser, Krise der Demokratie?, i n : M a x Güde / L u d w i g Raiser / H e l m u t Simon / Carl-Friedrich von Weizsäcker,
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nungen und Antinomien i n der Verfassung sind Ausdruck fortbestehender Divergenzen i n Wertvorstellungen und Interessenlagen der heterogen strukturierten Gesellschaft. Diese divergierenden Werte und Interessen als legitime pluralistische Grunddata erledigen sich nicht durch die Behauptung der „Einheit der Verfassung" i m Interpretationsprozeß 77 . Diese ist zu Recht regulativer, d. h. leitender Gesichtspunkt bei der Interpretation, u m nicht Spannungsteile gegeneinander auszuspielen 7 8 , doch kommt die Interpretation über die tatsächlich bestehenden pluralistisch unterschiedlichen Interessen nicht hinweg. Denn Antinomien und Spannungen i n der Verfassung sind Spiegelbilder unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Interessen — weshalb sich diese Spannungen ohne verfassungsmäßigen Konsensverlust und Legitimationsentzug nur fallweise i m geschichtlichen Vollzug durch politische Entscheidungen durch und i m demokratischen Prozeß „überwinden" lassen. Und nicht zuletzt bezeichnen Spannungen und Kompromisse immer auch gesellschaftliche Möglichkeiten und A l ternativen, deren Vorhandensein die prozessual politische Bewältigung sozialen Wandels ermöglicht. Politische Innovation verträgt keine verfassungsmäßige Versteinerung 79 . c) Beachtung von Offenheit und Leistungsgrenzen der Verfassung — Postulate demokratischer Verfassungskultur I n der Offenheit der Normstruktur besteht also die Konsenschance der Verfassung der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie. Zugleich sind damit auch die Leistungsgrenzen der Verfassung bezeichnet. Die Verfassung ist zwar der verbindliche Rahmen, innerhalb dessen sich die Gesellschaft prozessual entwickeln kann. Durch ihre Offenheit aber ist sie nicht diese Entwicklung selbst. Sie gibt dem politischen Prozeß M i t t e l und Ziele vor, sie ist aber nicht der politische Prozeß selbst. Sie macht dem Sozialstaat inhaltliche Vorgaben, sie ist aber nicht der Sozialstaat selbst. Sie eröffnet durch ihre Grundrechts- und Freiheitsnormen die Chance gesellschaftlicher Pluralität, sie ist aber nicht Zur Verfassung unserer Demokratie. V i e r republikanische Reden, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 53: „Die Spannungen zwischen den Freiheitsrechten u n d dem Gleichbehandlungsgebot, zwischen Individualgrundrechten u n d Sozialstaatsprinzip, zwischen den beiden Eigentumskonzeptionen der A r t i k e l 14 u n d 15 des Grundgesetzes sind durch keine harmonisierende Auslegung hinwegzudisputieren." 77 So aber gerade m i t Blick auf eine „widerspruchsfreie Wertordnung" Otto Kimminich, Die Grundwerte i m demokratischen Rechtsstaat, i n : ZfP, 24. Jg. (1977), H. 1, S. 7. 78 Vgl. so Hesse, Grundzüge, S. 12, 28 f. 79 Vgl. nochmals 3. Kap. V I . 5 (Etzioni) sowie die grundlegenden Ergebnisse i m 3. K a p i t e l (VII.).
