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German Pages [258] Year 2014
Wolfram Schmitz
Staatsinitiative – Bürgerschaftsengagement – Kirchenerneuerung lmmanuel Hermann Fichtes Ethik als sozialphilosophische Grundlegung einer Gesellschaftsreform
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0292-2 ISBN 978-3-8470-0292-5 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Immanuel Hermann Fichte. Stahlstich von Correns 1847.
Für jene, die mich darin bestärkten, es zu einem guten Ende zu bringen
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung . I. Fichtes Krisenbewusstsein und sein Ruf nach einer wissenschaftsbasierten Politik . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ethik als Wegbereiterin einer sittlichen Kultur . . . . III. Der »concrete Theismus« als Grundlage der Ethik . . . . . IV. Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens . . . . 1. Die Idee des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Idee der ergänzenden Gemeinschaft . . . . . . . . . 3. Die Idee der Gottinnigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil Der Blick auf das Individuum: Die Einzelnen und die Bedingungen personaler Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Individualismus als Personalismus: Die Lehre vom Genius . . . . . II. Fichtes Freiheitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Menschliche Freiheit und ihre Zielform: Das selbstschöpferische Sein des werdenden sittlichen Charakters . . 2. Zur Problematik der Fichte’schen Freiheitslehre . . . . . . . . . III. Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung . 1. Tugend als Ausdruck geistiger Entschlossenheit und Flexibilität .
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Inhalt
2. Tugend und Gemeinschaftsorientierung: Die »Entselbstung« des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Beruf als institutioneller Rahmen personaler Entwicklung und gemeinschaftsfördernder Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bedeutung der Arbeit und das Doppelgesicht einer zunehmend technisierten Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . .
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Dritter Teil Der Blick auf den Staat: Perspektiven für ein gewandeltes Gemeinwesen. I. Fichtes Staatsvorstellung, die Spuren aristotelischer Denktradition und das Modell des ›organischen‹ Staates . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einfluss des politischen Aristotelismus . . . . . . . . . . . . 2. Das Modell des ›organischen‹ Staates . . . . . . . . . . . . . . . II. Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat . 1. Die soziale und ökonomische Destabilisierung der Gesellschaft und die Konsequenzen wirtschaftsliberaler Praxis . . . . . . . . 2. Die Sicherung fundamentaler Rechte . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Eigenart der »Urrechte«: Eine problematische Wesensbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Grundsicherung der freien Existenz . . . . . . . . . . . . C. Die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes . . . . . . . . D. Das »öffentliche Zutrauen« als soziale Basis des Staates . . . E. Die menschliche Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schaffung sozial ausgeglichener Eigentumsverhältnisse . . . A. Fichtes Neubestimmung des Eigentums . . . . . . . . . . . . B. Die Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus . . . . . . a. Exkurs: Die »Organisation der Arbeit« als Lösung der sozio-ökonomischen Probleme bei den Saint-Simonisten und Louis Blanc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Kritik an den frühsozialistischen Konzeptionen: Fichtes Vorschlag einer Organisation des »Verkehrs« . . . 4. Die Wegmarken einer Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . A. Fichtes Bildungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die bildungspolitischen Aufgaben des Staates . . . . . . . . . C. Die Grenzen des staatlichen Zugriffs . . . . . . . . . . . . . . III. Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«: Der dezentralisierte Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Abkehr vom Pfad des allregulierenden Obrigkeitsstaates . . 2. Fichtes Konzept des ›dezentralisierten Staates‹ . . . . . . . . . . A. Das »Princip« der Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
B. Die soziale Frage und die Praxistauglichkeit des Assoziationsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Exkurs: Die Grundzüge des genossenschaftstheoretischen Programms Victor Aim¦ Hubers . . . . . . . . . . . . . . . . a. Hubers Standpunkt in Hinsicht auf die soziale Frage . . . . b. Genossenschaftliche Selbsthilfe und die Beihilfe der Herrschenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der Ansatz Fichtes: Ökonomische Assoziation und berufsständische Initiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Gemeinde als Erfüllungsort gelungener Dezentralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat . . . 1. Der »Dualismus von Fürst und Volk« . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das monarchische Prinzip und sein exponierter Verteidiger : Friedrich Julius Stahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fichtes Kritik an Stahl und sein Grundverständnis des monarchischen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Souveränität und Erbmonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Souveränität im Zeichen des monarchischen Prinzips . . . . B. Die Vorzüge der Erbmonarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die »berechtigten Gewalten« des Staates . . . . . . . . . . . . . A. Fichtes Konzept der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . B. Der Regent und die ministerielle Regierung . . . . . . . . . . a. Der Monarch als ›Bürgerkönig‹ . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Stellung der Minister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Volksvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die ›Herrschaft des Volkswillens‹ . . . . . . . . . . . . . . b. Die Wahl der Volksvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Gesetzgebungsbeteiligung und Steuerbewilligung . . . . . D. Die öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Nicht-Überwindung des Dualismus und die Festschreibung des konstitutionellen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente der politischen Gemeinschaft: Der christliche Staat . . . . . . . . . . . 1. Die überlebte Gestalt der ›historischen‹ Kirche . . . . . . . . . . 2. Die Neuausrichtung der Theologie und die Notwendigkeit kirchlicher ›Selbsterziehung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deutungen einer Idee: Hinsichten zum ›christlichen Staat‹ im frühen und mittleren 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Staat der »Humanität«: Fichtes Ausblick auf einen ›christlichen Staat‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Der »wahre Geist« des Staates . . . . . . . . . . . . . . B. Christentum und Humanismus . . . . . . . . . . . . . 5. Das Bild der künftigen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . A. Das Verhältnis von Kirche und Staat . . . . . . . . . . B. Der Organismus der Kirche und die Kirchengemeinde C. Die christliche Mission als »Seelsorge des öffentlichen Geistes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Frühjahr 2013 an der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum eingereicht habe. Wenngleich ein Autor oder eine Autorin selbst die Verantwortung trägt für die mitgeteilten Informationen und die eingebrachten Interpretationen, bedarf es stets des Mittuns Anderer, um eine Arbeit wie diese überhaupt möglich zu machen. Denen, die mir zur Seite standen, möchte ich an dieser Stelle danken. Die Thematik geht auf die Anregung meines Doktorvaters Prof. Dr. Gunter Scholtz zurück. Für die Geduld, mit der er die Arbeit in den langen Jahren der Entstehung begleitet hat und seine Bereitschaft, diese auch nach seiner Emeritierung zu betreuen, möchte ich ihm herzlich danken. Ich danke auch Prof. Dr. Alexander Haardt, der trotz widriger Umstände die Erstellung des Zweitgutachtens übernommen hat. Ferner richtet sich mein Dank an Antje Weger, Sven Rohm, Frank Wistuba, Yves Heinz Hellmuth sowie an meinen leider viel zu früh verstorbenen Freund Wolfgang Ott für Korrektur-Durchsichten und neue Perspektiven eröffnende Diskussionen – sei es auf dem Campus-Rasen, in Kneipen-Runden oder an Autobahn-Raststätten. Zutiefst dankbar bin ich meinen Eltern für ihre vorbehaltlose und zugewandte Unterstützung während des gesamten Studien- und Promotionszeitraumes. Und schließlich gilt mein Dank meiner Frau Dana Haralambie, die mit vielen wertvoll-anregenden Gesprächen und ihrem sorgsamen Lektorat einen besonderen Anteil am Gelingen dieser Arbeit hat. Bonn, im Mai 2014
Wolfram Schmitz
Siglenverzeichnis
Ethik 1
Immanuel Hermann Fichte: System der Ethik, Bd. I: Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte in Deutschland, Frankreich und England von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Leipzig 1850, Neudruck Aalen 1969.
Ethik 2/1
Ders.: System der Ethik, Bd. II, 1: Die allgemeinen ethischen Begriffe und die Tugend- und Pflichtenlehre, Leipzig 1851, Neudruck Aalen 1969.
Ethik 2/2
Ders.: System der Ethik, Bd. II, 2: Die Lehre von der Rechts-, sittlichen und religiösen Gemeinschaft oder die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1853, Neudruck Aalen 1969.
Spekulative Theologie
Ders.: Grundzüge zum System der Philosophie III: Die spekulative Theologie oder allgemeine Religionslehre, Heidelberg 1846, Neudruck Aalen 1969.
Anthropologie Ders.: Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wissenschaftlich Gebildete überhaupt, Leipzig 1856. Psychologie 1 Ders.: Psychologie. Die Lehre vom bewussten Geiste des Menschen, oder Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins, begründet auf Anthropologie und innerer Erfahrung, Teil 1: Die allgemeine Theorie vom Bewusstsein und die Lehre vom sinnlichen Erkennen, vom Gedächtnis und von der Phantasie, Leipzig 1864, Neudruck Aalen 1970. Psychologie 2 Ders.: Psychologie, Teil 2: Die Lehre vom Denken und vom Willen, Leipzig 1873, Neudruck Aalen 1970. ZPsT
Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie, hrg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1 – 16, 1837 – 1846.
ZPpK
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, hrg. von Immanuel Hermann Fichte und Hermann Ulrici, Bd. 17 ff., 1847 ff.
Einleitung
Während im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die philosophischen Nachfahren Hegels ihre Kontroversen um sein geistiges Erbe austrugen und die Differenzen – zumal in Betreff der religionsphilosophischen Hinterlassenschaft – eine wegscheidende Intensität erreichten, »da blühte im Schatten dieser Philosophie ein Denken, das die moderne Theologie mit dem Hegelschen Denken versöhnen wollte und deswegen auch vor fundamentaler Kritik an der Hegelschen Philosophie nicht zurückschreckte: der sog. Spekulative Theismus. […] Innerhalb des Spekulativen Theismus entwickelte sich ein besonderes Interesse am Problem der Freiheit, ja überhaupt der ›sittlichen Dinge‹, das sich in zahlreichen Arbeiten niederschlug und sich schließlich auch unter dem neuen Disziplinentitel der ›Spekulativen Ethik‹ systematisch und umfassend Ausdruck verschaffte.«1
Zählen Immanuel Hermann Fichte, Christian Hermann Weiße, Heinrich Moritz Chalybäus, Hermann Ulrici, Karl Philipp Fischer u. a. zu den Repräsentanten dieser Denkrichtung, liegt das Augenmerk der vorliegenden Studie auf dem ethischen Hauptwerk des Erstgenannten, Sohn des ungleich berühmteren Johann Gottlieb Fichte. Das erwähnte Schattendasein hinter sich zu lassen war dem Spekulativen Theismus bis in die Gegenwart hinein kaum vergönnt, dementsprechend die Anschauungen der hier genannten Autoren mitnichten zum Repertoire philosophiehistorischen Standardwissens gerechnet werden können. Eher noch den im Felde einer ideengeschichtlich orientierten Theologie Beschäftigten mögen einige der aufgeführten Namen vertraut klingen. Teilte doch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Theologen des mittleren 19. Jahrhunderts jenen kritischen Standpunkt des Spekulativen Theismus, der in Hegels dialektisch-vernunftbegrifflicher ›Aufhebung‹ der christlichen Lehre nicht zuletzt Momente tiefer Unchristlichkeit ausmachte. Daher ging es den 1 T. Kobusch: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997, S. 207.
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Einleitung
Spekulativen Theisten mit dem Bemühen um Bewahrung ihres Wirklichkeitsverständnisses »vor den Ansprüchen von Dialektik und Logik zugleich auch um die Individualität, Freiheit und Persönlichkeit nicht nur des Menschen, sondern auch Gottes«.2 Was nun im Besonderen die Ansichten Fichtes (1796 – 1879)3 betrifft, wird in dieser Untersuchung vor allem die praxisbezogene Seite seiner Philosophie im Vordergrund stehen. Sie findet sich in Form einer umfangreichen Gesamtschau im 1850 – 1853 erschienenen System der Ethik. Fichte betrachtet diese Schrift als konkretisierende Darstellung eines Welt- und Gottesverständnisses, das er während der 1830er und 40er Jahre in Untersuchungen zur Ontologie4 und spekulativen Theologie5 entfaltet und in späteren Jahren als »ethischen Theismus«6 bezeichnet hat. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Sichtweise, die den Anspruch erhebt, vermittels eines »wissenschaftlich berechtigte[n]«7 Prinzips spekulativer Erkenntnis »die grosse Grundevidenz der christlichen Weltanschauung« zu sichern: Gott nehme als freies personales Wesen gegenüber der endlichen Welt eine Position wohlwollender Zugewandtheit »im ethisch tiefsten Sinne« ein, nämlich »um des Geschöpfes und des Menschen willen«.8 Den christlichen Schöpfergott dergestalt als Persönlichkeit, ja als das »persönlichste Wesen«9 überhaupt zu begreifen, bedeute somit auch, dass allen Men2 T. Trappe: Transzendentale Erfahrung. Vorstudien zu einer transzendentalen Methodenlehre, Basel 1996, S. 17. – »Da man darin sich einig war, daß in der Ausbildung eines Begriffs individueller Freiheit die wahre Forderung des Christentums liege, konnten die diesbezüglichen Kritik-Argumente, wie sie neben anderen Fichte und Weiße vorgetragen hatten, von den unterschiedlichsten theologischen Positionen aufgegriffen werden.« F. W. Graf: »Der Untergang des Individuums. Ein Vorschlag zur historisch-systematischen Rekonstruktion der theologischen Hegel-Kritik«, in: F. W. Graf; F. Wagner (Hrg.): Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, S. 274 – 307, hier : S. 288. 3 Mit der Nennung des Nachnamens ist in dieser Arbeit stets Immanuel Hermann Fichte gemeint. Beziehen sich Textstellen auf seinen Vater, wird dies durch das Hinzusetzen der Vornamen deutlich gemacht. – Eine Darstellung der wichtigsten Lebensdaten Fichtes bietet Yves Heinz Hellmuths Studie über Fichtes Bewusstseinstheorie, die meines Wissens jüngste Veröffentlichung zu dessen theoretischer Philosophie (Y. H. Hellmuth: Das innere Licht. Immanuel Hermann von Fichtes Bewusstseinslehre als Metaphysik des Geistes, Bochum 2009, S. 8 ff. Online verfügbar unter : http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/ HellmuthYvesHeinz/diss.pdf). Für eine ausführlichere Beschreibung des Lebens Fichtes ist zu verweisen auf die Biographie Hermann Ehrets: Immanuel Hermann Fichte. Ein Denker gegen seine Zeit, Stuttgart 1986. 4 I. H. Fichte: Die Ontologie, Heidelberg 1836. 5 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, Heidelberg 1846. 6 I. H. Fichte: »Ueber den Unterschied zwischen ethischem und naturalistischem Theismus«, in: Ders.: Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik, Bd. 1, Leipzig 1869, S. 265 – 338. 7 Ebd., S. 271. 8 Ebd., S. 277 f. 9 Ebd., S. 282.
Einleitung
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schen qua ihrer Kreatürlichkeit eine je eigentümliche Weise freiheitlich-personalen Seins gegeben sei. Eben hier knüpft die Ethik10 an, die verstanden werden will im Sinne eines Grundlagenwerkes praktischer Philosophie, das Einsicht vermittelt in die Bedingungen, derer die Einzelnen bedürfen, um sich in den mannigfaltigen Bereichen der menschlichen Kultur als zur sittlichen Freiheit bestimmte Wesen zu verwirklichen. Fichte will die individuelle wie auch die soziale Dimension dieser Thematik im Rahmen eines Ansatzes in den Blick nehmen, der auf dem Boden einer christlichen Daseinsauffassung zugleich die aristotelische Einsicht expliziert, der zufolge solide Gemeinschaftsbezüge als unabdingbar gelten für ein gedeihliches menschliches Leben. Welchen Anforderungen, so lautet eine der Grundfragen Fichtes, sehen sich die Individuen hinsichtlich der Entwicklung ihrer Talente und Möglichkeiten gegenüber, insofern in den familiären, schulischen, beruflichen, religiös-kirchlichen, politischen u. a. Kontexten, in die sie als Einzelne gestellt sind, diese Potenziale zum Tragen kommen sollen? Und wie müssen demgemäß Familie, Schule, Beruf, wie gleichfalls Recht, Kirche und Staat ausgestaltet sein, um als selbst auch entwicklungsfähige Instanzen einer Kultur sittlich gegründeter Potenzialentfaltung wirken zu können? Dieser Ausgangspunkt der Fichte’schen Ethik stellt nicht zuletzt in Bezug auf die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse eine besondere Herausforderung dar. Das Werk ist verfasst vor dem Hintergrund einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchsituation, die gekennzeichnet war durch die »Entwicklungs- und Emanzipationskrisen, welche im Revolutionsjahr offen zutage traten«11 und die in den Jahren nach 1848 nahezu gänzlich unbewältigt weiterschwelten. Denn während der beginnenden ›Reaktionszeit‹ näherten sich die in Politik und Gesellschaft Verantwortung Tragenden den vielfältigen Problemlagen »zunächst […] mehr durch Verdrängung, in Negation kraft Repression«12. Wohl gerade in Sicht auf diese Gegebenheiten verortet Fichte seine Gegenwart in einem »Zwischenstandpunkt«13, der wenig Anlass gebe für die Hoffnung auf 10 Mit ›Ethik‹ wird, wie im Siglenverzeichnis angegeben, Fichtes Schrift bezeichnet; demgegenüber bezieht sich das nicht kursiv gedruckte ›Ethik‹ auf die wissenschaftliche Disziplin als »Gebiet der praktischen Philosophie« (I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 26) im Allgemeinen. 11 W. Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849 – 1871, Frankfurt a. M. 1990, S. 17. 12 Ebd., S. 18. 13 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 1. Nicht ohne Pathos zeichnet Fichte hier das Bild vom »Zusammenstosse zweier Zeitabschnitte«, in dem eine »Epoche von jahrtausendalter Geltung« unwiderruflich dem Untergang zustrebt, wobei das Neue, das sich »aus der Asche des Alten erheben soll, kaum noch in den ersten Umrissen zu entdecken ist«. Ebd. – Jenseits dieses Pathos ist aus dem Blickwinkel der heutigen historischen Forschung festzuhalten, dass »die Zeit zwischen 1850 und 1871 in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und auch politischer
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Einleitung
produktive Veränderungen. Die zur Abhilfe aufgerufenen Kräfte seien durch einen »praktischen Skepticismus«14 gebunden, der den Willen zur Neuformierung des rechtlichen, politischen und sozialen Gefüges in Untätigkeit beharren lasse. Insofern Fichte beabsichtigt, einen Beitrag zur Überwindung dieses Zustandes zu leisten, wendet sich seine Ethik vor allem an die Angehörigen der, wie es heute heißen würde, Führungseliten in Staat und Gesellschaft. Insbesondere den Mitgliedern der politischen Klasse möchte er mit seiner sozialphilosophischen Konzeption basale Leitlinien für eine in alle Sphären des Gemeinwesens ausgreifende Reform an die Hand geben15. Wurde diesbezüglich zurecht von einem »Schatz« beachtenswerter »rechts- und sozialphilosophische[r] Anregungen« gesprochen, »über den die Zeit achtlos hinweggeschritten ist«16, sollen diese interessanten Wertstücke hier um einer illustrierenden Würdigung willen geborgen werden. Findet die Ethik gegen Ende des 19. Jahrhunderts allenfalls Erwähnung in knappen Darstellungen zur Geschichte der Philosophie17, widmen sich ihr im frühen 20. Jahrhundert zwei Dissertationen18, die freilich nicht über den Rah-
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Hinsicht zu den bewegtesten und folgenreichsten Abschnitten der neueren deutschen Geschichte zählt«. R. Rürup: Deutschland im 19. Jahrhundert. 1815 – 1871, Göttingen 1984, S. 198 f. I. H. Fichte: Ethik 1, S. IX. Ebd., S. 3. – Berührt Fichtes Entwurf verschiedene Gebiete praktischer, auf der tieferen Begründungsebene auch solche theoretischer Philosophie, erscheint es gleichwohl angemessen, diese Konzeption im engeren Sinne als sozialphilosophische zu verstehen. Dies geschieht in Anlehnung an die Sichtweise, in der Axel Honneth den »theoretischen Anspruch und die spezifische Fragestellung der Sozialphilosophie« skizziert: »[…] da es ihre primäre Aufgabe ist, soziale Entwicklungsprozesse zu diagnostizieren, die als Beeinträchtigung der Möglichkeiten ›guten Lebens‹ unter den Gesellschaftsmitgliedern verstanden werden müssen, ist sie auf Kriterien ethischer Art angewiesen. Im Unterschied zur Moralphilosophie auf der einen, zur politischen Philosophie auf der anderen Seite läßt sich die Sozialphilosophie daher als eine Reflexionsinstanz verstehen, innerhalb derer Maßstäbe für gelingende Formen des sozialen Lebens erörtert werden«. A. Honneth: »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 11 – 69, hier : S. 13. S. Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus. Die Philosophie Immanuel Hermann Fichtes zwischen Dialektik, positiver Philosophie, theosophischer Mystik und Esoterik, Wien 1994, S. 321, Anm. – Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die diesbezügliche Aussage Ludger Oeing-Hanhoffs nach wie vor zutreffend: »Wir Philosophen und Philosophiehistoriker kennen Fichtes Rechts- und Staatslehre gemeinhin einfach nicht.« L. Oeing-Hanhoff: »Licht der Philosophie im Schatten Hegels. Zum Gedenken an Immanuel Hermann Fichte«, in: Theologische Quartalschrift, 162. Jg. (1982), S. 147 – 162, hier : S. 157. Vgl. E. Zeller : Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 21875, S. 726; J. E. Erdmann: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Berlin 41896, S. 775 f. H. Beckedorf: Die Ethik Immanuel Hermann Fichtes. Ein Beitrag zur Geschichte der neueren Moralphilosophie, Hannover 1912; G. Rekate: Immanuel Hermann Fichte. Charakteristik seines Systems der Ethik, Leipzig 1915.
Einleitung
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men einer »solide[n] Berichterstattung«19 hinaus gelangen. Galt diese Einlassung der ersten der beiden Schriften, ist sie für die zweite gleichermaßen charakteristisch. Auf dieser Linie verbleibt ebenso eine Arbeit über Fichtes Philosophie aus den 1920er Jahren, die von der »Fichteschen Ethik nur einen allgemeinen Überblick«20 geben will. Eingehendere Behandlung erfährt sie erst mit einer Untersuchung vom Ende der 1930er Jahre, in der der bereits zitierte Autor die »eigentlich originale Leistung« Fichtes »auf ethischem Gebiet« verortet, nämlich »in der Art, wie er den christlichen Personbegriff dort fruchtbar macht«.21 Die einer existenzphilosophischen Perspektive verpflichtete Herangehensweise bleibt indes auf die das Individuum betreffenden Ansichten Fichtes beschränkt. Seine politik- und sozialreformerischen Überlegungen finden hier so gut wie keine Berücksichtigung. Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts erhalten einzelne Teile der Ethik unter geschichts-22 und rechtsphilosophischen23 Aspekten Aufmerksamkeit, bis schließlich 1980 in Italien eine Studie24 erscheint, die erstmals eine Gesamtinterpretation dieser Fichte’schen Schrift bietet. Möglicherweise im Bewusstsein seiner Vorreiterrolle unterlässt es der Autor allerdings weitgehend, die Finger in die Wunde der argumentativen Unstimmigkeiten zu legen. Einen kritischeren Standpunkt nimmt hier ein Aufsatz aus den 1990er Jahren ein25, der vornehmlich die Grundhinsichten der Ethik behandelt, da er die Ansätze diverser Vertreter der Spekulativen Ethik überhaupt thematisiert. Angesichts dieser rezeptionsgeschichtlichen Gegebenheiten zielt die vorliegende Untersuchung in methodischer Hinsicht auf die Vergegenwärtigung der Fichte’schen Argumentation im gleichermaßen historischen wie systematischen Zugriff. Zum einen werden für das Verständnis bedeutsame begriffs- und ideengeschichtliche sowie politik- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge und Hintergründe – z. T. auch eingehender – beleuchtet. Zum anderen gilt es, nicht nur Fichtes Intentionen herauszuarbeiten, sondern auch Brüche und Folgewidrigkeiten der argumentativen Linien zu kennzeichnen. 19 J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei Immanuel Hermann Fichte. Von spätidealistischer Spekulation zur Existenz, Würzburg 1938, S. 83. 20 H. Herrmann: Die Philosophie Immanuel Hermann Fichtes. Ein Beitrag zur Geschichte der nachhegelschen Spekulation, Berlin 1928, S. 103. 21 J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei Immanuel Hermann Fichte, a. a. O., S. 3. 22 D. Najdanovic´ : Die Geschichtsphilosophie Immanuel Hermann Fichtes, Berlin 1940. 23 K. Käss: Immanuel Hermann Fichtes Kritik der theologischen Richtung der Staatslehre und der historischen Rechtsschule. Dargestellt in Fichtes System der Ethik 1850 – 1853, Tübingen 1956. 24 P. de Vitiis: Etica, politica e religione in Immanuel Hermann Fichte, Perugia 1980. 25 G. Scholtz: »Metaphysik und Politik im Spätidealismus«, in: W. Jaeschke (Hrg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820 – 1854), Hamburg 1995, S. 235 – 259, hier : S. 248 ff.
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Einleitung
Indem also innerhalb dieses Interpretationsrahmens Fichtes Anknüpfungen an philosophisch Vorgedachtes und realhistorisch Vorgefundenes offenzulegen sind, soll zugleich seine genuine Leistung hervortreten, um sie der kritischen Nachfrage anheimzustellen.26 Fichtes Ansatz und die daraus hervorgehenden praxisbezogenen Anregungen werden dabei als Lösungsentwurf für die Problemlagen seiner Zeit und die damaligen Umstände behandelt. Denn alle dem Umkreis des Spekulativen Theismus zuzurechnenden Konzeptionen, seien sie theoretischer Natur oder auf das Praktische ausgerichtet, »wurzeln nach ihrem ganzen Charakter viel zu sehr in den spezifischen Verhältnissen des nachhegelschen 19. Jahrhunderts, als daß sie sich aus diesen einfach herausheben ließen«.27 Gleichwohl ist manche Fragestellung und manche Antwort auch insofern bemerkenswert, als uns die bezeichnete Problemkonstellation in veränderter Form durchaus noch heute beschäftigt. Zudem: Wenn überhaupt, salopp formuliert, »die Sprüche von damals heute zu nichts anderem motivieren würden als zu Widersprüchen, wäre es wenig weise, sie einem schlichten Vergessen anheimfallen zu lassen«.28 Und Anlass zum Widerspruch bietet die Ethik mit ihrer Auslegung menschlichen Seins und der Anwartschaft auf die Geltung entsprechender Sollens-Gebote genug. So nimmt Fichte durchaus Anteil an jener neuzeitlichen Unternehmung, die man »mit guten Gründen als das moderne Projekt bezeichnen kann«, und zu der wesentlich die »bewusst ins Werk gesetzte Umgestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse im ganzen« gehört.29 Zugleich wendet er sich gerade im Blick auf die angestrebte Veränderung der Lebensumstände gegen eine antireligiöse wie antimetaphysische Selbstermächtigung des Menschen, die im Bereich der Wissenschaft ihren Ausdruck finde durch den »Sieg des historischen Principes«. Beispielsweise werde hier vom Standpunkt der vermeintlich Siegreichen mit offener Geringschätzung über die »Gestaltung des Staates nach blossen Ver26 Dass eine solche – im Sinne des ›Weiterführens‹ verstandene – Leistung stets auch mitbestimmt ist durch das einbeziehende Vergegenwärtigen des bisher Geleisteten, thematisiert Fichte selbst bei einer Stellungnahme zu dem in seinen Augen »banale[n] Vorwurf des ›Eklekticismus‹«, mit welchem er sich auch persönlich konfrontiert sah: »[…] als wenn nicht gerade jeder echte Fortschritt nur darin bestehen könne, aller Vorarbeiten sich zu bemächtigen, um daraus ein vollständigeres, ein relativ erschöpfendes Ganzes der Wahrheit herauszuläutern«. I. H. Fichte: »Bericht über meine philosophische Selbstbildung«, in: Ders.: Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik, Bd. 1, a. a. O., S. 1 – 117, hier : S. 70 f. 27 A. Schneider: Personalität und Wirklichkeit. Nachidealistische Schellingrezeption bei Immanuel Hermann Fichte und Christian Hermann Weiße, Würzburg 2001, S. 15. 28 H. Klenner : »Rechtsphilosophie zwischen Restauration und Revolution«, in: W. Jaeschke, (Hrg.): Philosophie und Literatur im Vormärz, a. a. O., S. 87 – 99, hier: S. 98. 29 H. Meier : »Die Moderne begreifen – die Moderne vollenden?«, in: Ders. (Hrg.): Zur Diagnose der Moderne, München 1990, S. 7 – 20, hier: S. 16.
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nunftideen« polemisiert. Indes münde das Bemühen um die Total-Historisierung des Wirklichen ob der »Zerfahrenheit« ihrer Grundsätze lediglich in eine Unzahl »willkürlicher Rathschläge und Hypothesen«.30 Demgegenüber kann nach Fichtes Dafürhalten der Gewinnung eines mit praktischer Relevanz versehenen Orientierungswissens einzig auf dem Wege »der bewussten Vermittlung von Historie und Idee«31 Erfolg beschieden sein. Entsprechend beziehe eine Wissenschaft, der die Fähigkeit zur Entwicklung solcher Problemlösungsstrategien zuzuschreiben sei, die der je eigentümlichen historischen Situation angemessen erschienen, ihre Kompetenz gerade aus dem Vertrauen auf die »ewige Wirksamkeit der Ideen im Menschengeschlecht«.32 »Da darf der Idealismus wohl noch einmal in seiner reinen und klarsten Gestalt hervortreten, wo er sodann beweisen dürfte, dass er auch im Praktischen der gründlichste, verständigendste Realismus sei, so gewiss er sich stark genug zeigt, jedes historisch Vorhandene begreifend sich anzueignen, aber nicht um es quietistisch gutzuheissen, sondern um es aus dessen eignen Voraussetzungen stetig und bewusst der höhern Gestalt der Idee zuzubilden.«33
Wie sich zeigen wird, bereitet Fichte der Gedanke einer Höherbildung des historisch Vorfindlichen in Richtung des ideell Aufgegebenen nicht geringe Schwierigkeiten. Denn die – hier im Sinne eines »höchsten Ziele[s]«34 menschheitlicher Vervollkommnung gemeinten – Endpunkte des Entwicklungsprozesses werden als je schon von Gott vorgedachte verstanden. Ist also in Betracht der Menschheitsgeschichte die Wirksamkeit göttlicher Vorsehung in Rechnung zu stellen, zeichnet Fichte das Verhältnis des Göttlich-Providenziellen zur Selbstbestimmungsmacht des endlichen Subjekts in einem zwiespältigen Bild. Gleichwohl will die vorliegende Untersuchung erweisen, dass der unwegsame Bereich, in den Fichte auf dem metaphysischen Terrain seiner Freiheitslehre gerät, von der Sphäre des Politisch-Praktischen zu unterscheiden ist. Obzwar die Überwindung der diagnostizierten Krisenerscheinungen seiner Ansicht zufolge »nur aus der Wiederbefestigung des religiösen Bewusstseins erwachsen kann«35 und die Reformvorstellungen auf das Entstehen eines ›christlichen Staates‹ zielen, in dem »der versöhnende Geist der göttlichen Liebe Stätte unter den Menschen gefunden hat«36, präsentiert er sich nicht als Befürworter eines ›theokratischen‹ Systems, das den Stellvertretern Gottes auf Erden politische Machtbefugnisse überantwortet. Mithin klingt es zumindest missverständlich, 30 31 32 33 34 35 36
I. H. Fichte: Ethik 1, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. XIV. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 820.
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Fichte eine »in die Forderung nach dem Gottesstaat auslaufende Position«37 zuzuschreiben; zumal hier nur auf die »Endbestimmungen des ›Systems der Ethik‹«38 verwiesen und den Inhalten seines gesellschaftsreformerischen Entwurfs kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Entwurf soll im Folgenden hinsichtlich seiner theoretischen Voraussetzungen, seiner die Belange der Individuen betreffenden Bestimmungen und seiner Konsequenzen für die Umbildung der sozio-ökonomischen und politischen Strukturen des Gemeinwesens analysiert werden. Entsprechend gliedert sich die Untersuchung in drei Teile: Ausgehend von Fichtes Krisendiagnose behandelt der erste Teil das spekulativ-theistische Fundament seiner Konzeption, die im Geiste eines christlichen Welt- und Menschenbildes Fingerzeige zur Überwindung der gesamtgesellschaftlichen Problemsituation geben soll. Die Eigenart dieses Menschenbildes wird im zweiten Teil näher ausgeführt mit Bezug auf die Bedingungen, die Fichte als notwendig erachtet für das Werden einer sittlich gegründeten Personalität des Menschen, das den je besonderen charakterlichen Veranlagungen der Einzelnen Entwicklungsspielraum bietet. Gegenstand des dritten, weitaus umfangreichsten Teiles sind schließlich die Hinsichten, unter denen Fichte das über die Erfordernisse menschlicher Persönlichkeitsentfaltung Festgestellte an die soziale und politische Wirklichkeit seiner Zeit im Besonderen wie an die Gegebenheiten der s. E. immer schon in Formen ›staatlicher‹ Ordnung gefügten Lebensverhältnisse im Allgemeinen heranträgt. Hier kommen die Strukturmomente eines möglichen künftigen Staates anhand von vier Themenbereichen zur Sprache: Zum ersten stehen dabei Maßnahmen für den Aufbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen im Mittelpunkt; diese sollen, gerade auch in Reaktion auf die als soziale Frage zusammengefasste Problemkonstellation, vor allem grundrechtlichen Ansprüchen der Staatsangehörigen reale Gestalt geben. Zum zweiten geht es um Grundaspekte, aus denen Fichte die Entwicklung eines dezentral strukturierten Staatswesens vorzeichnet, nicht zuletzt, um Ansatzpunkte für diverse Formen bürgerschaftlicher Teilhabe zu schaffen. Zum dritten wird unter verschiedenen Gesichtspunkten die Ausgestaltung der politischen Gewalten eben dieses Staatswesens zum Thema, das Fichte als konstitutionelle Monarchie projektiert. Zum vierten wird schließlich die religiös-kirchliche Basis dieses Staatsmodells behandelt: Fichte will die Motivation der Staatsangehörigen zu mitgestaltender Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten auch durch eine Kirche gestärkt sehen, die sich entschieden einem Selbsterneuerungsprozess überantwortet. Soll 37 A. Schneider: Personalität und Wirklichkeit, a. a. O., S. 195. 38 Ebd., S. 196.
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hier einer humanen, Konfessionsgrenzen hinter sich lassenden Christlichkeit der Weg gebahnt werden, könne demnach jedes Gemeinwesen, das den durch Fichtes Gesamtentwurf beschriebenen Wandlungsvorgang durchlaufe, immer deutlicher im Gepräge eines wahrhaft ›christlichen Staates‹ erscheinen.
Erster Teil
Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
I.
Fichtes Krisenbewusstsein und sein Ruf nach einer wissenschaftsbasierten Politik
Vergegenwärtigt man sich den Grundtenor, der Fichtes Vorreden zu den einzelnen Teilen seiner Ethik bestimmt, tritt jene Krisenstimmung hervor, die symptomatisch ist für die Geisteshaltung vieler Zeitgenossen um die Mitte des 19. Jahrhunderts.39 Wo Lorenz von Stein »[g]ewaltige, furchtbare Bewegungen« herannahen sieht, von denen niemand zu sagen wage, »wohin sie führen werden«40, wo Johann Gustav Droysen von der Gebrochenheit der gegenwärtigen Zustände spricht, in denen »[a]lles Alte verbraucht, gefälscht, wurmstichig, rettungslos« sei und »das Neue noch formlos, ziellos, chaotisch, nur zerstörend«41, da ist auch Fichte überzeugt, »dass wir am Ende einer Weltepoche stehen, dass mit den sämmtlichen Werkzeugen und Mitteln der alten die Geschicke der Zukunft nicht mehr geleitet werden können«42. Missbilligend nimmt er zur Kenntnis, dass die Herrschenden gerade auch in 39 »Das Entscheidende an der inneren Situation bleibt […] die niederdrückende Häufung und die fast gleichzeitige Überlagerung so vieler Krisenerscheinungen, daß die Überzeugung eine unaufhaltsame Kraft gewann, die alte Welt gerate überall aus den Fugen – nirgendwo aber sei die Macht zu erkennen, welche die allgegenwärtige Unordnung, die lähmende Depression, das heraufziehende Chaos siegreich bannen könne.« (H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München 42005, S. 686). Kennzeichnet Hans-Ulrich Wehler an dieser Stelle die vorrevolutionäre Atmosphäre, verfestigte sich diese Grundstimmung nach den Ereignissen des Jahres 1848 infolge der mangelnden Lösung vieler Konflikte: »Nichts war nach der Revolution mehr so, wieder so wie vorher. Aber die Krise zwischen Staat und Gesellschaft blieb unausgetragen.« T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat (Sonderausg.), München 1998, S. 670. 40 L. v. Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3 (1850), Nachdruck der Ausgabe von G. Salomon, München 1921, Darmstadt 1959, S. 208. 41 J. G. Droysen: »Zur Charakteristik der europäischen Krisis« (1854), in: F. Gilbert (Hrg.): Johann Gustav Droysen. Politische Schriften, München; Berlin 1933, S. 307 – 342, hier: S. 328. 42 I. H. Fichte: Ethik 1, S. VIII.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
Deutschland auf die vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der sich im Umbruch befindenden Gesellschaft und auf die damit verbundenen Emanzipationsbestrebungen der mittleren und unteren Schichten mit der restaurativen Borniertheit eines überlebten obrigkeitsstaatlichen Denkens und Handelns reagieren.43 »Die Rathlosigkeit der Regierenden verbirgt sich schlecht hinter der Kunst, nur vom Tage zum Tage zu regieren und die Symptome des Uebels nicht zu heilen, sondern ersticken zu wollen.«44
Entsprechend diagnostiziert Fichte ein »blosses Scheinthun« der politisch Verantwortlichen, das längst fragwürdig gewordene Machtpositionen sichern soll, sie in Wirklichkeit jedoch zu mehr oder minder hilflos Zuschauenden im »Verwesungsprocess einer alten Zeit« degradiere.45 Orientierungsbedarf sei überdies vorhanden, da dem Gemeinwesen Gefahr drohe durch eigensinnige Führungsansprüche verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen. Daraus resultierende Interessenkämpfe führten zu einem »Chaos widerstreitender Anforderungen« und infolgedessen zur fortgesetzten Zersplitterung der Gesellschaft.46 Mithin sei ein innovatives Politikverständnis vonnöten, das die gewissenhafte Begutachtung der »gegebenen Staatszustände« und die aktive Umsetzung der Problemlösungsstrategien als untrennbar zusammendenke. Gehe es doch um zwei sich ergänzende Seiten derselben Sache, die man freilich innerhalb der aktuellen politischen Praxis – so legt Fichte nahe – auf verderbliche Art und Weise auseinander reiße. Hier zeitige die Haltung alles infrage stellender Skepsis ähnlich negative Wirkungen wie ein bloßer politischer Aktionismus; gleichviel ob Letzterer »abstract neuerungssüchtig« oder »abstract reactionär« daherkomme.47 Zeichne sich erfolgreiche Politik durch ein entschiedenes Anschließen an das Gegebene aus, will Fichte jene Missgriffe politischen Agierens nicht zuletzt deshalb ins Licht setzen, um gegen das Verkennen des Prinzips der »organischen Entwicklung der Geschichte«48 anzugehen. Entsprechend seien Theorie und
43 44 45 46
I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. XXXIXf.; vgl. Ethik 1, S. XI. I. H. Fichte: Ethik 1, S. XIII. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. VII. I. H. Fichte: Ethik 1, S. IX. Die Eindringlichkeit dieser Stellungnahme entspringt hier auch den enttäuschten Erwartungen des Philosophen, der sich in den Jahren des Vormärzes aktiv an der Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung deutscher und europäischer Politik beteiligt und dieser Debatte eigens ein Forum in seiner Zeitschrift eröffnet hatte. Vgl. G. Scholtz: »Metaphysik und Politik im Spätidealismus«, a. a. O., S. 237 ff. 47 I. H. Fichte: Ethik 1, S. XIV. 48 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. VII.
Fichtes Krisenbewusstsein und sein Ruf nach einer wissenschaftsbasierten Politik
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Praxis des ausschließlich Progressiven wie des ausschließlich Reaktionären als gleichermaßen ›revolutionär‹ zu verwerfen. »Unsere Ethik lehrt […] auf allen ihren Blättern, dass es schlechthin nur Einen Conservatismus gegeben hat und geben wird, den der künstlerisch fortbildenden Reformen; – ebenso nur Einen Revolutionismus, wiewohl in doppelter Verlarvung: den des unkünstlerischen Verfrühens, wie umgekehrt der hemmenden Rückbildungsversuche zu historischen Begriffen und Zuständen, die längst schon ihre Autorität verloren haben.«49
Fichte fordert somit eine konsequent reformausgerichtete Politik; ob der beschriebenen Fehlentwicklungen sei eine die Grundprinzipien politischen Handelns bestimmende Kraft vonnöten, näherhin: ein tragendes Fundament wissenschaftlicher Orientierung. Die Bereitstellung einer solchen Basis und damit die Aufgabe, Leitinstanz des Erneuerungsgeschehens zu sein, legt Fichte in die Hände der Ethik.50 »Wir bedürfen einer neugegründeten, die staatsökonomischen wie ethischen Fragen eng auf einander beziehenden Societätswissenschaft oder Politik, die aber wiederum ihre leitenden Principien nur aus der Ethik, der Wissenschaft von den praktischen Ideen, zu schöpfen hat.«51
Ausgehend von dem tatsächlichen Zustand der Gesellschaft habe die Ethik in einer kritischen Begutachtung der gegenwärtigen Lage die politisch und sozial relevanten Probleme zu identifizieren und die Grundlinien für entsprechende Lösungsansätze zu unterbreiten. Die Ethik befindet sich damit in einer Position, in der sie nicht nur Abstand zu wahren habe gegenüber jedem parteipolitischen Standpunkt52, sondern sich auch verbieten müsse, Anweisungen zu geben für konkrete administrative und organisatorische Maßnahmen. Sofern die Ethik z. B. die Finger in die Wunde der sozialen und ökonomischen Verwerfungen legt und das Phänomen wachsender Armut vor allem der unteren Gesellschaftsschichten thematisiert, werde sie bei den Hinweisen zur Beseitigung dieser Missstände »billig sich enthalten, darüber in einzelne Vorschläge einzugehen, welche der Politik und der Staatswirthschaftslehre zu überlassen sind. Nur das ist ihr Beruf, aus den gegebenen Prämissen sämmtliche Folgerungen zu ziehen, aus denen sich auch die Ausführbarkeit jener Aufgabe ergeben dürfte.«53 49 50 51 52
Ebd., S. VI. Vgl. die Anm. 10 der Einleitung. I. H. Fichte: Ethik 1, S. XIV; vgl. Ethik 2/2, S. 9. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. VI; vgl. I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. I. Unser Standpunkt.«, in: ZPpK, Bd. 19 (1848), S. 83 – 90, hier : S. 83 ff. 53 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 89.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
Eine den Problemlagen der Zeit angemessene Politik möglich zu machen, soll das Ziel ihrer Einflussnahme sein, ohne dass den Beurteilungen die Erwartung zu unterlegen sei, »das philosophisch als nothwendig Erkannte unmittelbar auch auszuführen«.54
II.
Die Ethik als Wegbereiterin einer sittlichen Kultur
Ist die Neuformierung des Politischen nach Fichtes Verständnis also nur erreichbar durch eine kritische Bestandsaufnahme der kulturellen Befindlichkeit der Zeit, kann dies durchaus wörtlich verstanden werden. Insofern nämlich, als es sich bei dieser Herangehensweise um die systematische Darstellung und Begründung der Kultur des 19. Jahrhunderts handelt, die »überhaupt alle Gemeinschaftsformen und die gesamte menschliche Kultur als Sphäre der Sittlichkeit vor Augen stellt«55. Erst in Anbetracht dieser Grundperspektive ist laut Fichtes Ansicht die Ethik berufen, das In-Funktion-Setzen einer zeitgemäßen Politik zu stützen. Wenn er dieser Auffassung folgend unterstellt, eine wissenschaftliche Ethik, die diesen Namen verdiene, habe den Aufweis von Begriff und Umfang eines »reichgegliederten sittlichen Universums« zu leisten, umgreift dieser Begriff des Sittlichen alle Bereiche des menschlichen Lebens, in denen der Mensch erst eigentlich zum Menschen wird. Ob es sich um Staat und Politik, Kirche und Wissenschaft, Recht und Wirtschaft, Schule und Verein, Familie und Freundschaft handelt: Einbezogen sind alle Gebiete, die den Menschen als Kulturwesen kennzeichnen. Entsprechend muss für Fichte die Ethik, soll dem Reformvorhaben Erfolg beschieden sein, diesem Verständnis von Sittlichkeit sowohl in theoretisch-wissenschaftlichen als auch in praktisch-pädagogischen Bezügen Gewicht verschaffen.56 Erscheint die Ethik also betraut mit einer sichtlich anspruchsvollen Aufgabe, 54 I. H. Fichte : Ethik 1, S. VII (Hervorh. W. S.). Es mag die Sache treffen, wenn Anatol Schneider zu Fichtes Zurückhaltung bei der Empfehlung konkreter politischer Maßnahmen anmerkt, hier könne »möglicherweise auch« das »wache Auge des Staates« eine Rolle spielen, »der im Nachmärz jeden Anschein von Gesellschaftsveränderung zu unterdrücken bereit ist« (A. Schneider : Personalität und Wirklichkeit, a. a. O. , S. 192). Verfehlt erscheint es allerdings, Fichtes Aussagen über die Bereitstellung politikbasierender Richtlinien jeden Anspruchs von Verbindlichkeit zu entheben und auf den Grad einer »futurischen Fantasie« zu reduzieren (ebd.). Diese Interpretation ist wohl vor allem der Tatsache geschuldet, dass in Schneiders Zitation der besagten Stelle das Wort »unmittelbar« fehlt (ebd.). So ergibt sich ein anderer – und letztlich widersprüchlicher – Sinn : Als gebe Fichte zu verstehen, die Ethik präsentiere zwar etwas »als nothwendig Erkannte[s]«, also etwas durchaus Bedeutendes, eine ›Not Wendendes‹, die praktische Umsetzung sei gleichwohl irrelevant. 55 G. Scholtz: »Metaphysik und Politik im Spätidealismus«, a. a. O., S. 235. 56 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 8; vgl. Ethik 2/1, S. 32.
Die Ethik als Wegbereiterin einer sittlichen Kultur
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hält es Fichte für geboten, sie im Blick auf ihre historischen Erscheinungsweisen unter die Lupe zu nehmen und dabei die zeitaktuellen und für seine Zielsetzung relevanten Ausprägungen auf den Prüfstand zu stellen. Vermittels dieses diagnostischen Zugriffs glaubt Fichte insbesondere die Defizite der »ethische[n] Bildung« seiner Zeit verorten zu können. So kämen die moralphilosophischen Theorien ebenso wie die moralerzieherischen Lehrinhalte insofern »ziemlich kraftlos und unbeholfen« daher, als sie die lebenspraktischen Anforderungen schlicht verfehlten.57 Die Vorgaben einer »blossen Pflichtenlehre für den Einzelnen«58 zeigten sich untauglich, den Weg zu einer Haltung zu weisen, dergemäß das sittlich Gebotene und die persönlichen Neigungen nicht mehr als unüberwindlicher Gegensatz erlebt würden und der ein Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit individueller und kollektiver Belange zugrunde liege. In diesem Sinne äußert sich Fichte schon vor dem Erscheinen seiner Ethik kritisch über die Verengung der Perspektive, mit der Kant den »rigoristischen Standpunkt in der Moral«59 absolut gesetzt und zu nachhaltiger Wirksamkeit geführt habe. Jede Orientierung an der Kant’schen Moralphilosophie, die dieser folgend einen letztlich abstrakt bleibenden Pflichtbegriff zum Prinzip erhebe, sei in mehrfacher Hinsicht irrtumsbeladen. Zum einen werde die personale Ganzheit des Menschen ausgeblendet, da die Forderung, das Moralische nur am Kriterium der Vernunftgemäßheit festzumachen, die sinnliche Seite des Individuums übergehe. Zum anderen komme hier das sittliche Handeln in seiner eigentlichen Natur, nämlich dem Eingefügtsein in vielfältige soziale Bezüge, überhaupt nicht in den Blick. Als seien die »gegebenen Lebensverhältnisse« nur »etwas Unwesentliches, Accidentelles an der Sittlichkeit«60. Diese Bedenken werden in der Ethik dahingehend ausgeführt, dass Kant durchaus das Verdienst gebühre, »das Vorhandensein von Ideen, eines Vernunftursprünglichen (Apriorischen) im Gebiete des Willens nachgewiesen zu haben«61. Allerdings könne dieser Nachweis des Apriori der sittlichen Idee keineswegs hinreichen »zur Aufklärung über das ganze Verhältniss von Trieb und Pflicht«62. Wem es nämlich ernsthaft um eine sittliche Haltung zu tun sei, dem werde dem Verständnis der Nachfolger im Geiste Kants entsprechend die unbedingte »Verläugnung des Triebes und der Neigung«63 auferlegt. Hinsichtlich der Wirklichkeit sittlichen Handelns sei es schlechterdings un57 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 179. 58 Ebd., S. 180. 59 I. H. Fichte: »Der bisherige Zustand der praktischen Philosophie in seinen Umrissen«, in: ZPsT, Bd. 11 (1843), S. 161 – 202, hier: S. 171. 60 Ebd., S. 176. 61 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 30. 62 Ebd., S. 280. 63 Ebd., S. 281.
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angemessen, jegliche Momente »sinnlichen Antriebs« ausschalten zu wollen. Auch im Bereich des menschlichen Denkens, so argumentiert Fichte in Analogie zum Erkenntnisbereich theoretischer Philosophie, würden niemals »reine Kategorien« gedacht. Vielmehr denke jeder Mensch »nur das sinnlich Bestimmte, Anschaubare in ihnen«.64 »Wenn auch die Pflicht, wenn auch das Rechtsbewusstsein reinen, überempirischen Ursprungs sind, so gibt es doch keine reine Pflicht, kein reines Recht, sondern immer nur ein rechtliches, pflichtmässiges Handeln in ganz bestimmten Formen der Gemeinschaft, und diese – die Gemeinschaft nach den verschiedenen Verhältnissen ihrer Gegebenheit – ist hier das empirische Element, wie dort das sinnlich Anschaubare in Raum und Zeit.«65
In noch unzureichendem Maße hat sich nach Fichtes Einschätzung die Einsicht durchgesetzt, dass »alle jene gegebenen Formen des Gemeinlebens nur bestimmte Momente sittlicher Gesammtgemeinschaft sein können oder sollen«. Und die Ethik gerade darauf bezogen den »Inhalt sittlicher Lebensgüter« zu bestimmen habe, um für die Einzelnen jenseits »jener monotonen Gestalt abstracter […] Pflichtmässigkeit« einen gangbaren Pfad »zur ›Einheit von Neigung und Pflicht‹« aufzuzeigen.66 Solange also die Wirkmächtigkeit der moralphilosophischen Prinzipien Kants als nicht überwunden gelten muss, bliebe dementsprechend »in der wissenschaftlichen Ethik, wie in der allgemeinen Bildung« eine »Incongruenz zwischen Wissen und Wirklichkeit zurück«67. So sei auch der Hegel’sche Versuch, eben diese Lücke zu schließen, keineswegs als Erfolg zu werten. Hegel habe zwar mit Blick auf Kant das Ungenügen einer ethischen Reflexion aufgewiesen, die die Allgemeingültigkeit einer »nur formellen Moralmaxime« in den Mittelpunkt stelle, doch mitnichten angeben könne, worin »das positive Wesen des sittlichen Willens«68 bestehe. Allerdings bliebe Hegels Leistung in nun umgekehrter Einseitigkeit auf die Entfaltung einer Lehre von den sittlich relevanten Gütern beschränkt, die die Frage nach dem sittlich Gebotenen vernachlässige. Zudem beruhe die Hegel’sche Konzeption auf einem weltentzogenen, weil »nur allgemeinen«69 Geistes- und Willensbegriff, der letztlich keinen Raum lasse für das je besondere Wollen des einzelnen Menschen. »Weil er überhaupt bei dem nur Allgemeinen des Geistes stehen bleibt, fehlt ihm die Möglichkeit, einen Imperativ, ein eigentliches Gebot für die Freiheit des Subjectes anzuerkennen: denn in Wahrheit gibt es für ihn weder jenes, noch diese, ja in ei64 65 66 67 68 69
Ebd., S. 90. Ebd. Ebd., S. 91 f. Ebd., S. 283. Ebd., S. 183. Ebd., S. 231.
Die Ethik als Wegbereiterin einer sittlichen Kultur
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gentlicher letzter Consequenz gibt es [bei] ihm überhaupt keine Ethik, so gewiss diese nur auf dem Standpunkt individueller Freiheit möglich ist.«70
So deutlich Fichte Stellung bezieht gegen die Missgriffe der Ethik Kants und der in ihrem Gefolge stehenden Tradition wie gegen den Ansatz Hegels, so entschieden hebt er in diesem Zusammenhang die Bedeutung Schleiermachers hervor. Wenngleich Fichte die mangelnde Systematik der ethischen Untersuchungen Schleiermachers beklagt, die »mehr den Eindruck von Vorstudien zur Ethik«71 hinterließen, gebühre ihm die Anerkennung, »den ersten umlenkenden Schritt gethan zu haben« auf dem Weg zu einer neuen Gestalt der Ethik, die sich auch der Aufgabe gewachsen zeige, »die Gebrechen einseitiger Bildungsrichtungen zu überwinden«72. Denn hier werde die Vermittlung von Vernünftigem und Natürlichem wie von Allgemeinem und Individuellem »zum wissenschaftlichen Ziele der Ethik«73 erhoben. »Das neue Princip der Ethik beruht […] auf dem Gedanken, dass die klar erkannte und völlig ausgebildete Eigenthümlichkeit des Individuums, sofern sie der Gemeinschaft sich hingibt und nur in ihr sich weiss, eben damit auch sittlich sei, wodurch im schlichtesten Berufe mit den unscheinbarsten Thaten, ohne alles Bewusstsein von Maximen und ohne reflectirte Pflichtmässigkeit, das sittliche Ideal auf ebenso freie, als eigenthümliche Weise wirklich realisirt werden kann.«74
Schleiermachers Ansatz fördere die Einsicht, dass im Hinblick auf die Alltagswirklichkeit sittlichen Handelns Vernunft und Sinnlichkeit in ihrer jeweils individualisierten Form und somit »der ganze Mensch mit allen seinen unverwüsteten Kräften«75 im Focus der Aufmerksamkeit stehen müsse. Daran anknüpfend sei auf dem Felde der ethischen Reflexion die »bisher noch nicht gelöste« Herausforderung anzugehen76, eine taugliche Theorie des menschlichen Willens zu gewinnen, die zeige, wie sich sittliche Selbstbestimmung und persönliche Neigungen in Einklang bringen lassen. »Dann könnte die Ethik erwarten, […] wieder das grosse Bildungsmittel zu werden, welches sie bei den Alten war : sie könnte hoffen, nicht bloss sporadisch und im dunkeln Schoosse des Privatgewissens zu wirken, sondern die allgemeinen Verhältnisse um70 Ebd. 71 Ebd., S. 286. »Gerade als anregende Untersuchung, als heuristische Grundanschauung aufgenommen in den weitern Verlauf der Wissenschaft und auch in ihren scharfsinnigen Einzelbestimmungen gleich Leuchtkugeln vorausgesendet in die schwierigsten und verwickeltsten Gebiete derselben, wirkt sie am Entschiedensten und Fruchtbarsten. So gedenken wir sie aufzufassen.« Ebd., S. 287. 72 Ebd., S. 283. 73 Ebd., S. 279. 74 Ebd., S. 279 f. 75 Ebd., S. 281. 76 Ebd.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
zugestalten, weil sie alle Theile und Formen des Lebens, auch diejenigen, welche nach den gewöhnlichen Begriffen abstracter Sittlichkeit dieser weit zu Seite liegen, aus dem Einen höchsten Gesichtspunkte der sittlichen Aufgabe zu begreifen vermag.«77
Insofern der Mensch sowohl auf Eigenständigkeit und die Ausprägung unverwechselbarer Besonderheit als auch auf eine kollektive Existenz angelegt sei, ermögliche erst die Verwirklichung jeder dieser Seiten seines Wesens eine wahrhaft sittliche Welt: »Beides aus sich heraus und in das eigene wie in das allgemeine Bewusstsein hineinzugestalten, ist der eigentliche Inhalt alles Zeitlebens und der innerste Quell des Ethischen«.78 Umso mehr zählt es für Fichte zum Auftrag der Ethik, eine Atmosphäre zu fördern, in der sich selbstbestimmte Charaktere heranbilden können, die bereit sind, aktiv an der Gestaltung der kollektiven Belange mitzuwirken und ihren persönlichen Anteil an der Verwirklichung der »grossen Aufgaben der Zukunft« zu leisten.79
III.
Der »concrete Theismus« als Grundlage der Ethik
Wenngleich Fichte die Ethik zur bestimmenden Kraft eines alle Kulturbereiche umgreifenden Erneuerungsprozesses erklärt, wird ihr damit keine Stellung zugewiesen, in der sie gleichsam losgelöst von den übrigen philosophischen Lehrgebieten zu agieren habe. Explizit spricht er sich gegen den Versuch aus, die Ethik als autonome Größe innerhalb der Philosophie zu positionieren. Nur im Rahmen eines Systems spekulativer Disziplinen könne sie ihre Aufgabe bewältigen80 ; als praxisbezogene Seite philosophischer Spekulation, die hier »noch und zum letzten Mal ›Wissenschaft‹«81 ist. Die Angewiesenheit der Ethik auf andere Bereiche philosophischen Wissens, wie etwa Metaphysik oder spekulative Gotteslehre, wird Fichte zufolge ersichtlich, wenn es unter Berücksichtigung grundlegender Fragen nach Gott, Welt und Mensch gilt, für die ethische Neubestimmung kultureller Gegebenheiten selbst noch eine unverbrüchliche Basis zu schaffen.82 Entsprechend hebt er die Bedeutung des systematischen Verknüpfens theoretischer und praktischer Aspekte hervor : Müssten »allgemeine theoretische 77 78 79 80 81 82
Ebd., S. 282. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 31. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 279. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 15. G. Scholtz: »Metaphysik und Politik im Spätidealismus«, a. a. O., S. 237. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 15 ff. So stellt Fichte unmissverständlich fest, dass »die Ethik ohne ihre Rückbeziehung auf speculative Gotteslehre gar nicht gedacht werden kann«. Ebd., S. 11.
Der »concrete Theismus« als Grundlage der Ethik
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Prinzipien« einen Zusammenhang, ja eine Entsprechung zu den »ethischen Thatsachen« aufweisen, sei es »die entscheidendste Probe von der Tiefe und Gründlichkeit einer speculativen Weltansicht, ob sie es vermag, von ihrem Princip aus jene Thatsachen nicht nur erschöpfend zu erklären, sondern in ihre ursprüngliche Würde und ihr unantastbares Hoheitsrecht wiedereinzusetzen […].«83
Gefragt ist eine Philosophie, die auf der theoretischen Ebene ein sicheres Fundament für die Behandlung der praktischen Probleme entwickelt, indem sie vor allem Grundhinsichten des christlichen Weltverständnisses einbezieht und diese anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu stützen und neu zu beleben weiß.84 Unter dem Begriff des »concreten Theismus« legt Fichte in seiner Spekulativen Theologie einen entsprechenden Ansatz vor, der den Boden bereitet, auf dem die Ethik und damit die Konzeption für den intendierten Reformprozess letztlich steht85. Ist es Fichte allgemein um das rechte Verständnis jeder »theistische[n] Ueberzeugung« getan, die ihre Standfestigkeit durch das »Gewicht theoretischer Erwägungen und wissenschaftlicher Gründe«86 erhält, zielt er im Besonderen auf den Erweis eines »allgegenwärtig nahen, persönlichen Gottes in der Geschichte«87, der »für die Wirklichkeit und in ihr wiedergewonnen«88 werden soll. Theologie und Spekulation suchten die Natur Gottes bislang ausschließlich durch eine abstrakte und allgemein gehaltene Begrifflichkeit zu fassen, die man entschieden jedweden Bezugs zum Bereich der Anschauung enthoben habe. Infolgedessen sei Gott zu einem »reinen, natur- und wirklichkeitslosen Gedankendinge«89 geworden. Zurück bleibe eine Gottesvorstellung, die immer weniger Anhalt für die Glaubensgewissheit des Menschen gebe. In Fichtes Sicht ein äußerst bedenklicher Befund, zumal die moderne einzelwissenschaftliche 83 Ebd., S. V. 84 Vgl. dazu die Ausführungen des Spekulativen Theisten Heinrich Moritz Chalybäus: Philosophie und Christentum, Kiel 1853, S. 183 ff. 85 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. XX. – »Der von ihm (I. H. Fichte, W. S.) angestrebte konkrete Theismus begreift sich als ein Gesamtsystem, das nicht nur alle philosophischen Disziplinen, sondern auch Anthropologie, Naturforschung und Psychologie im Geist des geoffenbarten Gottes […] erkennt.« S. Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus, a. a. O., S. 72. 86 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Daumer und Feuerbach«, in: ZPpK, Bd. 22 (1853), S. 159 – 180, hier : S. 179. 87 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. VIII. 88 Ebd., S. VII. »Und dies halten wir für den jetzt nothwendig gewordenen Fortschritt der Speculation, den christlichen Gottesbegriff, übrigens abgelöst von allen dogmatischen Beziehungen und Formen, welche er bisher behalten hatte, als den einzig gründlichen und genügenden Mittelpunkt der Philosophie aufzuweisen.« Ebd., S. 178. 89 Ebd., S. V.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
Forschung diesen Glaubensverlust forciere, indem sie selbst höchst einseitig und in Verkennung ihrer tieferen Grundlagen die Erkenntnisse der Metaphysik verwerfe und allein das empirisch Erkennbare für wirklich halte. »Wenn aber eine Zeit, eine Bildungsepoche ihren Gott verloren hat, so verfällt auch unwiderbringlich ihre allgemeine Cultur : die Wissenschaft, ihrer allvermittelnden Einheit verlustig, sinkt zur äußerlichsten Empirie herab und reiht nur Einzelnes beziehungslos an einander. Die praktischen Mächte des Lebens verwildern in zuchtloser Willkür des Begehrens und Meinens, und der menschliche Geist, den Ideen entfremdet, ist ohne Compaß seinem eigenen Wähnen überlassen.«90
Fichtes Einwand gegen die Antworten, die innerhalb der Tradition metaphysischen Denkens auf die Frage nach dem Wesen Gottes gegeben wurden, trifft besonders das spekulative System Hegels, insofern es nicht bloß den durch Schelling unternommenen Versuch einer Abkehr von den abstrakten Theoremen herkömmlicher philosophischer Gotteslehre, sondern überhaupt jeden Ansatzpunkt für eine Restitution des christlichen Gottesbildes zunichte mache. Wo Schelling immerhin den Weg dafür bereitete, Gott als personales Wesen zu begreifen91, da habe Hegel »nur den Buchstaben, nicht den Geist der Schelling’schen Philosophie fortgesetzt und vollendet, indem er dem Gedanken eines höchsten persönlichen Geistes, eines absoluten Entscheiders überhaupt, zwar zugewendet blieb, ihn abermals jedoch in das Abstractum der unendlichen Subjectivität herabsinken ließ. Hätte es dabei sein Bewenden gehabt, es wäre damit der Philosophie die Möglichkeit des Fortschrittes und der Keim der höchsten Einsicht für immer entzogen worden, weil diese nicht mehr, wie vorher, bloß unerkannt und unangetastet blieb, sondern zwar zugestanden und aufgenommen, aber ins Gegentheil ihrer selbst verkehrt in dem letzten Systeme uns dargeboten wird: denn hier wurde das letzte Heilmittel der Philosophie selber in den Irrthum umgedeutet, von welchem es befreien sollte.«92
Hegels Rede vom Weltgeist, der sich in die Erscheinungen von Natur und Geschichte entlässt, um in diesem Anderen seiner selbst durch den dialektischen Prozess unaufhörlicher Setzungen und Aufhebungen erst eigentlich zu sich zu kommen, verbleibe, wie Fichte bereits in einer früheren Kritik vermerkt, bei jener »pantheistischen Trivialität«93, dernach die Verwirklichung des selbstbewussten Seins Gottes an die Entwicklung des endlichen Geistes des Menschen gebunden sei. Mitnichten könne Hegels Vorstellung vom absoluten Prozess der Selbstwerdung Gottes dessen Wesenseigentümlichkeit erfassen. Nur der Begriff 90 91 92 93
Ebd., S. VI. Ebd., S. 159. Ebd., S. 96. I. H. Fichte: Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, Heidelberg 1832, S. 50.
Der »concrete Theismus« als Grundlage der Ethik
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eines absoluten Ur-Ich94 werde dieser gerecht. Gott existiere vor und über den Dingen, als freier schöpferischer Geist, dem Selbstbewusstsein und Gemüt95 allein von sich her eigneten, kurz: als außerweltliche, doch gleichwohl »concrete Persönlichkeit«96. Soll dieses Gottesverständnis nach Fichtes Bekunden im realen Sein der Welt Bestätigung finden, steht damit zum einen die empirische Erforschung des Naturgeschehens im Blick, als deren Befürworter er sich hier zeigt: Sie offenbare eine innere Zweckhaftigkeit und gesetzmäßige Ausgestaltung der Natur, die allein durch den Geist und den Willen eines personalen Schöpfers eine Erklärung fänden.97 Zum andern verweist Fichte auf Phänomene menschlichen Lebens, die dem endlichen Geist noch direkter Aufschluss über Gottes Wesen98 vermittelten. Demgemäß sieht er die sicherste Gewähr für die Existenz Gottes als absolute Persönlichkeit im »höchsten Weltfactum« vergegenwärtigt: In der »Erscheinung einer Gottesliebe in uns«99. Gerade das Unwillkürliche dieser Empfindung führe zu der Evidenz, »daß Gott ein persönlich-selbstbewußter sei: ein allgemeines Wesen, einen abstracten Begriff kann man nicht lieben«100. Die durch den »concreten Theismus« geleistete philosophische Besinnung 94 Ebd., S. 51. 95 Fichte zufolge stellt das »Gemüth« ein »Ursprüngliches oder Natürliches geistiger Anlagen« dar, welches im Wesen Gottes vorausgesetzt werden müsse, um ihm Personalität zusprechen zu können. Wie für den endlichen Geist, gelte auch für den göttlichen, dass erst durch dieses spezifische Gepräge »das Allgemein-Geistige (abstract Selbstbewußte) […] den Stempel persönlichen Charakters gewinnt«. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 337 f. 96 Ebd., S. 340; vgl. ebd., S. 180 f. – »Dem nur abstrakt Absoluten der idealistischen Metaphysik soll zur ›unendlichen Positivität‹ seines Inhalts verholfen, der Götze des Allgemeinen gestürzt und der Persönlichkeit des lebendigen Gottes wieder auf den Thron in und über seinem Reich, der Schöpfung, verholfen werden.« S. Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus, a. a. O., S. 26. 97 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. Xf. Dass Fichte die »metaphysischen Begriffe von der ewigen Natur Gottes« mit »realen, empirischen Gegenbildern« verdeutlicht wissen will, steht im erklärten Zusammenhang mit seinem Bestreben, die Aussagen philosophischer Spekulation vom Beigeschmack des »bloß Abstracten« und »Unwirklichen« zu befreien (ebd., S. 514). Da gleichwohl nur die spekulative Ausdeutung der Wirklichkeit die Basis und den strukturellen Zusammenhang der Erkenntnisse empirischer Naturwissenschaft sichere, plädiert er dafür, diese beiden Bereiche der Wissenschaft in ein Verhältnis gegenseitiger Stützung zu überführen. Bestehe doch »zwischen Naturforschung und Speculation kein Zwiespalt, sondern ein heiliges Bündniss«. I. H. Fichte: »Grundsätze für die Philosophie der Zukunft. Ein Vortrag zur Eröffnung der ersten Philosophenversammlung in Gotha am 23. September 1847 gehalten«, in: Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik, Bd. 1, a. a. O., S. 237 – 264, hier: S. 259; vgl. I. H. Fichte: Über Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, a. a. O., S. 22. 98 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. XI. – Eine prägnante Kritik dieser Zielsetzungen Fichtes findet sich bei W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 21975, S. 170 f. 99 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 674. 100 Ebd., S. 678.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
auf die menschliche Gottesliebe lasse auch das Verhältnis des ewigen personalen Schöpfers zur endlichen Welt des Menschen in einer neuen, klareren Perspektive erscheinen. Eben das stellt in Fichtes Augen einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Aufgabe dar, die er die Wiedergewinnung Gottes für die Wirklichkeit nennt. Das Ziel sei ein vertieftes Bewusstsein für das Band der Liebe, das die Menschen mit Gott vereine und sie untereinander zu mitfühlenden, sich wechselseitig ergänzenden Wesen mache. Entsprechend steht bei Fichte die Erkenntnis über das Person-Sein Gottes in unlösbarem Zusammenhang mit der spekulativen Untermauerung jenes Kernsatzes christlich-neutestamentarischen Gottesverständnisses, der Gott zum Inbegriff der Liebe erklärt.101 Vermöge allein das Gott Verwandte im Menschen Gott zu lieben, müsse diese Liebesfähigkeit auch durch ihn bewirkt sein und das »ewige Gefühl«102 der Liebe zu seiner vollkommenen Natur gerechnet werden. Dass folglich Gott selbst als Liebender zu begreifen sei, darauf weise auch die zwischenmenschliche Liebe hin: »Wenn Gott uns nicht liebte auch bis in unsere Endlichkeit (Sünde, Entartung) hinein, vermöchten wir weder ihn, noch gegenseitig uns zu lieben«. Haben Gottesliebe und Menschenliebe gleichermaßen ihren Ursprung in Gott, lasse sich die Bedeutung ermessen, die der Liebe im Wesen Gottes zukomme; sie stelle »die Substanz und das Innerste des göttlichen Gemüths« dar.103 So gleichsam zum tiefsten Grund der Liebe vorgedrungen, zieht Fichte den Schluss, dass Gott in der Liebe zu den Menschen letztlich sich selbst liebt. Die aus Liebe vollzogene Erschaffung ihm ebenbildlicher Geschöpfe sei einzig ein Akt gnadenvollen Gebens, der Gott die eigene Seligkeit noch intensiver empfinden lasse. Gottes Liebe im Sinne der menschlichen Liebe als Bedürfnis zu deuten, das nur im Anderen Befriedigung finden kann, bliebe der Vorstellung vollkommener Selbstgenügsamkeit unangemessen.104 In dieser Hinsicht erhält das Erkennen der Personalität Gottes größtes Gewicht: In ihrer Selbstbezogenheit setze die göttliche Liebe die Befähigung, sich als Ich erfassen zu können, und die Wirkungskraft eines Gemütes voraus. D. h., nur als Person ist Gott in der Lage, sich selbst zu lieben.105 101 102 103 104 105
Vgl. die Bibel: 1 Joh. 4. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 679. Ebd., S. 344. Ebd., S. 341 f. »Wie vermöchte Gott überhaupt Sich zu lieben, […] wenn er selber kein Ich wäre, wenn er des eigenen selbstbewußten Mittelpunktes ermangelte, mit andern Worten: wenn die Gottesliebe in uns nicht lediglich der Abglanz derjenigen Liebe wäre, mit welcher Gott ewig sich umfaßt in der Fülle seines Wesens, welches daher getragen und durchdrungen sein muß von gleichfalls ewigem Selbstbewußtsein? Dann aber ist er ferner nicht bloß als Ich, als selbstbewußter Geist zu fassen, sondern auch die ganze Tiefe der Gemüthskräfte ist ihm beizulegen, deren nachwirkende Spuren im endlichen Geiste unverkennbar sind.« Ebd., S. 681 f.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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Die auf Gott und den Mitmenschen sich richtende menschliche Liebe müsse mithin noch genauer »als eine in die endliche Welt entlassene Nachwirkung« dieser »eigenen innern Liebe Gottes« begriffen werden. Sie vermittele den Einzelnen ein Gefühl für die vorweltliche Einheit, die sie mit Gott und den anderen Menschen verbinde.106 Dergestalt spekulativ ausgedeutet, wird das Bild des christlichen Schöpfergottes vor Augen gestellt, der jedem Menschen die Befähigung verleiht, ihn und somit zugleich in ihm, durch die Wesensverwandtschaft aller Menschen in Gott, auch den anderen Menschen zu lieben. Für Fichtes Ethik haben diese aus der »reifsten theoretischen Einsicht«107 hervorgehenden Bestimmungen insofern tragende Bedeutung, als er dort die Wurzel der menschlichen Sittlichkeit bloßlegt: Die Liebe erscheint als der »Grundwille« des Menschen, der ihn um der wechselseitigen Ergänzung willen sein »ursprünglich Verwandtes«108 suchen lässt. Die vielfältigen Formen menschlicher Gemeinschaftsorientierung gleichwie die Fähigkeit, eigensüchtige Impulse des individuellen Willens überwinden zu können, zeigten das Wirken des Grundwillens an. Allein diese die Gegenwart des Göttlichen widerspiegelnde Kraft der Liebe realisiere den sittlichen Willen des Menschen.109 Für die sittliche Praxis sei allerdings entscheidend, inwieweit die Einzelnen einen Zugang zu dieser höheren Macht in ihrem Inneren gewännen. Erst das erkennende und erfühlende Erlebnis des Verbundenseins mit Gott biete die Voraussetzung für eine von Grund auf gefestigte sittliche Haltung.110
IV.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
Die Ergebnisse der Spekulativen Theologie aufgreifend, gehört es zu Fichtes Anliegen in der Ethik, die Thematik des menschlichen Grundwillens weiter auszuführen. Insbesondere soll gezeigt werden, wie der Grundwille das Sittliche zur Realisierung bringt und welche Konsequenzen sich daraus für eine Reformierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben. Eben jene Aufgabe, nämlich »die unverrückbaren, der menschlichen Natur einverleibten Gesetze zu enthüllen, nach denen alle sociale Bildung sich ge106 107 108 109
Ebd., S. 343 f. Ebd., S. 333. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 17. »Wirkte nicht ein solcher Wille in unsere Endlichkeit hinein, so wäre gar keine, die Welt und das eigene Selbst überwindende Sittlichkeit möglich.« I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 10. – »Die aus der Gottesliebe heraus entströmende und [in] ihr sich vollendende Nächstenliebe ist ethische Liebe im eminentesten Sinne des Wortes.« C. C. Scherer : Die Gotteslehre von Immanuel Hermann Fichte. Ein Beitrag zur Würdigung der neueren Philosophie in ihrem Verhältnis zur Theologie, Wien 1902, S. 192. 110 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 194; vgl. ebd., S. 145.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
staltet«111, könne dabei nur im Lichte einer systematisch entfalteten ›Ideenlehre‹ bewältigt werden. Da es um die Gesinnung und das Handeln des Menschen geht, identifiziert Fichte drei ethische oder »praktische« Ideen, die den »Inhalt«112 bzw. den »innersten Charakter«113 des Grundwillens ausmachten. Der in Gott gegründeten Ur-Einheit des menschlichen Geschlechts entstammend, seien sie das Tragende und Vermittelnde der gleichsam impulsgebenden Gewissheit, die die Menschen zu einer Existenz in sich ergänzender Verbundenheit bestimme114. Die ethischen Ideen stellten somit ›Wirkungen‹ des göttlichen Geistes dar, die als »›apriorische‹, ewige, schlechthin überzeitliche Mächte«115 den menschlichen Willen bei der Ausformung unterschiedlicher Erscheinungsweisen sozialer Theorie und Praxis vorgängig immer schon leiteten116. Bezeuge doch die allgemeine Persönlichkeitsstruktur des Menschen auch im Bereich des UnbewusstTriebhaften seine Ausrichtung auf ein Leben in Geselligkeit und die Anlage für die Entfaltung eines sittlichen Seins117. Neben diesem besonderen ontologischen Status sind die ethischen Ideen durch einen normativen Status qualifiziert: Als »Musterbegriffe des Willens« fordern sie laut Fichte bestimmte »mit ursprünglichem sittlichen Beifall behaftete Willensverhältnisse«118, welche in ihrer ausgereiften Form die Realisierung des »höchsten Gutes«119 und damit das eigentlich Erstrebenswerte für den Menschen repräsentierten. Die philosophische Kritik der gesellschaftlichen Gegebenheiten erhält so zugleich den Charakter einer Beurteilung sub spezie aeternitatis: Dank ihrer Einsicht in die Sphäre der Ideen eigne der Ethik die Fähigkeit, Aufklärung über die Frage zu geben, wie hinsichtlich der angetroffenen Formen menschlichen Soziallebens die Verhältnisse von Absolutem und Historisch-Kontingentem 111 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. VI. 112 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 18. 113 Ebd., S. 50. Wiederholt macht Fichte deutlich, welche Bedeutung er dem Aufweis eines in sich geschlossenen »Systemes der praktischen Ideen« beimisst (ebd., S. 14). Nur so sei dem Fehler Herbarts zu entgehen, dessen Ideenlehre sich auf ein bloßes Nebeneinander ethischer Prinzipien beschränke, denen es überdies an einer wissenschaftlichen Begründung mangele. Ethik 2/1, S. 2; vgl. ebd., S. 5. Ein ähnlicher Einwand Fichtes trifft auch Chalybäus: ebd., S. XVI. 114 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 19. 115 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 3. 116 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 14. Wobei sie stets gemeinsam und in gegenseitiger Verbundenheit wirkten; allein der wissenschaftlichen Darstellung wegen seien die drei Ideen als Getrennte zu behandeln. Ethik 2/2, S. 10 ff. 117 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 98 f. So kann Fichte davon sprechen, dass in einem Willen, in dem das »Böse« die Oberhand gewinne, »alle unmittelbaren Regungen des instinctiv Sittlichen« zurückgedrängt werden (Hervorh. W. S.). Ethik 2/2, S. 433; vgl. ebd., S. 10. 118 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 28 f.; vgl. Ethik 1, S. 5. 119 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 127 f.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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beschaffen und welche Änderungen im Bereich des Wandelbaren anzustreben seien.120 Insbesondere diese Zugriffsmöglichkeit auf die paradigmatischen Inhalte des Grundwillens verleiht der Ethik in Fichtes Augen die Kompetenz, den politisch Verantwortlichen ein Orientierung vermittelndes Wissen bereitzustellen und Wege zur reformierenden Umgestaltung des Gemeinwesens zu weisen121. Wenn Fichte im Anklang platonischer Vorstellungen konstatiert, der Zweck des geschichtlichen Prozesses sei die Angleichung der menschlichen Kulturwelt an den Gehalt der Ideen, existiert für ihn gleichwohl niemals eine eindeutige Form der Realisierung.122 Wohl nicht zuletzt mit Blick auf die einschlägige Kritik an Platon verwahrt er sich gegen die Auffassung, seine Ethik ziele auf die den ethischen Ideen abgelauschte »aprioristische Construktion« eines »Musterstaates«123. Ein solches Unterfangen verfehle die Realität ebenso wie der Versuch, ohne den Rückbezug auf eine ideelle Grundlage »das Vorhandene bloss historisch zu erklären«124. Ein der Rechtsidee vollständig entsprechender Rechtsstaat könne sowohl als republikanischer Staat wie im Gewande der Monarchie zur Verwirklichung gelangen125. So entschieden Fichte die Vermittlung von Historischem und Ideellem zum Leitbild einer erfolgreichen Veränderung der gesellschaftlichen Zustände erhebt126, so deutlich weist er auf den Spielraum bei der Einlösung des ideenhaft Vorgegebenen hin127.
120 Fichte nennt es eine »Hauptfrage der gegenwärtigen Zeit«, wie »in der einzelnen Gestalt des geschichtlich gebildeten Ethos das Ewige und Dauernde vom Vergänglichen, dem bloss Localen oder bloss Temporären, sich unterscheiden lasse und nach welchem allgemeinen Gesetze sich jenes aus diesem herausgestalten könne«. Ethik 1, S. 7 f. 121 Das Wissen über diese Ideen ermögliche der Ethik nicht nur die kritische Beurteilung der Gegenwart, sondern auch den Anspruch, »des Gesetzes der Zukunft mächtig zu sein«. Ethik 2/2, S. VI. 122 »Die ethischen Ideen […] sind als normierende Mächte somit auf die Ergebnisgestalt des von ihnen geführten Handelns bezogen offen und im situativen Zusammenhang formvariabel.« Y. H. Hellmuth: Das innere Licht, a. a. O., S. 98. 123 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. V. 124 Ebd. 125 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 47. Mit dem »[R]epublikanischen« meint Fichte an dieser Stelle eine Staatsform, die er des Näheren als »Wahlrepublik« (Ethik 2/2, S. 288) kennzeichnet und von der Monarchie unterscheidet. Darüber hinaus gebraucht er einen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch üblichen Republik-Begriff, der auch das monarchische Herrschaftssystem einschließt (ebd., S. 281): Hier umschreibt »›Republik‹ […] eine das ›gemeine Wesen‹ stiftende Verfassung ganz gleich welcher Regierungsform; als Gegenbegriff sind ›Gewaltherrschaft‹ (›Despotie‹) und ›Herrschaftslosigkeit‹ (›Anarchie‹) zu nennen«. W. Mager : Art. ›Republik‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (hrg. v. O. Brunner ; W. Conze; R. Koselleck [Studienausgabe] ), Bd. 5, Stuttgart 2004, S. 549 – 651, hier : S. 618 f. 126 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 5. 127 Ebd., S. XIVf.; S. VIIf.; vgl. Ethik 2/1, S. 3.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
1.
Die Idee des Rechts
Die individuell sich ausprägende Gabe des Geistes – der jeder Person zugehörige »Genius«128 – bestimme den Menschen zu einer Existenz in Freiheit. Diese Einsicht werde durch die Rechtsidee geweckt: Finden sich die Einzelnen unter Gleichen, in Gemeinschaft mit ebenfalls freien Genien, können sie ihre eigene Freiheit nur leben, sofern sie auch deren Freiheit anerkennen. Damit ist freilich für Fichte bloß die »theoretische Seite« des Rechtsbegriffes erfasst, der in dieser expliziten Reinheit allein die wissenschaftliche Reflexion der Rechtsidee widerspiegele. In der Praxis sorge ein gleichfalls die Wirkkräfte dieser Idee offenbarendes »ursprüngliches Rechtsgefühl« für die Bereitschaft, qua Anerkennung der fremden Freiheit die eigene Freiheit auch faktisch einschränken zu lassen.129 Jedes dergestalt sich konstituierende Rechtsverhältnis gehöre dabei schon zu einem spezifischen Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Fichte führt Beispiele wie die Gemeinde, den Berufsstand oder den Staat an: Alle diese Formen sozialer Organisation seien »Rechtsinstitute« insofern, als hier die äußere Ordnung kraft rechtlicher Normen gesichert werde.130 Ein wesentliches Moment der Rechtsidee bleibe allerdings bei diesem Blick auf die Regelung der äußerlichen Beziehungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern noch ausgeblendet. Allein die formelle oder negative Freiheit komme hier zur Geltung, d. h. die Möglichkeit, ohne den hindernden Zwang eines fremden Willens dem eigenen Wollen gemäß zu handeln. Wer nur auf diese »äussere Gerechtigkeit«131 schaue, verharre in der Einseitigkeit, die insbesondere Kants Rechtslehre kennzeichne. Letztere bleibe darauf beschränkt, »den Menschen nur als formell frei, mit unbedingtem Anspruche auf rechtliche Freiheit zu fassen; – als wenn er nur dies abstracte Rechtswesen wäre und nichts Anderes besässe oder erstrebte«.132
Die Idee des Rechts sei dann vollständig erfasst, wenn neben der Sicherung freier Willensäußerungen auch der positiven Freiheit Aufmerksamkeit geschenkt werde: Die Einzelnen müssten die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer geistigpersonalen Eigenart erhalten. Erst diese »innere Gerechtigkeit« bringe sie in die Lage, Motive und Zwecke ihrer Entscheidungen zu vergegenwärtigen und sich bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen.133 Und erst ein solcher Prozess indi128 129 130 131 132 133
Zur Lehre vom Genius vgl. unten: Teil 2, Kap. I. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 34 ff. Ebd., S. 49. Ebd., S. 36. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 90. I. H. Fichte: Ethik 2/1, 37.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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viduell-sittlicher Heranbildung lasse sie einen Grad von Selbstbestimmung erreichen, der die formelle »Willkür«134 im Zustande negativer Freiheit weit überschreite. »Jeder hat den gleichen Anspruch auf die freie Entwicklung seines Genius (der Persönlichkeit) in und an der Gemeinschaft. Nur dann, wenn die sämmtlichen Bedingungen dazu ihm durch dieselbe gesichert sind, ist die innere Gerechtigkeit, das ureigene (gottverliehene) Recht an ihm erfüllt.«135
Explizit weist Fichte im Gefolge dieser Überlegungen die seines Erachtens irrige Annahme zurück, dem Recht gebühre die Zuschreibung eines selbstzweckhaften Charakters. Auch hinsichtlich der Ermöglichung positiver Freiheit bleibe es ein ordnendes und schützendes »Mittel«, das nur die unabdingbaren Voraussetzungen für die Förderung und Vervollkommnung der Fähigkeiten der einzelnen Menschen biete. Die eigentliche Realisierung dieses Zieles finde jedoch im Wirkungsbereich einer ›höheren‹ Idee statt.136
134 Ebd., S. 90. – Der aus heutiger Sicht schon klassisch zu nennende Beitrag zu diesen beiden Freiheitsauffassungen stammt freilich aus dem 20. Jahrhundert: Isaiah Berlins Oxforder Antrittsvorlesung im Jahre 1958 (I. Berlin: »Zwei Freiheitsbegriffe«, in: Ders.: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a. M. 1995, S. 197 – 265). Sei die Freiheit im negativen Sinne als »Freiheit von etwas«, als »das Fehlen von Übergriffen jenseits einer unfesten, aber stets erkennbaren Grenze« (ebd., S. 207) zu verstehen, deute der Begriff der positiven Freiheit auf das Bedürfnis der Einzelnen nach »Selbstbestimmung oder Selbst-Beherrschung« (ebd., S. 212), auf das Streben nach einer Kontrolle über ihr eigenes Leben. Dabei sieht es Berlin als problematisch an, dass hier die Vorstellung der Selbstbestimmung auf einer Zweiteilung des Selbst fuße, auf einem »im Zentrum aller politischen Selbstverwirklichungstheorien« zu findenden »Taschenspielertrick« (ebd., S. 214). Ein ›rationales‹, ›ideales‹, das ›wirklich‹ Bedeutsame erkennende und eben darauf abzielende Selbst werde einem ›irrationalen‹, ›empirischen‹, von den Leidenschaften beherrschten Selbst gegenübergestellt. Die Teilung erfahre alsdann noch eine Vertiefung, wenn das ›wahre‹ Selbst zugleich für »ein gesellschaftliches ›Ganzes‹« stehe, in dessen Sinne dieses Selbst dem empirischen Selbst die ›eigentliche‹ Bestimmung vorschreibe, nebst der Verheißung auf eine »›höhere Freiheit‹« (ebd., S. 212). – Das Unheilvolle sieht Berlin also »in dem ideologisch-moralischen Paternalismus, der sich des heimlichen Perfektionismus der positiven Freiheit bedient und in ihn seine Programmatik einschreibt« (W. Kersting: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart; Weimar 2000, S. 266, Anm.). – Was nun Fichtes Verständnis der positiven Freiheit angeht, so mag seine Auffassung, allein diese ermögliche dem einzelnen Menschen eben das zu werden, »was er an sich oder nach seiner göttlichen Bestimmung ist« (Ethik 2/1, S. 37), nicht nur wie ein heimlicher Perfektionismus erscheinen. Gleichwohl deuten seine Vorstellungen von den zur Verwirklichung der positiven Freiheit anzustrebenden rechtlichpolitischen Rahmenbedingungen keineswegs in die Richtung eines Systems erziehungsstaatlicher Bevormundung. Vgl. unten: Teil 3, Kap. II. 4.; Kap. III. 135 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 21; vgl. Ethik 2/1, S. 37. 136 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 59; vgl. Ethik 2/2, S. 17 f.
46 2.
Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
Die Idee der ergänzenden Gemeinschaft
Die »Allen eingeborene Urverwandtschaft«, die im Falle der Rechtsidee nur insofern zur Geltung komme, als diese das individuelle Freiheitsstreben auf ein Maß »äusserer Verträglichkeit« bringe, tritt Fichte zufolge durch die Idee der ergänzenden Gemeinschaft umso stärker in ihrer Bedeutung hervor. Hier werde das Bewusstsein für die in Gott gegründete innere Verbundenheit der Menschen erst eigentlich geweckt.137 Entsprechend beruhe die Liebe, jene »rückhaltlose Hingebung an das andere Ich«, auf der Wirkungsmacht dieser Idee. Mithin auch das Sittliche, da man eine sittliche Haltung wesentlich der Überwindung selbstsüchtiger Antriebe durch die Liebe verdanke.138 Wenn Fichte zugleich den Rechtssinn als Moment der Versittlichung des Menschen begreift139, führt er doch das »specifisch Sittliche«140, die von eigennützigen Motiven freie Hinwendung zu Anderen, primär auf die Idee der ergänzenden Gemeinschaft zurück. Mitleid und Selbstaufopferung für alles Schwächere, Ehrfurcht, Demut und Vertrauen gegenüber dem ›Höheren‹ und Vollkommeneren ebenso wie das gegenseitige Zugetansein von Menschen, die sich auf einem ähnlichen Grad persönlicher Reife befinden, stellen laut Fichte die Erscheinungsweisen der Liebe dar141, aus denen er die beiden Grundgestalten des spezifisch Sittlichen gewinnt. Neben die wohlwollende, eigene Bedürfnisse zurückstellende »Ergänzung des Andern«142 trete die Suche nach »Ergänzung in Andern«, das Sich-Öffnen für die Anregungen durch ein Gegenüber, das auf die Vervollkommnung der Person zu einem – wie Fichte hier sagt – »menschheitlichen Selbst«143 ziele. Mit der Zusammenschau dieser beiden basalen Momente des Sittlichen seien die bislang in ihrer Gesamtheit noch unberücksichtigt und unmotiviert gebliebenen Möglichkeiten zwischenmenschlicher Bindung und Verständigung erst wirklich auslotbar.144 Fichtes metaphysische Grundannahmen führen ihn zu 137 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 59 f.; vgl. Ethik 1, S. 21. 138 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 60 f. 139 Der Einschätzung Chalybäus’, Fichtes Ethik stelle eine »abstracte Liebeslehre« dar, die so weit gehe, »das Recht überhaupt für nichts Sittliches zu erklären« (H. M. Chalybäus: »Ueber eine Monadologie als Grundlage der Ethik. Ein Sendschreiben an I. H. Fichte«, in: ZPpK, Bd. 21 [1852], S. 68 – 86, hier : S. 68 f.), widerspricht Fichte demgemäß: Obzwar der Idee der ergänzenden Gemeinschaft »untergeordnet«, sei die Rechtsidee gleichwohl eine ethische Idee, sofern sie die wechselseitige Anerkennung personaler Selbstbestimmung fordere und zur Realisation bringe. I. H. Fichte: »Welcherlei Hypothesen sind in der Philosophie zulässig? Antwortschreiben an H. M. Chalybäus«, in: ebd., S. 87 – 101, hier: S. 92 f. Anm. 140 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 141. 141 Ebd., S. 60 f. 142 Ebd., S. 64. 143 Ebd., S. 66. 144 Ebd., S. 68.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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einer tendenziell optimistischen Bewertung des in der Natur des Menschen angelegten Potenzials sozialer Kompetenzen. Obgleich seine Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft mitunter an Hegels eindringliche Kennzeichnung derselben als »Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens«145 erinnert, legt er neben der Thematisierung der dissoziierenden Kräfte der gesellschaftlichen Verhältnisse ein deutliches Augenmerk auf jene des sozialen Ausgleichs.146 Die Idee der ergänzenden Gemeinschaft prägt Fichte zufolge den Staat als umgreifenden Bereich menschlichen Soziallebens aus, als »sittlichen Geist der menschlichen Gesellschaft«, der die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und die humane Gemeinschaft in sich fasse.147 Wird der Staat zum einen als Inbegriff der (verfassungs)rechtlich gegründeten Formen politisch-institutioneller Führungsgewalt148 behandelt, tritt dieser zum anderen als ›Gemeinwesen‹ im eminenten Sinne in Erscheinung und ist so von der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausdrücklich unterschieden149. Ebenso findet sich bei Fichte keine explizite Unterscheidung zwischen ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹150. Präge die Idee des Rechts den Staat zum Garanten der Rechtssicherheit, habe dieser sich durch die Einwirkung der Idee der ergänzenden Gemeinschaft vornehmlich auf der politischen, sozialen und wissenschaftlich-künstlerischen Ebene als initiierende und leitende Instanz kulturell-sittlicher Fortentwicklung zu bewähren. »Der Staat in dieser umfassenden Weise gedacht lässt sich daher bezeichnen als das allgemeine Mittel im Dienste der gesammten ethischen Ideen. Er schützt durch Handhabung des Rechts, durch dienendes Wohlwollen und durch äussere Pflege jedes
145 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, in: Theorie-Werkausgabe (hrg. v. E. Moldenhauer ; K. M. Michel), Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 341 (§ 185). Vgl. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 82; S. 85; S. 264 f. 146 »Unsere sociale Lage ist nicht so verzweiflungsvoll, wie der erste Blick des gründlich und aufrichtig Forschenden allerdings sie finden muss: der zweite zeigt eben, dass im Verderbniss selber die Keime des Heiles liegen, wenn man nur Ernst machen will mit ihrer Benutzung.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 85. 147 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 18. Die »humane Gemeinschaft« meint Bindungen und Vereinigungen, in denen »der Mensch als solcher«, als »das freie und bewusste Geistwesen« (ebd., S. 363 f.) erscheine, jenseits der Verpflichtungen, die ihm die Familie und die bürgerliche Gesellschaft auferlegen. Man ist geleitet durch das geteilte Interesse für die Kunst (ebd., S. 364 ff.) oder die Wissenschaft (ebd., S. 383 ff.), oder pflegt die Kultur der Geselligkeit und der freundschaftlichen Verbindung (ebd., S. 398 ff.). 148 Ebd., S. 17 f.; vgl. ebd., S. 210 ff.; S. 266 ff. 149 So stellt Fichte die »Ausbildung des Staates nach Innen« mit der Gegenwärtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft geradewegs auf eine Ebene. Ebd., S. 217. 150 Vgl. ebd., S. 212.
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
Institutes sittlicher oder intellectueller Vervollkommnung, die bürgerliche und die menschliche Gemeinschaft.«151
Bemisst man laut Fichte die ganze inhaltliche Dimension der Idee der ergänzenden Gemeinschaft, werde offenbar, dass sie letztlich auf die »Ergänzung Aller durch Alle« ausgerichtet ist, d. h. auf die Integration eines jeden Menschen in möglichst viele Verhältnisse wechselseitiger Vervollkommnung. So kann er davon sprechen, dass jegliche von sittlichem Geist getragene zwischenmenschliche Beziehung – sei sie in der privaten oder der öffentlichen Sphäre angesiedelt – ansatzweise die Vorstellung von einer geeinten Menschheit in die Wirklichkeit übertrage.152 Kennzeichnet Fichte in diesem thematischen Zusammenhang den Staat auch als »allgemeine Schutzwehr und Mittel […] für alle höchsten Zwecke der Menschheit«153, wurde hier in Hinblick auf den Gedanken der ideengeleiteten ›Menschheitsvervollkommnung‹ ein grober Missgriff ausgemacht. Ob desselben würde nicht nur die menschliche Freiheit »der Vorstellung einzelner Menschen geopfert«154 ; auch sei die Existenz des Staatswesens überhaupt gefährdet. Denn die Verbindung zwischen der Vorstellung vom »menschheitbildenden Process«155 und den ethischen Ideen des Rechts und der ergänzenden Gemeinschaft »zwingt […] dazu, erst den Inhalt der Ideen zu bestimmen, deren Verwirklichung der Staat dienen soll, um als […] Konsequenz die individuelle Freiheit sich entfalten zu lassen«.156 Eben dieser Vorgang habe »notwendig zur Folge, daß Einzelne den Inhalt der Ideen bestimmen, die im Staat verwirklicht werden sollen«, sodass »die ›Staatsidee‹ unter den Dienst des besonderen, nicht verallgemeinerbaren Interesses Einzelner gezwungen würde und die ›Staatspersönlichkeit‹ im Kampf widerstreitender Interessen untergehen müßte«.157 Wie in der Einleitung bereits erwähnt, ist das Modell der ethischen Ideen mit ihrer Klassifizierung als ›inhaltliche‹ Bestimmungen des göttlich inspirierten Grundwillens in der Tat keineswegs unproblematisch. Habe sich nämlich innerhalb des Wirkungsspektrums der ideellen Vorgaben das menschliche Geschlecht im Gange der Weltgeschichte »zur bewussten Eintracht einer Menschheit aufzuschliessen«158, bleibt auf der Ebene metaphysischer Begründung die 151 152 153 154 155 156 157 158
Ebd., S. 211 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 68. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 212. S. Koslowski: Die Geburt des Sozialstaats aus dem Geist des Deutschen Idealismus. Person und Gemeinschaft bei Lorenz von Stein, Weinheim 1989, S. 94. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 69. S. Koslowski: Die Geburt des Sozialstaats aus dem Geist des Deutschen Idealismus, a. a. O., S. 94. Ebd. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 17.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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für den menschlichen Freiheitsspielraum höchst relevante Frage nach der Einflussnahme Gottes letztlich offen.159 Muss aber der von Fichte projektierte Staat infolge der konkreten politischen Umsetzung der ideellen Leitlinien wirklich zwingend in den Bann dirigistischer Kräfte geraten? Ist dieser Entwurf so angelegt, dass die Staatsangehörigen ihrer Freiheit verlustig gingen, da sie notwendigerweise unter das Diktat von Dogmatikern und Doktrinären politischer oder priesterlicher Provinienz gerieten, die schließlich ihrem Kampf der Partikularinteressen den Staat als ganzen opferten? Insbesondere der dritte Teil der vorliegenden Arbeit soll zeigen, dass dies keineswegs zutrifft; dass Fichtes Staat, durchaus auch im Sinne des durch die ethischen Ideen Vorgegebenen, auf der praktisch-institutionellen Ebene differenziert genug aufgestellt ist, um nicht alternativlos zwischen den ideologisch motivierten Egoismen Einzelner zerrieben zu werden.
3.
Die Idee der Gottinnigkeit
Die Vorstellung der fortschreitend sich vervollkommnenden Menschheit betrachtet Fichte als ein Ethos der Humanität, das alle »von lebendiger Sittlichkeit Erfüllten«160 darin bestärke, prinzipiell jedem Menschen mit Wohlwollen und Offenheit zu begegnen. Es ergebe sich allerdings die Frage, wie eine solche Haltung angesichts der Herausforderungen, die die menschliche Endlichkeit an das Individuum stelle, wirklich Bestätigung erhielte. Zum einen sähen sich die Einzelnen auf einen persönlichen Wirkungskreis eingegrenzt, welcher nur in geringem Maße lindernde Eingriffe in die Probleme der Welt erlaube161. Zum anderen seien sie im »Bewusstsein der steten Unangemessenheit unsers factischen Willens gegen den Grundwillen des Guten«162 einer dauerhaften Konfrontation mit der eigenen Fehlbarkeit ausgesetzt. Soll hier nicht resignative Verunsicherung Platz greifen infolge des Leidens am permanent Defizitären, bedürfe es des tragenden Grundes der Religion: Fundament und Festigkeit erhalte eine sittlich-humane Gesinnung erst durch die Idee der Gottinnigkeit, welche die »Unzulänglichkeiten aller menschheitlichen Verhältnisse in das Gefühl religiöser Erhebung«163 auflöse, indem sie die Verbundenheit aller Menschen im göttlichen Ursprung zur Gewahrung bringe. 159 160 161 162 163
Vgl. unten: Teil 2, Kap. II. 2. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 69. Ebd., S. 69 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 434. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 70. Entsprechend polemisiert Fichte gegen einen Humanismus ohne religiösen Hintergrund, der weder zu sittlicher Vervollkommnung noch zu innerer
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Spekulative Ethik als Leitinstanz moderner Kulturentwicklung
»Sich in Gott wissen ist zugleich das Bewusstwerden der Einheit und Gleichheit Aller in Gott. Gottesliebe schliesst daher unabweislich Menschenliebe in sich, in welcher die Idee der Menschheit auf ideale Weise, d. h. im Gefühle und Bewusstsein, wirklich vollzogen ist: ich umfasse Alles, was Menschenangesicht trägt mit gleichmachender Liebe, weil es in Gott umfasst ist.«164
Die Idee der Gottinnigkeit erscheint als das Moment des Grundwillens, das es dem Menschen ermögliche, in der Vergegenwärtigung seiner Zugehörigkeit zur Schöpfung an der versöhnenden Kraft der göttlichen Liebe Anteil zu nehmen. Das Sich-Öffnen gegenüber dieser Idee bedeute zudem den Gewinn des Vertrauens auf die »wirksame Gegenwart«165 Gottes, was sich durch eine das humane Ethos in der sittlichen Praxis stützenden Glaubensgewissheit äußere. Mit diesem Vertrauen wachse schließlich eine zuversichtliche Grundgestimmtheit, unter deren Einfluss die sittlich gesinnte Person die mannigfachen menschlichen Beschränkungen nicht länger als verunsichernde Faktoren erlebe. In Fichtes Perspektive bilden folglich Liebe, Glaube und Hoffnung, die drei zentralen christlichen ›Tugenden‹, die inhaltlichen Merkmale der Idee der Gottinnigkeit.166 Das aber heißt: Allein die christliche Religion und die christliche Kirche – diese verstanden als institutionelle »Einzelkirche«167 wie auch im Sinne der auf das Heil aller Menschen ausgerichteten Gemeinschaft der Gläubigen168 – zeigen sich qualifiziert, dem Gehalt der höchsten Idee in der Realität Ausdruck zu verleihen. Das Christentum erweise sich als einzig wahre Religion, da sie »am Reinsten die Religion der Liebe ist«.169 Umso deutlicher fällt Fichtes Kritik an der mangelnden Verwirklichung dieses Grundprinzips aus; infolge dogmatischer Kontroversen und konfessioneller Differenzen werde noch immer das Ziel verfehlt, den christlichen Glauben primär im Sinne einer – gerade für die sittliche
164 165 166
167 168 169
Zufriedenheit führe, obwohl er diesen Anspruch stelle. Vielmehr hinterlasse er in dem Unvermögen, die Not eines stets unzureichenden Bemühens ausgleichen zu können, nur die »drückendste Leere« im menschlichen Gemüt. Ethik 2/2, S. 431 f. – Im Blick steht also dieses durch die mangelnde religiöse Basis bedingte Defizit und nicht, wie Dimitrije Najdanovic´ konstatiert, »ein Stachel des ethischen Relativismus«, welcher »jedem von sittlicher Theonomie undurchdrungenen Prometheismus« anhafte (Hervorh. W. S.). D. Najdanovic´ : Die Geschichtsphilosophie Immanuel Hermann Fichtes, Berlin 1940, S. 179; vgl. Ethik 2/1, S. 72. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 71 f. »Aus der Idee der Gottesinnigkeit entspringt aber auch für das sittliche Bewußtsein, in dem jenes Gefühl der Entbehrung der vollen Realisation der Idee der ergänzenden Gemeinschaft aufgebrochen ist, eine Festigung des Willens und Bestärkung des sittlichen Handelns, indem sie ihm Vertrauen eingibt auf eine Ergänzung der fehlenden Kräfte durch eine höhere Macht.« J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei Immanuel Hermann Fichte, Würzburg 1938, S. 120. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 438. Ebd., S. 443. Ebd., S. 425.
Die ethischen Ideen als »Inhalt« des Grundwillens
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Praxis bedeutsamen – »Umschaffung der Gesinnung« durch die Liebe zu vermitteln.170 Angesichts der für Fichte höchst relevanten Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Ethik weist er letzterer eine Position zu, in der sie die Balance zwischen verbindender Nähe und kritischer Distanz halten müsse. Weder dürfe hier eine strikte Trennungslinie gezogen werden, noch soll die Ethik den Spielraum für die eigenständige Urteilsgewinnung verlieren. Ihren Auftrag, einer alle Sphären des menschlichen Lebens umfassenden sittlichen Kultur den Boden zu bereiten, könne die Ethik nur erfüllen, wenn sie ihr Verbundensein mit der christlichen Religion anerkenne und sich diesem in kritischer Bewusstheit stelle.171
170 Ebd., S. 423 ff. So wird laut Fichte jede Konzentration auf nur kirchlich-konfessionelle Interessen zum »eigentlichen Gifte aller wahren Humanität«. Ethik 1, S. X. 171 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 436; vgl. ebd. S. 441. »Jede ihre Aufgabe vollständig erkennende ethische Wissenschaft ist auch religiöse, ›christliche‹ Ethik; und erst die richtig gefasste ›christliche Moral‹ enthält auch die ganze ethische Aufgabe.« Ethik 2/1, S. Xf.
Zweiter Teil
Der Blick auf das Individuum: Die Einzelnen und die Bedingungen personaler Entwicklung
I.
Individualismus als Personalismus: Die Lehre vom Genius
Eine reformorientierte Neubestimmung der Grundlagen des politisch-gesellschaftlichen Lebens kann sich nach Fichtes Ansicht nur dann als zielführend auszeichnen – dies sollte durch das bisher Thematisierte deutlich gemacht werden –, wenn mit der intendierten Intensivierung der Gemeinschaftsbeziehungen zugleich ein deutliches Augenmerk auf das Individuum und seine Daseinsbedingungen gelegt wird. Diese Perspektive sieht er auch durch die basalen Glaubenssätze der christlichen Lehre gestützt: Nicht nur das Gedeihen der Gemeinschaft stelle nach christlichen Maßstäben einen hohen Wert dar, sondern ebenso die Existenz und die Förderung der einzelnen Menschen. Kennzeichnet Fichte seinen Standpunkt bereits in jüngeren Jahren als ein »System […] der Individualität«172, teilt er noch in einer späten Schrift die »grosse Ueberzeugung von dem unendlichen Werthe des Einzelnen«, zu der sich gleichfalls »der recht verstandene Humanismus«173 bekenne. Dementsprechend zeigt er sich in seinen philosophischen Werken immer wieder bestrebt, dieser Überzeugung ein solides spekulatives Fundament zu sichern174. Wie Gott selbst, so lautet Fichtes grundlegende These, sind auch die geschaffenen Weltwesen von individueller Natur175. Allerdings falle im Bereich des Kreatürlichen dem Menschen eine besondere Stellung zu, da ihm »ein geistig
172 I. H. Fichte: »Ueber das Verhältniß des Form- und Realprincipes in den gegenwärtigen philosophischen Systemen«, in: ZPsT, Bd. 2 (1838), S. 21 – 108, hier : S. 27, Anm. 173 I. H. Fichte: Die Seelenfortdauer, Leipzig 1867, S. 461. 174 Für eine ausführliche Darstellung jener spekulativen Grundlagen der Fichte’schen Individualitätskonzeption ist hier freilich nicht der Ort. Vgl. M. Horstmeier : Die Idee der Persönlichkeit bei I. H. Fichte und C. H. Weiße, Göttingen 1930, S. 28 ff. 175 »Alles ist individuell, Gott wie die Kreatur.« I. H. Fichte: Ueber Gegensatz, Wendepunkt und Ziel heutiger Philosophie, Heidelberg 1832, S. 80; vgl. ebd., S. 297.
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Der Blick auf das Individuum
Substantielles als treibende Macht« innewohne, die seine Individualität zur Qualität gottesebenbildlicher »Persönlichkeit« steigere176. Als die »Grundform des Geistes« einerseits in »allen Geistern gleich«, sei die Persönlichkeit andererseits in ihrer je konkreten Erscheinung entsprechend der individuellen »Fülle des Geistesgehalts« und der dem einzelnen Bewusstsein immanenten Besonderheiten unterschiedlich geprägt177. Diese spezifische geistige Prägung nennt Fichte den »Genius« eines jeden Menschen, »seine in tiefster Ursprünglichkeit ihm angehörende, unvertauschbare Geistesanlage«178. Wiewohl im Gang der Geschichte herausragende und für die anderen Menschen als richtungsweisende Vorbilder fungierende Einzelne wirkten179, kennzeichne das ›Genialische‹ nicht nur die historisch bedeutenden Persönlichkeiten180. Ebensowenig sei es in der »halben und schöngeistigen« Bedeutung zu verstehen, die auf »irgend eine geistige Virtuosität«181 abhebe: »Nicht im Sinne einer bevorzugten und außerordentlichen Begabung, obwohl auch dem Fichteschen Geniusbegriff gerade das schöpferische Moment wesentlich ist: nicht im Sinne eines ästhetischen Genies, sondern als allgemein-menschliche Bestimmung, ja als die allgemeinste und wesentlichste Bestimmung am Menschen überhaupt«182. Der Genius stelle die »eigengeartete Erkenntnis-, Gefühls- und Willensrich-
176 I. H. Fichte: Anthropologie, S. 572. Zum Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen vgl. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 529. 177 I. H. Fichte: Anthropologie, S. 573. 178 I. H. Fichte: »Die philosophische Literatur der Gegenwart. Neunter Artikel. Die Radikalen in der Spekulation«, in: ZPsT, Bd. 13 (1844), S. 298 – 334, hier : S. 302. – »Die Bedeutung, welche I. H. Fichte seiner Konzeption des Genius beimaß, zeigt sich darin, daß er von den Anfängen seiner Philosophie bis zu seinem Tod dessen gestalterische Kraft – allen Umbrüchen seines Denkens zum Trotz – immer höher veranschlagte.« S. Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus, a. a. O., S. 141, Anm. 40. 179 Es sei insbesondere Aufgabe dieser »productive[n]« Genien (I. H. Fichte: Psychologie 1, S. 117), jenen »unvermeidliche[n] Zirkel« zu lösen, der »jedem Culturprocesse des Menschengeschlechts« eigne und letztlich der wechselseitigen Bezogenheit von Individuum und Gemeinschaft entspringe. Bedürfe das Individuum für seine Vervollkommnung schon eines gewissen Maßes sittlichen Gereiftseins der letzteren, gelte dieses vice versa. Eine Höherbildung des sittlich-kulturellen Niveaus sei somit durch das »voranleuchtende Beispiel Einzelner« veranlasst, nämlich durch die Wirkungskraft »weltgeschichtlicher Persönlichkeiten«. Ethik 2/1, S. 182 f. 180 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 585. 181 Ebd., S. 655. 182 J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei I. H. Fichte, a. a. O., S. 77. Fichte zufolge geht seine Genius-Lehre primär auf den Einfluss Henrik Steffens zurück (I. H. Fichte: Zur Seelenfrage, Leipzig 1859, S. 191). Anregung fand er überdies bei Karl Christian Friedrich Krause, welchen er als den bislang einzigen Denker bezeichnet, »der die Lehre von der Ureigenthümlichkeit jedes Ich mit Entschiedenheit ausgesprochen« habe. Ethik 1, S. 20; vgl. ebd., S. 248 ff.
Individualismus als Personalismus: Die Lehre vom Genius
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tung«183 eines jeden Menschen dar, die Fichte als geistige Eigentümlichkeit fasst – im Sinne einer kreatürlichen Entsprechung zum gemüthaft Geistigen des Schöpfers. Durch dieses Verhältnis zur absoluten Persönlichkeit Gottes erweist sich der Genius zudem als Kristallisationspunkt der menschlichen Freiheit184. Insofern meint das ›Genialische‹ auch und vor allem die Befähigung des Menschen zu selbstbestimmtem Denken und Handeln185. Hier tritt die sittliche Relevanz des Genius hervor : Vereine dieser in sich die »ganze Immanenz der ethischen Ideen«, welche nach individuell verschiedenem »Grad der Lebendigkeit« zur Wirksamkeit gelangten186, bilde er auch das »eigenthümliche sittliche Talent«187 des Menschen. In jedem sittlichen Akt werde der Gehalt der ethischen Ideen auf je eigenbestimmte Weise umgesetzt, nämlich entsprechend dem besonderen geistigen Gepräge der handelnden Person188. Rückt die Genius-Lehre dergestalt die Bedeutung der menschlichen Individualität unter metaphysischen wie ethischen Gesichtspunkten in den Vordergrund, ist sie auch eine erklärte Stellungnahme gegen Hegel. Verfehlt nach Fichtes Verständnis Hegels »pantheistische« Weltgeist-Dialektik das Wesen Gottes als absolute, aus sich selbst seiende Ur-Persönlichkeit, so ignoriere sie gleichermaßen die geistig-personale Selbstständigkeit des Menschen. Eingebunden in die Illusion eines selbstbestimmten Wollens sei die einzelne Person hier lediglich das ›Werkzeug‹ im Prozess der Geschichte, dem Walten des eigentlich wirkenden Weltgeistes unterworfen. Zudem mache Hegel das »Eigenpersönliche« des Menschen nicht an dessen individuell ausgeprägter geistiger Substanz fest, sondern verorte die Ursachen der personalen Unterschiede ausschließlich im Bereich des Triebhaften. Für Fichte eine deutliche Verkennung der menschlichen Natur, obgleich er Hegel zubilligt, dass dieser Standpunkt im Rahmen von Annahmen, die entschieden die Nichtigkeit alles geistig Eigenständigen des Menschen gegenüber der »Allgemeinheit des denkenden Willens« behaupteten, durchaus Plausibilität beanspruchen könne.189 »Den Begriff einer ethischen Individualität jedoch, nach welchem jener denkende allgemeine Wille in Jedem sich geistig individualisirt, wodurch jeder Einzelne selbstständig und eigenthümlich seine sittliche Aufgabe ergreift und dadurch gerade auch im Staate, wie in der Menschheit, seinen unbedingten Werth erhält, einen Begriff des 183 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 23. 184 I. H. Fichte: Psychologie 1, S. 143 f.; vgl. Ethik 2/1, S. 24. 185 »Der Genius ist nur sich aus sich selbst bestimmend wirklich: er ist nur das, wozu er sich macht. Freiheit, Selbstbestimmung ist daher nicht bloss eine seiner Eigenschaften, neben den andern, sondern ist Grundeigenschaft desselben, die erste und die letzte Bedingung seiner Existenz, als des bewussten Geistes.« I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 34. 186 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 212. 187 Ebd., S. 211. 188 Ebd., S. 30. 189 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 224.
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Der Blick auf das Individuum
Genius in diesem universellen Sinne hat Hegel damit nicht widerlegt. Dennoch verläugnet er ihn auch nicht ausdrücklich und mit Bewusstsein: er kennt ihn nur nicht, er hat seine Begriffe vom Wesen des Geistes nur nicht bis zu diesem Punkte entwickelt!«190
Entsprechend bleibe Hegel auch die Wirklichkeit menschlicher Freiheit fremd. Zwar sei er entschieden dem Determinismus entgegengetreten, kein Denker habe »gründlicher jeden Gedanken eines äusserlich determinirenden Zwanges widerlegt«. Was bei ihm jedoch nichts am Status des individuellen Geistes ändere, der für ihn nur als »substanzloses Moment« innerhalb der allgemeinen Vernunft existiere. So kenne Hegel lediglich »eine Freiheit in abstracto, eben den im Einzelnen wirkenden allgemeinen Willen, nicht freie Individuen«.191 Hier gilt festzuhalten, dass Fichtes Kritik an Hegels Auffassung der menschlichen Individualität und der endlichen Freiheit durchaus ihren Punkt trifft. Zwei Stellen aus Hegels Werken seien herausgegriffen, die das Verhältnis des Menschen zum Absoluten thematisieren und insbesondere die menschliche Unwissenheit über die Position im Ganzen des Weltgeschehens betonen. So bringt Hegel in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Überzeugung zum Ausdruck, die ihm auch »Voraussetzung« eben dieses Werkes ist: Die Welt und die Weltgeschichte werde von der Vernunft als dem Allgemeinen regiert und diesem Allgemeinen sei mithin »alles andere untergeordnet«. Obgleich man diesen Gedanken immer wieder verworfen, ja ihn zur »Träumerei« gestempelt habe, gelte es doch einzusehen, dass »der Trieb, die Leidenschaft, das partikuläre Interesse«, somit die »Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das Ihrige suchen und befriedigen, zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind, von dem sie nichts wissen«, das sie vielmehr »bewußtlos vollbringen«.192 Und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts merkt Hegel an, man habe zum Begreifen der Freiheit »nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbstbewußtsein« auszugehen, »sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtseins, denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind«193. Wenn Fichte also in kritischer Bezugnahme auf solche Aussagen eine Grundperspektive der Philosophie Hegels zur Sprache bringt, ist damit freilich nur eine Seite dessen erfasst, was dieser über das Verhältnis von menschlicher Individualität und Allgemeinem, zumal in Hinblick auf die endliche Freiheit, zu sagen hat. Betrachtet es Hegel doch gerade als die Überlegenheit seines Ansatzes gegenüber diversen anderen spekulativen Systemen, dass in der dialektischen 190 191 192 193
Ebd., S. 224 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 80 f. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., Bd. 12, S. 40. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., Bd. 7, S. 403 (§ 258).
Individualismus als Personalismus: Die Lehre vom Genius
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Durchdringung von Besonderem und Allgemeinem die Wahrheit des Ganzen und damit zugleich die Wirklichkeit der Einzelnen aufscheint. Entsprechend kann Hegel auch erklären, die Gattung sei »erst als freies konkretes Individuum wirklich«, wie das Leben »nur als einzelnes Lebendiges«194 existiere: »das Gute wird von den einzelnen Menschen verwirklicht, und alle Wahrheit ist nur als wissendes Bewußtsein, als für sich seiender Geist. Denn nur die konkrete Einzelheit ist wahrhaft und wirklich, die abstrakte Allgemeinheit und Besonderheit nicht.«195
Eine ganz andere Sichtweise wird hier also offenbar : »Menschliches Dasein« sei nach Hegels Dafürhalten »immer und überall geschichtliches Dasein; aber es geht nicht darin auf. Die innere Entscheidung, Freiheit und Selbstverantwortung des einzelnen Gewissens« wie die »Gesinnung und innerste Daseinshaltung der Seele« bestimme er als ein »in sich ›unendliches‹ Fürsichsein, das nie als ›Moment‹ nur im Gesamtprozeß sich auflösen läßt«.196 Wurde die Bedeutung dieser anderen Sicht in der Rezeptionsgeschichte der Hegel’schen Philosophie wiederholt herausgestellt197, gilt dies freilich ebenso für jene eher eine Geringschätzung der menschlichen Individualität nahelegende Perspektive198. Soll mithin das menschlich Individuelle einerseits durch den Prozess der Selbstexplikation des Weltgeistes notwendig in den Dienst genommen, diesem im Sinne eines bloßen »Mittels« unterworfen sein, erscheint es andererseits als gänzlich eigenständig Wirkliches, das gerade in dieser Eigenständigkeit und Freiheit seine Wahrheit hat. Das Denken Hegels birgt in diesem Punkte eine Zwiespältigkeit, die auch mit dem Verweis auf die dialektische Vermittlung aller noch so widersprüchlich sich darbietenden Aspekte kaum aus der Welt zu schaffen ist. Was wiederum mit Blick auf Fichte heißt: Dieser lässt auf dem Felde der Kritik 194 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik 1, a. a. O., Bd. 13, S. 191. 195 Ebd. 196 H. Heimsoeth: »Politik und Moral in Hegels Geschichtsphilosophie«, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Bd. 8, Berlin 1934/35, S. 127 – 148, hier: S. 147. 197 So geht es Hermann Schmitz in einer diese Thematik eigens aufgreifenden Studie darum, zu zeigen, dass »Hegels Denken gerade durch das Ringen um Anerkennung und Bewahrung der Individualität entscheidend bestimmt ist«. H. Schmitz: Hegel als Denker der Individualität, Meisenheim/Glan 1957, S. 15. 198 Hermann Schmitz’ Untersuchung bietet eine Auswahl von Stimmen, die ausdrücklich abheben auf eine Hegel’sche Minderbewertung der menschlichen Individualität. Ebd., S. 14 f. – Auch heute noch finden sich Interpreten, die Hegel zu dieser Seite hin festlegen. Nach Pjama P. Gajdenkos Auffassung biete Hegel eine »eigenartig[e]« Interpretation der menschlichen Freiheit: »nur die Gott-Menschheit ist frei, nicht aber der endliche einzelne Mensch. Der letzte erscheint als ein verschwindend kleines Stäubchen in der grandiosen Bewegung des Weltgeistes, der die Absichten und Taten des Individuums als eigene Mittel gebraucht.« P. P. Gajdenko: »Ist der Hegelsche Monismus eine der Quellen des Pantheismus und Impersonalismus?«, in: P. Koslowski (Hrg.): Die Folgen des Hegelianismus, München 1998, S. 29 – 43, hier: S. 41.
60
Der Blick auf das Individuum
einen nur einseitig erfassten Hegel vorstellig werden. Ausgeblendet bleibt jene gleichfalls im Werke Hegels vorfindliche Hochschätzung des freien individuellen Selbst. Das erscheint umso bemerkenswerter, als in diesem Punkt eine auffällige Ähnlichkeit zwischen den beiden Denkansätzen auszumachen ist. Wo es Fichte nämlich um die Möglichkeiten endlicher Freiheit im Wirkungszusammenhang der Schöpfung, genauer : um die selbstbestimmte Willensäußerung der sittlich Handelnden geht, da offenbaren seine Aussagen – so wird sich zeigen – gleich denen Hegels eine ambivalente Einschätzung der Position des Menschen in Hinsicht auf das Verhältnis zum Göttlich-Absoluten.
II.
Fichtes Freiheitslehre
1.
Menschliche Freiheit und ihre Zielform: Das selbstschöpferische Sein des werdenden sittlichen Charakters
Fichte nähert sich der Frage nach der menschlichen Freiheit, indem er sowohl einem kruden Indeterminismus als auch einem nach seiner Auffassung gleichfalls unzulänglich argumentierenden deterministischen Ansatz entgegentritt. Was als freie Entscheidung in Rede stehe, habe nichts mit grundloser Zufälligkeit zu tun, sondern sei – tiefer bedacht – sehr wohl auf ein den menschlichen Willen bestimmendes Prinzip zurückzuführen.199 Demgegenüber hält er den Leugnern der menschlichen Freiheit vor, dieselbe werde keineswegs durch die lückenlose kausale Verknüpfung der Ereignisse in der äußeren Welt zunichte gemacht.200 Fichte zufolge haben die Vertreter der einen wie der anderen Seite übersehen, dass sich alle Weltwesen, mithin auch der Mensch, innerhalb des Wirklichen stets in einem »doppelten Zusammenhange«201 befinden. Zum einen in das Kausalgefüge der Außenwelt eingebunden, das Fichte entsprechend die »äussere Nothwendigkeit« nennt, unterliegen sie zum anderen einem Prinzip, welches er als die »innere Nothwendigkeit«202 bezeichnet. Allen Weltwesen eigne demnach eine eigentümliche »innerliche Urbestimmtheit«203, die für diese jeweils nur einen fest begrenzten »Umfang verschiedener Möglichkeiten oder Aeusserungsweisen«204 zulasse. Jedes Weltwesen sei somit in der Lage, qua innerer Urbestimmung auf alle der Außenwelt entstammenden »Reize« im Rahmen eines von der Natur festgelegten 199 200 201 202 203 204
I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 78. Ebd., S. 79 ff. Ebd., S. 81. Ebd., S. 82. Ebd. Ebd., S. 83.
Fichtes Freiheitslehre
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Spielraumes je individuell zu reagieren. Wenngleich die Spannbreite der Äußerungsmöglichkeiten auch zunehme, je höher ein Wesen in der Schöpfungsordnung stehe: Selbst auf der niedrigsten Ebene herrsche, wann immer auf ein Ereignis in der äußeren Welt eine eigenständige »Gegenwirkung« erfolge, niemals der pure Zufall. Doch ebensowenig finde hier ein je schon festliegender Reaktionsverlauf statt, denn »die realen Wesen bestimmen sich, in Folge des sie treffenden Reizes, in ihren Veränderungen aus sich selbst, gemäss ihrer Individualität«.205 Fichte sieht damit die Existenz der menschlichen Freiheit grundsätzlich gesichert, insofern sich diese in der dargestellten universalen Optik als »die höchste und vollkommenste Spitze des Princips der Eigenheit«206 zeige, an dem in diversen Gradabstufungen alle Weltwesen partizipierten. Verwirklicht sich beim Menschen das Prinzip der Eigenheit in der Anlage des Genius, der dem Fichte’schen Ansatz gemäß den Einzelnen ja ihre »eigengeartete Erkenntniss-, Gefühls- und Willensrichtung«207 verleiht, so bringe jegliche von äußerer Determiniertheit unabhängige Willensbetätigung notwendigerweise »in irgend einem Grade das innere Wesen des Wollenden«208 zum Ausdruck. Sei hier also eine zur Selbstbestimmung befähigende Entscheidungsgewalt des menschlichen Willens garantiert, könne dieses Faktum noch keinesfalls als Erweis eines frei wählenden Willens, schon gar nicht im Verständnis sittlicher Freiheit, gelten.209 »Der Mensch ist frei, heisst […] in dem hier abgeleiteten Sinne vorläufig nur: er bestimmt sich erkennend, fühlend, wollend seiner innern Natur gemäss; alle seine Geisteshandlungen (dies Wort zunächst im weitesten Sinne gefasst) tragen durchaus das Gepräge seiner Individualität. Keine derselben ist daher grundlos oder zufällig, sondern genau bestimmt und innerlich nothwendig, wiewohl nach keiner allgemeinen Regel zu begreifen oder durch bloss äussere Determination zu erklären.«210
Stellt der Genius die »innerliche Urbestimmtheit« des Menschen dar und macht er als solcher den personalen Kern des Individuums aus, darf er nicht als etwas stets schon in sich Vollendetes angesehen werden. Kommt jedem Menschen Personalität zu, ohne bereits eine reife, ausgeformte Persönlichkeit zu sein, muss die jedem Genius eigene Potenzialität durch die bewusste Konzentration der Einzelnen auf die ihnen innewohnenden Anlagen zur Entfaltung gebracht werden. Fichte spricht hier, offensichtlich in Anlehnung an Kant, von der Bildung des 205 206 207 208 209 210
Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 23. Ebd., S. 78. Ebd., S. 85. Ebd.
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Der Blick auf das Individuum
»Charakter[s]«, der sich als die »freie und bewusst geistige Form des Gemüths und Willens«211 über die Trieb- und Gefühlsanlage des »Naturells«212 erhebt. Mit Beginn der Charakterentwicklung handele der Mensch zunehmend nach Maßgabe gedanklicher Urteile213 und ordne seine Affekte und Neigungen einer rationalen Zwecksetzung unter. Für das Verhalten werde ein absoluter Endzweck gesetzt, auf den alle wesentlichen anderen Zwecke ausgerichtet seien. Das Leben wird, wie Fichte sagt, »auf Ein Ziel« gelenkt: »Einen solchen Lebensmittelpunkt muss jeder Charakter besitzen, um ein solcher zu sein«.214 Wandele sich die auf dem Boden des Naturells stets noch triebgebundene Verfügungsgewalt über das eigene Ich vom Stande einer »unwillkürlichen« zur schließlich »freibewussten Selbstbestimmung«215, geht es Fichte nicht um eine Ausschaltung der Neigungen. Explizit will er die Neigungen als motivationale Kraft in alltäglichen Entscheidungsprozessen beachtet wissen216. Dies gelte auch für das sittliche Handeln. Kant ist für Fichte ja gerade im Irrtum, wenn er behaupte, »dass ein Widerstreit bestehe zwischen Neigung und Pflicht«. Vielmehr seien die Neigungen prinzipiell »ethisierbar«: Ihrer dem Sittlichen entgegenstehenden Anteile werden sie enthoben, indem im Zuge der Charakterentwicklung »ein bewusst ethischer Zweck organisirend in sie hineintritt«.217 Von einer im eigentlichen Sinne freien Entscheidung des Willens, zumal im Blick auf die Anforderungen des sittlichen Verhaltens, kann demnach erst auf der Stufe des Charakters die Rede sein. Fichte betrachtet es in diesem Zusammenhang als höchst bedeutsam, inwieweit die Einzelnen bestrebt seien, jene in die Natur des Menschen eingelassene Bildsamkeit des Charakters218 wirksam auszuschöpfen. Und folglich dem Charakter eine beständige Form zu geben, so dass die individuellen Zwecksetzungen in einer »bleibenden Gestalt des Willens«219 ihren Ausdruck fänden.
211 Ebd., S. 92. 212 Ebd. ¢ Kant bestimmt allerdings in seiner anthropologischen Charakteristik neben dem »Naturell« und dem »Charakter« das »Temperament« als drittes Merkmal der Person. I. Kant : Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in : Werkausgabe in zwölf Bänden (hrg. v. W. Weischedel), Bd. 12, Frankfurt a. M. 1968, S. 625. 213 I. H. Fichte : Ethik 2/1, S. 118. 214 Ebd., S. 139. 215 Ebd., S. 114 f. 216 Ebd., S. 86 f. 217 Ebd., S. 115 f. 218 Fichte wendet sich hier ausdrücklich gegen Schopenhauer, der eine Sichtweise vertrete, welche den Charakter »als etwas Abstractes, Fertiges, keiner Entwicklung und Selbstbildung Fähiges« betrachte und die damit die Fähigkeit des freien Wählens leugnen müsse, da hier der menschliche Wille »allerdings aus sich selbst, aber immer nur auf dieselbe unveränderliche Weise sich bestimmen kann«. Ethik 2/1, S. 87 nebst Anm.; vgl. Ethik 1, S. 408. 219 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 88.
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»Wahlfreiheit heisst daher in ihrem tiefsten und gründlichsten Sinne nicht mehr das Vermögen, bei der einzelnen Handlung ebensogut nach der einen, wie nach der andern Motivation sich entscheiden zu können, […] sondern das umfassendere Vermögen, seinen Willen zu bilden oder nicht, die rohe Unmittelbarkeit und die natürlichen Triebe desselben durch ein höheres Wollen zu beherrschen oder auch nicht.«220
In dieser Bestimmung der Wahlfreiheit tritt also die Bedeutung der singulären Entscheidungssituation in den Hintergrund: Die auf die Entwicklung ihres Charakters Ausgerichteten, die aus der grundsätzlichen Entschiedenheit für einen Weg wachsender Selbstvervollkommnung heraus eine Wahl träfen, würden ob dieser die Neigungen immer konsequenter ›einhegenden‹ Grundeinstellung heraus sich nicht in jeder aktuellen Lebenslage neu entschließen müssen.221 Hier realisiert sich Freiheit als Freiheit zur Höherformung der eigenen charakterlichen Anlage, nämlich in zunehmender Unbeirrbarkeit des eigenen Tuns. Obgleich solche Menschen sehr wohl um die verschiedenen Möglichkeiten ihres Handelns wüssten, blieben sie, je mehr die charakterliche Beständigkeit zur Ausprägung komme, umso deutlicher der Linie ihrer Zwecksetzungen mit – wie Fichte dies verstanden wissen will – innerer Notwendigkeit222 treu. Dies gelte insbesondere für den sittlich schon gefestigten Charakter, der über Gut und Böse befinde: »Denn man würde Unrecht haben, sich jenes Bewusstsein entgegengesetzter Möglichkeiten stets zum wirklichen Kampfe gesteigert zu denken. Je befestigter vielmehr der sittliche Charakter in der rechten Entscheidung ist, desto weniger erhebt sich ihm das Bewusstsein von der Möglichkeit des Gegentheils zur eigentlichen Versuchung, und immer tiefer dem Guten mit seinem Willen sich einbildend und dessen Natur an sich ziehend, geht das Auchandersseinkönnen zuletzt nur wie eine verblasste Vorstellung an seinem Bewusstsein vorüber.«223
Allerdings bleibt zu fragen, ob es für das Gelingen der Charakterbildung, was hier heißt: für das Werden der in Freiheit sich selbst bestimmenden Person, nicht mehr auf die wiederkehrende Herausforderung durch die Möglichkeiten des So-oder-anders-sich-entscheiden-Könnens ankommt, als es in Fichtes Kennzeichnung der Wahlfreiheit greifbar wird. Sind für die Einzelnen doch gerade Situationen von Bedeutung, in denen sie angesichts unterschiedlicher Motivationen Konflikte innerhalb des eigenen Selbst austragen müssen. Denn nur diese ermöglichen die Erfahrung, solche innerpersonalen Differenzen – je 220 Ebd., S. 89. 221 Ebd., S. 89 f. 222 »Denn es ist ja das Wesen des Charakters, in eigentlich bewusste Zwecksetzungen seinen Willen zu legen und in der immer höher gesteigerten Sicherheit desselben seine Freiheit zu besitzen, aus welcher dann eben die einzelnen Handlungen desto stätiger und folgerichtiger, d. h. desto nothwendiger hervorgehen.« Ebd., S. 138; vgl. ebd., S. 78. 223 Ebd., S. 138.
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Der Blick auf das Individuum
bezogen auf die Anforderungen der besonderen Lebensumstände – auch erfolgreich beilegen zu können. Was den Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt, ein gewisses Maß an Selbstsicherheit und innerer Beständigkeit auszubilden. Fichte trägt dem freilich Rechnung, insofern er die Entstehung des Charakters nicht als »bloss einmalige Selbstthat«, sondern sehr wohl als Prozess von Wiederholungen und Steigerungen verstanden wissen will. Das Individuum bringe sich »selbstkräftig immer von Neuem aus dem Naturell zu der Höhe und Freiheit des Charakters hervor«, indem es ein »stets erneuertes ›Sichzusammennehmen‹« vollziehe.224 Auch bietet Fichte gleichsam eine Phänomenologie der menschlichen Triebstruktur, welche die Eigenart und die Äußerungsweisen der »Güter des Naturells«225 aufzuzeigen sucht, die schließlich auf der Stufe des Charakters in vergeistigter oder »ethisierter« Form erschienen. Nichtsdestotrotz bleibt Fichtes Auskunft zu der aufgeworfenen Frage eher dürftig, kommt doch das Problematische im Werden des Charakters nicht wirklich in den Blick.226 Dass dieser Prozess Rückschläge mit einschließt und folglich Erfahrungen des Scheitern verwunden werden müssen, da das Individuum keineswegs immer »selbstkräftig« auf das Andrängen des Naturells reagieren kann, wird nicht eigens zum Thema. Fichtes Aufmerksamkeit gilt hier dem Fortschreiten der charakterlichen Entwicklung hin zu einer gefestigten sittlichen Gesinnung, entsprechend der die »sittliche, die innere Vollkommenheit erstrebende Freiheit«227 an Ausdruck gewinne. Soll eine der Eigentümlichkeit des individuellen Genius gemäße Haltung sittlicher Freiheit Kontur und Beständigkeit erlangen, muss Fichte zufolge der Charakter eine stete Höherbildung durch verschiedene Entwicklungsstufen hindurch erfahren, die in ihrer jeweiligen Besonderheit eingehend beschrieben werden.228 Dabei sei es für das Gelingen dieses Ausformungsvorganges unabdingbar, dass das Individuum den ihm qua seiner Kreatürlichkeit einwohnenden 224 Ebd., S. 121. 225 Ebd., S. 97 ff. 226 Hinsichtlich dieser Problemstellung merkt Fichte auch in seiner späteren Psychologie zur »Erhebung vom Naturell in den Charakter« lediglich an, dass diese »factisch langsam oder in Schwankungen, bei Einzelnen auch gar nicht, sich vollziehen kann«. (I. H. Fichte: Psychologie 2, S. 162). »Und so entsteht das tägliche Schauspiel jenes schwankenden, unsteten, ›launenhaften‹ Benehmens, welches der Durchschnitt auch der ›Gebildeten‹ zeigt. Sie sind allermeist noch unfertige Charaktere, weil mit dem grössten Theil ihres Willens noch dem Naturell verhaftet, darum unberechenbar, und im Praktischen unzuverlässig, indem sie von ›zufälligen‹ Umständen und augenblicklichen Stimmungen sich bestimmen lassen.« Ebd., S. 165. 227 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 24. 228 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 178 ff.
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Grundwillen, jene Kraft des Guten, »die über die menschliche hinausliegt«, wahrnimmt und anerkennt und somit dem »Gehalte der ethischen Ideen sich öffnet«229. Zwar mache jede Person, die diesen Weg charakterlicher Reifung wählt, sich also mit Fichtes Worten dem »ethischen Process« überantwortet, anfangs noch das eigene Selbst zum letzten Zweck alles Strebens. Auf Dauer würden jedoch immer konsequenter die Inhalte der ethischen Ideen als Endzweck des Daseins aufgefasst.230 In steigendem Maße unbeeinflusster von selbstsüchtigen Motiven gehe in der sittlichen Praxis die Realisierung des durch die Inhalte der ethischen Ideen Aufgegebenen vonstatten. Schließlich zeichne sich der entschieden sittliche Charakter dadurch aus, »dass er zum allgemeinen und bewussten Vorsatze sich erhebt, in jeder besondern Zwecksetzung die Eine Idee des Guten zu vollbringen«.231 »Damit ist endlich die Freiheit ihrem Begriffe gleich geworden; sie ist die höchste, umfassendste, weil sie ihrer formellen Möglichkeit nach alle rückwärtsliegenden Stufen mit umspannt, und weil sie realer Weise nur aus den höchsten Motivationen, aus denen des allgemein oder objectiv Guten, ihre Entscheidung schöpft.«232
2.
Zur Problematik der Fichte’schen Freiheitslehre
Man hat Fichtes ›Entwicklungskonzept‹ der menschlichen Freiheit eine Inkonsequenz vorgeworfen, die sich letztlich als »Zirkelschluß«233 offenbare. Seine Auffassung vom Prozess der Charakterbildung, die dem »Grundanliegen seiner Philosophie« entsprechend die Wirklichkeit der »Freiheit und Selbständigkeit der sittlichen Person« bekräftigen wolle, setze als Ausgangsbedingung dieses Prozesses eben das, was in ihrer Möglichkeit überhaupt erst erklärt werden soll: »[d]ie einzelne und stets wiederholte sittliche Handlung«.234 Stelle doch nach Fichtes Auskunft die Charakterbildung eine »›fortgesetzte Freiheitstat‹«235 dar. Nur : Wenn Fichte die charakterliche Entwicklung des Individuums in seiner Psychologie als »fortgesetzte Freiheitsthat«236 deutet, setzt er so mit der »Urentscheidung zur Willensbildung«237 wirklich eine freie sittliche Handlung schon voraus? 229 230 231 232 233 234 235 236 237
Ebd., S. 122. Ebd., S. 140 ff. Ebd., S. 142. Ebd., S. 90. J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei I. H. Fichte, a. a. O., S. 106. Ebd. Ebd. I. H. Fichte: Psychologie 2, S. 166. J. Ebert: Sein und Sollen des Menschen bei I. H. Fichte, a. a. O., S. 106.
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Der Blick auf das Individuum
Was Fichte als Prozess sukzessiver Durchsetzung der »freibewussten Selbstbestimmung« versteht, darf auch nach heutiger entwicklungspsychologischer Auffassung als grundsätzlich treffende Kennzeichnung gelten. Meint dies doch die allmähliche Loslösung von affektiv verankerten Motivationen, die mit einem sich steigernden Zugewinn rationaler Selbstkontrolle einhergeht.238 Sind die Einzelnen dergestalt über den Zustand vornehmlicher Triebbestimmtheit hinausgewachsen, tritt also Fichte zufolge eine »bewusste Ordnung in die Zwecksetzungen und Handlungen des Willens« ein, sei hier allenfalls »die erste formelle Vorbedingung alles Ethischen erreicht«239. Ein solcher Status des »besonnenen Wollens und Handelns« stelle noch »nichts Ethisches« dar, erweise sich vielmehr als das »sittlich Neutrale«240. Wenngleich Fichte, wie sich zeigte, bei der Inachtnahme des Übergangs von primär naturellhaften Handlungsbestimmungen zu Verhaltensmustern zunehmender Charakterfestigkeit die möglichen Schwierigkeiten personaler Entwicklung nicht wirklich thematisch werden lässt, macht er sich in diesem Zusammenhang doch keineswegs einer petitio principii schuldig. Entsprechend ist hier nicht der eigentlich problematische Punkt der Fichte’schen Freiheitslehre benannt. Um selbigen vor Augen zu stellen, gilt es, die Bedeutung in Erinnerung zu rufen, die Fichte dem Grundwillen zumisst: Dieser wirke als die entscheidende Kraft bei der Entstehung des sittlichen Willens, indem er »dem Einzelwillen sich einbildet und ihn von Grund aus umgestaltend zum Organe seiner selbst macht«241. Das bedeute – genauer gefasst – für den hier gemeinten Vorgang charakterlicher Reifung im Besonderen, wie für die allgemeine kulturelle Vervollkommnung des Menschengeschlechts überhaupt, »dass nicht bloss menschliche Freiheit und ein endliches Thun im ethischen Processe wirkt, sondern dass es eigentlich göttliche, ewige Kräfte sind, welche die menschliche Freiheit ergreifen, sie begeisternd über die natürliche Selbstsucht erheben und so den ethischen Process zum Abschluss bringen«.242
In der Fichte-Rezeption findet sich diesbezüglich die Kritik, dass die Annahme eines solchen in sich guten Grundwillens Fichtes Bemühen um die endliche Freiheit und damit der Sicherung des besonderen Wertes menschlicher Individualität gerade zuwiderliefe. Schon Chalybäus äußert mit Anspielung auf die 238 Ebenfalls in der Psychologie nennt Fichte dies die »geistige Individualisirung«, welche allein durch Erziehung »hervor[zu]locken« sei. I. H. Fichte: Psychologie 2, S. 159 f.; vgl. ebd., S. 167. 239 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 144. 240 Ebd. 241 Ebd., S. 9. 242 Ebd., S. 183.