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diese Pluralität selbst. Die programmatische Offenheit (Sozialstaat, soziale Grundrechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit etc.) verweist auf den demokratisch-politischen Prozeß. Die materielle Offenheit zeigt an, daß bestimmte Lebensbereiche entweder überhaupt nicht oder nur teilweise i n der Verfassung geregelt sind, w e i l die Verfassung — erstens — nicht jedwede politische und gesellschaftliche Eventualität antizipieren k a n n 8 0 und weil sie — zweitens — bewußt die konkrete Ausgestaltung dem politischen Prozeß überantwortet. Der tatsächliche gesellschaftliche und politische Regelungsbedarf ist also immer größer als die mögliche und wünschbare normative Regelungsweite der Verfassung. Genauso wie auch der tatsächliche Problemvorrat immer größer ist als der mögliche und wünschbare Problemhaushalt der Verfassung. Von der Verfassung deshalb die Lösung tatsächlicher Probleme zu erwarten, ist eine Fehlannahme. Und es ist ein Trugschluß zu meinen, die Offenheit der Verfassung sei ein Makel, der durch Eindeutung von parteilicher Programmatik und partikularen Interessen zu beheben sei. Der Trugschluß ist ein doppelter: Zum einen ist die vermeintlich politische Vorteilsnahme i n Wirklichkeit der Nachweis mangelnder politischer Uberzeugungs- und Durchsetzungskraft. Die Flucht i n die Verfassung täuscht über die Legitimationsgrundlage des politischen Interesses. Zum anderen führt die Verlagerung politischer Konfliktgegenstände auf Verfassungsebene zum Verlust der Konsensfunktion der Verfassung. Diese aber ist Voraussetzung konfligierender demokratisch-politischer Auseinandersetzung. Weil die Verfassung der pluralistischen und sozialstaatlichen Demokratie material-inhaltliche Prinzipien über die positive Gestaltung sozialer Ordnung enthält und sie zugleich zu ihrer Geltung auf den Konsens der Träger pluralistisch-heterogener Interessen und Wertvorstellungen angewiesen ist, w i r d die Verfassung als ganze streitiger. Kassandrarufe sind hier fehl am Platze. Sie verkennen schon i m Ansatz den Konfliktcharakter demokratisch-pluralistischer Auseinandersetzung u m die sozialen und politischen Ordnungsprinzipien der Demokratie. Wie streitig die Verfassung jedoch wird, hängt weniger von ihrer gewandelten, materialisierten Struktur ab als von der Beschaffenheit der politischen K u l t u r , i n die sie hineingestellt ist. Werden politische Interessenkonflikte frei und offen als solche anerkannt und ausgetragen, und werden konfligierende Interessen auf dem Wege politischer Auseinandersetzung demokratisch integriert, so ist die sozialstaatliche und pluralistische Verfassung vor Mißbrauch sicher. W i r d hingegen die politi80 Die Verfassung k a n n eben nicht — w e n n sie allgemein anerkannt sein w i l l — die „ F u n k t i o n eines politischen Grundbuchs" einnehmen. Vgl. Wilhelm Hennis , Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, i n : Friedrich (Hrsg.), V e r fassung, S. 245.
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sehe Auseinandersetzung durch die Verfassung hindurch geführt und das eigene politische Interesse als das der Verfassung reklamiert, so erfährt die Verfassung zwar eine nominelle Aufwertung, aber keine normative Anerkennung. Die willkürliche politische Interpretation und Indienstnahme der Verfassung ist eine Verfassungsunkultur, die i n der Verfassung das zu vereinnahmende politische Über-Ich sieht, das die Verfassung nur u m den Preis der Aufgabe von Befriedungs- und Konsensfunktion verkörpern kann. Die Verfassung ist auch nicht der „Versuch des Volkes, sein besseres Ich gegen sich selbst darzustellen und durchzusetzen" (Herbert Krüger) 8 1 . Dazu ist die Verfassung nicht i n der Lage. Die Verfassung zieht Grenzen und gibt Richtungen an, sie stellt prozedurale und materiale Rahmennormen zur Verfügung, sie organisiert Institutionen und sie bietet sachliche Voraussetzungen an, die eine funktionstüchtige Demokratie und eine gerechte Sozialordnung ermöglichen. Mehr jedoch von der Verfassung zu erwarten, überfordert diese hoffnungslos und schadet der Konsensfunktion. Sozialer Wandel und politische Konflikte können erfolgreich, integrierend und legitimierend, nur prozessual bewältigt werden. Eine demokratische politische K u l t u r beläßt die Verfassung i n dem, was sie sein w i l l und sein kann: das Konsensprinzip konfligierender politischer Auseinandersetzung.
81 Herbert Krüger, A r t . Verfassung, i n : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11, Stuttgart 1961, S. 72 ff., 74. — Das Grundgesetz ist historisch unzweifelhaft ein Reflex auf Weimarer Republik u n d nationalsozialistische D i k t a t u r (vgl. A n m . 70). Doch n u r ein normativ verengter Verfassungsblick k a n n i n der Konzeption einer Verfassung schon die politische Vergangenheitsbewältigung sehen. Das Grundgesetz ist ein Stück davon, aber das „bessere Ich" muß sich politisch erweisen.
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