Fichtes Freiheitslehre
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Konzeption Hegels das Bedenken, Fichte setze den Grundwillen dem Individualwillen »völlig dualistisch« entgegen und zeige somit jenen als eine »so durchaus heteronomische Gewalt, daß er nur von obenherein wirken, den menschlichen Eigenwillen ›zwingen‹, ›brechen‹, ihn allein nur ethisch ›machen‹ kann. Wird nicht gerade hiermit die menschliche Persönlichkeit zum bloßen Instrument und Sprachrohr, zur ›hohlen Larve‹ einer fremden durch sie hindurch wirkenden Macht depotenzirt?«243
Wiewohl der das Sozialverhalten des Menschen vorgängig je schon bedingende Grundwille, so stellt Fichte in seiner Entgegnung heraus, erst im Moment der bewussten Inachtnahme seines ›Inhaltes‹, im »Sichöffnen für das Ergänzende, im Erwecktwerden des eingebornen Keimes der Liebe«, eine sittlich-personale Reifung gestatte, sei dieser zutiefst in die menschliche Natur eingelassen. Mithin existiere keinesfalls ein »›Dualismus‹« zwischen Grund- und Einzelwillen. Dementsprechend will Fichte seine von Chalybäus angeführten Formulierungen zum Wesen des Grundwillens nicht als Beleg für etwas den menschlichen Eigenwillen Überwältigendes verstanden wissen.244 Die Problematik ist offensichtlich: Fichtes Konzeption endlich-sittlicher Freiheit droht die Selbstwiderlegung, zeigte sich der Grundwille als eine das individuelle Wollen determinierende Macht. Bieten Fichtes diesbezügliche Ausführungen in der Ethik selbst schon ein zwiespältiges Bild, vertieft sich dieser Eindruck, wenn bei der Suche nach einer Klärung des benannten Problems noch andere Schriften Fichtes mit einbezogen werden.245 Wie bereits thematisiert, charakterisiert Fichte den Grundwillen einerseits als eine dem Menschen qua seiner Kreatürlichkeit zugehörende göttliche Kraft, zu der hin sich die Einzelnen aus eigenem Antrieb »öffnen« müssen. »Wenn jener Grundwille von uns nicht erreicht oder wenn er verfehlt, endlich wenn er direct verneint wird von unserm Einzelwollen: so steht er mahnend oder drohend, zum Soll oder Nichtsoll geworden, vor unserm uneinigen, mit sich unversöhnten Bewusstsein.«246
Allein durch ein entschiedenes ›Hinhören‹ auf die in alle eingesenkte, zum Guten gemahnende Stimme könne jenem auf sittliche Vervollkommnung zielenden 243 H. M. Chalybäus: »Ueber eine Monadologie als Grundlage der Ethik«, a. a. O., S. 83 f. – Albert Hartmanns Auffassung zufolge werde bei Fichte das sittliche Handeln des Menschen »zu einem überindividuellen Tun« aufgehoben und der Einzelne letztlich zum bloßen »Kreuzungspunkt allgemeiner Ideen« reduziert. A. Hartmann: Der Spätidealismus und die Hegelsche Dialektik, Berlin 1937, S. 164 f. 244 I. H. Fichte: »Welcherlei Hypothesen sind in der Philosophie zulässig?«, a. a. O., S. 91. 245 Diese Vorgehensweise ist insofern gerechtfertigt, als Fichtes Betrachtungen des Verhältnisses zwischen Grund- und Individualwillen von der Abfassung der Spekulativen Theologie bis in sein Spätwerk hinein eine deutliche Kontinuität aufweisen. 246 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 16.
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Der Blick auf das Individuum
Selbstbildungsvorgang Erfolg vergönnt sein, den Fichte die »innere Verewigung«247 des individuellen Willens nennt. Dabei werde der Mensch innerhalb der Vorsehung Gottes durch den Grundwillen immer wieder »in irgend einem Grade von einer ›Eingebung‹ ergriffen«248. Diese »›guten Regungen‹«249, die den Menschen zu einem gewissen Tun oder Lassen aufforderten, seien zwar als »Einsprache« und »Anregung« durch einen »höhern Geist anzuerkennen«250, gleichwohl träten sie im menschlichen Bewusstsein »niemals als zwingende Gewalt hervor«251. Vielmehr eigne ihnen »überall und übereinstimmend die Gestalt einer leisen, aber durchaus bestimmten und ausdrücklichen Mahnung, welcher Gehör gegeben werden kann, die aber auch versäumt zu werden vermag«.252 Ausweislich dieser Betrachtungen läuft der Grundwille des Guten also keineswegs der freien und bewussten Selbstbestimmung des Menschen zuwider. Obgleich Fichtes Auffassung zufolge das Böse für die in ihrer sittlichen Haltung Gefestigten immer weniger eine wirkliche Herausforderung darstellt: Stets bleibe eine »doppelte Selbsterfassung des Willens«253 möglich. Bei allen sittlich relevanten Entschlüssen könne sich jede Person prinzipiell der Kraft des Guten verweigern und das Widersittliche wählen. Diesen Illustrationen stehen andererseits solche Äußerungen gegenüber, auf die Chalybäus’ kritische Einlassungen zielen und welche dem Grundwillen das Gepräge einer überwältigenden Macht verleihen. So spricht Fichte von der »Thatsache einer im Hintergrunde unsers Wesens sich kundgebenden Willensmacht, welche die gewaltigste und gegenwärtigste Kraft unserer Individualität, den Eigenwillen und die Selbstsucht, überwindet und sie zwingt, zu unwillkürlicher Selbstaufopferung sich aufzuschliessen, durch welche allein, wie durch den stärkeren Dämon im Menschen, alles Grosse und Neuschöpferische vollbracht wird […].«254
247 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 122. 248 I. H. Fichte: »›Auferstehung‹, Geisterreich, allgemeine und individuelle Vorsehung in ihrem wechselseitigen Zusammenhange. Ein kritisch-psychologischer Versuch, als Anhang zu des Verfassers Schrift: ›Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen‹« (1867), in: Ders.: Vermischte Schriften zur Philosophie, Theologie und Ethik, Bd. 2, Leipzig 1869, S. 1 – 186, hier : S. 104. 249 Ebd., S. 107. 250 Ebd., S. 108. 251 Ebd., S. 107. 252 Ebd. In extremen Fällen mache sich allerdings »das Göttliche im Menschen« auch »als strafendes Gewissen, als rächende Nemesis« gegenüber frei ausgelebter Selbstsucht geltend, »und zerstört unaufhörlich die Selbstbefriedigung, deren sich gelungene Schlauheit oder verborgene Tücke erfreuen möchte«. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 155. 253 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 167; vgl. Spekulative Theologie, S. 604 ff. 254 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 10.
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Eine wahrhaft sittlich denkende und handelnde Person könne der Mensch nur werden, so fährt Fichte an dieser Stelle fort, wenn der Grundwille als jener »heilige, die Selbstsucht zerstörende Wille ihn ganz erfüllt«.255 Was in einem Abschnitt der Psychologie dahingehend erläutert wird, dass »im Sittlichen nicht blos und gar nicht eigentlich der subjective Einzelwille« in Aktion trete, »sondern durch ihn hindurch offenbart sich die verewigende Kraft und der ewige Inhalt der ›Idee des Guten‹«.256 Bestimmt die sittliche Handlung »gar nicht eigentlich der subjective Einzelwille«257, dringt also der göttliche Grundwille mit beherrschendem Zugriff in den Entscheidungsspielraum des Menschen ein, kann nicht von freier sittlicher Selbstbestimmung die Rede sein. Das aber heißt: Hinsichtlich der Beurteilung des Verhältnisses zwischen der Macht des Absoluten und der menschlichen Eigenständigkeit zeichnet sich wie bei den Aussagen Hegels auch in der Konzeption Fichtes eine zwiespältige Haltung ab. Und wie im Falle Hegels folgt diese Zwiespältigkeit mit innerer Konsequenz aus dem Denkansatz, in welchem Fichte sichtlich ringt um die menschliche Freiheit, insofern diese zusammen bestehen soll mit »dem absoluten, in der Welt schlechthin sich erfüllenden Endzwecke der Schöpfung«.258 Für Hegel ist Gott »[o]hne Welt […] nicht Gott«259 : Zur Entfaltung göttlicher Selbstbewusstheit bedarf es der Existenz der Natur wie des Daseins geistbegabter endlicher Wesen. Letztere sind dabei als Subjekte vorgestellt, die im Gang der Weltgeschichte zunehmend deutlicher ihrer geistigen Potenziale gewahr werden. Denn nur so kann laut Hegel ein der Wahrheit des Gesamtgeschehens angemessenes Reflexionsniveau und ein diesem entsprechendes Handeln erreicht werden. Auf welcher Entwicklungsstufe die Einzelnen allerdings auch stehen mögen: Sie sind Bestandteil dieses mit Notwendigkeit ablaufenden Prozesses, bleiben dem Vollzug der Selbstvergewisserung des Absoluten unterworfen und von diesem bestimmt. Demgegenüber will Fichtes theistischer Ansatz gerade ob der Absolutheit des transzendenten Schöpfergottes die geistig-sittliche Eigenständigkeit des Menschen garantieren. Damit der Mensch als ein zur Liebe fähiges und mithin auch soziales Wesen vorgestellt zu werden vermöge, müsse er Gott »selbstständig gegenübertreten können: dies ist der tiefste teleologische Grund seiner Freiheit und der in ihr mitgesetzten Möglichkeit des Bösen«.260 Wenngleich die Einzelnen durch dieses In-Freiheit-gesetzt-sein prinzipiell in 255 256 257 258 259 260
Ebd. I. H. Fichte: Psychologie 1, S. 720. Ebd. (Hervorh. W. S.). I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 630. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion 1, a. a. O., Bd. 16, S. 192. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 675.
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der Lage seien, allen »Regungen des den ethischen Ideen Feindseligen«261 zu folgen, habe das Böse letztlich keine dem Guten ebenbürtige Gewalt, da das Gute als »das göttlich Ursprüngliche im Menschen mächtiger bleibt«262. In seiner Gottesebenbildlichkeit zeige sich der Mensch vielmehr wesensimmanent auf das Gute hin angelegt263. Fichte glaubt demgemäß, eine klare Aussage über den Endzweck der Schöpfung in der Sphäre der weltlichen Genien machen zu können: Im Sinne göttlicher »Vorsehung« sei von Ewigkeit her festgeschrieben, dass vermöge des Grundwillens schließlich alle Menschen für das Gute gewonnen werden264, der Selbstvervollkommnungsprozess bei jedem Individuum zur Erfüllung komme und damit zugleich sich die in der Idee der Gottinnigkeit wirkmächtige Vision einer geeinten Menschheit realisiere.265 Im Werk Fichtes steht diese Auffassung in enger Verbindung mit der »allgemeine[n] Consequenz« seiner »Weltansicht«, dass »jede Persönlichkeit […] durchaus ewig und unverwüstlich seine sinnliche Erscheinung überdauere«.266 »Jeder wird daher in irgend einem andern Weltzusammenhange sein Schicksal dennoch erreichen, und auch an ihm noch die gottverliehene Bestimmung sich erfüllen.«267
Diesen Gedanken führt Fichte in einer späten Schrift dahingehend aus, dass »an die beiden durch Psychologie und Ethik gewonnenen Ergebnisse« zu erinnern sei: »alle ethische Cultur« schließe demnach »nothwendig den Begriff unendlicher Perfectibilität in sich« ein, wobei »diese ein völlig illusorischer Begriff wäre ohne die Annahme persönlicher Fortdauer«.268 Insofern die Geschichte nur zu verstehen sei »als ›ethische Erziehung der Menschheit‹«, als »Erweckung und
261 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 155. 262 Ebd., S. 154. Metaphysisch betrachtet komme dem Bösen keine absolute Notwendigkeit oder Substanzialität zu; vielmehr sei es lediglich ein »Accidentelles« (Spekulative Theologie, S. 609). Der »ewig immanente Weltzweck« werde »nicht umgestoßen oder vereitelt durch die ungöttlichen oder widergöttlichen Thaten der endlichen Freiheit (das Böse ist seit Anbeginn der Welt gerichtet, besiegt […])«. Ebd., S. 650; vgl. ebd. S. 610; S. 618. 263 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 154 f. 264 »Gottes Weltplan ist an sich ewig vollendet, wandellos und unerschütterlich; denn er ist nichts Anderes, als der ewige Ausdruck, der Ur- und Grundwille seines Wesens in den endlichen Geistern, der Inhalt des objectiv Guten, oder thatsächlich-praktisch ausgedrückt: die Beseligung des endlichen Geistes durch seine Vereinigung mit Gott.« (I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 635 f.). Zu Fichtes Deutung der »›Vorsehung‹« im Zusammenhang mit der Rede vom »absoluten Weltzweck« vgl. ebd., S. 409 ff. 265 Als ein »stehender und durch sich selbst sich erhaltender« Zustand stellt sich für Fichte die »künftige Vollkommenheit des Menschengeschlechts« dar. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 190. 266 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 633 f. 267 Ebd., S. 634. 268 I. H. Fichte: Die Seelenfortdauer, a. a. O., S. 427.
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Aussichwachsenlassen des Menschengeistes von innenher«269, erweise sich daher »die Erdgeschichte als blosser Bruchtheil und als Vorstufe jenseitiger, künftiger Entwickelungen, weil ganz augenfällig jener erziehende Erfolg nur an einer höchst geringen Minderzahl der Menschheit zwar begonnen, nirgends aber und für kein Individuum irdischerweise an sein vollendendes Ziel gebracht werden kann.«270
Mithin gelange der qua göttlicher Providenz individuell wie kollektiv ausgerichtete ›ethische Prozess‹ erst innerhalb einer – in ihrer Existenzdauer der Zeitvorstellung endlicher Vernunft enthobenen – »jenseitige[n] […] Geistergemeinschaft«271 an sein Ziel. Fichte legt somit nahe – durchaus eine »wahre, reale Antinomie«272 zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit konstatierend –, dass die Menschen zwar als endlich-freie, sinnlich-geistige Weltwesen innerhalb der irdischen Geschichte natürlicherweise »in jedem Acte ihrer Selbstheit« den Schöpfungszweck »auch unerfüllt lassen« können273, während sie als unendlichfreie, rein geistige Weltwesen natürlicherweise sich leichthin öffnen gegenüber den ›Anregungen‹ göttlicher Bestimmung und der Schöpfungszweck gemäß der göttlichen Vorsehung zur Erfüllung kommt. Folglich erscheint nicht nur die menschliche Freiheit für das im irdischen Diesseits beginnende »Reich Gottes« als die »werdende, innerlich fortschreitende Culturgeschichte selbst«274 gesichert; zugleich ist die menschliche Freiheit harmonisiert mit der jenseits der irdischen Geschichte sich notwendig vollziehenden Vollendung dieses schließlich »in ein ewiges Leben ausmündend[en]«275 Gottesreiches. Diese Deutung verträgt sich freilich nicht mit einer Darstellung, die die Verwirklichung des göttlichen Weltplans als schon irdischerseits stattfindendes Ereignis begreiflich machen will: dernach die »Weltregierung« Gottes »den immanenten, ewig vollendeten Weltzweck […] in der endlichen Schöpfung realisirt«.276 Und jene Deutung ist gleichfalls nicht vereinbar mit eben solchen Textstellen, die den göttlichen Grundwillen als dominierende Macht erscheinen lassen: denen zufolge »es lediglich göttliche Lebens- und Willenskräfte, nur 269 270 271 272 273 274 275 276
Ebd., S. 430. Ebd.; vgl. auch ebd., S. 401. Ebd., S. 432. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 630. Ebd. I. H. Fichte: Die Seelenfortdauer, a. a. O., S. 449. Ebd., S. 448. I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 649. »Dies Herausleben des ganzen innern Reichthums der Persönlichkeiten in die Freiheit und durch die Freiheit, der immanente Zweck im Einzelnen, wie in der ganzen Menschheit, und damit der allgemeinste Inhalt der Geschichte, wird nämlich eben von jener göttlichen Wirksamkeit durch alle Irrgänge der Freiheit an ihr rechtes Ziel geleitet.« Ebd., S. 632.
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particularisirt« seien, »die sich in aller Creatur […] verwirklichen«277, der Mensch gar zum »Werkzeug des ›göttlichen Rathschlusses‹«278 erklärt wird. Womit Fichte die menschliche Person auf den Stand eines bloßen Mittels zur Realisierung der vom Absoluten gesetzten Zwecke herunterstuft – was er Hegel so nachdrücklich zum Vorwurf macht. Fichte zeigt sich zwar inständig bemüht, der menschlichen Freiheit eine metaphysische Gründung zu verschaffen, in deren Ausführung das Diktum, jedes Individuum ergreife das Gute im Bewusstsein göttlichen Beistandes »nur aus sich selbst«, in »absoluter Selbstständigkeit«279, mit dem Gedanken eines definitiv sich erfüllenden Schöpfungszweckes zusammen bestehen soll. Gleichwohl bleibt diese Freiheitslehre mit einem inneren, letztlich nicht aufgelösten Widerstreit behaftet. Sie kann auf die von Fichte selbst gestellte »Grundfrage«, wie sich »die menschliche Freiheit zum göttlichen Wirken verhalte«280, keine befriedigende Antwort geben.
277 Ebd., S. 467. 278 I. H. Fichte: »›Auferstehung‹, Geisterreich, allgemeine und individuelle Vorsehung in ihrem wechselseitigen Zusammenhange«, a. a. O., S. 104; vgl. ebd., S. 102. 279 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 604; vgl. ebd., S. 428. 280 Ebd. , S. 622. – Nach Ansicht Stefan Koslowskis untergräbt die Annahme einer providenziell festgelegten, d. h. definitiv sich realisierenden sittlichen Vervollkommnung aller Menschen per se die Plausibilität des Fichte’schen Ansatzes. Denn so bringe sich Fichtes Ethik »um die Früchte ihrer Arbeit : Wenn der Einzelwille zwar seinem wahren Grundwillen widersprechen kann, der Abfall vom ›Pfad der Tugend‹ den göttlichen Heilsplan aber nicht aufhält, reduziert sich der Inhalt der kreatürlichen Freiheit – wenn auch an der Subjektivität des Einzelichs gebrochen – auf das belanglose Spiel Gottes mit seiner unendlichen Selbstmanifestation«. (S. Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus, a. a. O., S. 322). Mit einer in ein ähnliches Bild vom ›göttlichen Spiel‹ mündenden Argumentation findet Anatol Schneider bei Fichte »kaum das ernstliche Bedürfnis […] , wirklich ein, wie Schelling sagt, ›deriviertes Absolutes‹ zu denken, ein zweites Absolutes«, vielmehr »eine creatürliche Freiheit, die nur auf göttlichen Widerruf besteht«. Demnach raube die »Anerkennung der Freiheit als einer nur von Gott zugelassenen […] derselben ihren Charakter echter Selbständigkeit und reduziert sie zur Spielmarke in den Händen des göttlichen Croupiers«. (A. Schneider : Personalität und Wirklichkeit, a. a. O. , S. 187). Wird freilich die Vielzahl der bis in das Spätwerk hinein sich wiederholenden Anläufe Fichtes berücksichtigt, eine Vereinbarkeit von wirklicher Selbstbestimmheit des Menschen und göttlicher Voraussicht des Weltplans aufzuzeigen, tritt das sehr wohl ernsthaft zu nennende Ringen Fichtes mit dieser Problematik hervor. Will er doch die Unhintergehbarkeit beider Momente göttlichen Wirkens erweisen : die Absolutheit menschlicher Freiheit und die Vollendung einer grundguten Schöpfung.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
III.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
1.
Tugend als Ausdruck geistiger Entschlossenheit und Flexibilität
73
Jene Textpassagen, in denen der sich auf dem Wege zu immer angemessenerer Erfüllung seiner Gottesebenbildlichkeit befindende Mensch dem Zugriff einer die göttliche Providenz verwirklichenden Kraft unterstellt wird, erscheinen nicht zuletzt deshalb als problematisch, da Fichte wiederholt betont, dass auf den höheren Stufen sittlich-personaler Entwicklung ein erfolgreiches Fortkommen nur durch die bewusste Selbstführung des Individuums gelingen kann. Gleichwohl ist es für das Verständnis der personalistischen Grundlagen des Fichte’schen Gesamtkonzeptes geboten, seine Argumentation in Bezug auf das Werden einer charakterfesten Eigentümlichkeit zu verfolgen. Dazu bietet er interessante und aufschlussreiche Hinsichten; so begreift er die Arbeit als wesentliche Komponente individueller Potenzialentfaltung, zumal dann, wenn sie im Felde beruflichen Engagements geleistet wird. Beginne der Prozess des Lernens und Reifens naturgemäß mit dem zielvollen Einwirken durch und der Orientierung suchenden Anlehnung an äußere Autoritäten, bedürfe die Vervollkommnung der Person wesentlich der Loslösung von Fremdbestimmtheit jeglicher Art. Denn »freie Sittlichkeit« werde nur durch »Selbsterziehung« erreicht.281 Das Resultat dieser »Selbstthätigkeit des Subjects«282, das – wie bereits gezeigt – qua bewusster Formung des je besonderen Genius’ in einer allmählichen Stabilisierung des Charakters Ausdruck findet, nennt Fichte »Tugend«. »Tugendbildung, gleich der Charakterbildung, deren allgemeinerem Begriffe sie zufällt, besteht in der freibewussten Entwicklung des geistigen Princips über das bloss natürliche und unmittelbare hinaus. Somit enthält sie eine ganz allgemeine Bestimmung des Menschen und die Grundbedingung alles specifisch menschheitlichen Daseins.«283
Laut Fichte kennzeichnet der Tugendbegriff die innere Haltung solcher Menschen, deren charakterliche Entwicklung bis zu einem Punkt gediehen ist, an dem diese sittlich handelten in Einlösung des Vorsatzes, den eigenen Willen »dem Inhalte der sittlichen Idee gemäss zu machen«.284 Nicht aus eigennützigem 281 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 223. 282 Ebd., S. 214. 283 Ebd. Die Darstellung der stufenweisen Charakterbildung wird laut Fichte durch die Tugendlehre vertieft. In diesem Sinne trete diese »als ergänzendes Moment und bestimmtere Ausführung der Lehre vom sittlichen Charakter zur Seite«. Ebd., S. 217. 284 Ebd., S. 209.
74
Der Blick auf das Individuum
Antrieb würden hier Entschlüsse getroffen, sondern bewusst und entschieden um der Sittlichkeit dieses Tuns willen, so schwer es auch allenthalben für die »sinnliche Neigung werde, einer bestimmten, aus diesem Verhältnisse hervorgehenden Verpflichtung zu genügen«.285 Könne freilich auch die in ihrer Tugendhaftigkeit schon gefestigte Person durchaus noch den Leidenschaften erliegen, zähle primär die zu Grunde liegende Haltung, die »untheilbare Einheit der Gesinnung«.286 Mithin sei jedes diesem »Wille[n] des Guten«287 entspringende Streben, mag es sich anfänglich auch unsicher und fehlbar zeigen, selbst bereits Tugend288 zu nennen.
2.
Tugend und Gemeinschaftsorientierung: Die »Entselbstung« des Willens
Wiewohl die Bildung des tugendstarken Charakters nach Fichtes Verständnis einer konsequenten, alle Momente fremdbestimmten Verhaltens überwindenden Selbsterziehung geschuldet ist, bedürften die Einzelnen natürlicherweise der Unterstützung durch ihre Mitwelt. Entsprechend behandelt Fichtes charakterologischer Ansatz die personale Vervollkommnung als ein mit der Notwendigkeit diverser Gemeinschaftsbindungen des Individuums verknüpftes Phänomen. Kann also Selbstbildung nur innerhalb eines die einzelne Person mittragenden sozialen Umfeldes erfolgreich sein, bedarf Fichtes ethischer Grundhinsicht zufolge jede Gemeinschaft, soll sie dieser Aufgabe und anderen sozietären Erfordernissen gerecht werden, selbst wiederum der tragenden Rolle sittlich ge285 Ebd. 286 Ebd., S. 204. Manifestiert sich Tugend für Fichte durch diese »Eine sittliche Gesinnung« (ebd., S. 207), lehnt er entschieden die Annahme einer Mehrzahl gleichsam substanziell voneinander geschiedener Tugenden ab. Nichtsdestotrotz seien an der einen Tugend »gewisse Grundeigenschaften« zu beobachten, die, freilich nur als »bleibende Kennzeichen und Attribute«, nun »selber auch ohne Missverstand ›Tugenden‹« genannt werden dürften. Ebd., S. 228; vgl. dazu insbesondere Fichtes Kritik an Schleiermachers Behandlung des Tugend-Begriffes. Ebd., S. 207. 287 Ebd., S. 228. 288 Ebd., S. 208 f. Neben dieser geistigen Einstellung der Entschlossenheit, die dem Willen zugleich die Verpflichtung auferlege, guten Absichten in konkretem Tun Gestalt zu geben (ebd., S. 202), gehöre zur Tugend ein Moment der »Beweglichkeit«, das ihr in der sittlichen Praxis erst Bewährung verschaffe: Die guten Vorsätze müssten der jeweils gegebenen Handlungssituation entsprechend umgesetzt werden. Tugendhafte Menschen zeichneten sich durch ein praktisches Urteilsvermögen aus, durch eine, wie Fichte sagt, »künstlerische Fähigkeit«, die es erlaube, in jeder Lebenslage sittlich angemessen zu handeln. Will Fichte die Tugend in diesem Sinne auch als »sittliche Lebenskunst« verstanden wissen, vermerkt er dies nicht ohne den deutlichen Hinweis, dass es zu deren Erlangen auf »unablässiges Lernen« und »bewusstes Ueben« in der lebensweltlichen Praxis ankomme. Ebd., S. 209 ff.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
75
reifter Individuen. Die Charakter- und Tugendbildung als sukzessive Loslösung von egoistisch motivierten Denk- und Handlungsmustern stellt somit auch eine individuelle Orientierung in Richtung auf vitale Interessen jeder Gemeinschaft dar.289 Obgleich Fichte diesen Vorgang mit dem prima facie missverständlichen Begriff der »Entselbstung«290 benennt, soll mitnichten Hand an die Besonderheit des Individuums gelegt werden. Im Blick steht vielmehr die Überwindung der »sinnlichen Zufälligkeit« und »selbstsüchtigen Starrheit«291 des individuellen Willens, die die Einzelnen gerade an ihr eigentliches Selbst heranführe: den Genius als den ›guten Kern‹ eines jeden Menschen. Je mehr es vermittels dieser beständigen ›Arbeit am Selbst‹ gelinge, der Persönlichkeit die standfeste Basis eines durch Tugendhaftigkeit sich auszeichnenden Charakters zu geben, umso offener zeigten sich solche Menschen für die anregende und klärende Einsprache anderer. Überdies bezögen sie für die Ausrichtung ihres Strebens entschieden die Belange der Mitwelt ein. Fichte führt so das Bild einer von unklaren Gefühlen und bloß eigensüchtigen Antrieben zunehmend freieren Person vor Augen, die sich aus einer selbst-gewissen und selbst-sicheren Position gottinniger Stärke den in den unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gegebenen Aufgaben und Herausforderungen stellt. »›Selbstvervollkommnung‹ daher ist, in Beziehung auf das Subject, unablässige Entselbstung, Abstreifen des Zufälligen, Willkürlichen, Unorganisirten in unserm Leben, in Bezug auf den objectiven Gehalt der Vollkommenheit, immer tiefere Einbildung des Subjects in die verschiedenen Gestalten (›Güter‹) der sittlichen Gemeinschaft.«292
Geht laut Fichte die Gewahrung des eigentlichen Selbst als Gewinn sozialer Gestaltungsbereitschaft mit jener immer entschiedeneren Konzentration auf den »Lebensmittelpunkt« einher, die unabdingbar zur Charakterbildung gehöre, werde damit alles individuelle Tun in einen planvoll gestalteten, »intensiv und extensiv« das gesamte Leben einschließenden Handlungszusammenhang überführt.293 In anderer Ausdrucksweise bedeute dies, dass sich die Einzelnen immer engagierter und bewusster in die ihrer »Individualität gemässe[n] Lebensaufgabe«294 einfänden. Als allgemeine Kennzeichnung dieser je eigentümlichen Lebensaufgabe wählt Fichte einen Begriff, der uns Heutigen zwar grundsätzlich vertraut, doch in der hier gemeinten, sehr nah am Wortsinn gelegenen Bedeutung durchaus nicht mehr geläufig ist: den Begriff des »Berufes«. 289 290 291 292 293 294
Ebd., S. 180. Ebd., S. 221. Ebd. Ebd., S. 260. Ebd., S. 139. Ebd., S. 205.
76 3.
Der Blick auf das Individuum
Der Beruf als institutioneller Rahmen personaler Entwicklung und gemeinschaftsfördernder Tätigkeit
Jede Ethik, die den Prozess der Tugendbildung deskriptiv verständlich machen und zugleich als normatives Moment in ihrer Grundkonzeption verankern will, wird nach Fichtes Ansicht dieses Ziel nur erreichen, wenn sie das Thema der »Berufsbildung«295 in angemessener Weise berücksichtigt. Muss demnach der Zusammenhang von Tugend und Beruf ersichtlich werden, meint »Beruf« hier noch ganz unspezifisch eine in den je eigentümlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten gründende Qualifikation, mittels derer die Mitglieder der Gesellschaft ihren individuellen Beitrag zum Gedeihen derselben leisten können und leisten sollen. Fichte will deutlich machen, dass die Einzelnen einen tugendfesten Charakter gerade an dem Platz im gesellschaftlichen Gesamtgefüge bestmöglich ausbilden, auf den sie angesichts der mit ihrem Genius gegebenen Anlagen ›berufen‹ sind. In diesem Zusammenhang steht näherhin auch Fichtes Einspruch gegen jeden Ansatz, der eine »allgemeine Tugendbildung«296 für möglich hält, d. h. ohne Inachtnahme der besonderen Relevanz einer beruflichen Tätigkeit. Gebe es Tugend allein »im klar begränzten Umkreise des Berufes«297, mag diese Aussage freilich in Kategorien spätkapitalistischer Berufsauffassung unverständlich bleiben. Das Vermögen tugendhaften Handelns soll hier keineswegs auf die Zeitspanne beruflicher Arbeitsaktivität reduziert werden, was die Zeiten der Arbeitsruhe von dieser Möglichkeit vollständig ausschlösse. Gemeint ist vielmehr die Notwendigkeit der bewussten und zielorientierten Bewältigung eines konkreten Aufgabenbereiches, die charakter- und somit auch tugendbildend im je individuellen Dasein wirke. Ob Menschen in der Landwirtschaft, im Schulwesen oder in der Wissenschaft tätig seien: Jeder mit der Ausrichtung des Genius zusammenstimmende Beruf präge in sittlicher Hinsicht die gesamte Persönlichkeit.298 Jede Person, die sich in der Lage finde, diesen ihren Platz im Gemeinwesen mit Entschlossenheit einzunehmen, werde im Wissen um die ureigenen Potenziale und in der steten Nutzung derselben ihre Kräfte in sozial förderlicher Weise zum Einsatz bringen.
295 296 297 298
Ebd., S. 226. Ebd., S. 216. Ebd. So habe eine »wissenschaftliche Behandlung« dieses Gegenstandes den »umbildenden Process« darzustellen, den »der Beruf auf die ganze Persönlichkeit in ihrer organisch-geistigen Untheilbarkeit ausübt«. Ebd., S. 216 f.; vgl. ebd., S. 225 f.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
77
»Denn ›Beruf‹ ist eben die mit Bewusstsein ergriffene sittliche Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft; die durch ›Selbstvervollkommnung‹ immer gesteigerte Darstellung des Genius in und für diese Gemeinschaft […].«299
Fichte sieht allerdings, dass es den wenigsten vergönnt ist, ihre Begabungen dergestalt zu entfalten. Selten nur dürfe jemand von sich behaupten, die Berufsausübung entspreche den eigenen Talenten oder diese würden gar durch jene gefördert und es ergebe sich dergestalt ein Beitrag zum Wohle der Gesellschaft.300 Um das faktische Erscheinungsbild der beruflichen Tätigkeit und den qua ›genialischer‹ Disposition eigentlich angezeigten Beruf auseinanderzuhalten, unterscheidet Fichte daher bei der Behandlung dieser Thematik den »äussere[n]«301 vom »innerlich specifischen«302 Beruf. Hiermit greift er ein Begriffspaar auf, das in diversen philosophischen und literarischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts anzutreffen ist, dort letztlich die »Säkularisierung«303 des Berufsbegriffs Martin Luthers widerspiegelnd. Hatte Luther von den »zwei Berufen« des Menschen gesprochen, dem »geistlichen« und dem »äußerlichen«304, bezeichnet jener eine alle Menschen betreffende Aufforderung, dem geistigen Pfad der im Neuen Testament niedergelegten Lehre Christi zu folgen, während es bei diesem für die Einzelnen darum geht, jenem Ruf mittels der Übernahme der ihnen in ihrem weltlichen Stand bestimmten Aufgaben nachzukommen. Die unterschiedliche Benennung der Berufe meint dabei keine Trennung derselben: Die zum christlichen Glauben sich Bekennenden sind insgesamt berufen, im alltäglichen Leben mit tätiger Nächstenliebe für die Mitmenschen aktiv und damit »Mitarbeiter Gottes zu sein und in der ›politia Christi‹ zu dienen«.305
299 300 301 302 303
Ebd., S. 273. Ebd., S. 215. Ebd. Ebd., S. 274. W. Conze: Art. ›Beruf‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 490 – 507, hier: S. 502. Werner Conze nennt auch etliche Belege für die Verwendung dieses Begriffspaares. Ebd. 304 »Nos habemus duplicem beruff, spiritualem et externam. Spiritualis est, quod omnes sumus per Euangelium vocati ad baptismum et Christianam fidem.« (M. Luther : Predigten des Jahres 1531, Nr. 90, in: Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 34, 2. Abt. [hrg. v. G. Buchwald], Weimar 1908, S. 300). »Altera vocatio, externa scilicet, macht ein Unterscheid, Est yrdisch, quamquam etiam divina.« Ebd., S. 306. 305 H. G. Ulrich: Art. ›Beruf‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (hrg. v.H. D. Betz u.a.), Bd. 1, Tübingen 41998, Sp. 1336– 1346, hier: Sp. 1339. – »Luther hat die vocatio, die direkte Beziehung des arbeitenden Menschen zu Gott, die bisher der Geistlichkeit vorbehalten war, auf alle Arbeitsgebiete ausgedehnt. Gott ruft den Menschen in seiner gewohnten Tätigkeit und will, dass er diesen
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Der Blick auf das Individuum
Im Zuge der mit Beginn der Neuzeit einsetzenden Fokussierung auf die menschliche Subjektivität findet neben der Lösung der engen Verbundenheit jener beiden Seiten des Luther’schen Berufsbegriffes ein Bedeutungswandel derselben statt. So wird der ›geistliche‹ zum ›inneren‹ Beruf, zu einer den individuellen Anlagen gemäßen inneren Bestimmung. Diese soll nach Möglichkeit für die Wahl und die praktische Ausfüllung des nunmehr so genannten ›äußeren‹ Berufes leitend sein, der spätestens mit Einsetzen der Industrialisierung die den Lebensunterhalt sichernde Erwerbstätigkeit bezeichnet.306 Wo dies jedoch unter den Zwängen der politischen und ökonomischen Verhältnisse nicht gelingt, da haben sich in den Augen derjenigen Denker, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Berufsthematik aufgreifen, die Einzelnen zum Wohle Aller diesen Gegebenheiten zu stellen. Die Ausübung eines äußeren Berufes im Sinne einer aktiven Teilnahme an der Beförderung der gesellschaftlichen Belange wird als sittliche Forderung verstanden. Fichtes Vater, Johann Gottlieb Fichte, steht demgemäß nicht alleine, wenn er den Beruf in der Pflichtenlehre307 behandelt. Dies ist gleichermaßen bei Schleiermacher308 wie bei Hegel309 der Fall. Hier reiht sich auch Immanuel Hermann Fichte ein, der den Beruf ebenso innerhalb seiner Pflichtenlehre zum Thema macht. Taucht dieser ja bereits in der Tugendlehre auf, tritt er hier – wie andere Inhalte der Tugendlehre auch – verstärkt unter praxisbezogenen Aspekten in Erscheinung. Nehme doch die Pflichtenlehre eine Perspektive ein, in welcher »der Tugendwille schon zur bestimmten Bethätigung fortgeschritten ist«.310 So spricht Fichte explizit von »Berufspflichten«311; wobei solche an vorderster Stelle stehen, die angesichts nur unzureichend entwickelter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, »wo die allgemeine und die besondere Berufsbildung der Meisten noch immer die mannigfachsten Hemmnisse erleidet«312, zum sittlich geforderten Ausgleich der Problematik einer ›richtigen‹, weil der je individuellen Persönlichkeit entsprechenden Berufswahl dienen sollen.
306 307 308 309 310 311 312
Ruf in und durch seine[r] Tätigkeit erwidere.« K. Vontobel: Das Arbeitsethos des deutschen Protestantismus, Bern 1946, S. 116 f. Vgl. H. Gatzen, Art. ›Beruf‹, in: Evangelisches Kirchenlexikon (hrg. v. E. Fahlbusch u. a.), Bd. 1, Göttingen 31985, Sp. 436 – 440, hier : Sp. 439. So spricht Johann Gottlieb Fichte im »System der Sittenlehre« von 1798 davon, dass der Mensch seinen »besondere[n] Beruf« nicht »nach Neigung, sondern nach Pflicht« zu wählen habe. J. G. Fichte’s sämmtliche Werke (hrg. v. I. H. Fichte), Bd. 4, Berlin 1845, S. 343. F. D. E. Schleiermacher: Ethik 1812/13 (Tugend- und Pflichtenlehre), in: Schleiermachers Werke (hrg. v. O. Braun; J. Bauer), Bd. 2, Aalen 1967 (Neudr. d. 2. Aufl., Leipzig 1927), S. 416 ff. G. W. F. Hegel: Philosophische Propädeutik, a. a. O., Bd. 4, S. 262 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 204; vgl. ebd., S. 239 ff. Ebd., S. 272 f. Ebd., S. 274.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
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»[…] da […] kaum Jemand in sich zur absoluten Gewissheit kommen kann, ob er wirklich den allein ihm angemessenen Beruf gewählt, die einzig ihm vorbehaltene Stelle in der sittlichen Gemeinschaft sich errungen habe: so bleibt auch in dieser Beziehung nur ein relatives Maass des sittlich Erreichbaren übrig. An die Stelle des innerlich specifischen, absoluten Berufes tritt der äusserlich erreichbare, relative; und hiermit verwandelt sich die erste Pflicht, ›den rechten Beruf zu finden‹, in die zweite, modificirte: sich in die gegebene Sphäre des Berufes mit sittlicher Kraft hineinzubilden, indem kein Beruf und keine denkbare Beschäftigung so gering ist, dass sie, auf sittliche Weise erfasst, d. h. als eine That der Entselbstung und des Dienstes für die Gemeinschaft ergriffen, nicht die Sittlichkeit in uns steigerte und nicht wirklich der Gemeinschaft diente.«313
Freilich ist sich Fichte bewusst, dass es angesichts der für eine der je besonderen Begabung entsprechenden Berufswahl in mehrfacher Hinsicht noch unzureichenden Bedingungen wenig Sinn macht, nur ein pflichttreues Sicheinfinden in die gegebenen Verhältnisse zu fordern. Umso deutlicher will er gerade in Sicht auf die problematischen gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit die menschliche Arbeit in den Focus der Aufmerksamkeit gerückt wissen; als die – wie er sagt – »stoffliche Unterlage«314 derjenigen Begriffe, die ihm zur charakterologischen Ausdeutung des individuellen Selbstvervollkommnungsprozesses dienen.
4.
Die Bedeutung der Arbeit und das Doppelgesicht einer zunehmend technisierten Arbeitswelt
Steht nach Fichtes Dafürhalten die individuelle Charakterbildung in engem Zusammenhang mit dem Wirken der Person innerhalb eines bestimmten beruflichen Handlungsfeldes, entfalte die Arbeit vor allem als spezifische Berufsarbeit – wie Fichte sagt: als »im Berufe fixirte Arbeitsleistung«315 – ihre der Persönlichkeitsentwicklung förderliche Kraft. Wenn dabei zwar jede berufliche Tätigkeit und jedes Beschäftigungsverhältnis einen sittlichen Wert beinhalte, sofern sie eben aufgefasst würden »als eine That der Entselbstung«316 und als Beitrag zur Förderung des Gemeinschaftslebens, stehen diesem normativen Anspruch die realen Arbeitsbedingungen insbesondere im zunehmend durch maschinelle Produktionsweisen geprägten industriellen Bereich entgegen. Bereits Hegel hatte in Betrachtungen zum dialektischen Gepräge des technischen Fortschritts konstatiert, dass es dem Menschen vermittels des Einsatzes 313 314 315 316
Ebd. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 67. Ebd. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 274.
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Der Blick auf das Individuum
von Maschinen zwar in steigendem Ausmaß gelänge, »sich aus der Arbeit herauszuziehen und an die Stelle seiner Tätigkeit die der äußern Natur zu substituieren«.317 Zugleich verliere er allerdings von seiner »Kraft des Selbsts«, werde »mechanischer, abgestumpfter, geistloser«318, je mehr er den Auswirkungen mechanisierter Arbeitsabläufe unterworfen sei, da sich das Wesen dieser Arbeit selbst als zunehmend »maschinenmäßiger«319 erweise. Karl Marx wird die Hegel’sche Darstellung der Nachteile mechanisierter Produktion radikalisieren und »auf einer breiter gewordenen Erfahrungsgrundlage« in eine Perspektive »absolute[r] Hoffnungslosigkeit« ob der »gegebenen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitswelt« bringen.320 Marx zufolge führt die maschinell gebundene Herstellung von Waren zu »Verkrüppelung« und »Kretinismus« des Arbeiters321, sei er doch nur mehr »Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird«.322 Dergestalt zu »Arbeitsinstrumente[n]«323 degradiert, habe die Tätigkeit für die arbeitenden Menschen »allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz […] verloren«.324 Dieses Problem sieht auch Fichte325, der gleichfalls das Augenmerk auf den Verfall der lebendig-kreativen Energien der arbeitenden Menschen legt, insoweit diese durch die im Gefolge der Mechanisierung erzwungene Arbeitsteilung einer extremen Einförmigkeit des Produktionsvorganges ausgesetzt sind. »Die monotone Eingeschränktheit einer engen, gleichmässigen Beschäftigung mechanisirt den Geist und macht zuletzt auch den Körper unfähig zu jeder andern Leistung. Der Einzelne ist eigentlich selbst nur Theil einer aus vielen Arbeitern zusammengesetzten belebten Maschine: wie alle Einseitigkeit der Lebensweise verkümmern lässt, so diese am Meisten.«326
Spricht Fichte angesichts dieser Situation der in den Fabriken Arbeitenden von einer »noch in steigender Wirkung begriffenen Quelle der socialen Unvoll317 318 319 320 321 322 323 324 325 326
G. W. F. Hegel: Jenenser Realphilosophie, Bd. 2 (hrg. v. J. Hoffmeister), Leipzig 1931, S. 215. Ebd., S. 232. G. W. F. Hegel: Jenenser Realphilosophie, Bd. 1 (hrg. v. J. Hoffmeister), Leipzig 1932, S. 237. W. Conze: Art. ›Arbeit‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 154 – 215, hier : S. 202. K. Marx: »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (1844), in: Marx/Engels Werke, Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 513. K. Marx; F. Engels: »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848), in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 461 – 493, hier: S. 469. Ebd. Ebd., S. 468 f. Fichte hatte zwar von Marx gehört, kannte ihn aber nicht persönlich und besaß von dessen Schriften im Einzelnen wohl keine Kenntnis. Vgl. H. Ehret: Immanuel Hermann Fichte. Ein Denker gegen seine Zeit, a. a. O., S. 96. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 265.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
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kommenheit«327, hat er wohl über die unmittelbaren physischen und psychischen Folgen für das Individuum hinaus noch weitergreifende Auswirkungen im Blick. Birgt doch das Verkümmern dieser vitalen Kräfte die Gefahr, dass auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in Mitleidenschaft gezogen werden, es mithin mittelbar zur Erosion des gesamten gesellschaftlichen Gefüges kommen kann. Fichte belässt es allerdings bei dieser Andeutung. Die Thematik wird diesbezüglich nicht vertieft, wie es etwa bei Marx in den Ausführungen über die »entfremdete Arbeit«328 der Fall ist. Obgleich die Haltungen zur Frage der Vorgehensweise bei der Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten und der künftigen Einrichtung derselben bei Fichte und Marx grundlegend differieren, zeigt sich in Hinblick auf die Einschätzung der fortschreitenden Technisierung der Arbeitswelt eine weitere bemerkenswerte Parallele zwischen den beiden Denkern – also über die Darstellung der nachteiligen Folgen mechanisierter Produktion hinaus.329 So impliziert die Marx’sche Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ja keineswegs die Forderung, das System der Maschinerie abzuschaffen. Vielmehr gehört die »Weiterentwicklung der Maschine« zu den »unmittelbarsten Anliegen von Marx«330. Zum einen hebe die mechanisierte Waren-Herstellung im industriellen Bereich die Eigenart der manufakturellen Arbeitsteilung auf und wirke dergestalt der Tendenz zum Spezialistentum331 entgegen. Zum anderen wird in seiner Sicht der »Entlastungs- und Vervielfältigungseffekt«332 der Maschinen relevant: Unter den geänderten Produktionsbedingungen
327 Ebd. 328 Welche bekanntlich aufzeigen sollen, wie jene durch die den Kapitalismus kennzeichnenden Produktionsbedingungen hervorgerufene Entfremdung des arbeitenden Menschen von seiner Tätigkeit und deren Produkten einen Prozess des Sich-selbst-fremd-werdens nach sich zieht und schließlich »die Entfremdung des Menschen von dem Menschen« zur Konsequenz hat. Vgl. K. Marx: »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (1844), a. a. O., S. 512 ff. (Zitat: S. 517). 329 Wenn Fichte auch keine Theorie der Entfremdung bietet: Der folgende Vergleich soll nicht zuletzt deutlich machen, dass die die Mehrschichtigkeit des Problems sehr wohl berücksichtigenden Überlegungen Fichtes bei den nunmehr behandelten Aspekten ein Reflexionsniveau erreichen, das den Ausführungen des ungleich berühmteren Marx durchaus ebenbürtig ist. 330 T. Ramm: »Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels«, in: I. Fetscher (Hrg.): Marxismusstudien, Bd. 2, Tübingen 1957, S. 77 – 119, hier : S. 90. 331 »Was die Teilung der Arbeit in der mechanischen Fabrik kennzeichnet, ist, daß sie jeden Spezialcharakter verloren hat. Aber von dem Augenblick an, wo jede besondere Entwicklung aufhört, macht sich das Bedürfnis nach Universalität, das Bestreben nach einer allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar. Die automatische Fabrik beseitigt die Spezialisten und den Fachidiotismus.« K. Marx: »Das Elend der Philosophie« (1847), in: Marx/Engels Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 65 – 182, hier: S. 157. 332 W. Conze: Art. ›Arbeit‹, a. a. O., S. 202.
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Der Blick auf das Individuum
künftiger Gesellschaftsformationen soll er dazu beitragen, »den Menschen zu einem sein Wesen verwirklichenden, würdigen Arbeitsleben freizusetzen«.333 Marx zufolge bieten die vom technisch-wissenschaftlichen Fortschritt mitbestimmten Produktionsbedingungen334 nach der Beseitigung des Kapitalismus die Möglichkeit, qua »Ersparung von Arbeitszeit« freie Zeit zu gewinnen, nämlich »Zeit für die volle Entwicklung des Individuums«.335 Diese freie Zeit, die auch »Mußezeit«, d. h. Zeit für Erholung sei, gebe zugleich Raum für »höhre Tätigkeit«: Die einzelnen Menschen könnten sich geistiger Beschäftigung und Fortbildung widmen336, was sie zur Wandlung »in ein andres Subjekt« führe. Dem »unmittelbaren Produktionsprozeß« trete somit das Individuum als dieses gewandelte Subjekt bei, als eine sich seines Wesens in steigendem Maße bewusst werdende Person. Ihr werde die Arbeit »materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft«, habe sie doch das »akkumulierte Wissen der Gesellschaft« im Kopf.337 Marx macht so die »Aufhebung des Gegensatzes zwischen freier Zeit und Arbeitszeit«338 zu einem Zielpunkt der projektierten Veränderung der Produktionsverhältnisse. In Sicht auf die Entwicklung der Produktivkräfte ist hier freilich eine entsprechende Voraussetzung mitzudenken: Der durch wissenschaftliche Erkenntnisse befeuerte technologische Fortschritt treibe die Automatisierung der Maschinen so weit voran, dass die arbeitenden Menschen den maschinengebundenen Produktionsvorgängen nicht mehr unmittelbar unterworfen seien. Sie hätten nur mehr deren Funktion zu sichern. Als Kontrollierender oder Instandsetzender eines ›selbst laufenden‹ maschinellen Systems trete der Mensch damit »neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein«.339 Bei Fichte nun stellt sich die positive Bewertung des zunehmenden Einsatzes mechanisierter Produktion wie folgt dar : »Dies eigentlich ist die hohe ethische Bedeutung aller mechanischen Erleichterung der physischen Arbeit durch Maschinen und künstliche Apparate. Der körperliche Kraftaufwand des rohen Machens soll immer mehr vom Menschen hinweg auf die Natur abgewälzt werden. Seine freie Intelligenz lässt die allgemeinen Kräfte der Natur für sich arbeiten und bleibt der innerlich leitende, besonnene Geist jener Arbeit. So wird nicht nur die Musse vermehrt, sondern die Arbeit selber vergeistigt: sie wird 333 Ebd. 334 K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf von 1857/58), Berlin 1953, S. 592. 335 Ebd., S. 599. 336 Ebd. Marx spricht explizit von der »Entwicklung der geistigen Kapazitäten«. Ebd., S. 660. 337 Ebd., S. 599 f. 338 Ebd., S. 599. 339 Ebd., S. 593.
Hauptaspekte einer Charakterologie: Tugend- und Berufsbildung
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sinnvoller, anregender, weil in der Art und Einrichtung der Arbeitsthätigkeit die ewigen Vernunftgesetze der Natur selber hindurchleuchten und Zeugniss für sich geben.«340
Spricht Marx davon, dass der Mensch, indem er den »Naturprozeß« in »einen industriellen umwandelt«, sich der unorganischen Natur »bemeistert«341, meint Fichte eben dies, wenn er »die allgemeinen Kräfte der Natur« für die menschliche Welt in Nutzung genommen sieht. Auch hier ist eine Entwicklung skizziert, in der angewandtes Wissen dazu gereicht, Maschinen unter menschlicher Kontrolle dergestalt zum Einsatz zu bringen, dass sich der Gewinn der freien Zeit vergrößert, die Arbeit immer »mussegewährender«342 werde. Obschon Fichte diese Perioden der Arbeitsruhe »Musse« nennt, will er damit nicht nur die Zeiten der Erholung bezeichnet wissen; allem voran sei sie Möglichkeit zur »geistig-sittlichen Fortbildung«.343 So zeige sich recht verstandene Muße stets mit einem »sittlichen Ernste geistiger Pflichterfüllung«344 verbunden. Solche, wie er auch sagt, »ethische« Muße meint folglich keine dem heutigen Freizeit-Begriff entsprechende, d. h. auf irgend eine Weise ausgefüllte Dauer des Nichtarbeitens, sondern eine bewusst genutzte, weil in der Erfahrung von »Ernst und Kampf der Arbeit errungene und darum zur Perfectibilität antreibende« Phase.345 Diese nähere Bestimmung der Eigenart ›echter‹ Muße ist insofern von Bedeutung, als Fichte der Zielsetzung, die Arbeit solle immer »mussegewährender« werden, noch einen anderen, weiterführenden Sinn beilegt. Wie Marx sieht er im wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht nur eine Voraussetzung, um Raum für die »volle Entwicklung des Individuums« jenseits des bloßen Produktionsprozesses zu schaffen. Eignet Marx zufolge der Arbeit innerhalb der künftigen gesellschaftlichen Verhältnisse zunehmend der Charakter eines materiell und geistig schöpferischen Tuns, bis schließlich Arbeitszeit und freie Zeit nichts Gegensätzliches mehr an sich haben, stellt auch Fichte unter Hinweis auf die technologische Entwicklung das Ende der sich im Laufe der Geschichte manifestierenden Trennung von Arbeit und Muße in Aussicht. Im »allmähligen Fortschreiten und Vervollkommnen der Arbeit«346 soll sich, wie es ähnlich Fichtes oben angeführtes Ausgangszitat nahelegt, dieser Gegensatz nach und nach aufheben, »so dass alle Zweige der Arbeit neben dem intensiveren Erfolge
340 341 342 343 344 345 346
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 66. K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 592 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 67. Ebd., S. 40. Ebd., S. 67. Ebd., S. 63. Ebd., S. 66.
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Der Blick auf das Individuum
zugleich immer mehr anregende und bildende Geistesbeschäftigungen werden«.347 In Sicht freilich auf die »gegenwärtigen, durchaus nur präliminaren Culturund socialen Zustände«348 ist es für Fichte bis dahin noch ein weiter Weg. Welche Folgen allein jene Kluft zeitige, die sich auftue zwischen den faktischen Arbeitsbedingungen und den Verhältnissen, die bei einer von den persönlichen Begabungen her angeratenen Berufstätigkeit eigentlich herrschen sollten, das erweise der schlichte Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. In »tausendfacher Gestalt« seien hier »in ihrer Entwicklung gehemmte oder völlig in Verkehrung gerathene, an innern und äussern Widersprüchen dahinsiechende Individualitäten«349 auszumachen. Im Ausgang von den gegebenen Zuständen müsse mithin gezeigt werden, wie Bedingungen entstehen können, die den Bedürfnissen und Talenten der Einzelnen wirklich entsprächen; wie in den Handlungsräumen des gesamten Gemeinwesens Voraussetzungen zu schaffen seien, unter denen das je eigentümliche Potenzial der Gesellschaftsmitglieder zur Entfaltung komme. Das aber bedeutet: Soll Fichtes Ethik dem Anspruch gerecht werden, einen praxistauglichen Entwurf für die Reformierung von Staat und Gesellschaft zu bieten, müssten seiner Ansicht zufolge nicht nur die Defizite der herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse aufgedeckt und demgegenüber Hinsichten für die Festschreibung von Bestimmungen wohlfahrtsorientierter Staatlichkeit entwickelt werden. Zur Bewältigung zumal der sozialen und wirtschaftlichen Probleme seien zudem neben politischen und administrativen Maßnahmen auch Wege zur Förderung bürgerschaftlicher Eigeninitiativen zu beschreiten und somit Formen dezentralisierter Staatlichkeit in Stellung zu bringen. Favorisiert Fichte im Weiteren – nämlich hinsichtlich der Frage nach dem angemessenen politischen System – im Verweis auf das ›zeitgegeben Mögliche‹ einen konstitutionell-monarchischen Staat, wird damit für ihn jenen in der Rechtsidee und der Idee der ergänzenden Gemeinschaft zum Ausdruck kommenden normativen Ansprüchen Genüge getan. Zu bedenken bleibe schließlich, wie eine institutionell geförderte Belebung christlich-religiöser Wertorientierungen realisiert werden kann, in der die Idee der Gottinnigkeit Entfaltungsspielraum erhält. Gilt es doch für Fichte, das Bild eines Gemeinwesens vor Augen zu stellen, dem die Kennzeichnung als christlicher Staat zum Ausweis besonderer Güte gereicht.
347 Ebd. 348 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 274. 349 Ebd., S. 215 f.
Dritter Teil
Der Blick auf den Staat: Perspektiven für ein gewandeltes Gemeinwesen
I.
Fichtes Staatsvorstellung, die Spuren aristotelischer Denktradition und das Modell des ›organischen‹ Staates
Wie sich zeigte, bestimmt Fichte den Begriff des Menschen, indem er sowohl die das Individuell-Besondere bildenden wie auch jene die Welt des Sozialen konstituierenden Komponenten der menschlichen Natur herausarbeitet und diese ineinander verschränkten Seiten als gleichermaßen bedeutsam darstellt. Lautet demnach die grundlegende Einsicht: Individuum und Gemeinschaft, Besonderes und Allgemeines entfalten sich stets nur in wechselseitigem Bezug, begreift Fichte dieses Diktum als notwendige Leitlinie eines jeden Versuchs, das gesellschaftliche Miteinander gedeihlicher zu gestalten und damit auch die Höherbildung einer humanen Kultur zu befördern. Entsprechend legt Fichte Wert auf den Hinweis, dass keine der beiden Erscheinungsweisen des »ethischen Processes« in irgend einem Betracht ein Vorrang gegenüber der anderen zugesprochen werden dürfe: Weder sei »die vom Einzelnen zur Vollkommenheit der Gemeinschaft« verlaufende Bewegung, »noch jene, die von der Gemeinschaft zur Vollkommenheit des Einzelnen übergeht«, als wesentlicher zu erachten oder »in der Theorie der Ethik stärker zu betonen«.350 Wenn mithin Fichtes Ethik für die künftige gesellschaftliche Wirklichkeit die Entfaltung einer Dynamik der Gegenseitigkeit projektiert, innerhalb derer die Individuen mit den ihnen eigenen Fähigkeiten ihren Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten haben, muss sie zugleich von Seiten des Staates Maßnahmen fordern, die diese besonderen Kräfte der Einzelnen zur Erscheinung bringen und in ihrer Fortentwicklung stützen. Das Gemeinwesen möge ja mitgetragen sein von der Sorge der ihm Zugehörigen um dasselbe; diese Sorge soll zum Ausdruck gelangen in einer tugendstarken, im alltäglichen Leben sich wesentlich durch die gewissenhafte Erfüllung des beruflichen ›Auftrages‹ manifestierenden
350 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 133.
88
Der Blick auf den Staat
Haltung. Entsprechend habe der Staat selbst mittels des rechtlichen Schutzes und der umsichtigen Inachtnahme bestehender, gleichwie mit der Einrichtung innovativer Institutionen äußere Bedingungen zu schaffen, unter denen für die Menschen ein in Selbstverfügung gestaltetes Leben sittlicher Mitverantwortung möglich ist.351 Bevor in den folgenden Kapiteln der Entwurf eines Staatswesens zur Sprache gebracht wird, das nach Fichtes Verständnis die gestellten Anforderungen in den rechtlichen, sozialen, verfassungs- und verwaltungspolitischen Dimensionen erfüllen kann, wird es in einem ersten Schritt der Annäherung darum gehen, den Blick auf Fichtes staatstheoretische Grundhinsichten zu richten, der zugleich offenbart, in welchem Verhältnis er auf diesem Gebiete zu bestimmten einflussreichen Denktraditionen steht. Intendiert ist hiermit eine ideengeschichtlich unterlegte Standortbestimmung der Fichte’schen Lehre vom guten Staat, die das Verständnis dieser Thematik, zumal in ihren verschiedenen Facetten, erleichtern soll.
1.
Der Einfluss des politischen Aristotelismus
Fragt man nach wirkmächtigen Grundlinien philosophischer Reflexion, die sich in Fichtes Betrachtungen zu Wesen und Eigenart des Staates gleichwie dem Phänomen der Vergesellschaftung niederschlagen, ist allem voran auf die Anklänge des politischen Aristotelismus zu verweisen. Greifbar in jener ›klassischen‹ aristotelischen Definition, die den Menschen zum »zoon politikon«352, d. h. zu einem genuin politischen Wesen bestimmt, kennzeichnet der politische Aristotelismus das Leben als Mitglied der Polis, im Kreise der Bürgerschaft353, als einzig der Natur des Menschen angemessene Daseinsform. Ist die menschliche Natur zufolge der teleologischen Perspektive des aristotelischen Denkens immer schon ausgelegt auf eine vollkommene Entfaltung der ihr innewohnenden Möglichkeiten, die sich praktischerseits in einem gelungenen, d. h. aus tugendhaftem Handeln entspringenden glücklichen Leben verwirklicht, wird dies allein durch die Zugehörigkeit zur Polis und die 351 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 211 f. 352 Aristoteles: Politik (hrg. v. O. Gigon), München 71996, 1253a2. 353 Entschieden weist Ernst-Wolfgang Böckenförde darauf hin, dass die antike Polis »nicht nur politische Gemeinschaft und Rechtsgemeinschaft, sondern zugleich auch Kult-, Kunst-, Fest- und Erziehungsgemeinschaft« war. Sie ließe sich »mit dem Begriff des ›Staates‹, bei dessen Verwendung sich stets Assoziationen zur politischen Ordnungsform des neuzeitlichen Staates samt dessen charakteristischen Merkmalen einstellen, nicht angemessen beschreiben«. E.-W. Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Tübingen 2002, S. 20.
Fichtes Staatsvorstellung
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damit verbundene gemeinsame politische Tätigkeit garantiert. Da die Polis als das »Ganze« allererst ermöglicht, dass die »Teil[e]«, mithin die Individuen, ihre menschliche Bestimmung verwirklichen können, sie nach Aristoteles’ Aussage »ursprünglicher als der Einzelne« ist354, erhält sie gegenüber dem individuellen Menschen eine höhere ontologische und sittliche Dignität. Entsprechend liegt hier die Betonung nicht auf dem Vermögen der Einzelnen, qua eigentümlicher Leistung von Vernunft und Gewissen sich gerade als Einzelne im Gegenüber zu den traditionell verankerten sittlichen und sozialen Gegebenheiten zu reflektieren, »sondern das Individuum des politischen Aristotelismus ist ein politischer Mensch, ein Gemeinschaftsmensch; es definiert sich durch die Teilhabe an der Gemeinschaft und verwirklicht sich in der Gemeinschaft, durch die engagierte Mitarbeit am politischen Leben, an der gemeinsamen Praxis«.355 Wenngleich christlich vermittelt, nämlich in der Rede von einem alle Menschen verbindenden »Urbezogensein«356 in Gott, welches Individuum und Gemeinschaft gleichursprünglich und somit in ontologischer wie sittlicher Hinsicht auch gleichwertig im Schöpfungsgeschehen gründen lässt357, bekräftigt Fichte den Sinn der aristotelischen Grundannahme, demzufolge der Mensch ›von Natur‹ ein Gemeinschaftswesen ist. Wir sehen Fichte in ausdrücklicher Frontstellung gegen jene natur- oder vernunftrechtlich begründeten vertragstheoretischen Konzeptionen, die die Staatsbildung als Eintritt der im Naturzustand atomistisch-ungebundenen Individuen in den ›status civilis‹ vorstellen; stattfindend unter vertraglicher Sicherung einer für alle Beteiligten vorteilsverbürgenden politischen Ordnung.358 Da es niemals »Einzelne als solche« gebe, sei es »reine Erdichtung« verfehlter Theorieansätze, »die Gesellschaft, den Staat ursprünglich entstehen zu lassen aus dem freiwilligen Zusammentreten solcher gar nicht existierender Vereinzelter«.359 Vielmehr enthalte jede nur mögliche Ausprägung einer Stammesgemeinschaft das Staatliche bereits »keimartig« in sich: Die Existenz des Menschen in den Formationen der »›Horde‹« dürfe folglich nicht als ein dem Staat vorausgehender Zustand begriffen werden, vielmehr sei sie zu verstehen, so konstatiert Fichte mit Verweis auf Schleiermacher, als »unbewusster Staat«.360 Überdies bezieht sich Fichte in einer Textpassage, in der er Kant und den im 354 Aristoteles: Politik, a. a. O., 1253a25 ff. 355 W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags (Sonderausg.), Darmstadt 2005, S. 5. 356 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 155; vgl. Ethik 2/1, S. 17 f. 357 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 31; vgl. ebd., S. 33. 358 Vgl. W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a. a. O., S. 11 ff. 359 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 15. 360 Ebd., S. 10; vgl. F. D. E. Schleiermacher : Ethik 1812/13, in: Schleiermachers Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 334 f.
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Der Blick auf den Staat
Geiste Kants Argumentierenden vorhält, sich über die wahren Ziele des Staates geirrt zu haben, zur Stützung seiner Position explizit auf die »politische Weisheit des Aristoteles«. Dem aristotelischen Verständnis zufolge sei die gelungene menschliche Existenz, mithin »die ›Glückseligkeit‹ der Menschen«, das Ziel der »Staatskunst«; ginge es bei letzterer doch um das Leben von Bürgern, »welche sittlich gut sind und jedes Schöne und Edle fördern«.361 Zum Ausdruck kommt damit eine Kritik, die neben dem rechts- und staatsphilosophischen Ansatz Kants auch jenen des frühen Johann Gottlieb Fichte trifft: Hier werde dem Staat lediglich der Status einer »Rechts- und Nothanstalt« zuerkannt, der allein die Betätigungsfelder individueller »Willkür« abzustecken und deren Bestand zu schützen habe362. Doch gelte es darüber hinaus eine institutionelle Ordnung zu etablieren, die im Blick auf das Wohlergehen der Staatsangehörigen zum einen das Erlangen von Gütern für ein materiell gesichertes Auskommen und zum anderen die Grundlagen zur Verwirklichung eines sittlich guten Lebens garantiere363. »Ueberhaupt ist es eine der merkwürdigsten Anomalien, dass Kant und die ganze Kantische Schule nicht einzusehen und mit Entschiedenheit auszusprechen vermochte: dass, wie jedes Individuum, so auch jegliche Gemeinschaft, von der umfassendsten des Staates oder eines denkbaren Staatenbundes an, bis zur kleinsten, der Familie herab, nur vom Begriffe der Sittlichkeit aus, d. h. wie wir es ausdrücken, vom Standpunkte der Idee ›ergänzender Gemeinschaft‹, ihre volle Bedeutung und Wahrheit gewinnen könne, wie in ihnen allen das Rechts- oder Vertragsverhältniss zwar eine allumfassende, äusserlich schützende Schranke, dennoch eben darum nur ein untergeordnetes Mittel sei für jenen, den eigentlichen Zweck.«364
Der Schatten dieses Urteils fällt in gleichem Maße auf den politischen Liberalismus. Fänden sich schon Anklänge liberalistischer Grundideen gerade »in der Kantisch-Fichteschen Rechtsphilosophie«, seien diese in Deutschland »erst durch ihren Umweg über Frankreich« zur praktischen Umsetzung gebracht worden.365 »Im Staate ist für den Liberalismus ausschliessend die Freiheits- und Rechtsidee dargestellt, und diejenige Verfassung ist ihm die vollkommenste, welche durch Gesetzgebung der individuellen Freiheit den weitesten Spielraum lässt, für die Ausübung aber die besten ›Garantieen‹ bietet. So hat Benjamin Constant […] zur Vertheidigung oder 361 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 213 f. Zur Glückseligkeit als Ziel der »Staatskunst« bei Aristoteles vgl. J. Ritter : »Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks«, in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel (erweit. Neuausg.), Frankfurt a. M. 2003, S. 57 – 105, hier : S. 92 ff. 362 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 19; vgl. ebd., S. 90. 363 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 210 ff. 364 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 91. 365 Ebd., S. 712.
Fichtes Staatsvorstellung
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zur Befestigung der französischen Freiheit immer nur jene negativen, vorläufigen und verhütenden Pflichten des Staates hervorgehoben, nicht die wahrhaft aufbauenden und innerlich fortbildenden, humanen Aufgaben desselben: – und unter den zahlreichen Vertretern des Liberalismus in Deutschland wird es nicht schwer fallen, die mannigfaltigsten Belege für die gleiche Auffassung zu finden.«366
Ausdrücklich bezeichnet Fichte die rechtlichen »schützenden Schranken« der Freiheitssicherung an gleicher Stelle als »hochwichtige und unentbehrliche Güter«. Doch erhalte das gesellschaftliche Sein des Menschen »etwas Kaltes, Nüchternes, Gemüthloses«, werde es aus dem liberalistischen Blickwinkel negativer Freiheit allein im Lichte eines möglichst reibungsarmen Funktionierens betrachtet.367 Nun beruft sich Fichte zwar auf Aristoteles zur Bekräftigung der Ansicht, der zufolge es eben keineswegs genüge, mit der politischen Leitung des Gemeinwesens nur das mehr oder minder konfliktbeladene Miteinander der Menschen innerhalb eines rechtsbewehrten Rahmens so weit im Zaume zu halten, dass der Bestand des Ganzen nicht gefährdet wird. Hier gilt es freilich anzumerken, dass die von ihm als Aussage zum wahren Zweck des Staates herangezogene Anschauung des Aristoteles, man müsse »die politischen Gemeinschaften auf die edlen Handlungen hin einrichten und nicht bloß auf das Beisammenleben«368, allein die Polis im Blick hat. Demgegenüber bleibt bei Fichte – in dezidiert christlicher Perspektive – die Existenz auch des besten Staates dem höheren Zweck der Verwirklichung einer geeinten Menschheit untergeordnet. In diesem Sinne wird der Staat als »allgemeine Schutzwehr und Mittel« für die Umsetzung eben dieses Zieles begriffen.369 Zur Verdeutlichung dieser Fichte’schen Auffassung vom Wesen und Zweck des Staates sei abschließend eine oft zitierte Sequenz aus der Politik Friedrich Christoph Dahlmanns angeführt, jenes »einsamen Spätling[s]«370 des politischen Aristotelismus im 19. Jahrhundert, den Fichte in einer Besprechung eben jener Politik als einen der »ersten politischen Denker Deutschlands« würdigt und ihm »auf klaren politischen Ideen gegründete Ansichten über den Staat« bescheinigt371. »Der Staat ist […] keine Erfindung, weder der Not noch der Kunst, keine Aktiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervor366 367 368 369 370 371
Ebd., S. 712 f. Ebd., S. 713. Aristoteles: Politik, a. a. O., 1281a3. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 212. R. Bubner: Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 76. I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, in: ZPpK, Bd. 19 (1848), S. 212 – 237, hier : S. 228.
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Der Blick auf den Staat
springendes Vertragswerk, kein notwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit, er ist eine ursprüngliche Ordnung, ein notwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit und eines von den die Gattung zur Vollendung führenden Vermögen.«372
2.
Das Modell des ›organischen‹ Staates
Weist Dahlmann jenes Verständnis des Staates zurück, das die Eigenart desselben mit einer »Maschine« vergleicht, ist daran auch ein weiteres Charakteristikum der Staatsvorstellung Fichtes festzumachen. Die Thematik des Dahlmann’schen Gedankens erscheint an einer Stelle der Ethik, an der er einmal mehr gegen den »Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt« Stellung bezieht: Als »erleuchteter Policeistaat mit Centralisation und Bevormundung« leide dieser an dem »Gebrechen« eines »mechanisirten Regierens und Regiertwerdens«.373 Hier steht bei Fichte – wie auch bei Dahlmann – die Klage gegen eine Auffassung des Staates als starrer, ›lebloser‹ Mechanismus im Hintergrund. Schon der junge Hegel kennzeichnet diese Sichtweise in seiner Verfassungsschrift als das staatstheoretische »Grundvorurteil«, welches besage, »daß ein Staat eine Maschine« sei, bei der die allwaltende Regierungsmacht durch eine »einzige Feder« repräsentiert werde, »die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mitteilt«.374 Diesem ›mechanistischen‹ Verständnis gegenüber vertritt Fichte eine Position, die das Gemeinwesen, »einem lebendigen Individuum vergleichbar«, als »Staatsorganismus« versteht375. Er greift damit eine Vorstellung auf, die vor allem in den Kontroversen um die Durchsetzung konstitutioneller Verfassungen während der Zeit des Vormärzes und der Periode nach 1848 zu einem »Leitbegriff der staatstheoretischen und verfassungspolitischen Diskussion«376 avanciert. So ermöglicht die Rede vom Staatsorganismus, »die Staatsangehörigen als lebendige Teile eines Ganzen zu fassen, ausgestattet mit eigenem Bewußtsein und Willen, was dem Freiheitsbewußtsein der Zeit entgegenkommt, und zu372 F. C. Dahlmann: Die Politik (hrg. v. W. Bleek), Frankfurt a. M.; Leipzig 1997 (Erstausg.: Göttingen 1835), S. 11. Bezeichnend für Dahlmanns Stellung zur politischen Philosophie des Aristoteles ist hier der Beginn des § 220: »Nehmen wir alles zusammen: Aristoteles bietet uns einen urbaren Boden der Politik dar, den wir wohl fortbauen mögen, nur daß wir an die Stelle des harten Hellenentums die christliche Menschenliebe und Menschenachtung setzen.« Ebd., S. 149. 373 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 415. 374 G. W. F. Hegel: »Die Verfassung Deutschlands«, a. a. O., Bd. 1, S. 481. 375 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 217; vgl. ebd., S. 237 ff. 376 E.-W. Böckenförde: Art. ›Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper‹ VII – IX, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 561 – 622, hier: S. 587.
Fichtes Staatsvorstellung
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gleich an der Idee einer alle überragenden Einheit, die einen eigenen Zweck hat und sich überdies souverän selbst bestimmt, somit nicht der Willkür der Einzelnen ausgeliefert ist, festzuhalten«.377 Obschon der Vergleich von Organismus und Staat bereits bei Aristoteles zu finden ist378, gehen wesentliche Charakteristika des hier im Thema stehenden Verständnisses der Natur des Staatlichen auf Kant zurück379. Kant zufolge bringen die Teile eines Organismus – er spricht vom organisierten Wesen – »einander insgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes aus eigener Kausalität« hervor.380 In einer Anmerkung desselben Paragraphen thematisiert er auch die Möglichkeit, diese Auffassung des Organismus per Analogie für die Beschreibung des Aufbaus »des ganzen Staatskörpers« fruchtbar zu machen381. Kant meint freilich mit dieser Analogie nicht den »Staat schlechthin«, sondern einen Verfassungsstaat moderner Prägung, der die bürgerliche Rechtsgleichheit und bestimmte politische Freiheiten garantiert382. Auf dieser Basis bildet sich im 19. Jahrhundert eine Organismus-Vorstellung des Staates, die innerhalb der erwähnten staatstheoretischen und verfassungspolitischen Diskurse des Vor- und Nachmärzes zur »vorherrschende[n]«383 wird. Obschon den Bezug zur Naturwüchsigkeit des Organischen herausstellend, ist nach diesem Verständnis der Organismus vornehmlich durch die Eigentümlichkeit des Bewusst-Geistigen gekennzeichnet384. Das Staatsgefüge erscheint als
377 H. Boldt: »Hegel und die konstitutionelle Monarchie«, in: E. Weisser-Lohmann; D. Köhler (Hrg.): Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolutionen der Neuzeit, Hamburg 2000, S. 169 – 209, hier : S. 197 f. 378 Aristoteles: Politik, a. a. O., 1277a5. 379 Insbesondere in der Kritik der Urteilskraft entwickelt Kant seinen wirkmächtig gewordenen Begriff des Organischen. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., Bd. 10, S. 316 ff. (§ 64 ff.). – Erich Kaufmann zufolge kann dieser Begriff des Organischen aufgrund der spezifischen Deutung des Verhältnisses zwischen den Teilen und dem Ganzen als ein dem älteren Verständnis dieser Beziehung gegenüber »neue[r] Einheitsgedanke« aufgefasst werden. E. Kaufmann: Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1908, S. 6. 380 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 321 (§ 65). Hierbei werde »ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend« gedacht. Ebd. 381 Ebd., S. 323, Anm. (§ 65). »Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein.« Ebd. 382 E.-W. Böckenförde: Art. ›Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper‹, a. a. O., S. 581. 383 Ebd., S. 589. 384 Ebd., S. 590.
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Der Blick auf den Staat
»sittlich-geistige[r]«385 oder »ethischer«386 Organismus, der seine in sich selbst lebendigen und zugleich eigenständig und selbstbestimmt agierenden Glieder zu einer Ganzheit fasst. Friedrich Schmitthenners Aussage zufolge unterscheidet er sich somit »nicht bloß dem Grade, sondern der Art nach« dadurch von dem natürlichen Organismus, »daß er selbstbewußte, also freie Wesen in sich begreift«.387 Wie schon bei Kant zielt auch hier der Organismus-Vergleich nicht auf den Staat überhaupt; vielmehr impliziert die Analogie »bestimmte verfassungspolitische Grundforderungen, deren Realisierung den Organismuscharakter der staatlichen Ordnung allererst wirklich macht«.388 Der Staat wird im Sinne einer Gesamtheit selbstständiger Personen ausdrücklich als Gemeinwesen betrachtet: Die Rechtsbestimmungen und der institutionelle Bau des Ganzen sollen in einer Form zur Ausgestaltung kommen, in der sich die den Staat bildenden Menschen mit ihren Belangen wirklich berücksichtigt sehen. Zugleich haben alle Angehörigen des Staates ihre Pflichten diesem gegenüber zu erfüllen, so dass »Jeder von dem Ganzen das empfängt, was seines Amtes als Glied des Ganzen ist«.389 Abgelehnt wird eine die politische Führung leitende Perspektive, die dem Irrtum erliege, überlebte Zielsetzungen der Herrschergewalt, »seien sie absolutistischer oder patrimonaler Art«390, zu verfolgen. Neben die Deutung des Staates im Sinne eines ›sittlichen‹ oder ›ethischen‹ Organismus trat in den benannten vor- und nachmärzlichen Diskursen eine romantisch und naturtheoretisch bestimmte Auffassung vom ›organischen‹ Gepräge des staatlichen Ordnungsgefüges. Obgleich mit jener anderen Deutung sich teilweise »berührend und überschneidend«, stehen bei dieser Auffassung Vorstellungen über die »bergende[n] Einbindungen in vorgegebene Gemeinschaftsordnungen« und die »naturhafte oder geistbestimmte Selbstentfaltung« im Vordergrund391. Es wird angetreten gegen ein Freisetzen der Einzelnen aus 385 J. C. Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, München 1852, S. 24; vgl. zudem Bluntschlis Einsprache gegen das Verständnis des Staates als »Maschine«. Ebd., S. 22. 386 F. Schmitthenner: Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, Hamburg 1966 (Nachdr. d. Ausg. Gießen 1845), S. 198. 387 Ebd., S. 198 f. »Auf dem Fundamente der natürlichen Ordnung erheben sich die ethischen Institutionen als diejenigen Formen des Zusammenlebens vernünftiger Wesen, welche nicht bloß gewußt werden, sondern welche auch nur dadurch ihre Wirklichkeit und Geltung haben, daß sie gewußt werden, die also lediglich auf dem Boden des Bewußtseins stehen.« Ebd., S. 199. 388 E.-W. Böckenförde: »Der Staat als Organismus«, in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 21992, S. 263 – 272, hier : S. 263 f. 389 H. A. Zachariae: Deutsches Staats- und Bundesrecht, 1. Teil, Göttingen 21853, S. 37. 390 E.-W. Böckenförde: »Der Staat als Organismus«, a. a. O., S. 265. 391 E.-W. Böckenförde: Art. ›Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper‹, a. a. O., S. 602.
Fichtes Staatsvorstellung
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»statusmäßigen Bindungen«, die unterscheidende Sicht von Staat und Gesellschaft wie das »rationalistisch-zweckhafte Staatsverständnis«; gegen Positionen mithin, die »allesamt als mechanistisch erscheinen«.392 In Fichtes organizistischer Auslegung des Staatlichen finden sich nun Hinsichten beider hier gekennzeichneten Denkströmungen. Zumal er gerade die Gemeinschaften als selbstbestimmte Glieder innerhalb des ›organischen‹ Aufbaus des Staates begreift. So gelten etwa die Gemeinden und »alles damit Zusammenhängende« als »lebendige Theile im Staatsorganismus«, die, obzwar der gesamtstaatlichen Ordnungsstruktur unterliegend, zugleich eine politische Eigenständigkeit beanspruchen können.393 In Hinblick auf die faktischen Gegebenheiten im Europa seiner Zeit bescheinigt Fichte in diesem Zusammenhang nur wenigen Staaten Ansätze zur Verwirklichung des Modells einer ›organischen‹ Strukturierung. Das wird insbesondere festgemacht am Vorhandensein bürgerschaftlicher Selbstvertretungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten mittels der Bildung sozietärer Vereinigungen, »welche die Regierungsmacht ihrerseits als allgemeiner Organismus des Rechts- und Culturlebens umfasst und schützt«.394 Wenn seines Erachtens vereinzelt das richtige Prinzip in Bezug auf den inneren Aufbau des Staatswesens zur Anwendung gelangt, d. h. die Einzelnen als selbstständige Glieder des Ganzes wahrgenommen werden, die sich zusammenfinden können mit ihresgleichen zur Gründung von Vereinigungen, die gleichfalls selbstständige Glieder dieses Ganzen darstellen, darf doch keiner der existierenden Staaten nach Fichtes Verständnis die Qualifizierung zum »sittlichen Organismus« für sich in Anspruch nehmen. Vielmehr warnt er vor einem unkritischen und verfehlten Umgang mit dieser Kennzeichnung des Staates395 ; zumal der Ausdruck ein »Lieblingswort der 392 Ebd. 393 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 239 f. Vorbild für diese Sichtweise Fichtes mögen im Besonderen auch die Darlegungen Karl Christian Friedrich Krauses gewesen sein, der gleichfalls von dem Modell eines ›organischen‹ Staates ausgeht. So sei der Staat »selbst nur als eine Theilgesellschaft in dem Organismus der ganzen menschlichen Gesellschaft nach dem Urbegriffe derselben zu verfassen und einzurichten« (K. C. F. Krause: Vorlesungen über die Grundwahrheiten der Wissenschaft, Göttingen 1829, S. 551). Widmet sich Fichte im historischen Teil der Ethik Krauses Staatslehre insgesamt (Ethik 1, S. 233 ff.), stellt er im systematischen Teil explizit dessen Leistung in Bezug auf die richtige Bestimmung der »von untenher« sich bildenden Gemeinschaften wie »Vereine, Familie, Gemeinde, Volksverein, Wissenschafts- und Kunstgesellschaft usw.« in ihrem Verhältnis zum Ganzen des Staates heraus. Vgl. Ethik 2/2, S. 215. – Vgl. zudem die organische Staatslehre des Krause-Schülers Heinrich Ahrens, die Fichte als Beleg für »Thatsächliches« (Ethik 2/2, S. 239, Anm.) über bestimmte historische Formen der Stadt- und Gemeindeverfassung anführt. H. Ahrens: Die organische Staatslehre, Bd. 1, Wien 1850, S. 6; vgl. ebd., S. 116; S. 223 ff. 394 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 215. Belgien und England werden hier als Beispiele angeführt. 395 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 268.
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Zeit«396 geworden sei. Drohe einerseits die Gefahr, durch eine solche Charakterisierung vorhandener Staaten eine »Beschönigung despotischer Regungen zuzulassen«397, greife andererseits die Bedeutung, die Hegel und bestimmte die Hegel’schen Anschauungen aufnehmende Denker dieser Ansicht des Staates unterlegten, bereits auf der Ebene des daraus resultierenden Staatsbegriffes fehl. Repräsentiere in Hegels Perspektive die staatliche Ordnung in sich die objektive Sittlichkeit, so erschienen die »Staatsverrichtungen selbst«398 als der Inbegriff des Sittlichen. Dieses Verständnis hat nach Fichtes Auffassung einen »falschen Staatsabsolutismus« zur Folge, den zu bekämpfen er zu einem der hauptsächlichen Ziele seiner Ethik erklärt.399 »Sittlicher Organismus wird der Staat nur dadurch, wenn er die äussern und innern Bedingungen erfüllt, unter denen es jedem Einzelnen, seinem ›Genius‹ gemäss, möglich wird, sich zur Sittlichkeit zu erheben, jeder Gemeinschaft, ihrer eigenthümlichen Bedeutung gemäss, ihren sittlichen Zweck hervorzubringen. Kurz, der Staat ist Mittel, ist Organismus des Rechts und der Wohlfahrtsthätigkeit, um dadurch die selbstständige Sittlichkeit in Jedem möglich zu machen und zu erhalten. Desshalb ist er nach seinem bisherigen factischen Bestande, eben weil er diese Bedingungen noch nicht erfüllt, seinem grössten Theile nach keineswegs ›sittlicher‹ Organismus, kaum nothdürftiger Weise ein fehlerfreier Rechtsorganismus, – sondern er soll es erst werden.«400
Um allerdings die zur Verwirklichung dieser Zielsetzung notwendigen Änderungen der gegebenen politischen Zustände einzuleiten, müsse sich auf der Ebene der verantwortlichen Entscheidungsträger eine Haltung durchsetzen, die bürgerschaftlicher Eigeninitiative nicht vornehmlich mit Misstrauen und Ablehnung begegne, sondern die Artikulation der Anliegen mit förderlicher Aufmerksamkeit behandele. Zugleich müsse die Einsicht Fuß fassen, »nach welcher Seite hin der eigentliche Schwerpunkt«401 der Staatstätigkeit auszurichten sei: »[…] nicht dahin, die Staatsangehörigen bloss im Gehorchen zu üben, um die Willkür ihrer Subjectivität zu brechen; – dies ist das Antihumane des bisherigen Staats, 396 Ebd., S. 267. 397 Ebd., S. 268. 398 Ebd., S. 267. Der Ausdruck ›sittlicher Organismus‹ wird allerdings von Hegel zur Kennzeichnung des Staates nicht verwendet. Er nennt den Staat »die Wirklichkeit der sittlichen Idee«; dieser sei »der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substanzielle Wille« (G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., Bd. 7, S. 398 [§ 257]). Dabei ist ihm die »Idee des Staats« der »unmittelbar« wirkliche und »individuelle Staat als sich auf sich beziehender Organismus, Verfassung oder inneres Staatsrecht«. Ebd., S. 404 (§ 259). – Vgl. H. Schnädelbach: »Die Verfassung der Freiheit«, in: L. Siep (Hrg.): G. W. F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 22005, S. 243 – 266, hier : S. 246 ff., sowie M. Wolff: »Hegels staatstheoretischer Organizismus«, in: Hegel-Studien, Bd. 19 (1984), S. 147 – 177. 399 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 267. 400 Ebd. 401 Ebd.
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gleichsam das alte Testament der Staatsbegriffe gewesen, – sondern der Wohlfahrt eines Jeden zu dienen und ihn zum höhern Dasein der Sittlichkeit zu erziehen: – dies der Staat der neuen Zeit und der Zukunft, der erst in sehr vereinzelten Anfängen vor uns steht.«402
Wenn Fichte schreibt, der moderne Staat habe die Staatsangehörigen zu höheren Formen sittlicher Existenz zu »erziehen«, meint das gerade nicht das Bild des die ›Wohlfahrt‹ des Volkes verbürgenden spätabsolutistischen Fürstenstaates, »der im Sinne der Staatsraison die Glückseligkeit seiner Untertanen mit den Mitteln einer exakten Planung, Regulierung, Sanktionierung und Disziplinierung herzustellen versuchte«403. Sofern der Staat nach Fichtes Auskunft ein »›sittlicher‹ Organismus« in einem künftigen Reformierungsprozess ja »erst werden« könne, sei dies nicht dahingehend zu deuten, dass der Staat selbst, durch seine eigenen Aktivitäten, »Sittliches produciren könne oder solle«404. Der Staat bliebe stets nur das »Mittel«, um den Weg der sittlichen Selbstvervollkommnung als »eigenthümlichstes Werk und Sorge eines Jeden«405 zu ebnen. Umso mehr gibt Fichte seiner Hoffnung Ausdruck, der Erkenntnis Vorschub leisten zu können, dass nicht länger im obrigkeitlichen Dirigismus das Heil staatlicher Ordnung zu suchen sei. Zumal der Polizei- und Beamtenstaat alter Prägung sich infolge seiner zu »Ueberkünstelung« neigenden Regelungswut – die eben den Gesellschaftsmitgliedern keine Handbreit an politischer Verantwortlichkeit überlassen will – längst zum historischen Auslaufmodell degradiert habe.406
II.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
1.
Die soziale und ökonomische Destabilisierung der Gesellschaft und die Konsequenzen wirtschaftsliberaler Praxis
Bereits in der Spekulativen Theologie von 1846 bemängelt Fichte, dass unter den kulturellen Gegebenheiten seiner Epoche nur wenige Menschen in den Genuss von Bedingungen kämen, die ihnen einen Weg zu personaler Selbstentfaltung eröffneten. 402 Ebd., S. 267 f. 403 M. Fuhrmann; D. Klippel: »Der Staat und die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus«, in: H. Reinalter ; H. Klueting (Hrg.): Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien; Köln; Weimar 2002, S. 223 – 243, hier: S. 241. Vgl. dazu unten: Kap. III. 1. 404 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 268. 405 Ebd., S. 211. 406 I. H. Fichte: Ethik 1, S. XI.
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Der Blick auf den Staat
»[…] kaum in den ersten allgemeinsten Grundlagen hat die Religion und Cultur den Rechten des Geistes Anerkennung erstritten: in der ganzen Breite der gegenwärtigen Wirklichkeit wird nichts so unterdrückt, mißachtet, gemordet, als der Genius in seiner allgemeinen Bedeutung und Berechtigung.«407
Mehr als ein halbes Jahrzehnt später steht für ihn umso deutlicher fest: Soll ein Entwurf für die Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse die hinter jener Feststellung verborgenen Defizite ans Licht heben und Vorschläge für ihre Beseitigung unterbreiten, so muss die Problemsituation insgesamt in ihren unterschiedlichen Facetten zur Sprache gebracht werden. Entsprechend ist die Behinderung der Möglichkeiten, sich zu einem ›mündigen‹, selbstbestimmt agierenden Individuum zu entwickeln, nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, das allein in den überlebten polizeistaatlichen Einstellungen der Machthaber seinen Grund hat. Der Verkümmerung der geistig-sittlichen Ressourcen unzähliger Menschen entgegenzutreten heißt für Fichte, auch deutlich zu machen, dass die »Krankheitssymtome der Zeit« vorwiegend »socialer Natur« seien408. Seiner Sichtweise zufolge können Vorschläge für die Behebung dieser gesellschaftlichen Missstände nur dort adäquat aufgenommen werden, wo die im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung immer dringlicher werdende soziale Frage entschieden mehr Aufmerksamkeit erhält. Was somit Beachtung finden sollte, ist zum einen das Phänomen jener Not, die in Form existenzgefährdender Armut im Wesentlichen zurückging auf die sich insbesondere in den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts noch einmal verschärfende »Diskrepanz zwischen schnellem Bevölkerungswachstum und nicht rasch genug wachsender Wirtschaftkraft und Nahrungsgrundlage«.409 Eine Diskrepanz, die den »Kern des mitteleuropäischen Pauperismus mit seiner Zuspitzung im zweiten Jahrhundertviertel« darstellt, »die die unteren Schichten in Land und Stadt mit […] Hunger und Elend bedrohte, und die von Zeitgenossen wie von Historikern ausgiebig und kontrovers diskutiert worden ist«.410
407 I. H. Fichte: Spekulative Theologie, S. 673. 408 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Erster Artikel«, in: ZPpK, Bd. 21 (1852), S. 139 – 153, hier : S. 140. 409 J. Kocka: Das lange 19. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 74. 410 Ebd. – Der Begriff ›Pauperismus‹ wurde laut eines Lexikon-Artikels jener Zeit durch die damalige »neuere Staatsökonomie« geprägt. Dieser bezeichne »die Verarmung ganzer Klassen, im Gegensatz zur Einzel- oder Privatarmuth«. Wo dergleichen Zustände einträten, sei »eine ganze und sehr zahlreiche Klasse des Volks von Jugend auf, mit Ausnahme sehr weniger Individuen […], zu der Lage verdammt, v. der Hand in den Mund zu leben u. aller Aussicht auf eine wirksame Verbesserung ihres Schicksals entsagen zu müssen«. Art. ›Armenwesen‹ (o. Verf.), in: Meyer’s Conversations-Lexicon, Bd. 4, 1. Abth., Hildburghausen 1843, S. 318 – 356, hier : S. 319. – Zu den zahlreichen Kontroversen über die Ursa-
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Zum anderen bezieht sich jener unter dem Begriff der sozialen Frage zusammengefasste Problemkomplex auf die Lebensumstände der entstehenden Lohnarbeiterschaft. Wenngleich sich die Arbeitsbedingungen »in den einzelnen Branchen auch beträchtlich unterschieden«: Hier zeigten sich »Gemeinsamkeiten« wie die »Besitzlosigkeit der Arbeiter«, das »Gegenüber zum Unternehmer, die Zentralisierung der Arbeit an einer Betriebsstätte, das Eigentum an Produktionsmitteln in der Hand der Arbeitgeber, die Trennung von Familienund Arbeitssphäre«, die mit einer Gemengelage sozialer und ökonomischer Schwierigkeiten einhergingen.411 Eingedenk dieses Befundes gilt Fichtes Bemühen einem weitgehend einigen Bewusstsein über die Feststellung, dass die Daseinsverhältnisse jener von Mangel und Armut bedrohten Individuen eine »rechtswidrige Antastung des Lebens« darstellten412. Mit der immensen »Ueberspannung der Industrie« habe sich in den Fabriken eine spezifische Art Unterwerfung gebietender Zustände herausgebildet, die einer »modernen Sklaverei und Leibeigenschaft«413 gleichkomme. Aufgrund ihrer bedrückenden sozialen Lage seien die Lohnabhängigen alternativlos gezwungen, sich den Vorgaben der Fabrikbesitzer zu beugen414. Demgemäß gebe es für die Einzelnen keine Möglichkeiten, den bedrückenden Zustand aus eigenem Antrieb zu verändern. Denn als »bloss abhängiges Werkzeug in der Hand des Unternehmers« sei mit dem Lohnverhältnis auch die »ganze precäre Existenz« an diesen gebunden415. Zugleich spricht Fichte die Situation der selbstständigen Handwerker an, welchen ebenfalls die Verarmung drohe, da sie sich nicht in der Lage befänden, dem Wettbewerb mit der Industrie standzuhalten416. Bestehende Marktchancen nutzen zu können, darüber entscheide die Höhe des verfügbaren Kapitals; entsprechend hätten selbst die Befähigteren gegenüber den Begüterteren das Nachsehen417. Des Weiteren führten durch den Konkurrenzdruck erzwungene finanzspekulative Wagnisse wie das permanent gegebene Risiko eines extremen Preis-
411
412 413 414 415 416 417
chen des Pauperismus vgl. W. Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871, München 1995, S. 150 f. W. Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat, a. a. O., S. 189. Wenn gleichwohl in Sicht auf den »schrecklichen vormärzlichen Pauperismus […] die Industriearbeit immerhin doch die Not der 1840er und 1850er Jahre« milderte (ebd.), ist das eine Einsicht, die den zeitgenössischen Betrachtungsweisen nicht unbedingt zu Gebote stand. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 38. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd., S. 265. Ebd., S. 95. Ebd., S. 85. Im Bereich der Diagnose jener unter dem Titel der sozialen Frage zusammengefassten Probleme beruft sich Fichte u. a. auf das »[s]taatswissenschaft[liche]« Urteil Lorenz von Steins. Stein zeige, dass mit der Ausweitung der industriellen Produktion die Proletarisierung bestimmter Bevölkerungsschichten notwendig verbunden sei. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 776.
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Der Blick auf den Staat
verfalls der produzierten Waren auch in den materiell besser gestellten Klassen zur dauerhaften Bedrohung von Besitzständen.418 Mithin offenbare das System des freien Marktes einen inneren Widerspruch: Anstatt die intendierte Vermehrung der Vermögenswerte zu gewährleisten, zeitige es gerade eine gegenteilige Wirkung, aus der sich die »völlige Unsicherheit des Privat- und des Gesammtvermögens«419 ergebe. Insofern sieht Fichte nicht nur die individuellen Eigentumsrechte, sondern auch den »Nationalwohlstand«420 gefährdet. Überdies beklagt er eine »Gewissenlosigkeit« der industriellen Produzenten, da diese immer wieder versuchten, ihre vermeintlich preisgünstigen Massenprodukte in minderwertiger Qualität auf den Markt zu bringen421. Finde auf dem Feld des ungezügelten Strebens nach Profitmaximierung ein »Vertilgungskampf Aller gegen Alle« statt, werde dergestalt eine Dynamik entfacht, die den Bestand der Gesellschaft bis in ihre Grundfesten zu erschüttern drohe. Für Fichte eine umso bedenklichere Beobachtung, als man insbesondere die Vertiefung des Grabens zwischen Armen und Reichen »wie ein unvermeidliches Schicksal«422 hinnehme. Umso entschiedener wendet er sich gegen jene Stimmen, die den Staat im Sog wirtschaftsliberalistischer Ansichten vornehmlich als Garanten der Sicherung privaten Eigentums betrachten, ihm lediglich – laut Ferdinand Lassalles späterer Einlassung – die Funktion eines »Nachtwächters«423 zuerkennen wollen. Und somit verwirft er auch die Vorstellung, den Komplex der sozialen Probleme einer Lösung durch die Mechanismen des sich selbst regulierenden Marktes anheimzustellen. »Diese Schwachköpfe und Engherzen leben noch immer in der Einbildung, dass mit jener niedrigen und an sich schon verwerflichen Ansicht vom Staate, er sei eigentlich nur die schützende Rechts- und Polizeianstalt für die Eigenthümer, welche man nicht beschränken dürfe in der unbedingtesten Benutzung und Vermehrung ihres Reichthums – sollten auch die schnödesten Unbilligkeiten daraus hervorgehen, – dass mit jenen verrotteten Maximen der Staat und das Gemeinwesen noch fortbestehen könne.«424 418 419 420 421 422 423
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 81. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd., S. 85. Ebd. F. Lassalle: »Das Arbeiterprogramm. Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« (1862), in: Gesammelte Reden und Schriften (hrg. v. E. Bernstein), Bd. 2, Berlin 1919, S. 147 – 202, hier: S. 195. 424 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 778. – Uns Heutigen, die wir im Zeichen global bedeutsamer ›Bankenkrisen‹ eine zunehmende Verselbstständigung hochspekulativer Finanzgeschäfte gegenüber den realwirtschaftlichen Gegebenheiten beobachten können, mag in diesem
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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Fichte setzt hier die Vorstellung eines Staates entgegen, in dem ein Katalog unterschiedlicher, weil auf bestimmte Bereiche wie das Recht, die Wirtschaft oder das Schul- und Bildungssystem ausgerichteter Reformen mit dem erfahrungsgemäß gebotenen langen Atem zur politischen Umsetzung gebracht werden müssten425. Damit wird das Bild eines »socialen […] Staates«426 entworfen, der sich als Mittel zum Zweck allgemeiner »Wohlfahrt«427 versteht: Der erstens auf dem Fundament eines Kanons von unveräußerlichen »Urrechten« ruht, welche immer deutlicher Niederschlag in der faktischen Gesetzgebung finden sollen. Der zweitens den Angehörigen des Gemeinwesens die Möglichkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes aus eigener Erwerbstätigkeit jenseits der Bedrohung durch soziale Verelendung gewährleistet. Der drittens durch kontrollund ordnungspolitische Eingriffe der dissoziierenden Macht einer zunehmend unbeschränkteren ›Ökonomisierung‹ der Gesellschaft entgegentritt. Und der viertens jedem Gesellschaftsmitglied die Chance zur Aneignung grundlegender Bildung eröffnet. Kommt es dabei nach Fichtes Ansicht auf die möglichst umfassende und Zusammenhang eine kritische Stellungnahme Fichtes durchaus nicht unvertraut klingen, die er bezieht auf das – nach seinem Dafürhalten eindeutig liberalistisch inspirierte – Vordringen bestimmter Praktiken in mittelständischen Milieus. Müssten Letztere gerade als Horte »der politischen Einsicht, der sittlichen Bildung« angesehen werden, seien hier nunmehr Tendenzen auszumachen, »wo statt des dauerhaften Besitzes die Geldmacht, statt des producirenden Erwerbes der Papierhandel und ähnliche Speculationen« Raum griffen. Ebd., S. 744 f. 425 Ebd., S. 796. 426 Ebd., S. 815. – Ob Fichte wohl »den Begriff des ›sozialen Staates‹ im deutschen Sprachraum geprägt« hat, wie Ludger Oeing-Hanhoff nahelegt (»Licht der Philosophie im Schatten Hegels«, a. a. O., S. 157), mag dahingestellt bleiben. So sprach Lorenz von Stein – darauf wird in der einschlägigen Literatur des Öfteren verwiesen – »bereits 1850 […] von der ›socialen Demokratie‹« (G. A. Ritter : »Zur Geschichte der sozialen Ideen im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: Handbuch Sozialpolitik [hrg. v. B. v. Maydell; W. Kannengießer], Pfullingen 1988, S. 12 – 63, hier : S. 25), doch erst »1876 vom ›gesellschaftlichen oder dem socialen Staate‹«. Ebd. – Was dabei die inhaltliche Seite angeht – hier begegnet uns gleichfalls der Hinweis, Lorenz von Stein werde »für den ersten Entwurf eines daseinssichernden ›socialen Staats‹ in Erinnerung behalten« (S. Koslowski: Die Geburt des Sozialstaats aus dem Geist des Deutschen Idealismus, a. a. O., S. 1) – finden sich bei Fichte eindeutig solche Komponenten, die auch heute für das Verständnis des Sozialstaates prägend sind: Neben der »Ausstattung des einzelnen mit Schutz- und Mitwirkungsrechten« vor allem das »Engagement des Staates in den Bereichen Gesundheit, Einkommenssicherung, Wohnen und Bildung«. H. Braun: »Der Sozialstaat: Ausmaß und Probleme«, in: A. Bellebaum; H. Braun; E. Groß (Hrg.): Staat und Glück, Opladen; Wiesbaden 1998, S. 109 – 133, hier : S. 111. 427 Da Fichte den wohlfahrtsorientierten »socialen« Staat in ausdrücklicher Distanznahme zum spätabsolutistischen Obrigkeitsstaat mit seiner paternalistischen ›Wohlfahrtspflege‹ denkt, richtet sich die vorliegende Studie an der Vorgehensweise der vergleichenden Sozialpolitikforschung unserer Tage aus, in der »die Begriffe ›Wohlfahrtsstaat‹ und ›Sozialstaat‹ weitgehend synonym verwandt werden«. H. Braun: »Der Sozialstaat: Ausmaß und Probleme«, a. a. O., S. 110.
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Der Blick auf den Staat
möglichst kritische Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Problemlagen durch die Verantwortlichen des Staates an, bedürfe es zugleich der Geschlossenheit einer »starken, unerschütterten, ihren Plänen Dauer verbürgenden Regierungsmacht«.428 So warnt er davor, bestimmte Reformideen durch die Instrumentalisierung für politische Richtungskämpfe oder die Einbindung in parteipolitische Auseinandersetzungen ihrer Gestaltungskraft im gesellschaftlichen Veränderungsprozess zu berauben429. Die Dringlichkeit der Aufgaben habe hier im Vordergrund zu stehen. Mit lenkenden und lindernden Maßnahmen soll der Staat als Führungsinstanz den ökonomischen und sozialen Fehlentwicklungen entgegensteuern und sie auszugleichen suchen: »Die ganze Zukunft der Welt«, so konstatiert Fichte eben dieser Perspektive folgend, »liegt […] in der socialen Frage, nicht in der politischen«.430
2.
Die Sicherung fundamentaler Rechte
A.
Die Eigenart der »Urrechte«: Eine problematische Wesensbestimmung
Bei der Thematisierung fundamentaler Rechte, die er als »Urrechte der Persönlichkeit«431 bezeichnet, hat Fichte grundsätzlich das unversehrte und selbstbestimmte Leben- und Wirken-Können des Individuums in Anerkennung seiner Würde als sittliche Person im Blick. Betreffe das »Recht der Persönlichkeit auf Existenz in der Sinnenwelt« sowohl die »Unantastbarkeit des Leibes« als auch den Anspruch auf »Lebensunterhalt«, schließe das Recht der Person auf »freie 428 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 796. Für Fichte erscheint eine dergestalt charakterisierte, bestimmte Reformpläne wirklich in Angriff nehmende Regierungsmacht am besten durch ein monarchisches System gewährleistet. – Ganz ähnlich sieht Lorenz von Stein im »Königtum« gerade die Vertretung des ›selbstständigen Staates‹, der, weil »über allen gesellschaftlichen Interessen stehend, keine andere Aufgabe seinem Wesen nach hat, als eben die Entwicklung aller Elemente der Volkswohlfahrt« (L. v. Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, a. a. O., S. 38). Da Fichte zwar ¢ wie bereits erwähnt ¢ Steins in der Geschichte der sozialen Bewegung vorgelegten Analysen als verdienstvolle Blickerweiterung im Rahmen der »neuere[n] Staatswissenschaft« lobt (I. H. Fichte: Ethik 1, S. 776), die Stein’sche Theorie eines »Königtum[s] der gesellschaftlichen Reform« (L. v. Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, a. a. O., S. 40) jedoch mit keinem Wort erwähnt, wird in dieser Untersuchung auf eine nähere Betrachtung der letzteren verzichtet. 429 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. XI. 430 Ebd., S. XII. 431 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 32. – Jochen Gaile zufolge stellt der Begriff des »Urrechts« eine von »Kants Königsberger Amtskollege[n] Theodor Schmalz« geschaffene Neubildung dar, die »vielleicht nur darum in die allgemeine Rechtsphilosophie eingegangen ist, weil (Johann Gottlieb, W. S.) Fichte den Neologismus von Schmalz übernommen und zur allgemeinen Kategorie erhoben hatte«. J. Gaile: Menschenrecht und bürgerliche Freiheit, Marburg 1978, S. 79 f.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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Entwicklung in der Gemeinschaft« den Schutz für die »persönliche«, die »staatliche« und die »ethische« Freiheit ein. Ferner sei mit dem Recht auf »Ehre« die »untheilbare Gesammtheit« des Wertes und damit die »›Würde‹« der Persönlichkeit ins Auge gefasst.432 Wird diese bei der Erwähnung des Rechts auf personale Entfaltung ausdrücklich in den Kontext der Gemeinschaftsbeziehungen eingebettet, zielt gerade die Feststellung eines rechtlichen Anspruchs auf Sicherung des Lebensunterhaltes in Richtung der sozialen Frage. Fichtes Ansatz ist allerdings insofern nicht unproblematisch, als er zwar von »ewig« gültigen Rechten spricht, denen der Charakter der Unveräußerlichkeit zukomme433, er jedoch mit Nähe zur Position Hegels434 die Existenz außerstaatlicher Rechte verneint. »[W]irkliche oder bestimmte Rechte« könnten stets nur »innerhalb eines Gemeinwesens (Staates) entstehen«.435 Was man »Naturrecht« heiße, beruhe wie die Rede von den Menschenrechten allermeist auf jenem »falschen und mangelhaften« Bild des Menschen als eines abstrakten 432 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 35 f. – Soll für Kant der Schutzbereich des angeborenen Rechts die Sicherung gegen die »Verletzung des Körpers«, der »Causalität« und der »Ehre« beinhalten (I. Kant: Vorlesungen über Moralphilosophie, in: Kant’s gesammelte Schriften [hrg. v. d. Akad. d. Wiss. d. DDR], Bd. 27. 2,1, Berlin 1975, S. 595), verdankt sich die Ähnlichkeit allerdings kaum der direkten Bezugnahme Fichtes auf Kant, sondern einem wohl gerade auch an Kant orientierten common sense innerhalb der damaligen rechtsphilosophischen Diskussion. So spricht Carl von Rottecks und Carl Welckers Staats-Lexikon in der ersten Hälfte der 1840er Jahre davon, dass zu den »ursprünglichen oder angeborenen Rechten«, welche man auch »Urrechte, absolute oder allgemeine Menschenrechte« nenne, »ziemlich übereinstimmend gezählt« werde: »1. Das Recht, als rechtsfähiges Wesen, als Person und Selbstzweck oder Rechtssubject anerkannt zu werden, woraus auch das Recht auf Ehre abgeleitet wird; 2. das Recht auf Leib und Leben, auf die Erhaltung seines Daseins und die Unverletztheit der einzelnen Glieder und Organe seines Körpers; 3. das Recht auf ungehinderten Gebrauch der geistigen und körperlichen Kräfte – Recht der natürlichen Freiheit.« P. A. Pfizer : Art. ›Urrechte oder unveräußerliche Rechte‹, in: StaatsLexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften (hrg. v. C. v. Rotteck, C. Welcker), Bd. 15, Altona 1843, S. 610 – 635, hier : S. 610. 433 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 30. 434 Hegel verwirft entschieden das Vorhandensein überpositiver oder vorstaatlicher Rechte. Liege hier die Vorstellung zugrunde, es gebe einen »Naturzustand«, in dem »der Mensch als in dem Besitze seiner natürlichen Rechte« lebe, so sei diese Annahme nur »eines von solchen nebulosen Gebilden«, die sich rein theoretischen, bar jeder historischen Rechtfertigung zustande gekommenen Entwürfen verdankten. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., Bd. 12, S. 58. – Vgl. G. Lübbe-Wolff: »Über das Fehlen von Grundrechten in Hegels Rechtsphilosophie«, in: H.-C. Lucas; O. Pöggeler (Hrg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstadt 1986, S. 421 – 446, hier: 425 f. 435 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 48. »Nur innerhalb einer allgemeinen, über alle Einzelnen waltenden Rechtsgenossenschaft, und durch den allordnenden Rechtswillen derselben, können die Rechtsbefugnisse und die Rechtspflichten der Einzelnen wie der Gemeinschaften gegenseitig geordnet, genau bestimmt und äusserlich gesichert werden. Alles Recht existirt nur im Staate und durch Anerkennung des Staats.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 24.
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»Einzelsubjekt[es]«436, dessen sich insbesondere die Vertreter vertragstheoretischer Entwürfe bedienten. In verkürzender Sicht werde damit »nur die sinnlich geistige Unmittelbarkeit des Ich in seinem allgemeinen, unbezogenen Zustande« herausgestellt. Könnten jedoch die einzelnen Menschen letztlich »nur als integrirender Theil, sei es des Menschengeschlechts, sei es der Menschheit, vollständig gedacht werden«, gebe es »in diesem strengern Sinne […] keine Menschenrechte«.437 Auch hier stellt sich Fichte gegen die Perspektive einer vor allem seit Thomas Hobbes »individualistisch« gewordenen politischen Philosophie438, die die Vorstellung des nur im Einbezogensein in soziale Zusammenhänge sein Wesen verwirklichenden Menschen aufgegeben habe. Statt dessen werde die Fahne souveräner, ungebundener Individuen gehisst, denen als Einzelnen gewisse unverlierbare Rechte zukämen. Mit Verweis auf seinen Vater, der von Urrechten als einer »Fiction« gesprochen hatte, welche allerdings »zum Behuf der Wissenschaft« notwendig gebraucht werde439, hält Fichte der Vorstellung angeborener und demgemäß schon immer in Geltung stehender Rechte die These entgegen, dass dem Menschen ›von Natur‹ »keine wirklichen Rechte« zukommen, sondern »nur eine abstrakte (gleichsam latente) Fähigkeit, Rechte zu erwerben und Rechtspflichten zu übernehmen«.440 Zurückzuführen auf die die Menschen im »ewigen Grunde aller Dinge« verbindende »geheimnissvolle Einheit«441, welche jedes Individuum zum Mitglied der Menschheit und als solches auch »zum gemeinschaftstiftenden und darum rechtsfähigen Wesen macht«, bezeichnet Fichte diese Rechtsfähigkeit zugleich als das Urrecht bzw. die Urrechte des Menschen442. Freilich seien dieselben nicht im Sinne realen, ›einklagbaren‹ Rechts, sondern als »heuristische Principien«443, d. h. im Sinne eines Erkenntnis- und Handlungsmaßstabes anzusehen. Dem gedanklichen Kern dieser Verbindung, welche die konstatierte Rechtsfähigkeit der Menschen auch als ihr Urrecht verstanden wissen will, kommt man anhand der Feststellung auf die Spur, dass der Genius, die individuelle Gestalt 436 437 438 439 440 441 442 443
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 15. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 48. Vgl. W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a. a. O., S. 11. J. G. Fichte: »Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre«, in: J. G. Fichte’s sämmtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 112. Vgl. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 47. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 24; vgl. Ethik 1, S. 64. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 21. Ebd., S. 48. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 33. »[Sie] sind […] weniger als besondere Rechte, denn als allgemeine Rechtsmaximen und leitende Gesichtspunkte zu fassen, welche im Geiste der gesammten Gesetzgebung wie in den einzelnen Rechten ihre Geltung und ihren besondern Ausdruck erhalten sollen, und in dieser Beziehung ist die Lehre von grosser normativer Bedeutung, sofern jene Grundsätze als heuristische Principien betrachtet werden, nach denen allmählig die Gesetze der Gesellschaft einzurichten sind.« Ebd.
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des »göttlichen Geistwesens« jedes Menschen, der »wechselseitigen Ergänzung fähig wie bedürftig«444 sei. Sollen sich bei allen Menschen die dem jeweiligen Genius zugehörigen Anlagen innerhalb des sozialen Miteinander möglichst umfassend ausbilden, um hier wiederum zu sittlich relevanter Wirksamkeit gelangen zu können, ist nach Fichtes Dafürhalten durch den göttlichen Schöpfungswillen der Anspruch auf die Verwirklichung der individuellen Anlagen je schon mitgesetzt.445 Gerade dieser Anspruch findet in den Urrechten seinen Ausdruck. Letztlich stellen sie eine Ausfaltung jener bei der Skizzierung der Rechtsidee bereits zur Sprache gekommenen »innere[n] Gerechtigkeit«446 dar, welche die Grundvoraussetzungen vergegenwärtige, die den Einzelnen bei der Entwicklung ihrer »innern Freiheit oder Vollkommenheit unerlasslich« seien und »daher als die gemeinsame Norm durch alle, auch die höchsten ethischen Güter« hindurchreiche.447 Repräsentieren die Urrechte demnach das eine »ureigne, gottverliehene Recht«448 des Individuums, sich in den Kreisen der Mitwelt zu einer selbstbestimmten, in ihrem Dasein Erfüllung findenden Person zu entwickeln, hält es Fichte für evident, »dass nur in abgeleitetem oder uneigentlichem Sinne von ›Urrechten‹ in der Mehrheit die Rede sein könne. Was so genannt wird, sind nur die im Begriffe der Persönlichkeit liegenden Bedingungen ihrer vollständigen Existenz in der Gemeinschaft: das also, was allen ihren besondern und wirklichen Rechten vorausgeht und was der Staat, als Repräsentant des Rechtswillens der Gemeinschaft, Jedem schlechthin gewährleisten muss, welchen er vorfindet oder aufnimmt in jene Gemeinschaft.«449
Ist diese Argumentation schlüssig? Zwar kann man Fichte kaum den Sprung von der Ebene des Seins zu der des Sollens vorwerfen, wenn er zum einen von dem Vermögen des Menschen spricht, sich in rechtsförmigen, ein »wechselbedingendes Freiheitsverhältniss«450 ermöglichenden Ordnungen zusammenzufinden, und damit zum anderen das Werden der Persönlichkeit betreffende ›urrechtliche‹ Voraussetzungen kennzeichnet, welche als normative Vorgaben für die staatliche Rechtssetzung firmieren. Gründet das Sein hier ja selbst bereits im göttlichen Wollen. So ist in der Rechtsidee als der Basis des menschlichen Rechtsbewusstseins sowie als Agens der Fortentwicklung desselben auch bereits das Ziel des historischen Rechtsbildungsprozesses gefasst. Zudem eigne allen Menschen qua göttlicher Bestimmung ein ursprüngliches Anrecht auf die Ver444 445 446 447 448 449 450
I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 24. Ebd., S. 37. Vgl. oben: Teil 1, Kap. VI. 1. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 17. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 37. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 32 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 48.
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wirklichung dieses Zieles451. Welches nämlich die Sicherung von Bedingungen betreffe, die die selbstschöpferische Freiheit eines jeden Individuums zur Geltung kommen lassen, somit ein Leben ermöglichten, das die »freie Entwicklung seines Genius in der Gemeinschaft«452 gestatte. Problematisch bleiben dabei freilich Fichtes unterschiedliche Äußerungen zur normativen Dignität der Urrechte: Treten diese eben einerseits als »heuristische Principien« oder »leitende Gesichtpunkte«, also Orientierung gebende Richtungsmarken auf, wird ihnen damit kein Verpflichtungscharakter unterlegt453. Andererseits jedoch als die für eine wahrhaft menschliche Existenz notwendigen Voraussetzungen qualifiziert, die der Staat »Jedem schlechthin gewährleisten muss«, behaupten sie für sich einen höchsten Grad sittlich-normierender Geltungskraft. Stehen diese Aussagen letztlich unvermittelt nebeneinander, bleibt folglich eine Unklarheit auf der Begründungsebene zurück, die auch durch Fichtes Warnung nicht beseitigt wird, die Tatsache der nur schrittweisen Entwicklung des menschlichen Rechtsbewusstseins keinesfalls außer Acht zu lassen. Hier nämlich geht es um die Ebene realer Rechtssetzung: Wenngleich ein Rechtsanspruch wie der des Rechtes auf Arbeit innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion sichtlich an Zustimmung gewinne, erlaubten die politischen Gegebenheiten noch keineswegs dessen faktische Anerkennung.454 Es sei verfehlt, in einer Verfassung »allgemeine Normen, die erst in unbestimmter Zukunft Wirklichkeit erhalten, als geltendes Grundgesetz« festzuschreiben. Mithin betreffe dies auch den von der Frankfurter Nationalversammlung im Dezember 1848 verkündeten und in ergänzter Form der Reichsverfassung vom März 1849 eingegliederten Grundrechte-Katalog.455 451 Hier ist das Urteil von Kurt Käss, Fichte vertrete »ein Naturrecht in dem Sinne«, dass er »die Rechtsidee [als] dem positiven Recht transzendent« ansehe, durchaus missverständlich (K. Käss: Immanuel Hermann Fichtes Kritik der theologischen Richtung der Staatslehre und der historischen Rechtsschule, Tübingen 1956, S. 8). Nach Fichtes Ansicht gehört die Idee des Rechts ja keinem Bereich jenseits unser Erfahrungswelt an. Sie stelle vielmehr einen »Ausdruck der allgemeinen Geistigkeit und Freiheit des Menschen« dar und bleibe »somit unabtrennlich […] von seinem Bewusstsein«. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 42. 452 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 37. 453 In einem anderen thematischen Zusammenhang bezeichnet Fichte »heuristische Principien« als »allgemein leitende Ideen«, welche »das in der Ferne liegende rechte Ziel, was praktisch auf sehr verschiedenem Wege erreicht werden kann, zum ersten Mal von einer neuen Seite […] uns vor Augen rücken«. Ethik 1, S. 753. 454 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 33. ¢ Inwieweit die Auseinandersetzung um ein Recht auf Arbeit bereits auch die Sphären von Politik und Gesellschaft erreicht hatte, zeigt Peter Krause in seinem Aufsatz: »Die Entwicklung der sozialen Grundrechte«, in: G. Birtsch (Hrg.): Grundund Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 402 – 431, hier : S. 421 ff. 455 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 33 f.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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»Dies ist täuschend und in Versuchung führend; denn es erregt Hoffnungen, deren Erfüllung man nicht sicher ist, während die Nichterfüllung Verdacht und Unwillen erregen muss.«456
Der Staat solle, fügt Fichte hinzu, »den wirklichen und möglichen Zustand gesetzlich fixiren, nicht aber noch zu lösende Probleme als schon gelöst und fertig hinstellen«457. Jedoch richteten sich die Intentionen der damaligen Befürworter eines Grundrechte-Katalogs – bei zu unterstellendem Problembewusstsein – wohl auf die gesetzliche Festschreibung eines möglichen Zustandes; gedacht nämlich als förderndes Moment seiner Verwirklichung. Liegt im Folgenden das Augenmerk auf Fichtes inhaltlichen Ausführungen zu den von ihm konstatierten Urrechten, wird dem thematischen Bezug des Hauptkapitels der vorliegenden Untersuchung gemäß insbesondere deren soziale Dimension in den Blick gerückt. Dabei hält sich die Betrachtung bewusst nicht an die Abfolge der Fichte’schen Darstellung innerhalb seiner Ethik, um den Beitrag, den die Verwirklichung der urrechtlichen ›Leitlinien‹ für den Umbau der sozialen wie politischen Strukturen des Staates leisten soll, deutlicher fassbar zu machen. B.
Die Grundsicherung der freien Existenz
Soll die Person als »absolute und letzte Ursache« über den eigenen Leib verfügen können, müssten die Einzelnen im Sinne des Urrechts auf »Unantastbarkeit des Leibes und Lebens« vor jeglicher Art der Gewaltanwendung und Freiheitsberaubung geschützt werden, »so lange die Person nicht selber die Freiheit und den ›Frieden‹ der Andern stört«.458 Offensichtlich hat Fichte dabei nicht nur die rechtliche Sicherung des Individuums vor Übergriffen durch andere Privatpersonen im Blick, sondern bezieht sich gleichermaßen auf die Eingrenzung der Befugnisse staatlicher Organe im Umgang mit den Staatsangehörigen. Dies ist zwar nicht dem unmittelbaren thematischen Zusammenhang zu entnehmen, erhellt jedoch aus seiner Beschreibung der Rolle des Staates angesichts der näheren Bestimmung des Urrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Der Staat wird hier einmal mehr als das »Mittel« bezeichnet, das für die »vollständige Verwirklichung der persönlichen Freiheit« eines jeden Mitglieds des Gemein456 Ebd., S. 33. 457 Ebd., S. 33 f. So skeptisch Fichte demgemäß auch die Erklärung der Menschenrechte von 1789 beurteilt, will er gleichwohl deren Inhalt und die Zielsetzung gewürdigt wissen: »Es war die erste und letzte eigentlich philosophische oder humane That jener Revolution, zugleich auch das einzig Unsterbliche und Dauernde, was sie hervorgebracht und was früher oder später in allen Theilen der Erde einmal zu unverkürzter Verwirklichung kommen muss.« Ethik 1, S. 689. 458 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 37.
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wesens Sorge zu tragen habe. Entsprechend sei der Staat in seinen »Rechten und Pflichten gegen das Individuum« auf Handlungsbedingungen festgelegt, die gerade diesem seinen Status als Garanten der Sicherung des persönlichen Freiraums der Einzelnen entspringen.459 Gelte beispielsweise für alle das Recht des »›Hausfriedens‹«, d. h. der Schutz der »Unantastbarkeit im eigenen Hause« gleichwie das Recht, »nicht verhaftet werden zu dürfen ohne Voruntersuchung und Verhaftsbefehl«460, macht Fichte deutlich, dass auch die Gewaltanwendung durch den Staat nur auf der Basis allgemein gültiger Rechtsprinzipien erfolgen darf. Die sozialen Problemlagen der Zeit finden hier insofern Berücksichtigung, als das Urrecht auf leibliche Unversehrtheit auch die »gesunde leibliche Entwicklung« sichern soll. So sei die merklich größer werdende Kluft zwischen Armen und Reichen allein schon darum ein Skandal, weil sie »die grösste Zahl der Menschen von ihrer leiblichen Seite herabwürdigt, und nicht einmal diese zu ihrem Rechte kommen lässt: – was auch von sittlich tiefgreifendern Folgen ist, als man nach der gewöhnlichen oberflächlichen Ansicht dieser Dinge sich bekennen will«.461
Die sittlich relevanten Folgen einer zunehmenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung erhalten gleichermaßen Aufmerksamkeit, wo Fichte das Recht jedes Arbeitsfähigen, durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als die »positive« Bedingung des Existenzrechtes der Person zur Sprache bringt. Diese Bedingung könne nur erfüllt werden, wenn den Einzelnen mit der zur Beschaffung der materiellen Lebensgrundlagen notwendigen Tätigkeit nicht jeglicher Raum für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit genommen werde. So stelle sich ein »Leben, wo nur durch ununterbrochene, rastlose Arbeit der Unterhalt erstritten werden kann«, als ein jeden »inneren Zweckes baarer, darum durchaus rechtloser Zustand«462 dar. Besteht der innere Zweck des Daseins laut Fichte ja gerade darin, der Eigentümlichkeit des Genius entsprechend seine Fähigkeiten zu vervollkommnen, kennzeichne der Zwang zu rastloser Arbeit auch in sittlicher Hinsicht eine gänzlich unzulängliche Situation. Die angestrebte Gewährleistung des Lebensunterhaltes erscheint folglich als Recht »auf Subsistenz und auf Musse«463 : Den arbeitenden Menschen soll mit garantierten Phasen der Muße frei verfügbare Zeit zur Regeneration und zur Nutzung für die »geistig-sittliche Fortbildung«464 zugesichert werden. Solche 459 460 461 462 463 464
Ebd., S. 49. Ebd., S. 46. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Ebd., S. 35. Ebd., S. 40.
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Zeitspannen, die eine persönlichkeitsfördernde Weiterbildung ermöglichen, hält Fichte auch insofern für bedeutsam, als er neben den überlangen Arbeitszeiten ja gerade das Problem beklagt, dass viele der vor allem dem industriellen Bereich zugehörenden Tätigkeiten durch Einfachheit und Monotonie bar jeden geistigen Anspruches gekennzeichnet sind. In keiner Weise können diese leisten, was nach seinem Verständnis zur Eigenart einer bewusst gewählten, den Anlagen des Individuums entsprechenden Berufsarbeit gehört: den Prozess personaler Vervollkommnung wesentlich mitzutragen. C.
Die Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes
Fichtes Ansicht zufolge zeichnet sich ein moderner Staat nicht zuletzt dadurch aus, dass er politische und soziale Gegebenheiten zu beseitigen suche, die offensichtlich der Verwirklichung selbstbestimmter Lebensführung einzelner Individuen oder ganzer Bevölkerungsgruppen im Wege stehen. Die Realisierung dieser Vorgabe könne freilich nur dann erfolgreich sein, wenn die Durchsetzung fundamentaler Rechtsgarantien nach Maßgabe des Gleichheitsgrundsatzes stattfinde. »Vor Allem gehört hierher der gleiche Rechtsschutz, überhaupt die völlige Gleichheit vor dem Gesetz, mithin das Aufhören aller Privilegien und Standesvorrechte (Patrimonialgerichtsbarkeit, Steuerfreiheit und dergleichen), aller Ausnahmsgesetze und Ausnahmsgerichte für individuelle Fälle, ebenso aller Vorrechte oder Rechtsentziehungen, welche aus dem religiösen Bekenntniss hervorgehen.«465
Auch in diesem Zusammenhang bezieht sich Fichte auf die Härten und Unzulänglichkeiten des sozialen Alltags. Mit der Forderung nach gleichem Rechtsschutz sieht er den Staat in die Pflicht genommen, für die Angehörigen des Gemeinwesens einen Anspruch auf Unterstützung zu sichern, sofern sich die »Selbsthülfe« als unzureichend erweise.466 Leider lässt der Text hier konkretere Ausführungen vermissen; allein die Situation der im Alter aus dem Arbeitsleben Ausscheidenden wird kurz behandelt. Für den alten Menschen müsse von Rechts wegen »Ruhe, Schutz und sorgenfreie Existenz«467 gewährleistet sein. Nicht das von einigen Kritikern ob seiner »ungleichmachenden Bevorzugung« abgelehnte Pensionsrecht der in Ruhestand tretenden Staatsbeamten sei zu bekämpfen; vielmehr gehe es um eine allgemeine rechtliche Gleichstellung, die künftig allen Arbeitenden »durch den socialen Geist« des je eigenen Standes eine hinreichende materielle Alterssicherung in Aussicht zu stellen habe468. 465 466 467 468
Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 52.
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Der Blick auf den Staat
Als ein ebenso wesentliches Moment im Prozess der Realisierung staatsbürgerlicher Gleichheit erachtet Fichte die Gewährleistung gleicher Bildungschancen für jedes Gesellschaftsmitglied. Eine Aufhebung derjenigen Schranken müsse erfolgen, die den freien Zugang zumindest zu den grundlegenden Bildungsmitteln verhinderten. Solange sich die Verfügbarkeit dieser Bildungsmittel in Abhängigkeit von Geld und Besitz oder einer bestimmten Standeszugehörigkeit befinde, könne nicht von dem gleichen rechtlichen Status aller die Rede sein. Eine unentgeltliche Vermittlung basaler Kenntnisse und Fertigkeiten wird folglich als Forderung der Zeit und als »einer der grössten und unerlasslichsten Zielpunkte des künftigen Staates« beschrieben.469 Gleichermaßen hält es Fichte für eine überfällige Maßnahme des Staates, den Einzelnen das Recht einzuräumen, sich frei für eine berufliche Aufgabe entscheiden zu können, die ihren Lebensunterhalt sichere und mit der sie der Gesamtheit dienten. Jedem Gesellschaftsmitglied müsse der Zugang zu allen Stellen, die das Gemeinwesen biete470, wie generell die Möglichkeit der freien Berufswahl eröffnet werden. »Als Recht verlangen kann jede Person, dass nicht durch Gesetz oder Herkommen ihr eine gewisse Berufswahl überhaupt verschlossen, indirect dadurch eine andere ihr aufgedrungen werde: (wie die Juden in manchen Ländern zu wucherischem Erwerbe hingedrängt werden, weil sie von den sonstigen Berufsarten ausgeschlossen sind; wie irgendwo in Deutschland Bürgerliche noch immer nicht zu den höhern Militärgraden zugelassen werden und dergleichen […] ).«471
Insofern sein Grundansatz die unauflösliche Verbundenheit von Einzel- und Kollektivinteressen im Allgemeinen betont und dies im Besonderen auch Anwendung auf das Thema des Berufes findet, sieht Fichte die Einzelnen allerdings in der Pflicht, nicht in jedem Falle auf der Realisierung eines bestimmten Berufswunsches zu beharren. Könne bei »Ueberfüllung in einer bestimmten Richtung der Beschäftigungen« das mit der Wahl des Berufes erstrebte Ziel nicht erreicht werden, müssten die Betroffenen mit Rücksicht auf das Gemeinwohl dieses Faktum akzeptieren und sich an den von Seiten des Staates auszusprechenden alternativen Empfehlungen orientieren.472
469 470 471 472
Ebd., S. 50. Vgl. unten: Kap. II. 4. B. Ebd. Ebd., S. 47. Ebd. »Auch hier sind wir nämlich principiell gegen jene wilde schrankenlose Concurrenz, welche dem chaotischen Unorganisirtsein, ja der Vernunftlosigkeit gleichsteht, indem hier der Zufall waltet oder die Täuschungen eines augenblicklichen Eindruckes.« Ebd.
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D.
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Das »öffentliche Zutrauen« als soziale Basis des Staates
Unsere heutige Rechtsordnung betrachtet den Menschen in erster Linie im Sinne eines Einzelsubjekts, das, wiewohl in diverse soziale Zusammenhänge eingebunden, »als solches diesen Beziehungen vorausliegt«.473 Insofern diese Vorstellung in den vernunftrechtlichen Theorien des 18. Jahrhunderts ihren Ursprung findet, steht uns hier ein Denker wie Kant durchaus näher als Fichte. Was gleichermaßen für die Feststellung zutrifft, dass »im heutigen Recht für den Menschen der Mitmensch nicht als Bedingung des eigenen Menschseins, sondern als Grenze und Begrenzung der eigenen rechtlichen Freiheit«474 gilt. Obschon auch Fichte deutlich für eine rechtsbewehrte Abgrenzung der individuellen Freiräume eintritt, wird bei ihm – getreu seiner Grundperspektive – die freie Entwicklung der Persönlichkeit bezeichnenderweise auch dort, wo sie als urrechtlicher Anspruch formuliert ist, auf die Zugehörigkeit der Einzelnen zur Gemeinschaft bezogen.475 Diese wesentliche Bedeutung zwischenmenschlicher Bezüge sieht Fichte widergespiegelt in dem Bedürfnis des Individuums, sein Selbst gegenüber anderen zu öffnen, sich mitzuteilen, um damit zugleich die andere, »ergänzende Individualität in sich aufzunehmen«.476 Um diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, habe die Rechtsordnung in den Sphären des privaten wie des öffentlichen Lebens einen ungehinderten kommunikativen Austausch zu gewährleisten: »das Sichaufschliessen der geistigen Individualitäten gegen einander muss völlig ungehemmt, zugleich durch Vertrauen gesichert sein«.477 Entsprechend soll das Urrecht auf »ethische oder Geistesfreiheit« in den Gestalten der »freie[n] Meinungsäusserung in Rede und Schrift«, der Pressefreiheit und des Schutzes des Briefgeheimnisses als rechtlich garantierter Anspruch festgeschrieben werden478. Dabei geht es keineswegs nur um die selbstzweckhafte Erfüllung eines basalen menschlichen Bedürfnisses. Fichte zufolge haben diese Forderungen eine politische Dimension, die bis an die Grundfeste des Staates reicht: Für den dauerhaften Bestand eines Gemeinwesens sind in seinen Augen die Möglichkeiten offener Kommunikation unverzichtbar. Beschneide ein Staat eben diese Möglichkeiten aufgrund der Annahme, um des Selbstschutzes willen einer Kontrolle privater wie öffentlicher Meinungsäußerungen und Stellungnahmen zu bedürfen, werde mitnichten die innere Sicherheit befördert, sondern vielmehr Intrigen und Korruption Vor473 E.-W. Böckenförde: »Das Bild vom Menschen in der Perspektive der heutigen Rechtsordnung«, in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit, a. a. O., S. 58 – 66, hier : S. 58. 474 Ebd., S. 59. 475 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 35. 476 Ebd., S. 52. 477 Ebd., S. 53. 478 Ebd., S. 52 f.
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Der Blick auf den Staat
schub geleistet. Untergrabe man auf diese Weise das eigene Fundament, hebt Fichte umso entschiedener das »öffentliche Zutrauen« als die »wahre sociale Grundlage des Staates und jeder Gemeinschaft« hervor.479 »Wird dies verletzt oder verkümmert, so nöthigt man dadurch Jeden, durch Heuchelei sich zu schützen oder in einem geheimen Kampfe der List gegen die Listen des Staates diesen zu übervortheilen: und so steht er nun erst, durch die Schuld der vermeintlichen Schutzmittel, auf einem ganz ungewissen und doppelt gefährlichen Boden.«480
Soll sich demgegenüber der künftige Staat als eine Gemeinschaft darstellen, der immer mehr Menschen aus innerer Überzeugung und gemäß eigenständig gebildeten sittlichen Grundsätzen ihre Zustimmung geben, müssten zudem die ungehinderte Religionsausübung481 sowie ein freies Genossenschafts- und Vereinswesen sichergestellt sein.482 Erachtet Fichte die Effektivität assoziativer Verbindungen, d. h. den Erfolg, mit dem auf Genossenschafts- und Vereinsebene den Gesellschaftsmitgliedern die Vertretung ihrer Interessen und die Bewältigung ihrer Probleme gelingen könne, als Basis und Prüfstein »für den politischen Fortschritt einer Nation«, formuliert er in dieser Perspektive einen an die Adresse der politisch Verantwortlichen seiner Zeit gerichteten Satz, in dem auch hier die Überzeugung vom Ende des Obrigkeitsstaates mitschwingt: »Alles Staatsleben soll sich von Unten her, aus dieser selbstständigen und lebendigen Mitte des Volkes erzeugen.«483 Verweist dieses Diktum zudem auf die gleichsam ›staatstragende‹ Bedeutung, die Fichte einem umfassend entwickelten Assoziationswesen zuschreibt, werden die Vorstellungen zur faktischen Umsetzung des damit Projektierten noch ausführlich zur Sprache zu bringen sein.484 E.
Die menschliche Würde
Behandelt Fichte zum Abschluss seiner Ausführungen über die Urrechte das sogenannte »Recht der Ehre«, verbirgt sich hinter diesem Titel der Anspruch des Individuums auf Achtung seiner »allgemeinen Menschenwürde«: Jedem Menschen komme das unaufhebbare Recht zu, »als Wesen geistig sittlichen Werthes von Allen anerkannt zu sein«.485 479 Ebd., S. 54. 480 Ebd. 481 Ruht nach Fichtes Verständnis jede sittlich gefestigte Haltung letztlich auf religiöser Grundlage, könne wiederum der »ächte und lebendige Glaube« nur in einem Klima religiöser Toleranz gedeihen. Ebd., S. 56. 482 Ebd., S. 57. 483 Ebd. 484 Vgl. unten: Kap. III. 2. 485 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 58.
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Um die uneingeschränkte Gültigkeit dieses urrechtlichen Prinzips deutlich zu machen, verweist Fichte auf den sittlichen Status strafrechtlich Verurteilter. Auch die strengstmögliche Strafzumessung dürfe dem Anspruch auf Anerkennung ihrer Würde keinen Abbruch tun.486 Könne der Staat sehr wohl für den Zeitraum der Verbüßung einer Strafe durch Aussetzung bestimmter Rechte die staatsbürgerliche Ehre der betroffenen Personen beschneiden, müsse der Schutz ihrer Würde oder »innere[n] Ehre« per se erhalten bleiben487. Abzulehnen sei folglich jene Sichtweise, die solche, die das Recht gebrochen haben, als gänzlich ehrlos oder »verfehmt« betrachte488. Als durchaus zukunftsweisend stellt sich somit Fichtes Ansicht zur staatlichen Behandlung straffällig Gewordener hinsichtlich der Bewahrung menschlicher Würde dar. Unbedingt habe der Staat die Grenze zu beachten zwischen den für einen ordnungsgemäßen Strafvollzug notwendigen Maßnahmen und einem Umgang mit den Gefängnisinsassen, der diese »durch fortgesetzte Erniedrigung« ihres Anspruches auf Wahrung der allgemeinen Menschenwürde beraube und damit auch jeden Ansatz für eine sittlich wünschenswerte Läuterung der Strafgefangenen zunichte mache.489 Zumal sich die Staatsmacht in einem eklatanten, weil die eigenen Rechtsprinzipien verletzenden Widerspruch verfange, sofern sie bei der Behandlung eben jener gesetzlich untersagte Handlungen billige490. Gleichermaßen entschieden tritt er einer Argumentation entgegen, die noch in unseren Tagen in stets neuen Auflagen erscheint. Jegliches würdeverletzende Handeln von Seiten der Strafvollzugsbevollmächtigten konsequent ausblendend, beklagt diese vielmehr eine überzogene Sorgfalt im Umgang mit den Einsitzenden und verweist auf das Schicksal der wahrhaft Elenden, die aufrecht ihr Dasein fristeten und keine Beachtung durch den Staat erhielten. Wird dieser Denkfigur oftmals die Forderung beigestellt, die Gewichtung der staatlichen Bemühungen schleunigst umzukehren, setzt Fichte an eben diesem Punkte an. Die Pflichten des Staates betrachtet er hier als »auf das Innigste« verflochtene491: Keinesfalls dürfe man staatliche Aufgaben, die eine besondere Aufmerksamkeit für bestimmte Bevölkerungsteile erforderten, gegeneinander aufrechnen. Nie486 Ebd. 487 Ebd. »Sodann bleibt richtig, dass es in der Macht des Staates liege, durch Entziehung gewisser bürgerlicher Fähigkeiten und Rechte Einen für bürgerlich ehrlos zu erklären, und ebenso diese Ehre wieder herzustellen. Dies fällt jedoch in ein ganz anderes Gebiet, und hat mit jenem nie erlöschenden Anspruch auf sittliche Menschenwürde, welche wir ›Ehre‹ und das ›Recht auf Ehre‹ nennen, nicht das Geringste gemein.« Ebd., S. 60. 488 Ebd., S. 61. 489 Ebd. 490 »Es ist die schreiendste Anomalie, wenn der Staat dasselbe, was er als Rechtsgewalt zu bestrafen, wovor er zu schützen hat, selbst ausübt oder duldet.« Ebd. 491 Ebd., S. 62.
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Der Blick auf den Staat
mand soll in Sicht auf eine die Würde der Person wahrende Existenz benachteiligt werden. Jedem Menschen sei auch und gerade von Seiten der staatlichen Macht ein Grundmaß des Respektes entgegenzubringen.
3.
Die Schaffung sozial ausgeglichener Eigentumsverhältnisse
A.
Fichtes Neubestimmung des Eigentums
Enthalten bereits die meisten der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Bestandteil der Staatsverfassungen niedergelegten Grundrechts-Kataloge eine Verbürgung persönlichen Eigentums492, mag es überraschen, dass Fichte einen solchen Anspruch im Urrechte-Kapitel der Ethik gänzlich unerwähnt lässt. Gleichwohl hat er diesen Punkt mit Aufmerksamkeit bedacht. Ein »dem Begriffe jeder Person anhaftendes«493 Urrecht auf Eigentum konstatierend, wird die Behandlung desselben einem Abschnitt eingegliedert, der sich unter verschiedenen Hinsichten der Eigentumsthematik annimmt. Nach Fichtes Überzeugung eignet vielen Gemeinwesen eine äußerst problematische ökonomische Befindlichkeit, insofern hier der Vergrößerung der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich Vorschub geleistet und die Stabilität der gesellschaftlichen Vermögenswerte gefährdet werde. Veränderungen seien nur denkbar494, wenn man die Dominanz jener Auffassung beseitigen könne, die sich u. a. den unbedingten Schutz des Privateigentums auf die Fahnen geschrieben habe. Entsprechend macht er es zu seinem Anliegen, nicht zuletzt durch den Aufweis der Unzulänglichkeiten dieser in seinen Augen »specifisch liberalen«495 Position »die Lehre vom Eigenthume neu zu gestalten«.496 »Es dürfte dabei sich zeigen, dass die bis zur gegenwärtigen Stunde herrschenden Eigenthumsverhältnisse nichts Anderes sind, als die jetzt noch nothwendigen, dennoch den Keim des eigenen Unterganges in sich tragenden Vorbedingungen, aus denen der vollkommne Begriff und die wahre Praxis des Eigenthums sich erheben muss.«497
492 Vgl. die Sammlung der Verfassungstexte in: F. Hartung: Die Entwicklung der Menschenund Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, Göttingen; Berlin; Frankfurt 41972, S. 40 ff., sowie: W. v. Rimscha: Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, Köln; Berlin; Bonn; München 1973, S. 207 ff. 493 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 64. 494 Ebd., S. 81. 495 Ebd., S. 76. 496 Ebd., S. 68. 497 Ebd.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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Um den Charakter des Eigentums vollständig fassen zu können, sei hinauszugehen über das Verständnis desselben als »Sache«, die der rechtlich gesicherten Verfügungsgewalt von Personen unterliege.498 Fichte knüpft hier an die Sichtweise seines Vaters an, der das Eigentum – entgegen jener, wie er sagt, von seiner Anschauung »sehr abweichende[n]« Lehre des ›Sachbesitzes‹499 – als Recht jedes Menschen auf »eine Sphäre der Thätigkeit« kennzeichnet. Wobei diese Sphäre »so weit sein eigen« zu sein habe, »daß er seinen Unterhalt dabei findet«.500 Ist damit nach Johann Gottlieb Fichtes Auffassung der »Grundsatz« gegeben, ein jeder müsse »von seiner Arbeit leben können«501, formuliert sein Sohn auf der Spur dieser Überlegungen als »folgerichtige Erweiterung des ältern Eigenthumsbegriffes« das »Recht auf eine gewisse, nur einem bestimmten Individuum zustehende Arbeitsleistung«502. Diese Arbeitsleistung soll den Einzelnen ein genügendes Einkommen garantieren. Somit sei sie als »der besondere Ausdruck« des Urrechts auf »Subsistenz und Musse durch eigene Arbeit«503 zu betrachten. Allerdings werde damit kein grundsätzlicher Angriff auf das Privateigentum geführt; intendiert sei ja die Erweiterung, nicht die Beseitigung der überkommenen Eigentumsvorstellung. Doch sei der »reale Besitz« als das »Innehaben von Naturobjecten«504 eben nicht mehr das Wesentliche: Die höchste, nämlich »ethische« Bedeutung des Eigentumsbegriffes finde Ausdruck in einer vom Bewusstsein des besonderen Leistens für das gemeinschaftliche Ganze begleiteten eigentümlichen Tätigkeit, die gleichermaßen Lebensunterhalt und arbeitsfreie Zeit sichere.505 Mit der Ausweitung des Eigentumsbegriffes sind somit explizit Momente der Fichte’schen Arbeits- und Berufslehre einbezogen. Geht es ihm bei jeder Form gesellschaftlich relevanter Arbeit stets auch um die sittlich-personale Entfaltung des Individuums506, lässt sich dieses Ziel in seinen Augen umso erfolgreicher verwirklichen, je mehr die Belastungen durch monotone, geistig anspruchslose, 498 Ebd., S. 64. 499 J. G. Fichte: Der geschlossene Handelsstaat (1800), in: J. G. Fichte’s sämmtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 440. »Meines Erachtens ist der Grundirrthum der entgegengesetzten Theorie über das Eigenthum die erste Quelle, woraus alle falschen Behauptungen darüber fliessen […] dieser, dass man das erste ursprüngliche Eigenthum in den ausschliessenden Besitz einer Sache setzt.« Ebd., S. 441. 500 J. G. Fichte: Das System der Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812, in: J. G. Fichte’s nachgelassene Werke (hrg. v. I. H. Fichte), Bd. 2, Bonn 1834, S. 531 f. 501 Ebd., S. 532. 502 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 65. 503 Ebd., S. 64. 504 Ebd. 505 Ebd., S. 68. »[D]as wahre Eigenthum liegt in der intensiven, gewissenhaften Arbeitsleistung und der würdigste Eigenthümer ist der sittliche Mensch.« Ebd. 506 Ebd., S. 67.
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Der Blick auf den Staat
physisch wie psychisch depravierende Tätigkeiten beseitigt werden können.507 Desweiteren sind Maßnahmen gefragt, welche die Chancen der Einzelnen erhöhen, in einem ihren eigentümlichen Anlagen und Begabungen entsprechenden Berufsfeld Arbeit zu finden508. Diese Aspekte gilt es mit zu bedenken, wo Fichte den Staat in die Verantwortung nimmt, sich dem Problem der Bereitstellung von Arbeitsplätzen unter Berücksichtigung individuell unterschiedlicher Erfordernisse und Qualifikationen zu widmen, in diesem Sinne also ›sozialpolitisch‹509 tätig zu werden. »Bisher hat der Staat die Rechtsverpflichtung gehabt und nur diese zu haben geglaubt, den Eigenthümer in seinem vorhandenen Besitze zu schützen. Dieser Zustand unbedingten Privateigenthums und schrankenloser Anhäufung hat sich überlebt; er löst sich auf an tausend in der Sache selbst liegenden Zweckwidrigkeiten. Von nun an ist es die weitere Aufgabe des Staates, Jeden in das ihm nach Bedürfniss und Fähigkeit gebührende Eigenthum immer von Neuem einzusetzen.«510
Unterliegt der »todte Capitalbesitz« schon dem Verdacht, bei den Inhabern größerer Geld- und Sachvermögen einer trägen, der geistig-sittlichen Vervollkommnung wenig zuträglichen Lebenshaltung den Boden zu bereiten511, offenbarten sich die negativen Seiten unproduktiver Kapitalvermehrung überdies in einer wesentlich an ökonomischen wie sozialen Gesichtspunkten orientierten gesamtgesellschaftlichen Perspektive. Bloßes Anwachsen der Vermögenswerte stütze in keiner Weise notwendige staatliche Bemühungen um ein die Bedürfnislagen der Bevölkerung ernst nehmendes Schaffen von Arbeitsmöglichkeiten, das der Steigerung des individuellen Wohlstandes und damit dem Gedeihen des Gemeinwesens überhaupt dienen solle. Auch um ihres persönlichen Vorteils 507 Wie gezeigt, setzt Fichte hier insbesondere auf die Vorteile einer zunehmenden Mechanisierung der Arbeitswelt, in der optimistischen Erwartung, dass schließlich »alle Zweige der Arbeit […] immer mehr anregende und bildende Geistesbeschäftigungen werden«. Ebd., S. 66; vgl. oben: Teil 2, Kap. III. 4. 508 »Ebenso fällt, was wir hier als den höchsten Zweck des Eigenthums und der Arbeitsleistung bezeichnen, mit demjenigen zusammen, was wir früher, im allgemeinen Theile der Ethik, die Genesis des sittlichen Charakters nannten. Diese besteht, wie wir zeigten, in Arbeit auch nach ethischer Bedeutung, in fortdauernder Entselbstung und im Ethisiren der einzelnen ungeordneten […] Triebe. Als Schauplatz dieser ethischen Arbeit aber ergab sich schon damals der ›Beruf‹, der allein das Resultat geistig-sittlicher Bildung sein kann.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 67. 509 Den Ausdruck ›Sozialpolitik‹ gebraucht Fichte meines Wissens allerdings nicht. – Die Verwendung dieses Ausdrucks ist schon für die 1840er Jahre bei Karl Grün und Julius Fröbel belegt: »Dezamy behält das Wort Politik bei, aber er erklärt es vernünftig; er sagt, die soziale Politik ist nichts als die Direkzion der Arbeiten und die Repartizion der Produkte.« K. Grün: Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Darmstadt 1845, S. 394. Vgl. J. Fröbel: System der socialen Politik, 2 Bde., Mannheim 1847 (2. Aufl. der unter dem Pseudonym C. Junius 1846 in Mannheim erschienenen ›Neuen Politik‹), Nachdr. Aalen 1975. 510 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 78. 511 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 753.
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willen seien solche Eigentümer aufzufordern, das Vermögen unter der Prämisse der »Beweglichkeit« – d. h. unter Ausschöpfung des durch die rechtlichen Bedingungen gesetzten Nutzungsspielraumes – in das Wirtschaftsgeschehen einzubringen und es so erst eigentlich zu ›wertschaffendem‹ Eigentum zu machen.512 Eine Notwendigkeit radikaler Änderungen der vorhandenen Gesetzesvorschriften sieht Fichte dabei nicht. Der Blick auf die Wirklichkeit mache deutlich, dass das Bestreben nach gänzlich uneingeschränkter Verfügungsgewalt über das Privateigentum in der gängigen Rechtspraxis nicht toleriert werde.513 »Vielmehr greift der Begriff des Gesammteigenthums schon nach der bisherigen Rechtsauffassung durch den des Privateigenthums hindurch als dessen Träger und zugleich dessen eigentliche Garantie, indem nur als einen Theil des Gesammtwohlstandes und Verkehrs der Einzelne seinen Privatbesitz mit Sicherheit verwerthen oder geniessen kann. Wo aber einmal der Begriff des Gesammtwohlstandes (des ›Nationalvermögens‹) zur Geltung gekommen, da muss sich, im Conflicte mit ihr, die Privatwillkür und die Ohnmacht ungeschickter Privatbenutzung jenem umfassendern Interesse unterwerfen, nicht bloss kraft des höhern Rechts, sondern mittelbar auch kraft des eignen Vortheils.«514
Unmissverständlich geben diese Zeilen der Erwartung Ausdruck, dass künftig die Sozialbindung des Eigentums stärkere Aufmerksamkeit erhalten soll. Es obliege dem Staat, bestehendes Eigentumsrecht nach Grundsätzen zu modifizieren und zu erweitern, die das konsequente Vorgehen gegen Kapitalseigner ermöglichten, die ein sichtbares Desinteresse am allgemeinen Wohl demonstrierten. Im Extremfall, gleichsam als ultima ratio ihrer praktischen Durchsetzung, schlössen diese Prinzipien selbst eine Enteignung nicht aus. Denn jenseits privatrechtlicher Ansprüche stelle das Eigentum eben stets auch ein »öffentliches Rechtsinstitut« dar.515 »Es ist daher zugleich die Pflicht des Eigenthümers, nicht bloss sein Recht, sein Eigenthum möglichst nutzbar zu machen, und ihm gegenüber ist das Recht des Staates anzuerkennen, darin ihn zu beaufsichtigen und durch Maassregeln der Gesetzgebung und Verwaltung zu solcher höchstmöglichen Benutzung anzutreiben oder wenn dies unmöglich, gegen vollständige Entschädigung, wie sich versteht, es in die Hände des rechten Eigenthümers zu legen.«516 512 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 75. 513 Ebd., S. 76. Fichte denkt wohl an Regelungen wie den § 164 der Verfassung des Deutschen Reiches vom März 1849: »Das Eigentum ist unverletzlich. Eine Enteignung kann nur aus Rücksichten des gemeinen Besten, nur auf Grund eines Gesetzes und gegen gerechte Entschädigung vorgenommen werden.« G. Franz (Hrg.): Staatsverfassungen, München 21964, S. 163. 514 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 77. 515 Ebd., S. 75. 516 Ebd., S. 76.
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Der Blick auf den Staat
Es sei noch einmal betont: Keinesfalls stellt Fichte die Existenz des Privateigentums prinzipiell infrage; eine umgreifende Zwangsverstaatlichung von Vermögenswerten wird hier nicht beabsichtigt. Gleichwohl ist der Staat nicht nur gefordert, in rein quantitativer Hinsicht bei der Schaffung einer genügenden Zahl von Arbeitsplätzen Initiative zu zeigen. Vielmehr haben im Lichte der Erweiterung des Eigentumsbegriffes, unter den ja künftig »ein Recht auf eigenthümliche Arbeitsleistung zum Zwecke möglichsten Wohlstandes«517 fallen soll, auch die Bedürfnisse und Befähigungen des arbeitenden Menschen Berücksichtigung zu finden. Um dieser Zielsetzung Rechnung zu tragen, weist Fichte entschieden auf die Möglichkeit hin, allen Angehörigen eines Unternehmens ihrer spezifischen Leistung entsprechend einen rechtlich gesicherten Eigentumsanteil am Betriebsvermögen zu gewähren.518 Denn »jede äussere Anordnung der Eigenthumsverhältnisse« ließe sich hier »als rechtmässig denken, wenn sie jenen Zweck des Eigenthums«519 erfülle. So fordert er in Hinsicht auf die »precäre Existenz« der Lohnabhängigen im Bereich der industriellen Produktion, diese sollten »zum Miteigenthum gelassen werden«.520 Nun erscheint es kaum problematisch, vom Anspruch der Beschäftigten auf »Miteigentum« zu sprechen, wenn es um betriebliche Neugründungen oder qua Veränderung der Organisationsform entstandene Betriebe geht, die sodann in Gestalt freier ›Produktivassoziationen‹, d. h. als genossenschaftlich strukturierte Erwerbsunternehmen geführt werden. Zu denken ist an Zusammenschlüsse von Arbeitern und Unternehmern, für die Regelungen zur Eigentümerschaft der Assoziierten innerhalb eines genossenschaftsrechtlichen Rahmens getroffen werden können. Wie jedoch sieht dieses Miteigentum beim Beschäftigungsverhältnis im gewöhnlichen Industriebetrieb aus, bei dem der Unternehmer das Privateigentum an den Produktionsmitteln hält? Fichte merkt an, hier müsse wie bei der Bildung der assoziativen Verbindungen »das grosse Princip des Gesellschaftsvertrages und des gemeinsamen Gewinns zur Geltung kommen«.521 Gemeint sind wohl auf der Basis gesetzlicher Bestimmungen zwischen Arbeitern und Unternehmern ausgehandelte Vereinbarungen über Beteiligungen der Werktätigen am Unternehmenskapital oder den erwirtschafteten Gewinnen. Ferner könnten Überle517 Ebd., S. 74. 518 »Der Antheil z. B., welcher bei Verarbeitung einer Sache aus dem gemeinsamen Gewinne dem Talente zugeschrieben wird, kann grösser sein, als welcher der Handarbeit und dem Capitale zukommt, oder umgekehrt: in jedem Falle hat daher der Träger des Talentes, des Capitals und der Handarbeit ein individuelles Eigenthum innerhalb ihres Gesammtbesitzes.« Ebd. 519 Ebd. 520 Ebd., S. 264 f. 521 Ebd., S. 264.
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gungen zur Mitbestimmung der Arbeiter wie auch – im Sinne des erweiterten Eigentumsbegriffes – zur Schaffung von Arbeitsplatzgarantien im Spiel sein. Wenngleich Fichte mehr als einmal betont, im Zusammenhang einer philosophischen Grundlegung gesellschaftlicher Reformen seien gewisse Detailfragen nicht zu behandeln und mangels spezifischer Fachkenntnisse sei von Ratschlägen abzusehen522, wäre hier doch eine deutlichere Aussage über die von ihm präferierten – oder zumindest: angedachten – Möglichkeiten zu wünschen523. Gleichwohl ist ersichtlich: Mit seiner neben der Bedeutung der individuellen Arbeitsleistung gerade die Sozialpflichtigkeit privater Besitztümer betonenden Auslegung des Eigentumsbegriffes schlägt Fichte durchaus Kerben in das Bollwerk der liberalen Eigentumsvorstellung, »die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den weithin kritiklos akzeptierten Denkpositionen gehörte«.524 Sind es insbesondere die Entwürfe der frühen Sozialisten, die lange vor der Jahrhundertmitte an diesem Bollwerk rührten, so wird bei näherem Hinsehen offenbar, dass der entschiedene Theist Fichte jenen gegenüber kaum Berührungsängste zeigt. Vielmehr scheint er hier Anreize für die Vertiefung und Befestigung des eigenen Standpunktes gefunden zu haben, in bestätigender wie in abwehrender Hinsicht. Es dürfte kein Zufall sein, wenn Fichte dort, wo er dem Staat die Aufgabe der beschäftigungspolitischen Inachtnahme des Arbeitsmarktes unter der Prämisse zuweist, sich an ›Bedürfnis und Fähigkeit‹ der Einzelnen zu orientieren, eine Formulierung wählt, die an jenen Grundsatz erinnert, »der zum Gemeingut und Gemeinplatz des kommenden Sozialismus wurde«525. Sprechen die Saint-Simonisten davon, innerhalb der künftigen Gesellschaftsordnung werde jeder »nach seinen Fähigkeiten eingestuft und nach seinen Werken belohnt«526, nennt Louis Blanc die »wirkliche Gleichheit« bei der Entlohnung der Arbeit eine solche, »welche die Arbeiten in Verhältnis zu den Fähigkeiten und die Früchte der Arbeiten in Verhältnis zu den Bedürfnissen setzt«527. Zugleich sind Fichtes Vorschläge für staatliche Eingriffe in das noch gänzlich unbeschränkte Wirtschaftsgeschehen, in welches Elemente gemeinwohlfördernden Zuschnittes implementiert werden sollen, wirklich verständlich erst 522 Vgl. z. B. ebd., S. 77; S. 91. 523 So merkt auch Pietro de Vitiis an: »Fichte non dice, tuttavia, come questa compropriet possa essere realizzata.« (»Fichte sagt gleichwohl nicht, wie dieses Miteigentum verwirklicht werden kann.« Übers. W. S.). P. de Vitiis: Etica, politica e religione in Immanuel Hermann Fichte, a. a. O., S. 55. 524 D. Schwab: Art. ›Eigentum‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 65 – 115, hier: S. 103. 525 W. Conze: Art. ›Arbeit‹, a. a. O., S. 197. 526 G. Salomon-Delatour (Hrg.): Die Lehre Saint-Simons, Neuwied 1962, S. 111. 527 L. Blanc: Organisation der Arbeit, nach der neunten, umgearbeiteten Auflage des Originals übersetzt von R. Prager (1. Aufl. Paris 1840), Berlin 1899, S. 97.
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Der Blick auf den Staat
vor dem Hintergrund seiner Kritik der saint-simonistischen und Blanc’schen Konzeptionen, die unter dem Begriff der »Organisation der Arbeit« eine ähnliche Zielsetzung verfolgen.
B.
Die Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus
Kann nach Fichtes Bekunden das frühsozialistische Gedankengut als »Philosophie der Arbeit«528 charakterisiert werden, so vermittele es eine Hinsicht, welche die Arbeitsleistung in ihrer Bedeutung für das Werden und Sein der Person zu würdigen und damit auch den Eigentumsbegriff »auf die freieste und zugleich gründlichste Weise«529 zu fassen wisse. Überdies erregen diese Lehren seine Aufmerksamkeit, insofern er hier eine Abkehr vom Pfad der durch das vertragstheoretische Denken beherrschten Philosopheme registriert, mit welcher dem Bild einer nur von isolierten, egoistischen Akteuren bevölkerten Welt die Offerte eines geselligen Lebens im solidarischen Miteinander entgegengestellt wird. Damit sei der »erste grossartige Versuch« gemacht, »den Staat und die Gesellschaft, welche gesetzlich und mit Bewusstsein bisher nur auf die Idee des Rechts gegründet waren, nunmehr nach der Idee der ergänzenden Gemeinschaft fortzubilden«.530 Indes warnt Fichte davor, darin etwas anderes zu sehen als Ansätze von »propädeutischem Charakter für eine Theorie der Gesellschaft«531, welche die sozio-ökonomischen Probleme erstmals aus der Perspektive der arbeitenden Massen ins Blickfeld rückten.532 Es gelte, Distanz zu wahren gegenüber dem Pathos der Gewissheit, mit dem die Autoren dieser Denkrichtung ihre Reformmodelle vortrügen; zutiefst überzeugt, wirklich gangbare Wege zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzuzeigen. Doch habe man diese Entwürfe als kritische Fingerzeige zu betrachten, denen »mehr die Bedeutung« zu eigen sei, »auf die Grösse des Uebels aufmerksam zu machen, als die Kraft, es zu bewältigen. Sie gehören zu den Symptomen der Zeit, während sie sich schon für gründliche Heilmittel derselben ausgeben. Nur das Verdienst kommt ihnen zu – es ist ein grosses, wiewohl negatives – dass sie zuerst die Kritik gegen die bisherige Grundlage unserer gesellschaftlichen Zustände gerichtet und es ausgesprochen haben, dass diese der höhern Idee der Gesellschaft weichen müssen.«533 528 529 530 531 532 533
I. H. Fichte: Ethik 1, S. 752. Ebd. Ebd. Ebd., S. 744. Ebd., S. 753. Ebd., S. 743 f.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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Freilich bezieht sich Fichte mit diesen Einlassungen primär auf den französischen Frühsozialismus.534 Habe dieser mit Henri Saint-Simons und Charles Fouriers Systementwürfen immerhin eine »bestimmte wissenschaftliche Gestalt angenommen«535, biete sich in Deutschland der Sozialismus – wie auch der Kommunismus – »nur verschroben und lächerlich«536 dar. Für England erscheine allein Robert Owen erwähnenswert, der allerdings mit einem stark auf die Praxis gerichteten Engagement kaum über seine »naivsten und unschuldigsten Anfänge« hinaus gelangt sei.537 Wenn hier also die Positionen der Saint-Simonisten und Louis Blancs behandelt werden, ist dies der Einsicht geschuldet, dass Fichte – wie bereits angedeutet – Aspekte seines eigenen Reformentwurfes gerade im Bezug auf jenen Versuch einer Umbildung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Klarheit bringt, der unter dem Titel der »Organisation der Arbeit« vornehmlich durch Blanc »zu einem gesellschaftskritischen Leitwort der 1840er Jahre wurde«.538 a.
Exkurs: Die »Organisation der Arbeit« als Lösung der sozio-ökonomischen Probleme bei den Saint-Simonisten und Louis Blanc Da es nach Fichtes Worten den Schriften Henri Saint-Simons noch an »Klarheit und Ausdruck«539 gemangelt habe, legt er für die Beurteilung des »St. Simonismus« sein Augenmerk auf die Doctrine de Saint-Simon540 : Bezugspunkt seiner Kritik ist somit diese Zusammenschau von Konzeptionen der »Saint-Simonisten«. Jener »Gruppe ausschließlich junger Männer«541, die mit SaintAmand Bazard und Barth¦lemy-Prosper Enfantin als führenden Mitgliedern nach Saint-Simons Tod eine auf sein Gedankengut aufbauende Schule ins Leben riefen. Spricht die Doctrine wiederholt von dem gesellschaftlichen Missstand der »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«542 und dem Ziel, solcher 534 Fichte zeigt sich angesichts dieser Thematik äußerst beeindruckt von der Lektüre Lorenz von Steins einschlägigen Schriften. Vgl. ebd., S. 750 ff. 535 Ebd., S. 750. 536 Ebd., S. 741. Vgl. die diesbezügliche Anmerkung, in der Fichte die »philosophischen Socialisten« Arnold Ruge und Karl Grün abschätzig als »Figuren« tituliert. Ebd., Anm. 537 Ebd., S. 745. 538 R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, Opladen 1984, S. 242. 539 I. H. Fichte, Ethik 1, S. 753 f. 540 Doctrine de Saint-Simon. Exposition. PremiÀre ann¦e, 1829, Paris 1830 (neu hrg. v. C. Bougl¦; E. Hal¦vy), Paris 1924. Deutsch: G. Salomon-Delatour (Hrg.): Die Lehre SaintSimons, a. a. O. – Zur Frage der bis heute nicht eindeutig geklärten Verfasserschaft der Doctrine vgl. R. M. Emge: Saint-Simon. Einführung in ein Leben und Werk, eine Schule, Sekte und Wirkungsgeschichte, München 1987, S. 155. 541 R. M. Emge: Saint-Simon, a. a. O., S. 149. 542 G. Salomon-Delatour (Hrg.): Die Lehre Saint-Simons, a. a. O., S. 104; S. 105; S. 106; S. 107; S. 108 u. öft.
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Der Blick auf den Staat
Ausbeutung »ein Ende zu machen«543, so kann Letzteres zurecht als das »Leitmotiv«544 dieser Schrift gekennzeichnet werden. Das ausbeuterische Verhältnis, das zwischen Herren und Sklaven, Patriziern und Plebejern oder Grundherren und Leibeigenen bestanden habe, setze sich, wenngleich in abgemilderter Form, »in den Beziehungen zwischen den Eigentümern und den Arbeitern, den Meistern und den Lohnempfängern fort«.545 Obzwar in formalrechtlichem Sinne frei, gelöst vom Gebundensein an die Scholle, könne der Arbeiter »in diesem gesetzmäßigen Zustand der Freiheit« doch lediglich unter Voraussetzungen existieren, »die ihm eine kleine Klasse von Menschen auferlegt, der eine vom Eroberungsrecht abgeleitete Gesetzgebung das Monopol des Reichtums verliehen hat. Und dieses Monopol bedeutet die Möglichkeit, nach Belieben und selbst im Nichtstun über die Produktionsmittel zu verfügen.«546 Diese Gesetzgebung schreibe eine Eigentumsordnung fest, die den Angehörigen jener kleinen Klasse von Menschen erlaube, durch die Vererbung des Vermögens innerhalb ihrer Familien sich stets die Herrschaft über die Produktionsmittel zu sichern.547 Bliebe damit eine wirkliche Chancengleichheit zwischen den Kindern der Mittellosen und denen reicher Erblasser bloße Illusion, gereiche überdies die bestehende Erbschaftsregelung der Gesellschaft insgesamt zum Nachteil. Immer wieder erhielten infolge der »Privilegien der Geburt« gänzlich inkompetente Erben Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, die zum Wohle der Allgemeinheit in fähigere Hände gehörten.548 Das familiäre Recht der Erbschaft muss daher nach Überzeugung der Saint-Simonisten auf den Staat übertragen und alle geburtlichen Vorrechte müssten »völlig abgeschafft werden«.549 In Zukunft solle nicht länger die Familie, sondern der 543 Ebd., S. 178. 544 F. A. v. Hayek: Missbrauch und Verfall der Vernunft, Salzburg 21979, S. 205. Hayek nennt die Doctrine einen der »großen Marksteine in der Geschichte des Sozialismus, der verdiente, viel besser bekannt zu sein, als er es außerhalb Frankreichs tatsächlich ist« (ebd., S. 203). Zumal die Saint-Simonisten »die wirkliche Kraft« darstellten, »die das europäische Denken bestimmend beeinflußt hat […] und nicht Saint-Simon selbst« (ebd., S. 199). »Die Wörter ›Individualismus‹, ›Industrieller‹, ›Positivismus‹ und die ›Organisation der Arbeit‹ erscheinen alle zum ersten Mal in der Exposition.« Ebd., S. 211. 545 G. Salomon-Delatour : Die Lehre Saint-Simons, a. a. O., S. 105. »Der Arbeiter ist nicht wie der Sklave unmittelbares Eigentum seines Herrn, seine stets veränderliche Lage wird durch einen von beiden Seiten geschlossenen Vertrag bestimmt; aber geht der Arbeiter diesen Vertrag freiwillig ein? Nein, denn er muß ihn bei Todesstrafe hinnehmen, da er seine tägliche Nahrung nur von der Arbeit des Vortages erhält.« Ebd. 546 Ebd., S. 106. 547 Ebd., S. 108. Da nämlich ein Austausch zwischen den Familien verschiedener Gesellschaftsklassen nicht stattfinde, so gelte: »[…] von einigen Ausnahmen abgesehen, vererben sich Vorteile und Nachteile jeder sozialen Stellung.« Ebd., S. 106. 548 Ebd., S. 131; vgl. ebd., S. 43. 549 Ebd., S. 114.
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Staat die »angehäuften Reichtümer« erben, insoweit diese »zum Produktionsfonds« gehörten550. Geht es bei diesem Plädoyer für die Änderung der bestehenden erbrechtlichen Bestimmungen letztlich um eine »leistungsgerechte Verteilung der Produktionsmittel«551, weist die Argumentation gegen das Prinzip der freien Konkurrenz in die gleiche Richtung. Wird nach Ansicht der Saint- Simonisten mit dem wirtschaftsliberalistischen Diktum des »laissez faire, laissez passer« das Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumption wie überhaupt eine Zusammenstimmung von persönlichen und allgemeinen Interessen vorausgesetzt, führten die tatsächlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten jenen Grundsatz schlicht ad absurdum. Unübersehbar böten sich die durch die Mechanismen des ungezügelten Marktes gezeitigten Folgen dar. Nicht zuletzt erschütternde Wirtschaftskrisen, die die Angehörigen der verschiedenen Gesellschaftsschichten ihrer Existenz beraubten: »Einige Glückliche triumphieren […], aber auf Kosten des gänzlichen Untergangs unzähliger Opfer«.552 Um diesen von Zufall, sozialer Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Unordnung gekennzeichneten Zuständen ein Ende zu bereiten, setzen die Saint-Simonisten auf eine neu orientierte »Organisation der Arbeit«.553 Unter Aufsicht des Staates als zentraler Lenkungsinstanz soll die Produktion der Güter künftig am Können und an der Leistung der Gesellschaftsmitglieder ausgerichtet sein; die mit den Befähigungen der Einzelnen in Einklang stehende Verteilung der Produktionsmittel wird so »als Chiffre einer bewußt koordinierten Wirtschaft verstanden«.554
550 Ebd., S. 111. Ist hier also einerseits davon die Rede, sämtliche geburtlichen Rechte zu beseitigen, wird andererseits das dem Staat zu vererbende Gut auf den »Produktionsfonds« beschränkt. ¢ Rolf Peter Fehlbaum macht zurecht darauf aufmerksam, dass in der Doctrine die Frage ungeklärt bleibe, ob »Eigentum, das nicht Produktionsmittel darstellt, innerhalb der Familie übertragen werden« könne. Wenngleich der einschränkende Hinweis auf den Produktionsfonds andere Eigentumswerte ausnehme, sei deren Übertragung »ohne Zwischenschaltung des Staates […] mit den saint-simonistischen Grundzügen unvereinbar«. R. P. Fehlbaum: Saint-Simon und die Saint-Simonisten. Vom Laissez-Faire zur Wirtschaftsplanung, Tübingen 1970, S. 117. 551 R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 161. 552 G. Salomon-Delatour : Die Lehre Saint-Simons, a. a. O., S. 44 f. »Mit der Konkurrenz wird schließlich sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Moral zugrundegerichtet, indem sie jedes gewerbliche Bemühen aufrechterhält in einem Zustand der Isolation, des Kampfes im Hinblick auf die anderen. Von dem Augenblick an, wo jeder glaubt, seine eigenen Erfolgschancen nur zu erhöhen, indem er die seiner Konkurrenten verringert, zeigt sich der Betrug als das wirksamste Mittel, den Kampf zu unterstützen, und die gewissenhaftesten Menschen, die vor diesem Mittel zurückschrecken, sind gewöhnlich die ersten Opfer.« Ebd., S. 123. 553 Ebd., S. 43; vgl. ebd., S. 123. 554 R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 161.
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Der Blick auf den Staat
»Damit nun die industrielle Arbeit zu dem Grad von Vervollkommnung gelange, den sie beanspruchen kann, sind folgende Bedingungen notwendig: 1. daß die Werkzeuge verteilt sind im Verhältnis zu den Bedürfnissen jeder Örtlichkeit und jedes Gewerbszweiges, und 2. im Verhältnis zu den einzelnen Fähigkeiten, um von den geschicktesten Händen ins Werk gesetzt zu werden, und schließlich 3., daß die Produktion so eingerichtet sei, daß man nie in irgendeinem ihrer Zweige Mangel oder Überfüllung zu befürchten habe.«555
Wie hat man sich dieses »System der industriellen Organisation«556 näherhin vorzustellen? Als ausschließlicher Eigentümer aller Produktionsmittel gibt der Staat die Verwaltung derselben in die Obhut eines hierarchisch gestuften Banken-Systems – eine »soziale Einrichtung der Zukunft«, welche das für alle ökonomischen Belange zuständige Exekutivorgan des Gemeinwesens bildet.557 Nach dem Entwurf der Saint-Simonisten findet sich hier eine »einzige, leitende Bank« an der Spitze, die einer Anzahl regionaler Banken vorsteht, welchen wiederum diverse lokale Banken unterstellt und deren Aufgaben jeweils auf die Eigenarten eines bestimmten Gewerbezweiges zugeschnitten sind. Die Zentralbank wird als Institution konzipiert, die im Blick auf die allgemeinen Wirtschaftsdaten und unter Berücksichtigung stets aktualisierter branchenspezifischer Informationen Weisungen an die Spezialbanken erteilt, welche diesen Weisungen entsprechend die Verteilung der Produktionsmittel vorzunehmen haben.558 Spricht die Doctrine diesbezüglich von einer Kreditvergabe an die Arbeiter559, ist neben der Bereitstellung finanzieller Mittel für Gewerbetreibende vor allem an die »Verteilung ganzer Produktionseinheiten« zu denken: von »handwerklichen und kleinbäuerlichen Einmann- bis zu großen Betrieben«560. Der neuen Eigentumsordnung gemäß bleibt dabei jeder Betrieb Eigentum des Staates und wird den jeweiligen Besitzern im Rahmen eines Pachtverhältnisses zur Nutzung übertragen561. Um schließlich die dem System zugeschriebenen Effektivitäts- und Gerechtigkeitsstandards wirklich zu erreichen, um ungenutzte Ressourcen zu mobilisieren und jegliche Form des Müßigganges auszuschalten, sollen von Seiten des Staates speziell ausgewählte Repräsentanten einer »Industriebehörde«562 als 555 556 557 558 559 560
G. Salomon-Delatour : Die Lehre Saint-Simons, a. a. O., S. 117. Ebd., S. 127. Ebd., S. 126. Ebd., S. 125 ff. Ebd., S. 127. R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 163; vgl. ebd., S. 164; S. 173 f., wo freilich auch Äußerungen in die Interpretation einbezogen werden, die nicht der Doctrine, sondern anderen Veröffentlichungen der Saint-Simonisten entstammen. 561 G. Salomon-Delatour : Die Lehre Saint-Simons, a. a. O., S. 211 f. 562 Ebd., S. 211.
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»allgemeine Leiter« eingesetzt werden. Welche in den Betrieben, individuelle Befähigungen und Leistungen beurteilend, die »am zweckmäßigsten einzunehmende Stelle anzuweisen« und so dem Grundprinzip des saint-simonistischen Ansatzes Ausdruck zu verleihen haben.563 Obzwar gleich den Saint-Simonisten auch Louis Blanc das bestehende Erbrecht als eine Einrichtung betrachtet, die es auf dem Weg zur Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden gilt, erweisen sich seine diesbezüglichen Äußerungen als wenig präzise.564 Ungleich deutlicher fällt demgegenüber die Kritik am Prinzip der freien Konkurrenz aus. Unumwunden erklärt er in der Einleitung zu seinem wohl bekanntesten Werk, der ›Programmschrift‹ über die »Organisation du travail«565 : Es sei sein Ziel, dieses Prinzip zu »untergraben« und »die Industrie der Herrschaft des Gewährenlassens, des laisserfaire et laisser-passer zu entreissen«.566 Entspreche diesem Grundsatz doch eine Form von Freiheit, die allein jenen wenigen Vorteil und Genuss verschaffe, die beträchtliche Vermögenswerte ihr eigen nennen können. Allen anderen, zumal den Angehörigen der Arbeiterklasse, »welche weder Grund und Boden, noch Kapitalien, noch Kredit, noch Bildung«567 besäßen, eröffneten sich unter den Bedingungen ungezügelter Konkurrenz mitnichten irgendwelche Handlungsspielräume. Somit sei diese vermeintliche Freiheit dem Vorteil des Stärkeren und Geschickteren vergleichbar, der auf dem Boden der natürlichen Verschiedenheit der Kräfte in unzivilisierten Gemeinschaftsformen vergangener Zeiten die »abscheulichste Unterdrückung« darstellte.568 »In der jetzigen wirtschaftlichen Ordnung sehen wir an Stelle der Ungleichheit der physischen Kräfte die Ungleichheit der Mittel zur Entwickelung; an Stelle des Kampfes Körper an Körper den Kampf des Kapitals mit dem Kapital, an Stelle des Missbrauchs der körperlichen Überlegenheit den Missbrauch einer auf Übereinkunft beruhenden Überlegenheit; an Stelle des schwachen den unwissenden Menschen; an Stelle des unfähigen den armen. Wo ist da die Freiheit?«569
Für Blanc geht es freilich nicht allein um das Los der Arbeiter. Spricht er vom »Kampf des Kapitals mit dem Kapital«, so hebt dies ab auf einen den gesellschaftlichen ›Mittelstand‹ betreffenden, von diesem weitgehend undurchschaut 563 Ebd., S. 128. 564 Stuft Bambach Blancs Ausführungen zu diesem Thema generell als »weitschweifig« ein, unterliege es »indessen keinem Zweifel, daß ein individuelles Erbrecht an Produktionsmitteln mit seiner Konzeption völlig unvereinbar und von ihm auch nie intendiert worden ist.« R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 549. 565 L. Blanc : Organisation du travail, 9. Aufl. , Paris 1850. Ins Deutsche übersetzt v. R. Prager : L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O. 566 L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O., S. 16. 567 Ebd., S. 17. 568 Ebd. 569 Ebd.
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gebliebenen Prozess wirtschaftlicher Zerrüttung.570 Wer als Produzent am Wettbewerbsgeschehen teilnehme, gerate unter den zunehmenden Druck, die im Vergleich zum Angebot der Konkurrenten preisgünstigere Ware anbieten zu müssen. Mit drastischen Worten setzt Blanc diesen Zwang zur »Billigkeit« als die »Keule« ins Bild, »mit welcher die reichen Produzenten die weniger gut gestellten erschlagen«.571 »Die Billigkeit ist der Hinterhalt, in welchem das Monopol lauert, sie ist die Totenglocke für die mittlere Industrie, den mittleren Handel, das mittlere Eigentum: mit einem Wort, sie ist die Vernichtung der Bourgeoisie zu Gunsten weniger industrieller Alleinherrscher.«572
Droht dem Proletariat wie der Bourgeoisie letztlich das gleiche Schicksal, nämlich die sukzessive Zerstörung ihrer Existenzgrundlagen, ist dieser Hinsicht zufolge beiden Klassen »ein vitales Interesse«573 zu eigen, die bedrohliche Situation des ungezügelten Kampfes der wirtschaftlichen Kräfte zu überwinden. Auch Blancs Reformkonzept setzt auf die Initiative des Staates: Dieser solle ein »Ministerium des Fortschrittes« ins Leben rufen, dem die Aufgabe zufalle, die Bank von Frankreich, die Eisenbahn- und Bergwerksgesellschaften sowie das Versicherungswesen zu verstaatlichen. Ferner gelte es, ein System staatseigener Handelshäuser aufzubauen. Mit den damit dem Staat künftig zufließenden Einnahmen seien in allen wichtigen Sparten der Industrie wie im Bereich der Landwirtschaft Sozialwerkstätten genossenschaftlichen Charakters – sogenannte »ateliers sociaux« – zu gründen.574 Diese müssten sich dem »Grundsatze einer brüderlichen Solidarität« verpflichten, d. h., sich zur Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen bereit erklären, mittels derer ein Rückfall in die sozialen und wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten des Status quo ante verhindert werden soll. Im Vordergrund steht hier die Verwendung der erwirtschafteten Gewinne: Die Sicherstellung des Lebensunterhalts der sich zu Genossenschaften Zusammenschließenden erscheint ebenso in den Statuten wie die Bildung eines genossenschaftseigenen Kapitalstocks und die Gründung einer Versorgungskasse für Alter, Krankheit und Invalidität.575 Obwohl anfangs nur in geringer Zahl vorhanden, werden diese genossen570 »Als die Bourgeoisie gegen die alten Gewalten aufstand, und sie unter ihren wuchtigen Streichen zu Boden sinken sah, erklärte sie, dass diese alten Gewalten mit Blindheit und Unverstand geschlagen gewesen seien. Heute ist die Bourgeoisie in derselben Lage, denn sie sieht nicht, wie ihr Blut fliesst und wie sie selbst sich damit beschäftigt, sich die Eingeweide aus dem eigenen Leibe zu reissen.« Ebd., S. 74. 571 Ebd., S. 72. 572 Ebd., S. 72 f. 573 P. Keller : Louis Blanc und die Revolution von 1848, Zürich 1926, S. 79. 574 L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O., S. 88 f.; vgl. ebd., S. 151 f. 575 Ebd., S. 152 f.; vgl. ebd., S. 90 f.
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schaftlichen Werkstätten nach Blancs Überzeugung innerhalb eines friedvollen Wandlungsprozesses nach und nach an die Stelle privater Betriebe und Unternehmen treten576. Hier zeitige der Mechanismus der Konkurrenz durchaus positive Folgen: Die Genossenschaften träten den anderen Wettbewerbern gegenüber mit Angeboten preisgünstigerer und höherwertigerer Waren auf. Da sie ob ihrer Organisationsstruktur des »gemeinsamen Leben[s]« preiswerter produzierten und infolge der befriedigenderen existenziellen Situation »alle Arbeiter ohne Ausnahme das Interesse haben, schnelle und gute Arbeit zu liefern«.577 Somit sprächen die wirtschaftlichen Vorteile und die jedes Mitglied betreffenden Annehmlichkeiten der genossenschaftlichen Verbindungen für sich selbst. Eben diese Attraktivität bewirke eine unaufhaltsame Ersetzung privatwirtschaftlicher Produktionsstätten durch die genossenschaftlichen. Ein Vorgang »ohne Ungerechtigkeit« und »ohne unersetzliche Verluste«578, da sich die betrieblichen Umstrukturierungen unter finanzieller Absicherung durch staatliche Mittel vollzögen: »So würde der Staat, anstatt wie es jetzt jeder grosse Kapitalist ist, der Herr und der Tyrann des Marktes zu sein, zum Ordner desselben werden«.579 Sei eine Branche gänzlich in die Hand der Werkstätten übergegangen, habe eine Zentralwerkstätte darüber zu wachen, dass jene fortan nicht mehr im konkurrierenden Gegeneinander, sondern im solidarischen Miteinander wirtschafteten. Was schließlich zu einer, den landwirtschaftlichen Sektor mit einschließenden, »Solidarität sämtlicher Industrien«580 führe; insbesondere festgemacht an der Einrichtung eines durch alle Werkstätten getragenen Fonds, aus welchem Hilfe für die in Finanznot geratenen Genossenschaften zu leisten sei581. Stellt für Blanc der Inhalt des Fonds das »Gesamteigentum Aller«582 dar, kennzeichnet er die erwirtschafteten Erträge der Genossenschaften überhaupt als ein »Allen gemeinsames Eigentum«583. So erscheint auch das Eigentum an den Produktionsmitteln als gesellschaftliches Eigentum; im betonten Unterschied zur saint-simonistischen Position sollen diese nicht in den Händen des
576 577 578 579
580 581 582 583
Ebd., S. 98 f. Ebd., S. 97. Ebd., S. 99. Ebd., S. 98. Gerade seine »moralische Kraft« erlaube es diesem genossenschaftlichen System, »die Privatunternehmungen aufzusaugen, einzig und allein mit der Zustimmung und im Interesse der Besitzer, und so allmählich […] das allgemeine System des Landes zu werden«. Ebd., S. 145. Ebd., S. 101; vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 101; vgl. ebd., S. 149; S. 154. Ebd., S. 154; vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 144.
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Der Blick auf den Staat
Staates liegen.584 Generell verwahrt sich Blanc gegen den Vorwurf, »›den Staat als Eigentümer und Industriellen an die Stelle der ihres Besitzes entkleideten Besitzer zu setzen‹«.585 Dem Staat falle die Rolle des Initiators im gesellschaftlichen Wandlungsprozess zu: Die Bildung einer Genossenschaft soll für ein Jahr federführend begleitet und die inneren Angelegenheiten, wie insbesondere die Ämtervergabe, geregelt werden, um sie nach diesem Zeitraum in die Selbstverwaltung zu entlassen.586 Wenn diese Aufgabe eingreifender Hilfestellung bewältigt sei, habe der Staat nur mehr über die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu wachen587. Das Recht auf privates Eigentum bleibt dabei jenen erhalten, die nicht bzw. noch nicht in einer genossenschaftlichen Vereinigung organisiert sind. Innerhalb dieser will Blanc ein bloßes »Verfügungsrecht« gelten lassen, eingeschränkt »auf die persönlichen Gebrauchsgegenstände«.588 Eine solche besitzrechtliche Regelung hält er wohl für unabdingbar, um den konzeptionellen Grundsatz, demzufolge künftig »Jeder […] nach seinen Kräften produzieren und nach seinen Bedürfnissen konsumieren«589 soll, in der Wirklichkeit zur Anwendung bringen zu können.
b.
Die Kritik an den frühsozialistischen Konzeptionen: Fichtes Vorschlag einer Organisation des »Verkehrs« Zollt Fichte dem französischen Frühsozialismus besondere Anerkennung für die Thematisierung jener mit der Entstehung der Industriegesellschaft sich massiv verschärfenden sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten, mag es kaum überraschen, dass Nähe und Beistimmung Fichtes zu den von Blanc und den 584 Bambach hebt dies in seiner Darstellung des Blanc’schen Reformentwurfes eigens hervor: »[G]esellschaftliches sei keinesfalls staatliches Eigentum, eine ›soci¦t¦ propri¦taire‹ nicht mit einem ›etat propri¦taire‹ identisch, wie ihn sich etwa die Saint-Simonisten vorstellten.« R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 243. 585 L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O., S. 15. 586 Ebd., S.15 f. 587 »Das heisst, die einmal in Gang gesetzte Maschine würde von selbst weiter laufen. Der Staat hätte einzig und allein die Beobachtung der Satzungen zu überwachen, wie er die Beobachtung aller Gesetze überwacht.« Ebd., S. 268. 588 P. Keller : L. Blanc und die Revolution von 1848, a. a. O., S. 100. 589 L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O., S. 91 f; vgl. dazu wiederum die Erläuterung dieses Gedankens bei Bambach: »Die Fähigkeiten konstituierten die aktive Seite des Individuums, das, was die anderen, die Gesellschaft, billigerweise von ihm erwarten dürften; während die Bedürfnisse gleichsam die passive Seite darstellten, nämlich den Anspruch des einzelnen an die Gesellschaft. Demgemäß könne legitimerweise aus der Ungleichheit der Fähigkeiten nur eine solche der Pflichten, keineswegs aber eine der Rechte abgeleitet werden – der Befähigtere sei zwar zu größerer Leistung angehalten als der weniger Befähigte, könne aber deshalb keineswegs ein höheres Einkommen oder andere Privilegien beanspruchen.« R. Bambach: Der französische Frühsozialismus, a. a. O., S. 242.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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Saint-Simonisten vertretenen Positionen in erster Linie auf diesem Feld der Problemdiagnose auszumachen sind.590 Warnt er doch selbst vor den Auswirkungen des entgrenzten Kampfes um wirtschaftliche Vorteile. Die »schrankenlose Concurrenz« offenbare sich als »mangelhaftes, sich selbst aufhebendes« Prinzip, »denn je mehr es sich ausbildet, desto mehr vernichtet es seinen ursprünglichen Zweck, den Werth des Vermögens auf sichere Weise zu erhöhen«.591 Hier seien innerhalb der europäischen Staaten der freie Wettbewerb und die Entwicklung der Industrie »in ihren Maximen« nicht nur »zum schnödesten Unrecht«, sondern zu existenzbedrohenden Erscheinungen für die gesamte Gesellschaft geworden592. So sieht er in Blancs Stellungnahme zum ungezügelten Wettbewerbsgeschehen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Missständen einen gleichermaßen erfahrungsgesättigten wie wissenschaftlich genauen Zugriff. Was Blanc behandle, stelle nichts weniger als den »Knoten der socialen Frage und ihr zu lösendes Problem« dar.593 Ganz ähnlich klingt das Urteil über die Einsichten der saint-simonistischen Schule zu dieser Frage: Mit »höchster Evidenz« werde hier gezeigt, »dass maasslose Concurrenz der Industrie und des Capitals eine steigende Verarmung des Arbeiterstandes im Gefolge haben müsse, dass, wenn nicht dieser Gegensatz zwischen Capital und Arbeit getilgt werde, eine sociale Revolution die unausbleibliche Folge sei.«594
Über die Ergebnisse der diagnostischen Anstrengungen dieser frühsozialistischen Autoren hinaus zeigt sich Fichte mit der von ihnen vertretenen Auffassung einig, vor allem dem Staat die Aufgabe aktiver Missstandsbekämpfung an die Hand zu geben. Denn Fichte schreibt diesem die Möglichkeiten wie die Verpflichtung zu, der drohenden Pauperisierung immer größerer Bevölkerungsteile Einhalt zu gebieten.595 Ein Licht auf die zumindest im Grundsätzlichen vorhandene Übereinstimmung wirft dabei das Bestreben, den Vertretern der abgelehnten Eigentumslehre die Fehlerhaftigkeit einer Sichtweise deutlich zu 590 Es sei ergänzend angeführt, dass Fichte ebenso Charles Fouriers »durchdringenden und vorurtheillosen Scharfblick« lobt, mit dem dieser »die Unvollkommenheiten der gegenwärtigen Zustände« analysiere (Ethik 1, S. 767) wie Pierre-Joseph Proudhons »Kritik der bisherigen Unzulänglichkeiten«, die »auf ’s Eindringlichste […] geschildert werden«. Ebd., S. 802 f. 591 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 81. 592 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 777. 593 Ebd., S. 798. 594 Ebd., S. 760. 595 »Wenn es aber nöthig geworden ist, die Gesellschaft allmählig auf einer neuen Grundlage wieder aufzubauen, so kann dies nur vom Staate ausgehen, von daher, wo das Recht und die Macht ist« (ebd., S. 778). Der Staat habe »die Pflicht, jenes Unrecht auszugleichen, und jedem Staatsangehörigen zu dem was ihm gebührt, zu verhelfen«. Ebd., S. 777.
130
Der Blick auf den Staat
machen, die sie den Staat als bloßen Rechtsgaranten für die unbeschränkte Vermögensverfügung betrachten lasse. »[…] hier ist dem Irrthume einer kurzsichtigen, aber weitverbreiteten Mehrzahl auf das Entschiedenste entgegenzutreten, die es ›unbegreiflich‹ findet, wie man durch beschränkende Erbschaftsgesetze oder durch Vermögenssteuer mit steigender Progression u. dgl. die einseitige Anhäufung von Reichthümern zu erschweren wage, was in die unantastbarsten Rechte des Eigenthums und seiner Erwerbung eingreife, auf deren Wahrung es ja vor allem Andern ankomme; – welche vollends in der vorgeschlagenen Ueberwachung der Concurrenz durch den Staat, in der Beaufsichtigung des Verhältnisses zwischen Fabrikherrn und Arbeitern durch denselben und in ähnlichen Maassregeln die ›drückendste Vormundschaft‹ und eine ›unerträgliche Tyrannei‹ des Staates erblicken; – als ob die bisherige Tyrannei des Reichthums nicht noch viel drückender und wahrhaft unerträglich geworden wäre!«596
Um freilich den Verdacht einer inhaltlichen Parteinahme für sozialistische oder kommunistische Positionen auszuräumen, verweist Fichte in diesem Zusammenhang auf die Staatsphilosophien Johann Gottlieb Fichtes, Karl Christian Friedrich Krauses und Johann Friedrich Herbarts. Die jene ob der gesellschaftlichen Krisensituation anstehenden »ethisch-socialen Aufgaben« bereits durch ›wohlfahrtsstaatliche‹ Konzepte zu bewältigen suchten und damit keineswegs »den ›Communismus‹« lehrten, »wie man es ihnen vielleicht zu schlimmem Leumund nachsagen wird«.597 Trotzdem geht man nicht fehl, Fichte jenseits seines Beifalls für die ›Aufklärungsarbeit‹ der genannten Frühsozialisten eine Annäherung auch an einzelne ihrer programmatischen Zielsetzungen zu bescheinigen. Gelten ihm jene oben dargelegten Vorstellungen über die eigentumsrechtliche Neupositionierung des Gutes Arbeit als bedeutender Ansatz zur Veränderung des Gegebenen – mit dem eine »den sichern Unterhalt«598 gewährleistende Beschäftigung in Aussicht gestellt wird, die den persönlichen Fähigkeiten entgegenkommen und unter Berücksichtigung der individuellen Leistung eine den jeweiligen Bedürfnissen angemessene Vergütung erhalten soll599 –, zeigt dies insoweit eine dem saint-simonistischen und Blanc’schen Projekt der »Organisation der Arbeit« vergleichbare argumentative Stossrichtung. Auch dort geht es unter der Prämisse der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit wesentlich um die Gewähr eines hinreichenden Einkommens durch Arbeit und die Umsetzung 596 597 598 599
I. H. Fichte: Ethik 1, S. 777 f. Ebd., S. 778 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 82. Dementsprechend formuliert Fichte die an die staatlichen Organe gerichtete Forderung, »durch ein beständig erhaltenes Gleichgewicht zwischen Production und Bedürfniss, d. h. durch Beschränkung der unbedingten Concurrenz über das Bedürfniss hinaus, jeder eigenthümlichen Arbeitsleistung den ihr gebührenden Werth zu garantiren.« Ebd., S. 83.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
131
dieser Vorgabe, die den von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägten Befähigungen und Bedürfnissen Rechnung tragen will.600 Wenn Fichte also auch manche Zielvorstellung mit den französischen Frühsozialisten teilen mag: Die zum Vorschlag gebrachten Mittel zur Erreichung der Ziele lehnt er ab.601 Entschieden spricht er sich gegen den Plan der Saint-Simonisten aus, alle Strukturen wettbewerbsförmigen Wirtschaftens zu beseitigen und die Wirtschaft in ein Korsett staatlicher Verwaltung zu pressen. Bestimmten die staatseigenen Banken als ›Begünstigte‹ jeder Hinterlassenschaft und als Leitende der gesamten Produktionsmittel-Verteilung zugleich über die Existenzbedingungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, stellten sie damit die eigentliche »sittliche und rechtliche Macht des Staates« dar. Die Repräsentanten der jeweils zuständigen Banken erhielten auf diese Weise ein Maß an Verantwortung in die Hände gelegt, das die einzelnen Entscheidungsträger überfordere und zudem Tür und Tor für willkürliche wie missbräuchliche Handlungsweisen öffne.602 Somit steht nach Fichtes Ansicht im saint-simonistischen Programm einer »Organisation der Arbeit« der Einfluss und die Machtfülle staatlicher Organe dem Ziel der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit gerade entgegen. Ein Vorwurf, den Blancs Reformmodell nicht weniger trifft. Betreibe der bei der Einrichtung der Sozialwerkstätten als initiierende und regelverordnende Instanz auftretende Staat mittels »souveräner Gewalt« die sukzessive Ausschaltung privater Betriebe, werde er zum Alleinverteiler der Produktionsmittel.603 Das Resultat sei eine »absolute Despotie des Staatsmonopols«604, die jeden »Sporn des Wetteifers«605 unter den Werkstätten verhindere. Was Fichte zufolge nicht den Aufbruch in eine bessere Zukunft, sondern ob der fehlenden Anreize für gewinnbringendes Wirtschaften einen gleichfalls ungangbaren Weg verheißt. Der schon von Blanc als Antwort auf ähnlich lautende Kritiken gegebenen 600 Allerdings betrachtet Fichte den »eigentlich communistische[n] Grundsatz« – wobei speziell an die Auffassung Blancs zu denken ist –, »dass die Ungleichheit der Fähigkeiten« lediglich »grössere Pflichten, nicht grössere Rechte begründe«, als Fehleinschätzung der menschlichen Natur. Das dieser genuin zugehörige Moment der »Selbstliebe« werde damit ignoriert und psychische Gegebenheiten, die nur einer »Gemeinschaft der Heiligen« zukämen, vorausgesetzt. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 760. 601 Zum Übergang des französischen Kommunismus in »seine politische Phase« merkt er beispielsweise an, die gestellten Forderungen ließen »einen wesentlichen Fortschritt erkennen, ebensowohl gegen das wilde Gebahren des revolutionären Communismus, als den alten Staatsbegriffen gegenüber, nach welchen dieser (der Staat, W. S.) sich um den Erwerb der Einzelnen Nichts zu kümmern habe. Wir müssen nur die politischen Mittel dazu verwerfen, ebenso die Auffassung der socialen Frage darin theils für mangelhaft, theils in ihrem Ziele für unausführbar erklären.« Ebd., S. 794 f. 602 Ebd., S. 757. 603 Ebd., S. 798. 604 Ebd. 605 Ebd., S. 799.
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Der Blick auf den Staat
Klarstellung, die Werkstätten würden nach dem ersten Jahr staatlicher Führung in die Selbstverwaltung entlassen, hält Fichte unter Hinweis auf die »Rangordnung der Beschäftigungen« in allerdings nicht gerade überzeugender Weise entgegen, eine solche Rangordnung durch Wahlentscheid von Seiten der Arbeiterschaft festlegen zu lassen, bedeute, dass »die Anarchie permanent werden müsste«606 : »Die unmittelbaren Gewinn versprechenden Beschäftigungen würden immer die Majorität finden und so wäre für die Organisation der Industrie schon in ihrem Keime die Unordnung, das Missverhältniss erzeugt.«607
Überhaupt zeige sich »der gründlichste praktische Beweis von der Unausführbarkeit des Socialismus« in dessen Verkennung bestimmter motivationaler Gegebenheiten im »gegenwärtigen Culturstande der Gesellschaft«.608 Die unter anderen von den Saint-Simonisten propagierte Abschaffung des Erbrechtes stelle dafür das herausragendste Beispiel dar, zumal damit »das Recht der freien Vermögensverfügung« im Ganzen aufgehoben werde. Nehme man »den Arbeitern den mächtigsten Antrieb des Fleisses und der Erwerbsneigung«, nämlich »die Aussicht, für sich und die Seinigen ein Erspartes bei Seite zu legen«, käme jede für das Wirtschaftsgeschehen notwendige Tatkraft und Initiative zum Erliegen, was mittelbar dem Gemeinwesen selber schade.609 Wirklich Erfolg versprechende Maßnahmen dürften also das Moment des wohlverstandenen Eigeninteresses nicht ausblenden. Zwar müsste – wie gezeigt – nach Fichtes Verständnis der Staat durch bestimmte gesetzliche Regelungen die Sozialpflichtigkeit der Eigentümer im Umgang mit ihren Kapitalien einfordern und die innerbetriebliche Mitverantwortung der Beschäftigten stärken. Damit seien jedoch in Sicht auf den ökonomischen Bereich im Besonderen keine weiteren, den freien Wirtschaftsverkehr einschränkenden Schritte gefordert. Das Wettbewerbsprinzip soll erhalten bleiben; der Staat habe eben nicht als Steuerungsinstanz aufzutreten, die selbst über Zuteilungen von Produktionsmitteln und Beschäftigungsmöglichkeiten bestimme. Fichtes Vorschlag zielt vielmehr auf einen durch die Beseitigung der vorhandenen Dysfunktionen 606 Ebd., S. 798 f. 607 Ebd., S. 799. Fichtes Einwand will denn auch gar nicht die Mitbestimmung der Werktätigen innerhalb ›freier Assoziationen‹ – als deren überzeugter Vertreter er sich selbst darstellt – treffen, sondern Blancs Vorstellungen zur Veränderung der politischen Verhältnisse im Staat. Sieht Blanc für den Erfolg der Reformen die Durchsetzung demokratischer Strukturen als unabdingbar an (L. Blanc: Organisation der Arbeit, a. a. O., S. 14 f.), spricht sich Fichte hier gegen die »demokratische und sociale Republik, auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes« aus, deren Zeit er noch nicht für gekommen hält. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 798. Vgl. unten: Kap. IV. 3.; Kap. IV. 5. C. b. 608 Ebd., S. 759. 609 Ebd.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
133
stabilisierten Markt, der möglichst faire Bedingungen für alle Teilnehmer bietet. »Nicht die ›Arbeit‹«, lautet hier die Formel, »soll organisirt werden, sondern der Verkehr.«610 In diesem Sinne zeichne sich eine ›kontrollpolitische‹ Begleitung des Wirtschaftsgeschehens wesentlich durch Maßnahmen der Informationsbereitstellung aus. Um den zerstörerischen Auswüchsen des Wettbewerbs ein Ende zu setzen, benötige man keine regierungsamtlichen Direktiven, die z. B. die Warenpreise verbindlich festsetzten, sondern ein das »Verhältniss zwischen Production und Consumtion« dokumentierendes Transparenthalten des Marktes durch den Staat.611 »Vom höchsten Punkte der Uebersicht über alle Kreise der Beschäftigungen kann er allein bestimmen, wo die Concurrenz zu hoch gespannt, wo dagegen Mangel und Bedürfniss ist. Der Gesammtbedarf jedes im Umkreise des Staatsgebietes zu gewinnenden oder von Aussen zu beziehenden Natur- und Arbeitsproductes muss ihm bekannt sein, ebenso kann er wenigstens annähernd den Gesammtertrag kennen, den das eigene Land liefert. Die Durchschnittsparallelen von beiden müssen in bestimmten Zwischenräumen öffentlich bekannt gemacht werden, als das Normirende und in Gleichgewicht Bringende alles Verkehrs. […] Wir enthalten uns darüber mit Absicht einzelner Vorschläge, sind aber überzeugt, dass das Princip einer solchen ›Organisation des Verkehrs›, wenn es nach allen Seiten ausgebildet würde, einer allharmonisirenden Vorsehung gleich, ohne irgendwo zwingend oder gebietend einzugreifen, alle Theile der landwirthschaftlichen und industriellen Thätigkeit leitend überwachen könnte. Hierauf ist jedoch unserer Meinung nach der Einfluss des Staates, als der centralisirenden Macht, zu beschränken.«612
Unterschätzt Fichte offensichtlich die Schwierigkeiten, eine verlässliche wirtschafts- bzw. bevölkerungsstatistische Abbildung der Bedarfslagen eines ganzen Staatsvolkes zu erstellen, so überschätzt er die Möglichkeiten, durch die Veröffentlichung der von ihm bezeichneten Größen eine den Markt weitgehend regulierende und koordinierende Wirkung zu erzielen. Zum ersten verhindert die Fülle der auf der Nachfrageseite vorhandenen Unwägbarkeiten eine realistische Bedarfserfassung solchen Ausmaßes. Zum zweiten kommen die der Wettbewerbswirtschaft innewohnenden, einem Ausgleich zwischen den beteiligten Kräften entgegenstehenden Tendenzen zum Tragen: Genannt seien nur die in Monopolbildungen ihren Ausdruck findenden Konzentrationen wirtschaftlicher Macht. Freilich erklärt sich die überaus optimistische Erwartung, die Fichte mit der Erstellung durchgängig verfügbarer Marktübersichten verbindet, nicht allein aus einer weniger strengen Bewertung der die entstehende Industriegesellschaft 610 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 84. 611 Ebd. 612 Ebd., S. 90 f.
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Der Blick auf den Staat
kennzeichnenden, sich insbesondere in den Mechanismen der hochkapitalistischen Wirtschaftsformation manifestierenden Dynamik.613 Dieser Optimismus erhält zudem Verstärkung aus jener Grundhinsicht seines ethischen Weltverständnisses, der zufolge Individualinteressen und kollektive Belange letztlich zum Ausgleich zu bringen sind, weil menschliches Leben durch die »eingeschaffene Urbeziehung« zwischen den Individuen immer schon auf eine Existenz in wechselseitiger Ergänzung angelegt sei.614 Ein Grundsatz, der für Fichte auch im wettbewerbsorientierten Spiel von Angebot und Nachfrage nicht seine Gültigkeit verliert. Der dort allerdings erst bedeutsam werde, wenn ein gewisses Maß an Klarheit herrsche über die Bedarfsstrukturen der Bevölkerung und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Gemeinwesens. »Das durchgreifende ethische Lebensgesetz, dass Individualität und Gemeinschaft in ihrem höchsten Ziele sich nie widersprechen, sondern Jedes nur durch das Andere zur Gesundheit und Vollkommenheit gedeihen könne; – dies Gesetz muss auch im allgemeinen volkswirthschaftlichen Leben sich bewähren: es muss praktisch klar werden, dass zwischen dem eignen Interesse und dem Interesse der Andern kein wahrer Gegensatz sei, dass vom höchsten Standpunkte eines allseitigen und wohlorganisirten Verkehrs die Verarmung des Andern mittelbar gewiss mir selber schade. Auch in diesen Verhältnissen muss der bloss negative Vertragsstandpunkt, noch mehr die rohe, vernunftwidrig sich selber zerstörende Schrankenlosigkeit der Concurrenz verschwinden und dem Principe ergänzender Gemeinschaft Platz machen.«615
Einmal mehr setzt Fichtes Problemlösungsstrategie auf die Wirksamkeit jener der Natur des Menschen eingeschriebenen Momente, die diesen nach seinem Verständnis für ein Dasein im sozialen Miteinander auszeichnen. Insofern erscheint es ihm durchaus konsequent zu sein, gegenüber den frühsozialistischen Modellen den Erhalt marktwirtschaftlicher Strukturen nebst der Sicherstellung von Leistungsanreizen zu befürworten. Und unter Hinweis auf die Potenziale menschlicher Soziabilität zugleich die Eindämmung der destruktiven Auswüchse des grundsätzlich als sinnvoll verstandenen Wettbewerbssystems zur Forderung zu erheben. Fichte bleibt seiner argumentativen Grundlinie treu: Das Bemühen um Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit muss der ›urgegebenen‹ menschlichen Befähigung zur kooperativen Daseinsgestaltung Geltung verschaffen und 613 Eine Fehleinschätzung, die umso mehr überrascht, als Fichte Proudhons Vorschlag zu einem System der gerechteren Arbeits- und Vermögensbewertung mit einer Argumentation widerspricht, die sehr wohl ein Bewusstsein von der Komplexität des Marktgeschehens offenbart: »Sogar dem Staate ist es unmöglich, bei den unendlichen Complicationen aller Verkehrsverhältnisse das Allgemeine und das Einzelne so zu überblicken, um jedes Arbeitsproduct in jedem Augenblicke auch nur annähernd nach seinem gerechten und sichern Werthe zu fixiren.« Ebd., S. 98. 614 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 31. 615 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 330 f.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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hat dabei auch der gleichermaßen ursprünglichen Besonderheit der Einzelnen Rechnung zu tragen. Doch sei diese Aufgabe eben nur mit einer Revision der eigentumsrechtlichen Bestimmungen zu leisten. Eigentumssicherheit soll in Zukunft vor allem bedeuten, dass jedes arbeitsfähige Gesellschaftsmitglied den Lebensunterhalt durch eine seinen eigentümlichen Begabungen und seinem individuellen Können entsprechende Arbeitsleistung zu verdienen vermag. Dieses Ziel kann nach Fichtes Dafürhalten nur erreicht werden, wenn sich der Staat hier einer weiteren, mit jenem Ziel auf das Engste verknüpften Aufgabe stelle: wenn er seine Anstrengungen auf dem Terrain der Bildungspolitik entschieden vermehre. Sich Wissen aneignen und daraus erwachsende Orientierungschancen nutzen zu können, gehört laut Fichte zu den wesentlichen Voraussetzungen, um die Frage der Eigentumssicherung, die er ja als das drängende »sociale und […] ökonomische Problem der Gegenwart«616 erachtet, einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Unabdingbar für die personale Entwicklung wie für die berufliche Qualifikation der Einzelnen, ist Bildung seinem Verständnis zufolge »einer der Haupthebel, um uns über die drohende Gefahr und Hülflosigkeit der Gegenwart stätig und sicher in den bessern Zustand hinüber zu schwingen«.617
4.
Die Wegmarken einer Bildungsreform
A.
Fichtes Bildungsbegriff
Schon Jahre vor dem Erscheinen der Ethik deutet Fichte in der programmatischen Schlussbemerkung eines Zeitschriften-Artikels an, wo wesentliche Ansatzpunkte für eine erfolgreiche bildungsreformerische Offensive zu verorten seien: »Die künftige Pädagogik, nicht bloß als Wissenschaft, sondern als Kunst, wird den schlummernden Genius aus jeder versteckten Form und aus allen Verdunkelungen, mit welchen die lastenden Verhältnisse ihn umgeben, an’s Licht zu bringen und zu bilden haben, und der künftige Staat hat eine freie Sphäre des Wirkens jeder Eigenthümlichkeit zu gewähren.«618
Nicht zufällig verweist das Zitat auf die Genius-Lehre: Die Besonderheit jedes Menschen als dessen »eigengeartete Erkenntniss-, Gefühls- und Willensrichtung«619 kennzeichnend, stellt dieses das Fichte’sche Verständnis menschlichen 616 Ebd., S. 78. 617 Ebd., S. 86. 618 I. H. Fichte: »J. G. Fichte und Schleiermacher, eine vergleichende Skizze«, in: ZPsT, Bd. 15 (1846), S. 112 – 146, hier : S. 146. 619 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 23. Zur Genius-Lehre vgl. oben: Teil 2, Kap. I.
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Der Blick auf den Staat
Person-Seins grundlegende Theorem auch den Dreh- und Angelpunkt seines Bildungsbegriffes dar. Bildung erscheint als Prozess sukzessiver Entfaltung der je individuellen, ›genialisch‹ vorgeprägten Fähigkeiten während der verschiedenen Lebensphasen. Gehe es in den ersten Lebensjahren um die Weckung dieses IndividuellBesonderen aufgrund der elterlichen vorschulischen Erziehung, folge darauf die »Ausbildung der Persönlichkeit, des ›Genius‹ in Jedem« durch einen möglichst »kunstgemässen allanregenden Unterricht«, auf deren Boden gerade auch ein Bewusstsein für die gottgegebene Verbundenheit aller Genien, mithin die allmähliche Verwirklichung der »ethische[n] Idee der Menschheit« gedeihen soll.620 Es nimmt demnach nicht wunder, wenn Fichtes bei der weiteren Ausfaltung seines Bildungsbegriffes neben der »politische[n]«621 und »technisch[en]«622 insbesondere die »sittlich-religiöse«623 Bildung in den Vordergrund rückt. Der schulisch geprägte Lebensabschnitt hat nach Fichtes Vorstellung mit einer Berufswahl seinen Abschluss zu finden, die die vorhandenen persönlichen Talente berücksichtige. Letztlich müssten die Einzelnen im Vorhinein über den ihren Begabungen entsprechenden Beruf »in sich klar, für diesen vorgebildet sein«.624 Umso leichter könne nämlich die als »eigenthümlich sittliche Lebensaufgabe«625 geltende berufliche Tätigkeit der nun im Sinne bewusster »Selbstbildung«626 zu vollziehenden personalen Vervollkommnung dienen. Scheint hier der Geist neuhumanistischen Bildungsdenkens auf, dessen »philosophisch gebildete Praktiker« sich an den »Leitkategorien der Zweckfreiheit und Selbstkultivierung, der Individualität und Totalität«627 ausrichteten, macht sich überdies ein vornehmlich durch Hegel geprägtes Bildungsverständnis bemerkbar, welches »die Enge des neuhumanistischen Bildungsbe620 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 817. – Fast zwei Jahrzehnte später führt Fichte seine diesbezüglich denkbar knappen Äußerungen dahingehend näher aus, dass Erziehung über »jedes Nützlichkeitsbedürfniß hinaus das rein und allgemein Menschliche zu ihrer Grundlage« zu machen habe. Jedem Individuum müsse »wenigstens annäherungsweise Alles geboten werden, was zur allgemeinen Menschenbildung gehört und was seine besondern Anlagen fordern oder zu bewältigen vermögen«. I. H. Fichte: Die nächsten Aufgaben für die Nationalerziehung der Gegenwart, mit Bezug auf Friedrich Fröbels Erziehungssystem, Berlin 1870, S. 2. 621 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 240. 622 Ebd., S. 87. 623 Ebd., S. 93; vgl. Ethik 1, S. XII. 624 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 300. 625 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 93. 626 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 137. »Denn ›Beruf‹ ist eben die mit Bewusstsein ergriffene sittliche Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft; die durch ›Selbstvervollkommnung‹ immer gesteigerte Darstellung des Genius in und für diese Gemeinschaft.« Ebd., S. 273. 627 G. Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1994, S. 145.
Soziale Frage und soziale Reform: Der wohlfahrtsorientierte Staat
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griffs« durchbricht: »[W]ird doch die Vorstellung vom ›tätig werden des Geistes‹ mitten in der beruflichen Praxis angesiedelt«.628 Mithin offenbart sich bei Fichte hinsichtlich der Bildungsthematik eine innere Verzahnung von Zweckfreiheit und Nutzenorientierung. Ist die personale Entwicklung der Einzelnen als ein um ihrer selbst willen stattfindender Prozess zu verstehen, scheut Fichte gleichwohl nicht die technisch-berufliche Dienstbarmachung der Bildung. Er sieht darin vielmehr einen wesentlichen Aspekt dessen, was er als die künftige »sociale Organisation der Eigenthumsverhältnisse« verstanden wissen will. Innerhalb der staatlichen »Rechtsgemeinschaft« müsse dafür Sorge getragen werden, dass nach Möglichkeit alle arbeitsfähigen Erwachsenen ein materielles Auskommen durch eine ihrer Talentierung entgegenkommende Berufstätigkeit fänden.629 Denn nur denen, die mit der entsprechenden Vor- und Ausbildung den »festen Mittelpunkt« einer beruflichen Stellung erreichten, könne von dieser Position aus das entschiedene Zugehen auf »alles andere Sittliche und Culturbringende«630 gelingen. Die für die Aufgabe ihrer Selbstvervollkommnung Aufgeschlossenen, die aus dieser Haltung heraus auch für das Wohl der Mitwelt tätig seien: »[D]as wahre Eigenthum liegt in der intensiven, gewissenhaften Arbeitsleistung und der würdigste Eigenthümer ist der sittliche Mensch.«631 B.
Die bildungspolitischen Aufgaben des Staates
Das zuletzt Thematisierte wirft auch ein Licht auf den abschließenden Halbsatz der oben zu Beginn des Kapitels über Fichtes Bildungsbegriff zitierten programmatischen Einlassung; auf jenen Halbsatz, der die von staatlicher Seite zu schaffenden äußeren Bedingungen für das Beschreiten des skizzierten Bildungsweges anspricht. Denn die geforderte »freie Sphäre des Wirkens jeder Eigenthümlichkeit« meint hier nicht eigentlich die negative Freiheit individuellen Handelns oder Unterlassens innerhalb bestimmter rechtlich gesicherter Grenzen. Das Augenmerk liegt auf den Bedingungen, die Fichte als die wesentlichen ›urrechtlichen‹ Voraussetzungen positiver Freiheit begreift. Sind folglich Voraussetzungen gemeint, die, mit Fichtes Worten, der Verwirklichung des »freien Genius«632 Raum geben sollen, so ist heute in solchem Zusammenhang von »soziale[n] Rechte[n]« als »Anspruchsrechte[n]«633 die Rede, 628 629 630 631 632 633
Ebd., S. 133. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 68. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 300. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 68. Ebd., S. 65. Vgl. oben: Teil 1, Kap. IV. 1.; Teil 2, Kap. II. 1. A. G. Wildfeuer : »Um der Freiheit willen: Zur legitimationstheoretischen Rekonstruktion eines originären Erziehungs- und Bildungsauftrages des freiheitlich-demokratischen Ver-
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Der Blick auf den Staat
»bei denen es um das Recht auf jene Chancen und Mittel geht, die erforderlich sind, damit die Person nicht nur formal frei ist, sondern auch die Möglichkeit erhält, ihre Freiheit im Sinne eines menschenwürdigen Lebensplans zu realisieren, mithin der eigenen Vorstellung vom Glück und vom gelingenden Leben zu folgen (status positivus).«634
Angesichts der in unserer Zeit ja nicht unumstrittenen Konzeption positiver Freiheit – die bereits angesprochenen Vorbehalte Isaiah Berlins635 »bestimmen nach wie vor die skeptische Haltung vieler Philosophen gegenüber einem positiven Freiheitsverständnis«636 – gilt es anzumerken: Was Fichte unter der Vorstellung positiver Freiheit fasst und was er infolgedessen für die Realisation derselben einfordert, gerät nicht – auch nicht ›unter der Hand‹ – zur Rechtfertigung eines gouvernantenstaatlichen Zugriffs auf die Entwicklungsbedingungen der Einzelnen. Gerade angesichts der programmatisch unterlegten Schulpraxis der ›Reaktion‹, das wird im Weiteren noch deutlicher werden, sind hier keine staatspolitisch motivierten Zielsetzungen intendiert. Es geht vielmehr um Chancengerechtigkeit, um gleiche Möglichkeiten des Einstiegs in jenen Bildungsprozess, der nach Fichtes Auffassung Menschen zu einer eigenverantwortlichen und charakterfesten Persönlichkeit formen könne, sofern er mit den Herausforderungen dauerhafter Berufsarbeit seine Vollendung finde. »Der Staat hat daher die Verpflichtung Jedem, bei freier Berufswahl, das Mittel zu verschaffen, sich zum möglichst vollkommenen Arbeiter zu bilden, – wodurch er auch […] der möglichst vollkommne Mensch werden wird nach seiner Art und Grundanlage. Ein System von Bildungsanstalten für das ganze Volk, für beide Geschlechter, ist daher die erste und wichtigste Pflicht des Staates.«637
634 635 636 637
fassungsstaates«, in: U. Nothelle-Wildfeuer ; N. Glatzel (Hrg.): Christliche Sozialethik im Dialog, Grafschaft 2000, S. 297 – 316, hier : S. 303. Ebd. Vgl. oben: Teil 1, Kap. IV. 1. H. Pauer-Studer : Art. ›Freiheit‹, in: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie (hrg. v. S. Gosepath; W. Hinsch; B. Rössler), Bd. 1, Berlin 2008, S. 334 – 340, hier: S. 335. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 86. – Obgleich Wolfgang Kersting die Skepsis gegenüber dem positiven Freiheitsverständnis teilt, da »die Ordnung der positiven Freiheit mit Notwendigkeit zu einem etatistischen Maximalismus« tendiere (W. Kersting: Der liberale Liberalismus, Tübingen 2006, S. 23), beschreibt er aus heutiger Sicht durchaus treffend das, was Fichte im Kern mit dieser Freiheitsauffassung verbindet. Eine sowohl in der allgemeinen, ›den Menschen überhaupt‹ formenden, wie in der speziellen beruflichen Bildung gegebene Selbstvervollkommnungsmöglichkeit: »Das grundlegende Freiheitsrecht der Individuen umfaßt nicht nur das durch rechtsstaatliche Garantien gesicherte Recht, innerhalb der Grenzen allgemeiner Gesetze in seinem Willkürgebrauch durch fremde Willkür nicht gehindert werden zu dürfen; es umfaßt auch das Recht, innerhalb dieser Grenzen auch seine Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, sich vervollkommnen zu dürfen. […][M]enschliches Leben birgt in sich die Möglichkeit der Selbstentwicklung, der Selbstentfaltung und der Selbsterfüllung. […] Dann bestehen lebensethisch entgegenkommende Verhältnisse, wenn ein allgemein zugängliches und vertikal wie horizontal hinreichend ausdifferen-
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Das soll nicht heißen, die politisch Verantwortlichen hätten diese Aufgaben schlicht ignoriert. Sehr wohl habe sich der Staat, seit das Christentum zur bestimmenden Kulturmacht geworden sei, der »Volksbildung« angenommen.638 »Dennoch hielt er bisher ihre Pflege nur für eine seiner Nebenpflichten, während er sich einbildete, vieles Andere: mächtige stehende Heere, auswärtiger Einfluss, starke politische Bündnisse und dergl., seien seine Hauptpflichten und dafür sei das Staatsgut zuerst zu verwenden. Anders wird es, wenn er dieses Irrthums inne geworden, wenn er deutlich erkannt hat, wie ihm bis zur Evidenz erwiesen werden kann, dass ein sittlich und technisch allseitig durchbildetes Volk die stete Quelle von Reichthum und Glück in sich selber habe und dass es von Aussen schlechthin unbesiegbar sei. Nichts verhindert aber, dass diese Einsicht nicht zur Stunde unsere Staatslenker ergreife und von nun an die leitende Maxime ihres politischen Handelns werde, noch dazu wenn sie sich überzeugen, dass dies Mittel das einzige sei, um die gegenwärtige Gesellschaft vor dem Untergange zu retten. Die stehenden Heere und ihre Polizeigewalt zur innern Bändigung der widerstrebenden Kräfte sind dies Mittel nicht!«639
Wenngleich Fichte seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, durch entsprechende Impulse könne schon bald eine bildungspolitische Neuorientierung angestoßen werden, muss die abschließende Formulierung in einem den offensichtlichen Optimismus dämpfenden Sinne gelesen werden. Sie ist einmal mehr ein Fingerzeig auf jenes gesellschaftliche Klima, in dem »jede selbstständige Regung von Unten her sogleich misstrauisch überwacht wird und alsbald mit der ›Policei‹ […] in Collision geräth«.640 Es sind im Besonderen die obrigkeitlichen Restriktionen gemeint, die nach dem Scheitern der Revolution von 1848 diverse Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens betrafen. Das deutsche Schulwesen, hier vornehmlich in Betracht der niederen Schulformen, stellte dabei keine Ausnahme dar : »Die Schulverordnungen der fünfziger Jahre schnürten […] in Preußen wie in fast allen deutschen Staaten den Lehrstoff der Seminare und den Lehrbetrieb in den Schulen engstirnig ein«. Insbesondere »die Volksschule wurde als Brutstätte des revolutionären Ungeistes« betrachtet, so dass »der restaurative Rückschlag das Elementarschulwesen jahrelang mit auffälliger Härte« traf.641 Demgegenüber blieben die Gymnasien von einschneidenderen Maßnahmen weitgehend verschont. Die »revolutionsfeindliche oder -skeptische Mehrheit« der gymnasial gebildeten Verantwortungsträger im Staate nahm nämlich durchaus davon
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ziertes Erziehungs- und Ausbildungssystem besteht, ich dem jedem Individuum die Chance gegeben wird, sich seiner Begabung und seinen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und selbstwertsteigernde Kompetenzen zu erwerben.« W. Kersting: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, a. a. O., S. 372. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 86. Ebd., S. 86 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. XL. H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 22006, S. 396 f.
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Der Blick auf den Staat
Abstand, »die abstrakten Lehren ihrer Schule für den Bürgerkrieg haftbar zu machen«.642 Dahingestellt bleiben muss, ob Fichte von dem Unterschied zwischen der staatlichen Behandlungsart des Elementarschulwesens und der des gymnasialen Schulbetriebs überhaupt Kenntnis genommen hat; zu vermerken sind keine diesbezüglichen Äußerungen. Fichte schreibt – getreu der Maxime: Es geht um philosophische Grundhinsichten – in einer insgesamt eher generalisierenden Perspektive, die freilich mehr das niedere und das der Berufsvorbereitung dienende Schulwesen in den Blick nimmt. Daher dürfte ihm sehr wohl bekannt gewesen sein, dass in Preußen, nachdem man 1848 einige »schulpolitische Grundsätze in den Rang von konstitutionellen Normen im Grundrechtekatalog« erhoben und ein »umfassendes ›Unterrichtsgesetz‹« für den Volksschulbereich »als Verfassungsauftrag fixiert« hatte, der »Anlauf, es auf den Gesetzgebungsweg zu bringen«, bereits 1850 scheiterte.643 War das preußische Volksschulwesen im 19. Jahrhundert immerhin »Modell oder Vorreiter für die meisten deutschen Staaten«644, so mag Fichte sich auf diese realpolitischen Vorgänge beziehen, wenn er im Rahmen der Forderung nach einer – als »Theil der Grundverfassung des Staates« gedachten – »umfassenden Culturgesetzgebung« den Erlass einer die »gesammte Volkserziehung« einschließenden »Schul- und Studienordnung« anmahnt.645 Diese Gesetzgebung soll dann auch basale Richtlinien zur Schaffung eines funktionstüchtigen »System[s] allgemeiner Volks- oder Vorbereitungsschulen« enthalten, die die Kenntnisse für den Besuch weiterführender Fachund Berufsschulen vermitteln.646 »Wollte der Staat nun daneben noch Bildungsanstalten für besondere Stände errichten (Adels-, Cadettenschulen und dergl.): so wäre dies nicht nur überflüssig, sondern absolut widersinnig; denn es würde der freien Neigung und der unbeschränkten Berufswahl, den ersten Bedingungen aller gelingenden Erziehung und Bildung, ins Angesicht widersprechen.«647
Für Fichte besteht »die grosse Aufgabe einer Staatspädagogik«648 eben darin, jedem Gesellschaftsmitglied die Chance auf schulischen Wissenserwerb jenseits ständischer, geschlechtlicher und finanzieller Schranken zu eröffnen; so müsse beispielsweise den materiell schlechter gestellten Familien das Schulgeld erlassen werden. Auch habe der Staat seine Verpflichtung anzuerkennen, qua Bereitstellung entsprechender Haushaltsmittel »alle Unterrichtsanstalten äusser642 643 644 645 646 647 648
Ebd., S. 405 f. Ebd., S. 398 f. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 463. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 337 f. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Ebd., S. 338.
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lich vollständig, innerlich in möglichster Vollkommenheit zu erhalten«. Das heißt: Das System der zugelassenen Schulformen soll dahingehend reformiert werden, dass erstens das Lehrpersonal eine seinen Aufgaben angemessene Ausbildung und Besoldung erhalte, dass zweitens durch die Erhöhung der Zahl der Lehrenden Probleme wie das überfüllter Klassen beseitigt würden und dass drittens allen Schulen eine Ausstattung mit möglichst hochwertigen Lehrmitteln zukomme.649 Schließlich legt Fichte den Verantwortlichen im Staate nahe, sich auch der Durchsetzung der Schulpflicht anzunehmen und die Eltern »dazu anzuhalten, die Theilnahme an allen vom Staate eingerichteten Bildungsanstalten ihren Kindern zuzuwenden«650. Sahen sich die Familien doch oftmals mit dem Anreiz, ja der bloßen Notwendigkeit konfrontiert, statt die Kinder zur Schule zu schicken, sie Tätigkeiten verrichten zu lassen, die der Sicherung des Lebensunterhaltes dienten. Demgegenüber muss der Staat nach Fichtes Auffassung seinen Bildungsauftrag ernst nehmen und stützende Maßnahmen in die Wege leiten, mit denen die Entscheidung für oder gegen regelmäßigen Schulbesuch nicht allein »dem mangelhaften Urtheil befangener Aeltern«651 überlassen bleibe. Fichte fordert mithin ein Schulwesen, das in der Lage ist, durch effektive und vorausschauende Maßnahmen das Bildungsniveau besonders in den unteren Bevölkerungsschichten zu steigern. Alsbald zum Verschwinden gebracht werden soll so vor allem das auffälligste Phänomen individueller Mangelbildung: der auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch regional mehr oder minder stark verbreitete Analphabetismus.652 C.
Die Grenzen des staatlichen Zugriffs
Fichte geht es also einerseits um die Optimierung der Leistungsfähigkeit der Schulen, ja des gesamten Bildungssystems durch eine aktive bildungspolitische 649 Ebd., S. 207; S. 252. – Zu den diesbezüglichen Problemlagen im damaligen Elementarschulwesen, nicht zuletzt mit Blick auf die »einklassige Dorfschule«, vgl. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 465. »Die Ausbildung der Lehrer war […] oft dürftig (schon infolge des Fehlens einer Vorbildung), es gab viele ›Halbgebildete‹; entsprechend war der Unterricht. Ein wesentlicher Grund für die Mängel war die miserable Bezahlung – unter der eines ›Facharbeiters‹ oder eines Gendarmen und auf dem Lande nur wenig über der eines Tagelöhners.« Ebd. 650 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 205. 651 Ebd., S. 207. 652 »In Preußen kann man für 1850 schätzen, daß noch etwa 20 % der Bevölkerung über 10 Jahre Analphabeten sind. […] mehrheitlich natürlich die Alten, etwas mehr Frauen als Männer, mehr Leute auf dem Lande und im Osten als in der Stadt und im Westen. Und diese Schätzungen treffen in etwa auch für die anderen deutschen Länder zu – mit einem gewissen Nachhinken der Sudetenländer, der Alpenländer, beider Mecklenburg.« T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 463.
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Der Blick auf den Staat
Förderung in den bezeichneten Bahnen. Andererseits habe sich der Staat hinsichtlich seiner Neigung zur Einflussnahme auf den Berufsstand der Lehrenden in Zurückhaltung zu üben. »Der Erzieher- und Lehrerstand, von der untersten Volksschule bis hinauf zur Akademie der Wissenschaften wie zur Kunstschule, soll selbstständig organisirt und autonom sein, d. h. nur den aus der eignen Mitte hervorgegangenen Gesetzen folgen und keinerlei fremdartige Zwecke dabei (vom Staate oder der Kirche) sich aufdrängen lassen, am Allerwenigsten die einer besondern Politik.«653
Mit seiner ebenso deutlichen Betonung des Anspruchs »auf Unterrichts- (Lehr-) Freiheit«654 macht Fichte überdies klar, dass nach seinem Dafürhalten auch die Auswahl der Bildungsinhalte der Fachkompetenz der Lehrenden zu überlassen sei.655 Wenn die Regierenden der Verführung erlägen, Schule und Hochschule für politische Ziele, insbesondere die Ausdehnung eigener Machtsphären, zu instrumentalisieren, »so ist dies als eine Gewissenlosigkeit, als Frevel gegen den ethischen Begriff des Staates zu bezeichnen, der wenn er auch von äusserm Erfolge begleitet ist, sich innerlich doch gewiss an ihm rächen wird«.656 Nachgerade als kontraproduktiv erachtet Fichte mithin ein Vorgehen der Staatsoberen, bei dem Schule und Universität vor den Karren der Herrschaftssicherung gespannt werden. Denn eine positive Haltung der Mitglieder des Gemeinwesens gegenüber demselben könne sich unter solchen Voraussetzungen schwerlich entwickeln.657 Fichtes Argumentation spiegelt die Überzeugung wider, dass auch hier die bewusste Selbstbeschränkung des immer noch stark auf Kontrolle und Bevormundung ausgerichteten Regierungsstils die inneren Bindungskräfte des staatlichen Gefüges durchaus stärken und so letztlich dem Wohle der Bürgerinnen und Bürger zugute kommen werde. Dabei setzt er die anvisierte Hebung des allgemeinen Bildungsniveaus mit der allmählichen Loslösung von den in Deutschland tief verwurzelten, weil »jahrhundertelang an653 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 249. 654 Ebd., S. 251. 655 Dabei ist dieses Plädoyer niemals ohne jene bereits thematisierte Forderung zu betrachten, durch die Verbesserung der bildungspolitischen Rahmenbedingungen sei eine gute Ausbildung des Lehrpersonals zu gewährleisten. 656 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 206. 657 »Der ›erleuchtete Despotismus‹ der staatlichen oder dynastischen Selbstsucht kann beinah nicht anders, weil er der unwiderstehlichen Macht jeder Bildung wohl kundig ist; und so ist es ein herrschender Zug der neuern Regierungspolitik geworden, gewisse Bildungseinrichtungen für sich zu benutzen, andere zurückzudrängen, überhaupt Schule, Universität und Kirche zur mittelbaren Propaganda ihrer politischen Absichten zu machen. Dass dies von ihnen selber im Geheimen als unwürdig erkannt werde, davon zeugt das böse Gewissen, mit dem sie jene Absichten stets von sich weisen. Dass es aber auch unwirksam sei, ja gerade den entgegengesetzten Erfolg habe, indem es das allgemeine Misstrauen von Unten nach Oben nur vermehren kann: das wollen sie sich immer noch nicht gestehen!« Ebd., S. 250.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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gebildeten ›Unterthanen‹-Gewohnheiten«658 und den entsprechenden Denkund Handlungsmustern in Beziehung. Um das Fahrwasser dieser Mentalitäten zu verlassen, genüge es schlechterdings nicht – wie er im Blick auf liberalistisches Gedankengut immer wieder betont – die Individuen aus überkommenen gesellschaftlichen Bezügen freizusetzen. Allem voran seien Schritte gefragt, die »in der politischen Erziehung von Untenher, in Stärkung des Gemeinelebens und des corporativen Geistes«659 bestünden; Schritte also, die beitrügen zur Schärfung des Bewusstseins für die Bedeutung kooperierender Tätigkeiten von Gleichgesinnten. Die Einsicht müsse sich verbreiten, dass selbstbestimmtes Handeln gerade im Rahmen sozietärer Verbindungen besondere Erfolge zeitigen kann: »Je mündiger ein Volk daher, und je vielseitiger durchbildet es ist: desto mehr nimmt es durch Ausbildung der freien Genossenschaft und des Vereinslebens dem Staate die Sorge für sich ab.«660
Sobald sich nachhaltige Strukturen der ›Selbstverwaltung‹ entwickelten, innerhalb derer immer mehr Gesellschaftsmitglieder zugleich selbstsorgend auf ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten reagierten, werde auf Dauer auch die mit der sozialen Frage untrennbar verknüpfte Eigentumsproblematik eine Entschärfung erfahren. Eben dazu sei freilich die konsequente staatliche Förderung solcher sozietärer Eigeninitiativen vonnöten, die nicht zuletzt als ein basales Moment der Realisierung des wohlfahrtsstaatlichen Programms dienen sollen.
III.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«: Der dezentralisierte Staat
1.
Die Abkehr vom Pfad des allregulierenden Obrigkeitsstaates
Verweist Fichte bei der argumentativen Grundlegung seiner Forderung, der reformierte Staat der Zukunft müsse wohlfahrtsorientierter Staat sein, nicht zuletzt auf Aussagen der politischen Philosophie des Aristoteles, so hat diese Hinsicht wenig gemein mit jenen noch im 18. Jahrhundert innerhalb der deutschen Staatslehre anzutreffenden Positionen, die zur theoretischen Fundierung des spätabsolutistischen ›Wohlfahrtsstaates‹ gleichfalls Gedankengut aristotelischer Provenienz heranziehen.661 658 659 660 661
Ebd., S. 100, Anm. Ebd., S. 342. Ebd., S. 57. »Ein theoretischer Ansatz zum Erfassen moderner Staatlichkeit lag gewiß schon in der aristotelischen Lehre der Ethik, Ökonomik und Politik, wie sie vom 16.–18. Jahrhundert an
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Der Blick auf den Staat
Der politische Aristotelismus erscheint hier als Berufungsinstanz für die Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen, die erklärtermaßen der Realisierung eines durch Glückseligkeit sich auszeichnenden Lebens der Bürgerinnen und Bürger dienen sollen. Begrifflich gefasst als die ›Polizey‹ des Staatswesens, was die ›Sicherstellung guter Ordnung‹ meint und »sowohl Gefahrenabwehr als auch die Wohlfahrtspflege«662 umgreift, manifestierten sich diese Maßnahmen in der Praxis staatlicher Verwaltung bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem durch eine Vielzahl obrigkeitlicher Verordnungen.663 Sie suchten in Form detaillierter Gebote dem ›guten Leben‹ der Individuuen gleichsam von außen Kontur zu verleihen664 ; stand doch dem Menschen selbst »ein Urteil darüber, was sein Glück ausmacht, nicht zu«.665 Freilich zeichnet sich schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf der Ebene der staats- und rechtstheoretischen Auseinandersetzung ein deutlicher Rückzug der dem politischen Aristotelismus verpflichteten Begründungsstrategien und damit ein stetig stärker werdendes Votum für die »Einengung staatlicher Verwaltungstätigkeit durch Ausklammerung des eudämonistischen Bereichs«666 ab. Hier ist nicht zuletzt der Einfluss der Philosophie Kants wie der sein Denken aufnehmenden Ansätze auf das geistige Klima zu vermerken, das mitverantwortlich war für die immer lauter werdenden Rufe nach politischer Veränderung, die in vielen deutschen Territorialstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu hören waren667. Entbehrte doch mit dem Vordringen jener »neuen Ideen einer bürgerlichen Gesellschaft, die auf bürgerlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit sich aufbaute«668, das überkommene Staatswesen feudal-ständischer Ausformung zunehmend der Legitimität.
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den protestantischen deutschen Universitäten im Rahmen des moralphilosophischen Unterrichts vorgetragen wurde.« H. Maier : Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München 21980, S. 289. F.-L. Knemeyer: Art. ›Polizei‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 875 – 897, hier : S. 886. »Die ›Glückseligkeit‹ als einer der Schlüsselbegriffe des aufgeklärten Absolutismus rechtfertigte eine konsequentere Ausdehnung obrigkeitlicher Tätigkeit, da Glückseligkeit als Staatszweck zwar die Existenz individueller Interessen wahrnimmt, diese aber nicht der Initiative des einzelnen überläßt, sondern zum Ziel eigener Tätigkeit macht.« E. Pankoke: »Von ›guter Policey‹ zu ›socialer Politik‹«, in: C. Sachße; F. Tennstedt (Hrg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 148 – 177, hier : S. 152. Vgl. W. Ebel: Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 24), Göttingen 21958, S. 60. Hier finden sich beredte Beispiele für die »Exzesse bevormundender Fürsorge«. Ebd., S. 60 f. H. Maier : Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, a. a. O., S. 162. F.-L. Knemeyer : Art. ›Polizei‹, a. a. O., S. 889. So erklärt Kant die »väterliche« Regierung des absolutistischen Herrschers mit ihrer obrigkeitlichen Glückssorge zur despotischsten überhaupt, da sie die Menschen unmündigen Kindern gleich behandele. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, a. a. O., Bd. 8, S. 435. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 31.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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Als Beispiel für einen durch das »kantische Ethos«669 menschlicher Autonomie und Selbstverantwortung mitbestimmten Versuch, der notwendigen Erneuerung der Lebensverhältnisse Gestalt zu geben, können die mit den Namen Heinrich Friedrich Karl vom Stein und Karl August von Hardenberg verbundenen preußischen Reformen gelten. Bestand ihr Ziel einerseits darin, die Effektivität der staatlichen Verwaltung zu erhöhen und die Souveränität des Staates gegenüber ständisch-partikularen Machtansprüchen zu stärken, sollte andererseits den Einzelnen die Lösung aus feudalen Bindungen und die Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht werden. Die Reformer suchten in der Überzeugung, das Individuum könne die Stellung des anweisungsbedürftigen Untertans verlassen und gemäß eigener Erkenntnis und aus eigenem Antrieb im Bewusstsein bestimmter Pflichten handeln, die Ständegesellschaft absolutistischer Prägung hin zu einer »monarchisch nach Gesetzen regierten Staatsbürgergesellschaft«670 zu verändern. So zeigt sich der Selbstverwaltungsgedanke des Freiherrn vom Stein auf die Mitverantwortung und Mitregierung des politisch mündigen Bürgers gerichtet. In der Nassauer Denkschrift von 1807 erhebt er »die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns« zur Forderung, welche dem »Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden« Vorschub leisten soll.671 Dieses Ziel kann in seinen Augen nur erreicht werden, wenn man die Nation daran gewöhne, »ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus jenem Zustande der Kindheit herauszutreten, in dem eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten will«.672 Obwohl der in vielerlei Hinsicht konservativ eingestellte Stein – insofern er »an Traditionen, an Stände und korporative Freiheiten anzuknüpfen versucht«673 – stark auf die historische Kontinuität in den projektierten Veränderungen bedacht war, gelangte lediglich ein kleiner Teil seines Selbstverwaltungsprogramms zur Umsetzung.674 Zeitigten die preußischen Reformen ins669 Ebd., S. 34. 670 R. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 154. 671 H. F. K. v. Stein: »Nassauer Denkschrift« (1807), in: W. Hubatsch (Hrg.): Freiherr vom Stein. Briefe und Amtliche Schriften, Bd. 2/1, Stuttgart 1959, S. 380 – 403, hier: S. 394. 672 H.F.K. v. Stein: Brief an Hardenberg (8. 12. 1807), in: Ebd., Bd. 2/2, Stuttgart 1960, S. 562. 673 T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 36. – Wenn Stein für eine Ausgewogenheit der geburtsständischen Ordnung der Gesellschaft und damit für eine Beseitigung adeliger Dominanz eintritt, stellt er doch das ständische System insgesamt nicht infrage. Alle Stände sollen an den Verwaltungsaufgaben beteiligt werden; dabei müssen die jeweiligen Vertreter nach seinem Erachten über ein beträchtliches Eigentum verfügen, da nur unter solchen Eigentümern für eine derartige Aufgabe Qualifizierte, nämlich zureichend Gebildete und Erfahrene zu finden seien. Vgl. H.F.K. v. Stein: »Nassauer Denkschrift«, a. a. O., S. 383. 674 »Seinen größten Erfolg« stellt Wehler zufolge »vermutlich die Städteordnung dar, […] weil
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Der Blick auf den Staat
gesamt nur eher bescheidene Erfolge, »weil und soweit die politische Macht des Adels nicht gebrochen wurde«675, so unterlagen die Modernisierungsansätze in allen deutschen Staaten – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – den seit 1819 verstärkt einsetzenden Restaurationsbestrebungen: »Das politische System befestigte und verschärfte seinen Charakter als Obrigkeits- und Beamtenregiment, als Vormundschaft und Kontrolle, es wurde – zugespitzt – zum Polizeiregime«.676 Es war dies ein Vorgang, der sich nach verfassungspolitischen Fortschritten und zeitweisen Lockerungen der repressiven Maßnahmen während der Phase des vormärzlichen und revolutionären ›Aufbruchs‹677 infolge der Reaktion der beharrenden Kräfte um die Jahrhundertmitte in ähnlicher Form wiederholte: »In allen Staaten wurde über Gesetzgebung und Verwaltungsmaßnahmen die Autorität gestärkt, die Polizei, die Regierung, die bürokratische Verwaltung; die ›öffentliche Sicherheit‹ wurde nicht nur gegen Aufruhr, sondern gegen Versammlungs-, Vereinsund Pressefreiheit aufs schärfste zur Geltung gebracht.«678
Wenn Fichte vor diesem historischen Hintergrund entgegen dem staatstheoretischen Mehrheitsurteil seiner Zeit noch Aristoteles bemüht, um angesichts der Frage nach dem Zweck des Staates die »›Glückseligkeit‹ der Menschen«679 zu dessen Hauptziel zu erklären, will er dies freilich auch als Abkehr von der Herrschaftspraxis eines Obrigkeitsstaates verstanden wissen, der eben »›Alles für das Volk, Nichts durch dasselbe‹ thun zu müssen meint«.680 Obschon jene bereits zur Sprache gekommenen, nach Fichtes Verständnis die Wohlfahrt der Menschen künftig erst sicherstellenden rechtlichen und politischen Maßnahmen eine klare und konsequente Durchführung von staatlicher Seite bedürften, soll zugleich Raum für Eigeninitiative, für ein bürgerschaftliches Selbst-Tätigwerden eröffnet werden. Fichte möchte eine Entwicklung vorantreiben, in der das »ergänzende Zusammenwirken freier Individuen, nach dem Principe der Vereinigung«681 – die diesbezüglichen Bezeichnungen wie ›Assoziation‹, ›Genossenschaft‹ oder ›Verein‹ gebraucht er dabei durchweg synonym – zu einem bestimmenden Faktor
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ihre Fernwirkung fünfzig Jahre später weitergehende liberale Entwicklungsmöglichkeiten einräumte«. H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 400. B. Vogel: »Verwaltung und Verfassung als Gegenstand staatlicher Reformstrategie«, in: B. Sösemann (Hrg.): Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993, S. 25 – 40, hier : S. 32. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 285. W. Hardtwig: Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 41998, S. 64 ff. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 675. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 214. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. XL. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 215 f.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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der reformierenden Neuordnung des Staates wird. Anknüpfend an die bereits seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher hervortretende Tendenz, dergemäß »alle bürgerliche Aktivität […] sich in Vereinen«682 organisierte, soll sich u. a. durch die forcierte gesetzliche Verankerung des »Recht[s] der Genossenschaft (›Association‹)«, jenes »der verschiedensten Gestaltung fähige ›Urrecht‹«683, eine dauerhafte Kultur der ›Selbsttätigkeit‹ etablieren. Ob es die zunehmenden Herausforderungen auf der sozio-ökonomischen Ebene, die Bewältigung spezieller Aufgaben im öffentlich-rechtlichen Bereich oder die Interessenwahrnehmung in Wissenschaft und Kunst betrifft: Fichtes Plädoyer für die Gründung assoziativer Vereinigungen ist auf die Stärkung bürgerschaftlicher Eigeninitiative in allen Sphären des Gemeinwesens hin orientiert. Dementsprechend appelliert er an die Weitsichtigeren unter den politisch Verantwortlichen, einen Entwicklungsprozess des Staates voranzutreiben, der darauf ziele, »das Princip der Centralisation und des einseitigen Regiertwerdens immer mehr einzuschränken und seine Pflichten und Leistungen zu übertragen auf die Selbstregierung freier Vereine«.684
In Annäherung an den Geist der Stein’schen Selbstverwaltungsidee tritt Fichte für einen Staat ein, der ein Engagement der Gesellschaftsmitglieder auch im Sinne des Gedankens politischer Teilhabe fördern will und zu fördern weiß. Das heißt: Es geht um die Institutionalisierung einer berufsständisch gedachten Interessenvertretung wie um die Schaffung dezentraler Verwaltungseinheiten, besonders im Bereich kommunaler Verantwortlichkeit. »Alle politisch Einsichtigen, welche klar erkennen, durch welche Kräfte allein der fast gänzlich abhanden gekommene Gemeingeist und die thätige Bürgertugend wiedererweckt werden können, finden sie von Seiten der Verfassung in der Erweckung des repräsentativen Elements nach Ständen, […] von Seiten der administrativen Thätigkeit in der Decentralisation der Staatsverwaltung.«685
In der vorliegenden Arbeit wird freilich die Rede vom dezentralisierten Staat nicht nur auf die von Fichte angestrebte Neuverteilung administrativer Zuständigkeiten bezogen, sondern ebenso auf seine Vision einer Etablierung verschiedener Organisationsformen eigenverantwortlicher bürgerschaftlicher Ak682 T. Nipperdey : »Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert«, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174 – 205, hier : S. 175. 683 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 57. 684 Ebd., S. 216. »Dies Princip der Association ist für die gegenwärtige Zeit und die nächste Zukunft von höchster Bedeutung, ja es macht den charakteristischen Unterschied derselben aus gegen die nächstvorhergehende: überhaupt ist es das Gegengewicht und die Abhülfe gegen die bis in’s Einzelne hindurchgeführte Bevormundung und Vielregierung des bisherigen Staates.« Ebd., S. 57. 685 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. XI.
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Der Blick auf den Staat
tivität. Dies ist in der Einsicht begründet, dass Fichtes Stellungnahme gegen das »Princip der Centralisation« ja überhaupt – mit den Worten seines Zeitgenossen Friedrich Julius Stahl gesagt – das »besondere Interesse kleiner Kreise«686 zur Geltung bringen will: Seien diese nun assoziativer, berufsständischer oder kommunaler Natur.687 Im Folgenden liegt somit das Augenmerk auf der Rolle, die Fichte den Assoziationen, berufsständischen Vereinigungen und Gemeinden als Kristallisationsorten bürgerschaftlicher Selbsttätigkeit im künftigen Gemeinwesen zuschreibt. Dabei wird deutlich werden, wie direkt er diese Idee der Initiativkreise an seine Grundauffassung positiver Freiheit als Entfaltungsmöglichkeit der Einzelnen – nicht zuletzt in ihrem Verbundensein mit anderen – knüpft. Die Beseitigung überkommener Herrschaftsstrukturen dürfe eben nicht in die bloße Freisetzung der Individuen aus vormals gültigen rechtlichen und sozialen Zusammenhängen münden. In jene schon von Hegel konstatierte ›Atomisierung‹ der bürgerlichen Gesellschaft, die nach Fichtes Verständnis mitbedingt wird durch eine liberalistisch inspirierte, einseitig auf die Sicherstellung negativer Freiheit fixierte Denkart. Von einem Zeitgenossen etwas überspitzt als die »falsche Grundansicht« apostrophiert, »daß man die wahre Volksfreiheit, anstatt sie in der Selbstgewalt und Selbstregierung der Gemeinden und übrigen organischen Vereine zu erkennen, in einer Summe von Frechheiten der Einzelnen vermeint«688, führe diese Denkart überdies in Betracht der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verschärften Gegensätzen zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen, »so daß sich überall Vereinzelung, Widerstreit, Concurrenz und Feindschaft auf Tod und Leben darstellt und unsägliches Elend der Vielen«.689
686 F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2, Heidelberg 21846, S. 66. 687 Heinrich Heffter zufolge wurde seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ›Assoziation‹ als »Schlagwort für die damaligen Reformtendenzen« mit »›Selbstregierung‹ oder ›Selbstverwaltung‹« des Öfteren »in engen Zusammenhang gebracht: in der erstrebten Genossenschaftsbildung dachte man den Selbstverwaltungsgedanken eben auf die Sozialpolitik anzuwenden; die kommunale Selbstverwaltung des Bürgertums, die auch die höheren Verwaltungsbezirke durchdringen sollte, meinte man nach unten hin durch eine Art genossenschaftlicher Selbstverwaltung des kleinen Mannes noch ergänzen und erweitern zu können«. H. Heffter : Die Deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 21969, S. 274 f. 688 F. Schmitthenner: Über Pauperismus und Proletariat, Frankfurt a. M. 1848, S. 33. 689 Ebd.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
2.
Fichtes Konzept des ›dezentralisierten Staates‹
A.
Das »Princip« der Assoziation
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Je klarer sich die Zerfallserscheinungen der überlebten staatlichen Verhältnisse offenbaren, desto dringender ist nach Fichtes Ansicht eine Neuformierung der gesellschaftlichen Bindungskräfte vonnöten. Entsprechend macht er sich, seinen oben angedeuteten argumentativen Fluchtlinien folgend, für ein sozietär integriertes Gemeinwesen stark: »Der Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt, sei es als erleuchteter Policeistaat mit Centralisation und Bevormundung, sei es in der entgegengesetzten Richtung des Liberalismus, Jeden seiner eigenen Freiheit und Willkür zu überlassen, leidet an dem gleichen Gebrechen steigender Desorganisation: dort des mechanisirten Regierens und Regiertwerdens, hier des völligen Zerfalls aller gemeinsamen Interessen. Gegen beide Uebel vermag nur der Geist der Association dauernde Hülfe zu verschaffen; denn er allein ist im Stande überall einzugreifen, wo die Wirksamkeit des Staates für das öffentliche Wohl eine Lücke lässt, und durch freie, sich selber controlirende Vereine vollkommener zu erreichen, was jener Mechanismus des Regierens nur äusserlich und ungenügend erfüllt, der abstracte Liberalismus ganz unbeachtet lässt.«690
In solcher Hinsicht sieht Fichte im »Geist«, oder wie er zumeist sagt, im »Princip« der Assoziation – welches hier neben der freien assoziativen Vereinigung jeden berufsständischen Verband mit umfasst, in den die Einzelnen nach der Aufhebung des Zunftzwanges durch freie Berufswahl gelangten691 – ein höchst bedeutsames Moment sozialer Vermittlung. Befindet er doch dieses Prinzip für tauglich, »definitiv und überall auf eigenthümliche Weise den Widerstreit der allgemeinen und der Sonderinteressen« zu lösen.692 Mithin versteht Fichte das Assoziationsprinzip als einen die Ordnung des Gemeinwesens stabilisierenden Faktor, der seine Wirksamkeit gleichsam aus dem Innern der Gesellschaft heraus entfaltet. Angesichts jenes dem »ergänzende[n] Zusammenwirken freier Individuen«693 zugeschriebenen Potenzials, zwischen den allgemeinen und den individuellen Belangen Verbindung und Ausgleich schaffen zu können, sollen Sozietäten verschiedener Art und Ausrichtung im notwendigen politischen und gesellschaftlichen Reformprozess eben als ›Vermittlungsinstanz‹ in einem mehrfachen Sinne fungieren. Indem sie 690 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 415. 691 »Die durchgeführte freie Wahl des Berufes, hervorgegangen aus gründlicher Volksbildung, und der daraus sich erzeugende geistig objective Inhalt des Lebens soll an die Stelle des mittelalterlichen Privilegiums und seiner regungslos fixirten Stände treten, aber auch ebenso die abstracte Gleichmacherei und Standeslosigkeit verdrängen, welche das Idol des Liberalismus ist.« I. H. Fichte: Ethik 1, S. 817. 692 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. VIII. 693 Ebd., S. 215.
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Der Blick auf den Staat
beispielsweise Aufgaben im Bereich der staatlichen Fürsorgepflichten gegenüber Hilfsbedürftigen übernähmen694, werde dies die dem allgemeinen Wohl förderliche Orientierung wie die Umsetzbarkeit der auf assoziationstheoretischen Ideen basierenden Konzepte demonstrieren. Initiativen solcher Art leisteten überdies einen wichtigen Beitrag dazu, die immer noch starren Grenzlinien zwischen der bürgerlichen Welt und den Machtsphären obrigkeitsstaatlich geprägter Institutionen aufzubrechen. Somit ist für Fichte das »innere Verhältniss« bestimmt, »in welches das Associationsprincip zum Staate treten muss«:695 »Es soll dem Staate in allen innern und äussern Reformen vorausschreiten: praktisch die zukünftigen erproben, theoretisch die Gegenwart empfänglich dafür machen, überhaupt und nach jeder Richtung den Fortschritt vertreten. Auch hier tritt nämlich die Association verbindend in die Mitte zwischen das Anerkannte und Festgewordene der öffentlichen Einrichtungen in Staat, Gesellschaft und Kirche, und zwischen die vielleicht noch unausführbaren Entwürfe Einzelner.«696
Infolge seiner langen Anwendungstradition bereits ein »alter« Grundsatz sozialer Organisation unseres Kulturkreises, eigne dem Assoziationsprinzip zudem eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit hinsichtlich der historisch jeweils angemessenen Umsetzungsformen, die es zum Wegweiser sozialen Fortschritts prädestiniere.697 Nach Fichtes Dafürhalten trage es zur Mobilisierung solcher Kräfte bei, die er bei der Entstehung eines modernen, auf die Wohlfahrt der Bürgerinnen und Bürger ausgerichteten, sich letztlich als ›Gemeinschaft diverser Gemeinschaften‹ verstehenden »Cultur«-Staates für unabdingbar erachtet. Zumal die sozietären Vereinigungen die Verwirklichungsbedingungen des in seinen Augen so »wichtigen ethischen Lebensgesetzes« erfüllten, dem zufolge eine Vervollkommnung von Individuum und Gemeinschaft stets nur im wechselseitigen Bezug stattfinde.698 Wo immer den Einzelnen Unterstützung innerhalb eines assoziativen oder berufsständischen Kontextes zuteil werde, sei es die Sicherung des materiellen Auskommens, sei es die Förderung spezifischer Begabungen, eröffne sich ihnen stets auch die Möglichkeit, mittels des eigenen spezifischen Könnens aktiv den Bestand dieser Gemeinschaften zu stützen und zum Gedeihen des Gemeinwesens überhaupt beizutragen. »Der Geist der Association daher, dem wir das Wort reden, wird nicht bloss dem Selbsterhaltungstriebe oder dem Nutzen zu Gute kommen; ja er wird deren einseitige Wirkungen vielmehr hemmen und beschränken. Jede Genossenschaft, in die wir tre694 695 696 697 698
Ebd., S. 207 ff. Ebd., S. 417. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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ten, soll wie ein sittliches, heilige Pflichten uns auferlegendes Band betrachtet werden, und sie kann es auch, wenn in ihr der Ausdruck des Berufes erkannt wird, der eigenthümlich sittlichen Lebensaufgabe, der wir zugewiesen sind […].«699
So überzeugt Fichte mit geradezu emphatisch anmutender Erwartungshaltung die sozietär unterlegte Fortschrittsmöglichkeit zu größerem gesellschaftlichen Zusammenhalt beschwört, so sehr zeigt er sich bemüht, auch hier die Wirklichkeitsnähe seines Ansatzes zu vermitteln und diesen bereits im Vorhinein gegen mögliche Einwände zu sichern. Das Assoziationsprinzip sei durchaus für »verkehrte Versuche«, die es letztlich sogar »in Verruf bringen mussten«, in Anspruch genommen worden.700 Dazu zählten nicht zuletzt fragwürdige Unternehmungen mit zum Teil revolutionären Zielsetzungen und einzelne, ob widriger Umstände zum Scheitern verurteilte Fälle assoziativer Praxis. Doch widerlege dies – das hält er den vermeintlich weltkundigen »selbstgenügsamen ›Praktikern‹«701 entgegen, die im Verweis auf »›die Erfahrung‹« den assoziativen Verbindungen jede stützende Kraft bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Missstände absprechen – nicht die Tauglichkeit des Prinzips als solchem.702 Zumal ja längst schon Beispiele erfolgreicher Verwirklichung belegt seien.703
B.
Die soziale Frage und die Praxistauglichkeit des Assoziationsprinzips
Nicht zufällig setzt Fichte diese auf die ›Realitätsfestigkeit‹ seiner Sichtweise abhebende Argumentationsstrategie gerade in jenem Anwendungsbereich des Assoziationsprinzips ein, dem sein Reformkonzept ja eine besondere Aufmerksamkeit widmet: dem Feld der sozialen Frage.704 Hier soll die Erosion der gesellschaftlichen Bindungskräfte eine Begrenzung finden, indem vielen der durch Existenznot und Verelendung bedrohten, somit materiell wie oft auch geistig entwurzelten Individuen in der Form selbstorganisierter Vergemeinschaftung wieder eine Perspektive für ein menschenwürdiges Dasein eröffnet werde. 699 Ebd., S. 93. Der berufsständische Verband zum Beispiel wird als eine Rückhalt und Motivation vermittelnde Gemeinschaft beschrieben: Komme es den Mitgliedern zugute, wenn jedem Stand die »Vertretung seiner bleibenden Interessen im Staate« rechtlich verbürgt und als Ausdruck der je besonderen berufsständischen »Würde und Ehre« zu betrachten sei, erwüchsen daraus auch bestimmte »Pflichten«, die die Standesangehörigen erfüllen müssten. Ebd., S. 245. 700 Ebd., S. 93. 701 Ebd., S. IX. 702 Ebd., S. VIII. 703 Ebd., S. 99. 704 Ebd., S. XII.
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Der Blick auf den Staat
»Die grosse ökonomische Aufgabe der Gegenwart, den Gegensatz von Capital und Arbeit auszugleichen und beide stets auf einander treffen zu lassen […], kann nur in kleinern Vereinen, bei übersehbaren Verhältnissen, glücklich gelöst werden. Der Einzelne, der bisher schutz- und machtlos allen Lasten und Gefahren der Concurrenz preisgegeben war, schliesst sich mit seinen Leistungen und seinen Bedürfnissen besondern Vereinen an, um Arbeit und Capital zugleich zu finden, Gewinn und Verlust durch Theilung mit den Andern erträglicher auszugleichen und aus dem gemeinsamen Vorrath zugleich besser und wohlfeiler sein Leben zu bestreiten. […] Und damit man nicht sage: das seien unpraktische Entwürfe, so liegen schon Proben solcher Vereine vor uns aus allen Kreisen des Verkehrs, wie sie in England, Frankreich, Belgien bestehen, und im Einzelnen auch in Deutschland sich zu bilden anfangen, die bei ihrer entschieden segensreichen Wirkung immer weiter sich ausbreiten sollten.«705
Neben dergleichen Hinweisen auf die Praxistauglichkeit des Assoziationsprinzips führt Fichte auch Aussagen fachkundiger Autoren an, die durch intensive Auseinandersetzung mit der Thematik nachweislich Sachkompetenz erworben haben. So begrüßt er die Veröffentlichung von Lorenz von Steins Abhandlungen über das System der Staatswissenschaft, da hier »im Principe der ›Societät‹ gerade die letzte staatswirthschaftliche Lösung der socialen Probleme« gefunden werde.706 Muss für Fichte das ethische Grunddiktum seines Ansatzes, dass die Einzelnen und die Gesamtheit nur in gegenseitiger Förderung gedeihen, »auch im allgemeinen volkswirthschaftlichen Leben sich bewähren«707, zeigten Steins Ausführungen gerade dies. Überzeugend sei dargestellt, wie die »Societät« als das zusammengefasste »kleinere Capital« ihre wirtschaftliche Bedeutung erlange: Sobald die »grossen Capitale und Unternehmungen« durch eine drohende Verarmung der Bevölkerung in Absatzschwierigkeiten gerieten, werde sich die Erkenntnis durchsetzen, »dass Jeder nur, indem er den Andern unterstützt, in seinen eigenen Interessen dauernd gesichert sei«.708 Des Weiteren bezieht sich Fichte auf die einschlägigen Studien Victor Aim¦ Hubers, dem man heute zuschreibt, »der erste Theoretiker der Genossenschaft in Deutschland«709 gewesen zu sein. Huber habe sich in seinen Zeitschriften 705 Ebd., S. 99. 706 Ebd., S. IX. – L. v. Stein: System der Staatswissenschaft, Bd. 1. System der Statistik, Populationistik und der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1852. 707 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 330. 708 Ebd., S. IXf. – In der Tat geht es Stein neben der Bedeutung der Gemeinschaft Einzelner zum Zweck der Sicherung des Lebensunterhaltes oder der Vermögensmehrung insgesamt um die »Idee der Einheit des wirthschaftlichen Lebens« (L. v. Stein: System der Staatswissenschaft, Bd. 1, a. a. O., S. 409 f.): »So erscheint das Interesse der großen Kapitalien in der möglichsten Entwicklung der kleineren, das Interesse der kleineren Kapitalien in der möglichsten Entwicklung der größeren«. Ebd., S. 425. 709 M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber (1800 – 1869). Sozialreformer und Wegbereiter der sozialen Wohnungswirtschaft, Berlin 2000, S. 13. – »Bekannt wurde Huber vor allem als
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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Janus und Concordia für die Bildung von freien genossenschaftlichen Vereinigungen stark gemacht und lege in einem unlängst erschienenen Aufsatz über englische Arbeiterassoziationen dar, »dass ihre Grundsätze praktisch bewährt seien und sich überall in Anwendung bringen liessen«.710 Da den heutigen Leserinnen und Lesern nicht unbedingt ein konkretes Bild des assoziationstheoretischen Problemhorizonts jener Zeit und entsprechender Ansätze zur Lösung der sozialen Frage vor Augen stehen, wird im Folgenden ein skizzierender Einblick in Hubers Konzept assoziativer Selbsthilfe gegeben. Es ist das aussagekräftige Beispiel eines Entwurfes, der den Opfern des sich zunehmend entgrenzenden Wirtschaftsgeschehens eine solide Existenzbasis sichern will.711 Nicht zuletzt verdanken Fichtes eigene Überlegungen zur sozietären Selbstorganisation ökonomisch Benachteiligter Hubers Ausführungen wohl manche Anregung; zumal auch Huber die Ansicht vertritt, dass es nicht allein um die Linderung wirtschaftlicher Not, sondern gleichfalls um Fragen zur sittlichen Befindlichkeit der Betroffenen geht.
C.
Exkurs: Die Grundzüge des genossenschaftstheoretischen Programms Victor Aimé Hubers
a. Hubers Standpunkt in Hinsicht auf die soziale Frage Der Beginn einer intensiveren Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Fragen steht bei Victor Aim¦ Huber in enger Beziehung zu seiner England-Reise im Jahre 1844, die ihn u. a. in die Industriearbeiterviertel von Manchester und Birmingham führte.712 Nachhaltig blieb für ihn der Eindruck, dass dort eine bedeutende Zahl geschundener, vom Verlust der Selbstachtung und der Würde erster Genossenschaftstheoretiker Deutschlands. In zahlreichen Publikationen entwickelte er noch vor Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen Konzepte für die Selbsthilfe der Arbeiter in Genossenschaften.« E. Baumann: Der Konvertit Victor Aim¦ Huber (1800 – 1869), Leipzig 2009, S. 11. 710 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 100, Anm. 711 Dabei sei auf diverse andere von Fichte zur Kenntnis genommenen, sich gleichfalls der Behandlung dieses Problemkreises widmenden Veröffentlichungen hingewiesen. Neben Beispielen aus der französischen Literatur über das »Vereinswesen der Handwerker und Gewerbetreibenden« nennt er für den deutschen Sprachraum u. a. Schriften von Robert Mohl, Hermann Schulze-Delitzsch und Johannes Fallati. Ethik 2/2, S. 100, Anm. – Wenngleich jene Autoren durchaus unterschiedliche thematische Schwerpunkte setzen, ist die Konzentration auf Hubers Ansatz – über Fichtes deutliches Votum für eben diesen hinaus – darin begründet, dass die vorliegende Arbeit nur bestimmte Grundhinsichten des damaligen assoziationstheoretischen Zugriffs vermitteln will. 712 »Im Mai 1844 trat Huber die spätestens seit dem Vorjahr geplante Englandreise an […]. […] die starken Eindrücke, die Huber […] empfing, führten ihn endgültig zur sozialen Frage hin, machten ihn eigentlich zum Sozialtheoretiker.« M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber, a. a. O., S. 67.
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Der Blick auf den Staat
gekennzeichneter Menschen ihr Dasein fristeten.713 Angesichts der auch in Deutschland eingetretenen Ausdehnung des Fabrikwesens sollten hier seiner Überzeugung nach die Arbeiter vor der Verbreitung dergleichen Zustände bewahrt werden.714 Diesbezüglich spricht er sich gegen die in England bereits praktizierte Umsetzung der Konzeption unbedingter Handelsfreiheit aus, die, betriebe man sie hierzulande, einen Konkurrenzkampf zwischen der deutschen und der englischen Industrie heraufbeschwöre. Huber sieht darin ein ob der englischen Überlegenheit zum Scheitern verurteiltes »Experiment«, das auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen würde und auch in Deutschland ein »FabrikProletariat unter den geistig, sittlich und physisch schlimmsten Bedingungen« entstehen ließe.715 Gleichwohl zeigt er sich als Befürworter einer wirtschaftlichen Stärkung der deutschen Industrie. Doch habe sich diese, von staatlicher Seite durch eine konsequente Schutzzollpolitik gesichert, unter unbedingter Wahrung eines hohen Qualitätszustandes der Produkte auf den Binnenmarkt so wie kleinere Exportmärkte zu konzentrieren.716 Dabei dürften die Lebensverhältnisse der Arbeiter eben nicht außer Acht gelassen werden: »Wir können uns die Entwicklung der deutschen Industrie nicht denken ohne kräftige Bürgschaften aller Art für das sittliche, geistige und physische Wohl der aus ihr hervorgehenden und sie erzeugenden Arbeiter-Bevölkerung.«717
Die Förderung solcher die deutsche Arbeiterschaft stützenden Bürgschaften ist für Huber notwendig mit einer politischen Haltung verbunden, die den Geist des Liberalismus entschieden verneint. Bereits zu Beginn der 1840er Jahre unterstellt er der in seinen Augen die Grundfesten des christlich-monarchischen Staates718 untergrabenden liberalen »Opposition«, sie habe bei ihrem Eintreten für Freiheit und Gerechtigkeit allein die Interessen des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums im Blick. Nach Hubers Ansicht weckt man hier in den unteren 713 Vgl. V. A. Huber: »Eindrücke und Betrachtungen eines Reisenden (Manchester. Das Proletariat)«, in: Ders. (Hrg.): Janus. Jahrbücher deutscher Gesinnung, Bildung und That, Bd. 1 (1845), 2. Hälfte, S. 641 – 678; S. 705 – 727. 714 »Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß die englischen sozialen Verhältnisse zumindest ansatzweise auch schon in Deutschland zu finden waren, was spätestens der schlesische Weberaufstand 1844 deutlich machte.« M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber, a. a. O., S. 120. 715 V. A. Huber : »Quid faciamus nos? Deutschland, England und der freie Handel«, in: Janus, a. a. O., Bd. 2 (1846), 2. Hälfte, S. 1 – 19, hier: S. 3 f. 716 Ebd., S. 4 ff. 717 V. A. Huber : »Als Vorrede und zur Orientierung«, in: Janus, a. a. O., Bd. 3 (1847), 1. Hälfte, S. 1 – 52, hier : S. 9. 718 Zu Hubers Staatsauffassung vgl. S. Hindelang: Konservatismus und soziale Frage. Viktor Aim¦ Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1983, S. 88 ff.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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Schichten Erwartungen, die gar nicht befriedigt werden sollen. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands würden auf einen Pfad gebracht, »an dessen Eingang ein Wegweiser steht, woran jeder, der in der Geschichte lesen lernte, in blutroten Buchstaben lesen kann: Revolution und Bürgerkrieg«.719 So ermöglicht laut Huber allein der »conservative« Standpunkt720 eine Antwort auf die Frage, wie der eine neue soziale Klasse hervorbringende Wandel der sozio-ökonomischen Gegebenheiten ohne den radikalen Umbruch des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Zustandes vonstatten gehen kann. Eine Perspektive, die er 1852 – also vor dem Hintergrund der Ereignisse von 1848 – folgendermaßen zum Ausdruck bringt: »Der Hauptkampf unsrer Zeit ist jener der konservativen Reaktion gegen die mehr als heidnische Barbarei der Revolution in ihren Ursachen und Wirkungen; das entscheidende Schlachtfeld dieses Kampfes aber ist das Feld der socialen Fragen.«721
b. Genossenschaftliche Selbsthilfe und die Beihilfe der Herrschenden Eine wahrhaft konservative Gesinnung findet Huber darin, »Erhaltung nur als Fortbildung, als höhere Entwicklung der irgend gesunden, berechtigten Elemente des Lebens, nach den in ihnen selbst gegebenen Gesetzen« zu begreifen. So habe man, wenn »das Wesentliche und Gesunde, das Gesetz und de[r] Kern eines gegebenen Lebenskreises« als erkannt gelten könne, je schon »das Objekt, die Grundlage und de[n] Ausgangspunkt conservativer Thätigkeit gewonnen«.722 Dementsprechend legt er angesichts der auch in Deutschland anzutreffenden »Fäulnis […] des Pauperismus«, die den »erschöpften, kränkelnden Körper des Arbeiterstandes« angreife, Wert auf die Einsicht, dass es keineswegs »jenem Körper jetzt schon an gesunden Kräften und Säften wirklich fehlte, um jener Fäulnis zu widerstehen«. Hier offenbart sich ihm eine Zielgestalt konservativreformierenden Handelns, welches anzusetzen habe bei der in seinen Augen höchst bedeutsamen Beobachtung, »daß diese Kräfte und Säfte nicht auf den entscheidenden Punkten vereinigt und wirksam gemacht werden«.723 So stehe der einzelne Arbeiter bzw. die einzelne Arbeiterfamilie724 hilflos vor 719 V. A. Huber : Die Opposition. Ein Nachtrag zu der conservativen Parthei, Halle a. d.S. 1842, S. 42. 720 V. A. Huber : »Was wir wollen«, in: Janus, a. a. O., Bd. 1 (1845), 1. Hälfte, S. 1 – 50, hier : S. 1. 721 V. A. Huber : Bruch mit Revolution und Ritterschaft, Berlin 1852, S. 39. 722 V. A. Huber : »Was wir wollen«, a. a. O., S. 3. 723 V. A. Huber : Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirthschaftsvereine und innere Ansiedelung, Berlin 1848, S. 10. 724 Wozu Huber alle »Besitzlosen, welche von ihrer Hände Arbeit leben« zählt, so auch den kleinen selbstständigen Handwerker. V. A. Huber: »Die ökonomische Association«, in:
156
Der Blick auf den Staat
dem Problem, für die stets drohenden Zeiten der Arbeitslosigkeit oder der Arbeitsunfähigkeit keinerlei Rücklagen bilden zu können. Leiden doch die auf sich gestellten Arbeiter nach Hubers Dafürhalten insbesondere unter dem Missverhältnis zwischen Verdienst und Preisen; als letztes und schwächstes Glied im Verteilungsverkehr der Waren müssten sie ihre bescheidenen Einkünfte für allermeist überteuerte und qualitativ minderwertige Produkte ausgeben.725 Die Lösung dieses Problems, die die Vereinzelung der Arbeiter aufheben, ihnen langfristig eine ökonomische Basis sichern und sie als eigenen Stand in die ›organische‹ Ganzheit des Staates integrieren soll, sieht Huber in der Gründung freiwilliger genossenschaftlicher Zusammenschlüsse: den »Associationen«.726 Gedacht ist die Assoziation als »Verbindung einer größeren Anzahl kleiner atomistischer und im weiteren Sinn proletarischer Kräfte zu einer größeren Kraft, welche nach der Seite der Production oder der Consumtion verwendet, auch dem Einzelnen, dem Kleinsten die Vortheile sichert, welche die Großkraft unter den gegenwärtigen allgemeinen Verhältnissen der Consumtion und Production allein erlangen kann.«727
Spricht Huber von dem konsumptiven und dem produktiven Sektor als Anwendungsbereiche der genossenschaftlichen Verbindung, unterscheidet er diesbezüglich eine »ökonomische« und eine »industrielle« Assoziation, die gleichwohl Überschneidungen hinsichtlich ihrer jeweiligen Aktivitäten zuließen.728 Konzipiert als Einkaufs- und Konsumgenossenschaft soll vor allem die ökonomische Assoziation den Arbeitern die Möglichkeit eröffnen, ihren Lohn in deutlich wirtschaftlicherer und nachhaltigerer Weise zu nutzen. »Es handelt sich darum, durch Vereinigung vieler kleiner Arbeitslöhne ein größeres Kapital zusammenzubringen; aber nicht zum unmittelbaren Betrieb des betreffenden Gewerbszweiges im großen, sondern zur Betreibung der Wirtschaft der Arbeiter, zur Beschaffung der Lebensbedürfnisse im großen und mit all den unermeßlichen Vorteilen, welche die große Wirtschaft vor der kleinen voraus hat.«729
Die Waren sollen en gros möglichst ›aus erster Hand‹, also direkt beim Erzeuger, eingekauft und zum jeweiligen Einkaufspreis an die Assoziationsmitglieder
725 726
727 728 729
Ders. (Hrg.): Concordia. Blätter der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft, Berlin 1849, zitiert nach: K. Munding (Hrg.): V. A. Hubers Ausgewählte Schriften über Socialreform und Genossenschaftswesen, Berlin 1894, S. 747 – 769, hier: S. 749 f. V. A. Huber : Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirthschaftsvereine und innere Ansiedelung, a. a. O., S. 10 f. Der Aspekt der Freiwilligkeit ist zu betonen: Die Assoziation sei »wesentlich Sache der freien individuellen That«. V. A. Huber : Bruch mit Revolution und Ritterschaft, a. a. O., S. 42. Bereits im Einleitungsartikel zum Janus gebraucht Huber »Association« als Synonym für »freie Genossenschaft«. V. A. Huber : »Was wir wollen«, a. a. O., S. 27. V. A. Huber : Ueber die cooperativen Arbeiterassociationen in England, Berlin 1852, S. 1. V. A. Huber : Ueber Association mit besonderer Beziehung auf England, Berlin 1851, S. 4. V. A. Huber : »Die ökonomische Association«, a. a. O., S. 754.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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weitergegeben werden. Huber hat hier insbesondere Lebensmittel und Brennstoffe im Sinn; desgleichen geht es um Saatgutbeschaffung für den genossenschaftlichen Selbstanbau von Feldfrüchten.730 Insoweit selbstständige Handwerker der ökonomischen Assoziation beiträten oder selbst eine solche bildeten, könnten für sie durch gemeinsamen Ankauf Rohstoffe sowie Arbeitsgeräte und Maschinen zum »Fabrikpreis« angeschafft werden. Auch wenn diese Mitglieder ihr »eignes Geschäft« führten.731 Demgegenüber sei die industrielle Assoziation im Wesentlichen durch ein »gemeinsames Geschäft«732 der Mitglieder charakterisiert. Bei diesen ›Produktivassoziationen‹ denkt Huber vornehmlich an den Zusammenschluss von Angehörigen diverser Handwerksberufe: »Daß eine gewisse Anzahl von Bäckern z. B. sich vereinigen, um mit ihren Ersparnissen oder auf Kredit Mehl und Feuerung im großen zu kaufen, einen oder mehrere Backöfen nach den besten Mustern zu bauen und ihre Ware an geeigneten Orten zu verkaufen, ist nichts Neues, und wenn sie ehrlich, geschickt und fleißig sind, so wird sich jeder einzelne nach Jahr und Tag besser dabei stehen, als wenn er entweder als Knecht bei einem andern Meister gearbeitet oder selbst ein viel kleineres Geschäftchen angefangen hätte.«733
Gelte das Gesagte gleichermaßen für Berufsgruppen wie Fleischer, Maurer, Schlosser, Tischler etc., sollten sich solche assoziativen Vereinigungen hinsichtlich der angebotenen Leistungen auf Produkte und Tätigkeiten beschränken, die der Befriedigung notwendiger Alltagsbedürfnisse oder »einfacherer Lebensgenüsse« dienten und ihre Kunden primär innerhalb der unteren Gesellschaftsschichten suchen.734 Denn Huber warnt eindringlich davor, die Möglichkeiten der Produktivassoziation zu überschätzen. Sie könne nicht auf Tätigkeitsfeldern aktiv werden, für die ein Betriebskapital und das technische und kaufmännische ›Know-how‹ eines Großunternehmens notwendig seien.735 Über die projektierten Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen 730 V. A. Huber : »Die Vorteile der Association in ihrer vollen Entwicklung«, in: Concordia (1849), zitiert nach: K. Munding (Hrg.): V. A. Hubers Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 787 – 806, hier : S. 788 f. 731 Ebd., S. 797 f. 732 Ebd. 733 V. A. Huber : »Ueber die Bedingungen und Grenzen der industriellen Arbeiterassociation«, in: Concordia (1849), zitiert nach: K. Munding (Hrg.): V. A. Hubers Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 832. 734 Ebd. 735 Ebd, S. 831. – Auch bei einer zweiten Gestalt der industriellen Assoziation ist diese Einschränkung berücksichtigt: Hier schlägt Huber die Genossenschaftsgründung für die Ausführung einfacher Arbeiten im Eisenbahn-, Straßen-, Kanal- und Häuserbau vor. Die eine »Zuflucht für Tausende von brotlosen Handwerkern und Fabrikarbeitern« bieten und dabei mit einem Minimum an Finanzkapital und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen realisiert werden könne. Ebd., S. 834 f.
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Der Blick auf den Staat
Situation vieler Unterschichtsangehörigen hinaus betont Huber die »noch mehr in ihrer sittlichen und geistigen Einwirkung auf den Einzelnen«736 liegenden Vorteile der Assoziation. Je mehr sich die von ihm als das »eigentliche Wesen des Pauperismus« gekennzeichnete Vereinzelung zu einem »gleichsam atomistischen Zustand« ausweite737, desto stärker droht laut Huber ein geistig-sittlicher Verfall, der sich u. a. in immer häufigeren Fällen familiärer Zerrüttung, zunehmender Bildungslosigkeit und einem Nachlassen der Orientierung an christlichen Wertmaßstäben äußere.738 Sollen diese Menschen nun einen Lebensstandard erreichen können, der neben der gesicherten materiellen Basis »eine sittlich und physisch gesunde Erholung und Erheiterung« nebst »der dem allgemeinen menschlichen und bürgerlichen und dem besonderen Bedürfnis des Standes entsprechenden Bildung« gewährleiste739, werde diese Zielsetzung erst zu realisieren sein, wenn sich die beschriebenen Assoziationsformen mit einer Siedlungsgenossenschaft jeweils »zu einem organischen Ganzen«740 vereinigten. Denn die intendierte sittliche und körperliche Gesundheit der Assoziationsmitglieder kann nach Hubers Dafürhalten nur durch die Verbindung genossenschaftlich-kooperativen Handelns mit dem Prinzip der Selbstständigkeit der Familie, dem »Besitz des eignen Herdes an sich«741, erreicht werden. Bedarf Hubers Genossenschaftskonzept gerade infolge des Siedlungsbauprojektes eines beträchtlichen Aufwandes an Finanzkapital und Organisationsleistung, der von den Arbeitern ad hoc nicht erbracht werden kann, versucht er für eine Anschubfinanzierung und die organisatorische Hilfestellung Vermögende aus den Kreisen des Besitzbürgertums und der Aristokratie sowie den Staat zu gewinnen. In Richtung der Privatleute argumentierend weist er einer-
736 Ebd., S. 833. 737 V. A. Huber : »Die Steigerung geistiger und sittlicher Kräfte in der Association«, in: Concordia (1849), zitiert nach: K. Munding (Hrg.): V. A. Hubers Ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 807 – 820, hier : S. 814. 738 Vgl. M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber, a. a. O., S. 140 f. 739 V. A. Huber : Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen, a. a. O., S. 6. 740 V. A. Huber : »Die Vorteile der Association in ihrer vollen Entwicklung«, a. a. O., S. 806. So bildet z. B. nach Hubers Modell in der Selbsthülfe-Schrift eine je nach Teilnehmerzahl unterschiedliche Menge im englischen cottage-Stil errichteter Kleinhäuser mit maximal vier Wohnungen – ergänzt durch ein größeres Gebäude, das diverse Gemeinschaftseinrichtungen für Versammlungen, Erholung, Weiterbildung, Krankenpflege etc. enthalten soll – eine solche genossenschaftlich geführte Siedlung. Vgl. V. A. Huber: Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen, a. a. O., S. 14 ff. – Vgl. dazu die bereits erwähnte instruktive Studie von Michael A. Kanther und Dietmar Petzina, die einen Schwerpunkt auf Hubers Siedlungsprogramm und sein Engagement für die erste Berliner Wohnungsbaugesellschaft legt. M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber, a. a. O., S. 131ff; S. 74 ff. 741 V. A. Huber : »Die Steigerung geistiger und sittlicher Kräfte in der Association«, a. a. O., S. 814. ¢ Vgl. S. Hindelang: Konservatismus und soziale Frage. Viktor Aim¦ Hubers Beitrag zum sozialkonservativen Denken im 19. Jahrhundert, a. a. O., S. 240 f.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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seits auf die christliche Pflicht zur Unterstützung der Armen hin742 – was er explizit nicht als Verteilung von »Almosen«743 verstanden wissen will. Andererseits spricht er sich für eine Renditegarantie bei der Gewährung festverzinslicher Kredite aus.744 Und in Richtung des Staates erhebt Huber die Forderung, neben Anreizen für eine »gesunde Volkswirtschaft« durch entsprechenden Zuschnitt der Gesetze im Steuer-, Zoll- und Gewerbebereich, von der mittelbar auch die Assoziationen profitierten, eine unmittelbare finanzielle Förderung genossenschaftlicher Initiativen auf den Weg zu bringen.745 Hier führt er auch soziale und ökonomische Vorteile ins Feld, die das ganze Gemeinwesen betreffen: Bei einer zunehmenden Zahl von Genossenschaftsgründungen sei mit dem Rückgang von Armut und Kriminalität zu rechnen, was zur Reduzierung öffentlicher Ausgaben für das Polizei- und Rechtswesen beitrage.746 So nennt er die erhofften Vorschüsse in Form verzinslicher Darlehen »eine große Maßregel schöpferischer Socialpolitik«747. Letztlich jedoch blieben Hubers Appelle wirkungslos. Es hat keinen Versuch gegeben, sein Genossenschaftskonzept in die Tat umzusetzen; was er »wohl mit Recht auf Egoismus und Kurzsichtigkeit der Oberschichten zurückgeführt« hat.748 Neben den eigennützigen Motiven herrschten Befürchtungen vor, hier solle sozialistisches Ideengut zur praktischen Anwendung gebracht werden. Allerdings strebt Huber ja eine erklärt konservative Lösung der sozialen Frage an und will mit der Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation der von Verarmung Bedrohten zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen.749 Freilich mag in bestimmten Kreisen seine diesbezügliche Forderung, die »besitzlosen Klassen« im Zuge der Förderung assoziativer Selbsthilfe zu einem »organischen Bestandteil der bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung« und damit »zu einem wirklichen Stande« zu machen750, eher irritierend gewirkt haben. Konnten sich viele konservativ eingestellte Vertreter der oberen Schichten doch der Befürchtung nicht entziehen, dass, wie Stahl dies formu742 V. A. Huber : Ueber Association mit besonderer Beziehung auf England, a. a. O., S. 9. 743 V. A. Huber : Bruch mit Revolution und Ritterschaft, a. a. O., S. 44. 744 Da sich »der größte Teil der jährlichen Einnahme des deutschen Arbeiterstandes« auf »mindestens 300 Millionen« Taler belaufe, sei, sobald entsprechende Beiträge der Mitglieder erst einmal in die Genossenschaftskassen flössen, die verzinste Rückzahlung der Darlehen gesichert. Ebd., S. 45. 745 Ebd., S. 40 f. 746 V. A. Huber : Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen, a. a. O., S. 30 f. 747 V. A. Huber : »Die Vorteile der Association in ihrer vollen Entwicklung«, a. a. O., S. 805. 748 M. A. Kanther ; D. Petzina: Victor Aim¦ Huber, a. a. O., S. 143. 749 So wird der Sozialismus von Huber als »Irrtum« apostrophiert (V. A. Huber : Bruch mit Revolution und Ritterschaft, a. a. O., S. 43) und jede »Analogie« mit den »Träumereien« eines Fourier, Owen oder Cabet zurückgewiesen. V. A. Huber : Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen, a. a. O., S. 12 f. 750 V. A. Huber : »Die ökonomische Association«, a. a. O., S. 751.
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Der Blick auf den Staat
lieren wird, die Herausbildung eines vierten Standes einen »Gegner der Gesellschaft«751 entstehen lasse. D.
Der Ansatz Fichtes: Ökonomische Assoziation und berufsständische Initiative
Betrifft Huber zufolge der Versuch einer durchgreifenden Besserung der Lage der Besitzlosen erklärtermaßen die Gesamtheit »der bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung«, ja hängt in seinen Augen »die ganze Zukunft« davon ab, ob es gelinge, die vorhandene Gefahr eines revolutionären Aufbegehrens dieser Menschen einzudämmen und letztere eben zu einem wirklich integrierten Bestandteil des gesellschaftlichen Gefüges zu machen, so kann es für ihn »nichts Konservativeres geben als alles, was zu dieser Veränderung« einen wesentlichen Beitrag leistet.752 Damit sind im Besonderen jene Maßnahmen gemeint, die im Rahmen seiner assoziationstheoretischen Konzeption zur Sprache kommen. Widerspiegelt hier Hubers Rede vom ›Konservativen‹ vor allem seine bejahende Haltung gegenüber Veränderungen, »wenn sie nicht Umbruch, sondern störungsfreie, das Bestehende langsam, ohne Rechtsverletzung verändernde ›Entwicklung‹ bedeuten«753, nennt Fichte in eben solchem Sinne das Assoziationsprinzip »das einzige dauerhaft Conservative«754. Insofern dieses stets einen Ausgleich zwischen individuellen und allgemeinen Belangen schaffe755, sei es gerade nicht als »das Princip der Revolution, der tumultuarischen Ueberstürzung«, sondern als »das directe Widerspiel derselben«756 zu verstehen. Ist es doch Fichtes erklärtes Ziel, »nicht nur überhaupt ausführbare Mittel vorzuschlagen, sondern auch solche, die von Stund an ohne alle Umwälzung und Gewaltsamkeit in Ausführung gebracht werden können, ja die überall schon einzelne Anknüpfungen und Beispiele im Gegebenen finden«.757
Sucht Fichte nach einer praktikablen Lösung für den vor dem Hintergrund wachsender ökonomischer Ungleichheiten das »sociale Leben vergiftende[n] Widerstreit zwischen Sonder- und Gesammtinteressen«758, setzt er insbesondere 751 F. J. Stahl: Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche. Neunundzwanzig akademische Vorlesungen, Berlin 1863, S. 283. 752 V. A. Huber : »Die ökonomische Association«, a. a. O., S. 751 f. 753 R. Vierhaus: Art. ›Konservativ‹, ›Konservatismus‹ in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 3, Stuttgart 2004, S. 531 – 565, hier : S. 550 f. 754 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. VIII. 755 Ebd. 756 Ebd., S. 93. 757 Ebd., S. 99 ff. 758 Ebd., S. 101.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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auf bereits bestehende berufsständische Verbindungen im landwirtschaftlichen und gewerblichen Bereich, die er auch als Realisierungsformen des Assoziationsprinzips begreift. Vergeblich wird man bei ihm jene von diversen Autoren seiner Zeit gemachte »strikte Unterscheidung« zwischen dem die Gesamtexistenz der Mitglieder bestimmten Regeln unterwerfenden ständisch-korporativen »Zwangsverband« und dem lediglich auf einzelne Zwecke gerichteten assoziativen »Freiwilligkeitsverband« suchen759, die noch heute »das begriffliche und theoretische Fundament der neueren Vereinsforschung«760 bildet. Ob Fichte eine Stärkung für den »corporativen Geist«761 anmahnt oder vom »Geist der Association«762 spricht: Es geht ihm, konsequent seiner ethischen Grundsicht der menschlichen Natur folgend, um eine spezifische Ausprägung des allen Menschen innewohnenden Sinnes für gemeinschaftliches Handeln. Ein Handeln, das sich in diesem Fall durch Formen sozialer Organisation realisiert, die den Einzelnen Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhaltes – gerade auch aufgrund eigener Arbeit – eröffnen.763 Dementsprechend baut Fichte auf die vorhandenen berufsständischen »Beschäftigungskreise«, innerhalb derer sich, soweit möglich, mit der Rechtsgarantie organisatorischer Selbstständigkeit versehene, in diesem Sinne also freie Innungen bilden sollen, »in welche Jeder zuzulassen wäre, der seine Arbeitstüchtigkeit beweisen kann«.764
759 W. Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1, München 1997, S. 11. – Vgl. F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2, a. a. O., S. 65; H. M. Chalybäus: System der speculativen Ethik, Bd. 2, Leipzig 1850, S. 199. 760 W. Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1, a. a. O. , S. 11. Vgl. F. Müller : Korporation und Assoziation, a. a. O. , S. 15; S. 130 ff. – Wolfgang Hardtwig merkt freilich an, dass diese Unterscheidung bei genauerem Hinsehen »ins Zwielicht« gerate (ebd. , S. 11). Entstanden im 18. Jahrhundert als »Produkt des Revolutionszeitalters«, nämlich »im Meinungskampf um Nutzen und Nachteil der Zünfte und um die Koalitionsfreiheit« (ebd. , S. 362), habe sie zwar weiterhin eine »idealtypisierende« und damit »systematisierende« Funktion, doch könne sie »die komplexe Wirklichkeit selbst nie wirklich« beschreiben (ebd. , S. 68). – »Nicht nur existieren ›korporative‹ Arrangements bis weit ins 19. Jh. hinein, umgekehrt sind im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ›assoziative‹ Elemente innerhalb ständisch-zünftlerischer Institutionalisierungsformen feststellbar.« K. Türk ; T. Lemke; M. Bruch : Organisation in der modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2002, S. 79. 761 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 342. 762 Ebd., S. 93. 763 Gleichwohl zeigt Fichte ein Bewusstsein für historische Differenzen hinsichtlich sozietätsinterner Ordnungsstrukturen, wenn er sich sowohl gegen den »alten Zunftzwang« als auch »das jetzt schrankenlose Sicheindrängen unbrauchbarer oder unfähiger Subjecte in die Handwerke« ausspricht. Ebd., S. 92. 764 Ebd.
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Der Blick auf den Staat
»Jede Innung ferner hätte sich nun in’s Einzelne zu organisiren nach der Eigenthümlichkeit ihrer Beschäftigungen: – im Landwirthschaftlichen z. B. durch Vereinigung zu grössern Ganzen durch Ackerbaucolonien, wie sie in England, Frankreich und Belgien schon versucht worden sind; in den eigentlichen Gewerken durch Einrichtung gemeinschaftlicher Arbeitswerkstätten, gemeinsamen Ankauf der Rohprodukte, durch Gewerbhallen, durch Arbeitercassen für Erspartes oder zu Vorschüssen und vieles Aehnliche.«765
Entschieden plädiert Fichte dabei für die Einführung möglichst effizienter Produktionsmethoden, um die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten zu verbessern. So ließe sich im Falle der handwerklichen Arbeitswerkstätten bei wohldurchdachter Anwendung des Prinzips der Arbeitsteilung »die Virtuosität und die Wohlfeilheit des Arbeitsproducts, also der gemeinsame Gewinn« geradezu »in’s Unbedingte« steigern.766 In der Landwirtschaft müsse zudem mit dem Einsatz moderner Produktionsverfahren eine Neuverteilung von Grund und Boden einhergehen. Habe vormals insbesondere die Besitzanhäufung durch »erbliche Majorate mit Unauflöslichkeit« eine Veränderung der bäuerlichen Eigentumsverhältnisse und damit zugleich jeden Fortschritt auf dem Gebiet der »Bodencultur« verhindert, erfolge nun die »unbedingte Zersplitterung des Grundeigentums in so kleine Parcellen, dass das Ackerbauproletariat nahe ist«.767 Abhilfe sieht Fichte in der Entstehung genossenschaftlich verwalteter, »nach rationellen, landwirthschaftlichen Gründen gebildeter Gütercomplexe«, die allererst die Voraussetzung böten für eine wirkungsvolle Verbindung verschiedener agrarischer Produktionszweige768. »So weit wir davon entfernt sind, über das Technische der Frage hier ein Gutachten abgeben zu wollen, so leuchtet doch aus allgemeinen Gründen ein, dass der Gedanke der Association auch in dieser Richtung einmal durchgreifend versucht werden muss. Er würde, langsam und ohne Gewaltsamkeit gefördert, auf unmerkliche Weise die gründlichste und segensreichste Umgestaltung des Grundbesitzes herbeiführen und einen nicht kleinen Theil der socialen Frage lösen.«769
Neben dem Selbsttätigwerden der Betroffenen ist somit die Initiative des Staates gefragt. Nichts anderes meint der Hinweis auf die positiven Auswirkungen sukzessiver und zwangloser Förderung des Prinzips sozietärer Selbsthilfe. Im Vordergrund steht dabei die Neuregelung eigentumsrechtlicher Bestimmungen, 765 Ebd. 766 Ebd., S. 264. 767 Ebd., 259 f. – Zum historischen Kontext der ›Bauernbefreiung‹ vgl. F.-W. Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 2, Paderborn; München; Wien; Zürich 1996, S. 41 ff. 768 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 260. 769 Ebd., S. 260 f.
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die die berufsständische und jede sonstige soziale Selbstorganisation im gewerblich-industriellen wie im landwirtschaftlichen Bereich zu unterstützen habe, um auch mit den Mitteln des Assoziationsrechts einer Sicherung des Eigentums im Sinne der Fichte’schen Erweiterung dieses Begriffes näherzukommen. Unter deren Zielvorgabe ja ein gesellschaftlicher Zustand angestrebt wird, in dem die Forderung, alle Arbeitsfähigen müssten die Möglichkeit haben, durch eine ihren Befähigungen entsprechende Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen, der ihnen resp. ihrer Familie ein genügendes materielles Auskommen nebst Zeiten der Muße und Erholung garantiere, kurz: das Recht jeder Person »auf eigenthümliche Arbeitsleistung zum Zwecke möglichsten Wohlstandes«770, zur Umsetzung gelangt ist. »Diese grosse Rechtsaufgabe, die Grundlage der künftigen Gesellschaft, kann aber, wie wir gleichfalls zeigten, nur allmählig und auf staatswirthschaftlichem Wege gelöst werden, indem das grosse Princip der Association der kleinen Capitale und Arbeitskräfte zu gemeinsamen Unternehmungen in allen Theilen der Volkswirthschaft durchgeführt wird, so dass der jetzt bestehende zerstörende Gegensatz zwischen kleinen und grossen Capitalien, zwischen unorganisirter Einzelkraft und ebenso unorganisirter Concurrenz immer mehr aufgelöst wird.«771
Freilich habe sich hier die rechtliche wie politische Aktivität des Staates auf die Stärkung eigenständiger Initiativen der Betroffenen zu beschränken. Denn nur das freiwillige Bündnis derselben, eben die »freie Association«772 und eine von den berufsständischen Vertretungen »selbstständig ausgehende Organisation«773, erscheint Fichte tauglich für den Kampf gegen die sozio-ökonomischen Missstände. Lehnt er doch eine staatlich gelenkte Gründung assoziativer Vereinigungen ab, wie sie der Frühsozialist Blanc vertritt.774 Überhaupt sieht Fichte, der sich in der Ethik wiederholt dem Gegenüber von Selbstbestimmungsrechten der Gesellschaftsmitglieder und der Machtvollkommenheit des Staates annimmt, Letzteren vor die Aufgabe gestellt, künftig das Augenmaß zu wahren bei den Eingriffen in die »freie Thätigkeit der Regierten«.775 Eine Thematik, die gerade auch dort von Bedeutung ist, wo bürgerschaftliches Engagement durchaus selbst schon politisches Handeln im eminenten Sinne darstellen kann, indem es z. B. sehr direkt auf bürokratische Verfahrensweisen Einfluss nimmt. Gemeint ist die Ebene der Gemeinden und die Frage nach dem Verhältnis von gouvernamentaler und kommunaler Hand770 771 772 773 774 775
Ebd., S. 74. Ebd., S. 330. Ebd., S. 93. Ebd., S. 92. Vgl. oben: Teil 3, Kap. II. 3. B. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 220.
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Der Blick auf den Staat
lungsgewalt, das jeder ernsthafte Entwurf einer Dezentralisierung des Staates miteinbeziehen muss. E.
Die Gemeinde als Erfüllungsort gelungener Dezentralisierung
Fichte zufolge bedeutet die Mitgliedschaft in einer Assoziation oder berufsständischen Vereinigung stets auch die Zugehörigkeit zu einer als »sittliches […] Band«776 anzusehenden Gemeinschaft. Habe sie wesentlichen Anteil daran, die eigene Arbeit über den Aspekt der Unterhaltssicherung hinaus als ein das personale Selbst erfüllendes Tätigsein für die Mitwelt erleben zu können, hebt Fichte dergleichen Momente kommunitärer Verbundenheit auch in Bezug auf die aus dem »örtliche[n] Zusammensein«777 erwachsenden Gemeinden hervor. So spricht er zum einen davon, dass in dem »localen Verbande von Nachbar zu Nachbar, von Bürger zu Bürger, ein unendlicher Reichthum wohlwollender Ergänzungen und daraus erzeugter Lebensfreuden« zu finden sei. Zum anderen will er die Aufmerksamkeit schärfen für die Bedeutung der »Lebendigkeit und Innigkeit des Gemeinebewusstseins« und des »Interesse[s] an ihren Angelegenheiten«, insofern darin nämlich »die erste Grundlage des Interesses am Staate« und »der Bethätigung aller Bürgertugend« liege.778 Einmal mehr vereint Fichte also die beiden Grundperspektiven seines Ansatzes: den Blick auf das Individuum nebst den Vervollkommnungsmöglichkeiten individuellen sittlichen Seins innerhalb eines bestimmten sozialen Umfeldes und den Blick auf den reformbedürftigen Staat, der um seiner Fortentwicklung willen gerade die sozial bedeutsamen Handlungsspielräume der Einzelnen erweitern solle. Nach Fichtes Verständnis ist dazu vor allem eine Zunahme institutioneller Selbstbestimmtheit jener Gemeinschaften notwendig, die dem Individuum Möglichkeiten der Teilhabe an Entscheidungen von allgemeinem Belang gewährten. Dementsprechend müsse die Frage beantwortet werden, welchen Grad rechtlicher und politischer Eigenständigkeit die Gemeinden im Staat beanspruchen könnten. Als Einstieg in die Thematik wählt Fichte den Aufriss zweier theoretisch wie praktisch gleichermaßen bedeutsamer Formen des Verhältnisses von staatlicher und kommunaler Machtstellung, die er letztlich beide für unzulänglich hält. Dies sei zum einen die als »centralisirende Ansicht vom Staate« gekennzeichnete Herabstufung der Gemeinden zu bloßen Verwaltungseinheiten, die keinerlei autonome Handlungskompetenz beanspruchen könnten.779 Frankreich und ein 776 777 778 779
Ebd., S. 93. Ebd., S. 236. Ebd., S. 243. Ebd., S. 237.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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Teil der deutschen Territorialstaaten werden als Beispiele für die Umsetzung dergleichen staatstheoretischer Konzeption angeführt, mit der man eine auf das reibungslose Funktionieren aller Teile angelegte Staatsmaschinerie verwirklicht habe. Die historische Erfahrung zeige jedoch die »Hohlheit dieser gouvernamentalen Allgewalt«, die keinerlei Gegenkraft dulden wolle »in den Rechten einer Gemeine oder Corporation«.780 Zum anderen geht es um eine Auffassung des Staates, die diesen als »Bund von Gemeinen« begreife. Die Kommunen benötigten hier die Zentralgewalt nur »zur Aushülfe« in Betracht der Aufgaben, die sie selbst nicht angemessen bewältigen könnten.781 Das Problematische dieser Staatsvorstellung lasse sich in praxi an der Schweiz oder den Nordamerikanischen Staaten studieren. Stets drohe die Gefahr, dass allgemeine, das gesamte Volk betreffende Belange, wie beispielsweise die in den genannten Ländern der Gemeindeverantwortung unterliegende Schulbildung, der »Kirchthurmsbornirtheit« von Menschen anheimfielen, deren politischer Horizont nicht über die Kommunalverwaltungsebene hinausreiche.782 Das angemessene Verhältnis der Gemeinden zu zentralen staatlichen Machtsphären hält Fichte seiner ›organologischen‹ Grundperspektive entsprechend für gegeben, sofern jene als »lebendige Theile im Staatsorganismus«783 aufgefasst würden. Somit prinzipiell in die rechtlichen und administrativen Strukturen des Staates eingebunden, müssten die Gemeinden gleichwohl für die Behandlung ihrer eigenen Belange wie für die Erledigung der in den Bereich der örtlichen Gemeinschaft fallenden öffentlichen Aufgaben eigenständig Sorge tragen können. Versehen mit dem Anspruch auf Anerkennung als »juridische Person«, welcher abzuleiten sei aus dem Interessenverbundscharakter der Gemeinden, komme diesen also als Ausdruck ihrer Eigenständigkeit das im Rahmen einer Kommunalverfassung festzuschreibende Recht der Selbstverwaltung zu.784 Fichte legt damit auch den Finger in die Wunde verfassungspolitischer Rückschrittstendenzen, die sich in einigen deutschen Territorialstaaten während der Reaktionsära mehr oder minder deutlich abzeichneten. Unterbrach man in Preußen 1852 die Umsetzung der zwei Jahre zuvor erlassenen Gemein-
780 Ebd., S. 238. 781 Ebd. – Historisch gesehen komme freilich dieser Staatskonzeption eine besondere Bedeutung zu, insofern aus der ihr entsprechenden verfassungs- und verwaltungspolitischen Praxis der frühneuzeitlichen Städte Oberitaliens und Deutschlands »das eigentliche Staatsleben und die Staatskunst der neuern Zeit hervorgegangen« sei. Ebd., S. 239. 782 Ebd., S. 239. 783 Ebd. 784 Ebd., S. 241.
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Der Blick auf den Staat
deverfassung, wurden hier 1853 »die liberalen Kommunalordnungsgesetze […] mit dem Selbstverwaltungsartikel der Verfassung aufgehoben«.785 Hatte die gescheiterte Reichsverfassung von 1849 jeder Gemeinde »die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter« wie »die selbständige Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten mit Einschluß der Ortspolizei, unter gesetzlich geordneter Oberaufsicht des Staates« grundrechtlich verbürgt786, so geht es Fichte um eben diese Rechte. Die Verantwortung für die administrativen Obliegenheiten soll einem durch die Kommune selbst gewählten Gremium von Gemeindeoberen anvertraut werden, dem ein aus Mitgliedern der Bürgerschaft gebildeter, mit Beratungs- und Mitentscheidungskompetenz versehener »Gemeinerath« an die Seite zu stellen sei.787 Jeder Gemeinde stehe ferner das Recht auf Führung eines eigenen Finanzhaushaltes zu, das die Erhebung spezifischer Kommunalsteuern und die selbstständige Vermögensverwaltung einschließe. Dies habe freilich unter Aufsicht einer übergeordneten staatlichen Instituition zu geschehen. Das gelte ebenfalls für die Wahrnehmung der ortspolizeilichen Pflichten, deren Umfang noch an einem weiten, auch Aufgaben »im großen Bereich der inneren Verwaltung«788 einschließenden Polizei-Begriff orientiert ist. Neben der öffentlichen Sicherheit umfasse die Zuständigkeit der Ortspolizei Medizinal- und Gesundheitsangelegenheiten, Gewerbeaufsicht, Einhaltung ›guter Sitten‹ so wie die lokale Armen- und Hilfsbedürftigenpflege.789 Zur Bewältigung der Tätigkeiten im letztgenannten Aufgabenbereich soll die jeweilige Gemeindeleitung die Unterstützung freier assoziativer Verbindungen suchen. Auf die praktische Wohlfahrtspflege ausgerichtete Vereinigungen diverser Art, wie vor allem religiöse Ordensgemeinschaften, könnten die Wirksamkeit der Maßnahmen intensivieren.790 Auch eröffneten sich Möglichkeiten, auf diese Weise bürokratische Unzulänglichkeiten staatlicher Hilfseinrichtungen auszugleichen und deren Effektivität durch die Änderung überkommener Handlungsmuster zu erhöhen.791 Wird damit zudem ein Anwendungsbeispiel benannt für die Forderung 785 H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, a. a. O., S. 204. Vgl. E. R. Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz 31988, S. 126 f. 786 G. Franz (Hrg.): Staatsverfassungen, a. a. O., S. 165. 787 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 241. – Mögliche Erweiterungen der kommunalen Eigenverantwortlichkeit in den genannten Bereichen hängen laut Fichtes Aussage entscheidend vom Fortschritt des politischen Bewusstseins der Bevölkerung ab. Allerdings gibt er keinen Hinweis darauf, woran die Bemessung eines gehobeneren Bildungsniveaus Anhalt finden könnte. Ebd. 788 H.-L. Knemeyer : Art. ›Polizei‹, a. a. O., S. 892. 789 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 242. 790 Ebd., S. 243. 791 Ebd., S. 208 f.
Die ›assoziierte‹ Gesellschaft und die »Selbstregierung des Volkes«
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Fichtes, selbsttätige Sozietäten gerade ob ihrer richtungsweisenden Funktion im Prozess dezentralisierender Neuformierung des Gemeinwesens zu stärken, ist es durchaus konsequent, wenn er die Frage aufwirft, »ob nicht auch im Gemeinerathe schon die verschiedenen Stände und Genossenschaften ihre bleibende Vertretung finden sollten«. Die Anerkennung von Mitbestimmungsrechten der berufsständischen wie der assoziativen Vereinigungen könne eine möglichst wirkungsvolle »Organisation« bürgerschaftlicher Interessen auf der kommunalen Ebene garantieren.792 Fichte denkt hier an eine Interessenvertretung, die zum einen der Verpflichtung folgen müsse, ihre Absichten offen und transparent darzulegen und die zum anderen bei der Verwirklichung ihrer Zielsetzungen nicht den öffentlichen Interessen zuwider, sondern »im Geiste des Ganzen« zu agieren habe.793 Denn was Fichte im kommunalen Bereich wie auf den Feldern der ›großen Politik‹ verhindert sehen möchte, sind die Machenschaften sogenannter »Clubbs«. Bezeichnet seien damit Vereine, welche sich für »politische Zwecke« einsetzten, »die mit mehr oder minder geheim bleibenden Mitteln erreicht werden sollen« und die allein der Durchsetzung gruppenegoistischer Ziele dienten.794 Die Ablehnung richtet sich somit gegen Strategien politischer Einflussnahme, wie sie auch zum Teil von Lobbyisten unserer Tage verfolgt werden, wenn es darum geht, Partikularinteressen abseits der Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen. Überhaupt dürfe weder die Zuerkennung einer größeren Selbstständigkeit der Gemeinden noch die Vermehrung von Mitbestimmungsmöglichkeiten für einzelne gesellschaftliche Gruppierungen als »begrifflose Decentralisirung« praktiziert werden795, die die Einheit des staatlichen Ganzen zu unterlaufen und damit dessen innere Stärke zu gefährden drohe. Letztere lasse sich nämlich künftig daran messen, inwieweit es dem Staat gelinge, den jeden obrigkeitlichen Dirigismus hinter sich lassenden Aufbau dezentraler Strukturen – der auch dazu beitragen soll, den Bürgerinnen und Bürgern das Staatswesen als etwas um ihrer selbst willen Bestehendes zu erschließen – mit einem koordinierenden, die Partikularitäten übergreifenden Handeln zur Deckung zu bringen. »Wie man gesehen hat, ist die eigentliche Reform, welche wir dem Staate zudenken, die durchgeführte ›Decentralisation‹. Statt der bisherigen Bevormundung von Oben her, 792 Ebd., S. 241. 793 Ebd., S. 240. 794 Ebd., S. 322 f. – »Die Clubbs sind ihrem Vorgeben nach Theile der Volksvertretung, ja wenn sie Macht und Einfluss gewinnen, werden sie stark genug, sich das ganze und das wahre Volk zu nennen. Dennoch maassen sie sich diese Vertretung bloss an und organisiren ein Netz von Vereinen über das Land, die irgend einem willkürlichen Willen des Ehrgeizes oder der Parteileidenschaft folgen, nicht aber dem Interesse des Ganzen.« Ebd., S. 323. 795 Ebd., S. 240.
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Der Blick auf den Staat
welche in Alles eingreift, aber Alles nur halb, nur unvollständig zu thun vermag, soll die Thätigkeit der Gemeinen, der Genossenschaften in Bewegung gesetzt, kurz die ›Selbstregierung‹ im Einzelnen und im Ganzen durchgeführt werden. Während wir dies nun behaupten, also den ›Staat‹ von einer Menge Verpflichtungen entlasten zu wollen scheinen, werden ihm von der andern Seite noch weit mehr Verpflichtungen von uns auferlegt, als ihm bisher zugemuthet wurden. Ist dies nicht ein Widerspruch der handgreiflichsten Art? Freilich ist er handgreiflich genug; in der That aber nur scheinbar, weil er lediglich in der alteingewohnten Vorstellung seine Wurzel hat, die nur da den ›Staat‹ erblickt, wo von Obenher Etwas befohlen, administrirt, in uniformer Weise verwaltet wird. Wir haben nirgends gesagt, noch konnten wir sagen, dass jene Thätigkeit einzelner sich selbst leitender Genossenschaften nicht Staatsthätigkeit sei, ebensowenig: dass ihre einzelnen Verzweigungen nicht von einer einenden Macht in Ordnung gehalten und zu gemeinsamen Resultaten verbunden werden sollen. Die ›Decentralisation‹ ist nicht der Atomismus, sondern die durchgreifende Organisation im Staate nach übereinstimmenden Gesetzen und mit ineinandergreifender Wirkung. ›Selbstregierung‹ des Volkes kann eben in nichts Anderm bestehen als darin, die Staatsthätigkeit zu universalisiren, in die untern Schichten zu legen und alle dafür fähigen Kräfte zu gewinnen […].«796
Im Weiteren macht Fichte hier noch einmal deutlich, dass er den Zuwachs politischer Mündigkeit der Staatsangehörigen für unabdingbar hält, um diese Ziele zu erreichen: In der »politischen Erziehung von Untenher, in Stärkung des Gemeinelebens und des corporativen Geistes«, worunter für ihn eben zugleich die Förderung von Assoziationsbildungen fällt, sieht er die Mittel der Wahl, um die Verwirklichung jener »›Selbstregierung‹ des Volkes« auf den Weg zu bringen.797 Dies ist gedacht im Sinne einer Beteiligung an Tätigkeiten und Aufgaben, die den großen Bereich des öffentlichen Interesses berühren. Wie sich zeigen wird, projektiert Fichte damit jedoch keineswegs ein auf das Prinzip der ›Volkssouveränität‹ gegründetes Gemeinwesen.
IV.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
1.
Der »Dualismus von Fürst und Volk«
Jenes längere Fichte-Zitat, das am Ende des vorhergehenden Kapitels bestimmte Kernpunkte der Dezentralisierungsthematik akzentuiert, kann durchaus auch mit Bezug auf die Fundierung seines Ansatzes im organologischen Staatsdenken 796 Ebd., S. 341 f. 797 Ebd., S. 342.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
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des 19. Jahrhunderts gelesen werden.798 Je mehr es nach Fichtes Auffassung gelingt, die Aktivitäten aller politisch und gesellschaftlich relevanten Kräfte, wie eben beispielsweise die »Thätigkeit einzelner sich selbst leitender Genossenschaften«, zu einem Ganzen »mit ineinandergreifender Wirkung« und »gemeinsamen Resultaten« zu verbinden799, desto deutlicher wird seines Erachtens ein dezentralisierter Staat der Zukunft hinsichtlich der inneren Verfasstheit als »Organismus«, als »geschlossene und selbstständige Totalität«800 erscheinen. Müsse für die Aufgabe koordinierender Leitung und Lenkung vor allem die »einende Macht« der Staatsführung Sorge tragen801, hätten zugleich die bürgerschaftlichen Stimmen Gehör zu finden. Fichte spricht vom Prinzip der »Wechselwirkung« der politischen Kräfte: Diese soll stattfinden zwischen der »Regierung, gipfelnd im Souverän, als dem höchsten entscheidenden und ausführenden Willen«, und der »Volksvertretung«, die »zusammen« den »ganzen Staat« repräsentierten802 und ihre jeweiligen Funktionen in einer Beziehung »organische[r] Ergänzung«803 erfüllten. Demgegenüber diagnostiziert Fichte mit Blick auf die in den deutschen Territorialstaaten herrschenden staatsrechtlichen wie machtpolitischen Verhältnisse einen – auch in der historischen Rückschau stets zu gewahrenden – »Dualismus« zwischen der Staatsführung und den »Ständen« als der Instanz einer ›Repräsentation‹ des Volkes.804 Von einer organischen Ergänzung der Gewalten könne folglich nicht die Rede sein: Gerade die geschichtliche Betrachtung zeige eine immer wiederkehrende Auseinandersetzung, die »fast überall mit der Unterdrückung der ständischen Rechte von Seiten der Fürsten geendet worden«805 sei.
798 799 800 801
802 803 804
805
Vgl. oben: Teil 3, Kap. I. 2. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 342. Ebd., S. 343. Ebd., S. 342; vgl. Ethik 1, S. 796. – Heinrich Ahrens bringt in der organischen Staatslehre, dem zweiten Teil seiner von Fichte geschätzten Philosophie des Rechts (vgl. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 276, Anm.) diesen Gedanken dahingehend zur Sprache, dass er die Regierung das »Hauptorgan« des Staates nennt, der die »Oberaufsicht« über das staatliche Leben obliege und die »die Einheit und Wechselwirkung unter allen Theilen aufrecht zu erhalten habe«. H. Ahrens: Die organische Staatslehre, a. a. O., S. 178 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 269. Ebd., S. 277. Ebd., S. 274. – Ist es Walter Demel zufolge wohl nur die »Repräsentationsidee«, die »das Ständewesen des 18. mit dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts verbindet«, bleibe zu berücksichtigen, »daß die Stände gegenüber fürstlichen Neigungen zu verschwenderischer Hofhaltung und außenpolitischen Abenteuern oft genug tatsächlich – wenngleich nicht ganz uneigennützig – auch die Belange der Nichtprivilegierten vertraten«. W. Demel: Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus, München 1993, S. 6. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 274.
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Der Blick auf den Staat
»Daraus erwuchs der neuere Beamten- und Policeistaat, der Staat der verwaltenden Intelligenz, mit Bevormundung des Volks, welches sich nun in die gleichartige Masse von Regierten auflöste, während, wie in Preussen, die Behörden (Staatsrath, Provinzialregierung u. s. w.) an die Stelle der frühern mitberathenden Stände traten.«806
Fichte umgreift mit dieser Charakterisierung des bürokratischen Obrigkeitsstaates einen sich über viele Jahrzehnte erstreckenden Zeitraum: Von der Epoche des Aufgeklärten- oder Reform-Absolutismus807, jene die politischen Verhältnisse im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts prägende Herrschaftstheorie und -praxis, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zu den für ihn aktuellen Problemlagen der nach 1848 beginnenden Reaktions-Ära. Wenngleich die innerhalb dieser Zeitspanne nicht zuletzt durch den »Modernisierungsdruck, der vom revolutionären Frankreich ausging«, eingeleiteten politischen Maßnahmen808 auch wenig zum Abbau der Spannungen zwischen Herrschermacht und Volksanliegen beitrugen, darf laut Fichte dem politischen Kurs einer ›Reform von oben‹ nicht jede historische Bedeutsamkeit abgesprochen werden. Immerhin seien mit diesem Ansatz »die ersten Versuche einer durchgreifenden rationellen Staatsverwaltung und Staatswirthschaft« unternommen worden.809 »Freilich hat er sich überlebt, rascher als irgend ein anderes Staatsprincip, weil er auf dem innern Widerspruche beruht, rational zu sein, also auf Freiheit und Vernunft zu beruhen und das Urtheil der letztern über sich stets gleichsam herauszufordern, dabei aber dennoch das Recht der Bevormundung in Anspruch zu nehmen und den ›beschränkten Unterthanenverstand‹ seiner Autorität unterwerfen zu wollen.«810
806 Ebd. 807 Vgl. E. Hinrichs: Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000, S. 123 ff. 808 H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 537. – Zu diesen politischen Maßnahmen zählen dabei auch die bereits thematisierten preußischen Reformen. Vgl. oben: Teil 3, Kap. III. 1. 809 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 274. – So spricht Hans-Ulrich Wehler von einem Prozess der »›defensiven Modernisierung‹«, in welchem »die deutschen Reformen ein neureguliertes Flußbett« schufen, »das zwar weiterhin manche Klippen besaß, aber im Grunde trotz der Restaurationsversuche nach 1815 in einer noch immer kurzen Zeit, nämlich bis 1848/1850, mit dazu beigetragen hat, daß dem zukunftsversprechenden Neuen zum Durchlaß verholfen wurde«. H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 534. 810 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 274 f. – Fichtes Hinweis auf die Rede vom ›beschränkten Unterthanenverstand‹ bezieht sich auf eine Reaktion des preußischen Ministers Gustav Adolf von Rochow in der Sache der Göttinger Sieben, jener Professoren der Universität Göttingen, die 1837 aus dem Dienst entlassen wurden, nachdem sie ein Protestschreiben gegen die Aufhebung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch König Ernst August eingereicht hatten. Als »der Elbinger Kaufmann Jacob van Riesen« von Rochow »eine ›Adresse‹ zukommen ließ, die Elbinger Bürger an Ernst August geschickt hatten, antwortete er mit dem berühmt gewordenen Satz: ›Dem Untertanen ziemt es nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an dem Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit desselben anzumaßen.‹
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
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Nichtsdestotrotz wird auch unter solchen Voraussetzungen das Unterfangen, den Staat ›von oben‹ her zu reformieren, nicht für obsolet erklärt. Vielmehr will Fichte diesen Ansatz ja durch eine ›Reform von unten‹ ergänzt wissen. Dafür steht insbesondere jene Aussage über das Assoziationsprinzip, der zufolge es »dem Staate in allen innern und äussern Reformen vorausschreiten« und »nach jeder Richtung den Fortschritt vertreten«811 soll. Die aus den Kreisen der Bürgerschaft selbst hervorgehenden Initiativen, also speziell die sozietären Vereinigungen in ihren verschiedenen Formen, müssten von den Regierungsverantwortlichen als Bereicherung des öffentlichen Lebens und Stütze staatlichen Handelns wahr- und angenommen werden. Erst dann werde nach Fichtes Verständnis der Weg zunehmenden Gedeihens einer ›organischen‹ Einheit des Gemeinwesens beschritten. Dazu bedürfe es allerdings laut seines wiederholten Bekundens – zumal man es in den deutschen Territorialstaaten mit einer Bevölkerung »von ungleichmässiger politischer Cultur« zu tun habe – einer von integrativer Kraft und dem Bemühen um Kontinuität getragenen Regierungspolitik, die eben alleinig einer entsprechend »starken, dauernden, ausser Streit gesetzten Staatsgewalt« abverlangt werden könne.812 Für Fichte ist diese Forderung letztlich nur in einer »Monarchie mit Erblichkeit«813 angemessen zu erfüllen, freilich im Rahmen einer Verfassung, welche bürgerliche Freiheit gerade auch als politische Teilhabe und Mitverantwortung des Volkes garantiere. Dabei finden sich im ersten Teil der Ethik durchaus Fichte’sche Anklänge diverser, um die Jahrhundertmitte deutlich pessimistisch tönender Stimmen, denen zufolge die konstitutionelle Monarchie kaum etwas anderes sein könne »als ein System des gegenseitigen Mißtrauens, der Verdächtigungen und Friktionen, eines andauernden Kampfes zwischen Regierung und Parlament«.814 Wo Fichte in einem späteren Kapitel dieses Werkes sich schließlich dezidiert der »Staatsverfassung« widmet, zeigt er freilich sein Zutrauen für die Möglichkeit des Ausgleichs zwischen den Gewalten im Staate. »Die gegenwärtige Aufgabe der politischen Entwicklung eines Theils von Europa, namentlich Deutschlands, ist es daher, das monarchische Princip mit dem der Volksfreiheit und Selbstständigkeit also zu vermitteln, dass jener schädliche Dualismus schwindet und das Interesse beider ein übereinstimmendes wird.«815
811 812 813 814 815
Seither verband die Öffentlichkeit mit seinem Namen das geflügelte Wort vom ›beschränkten Untertanenverstand‹«. W. Hardtwig: Vormärz, a. a. O., S. 25. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 417. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 299. Ebd. H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 129. Vgl. I. H. Fichte: Ethik 1, S. XI; ebd, S. 719. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 275.
172
Der Blick auf den Staat
Ist nun zunächst zu klären, was es mit dem monarchischen Prinzip auf sich hat, zu dem sich Fichte als ein »gründliche[r] Freund«816 bekennt, geht es im Weiteren um die Fichte’sche Begründung des Vorrangs eines erbmonarchischen Verfassungsstaates gegenüber anderen Staatsformen – insbesondere der von ihm so genannten »Wahlrepublik«. Hier wird zu fragen sein, welche Kompetenzen den jeweiligen politischen Gewalten dieses Staatswesens seiner Auffassung nach zuzusprechen sind. Überdies: Wie realitätsnah argumentiert er in diesem Zusammenhang? Wäre die Umsetzung der zum Vorschlag kommenden Maßnahmen wirklich ein gangbarer Weg, um das dualistische Spannungsverhältnis allmählich aufzulösen? Und was folgte daraus für die das staatliche Gefüge qua Anwendung des monarchischen Prinzips prägenden Rechtsverhältnisse und damit nicht zuletzt für die Freiheitssphären der Staatsangehörigen?
2.
Das monarchische Prinzip und sein exponierter Verteidiger: Friedrich Julius Stahl
Am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts »bereits schlagwortartig verbreitet«817, weist der Ausdruck hin auf die im Zuge der deutschen Verfassungsbewegung »prekär gewordene Stellung des Monarchen«.818 So verbanden viele Verfechter des monarchischen Prinzips damit zu diesem Zeitpunkt nicht mehr »die monarchische Gewalthabe schlechthin«.819 Ihr Hauptanliegen bestand darin, den lauter werdenden Rufen nach mehr Freiheit und Gleichheit im Staate, nach politischer Repräsentation und Mitverantwortung des Volkes, kurz: nach Einbeziehung des demokratischen Prinzips Gehör zu schenken, ohne Letzteres zum bestimmenden Moment der Verfassungsgebung werden zu lassen. In dieser Sichtweise galt es, die »traditionellen Legitimations- und Kompetenzlinien«820
816 I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, a. a. O., S. 213. 817 H. Boldt: Art. ›Monarchie‹ V – VI, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 189 – 214, hier : S. 201. – Zur Begriffsgeschichte vgl. H. Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, Bd. 2, Köln; Weimar ; Wien 1991, S. 850 ff. 818 H. Boldt: Art. ›Monarchie‹, a. a. O., S. 200. 819 H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 16. 820 C. H. Schmidt: Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, Berlin 2000, S. 16. Christian Hermann Schmidt macht diesbezüglich darauf aufmerksam, dass bei den »nach 1815 entstandenen ersten modernen deutschen Repräsentativverfassungen« das »Ziel der Verfassungsgebung […] nicht – wie in Nordamerika und Frankreich – die völlige Neubegründung einer politischen Ordnung« war, »sondern die rechtliche Bindung und Begrenzung des sich unter bürgerlich-liberalen Vorzeichen reformierenden monarchischen Staates«. Ebd.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
173
beizubehalten, mithin »die monarchische Vorrangstellung gegenüber den demokratischen und konstitutionellen Forderungen der Zeit zu bewahren«821. War das monarchische Prinzip in der Schlussakte der Wiener Ministerialkonferenzen von 1820 »für alle Glieder des Deutschen Bundes mit Ausnahme der freien Städte als verbindlich erklärt«822 worden, bedeutete dies in verfassungsrechtlicher Hinsicht, dass »[…] Träger der Staatsgewalt nicht die souveräne Nation, auch nicht König und Volk gemeinschaftlich seien, sondern der König allein. Die Verfassung stellt sich dar als eine – allerdings verbindliche – Selbstbeschränkung der monarchischen Gewalt, sie ist Begrenzung, nicht Grundlage der monarchischen Herrschaft. Der König behält die Fülle der Staatsgewalt bei sich, in ihrer Ausübung unterliegt er den verfassungsmäßigen Bindungen und wird eben dadurch vom absoluten zum ›konstitutionellen‹ Monarchen.«823
In der Folgezeit vielfach mit dem monarchischen Prinzip »selbst identifiziert«824, überantworteten die Bestimmungen des Artikels 57 der Wiener Schlussakte dem Souverän »die gesammte Staats-Gewalt«, wobei er »durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden« könne825. Eine Formulierung, die sichtlich nicht durch die Eindeutigkeit ihres Inhaltes besticht; man hatte vielmehr diese wenig präzisen Ausführungen bewusst auf einen Ermessensspielraum bei der konkreten Verfassungsgebung in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes hin angelegt.826 821 H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 17. 822 E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, in: Ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 112 – 145, hier: S. 115. 823 Ebd. Spiegelte das monarchische Prinzip einerseits die »Kontinuität monarchischer Herrschaft« in den deutschen Territorialstaaten, stand es andererseits für eine Selbstlimitierung monarchischer Macht und war damit in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts »zugleich Ausdruck der politischen Gesamtverfassung […] von der aus Deutschland den Weg durch dieses Jahrhundert beschritt«. Ebd., S. 116. 824 H. Boldt: Art. ›Monarchie‹, a. a. O., S. 203. 825 E. R. Huber (Hrg.): Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz 31978, S. 99. 826 Bis heute finden sich freilich unterschiedliche Deutungen zu der Frage, wie die Erfüllung dieses Ermessensspielraumes vorgedacht war : Habe man Hans Boldt zufolge zu berücksichtigen, »daß die Vagheit der Formulierung dieses Artikels nicht etwa den Fürsten bei künftiger Verfassungsgebung einen möglichst weiten Spielraum zur Zurückdrängung konstitutioneller Forderungen geben sollte […], sondern als Ausdruck des Prinzips der Nichteinmischung gedacht war (H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 23), sollten nach Hartwig Brandts Verständnis in den Staaten des Deutschen Bundes, »[w]o die Verfassungen selbst nicht mehr zu verhindern waren, […] wenigstens die Landesherren in den Stand gesetzt werden, liberalen Weiterungen vorzubeugen«. H. Brandt: Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998, S. 66.
174
Der Blick auf den Staat
Nicht zuletzt mit der Absicht, eine »›Grenzlinie‹ für die ständische Mitwirkung zu ziehen«827, wurden diese Bestimmungen zum viel kommentierten Gegenstand der staatswissenschaftlichen und verfassungstheoretischen Diskussion828. Zugleich zeitigte das Bemühen um Eingrenzung ständischer Kompetenzen im politischen Alltag zumal der Restaurationszeit handfeste Wirkungen: Regierungen der Einzelstaaten beriefen sich auf den Artikel 57 der Wiener Schlussakte, um den Ständevertretern »[v]erschiedene Ansprüche wie z. B. auf Gesetzespetition oder auf Steuerverweigerung«829 zu bestreiten. Erscheint hier das monarchische Prinzip als »Feldzeichen einer restaurativen Praxis«830, so war demgegenüber die »zweite deutsche Verfassungswelle«831 zu Beginn der 1830er Jahre insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass es in diversen Einzelstaaten, die ja allesamt auf dem Boden des monarchischen Prinzips regiert wurden, den liberalen Kräften innerhalb der Ständevertretungen gelang, der jeweiligen Verfassung »moderne konstitutionelle Züge zu verleihen«832. In der Theorie wie in der Praxis fanden sich also unterschiedliche Hinsichten und Ansätze des Umgangs mit dem monarchischen Prinzip als leitendem politischen und staatsrechtlichen Grundsatz. In diesem thematischen Zusammenhang steht auch Friedrich Julius Stahls »berühmter Versuch aus dem Jahre 1845«, jenes »zu fixieren«833 und damit demokratischen und parlamentaristischen Strömungen entgegenzutreten. Diese auch nach dem Scheitern der Revolution von 1848, das in Deutschland eine verfassungsrechtliche »Verfestigung des monarchischen Prinzips«834 mit sich brachte, noch mit bemerkenswerter zeitgenössischer Aufmerksamkeit bedachte Schrift soll hier kurz skizziert werden, da sich Fichte ebenfalls mit ihr auseinandersetzt.835
827 828 829 830 831 832
H. Boldt: Art. ›Monarchie‹, a. a. O., S. 203. Vgl. die Belege bei H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 20, Anm. 24. H. Boldt: Art. ›Monarchie‹, a. a. O., S. 205. Ebd. D. Grimm: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, Frankfurt a. M. 1988, S. 161. Ebd., S. 162. – Immerhin hatte oder erhielt ein Großteil der Staaten des Deutschen Bundes während des Vormärzes eine Verfassung. Eine Zusammenstellung dieser verschiedenen, »eine breite Zone der Überschneidung von Altem und Neuem« abdeckenden Verfassungsformen bietet H. Brandt: Der lange Weg in die demokratische Moderne, a. a. O., S. 70 ff. (Zitat: S. 72). 833 H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 204. Gemeint ist Stahls Schrift: Das Monarchische Princip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Heidelberg 1845. 834 D. Grimm: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, Frankfurt a. M. 1988, S. 208. – Ernst Rudolf Huber zufolge hat die Lehre vom monarchischen Prinzip gar »ihren vollen Sinn und ihre ganze Wirkungskraft erst in den nach dieser Revolution neu geschaffenen Verfassungen des hochkonstitutionellen Typus« gewonnen. E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, a. a. O., S. 12. 835 Zur Wirkung der Stahl’schen Abhandlung vgl. H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 214 f.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
175
Wenngleich Stahl sich grundsätzlich zum »constitutionellen System«836 als gebotener »Forderung der Zeit«837 bekennt, so möge Deutschland davor bewahrt bleiben, dass die künftige Entwicklung der Verfassungsbewegung »in den Constitutionalismus des Westens umschlage«838. Diesbezüglich dient Stahl die verfassungsrechtliche Situation Englands als Beispiel, in der nicht das monarchische, sondern das »parlamentarische Princip« maßgebend sei.839 Hier nämlich verfüge das Parlament über die »entscheidende Macht für den öffentlichen Zustand«, nenne es doch Rechte wie das der Gesetzgebungsinitiative und der unbedingten Steuerverweigerung sein eigen sowie die Möglichkeit des Zugriffs auf das oberste Richteramt.840 So verbleibe dem König nur eine Erhabenheit, welche vergleichbar sei der »des Knopfes am Kirchthurme, um den kein Mensch sich kümmert«841. Zudem habe man sich vor Augen zu führen, dass mit dem parlamentarischen Prinzip und der ihm gemäßen Stellung von Souverän und Regierung überhaupt – wenn man denn jenes nicht allein mit Bezug auf die englischen Gegebenheiten, »sondern als allgemeines Verfassungsziel betrachtet«842 – stets die Gefahr der Korrumpierung der Stände, mithin die Beherrschung der Politik durch Einzelund Gruppeninteressen drohe: »Man wird von Parteien beherrscht statt von der unparteiischen Macht des Fürsten«843. Dem wird nun das monarchische Prinzip entgegengesetzt, nach welchem gelte, »daß die fürstliche Gewalt dem Rechte nach undurchdrungen über der Volksvertretung stehe, und daß der Fürst thatsächlich der Schwerpunkt der Verfassung, die positiv gestaltende Macht im Staate, der Führer der Entwicklung bleibe«.844
Laut Stahls Verständnis unterliegt damit dem Fürsten der gesamte Bereich der Administration, die Gesetzesabfassung und die Festsetzung des Staatshaushaltes845 wie ihm »vor allem« das Recht und die Macht zukomme, »selbst zu regieren«846. Dabei sei eine auf die Einspruchsmöglichkeit der Ständevertretung 836 837 838 839 840 841 842 843
F. J. Stahl: Das Monarchische Princip, a. a. O., S. XVI. Ebd., S. 13. Ebd., S. XIV. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2 ff. Ebd., S. 10. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. In eben dieser Perspektive schreibt Stahl schon in der Einleitung, es sei das »dringendste Gebot, daß uns das politische System des Westens ferne bleibe: die Volkssouveränität, die Theilung der Staatsgewalt, die Republik unter der Form der Monarchie, die Kammerherrschaft und deren Begleiterin, die Kammerbestechung«. Ebd., S. IV. 844 Ebd., S. 12. 845 Ebd., S. 14 f. 846 Ebd., S. 18. Für die Stände wird ein Zustimmungs- und Petitionsrecht bei der Gesetzgebung
176
Der Blick auf den Staat
bezogene Ministerverantwortlichkeit »blos zum Zwecke der Verfassungsmäßigkeit« zuzugestehen; für jedes andere, die Verfassung nicht direkt berührende Fehlverhalten dürfe ein Minister nur gegenüber dem Fürsten haftbar sein.847 Darüber hinaus empfiehlt Stahl für den Fall einer Kontroverse zwischen Fürst und Ständen über Fragen der Verfassungsauslegung, »daß der König der oberste Richter über Streitigkeiten wegen Anwendung der Verfassung bleiben muß«848. In eins mit der Vorgabe, bei der Einführung einer Verfassung dürfe diese nicht aus der Willenserklärung einer verfassungsgebenden Versammlung oder aus Vereinbarungen zwischen Fürst und Ständen hervorgehen, sondern müsse von fürstlicher Seite »oktroyrt sein«849, präsentiert Stahl damit das »extremste promonarchische Bekenntnis in der Literatur des Vormärzes«850. Ein, wie bereits erwähnt, viel beachtetes Bekenntnis, das nicht wenige Kommentatoren zum Widerspruch reizte851.
3.
Fichtes Kritik an Stahl und sein Grundverständnis des monarchischen Staates
1848 veröffentlicht Fichte in seiner Zeitschrift mehrere mit staatsphilosophischen Fragen befasste Abhandlungen, von denen eine auch auf Stahls Schrift über das monarchische Prinzip Bezug nimmt.852 Fichte steht der Position Stahls insofern ablehnend gegenüber, als nach seiner Lesart hier das monarchische Prinzip lediglich »durch den Schein constitutioneller Formen«853 gestützt werden soll. Billige Stahl zwar einerseits der Stän-
847 848 849 850 851 852
853
nebst einem Bewilligungs- und – bedingten – Einspruchsrecht bei der Steuerfestsetzung vorgesehen. Ebd., S. 14 ff. Ebd., S. 18 f. Das heißt, nur bei einer »Verfassungsverletzung« soll die Ministeranklage möglich sein. Ebd., S. 19. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 204. Vgl. W. Füssl: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861), Göttingen 1988, S. 47. Vgl. die Literaturhinweise bei H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 215, Anm. 58. I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, a. a. O., S. 212 – 237. Eine Verbindung zum Inhalt der früheren Veröffentlichungen stellt Fichte in der Ethik selbst her, insofern er hier gleich mehrfach auf seine Monografie: Beiträge zur Staatslehre: die Republik im Monarchismus, Halle 1848, verweist, deren Thematik auch in einem der oben angesprochenen Artikel seiner Zeitschrift unter dem Titel: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. III. Die Republik im Monarchismus. Der Begriff der Souveränität« erscheint. ZPpK, Bd. 20 (1848), S. 10 – 34; vgl. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 275; S. 298; S. 300. I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, a. a. O., S. 213.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
177
devertretung verschiedene Rechte zu, habe er jedoch, wie Fichte mit ironischem Zusatz vermerkt, mittels der Maxime, die Entscheidung in Fragen der Verfassungsanwendung stehe allein dem Landesherrn zu, »mit der andern Hand glücklich alle Gefahren des Constitutionalismus beseitigt«854. So gerate die zugestandene Verantwortlichkeit der Minister gegenüber der Ständevertretung zur Farce, wenn dieser bis auf eine Beratungsfunktion jede ernsthafte politische Mitwirkungsmöglichkeit verwehrt sei. »Denn wo der Fürst allein die beschließende, befehlende Macht hat, da sind die Minister bloße Organe des fürstlichen Willens: sie haben zu gehorchen und können dafür unmöglich gestraft werden. Eben darum aber sind blos berathende Stände gerade um der Würde der Monarchie willen unzulässig: sie müssen das monarchische Princip, das durchaus principiell bleiben muß und nicht zum bloßen Accidenz, zum leeren Scheine, zur äußerlichen Formel herabsinken darf, dessen Aufrechterhaltung wir wenigstens für eben so nothwendig erachten als es Stahl nur immer mag, nothwendig schwächen und untergraben.«855
Versage man den Ständen als den Repräsentationsorganen des Volkes den Einfluss auf die Staatspolitik, provoziere man geradezu Reaktionen der Ständevertreter, die letztlich nicht mehr durch die Verfassung gedeckt sein könnten.856 In jedem Fall liegt nach Fichtes Dafürhalten eine Situation vor, die dem Dualismus von Fürst und Ständevertretung gerade noch Vorschub leiste, da »hier keine der beiden Staatsgewalten sich freudig bewegen kann, sondern jede der andern nur zum Hinderniß und zum Verdachte wird«857. Während Fichte sich mithin bemüht, die Unzeitgemäßheit dieses »patriarchalischen Monarchismus« aufzuweisen, dem zufolge die Volksvertreter lediglich »ein lästig heterogenes, hinderndes Element« darstellten858, sieht er – hier durchaus im Einverständnis mit Stahl – auch diejenigen Staatsdenker seiner Zeit 854 Ebd., S. 214. 855 Ebd., S. 214 f. 856 Ebd., S. 215. Freilich muss man Fichtes Darstellung, dernach Stahl den Ständen jegliche politische Mitentscheidungskompetenz entziehen und ihnen nur eine Beratungsfunktion belassen wolle, nicht unbedingt folgen. Spricht Stahl doch selbst davon, dass »die durchgängige Beschränkung der Stände auf den bloßen Beirath« gewisse »Nachtheile« mit sich bringe, »weil sie keine Anerkenntniß einer Berechtigung« enthalte. Darum sollten Stände »ein Bewußtsein haben, daß sie etwas ausrichten, etwas entscheiden«. F. J. Stahl: Das Monarchische Princip, a. a. O., S. 29 f. – Vgl. dazu die Deutung der Stahl’schen Sichtweise bei Hans Boldt (Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 204 ff.) und bei Wilhelm Füssl (Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl, a. a. O., S. 47), der nicht zu Unrecht bemängelt, dass solche »Passagen, die sich mit der Grenze der monarchischen Gewalt beschäftigen«, unbefriedigend blieben, »da sich Stahl meist mit vagen Formulierungen zufrieden gibt«. Ebd. 857 I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, a. a. O., S. 215. 858 Ebd.
178
Der Blick auf den Staat
auf einem Irrweg, die eine rasche Einführung der Demokratie859 befürworteten. Beruhe nämlich, wie er in der Ethik ausführt, in den meisten europäischen Staaten das »historisch überlieferte Staats- und Gesellschaftsprincip auf Anerkennung der Erblichkeit und der Angeborenheit« herrscherlicher Rechte, so hänge, zumindest auf absehbare Zeit, einem demokratischen »Wahlreich« im Rechtsverständnis dieser Völker das »Gepräge der Willkür« und damit der »Keim der Revolution« an.860 In Anbetracht dessen setze auf den erbmonarchischen Verfassungsstaat, wem die personale und die politische Freiheit des Individuums wie überhaupt das Wohl des Volkes am Herzen liege. Diese Freiheiten erhielten nämlich »in der Erbmonarchie mit möglichster Festhaltung des monarchischen Princips und Ausbildung der constitutionellen und persönlichen Volksrechte« die höchste Erfüllungsgarantie.861 Nur qua Befestigung dergleichen herrschaftspolitischer Verhältnisse könne ein reformierender, ohne revolutionäre Brüche sich vollziehender Wandel der überkommenen Strukturen des patrimonial-geburtsständischen in die Form eines berufsständisch gegliederten Gemeinwesens gelingen.862 Für die meisten europäischen Staaten wird somit nach Fichtes Überzeugung eine »organische Gliederung von Ständen und Genossenschaften, zusammengefasst in der starken Einheit einer Erbmonarchie«863, die angemessene Staatsform der Zukunft sein. Hier nämlich würde der politischen Partizipation 859 Ebd., S. 222. 860 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 280; vgl. Ethik 1, S. 795 f. – Konstatiert der Brockhaus gegen Ende der 1830er Jahre, außer im Gefolge politischen Fehlverhaltens werde die Demokratie in Europa »in den jetzt monarchischen Staaten niemals aufkommen oder Wurzel fassen«, zumal sie »Ehre und Geistesbildung, Wahrheit und Rechtssicherheit« eher zuwiderliefe (Art. ›Demokratie‹, in: Conversations-Lexikon der Gegenwart, Bd. 1, Leipzig 1838, S. 913 – 916, hier: S. 915), so ist Werner Conzes Ansicht zufolge »[v]ermutlich […] diese Auffassung des Brockhaus als repräsentativ für die Mehrheit des gebildeten Publikums im Vormärz anzusehen« (W. Conze: Art. ›Demokratie‹ VI – VII, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 873 – 899, hier : S. 878). Auch nach der Revolution blieb die »Ächtung der Demokratie […] für die politische Mentalität in Deutschland typisch. Das Schlagwort von 1848/49 gegen Demokraten helfen nur Soldaten entsprach der Erfahrung dieses Jahres und wurde in der Erinnerung wachgehalten. Mit den ›Soldaten‹ war der Erfolg, mit der ›Demokratie‹ das ordnungswidrige Aufbegehren und der Mißerfolg verbunden gewesen«. Ebd., S. 885. 861 I. H. Fichte: »Zur philosophischen Verständigung über die politischen Fragen der Gegenwart. II. Zur Kritik der politischen Parteien«, a. a. O., S. 222. 862 So sei die »constitutionelle Einherrschaft« unter den gegebenen Bedingungen gerade deshalb »die freieste und perfectibelste« Regierungsart, »weil sie auch von Unten her den weitesten Spielraum lässt für die innere Gliederung des Volks, sei es nach dem ältern, dem Patrimonialstaate angehörenden Gegensatze von Erbadel, Bürger und Bauern, sei es nach der unendlich reichern, der Zukunft angehörenden Entfaltung des Volkes in Stände, die alle Interessen repräsentiren und im eignen Innern freie Genossenschaften aller Art zulassen«. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 287. 863 Ebd., S. 281.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
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der Gesellschaftsmitglieder Raum gewährt und so, im Unterschied zu staatstheoretischen Entwürfen wie dem von Stahl vorgelegten, die Chance zur Überwindung der Interessengegensätze zwischen »Fürst und Volk« geboten.
4.
Souveränität und Erbmonarchie
A.
Souveränität im Zeichen des monarchischen Prinzips
Soll der Staat eine in sich geordnete ›organische‹ Ganzheit darstellen, müsse ihm neben der äußeren Souveränität, die ihn als selbstständige Macht gegenüber anderen Staaten abgrenze, eine innere Souveränität zukommen, die repräsentiert werde durch die »Gesammtheit der Staatsgewalten«, das heißt durch die »unauflösliche Verbindung« von Regierung und Volksvertretung.864 Wenngleich für Fichte in dieser Deutung innerer Souveränität der »einzig haltbare Sinn« der ›Volkssouveränität‹ liegt, verwahrt er sich gegen eine atomistische Auffassung derselben865, mithin »gegen die Idee vom Volk als (beliebiger) Menge souverän entscheidender Individuen«866. Um sein Verständnis dieses Souveränitätsbegriffes zu erläutern, verweist Fichte auf die ›gemäßigten‹ Staatstheoretiker Frankreichs – wie etwa Simonde de Sismondi – die die ›Souveränität des Volkes‹ als ›Souveränität der Nation‹ verstünden; wurde damit doch »von vornherein der Gedanke einer über den einzelnen stehenden, sie umfassenden Einheit verbunden«.867 Darüber hinaus existiere »noch eine Souveränität, die in der obersten ausübenden Gewalt liegt«. Im erbmonarchischen Verfassungsstaat »Fürstensouveränität« geheißen, habe man sie freilich auch der politischen Führung jeder ›Wahlrepublik‹ zuzuschreiben .868 »Der rechte Begriff der Souveränität auch in dieser engern Bedeutung muss nämlich ganz ebenso auf die Republik anwendbar sein, wie auf die Erbmonarchie. Die Souveränität beruht auf der gegliederten Gesammtheit der Staatsgewalten, wird aber vom Regenten ausgeübt (sei dieser ein grosser Rath oder ein Präsident oder ein Erbmonarch). Hier ist daher kein Streit und keine Theilung der Souveränität zwischen Volk und Regierung – Parlament und Fürsten – , sondern wo jenes ruht, ist diese stets wirksam, 864 Ebd., S. 275 f. 865 Ebd., S. 276. 866 H. Boldt: Art. ›Staat und Souveränität‹ IX – X, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 6, Stuttgart 2004, S. 129 – 154, hier : S. 130. 867 Ebd., S. 132. – »Unter ›Nation‹ nämlich ist nicht jene atomistische Masse von Individuen, sondern die gegliederte und geordnete Gesammtheit des Staates mit seinem Haupte, der höchsten Regierungsgewalt, zu verstehen.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 276. 868 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 276 f.
180
Der Blick auf den Staat
und keine Gewalt ist ohne die andere, weil das Volk nur in der Regierungsmacht ihr thatbereites Organ finden kann.«869
Die Stoßrichtung der Argumentation ist offensichtlich: Auf der theoretischen Ebene wird dem dualistischen Institutionengefüge die Spannung innerer Gegensätzlichkeit genommen. Obzwar Angehörige verschiedener Machtsphären, muss es zwischen Regierungs- und Volksvertretern kein permanentes Ringen um Vorrechte und Verantwortlichkeiten geben; vielmehr ist hier ein Verhältnis ergänzenden Zusammenwirkens jederzeit möglich.870 Doch so »klar und unzweifelhaft« sich dies »dem Principe nach« darstelle, bliebe damit noch »die praktische Frage« zu beantworten, »wie eine solche Regierung zu verwirklichen sei«.871 Legte der Art. 43 der preußischen Verfassung von 1850 in einer für das deutsche Verfassungsrecht dieser Zeit beispielhaften Weise fest, dass die Person des Königs »unverletzlich«872 sei, gehört auch für Fichte die (straf)rechtliche »Unantastbarkeit und Unverantwortlichkeit«873 unabdingbar zum Wesen der Souveränität des Regenten. Kein Souverän dürfe aufgrund eines »Zwangsgesetze[s]« zur Verantwortung gezogen werden; die »eigentlich bewegende« Macht im Staate dergestalt zu binden, beinhalte zweifellos einen »Widerspruch«.874 Überhaupt sollte die höchste staatliche Entscheidungsgewalt stets nur einer Person übertragen werden; obgleich eben »ein grosser Rath«875 gleichfalls als Inhaber souveräner Handlungsbefugnis in Betracht komme. Doch solcherart Machtaufteilung führe zu Kompetenzkonflikten, wie das Beispiel der französischen »Dreiconsulatsregierung«876 unter Napoleon Bonaparte zeige. 869 Ebd., S. 277. Fichte lehnt sich hier vor allem an den Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli an, auf den er in diesem Zusammenhang mehrfach verweist. Vgl. Ethik 2/2, S. 276, Anm.; ebd., S. 277, Anm. – »Zwischen jener Nationalsouveränität und dieser Fürstensouveränität ist kein Widerspruch. […] In beiden ist Einheit und Fülle der Macht; aber es versteht sich von selbst, daß hinwieder das Ganze, in welchem das Haupt selbst seiner obersten Stellung im Körper gemäß inbegriffen ist, auch dem Haupte für sich allein übergeordnet ist. Die ganze Nation gibt das Gesetz, aber innerhalb dessen Schranken bewegt sich das Haupt mit voller Freiheit in der Ausübung der ihm zugehörigen obersten Macht. Die Nationalsouveränität ist vorzüglich die des Gesetzes, die Fürstensouveränität die der Regierung. Wo jene ruht, da ist diese wirksam.« J. C. Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, a. a. O., S. 341. 870 »Es ist dabei auch keine Theilung der Macht, sondern eine organische Ergänzung: die Regierung verwaltet nur die ihr anvertrauten öffentlichen Interessen.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 277. 871 Ebd. 872 E. R. Huber (Hrg.): Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 505. 873 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 282. 874 Ebd. 875 Ebd., S. 277. Fichte nennt hier die Züricher Verfassung von 1831 als Beispiel. Ebd., S. 277, Anm. 876 Ebd., S. 284. Allerdings gelte dies – und damit will Fichte die gegensätzlichen Aussagen auf eine Linie bringen – vorrangig für die modernen, auf »stärkere Centralisation« der poli-
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
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»Das begriffs- und erfahrungsmässige Ergebniss des Bisherigen lässt sich sonach dahin aussprechen: dass die Souveränität nur auf Eine Person gelegt sein könne, welche alle entscheidende und vollziehende Gewalt in sich vereinigt, ohne selber gezwungen oder verantwortlich gemacht werden zu können. Aber sie soll nur für das Gerechteste und der Zeit Gemässeste sich entscheiden: gewissenhafte Beobachtung und genaues Beobachtenlassen der Verfassung von der einen Seite, künstlerische Wahl des Zweckmässigsten in allen neuen Regierungsmaassregeln von der andern, dies sind die beiden Gesichtspunkte, zwischen welche die Thätigkeit des Regenten fällt.«877
Dieses Bekenntnis zur konstitutionellen Einherrschaft stellt mit der Bestimmung von Leitlinien für die »Thätigkeit des Regenten« der konfliktträchtigen Beziehung zwischen Fürst und Volksvertretung eine Forderung entgegen: Nämlich die nach einem das dualistische Spannungsverhältnis gleichsam ›neutralisierenden‹ Regierungsstil. Dieser soll Verwirklichung finden im politischen Können eines ebenso sittlich integeren wie fachlich kompetenten Regenten, dem ein nicht minder kompetentes ministerielles Kollegium beratend zur Seite stehen müsse, »bei ihm die factisch auszumittelnde höchste Staatsweisheit im Volke« vertretend.878 Letzteres sei zu gewährleisten, indem der Regent ausschließlich Minister ernenne, denen die Volksvertretung »das überwiegende Vertrauen«879 ausgesprochen habe. Zudem sollten die Minister den Volksvertretern stets »verantwortlich«880 bleiben. Damit setzt Fichte zum ersten auf ein im politischen System Belgiens praktiziertes Verfahren881, zum zweiten auf das auch den deutschen konstitutionellen Verfassungen jener Zeit eingeschriebene »balancierende Element« der »Ministerverantwortlichkeit, die der Unverantwortlichkeit des Monarchen entsprach«882. Die Minister unterlagen der Verpflichtung, »auf Verlangen vor der Volksvertretung zu erscheinen und vor ihr Auskunft zu geben, über ihre bzw. die königliche Politik Rede und Antwort zu stehen«883.
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tischen Entscheidungsgewalt angewiesenen Großstaaten, während »manche kleinere Staaten des Mittelalters und der Gegenwart sich mit getheilter Souveränität begnügen konnten und können«. Ebd. Ebd. Ebd. Dass Minister gemeint sind, wenn Fichte an dieser Stelle von einem »Collegium von Räthen« spricht, erhellt aus ebd., S. 285; vgl. ebd., S. 302. Ebd., S. 302; vgl. ebd., S. 284. Ebd., S. 284. »Seit 1831 ist es üblich, daß der König seine Minister unter den Politikern sucht, die das Vertrauen der Parlamentsmehrheit besitzen.« J. Gilissen: »Die belgische Verfassung von 1831 – ihr Ursprung und ihr Einfluß«, in: W. Conze (Hrg.): Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, S. 38 – 69, hier : S. 62. Vgl. C.-F. Menger : Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Heidelberg 81993, S. 125. E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 120. Ebd., S. 121. – Zudem soll laut Fichte den Volksvertretern die Befugnis eingeräumt werden, solche Minister, die sich ungesetzliches oder verfassungswidriges Verhalten zuschulden kommen lassen, in einem gerichtlichen Verfahren zur Rechenschaft zu ziehen (I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 315). Vgl. den Art. 61 der Preußischen Verfassung von 1850: »Die Minister
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Der Blick auf den Staat
Was freilich kann der Regent gemäß Fichtes auf den Ausgleich zwischen den politischen Kräften bedachten Ansatz tun, um konfliktträchtige Situationen dieser Art zu minimieren? Nachgerade als selbstverständlich erscheint es ihm, dass der Regent mit der Möglichkeit Ernst macht, sich seinen ministeriellen Stab aus einem Kreis von Männern zu wählen, die mehrheitlich den Zuspruch der Volksvertretung besitzen. »[I]n denen also«, wie Fichte formuliert, »der Wille der Nation sein jedesmaliges verfassungsmässiges Organ findet«884. »Und hier – in dieser der blossen Willkür enthobenen Wahl – liegt der Punkt der Ueberleitung des allgemeinen Willens in den Willen des Regenten, dessen eigentliche Pflicht und Beruf es ist, in letzter Instanz doch nur Ausdruck jenes Willens zu sein. Ueber die Einsicht und den Willen des Volkes hinaus kann der Regent nicht gehen; und wer, selbst der weiseste unter den Herrschern, würde es auf sein Gewissen nehmen, der ungeheuern Verantwortung sich unterziehen wollen, die ›Vorsehung‹ seines Volkes zu werden und es wider seinen eignen Willen in neue Bahnen zu reissen? […] Mit Einem Worte: Rathgeber zu wählen, welche die Majorität der Kammern nicht hinter sich haben, ist eine Anomalie, welche gegen den wahren Begriff der Staatseinheit verstösst.«885
Gleichwohl hält Fichte an der im deutschen Konstitutionalismus üblichen »freie[n] Entscheidung des Monarchen über die Ernennung und Entlassung der Minister«886 fest. Weder dürfe ein »materieller Zwang« noch eine »Gewissensnöthigung« auf den Souverän ausgeübt werden887. Entsprechend wird für ihn bei dieser »wichtigste[n] Wahl«888 der Regent zum Garanten entschiedener Inachtnahme diesbezüglicher Mehrheitsvoten der Volksvertretung, dem im Verbund mit sittlicher Integrität und politischem Sachverstand eine staatsmännische Haltung zu eigen sei, der gemäß er »nur im Namen der Verfassung und als Ausdruck des allgemeinen Willens«889 herrsche. Eine fürstliche Regentschaft von hohem Format erscheint hier also als ein wesentliches Moment der Überwindung des Dualismus-Problems. Ein Format, das nach Fichtes Bekunden unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen allein im Rahmen erblicher Thronfolge Verwirklichung finden kann.
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können durch Beschluß einer Kammer wegen des Verbrechens der Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Verrathes angeklagt werden.« E. R. Huber (Hrg.): Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 507. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 302. Ebd. E. R. Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart; Berlin; Köln 1990 (rev. Nachdr. d. 2. verbess. Aufl.), S. 339. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 302. Ebd. Ebd., S. 285.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
B.
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Die Vorzüge der Erbmonarchie
Trotz seines klaren Bekenntnisses zum erbmonarchischen Verfassungsstaat bescheinigt Fichte der »Wahlrepublik«, prinzipiell dazu imstande zu sein, »die rechtliche und die sittliche Aufgabe des Staates« zu erfüllen.890 Eine Option, die allerdings nur bei »höchster politischer und sittlicher Reife eines Volks« zum Tragen komme. Sodann könne man auf die Wahl eines verantwortungsbewussten Staatsoberhauptes vertrauen, würde in diesem Fall doch »der weiseste Staatsmann einer Nation […] erkennbar« und »zum höchsten Einfluss gelangen«.891 Fehlten freilich dergleichen Voraussetzungen, wie angesichts der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, überwögen sichtlich die Vorteile der Erbmonarchie. Fichte führt seine Position anhand zweier Argumentationslinien aus, die auf die Zugehörigkeit potenzieller Regenten zu einem Herrscherhaus und auf die Dauerhaftigkeit des Herrscheramtes abheben. An erster Stelle steht das Argument der spezifischen Erziehung: Ihm für seinen außergewöhnlichen Beruf neben der notwendigen Sachkenntnis eine Haltung »strenger Gewissenhaftigkeit« anzubilden, sei ein »erreichbares Ziel für jeden Fürsten«. Wozu gleichermaßen die kritische Distanznahme gegenüber den vielfältigen Interessengruppierungen in Politik und Gesellschaft gehöre.892 Werde dem künftigen Staatsoberhaupt zudem ein familiäres Ethos herrschaftsbezogener Traditionen vermittelt, sorge dieses als »Erbweisheit der Familie« apostrophierte geistige Gut für eine »Stabilität sittlicher Grundsätze des Herrschens«, die nicht zuletzt dem Aufkeimen ungezügelten Ehrgeizes wehre.893 Schließlich bewahre der erbliche Familienbesitz den Regenten vor der Bedrückung und den Versuchungen mangelnder finanzieller Sicherheit. Gehöre doch eine »heitere und sichere Lebensstellung« zu den wesentlichen Voraussetzungen, um mit Neid enthobenem Wohlwollen »die Menschen und die Verhältnisse zu behandeln«.894
890 Ebd., S. 288. 891 Ebd., S. 289; vgl. S. 295 f. »Ueberhaupt müssen wir eingedenk bleiben, dass jener Zustand der Völker, der sie zu einer wahrhaften, durch sich selbst sich erhaltenden republikanischen Verfassung befähigt, ihnen auch ein Maass politischer Einsicht und Erfahrung verleihen wird, welches sie weit über unsere gegenwärtigen Rathschläge und Entwürfe hinausstellt.« Ebd., S. 296. 892 Ebd., S. 289 f. 893 Ebd., S. 290. Auch sei mit diesem Ethos die Erzeugung eines Ehrgefühles verbunden, das in dem Wunsch zum Ausdruck komme, »die gleiche Liebe und das gleiche Vertrauen der Staatsangehörigen sich zu erhalten, welches der Vater und der Ahnherr genossen haben«. Ebd., S. 291. 894 Ebd., S. 291.
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Der Blick auf den Staat
»Der Herrscher soll zugleich, könnte man sagen, der Erste und das Muster eines Edelmannes sein! […] Uneigennütziges Wohlwollen und Wohlthätigkeit, Theilnahme an allem Gemeinnützlichen ohne ehrgeiziges Streben und ohne Ostentation, dabei die humane Lebenssicherheit und Milde, welche in einem kampflosen Leben leichter errungen wird und doch die erfreulichste Frucht wahrer Menschenbildung ist, – alle diese adlichen und adelnden Tugenden soll der Herrscher unausgesetzt betäthigen. Und er kann es eher bei gesicherter Erblichkeit der Herrschaft, als wenn er nach einem müheund kampfreichen Leben etwa zum Präsidenten einer Republik sich aufgeschwungen hätte und nun mit gleicher Mühe, von den misstrauischen Blicken seiner politischen Gegner umlauert, auf seinem Platze sich behaupten müsste.«895
Diese Nachteile eines dauernden Kampfes um Selbstbehauptung im höchsten Staatsamt sind das Thema der zweiten Argumentationslinie. Erhalte das Oberhaupt seine Stellung nur für einen bestimmten Zeitraum, untergrabe die stets von Neuem beginnende Auseinandersetzung um die höchste Macht im Staate den eigentlichen Zweck der Regierungstätigkeit. Für die nach Fichtes staatstheoretischem Grundverständnis so bedeutsame Möglichkeit, eine gleichmäßige ›organische‹ Entwicklung des Gemeinwesens zu fördern – welche bei der erblichen, von dergleichen Positionskämpfen unberührten Thronfolge ja sehr wohl gegeben sei – finde sich hier kein Platz.896 Vielmehr gerate das notwendig mit gruppenegoistischen und parteipolitischen Rücksichten verknüpfte Bemühen um Erhaltung bzw. Erlangen der Macht zum Selbstzweck, so dass alle Ziele und Aufgaben der Staatsführung diesem Streben untergeordnet würden.897 Unter Berufung auf »Berichterstatter über Nordamerikanische Zustände«898 wird für Fichte insbesondere das politische System der USA zum Ausweis der Triftigkeit dieser Argumentation. Zwar spricht Fichte durchaus das »Zufällige«899 an, das der erblichen Übertragung fürstlicher Macht innewohne. Muss man doch hier – salopp gesprochen – denjenigen nehmen, der an der Reihe ist, selbst wenn, wie Fichte anmerkt, dem 895 Ebd. 896 Ebd., S. 297. 897 Ebd. »Greift nun der Parteienkampf bis zur Regierung hinauf, ist diese stets nur im Ringen um ihr eignes Dasein wider ihre Gegner begriffen: so kommt sie über die ersten Bedingungen der Selbsterhaltung niemals hinaus zu ihrem wahren Zwecke; sie bleibt in den Anfangsgründen befangen und arbeitet sich ab in einem Umkreise leerer Thätigkeit, der stets von Neuem beginnt, wenn die gegnerische Partei zur Macht gelangt.« Ebd. 898 Ebd., S. 298, Anm; vgl. ebd., S. 297, Anm. Demgegenüber lässt Fichte als Alternative zur erblichen Thronfolge die Wahl des Staatsoberhauptes auf Lebenszeit für ein Staatswesen gelten, dessen Bevölkerung im Prozess politischer Reifung auf das Äußerste fortgeschritten sei. Hier könne der »zur Zeit Würdigste« in das Herrscheramt gelangen, denn eine unter den genannten Voraussetzungen anzutreffende »Sittenreinheit« trüge gepaart mit »Lebenseinfachheit« und »Unbestechlichkeit« ihren Sieg über machtorientierten Ehrgeiz und gruppenspezifische Egoismen davon. Ebd., S. 295 f. 899 Ebd., S. 296.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
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Ausersehenen eine »politisch productive Begabung« fehle, die allenfalls glückliche Beigabe der Natur sei.900 Nichtsdestotrotz zeigt er sich überzeugt, dass sich jenes »irrationelle Element« der Zufallsbestimmtheit durch die »rechte Form der Verfassung« und vor allem durch die benannten Wirkungen einer Erziehung im »Familiengeiste« bis zur Bedeutungslosigkeit herabstufen lasse901. Die Argumente spiegeln somit zugleich Fichtes Vertrauen in die quasi mitgewachsene Modernität der Erbmonarchie wider. Wie das Staatsrecht seiner Zeit »den Standpunkt des patrimonialen Staates verlassen und den Begriff des verfassungsmässigen Rechts zum Mittelpunkte gemacht«902 habe, so erfährt für Fichte durch die »gründliche wissenschaftliche und sittliche Vorbildung«903 des jeweiligen Thronfolgers der Herrschersinn früherer Tage eine nachhaltige Änderung. Und schließlich zeitige dies auch Auswirkungen auf die Haltung, die die Bevölkerung gegenüber ihrem Staatsoberhaupt einnehme; längst sei der sprichwörtliche ›Untertanengeist‹ im Schwinden begriffen. Lediglich als »Vorurtheil gehässiger Leidenschaft« existiere noch die Vorstellung, dass es »zwischen Fürst und Volk kein freies, selbstständiges Verhältniss«904 geben könne.
5.
Die »berechtigten Gewalten« des Staates
A.
Fichtes Konzept der Gewaltenteilung
Der dem monarchischen Prinzip folgende Grundsatz Fichtes, demnach jene als höchste Staatsgewalt begriffene Souveränität »nur auf Eine Person gelegt sein könne, welche alle entscheidende und vollziehende Gewalt in sich vereinigt«905, steht der Idee der Gewaltenteilung prima facie negativ gegenüber. Zumal Fichte auch hier mit Beispielen aus der politischen Geschichte Frankreichs seit der Revolution von 1789 auf die Probleme geteilter staatlicher Macht verweist: So habe die in Legislative, Exekutive und Judikative geschiedene Trägerschaft dieser Macht stets nur eine »zusammengesetzte Souveränität« inne.906 Was aber solle bei dem Gefüge gleichberechtigter Staatsorgane, die als solche lediglich in 900 901 902 903 904
Ebd., S. 290. Ebd., S. 289. Ebd., S. 293. Ebd., S. 290. Ebd., S. 292. »Sonst sah der ›Unterthan‹ mit unwillkürlicher, angewöhnter Unterwürfigkeit in den Herrschern ›Götter der Erde‹, ein höheres Geschlecht, betrachteten sich diese als von ›Gott‹ mit dem Rechte des Herrschens beliehen, und nur Ihm zur Rechenschaft darüber verschuldet, wie sie herrschten. Dieser Glaube ist, in den politisch ausgebildeten Völkern Europa’s wenigstens, dem Erlöschen nahe, und wäre es auch möglich, Nichts liegt daran ihn zu erhalten […].« Ebd. 905 Ebd., S. 284. 906 Ebd., S. 283.
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Der Blick auf den Staat
einem »Aggregats- oder […] Vertragsverhältniss« zueinander ständen, die »Einheit des Willens und die Energie der Entscheidung« hervorrufen?907 Legt Fichte also wiederum das Augenmerk auf die in der Souveränität des Regenten repräsentierte ›organische‹ Einheit der Staatsgewalt908, teilt er gleichwohl verschiedene Funktionsbereiche des staatlichen Systems rechtlich mehr oder minder selbstständigen Machtträgern zu; schließlich ist auch für ihn ein Verfassungsstaat moderner Prägung ohne die Unterscheidung dieser »berechtigten Gewalten«909 nicht denkbar. »Es ergeben sich drei: die Regierung, gipfelnd im Souverän, als dem höchsten entscheidenden und ausführenden Willen, hat die Volksvertretung sich gegenüber. Sie zusammen, in Wechselwirkung mit einander, stellen das ›Volk‹, den ganzen Staat dar. – Wiederum ihnen gegenüber, beide in ihrer gesetzmässigen Wirksamkeit überwachend und vor Entartung warnend, unmittelbare Bedürfnisse anregend, wie bleibende Reformen vorbereitend, steht eine dritte Macht im Staate, gesetzlich anerkannt, aber nicht an bestimmte Individuen gebunden, vielmehr frei sich erzeugend aus dem jedesmaligen Bedürfen oder aus dem politischen Talente, somit sich selber controlirend und durch die Freiheit der Debatte das Gleichgewicht der Wahrheit erzeugend: – wir nennen sie die ›öffentliche Meinung‹, die sich in der freien politischen Presse und im Versammlungsrecht des Volkes ihren doppelten Ausdruck giebt.«910
Obschon in dem Schema der Gewaltenteilung der Bereich der Jurisdiktion911 nicht erscheint, wird dieser gleichfalls eine rechtlich eigenständige Stellung zugebilligt.912 Fichte befindet sich hier auf einer Linie mit jenen Vertretern der konstitutionellen Staatslehre, die zwar Kritik üben am Konzept geteilter Gewalten, es letztlich jedoch »nur verbal«913 preisgeben. Vor allem will er den inneren Zusammenhang der Gewalten und die Notwendigkeit gemeinsamen Tätigseins derselben um eines Staates willen betont wissen, in dem die trennenden Gräben des Dualismus zwischen »Fürst und Volk« allmählich zugeschüttet werden. In diesem vermittelnden Sinne ist die Rede von der »Wechselwirkung« zwischen Regierung und Volksvertretung zu lesen, die ergänzt werde durch die öffentliche Meinung als wachsame, auf notwendige Korrekturen hinweisende Kraft. 907 Ebd., S. 283 f. 908 Vgl. E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 118. 909 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 269. 910 Ebd. 911 Vgl. ebd., S. 257; S. 303; S. 328. 912 Es müsse »der Richter auch äusserlich von der Regierungsgewalt unabhängig dastehen, um die der Macht des Staates unzugängliche Majestät des Rechtes zu bezeichnen«. Ebd., S. 328. 913 H. Fenske: Art. ›Gewaltenteilung‹ in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 2, Stuttgart 2004, S. 923 – 958, hier : S. 947. Hans Fenske führt entsprechende Beispiele aus dem Bereich der konstitutionellen Staatslehre an. Ebd., S. 947 f.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
B.
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Der Regent und die ministerielle Regierung
a. Der Monarch als ›Bürgerkönig‹ Übe der Regent seine Herrschaft durch die »verantwortlichen Staatsämter« aus, stehen hier neben dem System der konstitutionellen Ministerregierung »die bestimmten Functionen der Staatsverwaltung […] welche in ihm ihre Spitze behält«914 im Blick. Stützt Fichte somit durchaus den Fortbestand der »primär auf den Monarchen bezogenen, in ihrem Kern obrigkeitlich und anstaltlich geprägten Beamtenverwaltung«915, setzt er dabei zugleich auf die vorbildhafte Wirkung eines den sozietären Vereinigungen entspringenden bürgerschaftlichen Engagements. Der Sinn für Eigenständigkeit und Offenheit möge auch in den Amtsstuben Einzug halten und manche überkommene Auffassung der Beamtenschaft lockern. So solle die Bereitschaft der Einzelnen zunehmen, im Falle einer belastenden Einengung innerhalb des jeweiligen Tätigkeitsbereiches die Entlassung aus dem Staatsdienst zu erbitten, um den Lebensunterhalt in anderen Beschäftigungsverhältnissen verdienen zu können.916 Allerdings muss dann ein Regent die Regierung führen, der bereit ist, dergleichen Entlassungsgesuchen mit Zustimmung zu begegnen, der sich mithin solchen Akten entschiedener Selbstverantwortlichkeit der Untergebenen nicht verschließt. Es ist die Vorstellung von einem Herrscher, der durch die mit der erblichen Thronfolge verbundenen Lebensumstände darauf vorbereitet wird, in einer den Interessen der Staatsangehörigen möglichst dienlichen Form zu re914 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 299. Die auffällig kurze Behandlung der Staatsverwaltung ist auch hier Fichtes Verständnis seines Ansatzes als einer philosophischen Grundsatzbetrachtung geschuldet. Unterteilt in die den ethischen Ideen des Rechts und der ergänzenden Gemeinschaft zugeordneten Bereiche erstens des »Rechts«, zweitens der »äussern« und drittens der »innern Wohlfahrt«, werden für jeden dieser Bereiche bestimmte Aufgaben und Leitlinien künftiger Entwicklung benannt. Die damit verbundenen staatswirtschaftlichen, polizeirechtlichen und bildungspolitischen Zielsetzungen kamen im Wesentlichen bereits in den Abschnitten zum wohlfahrtsorientierten Staat (vgl. oben: Teil 3, Kap. II. 1.–3.), speziell zur Bildungsreform (vgl. oben: Teil 3, Kap. II. 4.) zur Sprache. Darüber hinaus habe dazu »die Ethik am Wenigsten zu sagen, indem alles Einzelne der Politik, als Kunstlehre des Staats, und den besondern Zweigen der Staatswissenschaft überlassen bleiben muss«. Ebd., S. 326. 915 E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 120. 916 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 303. »Auch hierin kann und muss das Staatsprincip der Zukunft, die Selbstregierung in frei von Unten auf sich organisirenden Vereinen, eine Aenderung in den Geist der Beamten bringen. Sie werden sich nicht mehr so unauflöslich an ihre Stelle gekettet empfinden, wenn sie sehen, wie in den freien Associationen unter ihnen die Dienstattribute der Einzelnen unaufhörlich wechseln und wie dem wahrhaft Kundigen mancherlei Mittel gegeben sind, ausserhalb des eigentlichen Staatsdienstes sich fortzuhelfen, wenn in demselben seine politische Selbstständigkeit in Gefahr kommen sollte.« Ebd.
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Der Blick auf den Staat
gieren. Und der gemäß eines solchen Herrschaftsverständnisses Minister ins Kabinett beruft, die mehrheitlich von den Volksvertretern gewünscht werden. Dazu gehört auch, dass Fichte jeder »Geheimthuerei des Regierens« eine Absage erteilt und die politischen Entscheidungsprozesse dem Lichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sehen will. Das hier notwendige freie Pressewesen komme diesem Regierungsstil umso mehr entgegen, als »[u]mgekehrt […] der Souverän aber auch allen Interessen und Bedürfnissen des Volkes mit seiner Kenntniss nahe bleiben, alle Mängel und Ungesetzlichkeiten erfahren« soll.917 So regt Fichte an, einen Beamten eigens mit der Aufgabe zu betreuen, dem Regenten die in der Presse dokumentierten Problemfälle vorzulegen. Überhaupt brächten es die herrscherlichen Pflichten mit sich, jederzeit ein offenes Ohr für die Nöte der Staatsangehörigen und eine offenes Auge für die Nachlässigkeiten der Behörden zu haben. »Der Regent soll nicht nur allen Hülfsbedürftigen zugänglich, sondern auch allen pflichtvergessenen Beamten durch die drohende Möglichkeit der Ahndung gleichsehr nahe sein.«918
Nichtsdestotrotz müsse die Herrschaftspraxis des Regenten von einer kritischen Distanz gegenüber bestimmten Begehrlichkeiten der Kammern geprägt sein. Als oberster Verfassungshüter habe er von seinem Veto-Recht Gebrauch zu machen, wenn Gesetzesvorschläge der Volksvertretung verfassungswidrigen Charakter hätten oder es um eine Verordnung ginge, »welche er als unzeitig und übereilt erkennt«.919 Stets sei im ersten Fall das absolute Veto920 angezeigt. Demgegenüber könne er im zweiten Fall mit einem aufschiebenden Veto reagieren, was eine Neuverhandlung der Gesetzesvorlage nach sich ziehe. Erziele man auch dann keine Einigung, böten sich Kammerauflösung und Neuwahl der Volksvertretung als Mittel an. Seien folglich »Instanzen genug« vorhanden, »um eine Abkühlung der Leidenschaften und eine objective, dem Wohle des Volks gemässe Lösung 917 918 919 920
Ebd., S. 294 f. Ebd., S. 304. Ebd., S. 300. Ebd. ¢ So plausibel es im Rahmen dieses konstitutionellen Systementwurfes klingen mag, dass der Regent nicht verfassungsgemäß erscheinende Gesetzesvorlagen ohne Wenn und Aber ablehnen dürfe: Hans Boldt bemerkt im Hinblick auf die – eben auch von Fichte favorisierte – Vorstellung Friedrich Christoph Dahlmanns, »das Ministerium fürderhin aus der Kammermajorität« hervorgehen zu lassen, dass »unter solchen Voraussetzungen das absolute Veto systemwidrig geworden« sei, »weil es die intendierte Verbindung zwischen Majorität und Regierung unterbricht, ohne daß angegeben wird, wie die sich hier ergebende Kluft wieder geschlossen werden kann« (H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 184). Einen derartigen Vorwurf kann man auch an Fichte richten, der die ›dualistische‹ Kluft zwischen fürstlicher Regierung und Volksvertretung gerade beseitigen möchte, das hier in Rede stehende Problem jedoch gleichfalls nicht behandelt.
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der Collision möglich zu machen«921, bezieht Fichte hier, als ultima ratio, die »Thronentsagung«922 des Regenten explizit mit ein. Es entsteht das Bild eines Herrschers, der, nicht zuletzt gestützt auf die Errungenschaften einer freien Presse, seinen Handlungsspielraum im Sinne eines ›Bürgerkönigs‹923 zu nutzen weiß. Gleichsam als Anwalt des Gemeinwohls soll dieser Regent selbst aktiv leitend an den Staatsgeschäften Teil haben. Ausdrücklich stellt Fichte dies jener nach seinem Dafürhalten gänzlich verfehlten Aussage Hegels in der Philosophie des Rechts entgegen, dernach es für einen Monarchen nur eines Menschen bedürfe, »der ›Ja‹ sagt und den Punkt auf das I setzt«.924 Denn das Oberhaupt des Staates werde so zum bloß zustimmenden »Statisten oder zu einem müssigen Zuschauer«925 degradiert. b. Die Stellung der Minister Eingedenk der Kritik an Stahl will Fichte – seiner Auffassung gemäß also gerade im Einklang mit dem monarchischen Prinzip – ein selbstherrliches Machtgebaren des Staatsoberhauptes verfassungsrechtlich gebannt wissen. Ausdrücklich befürwortet er jenes Element des konstitutionellen Staatsrechts, das »spätestens nach 1848 auch in die Verfassungen aufgenommen«926 wurde: Die Bestimmung der »Gegenzeichnung aller Decrete des Souveräns« durch die zuständigen Minister, »wodurch jene allein öffentliche Gesetzeskraft erhalten«927. Eine Bestimmung, die immerhin bedeutete, dass der König »ohne einen gegenzeichnungsbereiten Minister zum Handeln nicht in der Lage war«928. Betont Fichte 921 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 301. 922 Ebd. Diese wird verstanden »als das letzte Bollwerk und die Zuflucht seines Gewissens und seiner Ehre, verkehrten, aber nicht zu überzeugenden Volksleidenschaften gegenüber«. Ebd., S. 285. 923 Als ein innerhalb der europäischen Herrschaftswirklichkeit seiner Zeit in dieser Richtung wirkendes Vorbild fungiert für Fichte offensichtlich Leopold I., »der politisch tiefschauende König der Belgier«, der »jüngsthin bei feierlicher Gelegenheit sich bereit erklärte, seine Krone niederzulegen, falls sein Volk die monarchische Regierungsform für entbehrlich halte«. Ebd., S. 286. – Zur Vorstellung des Monarchen als ›Bürgerkönig‹ vgl. M. Wienfort: Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1993, S. 194 ff. 924 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., Bd. 7, S. 451 (§ 280). 925 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 300. »Diese unstatthafte, nachher unzählige Mal wiederholte Auffassung Hegel’s […] verdient auch noch jetzt gerügt zu werden, weil sie von den Feinden des verfassungsmässigen Königthums, im Lager der Demokraten wie der Absolutisten, mit Begierde ergriffen worden ist, um Hegel’s geachtete Autorität dafür anführen zu können, dass zur Vertheidigung dieser Regierungsform sich nur etwas Abgeschmacktes sagen lasse!« Ebd., Anm. 926 E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 138, Anm. 33. 927 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 285. 928 E. R. Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, a. a. O., S. 21.
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Der Blick auf den Staat
zudem das Recht der Minister, »zu jeder Zeit ihre Entlassung zu nehmen«929, versteht er diese Konstellation verfassungsrechtlich gesicherter Kompetenzen als Garantie einer dem zeitgemäßen Begriff monarchischer Souveränität entsprechenden Machtbalance zwischen Regent und ministerieller Regierung. Maße sich nämlich unter solchen Bedingungen der Regent ein machtpolitisch eigensinniges Vorgehen an, fände er keine handlungswilligen Minister mehr und müsse folglich »zur gesetzlichen Ordnung zurückkehren«930. Fichte will eine taugliche Lösung für das »vielverhandelte Problem« anbieten, »eine Souveränität zu schaffen, die dennoch beschränkt genug ist, um nicht schaden zu können«931. Ein Problem, das ihm vor allem darum als virulent erscheint, da unter den vorhandenen Staatsformen diverse unvollendete Arten konstitutioneller Monarchie existierten, die allenfalls eine Erprobungsphase durchschritten; zumal sie »zum grössten Theil in völlig unvorbereitete Fürstenund Völkerzustände hineingefallen«932 seien. Gleichwohl sieht er die verfassungsmäßig umrahmte Einherrschaft auf dem richtigen Weg. Im Zuge der kulturellen Entwicklung werde das erbmonarchische System die ihm eigenen Potenziale um so mehr entfalten. Entsprechend könnten auf dem Wege einer durch Standesethik und Familienethos geprägten Fürstenerziehung gleichermaßen fähige wie verantwortungsbewusste Herrscher an die Staatsspitze gelangen.
C.
Die Volksvertretung
a. Die ›Herrschaft des Volkswillens‹ Zielt Fichtes Ansatz auf ein ›organisch‹ sich ergänzendes Tätigsein der Staatsgewalten, wird entsprechend die Verpflichtung der Volksvertretung zur Mitaufsicht über die Einhaltung verfassungsrechtlicher Bestimmungen betont933. Die Volksvertretung sei hier als das »eigentlich conservative Element im Staate«934 zu verstehen: Jedes dem alten Staate abgerungene Stück bürgerliche Freiheit werde verteidigt und bewahrt; zudem trage sie Sorge, dass sich das Bemühen um weitere politische Fortschritte »nur auf gesetzlichem Wege, in der verfassungsmässigen Form«, vollziehe.935 929 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 285. Freilich muss ein Regent, der eben nicht nur »den Punkt auf das I« vorgefasster Entscheidungen setzt, hier seine Zustimmung erteilen. 930 Ebd., S. 285. 931 Ebd., S. 283. 932 Ebd., S. 287. 933 Ebd., S. 314. 934 Ebd. 935 Ebd.
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»Es liegt in der Volksvertretung das mächtigste Bollwerk vor jeder Revolution, sie komme von Unten oder von Oben, weil ihre erste Pflicht ist, die bestehende Verfassung zu schützen.«936
Nicht zuletzt ist diese Einlassung auf die Bedenken der »Anhänger des Alten«937 gegen eine konstitutionelle Verankerung von Mitbestimmungsrechten der Volksvertretung gemünzt. Fichte sieht diesen Institutionalisierungsprozess als unumkehrbar an und formuliert die Einsicht, dass es künftig darauf ankomme, diese zugestandenen Rechte, die im politischen Klima der Reaktion zum Teil wieder zurückgenommen wurden, »in ihrem ganzen Umfange auszubilden und auf alle Gegenstände der innern Wohlfahrt auszudehen«.938 »In der Volksvertretung soll der höchste vernünftige Wille des Volkes zur Berathung seiner Angelegenheiten sein Organ erhalten und so die Initiative zur Selbstregierung ergreifen, welche von diesem Mittelpunkte aus durch die verschiedenen Staatsämter und die verfassungsmässigen Räthe des Souveräns […] in der Spitze der Souveränität als ihrem höchsten Organe sich abschliesst. Die Volksvertretung ist es also, in welcher (nach uns) der reale Schwerpunkt des Staates liegt, möge übrigens die Souveränität durch Erbschaft oder nach Wahl bestimmt werden.«939
Fichte will der Volksvertretung ein Gewicht verleihen, das von allen an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligten Akteuren grundsätzlich eine hohe Aufmerksamkeit für die bürgerschaftlichen Belange verlangt. Gleichwohl: Um Volkes Wille in solcher Hinsicht Beachtung finden zu lassen, ist nicht zuletzt die Initiative des Regenten gefragt. Er müsste – an diese Forderung Fichtes sei noch einmal erinnert – allererst solche Minister in die vorgesehenen Staatsämter berufen, die mehrheitlich das Vertrauen der Volksvertreter besitzen. Überdies geht es bei besagten Mitbestimmungsrechten ausdrücklich um den Bereich der »innern Wohlfahrt«. Damit sind Institutionen und Initiativen gemeint, denen Erhalt und Förderung der »Sittlichkeit des Volkes« im Allgemeinen aufgegeben sind und die im Besonderen zu den Bereichen der Bildung, Wissenschaft, Kunst und Religion gehören.940 Indessen finden Mitbestimmungskompetenzen der Volksvertretung in Sachen Polizei und Militär als Sicherungsinstanzen der »äussere[n] Wohlfahrt«941 der Staatsangehörigen keine Erwähnung. Sie müssen mithin als ausgeschlossen gelten. Umso mehr gibt in obigem Zitat die Rede vom Volkswillen, der die »Initiative zur Selbstregierung« ergreifen solle, Anlass zu einem Missverständnis. Wenn936 937 938 939 940 941
Ebd., S. 314 f. Ebd., S. 314. Ebd. Ebd., S. 304 f. Ebd., S. 335 ff. Ebd., S. 332 ff.
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Der Blick auf den Staat
gleich die Berücksichtigung der bürgerschaftlichen Interessen die Leitlinien politischen Handelns bestimmen möge, geht es doch keineswegs um die Übernahme regierungsverantwortlicher Positionen durch die Volksvertreter ; Fichte tritt hier eben nicht als Befürworter einer Demokratisierungsbewegung auf942. Zumal für ihn die Funktionstüchtigkeit eines den gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit angemessenen politischen Systems eben aus dem Zusammenwirken von Regent und Regierung auf der einen und der Volksvertretung auf der anderen Seite resultiert. Wie aber ist sicherzustellen, dass diesem Verständnis entsprechend die Belange des Volkes angemessen zur Geltung kommen? Fichte setzt auf die Konzeption eines in verschiedene Berufsstände gegliederten Volkes, die er gestützt sieht durch das Vorhandensein intakter Elemente des traditionellen Korporationswesens. Dementsprechend müsse die Volksvertretung aus Repräsentanten dieser Berufsstände zusammengesetzt sein: Wahre Repräsentation sei immer Repräsentation berufsständischer Interessen und nicht unzähliger ›atomisierter‹ Individualangelegenheiten, wie es jene Verständnisweise nahelege, die das Volk als »Gesammtheit der Einzelnen«943 betrachte. »Aber um den Geist des Volks und die eigentliche Richtung seines Willens zu treffen, genügt jene Weise keineswegs. Wir können diesen nur in den Interessen und bleibenden Beschäftigungen des Volkes finden, und in den darauf gegründeten inneren Unterschieden und Gliederungen. Wir dürfen zugleich hinzusetzen, dass darin der innere Werth der landständischen Vertretung gelegen hat und noch immer liegt vor jener Vertretung des abstracten standeslosen Volkes. In der Beibehaltung des Grundsatzes, aber in der Umbildung und der Erweiterung der Stände im Volk scheint uns die Zukunft der Volksvertretung zu liegen.«944
Fichte sieht sehr wohl, dass gleich den früheren landständischen Vertretern die Vertretungen der Berufsstände »zunächst für sich selbst«945, d. h. für die Inter942 »Das Volk, d. h. sein vernünftiger Wille, herrscht mittels der Volksvertretung im Staate; aber es regiert nicht: (le peuple regne, il ne gouverne pas). In diese Formel lässt sich das neue von uns aufgestellte Staatsprincip zusammendrängen, daraus zugleich alle Rechte und Pflichten der Volksvertretung sich abgränzen.« Ebd., S. 314. 943 Ebd., S. 310. 944 Ebd., S. 310 f. Zur Stützung seiner Ansicht verweist Fichte auf entsprechende Ausführungen von Heinrich Moritz Chalybäus, seines Mitstreiters in Sachen des Spekulativen Theismus. Chalybäus will die jeweiligen berufsständischen Interessen, betrachtet im Focus gegenseitiger »Ausgleichung und Vereinbarung«, in die Hände sachkundiger Standesvertreter gelegt sehen, »weil nur sie das Ganze und in der Tiefe jedwedes Standesinteresses die Fäden erkennen, mit welchen das Gedeihen eines mit dem des andern verschlungen ist«. Dies sei ein durchaus erreichbares Ziel: Das hätten berufsständische Bündnisse zur Zeit des Paulskirchen-Parlaments gezeigt. H. M. Chalybäus: System der spekulativen Ethik, Bd. 2, a. a. O., S. 284. – Vgl. J. C. Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, a. a. O., S. 288 f. 945 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 305.
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essen ihrer Korporation handeln. Doch je mehr ein dezentralisierter Staat an Kontur gewinne, in dem verschiedene Initiativen und Einrichtungen korporativer, assoziativer und kommunaler Natur ihren Platz hätten, desto mehr werden nach seiner Überzeugung aus diesen ›kleinen Kreisen‹ praxiserfahrene und sachkompetente Männer hervorgehen, die um die innere Verflochtenheit der jeweiligen gruppenspezifischen Belange wissen und somit darauf vorbereitet sind, auch in gesamtgesellschaftlichen Bezügen zu denken. Insbesondere ein entsprechendes Engagement auf der kommunalpolitischen Ebene mit der sich daraus ergebenden praktischen Erfahrung für den möglichen künftigen Volksvertreter führt er diesbezüglich als »sicheres und bildungsreiches Princip«946 ins Feld. »Ein sicheres: denn die Volksinteressen von einer wichtigen Seite her kommen entschieden zur Sprache; ein bildungsreiches: denn Nichts kann sicherer bewahren vor dem hohlen Gerede blosser Parteidebatten, und Nichts ist zugleich eine so sichere politische Bildungsschule von Unten auf, als wenn derjenige, der in den nächsten praktischen Fragen das Vertrauen seiner Mitbürger erworben und durch wiederhohlte Wahlen für die Gemeine oder den Kreis es bewährt hat, um seiner bewährten Erfahrung nun auch zur höhern Aufgabe eines Volksvertreters berufen wird.«947
Geht es um eine Volksvertretung, in der »alle Stände«948 eine Stimme haben sollen, so mündet dieser Gedanke in der Vorstellung, dass durch die Wahl jeweiliger Standes-Repräsentanten letztlich allen Gesellschaftsmitgliedern ein Stück politischer Teilhabe zukomme. Einmal mehr berührt Fichte dabei den Problembereich der sozialen Frage, zu dem er jenen Graben zählt, der zwischen den weitgehend noch standeslosen ›proletarischen‹ und den mittelständischen ›bürgerlichen‹ Gesellschaftsklassen verlaufe. Und einmal mehr wird betont, wie sehr das Prinzip sozialer Selbstorganisation, hier verwirklicht durch den Zusammenschluss der weitgehend Mittellosen in korporativen und assoziativen Vereinigungen, zu den notwendigen Veränderungen beitragen könne. In einem dergestalt immer stärker sozietär durchformten Gemeinwesen gründeten Angehörige der niederen Gesellschaftsklassen alsbald selbst eine berufsständische Vereinigung. Dies werde die Möglichkeit eröffnen, eigene Repräsentanten dieses neu entstehenden Standes in die Volksvertretung zu entsenden und somit Einfluss auf die Entscheidungen derselben zu nehmen.949 946 947 948 949
Ebd., S. 312. Ebd. Ebd., S. 313. »Wie anders jedoch lässt sich jene tiefliegende sociale Wunde gründlich ausheilen, als indem das ›Volk‹, die Besitzlosen, durch Association unter sich und mit dem Bürgerthume immer mehr jener socialen Knechtschaft und Unselbstständigkeit entrissen wird, d. h. in einen wohlorganisirten Stand eintritt und mittels desselben auch dem Organismus des ›Gesammtvolks‹ und dessen Vertretung einverleibt wird?« Ebd., S. 314.
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Der Blick auf den Staat
b. Die Wahl der Volksvertreter Ebenfalls mit Blick auf die herrschenden sozialen Gegebenheiten, nämlich hinsichtlich der verschiedenen Bildungslagen innerhalb der Gesellschaft, behandelt Fichte dabei die Frage, wer überhaupt die Volksvertreter bestimmen dürfe, wer also zu ihrer Wahl zuzulassen sei. So gibt er gegenüber einem »allgemeine[n] Stimmrecht mit directen Wahlen«950 zu bedenken, dass bei den Wahlberechtigten ein politisches Verständnis vorausgesetzt werden müsse, das es den Einzelnen erlaube, mit ihrem Stimmrecht der – wie er sagt – »darin liegenden Pflicht des Mitregierens«951 nachzukommen. »Um Wähler sein zu können, bedarf es daher des Beweises selbstständiger politischer Bildung. Ohne denselben kann Niemand darauf Anspruch machen, Mitvertreter des vernünftigen Volkswillens zu sein. Hier liegt daher die Schranke für die Gegenwart, aber auch das heuristische Princip für die fortschreitende Verallgemeinerung des Stimmrechts. Je mehr die Selbstständigkeit politischer Bildung zunimmt in den Massen, desto weiter kann das Stimmrecht sich erstrecken. Je begränzter in ihnen der Horizont politischen Urtheils, desto weniger taugt es, die directen Wahlen ihnen anzuvertrauen.«952
Nimmt sich die Forderung eines eigenständigen politischen Gebildetseins als Kriterium für die Gewährung des direkten Wahlrechts953 nun keineswegs unproblematisch aus – wer setzt z. B. die Maßstäbe für das Erfülltsein dieser Voraussetzung? –, ist diese Ansicht freilich vor dem Hintergrund der damaligen Bildungssituation zu sehen. Wenngleich es spürbare Fortschritte in den bildungspolitischen Bemühungen gab, sind zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch in fast allen deutschen Staaten schätzungsweise 20 % der über Zehnjährigen Analphabeten954. Zudem gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass zu jeder ›Wahlmöglichkeit‹ zumindest eine gewisse Basis des Informiertseins darüber gehört, für wen oder für was und wogegen die Entscheidung getroffen werden kann. So wird zumindest nachvollziehbar, weshalb Fichte entgegen dem Modus der Direktwahl
950 951 952 953
Ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Ebd. Fichte steht mit dieser Forderung durchaus nicht allein: In der politischen Literatur jener Zeit finde sich wiederholt die Betonung, so stellt Ulrich Scheuner mit Verweis auf Johann Caspar Bluntschli und Heinrich Albert Zachariae fest, »daß auch die Bildung eine Grundlage für die Fähigkeit zur aktiven und passiven Beteiligung an der Wahl bilden müsse«. U. Scheuner : »Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung«, in: K. Bosl (Hrg.): Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 297 – 340, hier : S. 337. 954 Vgl. T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 463.
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für ein Wahlmänner-System votiert, welches niemandem etwas zumute, das er gar nicht leisten könne.955 »Nicht Jeder, bei gewissenhafter Selbstprüfung, ist fähig, selbstständig und aus eigner Kenntniss den besten Volksvertreter zu wählen; aber einen Andern wird er kennen, dem er dabei als Mittelsperson vertrauen kann und auf welchen er, als auf den Kundigern, durch Uebertragung seines Stimmrechts die eigne Pflicht überträgt.«956
Fichte sieht also in einem allgemeinen Stimmrecht mit indirekten Wahlen die den gesellschaftlichen Gegebenheiten seiner Zeit angemessene Weise, die Volksvertreter wählen zu lassen. Mittels der Wahlmänner sollen vor allem fähige Mitglieder der verschiedenen Berufsstände zu Repräsentanten des Volkes gewählt werden. Laut Fichtes Verständnis ist ja eine berufsständisch basierte Repräsentation, die sozietären und korporativen Belangen Vorrang gibt vor individuellen Ansprüchen, »das vollkommenste Princip der Volksvertretung«957. Einzig dieser sei der Weg, auf dem »das ganze Volk an den Wahlen betheiligt« und »die eigentliche Richtung seines Willens« getroffen werden könne.958
955 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 310. – Scheuner merkt dazu treffend an, dass man »der Epoche nicht gerecht« wird, sofern man die damals mit dem Wahlrecht verbundenen Probleme wie die entsprechenden Lösungsansätze »an dem heutigen, erst in diesem Jahrhundert [Scheuner meint das 20. Jh.; W.S.] erreichten Stande der Ausgestaltung des Wahlrechts mißt«. U. Scheuner : »Volkssouveränität und Theorie der parlamentarischen Vertretung«, a. a. O., S. 338. 956 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 309 f. 957 Ebd., S. 313. »Halten wir die Vertretung nach Ständen fest, so ist es freilich jetzt noch sehr schwer, durch ein allgemeines Gesetz ihre Anzahl und Gränzen zu bestimmen, und darnach den Wahlmodus für immer vorzuschreiben. […] Dennoch halten wir den Gedanken selbst für so wahr und fruchtbar ; zugleich sind wir so fest überzeugt, dass nur auf diesem Wege eine ›Selbstregierung‹ des Volkes von Unten her erreicht werden könne, die in Wahrheit rationell, zugleich ebenso conservativ, wie organisch fortschreitend, immer durch sich selbst sich ausheilen und im Wechselkampf von den unwillkürlichen Einseitigkeiten sich reinigen würde: dass wir um jener zeitweisen Schwierigkeiten die Wahrheit und Grösse des Grundsatzes nicht verleugnen können.« Ebd. 958 Ebd., S. 310. Umso weniger wird allerdings klar, aus welchem Grund Fichte in diesem Zusammenhang auch dem am Steueraufkommen der Einzelnen orientierten ZensusWahlrecht eine Zweckmäßigkeit »für die meisten gegebenen Volkszustände« (ebd., S. 309) einräumt. Zeigt er sich doch von dessen prinzipieller Unbrauchbarkeit überzeugt, insofern er es als ein »ungerechtes und dem Zufall ausgesetztes Wahlprincip« (ebd.) bezeichnet. Die Antwort wird wohl im ›versöhnenden‹ Zug des Fichte’schen Ansatz zu suchen sein: Eine gewisse Berechtigung des historisch Gegebenen ist anzuerkennen, denn aus ihm heraus entwickelt sich das Neue organisch fort. Demgegenüber dürften Rücksichten auf die Zensur hier kaum eine Rolle spielen; schließlich sagt er deutlich und direkt, was sich in seinen Augen viele der politisch Verantwortlichen von dieser Wahlregelung versprächen: »[D]ie Nichtbesitzenden sollen vom Wählen ausgeschlossen werden, weil sie nicht genug conservative Garantieen bieten.« Ebd., S. 308.
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c. Gesetzgebungsbeteiligung und Steuerbewilligung Welche rechtlich gesichterten Möglichkeiten sieht Fichte nun für die Volksvertretung vor, um auf das Handeln der Regierung Einfluss nehmen zu können? Ausdrücklich befürwortet er ein »Recht der Anklage gegen die Staatsbeamten, namentlich die Minister, als die eigentlich [V]erantwortlichen«959 : Ließen sich Staatsbedienstete, wie eben auch die Minister, ungesetzliches Verhalten im Amte zuschulden kommen, seien gerichtliche Untersuchungen gegen dieselben vonseiten der Volksvertretung einzuleiten.960 In anderen Fällen fehlerhafter Amtsausübung könne das Recht der »Beschwerdeführung«961 Anwendung finden: Die Volksvertretung müsse ermächtigt sein – durchaus auch mit Unterstützung der Presse – solche Unzulänglichkeiten an die Öffentlichkeit zu bringen und gegenüber den jeweiligen Beamten oder Ministern zu beanstanden. Wenn gewollt, dürfe zudem eine diesbezügliche Eingabe an den Regenten erfolgen.962 Damit sind die nach Fichtes Dafürhalten eher konservativen, auf den ›Bestandschutz‹ des Verfassungsstaates ausgerichteten Wirkmöglichkeiten der Volksvertreter beschrieben. Daneben stellt er im Anklang der Vorstellung vom ›organischen‹ Staate ein als progressiv verstandenes Moment der Einflussnahme. »Das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und der Zustimmung bei der Steuererhebung enthält die zweite entsprechende Hälfte der Befugnisse, welche der Volksvertretung zukommen: – es fügt dem Principe des Bewahrens des Errungenen das des organischen Fortschreitens durch gesetzgebende Thätigkeit hinzu.«963
Hinsichtlich des ersten Punktes, also der Beteiligung der Volksvertretung an der Einführung oder Abschaffung von Gesetzen, reicht es Fichte zufolge keineswegs aus, ihr lediglich eine Zustimmungskompetenz bei den vonseiten der Regierung eingebrachten Vorlagen zuzugestehen. Nachdrücklich wird das Recht der Volksvertreter befürwortet, selbst »neue Gesetze vorzuschlagen und selbstständige Anträge zu stellen«964 und bei Bedarf antragsrelevante Sachfragen durch eine Untersuchungskommission965 klären zu lassen. Fichte verweist auf entsprechende in den konstitutionellen Verfassungen jener Zeit niedergelegte Bestimmungen und äußert sein Unverständnis über die »neuern politischen 959 960 961 962 963 964 965
Ebd., S. 315. Ebd. Ebd., S. 316. Ebd., S. 316 f. Ebd., S. 317. Ebd. »Mit dem besonders von uns bevorworteten Rechte der Initiative in Gesetzesvorschlägen hängt die weitere Befugniss der Volksvertretung auf ’s Engste zusammen, Untersuchungen (EnquÞtes) einzuleiten, um gewisse Volkszustände und Bedürfnisse auf dem Wege selbstständiger Prüfung kennen zu lernen und hierauf Anträge zu neuen Gesetzen und Anordnungen zu gründen.« Ebd., S. 318.
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Schriftsteller«966, die das Initiativrecht für Gesetzesanträge dem Monarchen und seiner Regierung vorbehalten wollten. Mit bereits geltendem Verfassungsrecht geht Fichte allerdings auch insofern konform, als er der Volksvertretung schließlich die mitentscheidende, d. h. beschlussfassende Teilhabe an der Gesetzgebung nicht in allen Bereichen zugesteht. Zwar sahen die meisten Verfassungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon die gemeinschaftliche Gesetzgebung von königlicher Regierung und Volksvertretung vor.967 Gleichwohl war die Sphäre, in der diese gemeinschaftliche Gesetzgebung stattfinden sollte, »durch die aus der ständestaatlichen Tradition überkommene Formel ›Eingriffe in Freiheit und Eigentum‹«968 umschrieben. Die Mitwirkung der Volksvertretung wurde so »im wesentlichen auf die gesellschaftlichen Belange« begrenzt, »während alle staatspolitischen Fragen und die der Staatsorganisation, vornehmlich im Bereich der Exekutive, Sache des Monarchen blieben«969. Bei Fichte findet sich diese Haltung insoweit wieder, als er – wie bereits gezeigt – bei Polizei- und Militärgewalt eine Einflussnahme der Volksvertretung nicht einmal in Erwägung zieht und hinsichtlich ihrer Gesetzgebungsbeteiligung das Gebiet des Administrativen überhaupt ausnimmt. »Alles in der Gesetzgebung, was […] öffentlichen Charakter trägt, somit auch die Strafund die Finanzgesetzgebung, kann nur unter Mitwirkung des ganzen Volkes, d. h. der Volksvertretung, rechtsgültig zu Stande kommen. Alle Verwaltungsgesetze und Maassregeln dagegen, weil sie durchaus dem immer neu gegebenen Stoffe sich anzupassen haben, sind der blossen Regierungsthätigkeit zu überlassen, indem sie die
966 Ebd., S. 317. Fichte erwähnt hier ausdrücklich den von ihm geschätzten Bluntschli (ebd.). Diesem zufolge ist es »[n]aturgemäß und nach der Auffassung der meisten Nationen fast aller Zeiten […] vorzugsweise die Aufgabe des Staatsoberhauptes, und seiner Regierung, die nöthigen Gesetzesanträge dem Gesetzgebungskörper vorzulegen« (J. C. Bluntschli: Allgemeines Staatsrecht, a. a. O., S. 306). Auch Stahl gebraucht die Rede vom Naturgemäßen: Für ihn gilt als ausgemacht, dass bei Gesetzesinitiativen des Fürsten ein bloßes Zustimmungsrecht der »naturgemäße[n] Stellung der Stände« entspreche. F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2, a. a. O., S. 356 f.; vgl. ebd., S. 351. – Dabei gab es, wie Boldt anmerkt, »im Vormärz nur wenige, die den Ständen das Initiativrecht verweigerten […]. Erst nach 1848, im Rückschlag auf die Einräumung eines parlamentarischen Initiativrechts […] mehrten sich die ablehnenden Stimmen in der Literatur im Gegensatz zum tatsächlichen Trend in der Verfassungsrechtsentwicklung«. H. Boldt: Deutsche Staatslehre im Vormärz, a. a. O., S. 105. 967 Als Beispiel sei Art. 62, Abs. 2 der preußischen Verfassung von 1850 genannt: »Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich.« E. R. Huber : Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 507. 968 E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 119. 969 K. Kröger : Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806 – 1933), München 1988, S. 41.
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Der Blick auf den Staat
Vermittlung zwischen der Gesetzgebung und der eigentlichen Verwaltung ausmachen.«970
Was führt Fichte zu diesem Standpunkt, gerade angesichts seines ›organologischen‹ Staatsverständnisses? Böten die stets »neu gegebenen« Problemlagen des Verwaltungssektors nicht Ansatz genug für die von ihm selbst eingeforderte verantwortliche Teilhabe der Volksvertreter am »organischen Fortschreiten durch gesetzgebende Thätigkeit«?971 Offensichtlich beinhalten für ihn seine Vorgaben ausreichendes Reform- und Fortschrittspotenzial; zumal er sie, gemessen an den Auffassungen anderer politischer Denker, verfassungsrechtlich auf der Höhe der Zeit sieht. Dabei soll die Verwaltung als ein strukturgebendes Element des Staates aus immer neuen Entscheidungskonflikten herausgehalten werden. Diese könnten wohl das monarchische Prinzip und letztlich die innere Ordnung des Gemeinwesens gefährden. Deutlicher noch erscheint diese Furcht vor Destabilisierung beim Thema ›Zustimmung zur Steuererhebung‹, dem zweiten Punkt seiner Forderung eines progressiven Moments politischer Teilhabe für die Volksvertretung. Ist Fichtes Auffassung zufolge der Volksvertretung das »Recht der Steuerbewilligung«972 zu gewähren, schließe das nicht nur die Möglichkeit ein, bestimmte Steuern auch zu verweigern. Vielmehr folge daraus überhaupt »das Recht der Controle über den Staatshaushalt«, welches zu einer Prüfung des Budgets sowie zur Überwachung des »Staatscreditwesens« ermächtige.973 Auch in diesem Fall entspricht Fichtes Konzeption weitgehend dem verfassungsrechtlichen Status quo in den deutschen Territorialstaaten zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte. Als »eigenes Recht der Volksvertretung«974 wurde die Bewilligung der staatlichen Einnahmen und Ausgaben »praktisch überall«975 zugestanden. Wenngleich sich dieses Recht in unterschiedlichen verfassungsmäßigen Formen ausgestaltete976, konnte doch ohne die Zustimmung der Volksvertreter »ein Budget nicht mehr ordnungsgemäß zustandekommen«977. Zudem gab die Position, bestimmte Steuern oder Ausgaben nicht bewilligen, ja die Annahme eines Haushaltsplanes als ganzen verweigern zu können, den Volksvertretern ein politisches Druckmittel an die Hand. Dieses ermöglichte es, 970 971 972 973 974
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 328. Ebd., S. 317. Ebd., S. 318. Ebd., S. 315. E.-W. Böckenförde: »Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert«, a. a. O., S. 126. 975 H. Dreier : »Der Kampf um das Budgetrecht als Kampf um die staatliche Steuerungsherrschaft«, in: W. Hoffmann-Riem; E. Schmidt-Aßmann (Hrg.): Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, Baden-Baden 1998, S. 59 – 105, hier : S. 79. 976 Vgl. ebd., S. 79 f. 977 Ebd., S. 79.
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auch in Bereichen Einfluss zu gewinnen, die nach den verfassungsrechtlichen Bestimmungen ihrem Zugriff entzogen waren, »und insoweit das monarchische Prinzip auszuhöhlen«.978 Darauf bezogen votiert Fichte, das zeitgenössische Bild der Steuer- oder Budgetverweigerung als »Waffe«979 aufgreifend, gegen jeden ›sachfremden‹ Gebrauch der Befugnisse zur Staatshaushaltskontrolle; keinesfalls dürften aufgrund der zugestandenen Rechte politische Interessenkonflikte zulasten der inneren Stabilität des Staates ausgefochten werden. »Denn der Staat mit seinen wichtigsten socialen Pflichten steht über den politischen Parteien, und darf von ihnen in diesem geordneten Wirken nicht unterbrochen werden. Jede Partei könnte dann durch eine augenblickliche Majorität die Regierung stürzen und alles politische Leben des Staates wäre in einen Kampf der Parteien um die Regierung verkehrt, d. h. das Revolutioniren wäre in Permanenz; – ein absolut staatswidriger Zustand, da im vernüftigen Organismus desselben kein Element in gesetzlicher Wirkung geduldet werden darf, welches Revolution zu erzeugen vermöchte. Das Steuerverweigerungsrecht ist mithin ein unbeschränktes, aber von bloss sachlicher Bedeutung, nicht als politische Waffe zu gebrauchen: es kann nur aus finanziellen Gründen bestimmte Steuern oder die Art ihrer Erhebung, niemals aber ›das Budget‹ verweigern.«980
Der deutliche Einspruch gegen die Budgetverweigerung weist auf den Zwiespalt hin, in dem Fichte sich befindet: Einerseits steht für ihn, den so auf den Ausgleich zwischen den politischen Kräften Bedachten, die Funktionstüchtigkeit des Staates auf dem Spiel. Andererseits will er keinem Rückschritt hinter schon gültiges Verfassungsrecht das Wort reden, also nicht die Einschränkung budgetrechtlicher Möglichkeiten der Volksvertreter empfehlen. Mithin bleibt nur der Appell, diese Kompetenzen unter keinen Umständen zu missbrauchen. Selbstredend war einem solchen Appell angesichts der politischen Befindlichkeiten jener Zeit kein Erfolg beschieden. Hätte er freilich unter Gegebenheiten, wie Fichte sie projektiert, Gehör gefunden? Das scheint äußerst fraglich; denn auch ein dem Volke höchst wohlmeinend zugetaner Bürgerkönig und ein von der Kammermajorität befürwortetes Minister-Kabinett wären ja in der Lage, politische Zielsetzungen zu verfolgen, die keine Mehrheiten innerhalb der Volksvertretung fänden und denen man eben nur auf dem Wege der Budgetverweigerung etwas entgegensetzen könnte. Bei Differenzen, z. B. über be978 K. Kröger : Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, a. a. O., S. 43. Kröger bezieht dies beispielhaft auf die verfassungsrechtliche Situation in Preußen. 979 C. v. Rotteck: Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 4, Stuttgart 1835, S. 446; vgl. P. A. Pfizer : Das Recht der Steuerverwilligung nach den Grundsätzen der württembergischen Verfassung mit Rücksicht auf entgegenstehende Bestimmungen des Deutschen Bundes, Stuttgart 1836, S. 27. 980 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 319.
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stimmte militärpolitische Absichten, würde so durch eine Blockade des MilitärEtats der gesamte Haushaltsplan in Abrede gestellt. Und damit nähmen die Volksvertreter Einfluss auf einen Bereich, in dem nach Fichtes Dafürhalten keine politische Mitbestimmung stattfinden soll.981
D.
Die öffentliche Meinung
Ist laut Fichte mit königlicher Regierung und Volksvertretung schon »der vollständige Umfang der verfassungsmässigen Gewalt«982 gekennzeichnet, fungiert demgegenüber die öffentliche Meinung als ›dritte Gewalt‹ in einem uneigentlichen Sinne. Sie habe vornehmlich die Aufgabe einer Korrektivinstanz zu erfüllen; könnten doch Gewohnheiten und Irrtümer der Regierungs- oder Volksvertreter sowie Divergenzen zwischen diesen beiden Gruppierungen den Prozess eines beständigen politischen Fortschritts beeinträchtigen.983 »Hier bedarf es eines dritten, rein theoretischen, die untern Regionen wie die obern orientirenden Elementes, das, ohne alle officielle Macht, gerade dadurch wirkt, indem es überzeugt. Auch muss das Princip der Perfectibilität im Staate selbstständig vertreten sein, damit das Element, das unterdrückt und in’s Verborgene gewendet, eine Revolution wider den Staat erzeugen könnte, nunmehr als fördernde Kraft in das Ganze seines Organismus hineingezogen werde. Die öffentliche Meinung erzeugt sich solchergestalt ein doppeltes Organ: ein ununterbrochen wirksames, Alles überwachendes, die freie periodische Presse; und ein anderes, das für bestimmte Bedürfnisse, für einzelne Anliegen zu sorgen hat, das Versammlungsrecht des Volkes.«984
Das Zitat ist ein Stück Fichte’scher Programmatik in nuce: Die ›organische‹ Entwicklung des Staates muss mitgetragen sein von Kräften, die kritische Bedenken und vitale Interessen der Gesellschaftsmitglieder ans Licht der Öffentlichkeit bringen. Dabei ist es gerade die mit der öffentlichen Inachtnahme verbundene Aussicht auf eine stete Verbesserung der Verhältnisse, durch welche diese Kräfte die Stabilität des Gemeinwesens stützen sollen. Weist Fichte das Versammlungsrecht, verstanden als die Möglichkeit eines »ergänzende[n] Zusammenwirken[s] freier Individuen«985 in institutionalisierten Formen, bereits an anderer Stelle der Ethik als paradigmatisches Element 981 Eine Situation, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zum preußischen Verfassungskonflikt führte, der sich an Unstimmigkeiten über die von der Regierung Preußens in die Wege geleitete Heeresreform entzündete. Vgl. W. Siemann: Gesellschaft im Aufbruch, a. a. O., S. 200 ff. 982 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 320. 983 Ebd. 984 Ebd. 985 Ebd., S. 215.
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seines Reformansatzes aus986, wird hier das Augenmerk auf die Gemeindeversammlungen und die Zusammenkünfte der Berufsstände als Artikulationsorte der »localen und […] augenblicklichen Bedürfnisse«987 gelegt. Zwei Aspekte dieser Möglichkeiten von Interessenverlautbarung und politischer Teilhabe werden als besonders bedeutsam gewertet. Zum einen forme sich ein ›öffentliches Bewusstsein‹ nicht zuletzt durch die solchen Gemeinde- bzw. Berufsstandes-Beratungen entspringende Einsicht, in welcher Weise die zumeist recht deutlich umrissenen Aufgaben und Anliegen kommunaler oder korporativer Natur mit den allgemeinen Interessen des Gemeinwesens verbunden seien. Und zum zweiten fördere allein das Debattieren dieser Art, das »Verhandeln über einzelne, sachlich genau bekannte Gegenstände«988, ein problem- und zielorientiertes Politikverständnis, das Fichte bei vielen Volksvertretern vermisst, denen es an solcherart ›basispolitischer‹ Erfahrung mangele. Die Argumente entsprechen jenen, die er bei seinem Plädoyer für eine berufsständische Repräsentation in den Volkskammern anführt: Lokalpolitik erscheint als probate Übungsplattform, auch gemäß seiner Auffassung des Assoziationsprinzips als Wegweiser gesellschaftlichen Wandels.989 Das im Kontext der ›kleinen Kreise‹ betriebene politische Engagement biete die beste Vorbereitung, um später die Sache des gesamten Volkes in einer Weise zu vertreten, die sich durch Fachkompetenz und Öffentlichkeitsrelevanz auszeichne.990 Strukturell sehr ähnlich argumentiert Fichte, wenn er schließlich die Presse – und namentlich die »politische Presse« als »dritte Macht im Staatsorganismus« – charakterisiert, deren erste Bedingung laute, »dass sie frei sei«.991 »Pressfreiheit ist ein wesentlicher Bestandtheil jedes vollständigen und zugleich den Grundsatz der Perfectibilität in sich anerkennenden Staates: sie ermuthigt erst an den öffentlichen Angelegenheiten theilzunehmen, und erzeugt so jene unsichtbare geistige Gemeinschaft im Volke, jenes Interesse am ›Gemeinwesen‹, ohne welches ein ›Volk‹ in seiner Kraft und Wahrheit gar nicht existirt.«992
Durch die Beschreibung und kritische Begleitung des politischen und gesellschaftlichen Geschehens wie durch den Aufweis der Bedeutung dieses Gesche986 987 988 989 990
Vgl. oben: Teil 3, Kap. III. 2. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 322. Ebd. Ebd., S. 312. »Hätten die Volksvertreter Deutschlands und Frankreichs aus dieser Schule des praktischen Wirkens und Wissens sich emporgebildet: die unerträgliche Langeweile politischer Allgemeinplätze und die obenhinfahrende Seichtigkeit kenntnisslosen Parteigeschwätzes würde schon längst aus unsern Kammerverhandlungen verschwunden sein als ein lächerlicher Missbrauch der Redefreiheit.« Ebd., S. 322. 991 Ebd., S. 320 f. 992 Ebd., S. 321.
202
Der Blick auf den Staat
hens auch für die individuellen Belange, trägt die Presse nach Fichtes Erwartung wesentlich zur Entstehung des Bewusstseins bei, Glied eines großen Ganzen, hier : eines Staatsvolkes, zu sein.993 Sorge zudem die Presse dafür, dass Einstellungen und Handeln der politisch Verantwortlichen der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht und von dieser beurteilt werden, seien die Verantwortungsträger gefordert, sich umso mehr zu der eigenen Position und zum eigenen Tun zu bekennen. Eben diese Herausforderung mache deutlich, wer sein Handwerk verstehe, auf wen man also seine politischen Hoffnungen setzen könne.994 Mithin erweise sich die Presse zugleich als »Pflanzschule jeder politischen Zukunft eines Volkes«.995 Damit wird deutlich, was Fichte näherhin meint, wenn er der öffentlichen Meinung die Rolle eines »orientirenden Elementes« zumisst. Demnach können die Presse ebenso wie die Versammlungen politisch aktiver Gesellschaftsgruppen in die Richtung politischer Stabilisierung und sozialer Integration wirken, indem sie Anliegen der Bevölkerung artikulieren und Einsichten in politische Zusammenhänge vermitteln, die mit der Lebenswirklichkeit einer großen Mehrzahl der Staatsangehörigen verknüpft sind. Desgleichen kann die Vervollkommnung des Staates voranschreiten, wenn der aufmerksame Blick einer informierten Öffentlichkeit auf die Tätigkeit von Regierung und Volksvertretung die Qualität der politischen Arbeit fördert. Für Fichte ist entsprechend die Pressefreiheit so bedeutsam, da auf der Basis ihrer Gewährung gesellschaftliche Missstände, Fehlentwicklungen und Unzulänglichkeiten offenbar werden; nicht zuletzt auch solche, die das Pressewesen selbst betreffen. »Weil aber die freie Presse nur Ausdruck der politischen Durchschnittsbildung eines Volkes sein kann, ist sie auch nicht besser als diese: oft also durchaus entartet und entweder verblendetem Parteihass hingegeben, oder an den feilen Eigennutz verkauft.«996
Allerdings dürfe angesichts dieser Diagnose die Freiheit der Presse nicht infrage gestellt werden. Nur sie biete »das einzige definitive Mittel«, um »ihre eigenen Uebel zu bekämpfen«.997 Allein ein freier Gedankenaustausch ermögliche es, 993 Eine Erwartung, die sich wohl ein Stück weit auch erfüllte, wie es Thomas Nipperdey für die ländlichen Regionen im Deutschland des 19. Jahrhundert beschreibt: »Schließlich dehnt sich das Zeitungswesen seit den 50er / 60er Jahren mit den Kreis- und Kleinstadtzeitungen in die Provinz und auf das Land aus. Es ist die Presse gewesen, die das Land langsam in das ›literarische‹ Leben, in sozialen Wandel, Politik und nationale Gesellschaft eingegliedert hat.« T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 592. 994 Die »politische Presse« charakterisiert Fichte als den »Kampfplatz, worin das wahre politische Talent zuerst sich selber kennen lernt und dann von andern gekannt wird«. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 320 f. 995 Ebd., S. 321. 996 Ebd. 997 Ebd.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
203
dergleichen negativen Tendenzen entgegenzuwirken. Was umso mehr geboten erscheint, als in der Perspektive seines Vermittlungsmodells die Presse ja eine im besten Sinne des Wortes kritische und dabei möglichst unparteiische Instanz darstellen soll.998 Wenn Fichte freilich anmerkt, in der gegenwärtigen Zeit hoffe oder befürchte »Keiner mehr«, dass die Freiheit der Presse »wieder beseitiget werden« oder »in Vergessenheit und Abgang kommen könne«, ist dies wohl kaum eine treffende Zustandsbeschreibung. Vor dem Hintergrund der Beschränkungen, denen sich die Presse in der Dekade der Reaktion ausgesetzt sah, erscheint es vielmehr als Aufruf, sich die genannten Argumente für eine freie Pressetätigkeit vor Augen zu führen; und zwar gleichgültig, mit welcher Einstellung man sie betrachte, ob als »unentbehrliches Gut« oder als »unvermeidliches Uebel«.999 In jedem Fall sei von dem Irrglauben Abschied zu nehmen, eine Zensur könne den Staat vor der Gefahr innerer Zerrüttung bewahren. Vielmehr verhindere diese nur, so lehre die Erfahrung, im Krisenfall die klare Sicht auf den Ernst der Lage.1000
6.
Die Nicht-Überwindung des Dualismus und die Festschreibung des konstitutionellen Systems
Wenngleich Fichte sich bemüht, auf der theoretischen Ebene eine Balance zwischen monarchischem Prinzip und der Wahrung der bürgerschaftlichen Interessen zu finden, wird die Absicht nicht eingelöst, einen wirklichen Ausgleich zwischen den jeweiligen Ansprüchen zu schaffen. Dem Lösungsversuch 998 »Ohnehin wird jede tüchtige und ihrer ehrenhaften Motive bewusste Regierung selbst der öffentlichen Presse sich bedienen, um die nöthigen Aufklärungen über ihre Absichten zu geben, oder auch zu Entgegnungen sich herbeizulassen, die nie ihres Zwecks verfehlen, wenn sie aufrichtig und gründlich sind.« Ebd., S. 322. 999 Ebd. , S. 321. – Es ist nicht anzunehmen, dass Fichte zur Zeit des Erscheinens der Ethik, also in den Jahren 1850 bis 1853, nichts von diesen Bedrängnissen gewusst hat. So »wurde, obwohl die Pressefreiheit seit 1848/49 formell uneingeschränkt weitergalt, schon zwischen 1849 und 1851 von den Einzelstaaten eine allgemeine Revision des Presserechts durchgeführt, die der Bund 1854 bekräftigte. An die Stelle des vormärzlichen Zensors traten seither Polizei- und Verwaltungsbehörden, die Pressefreiheit wurde zur Hülse ohne Substanz.« H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, a. a. O. , S. 209. – »Nun standen zu Gebote : Kollektivhaftung, gezielte Vorzensur an Belegexemplaren, extensiv gehandhabte polizeiliche Beschlagnahmepraxis, Kautionspflicht, Debitentzug, Drohung mit Widerruf der Konzession, administratives, nicht gerichtliches Verbot auswärtiger Schriften, flächendeckende Fahndungskoordination, die Strafverfolgung über die Landesgrenzen hinweg – alles das verweist auf ein beträchtliches Maß an Eingriffsmitteln.« W. Siemann: Gesellschaft im Aufbruch, a. a. O. , S. 76. 1000 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 321.
204
Der Blick auf den Staat
entgegen steht die Tatsache, dass dieser erklärtermaßen auf dem Boden der konstitutionellen Monarchie mit ihren systemimmanenten Eigenarten verbleibt. So beruht der ›Königsweg‹ zur Realisierung der Forderung nach steter Inachtnahme der die Gesellschaftsmitglieder betreffenden Anliegen, also eine an den Mehrheitsvoten der Volkskammer orientierte herrscherliche Wahl des Ministerkabinetts, allein auf der Vorstellung einer sittlichen Selbstverpflichtung des Regenten. Mehr kann und soll diese Verpflichtung nicht sein. Die verfassungsmäßige Bindung des Souveräns, seinen Ministerstab anhand parlamentarischer Majoritäten zu wählen, käme dem Überschreiten der Systemgrenzen in Richtung einer Demokratisierung des Staates gleich. Ein solcher Schritt ist auch nicht gewollt: Die Position des Monarchen als die »eigentlich bewegende und allwärts entscheidende Kraft im Staate«1001 darf nach Fichtes Dafürhalten nicht unterlaufen werden. Zumal sein Urteil zur Stellung der Volksvertretung ja keineswegs eindeutig ausfällt. Als das mächtigste antirevolutionäre »Bollwerk«1002 apostrophiert, möge sie einesteils den wirklichen »Schwerpunkt«1003 des Staates bilden. Anderenteils wird das Recht des absoluten Veto, das der Monarch gegen Gesetzesvorlagen der Volksvertreter zur Anwendung bringen können müsse, im Sinne der Abwehrmöglichkeit einer »von Unten anstürmenden Leidenschaft und der revolutionären Ueberstürzung«1004 gedeutet. Und diese Abwehrmöglichkeit, von Dahlmann bezeichnenderweise das »Recht der rettenden That«1005 genannt, erscheint als der notwendige »unerschütterliche Punkt«, an dem der »feste Wille und die gewissenhafte Ueberzeugung des Herrschers« die Stabilität des Staates bewahren sollen1006. Demgemäß bleibt die Volksvertretung eine Gewalt, der eben keine politische Mitsprache beim Polizei- und Militärwesen und keine Beteiligung an der Verwaltungsgesetzgebung zu gewähren ist. Hier freilich von der »grössten Bedeutung« des absoluten Veto für das »verfassungsmässige Gleichgewicht der Staatsgewalten«1007 zu sprechen, verfehlt die Zielsetzung des Entwurfes. Wie sollte ein solches Element herrscherlicher Vorrangstellung mehr Ausgleich im institutionellen Machtgefüge schaffen, zwischen politischen Gewalten, die sich mitnichten auf Augenhöhe begegnen? So dass die eine Gewalt, um sich Einfluss auf Materien zu verschaffen, von denen sie ausgenommen ist, Umwege erschließen muss, wie die über die bugetrechtlichen Kompetenzen. Zwar versucht Fichte dieses Missverhältnis auszugleichen durch die Vision 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007
Ebd., S. 282. Ebd., S. 314 f. Ebd., S. 304 f. Ebd., S. 301. F. C. Dahlmann: Kleine Schriften und Reden, Stuttgart 1886, S. 450. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 301. Ebd.
Das Vertrauen in die »Einherrschaft«: Der monarchische Staat
205
des ›Bürgerkönigs‹, der, vorgestellt als das »Muster eines Edelmannes«, die ihm in der Erziehung vermittelten »adlichen und adelnden Tugenden […] unausgesetzt bethätigen« möge1008. Und der bei keiner Entscheidung »die Einsicht und den Willen des Volkes«1009 aus den Augen verliert. Stuft man diese Vision auf ein menschliches Maß hinunter, so ist hier eher ein Regent vorzustellen, der bei unüberwindlichen Differenzen zwischen den politischen Kräften kaum die »gewissenhafte That« der »Abdankung«1010 für sich in Anspruch nimmt. Sondern nach einer Kammerauflösung und folgenden Neuwahlen im Amte bleibt und sich ein Kabinett zusammenstellt ohne Rücksicht darauf, ob diese Minister mehrheitlich von der Volksvertretung gewünscht werden. Kurz: Bei der von Fichte entworfenen institutionellen Konstellation muss unter realpolitischen Bedingungen der Dualismus letztlich auf Dauer gestellt bleiben. Gleichwohl steht das konstitutionelle Moment nicht mehr infrage. Angesichts verfassungsrechtlicher Garantien wie der Ministerverantwortlichkeit, der ministeriellen Gegenzeichnungspflicht und der möglichen Ministeranklage wären also Versuche allzu eigenmächtigen Agierens des Herrschers und seines ministeriellen Stabes zu unterlaufen. Wenn auch die Urrechte in ihrem Wesenskern nicht klar gefasst, der Volksvertretung bedeutende Mitgestaltungskompetenzen vorenthalten und deren politische Einflussnahme so zum Teil auf Umwege gezwungen werden: In Anbetracht konkreter grundrechtlicher Bestimmungen wie der Unversehrtheit von Leib und Leben, der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit etc. geht Fichte für einen künftigen Staat fortschreitender »Culturbildung«1011, der nach seinem Verständnis zugleich »Mittel und Vorbedingung« für die »grösstmögliche […] Verwirklichung« der Rechtsidee und der Idee ergänzender Gemeinschaft darstellt1012, von der »allmählig sich steigernde[n] Durchführung jener Urrechte«1013 aus. D. h., die verfassungsmäßige Sicherung realer Freiheitsspielräume der Staatsangehörigen steht hier explizit im Focus der Aufmerksamkeit. Folglich geht die Behauptung fehl, Fichtes Staat bleibe »ein ›Chaosdrache‹, weil sein Ideal nicht die Freiheit des Einzelnen«, dieses vielmehr nur auf »die Verwirklichung der ›ethischen Ideen‹«1014 gerichtet sei. Ob der Unterstellung, Fichte vernachlässige den Bereich politischer Freiheiten um seiner metaphysi1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014
Ebd., S. 291. Ebd., S. 302. Ebd., S. 285. Ebd., S. 34 ff. Ebd., S. 211. Ebd., S. 34. S. Koslowski: Die Geburt des Sozialstaats aus dem Geist des Deutschen Idealismus, a. a. O., S. 95.
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Der Blick auf den Staat
schen Leitvorstellung willen, wird sein Entwurf kurzerhand in die Nähe des Hobbes’schen Leviathan gerückt. Nun stehen freilich der staatstheoretischen Vision des auf »absolute Macht«1015 gegründeten Leviathan »Organisationsformen gemäßigter Herrschaft« gegenüber, nebst einer »Vielfalt von […] normativen Vorgaben und institutionellen Bindungen«, wobei gerade zu denken ist »an den Konstitutionalismus, der den Gesetzgeber an die Verfassung bindet, an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und an die Gewaltenteilung«.1016 Und eben an diesem Ort politischer und staatsrechtlicher Ausgestaltung wäre im Besonderen auch die Umsetzung von Fichtes Entwurf eines erbmonarchischen Verfassungsstaates anzusiedeln.
V.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente der politischen Gemeinschaft: Der christliche Staat
1.
Die überlebte Gestalt der ›historischen‹ Kirche
Gehört es zu den Grundhinsichten des Fichte’schen Ansatzes, dass er das »Streben nach Vervollkommnung« der Einzelnen als »ihre eigene frei sittliche That«1017 kennzeichnet, so sei ein solches Tun doch niemals ohne ein der Person förderliches Eingebundensein in das menschliche Miteinander zu denken.1018 Nur wer in Familie, Korporation, Verein, Dorf- oder Stadtgemeinde etc. seinen Ort sozial bedeutsamer Wirksamkeit findet, kann über dieses das eigene Selbst erfüllende und vervollkommnende Tätigsein die Entwicklung des gesamten Gemeinwesens voranbringen. Umso mehr ist nach Fichtes Dafürhalten das Augenmerk auf die »eigenthümliche«, weil durch die Religion »erzeugte Gemeinschaft«1019 zu richten: die Kirche. Die er als »die allgemeinste und die höchste«1020 Gemeinschaft begreift, da sie den Menschen »als solchen« erfasse, »in seiner innern Einheit und Unterschiedlosigkeit von allen Andern«1021. Langfristig sicherten Religion und Kirche die innere Stabilität des gesellschaftlichen Beziehungsgefüges; sie näm1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021
W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a. a. O., S. 96. Ebd., S. 101 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 211. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 31 f. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 436. Ebd., S. 20. Ebd. D. h., der Mensch ist innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zugleich als Individuum und als Gattungswesen angesprochen, indem »sie allein alles menschlich Individualisirende ebenso überschreitet, als es adelt, reinigt und bestätigt«. Ebd.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
207
lich sorgten für die Wahrung wie die Förderung einer auf wohlwollende Zwischenmenschlichkeit ausgerichteten sittlichen Gesinnung1022. Diesem Verständnis folgend merkt Fichte zur Existenz der Kirche an, sie gehe »durch ihre Wirkungen« in »jeden Menschenzustand und in jede sonstige Gemeinschaft ein«1023. »Wie der Staat die äussere Ordnung aller Gemeinschaften zu einander, so ist sie das innerlich vervollkommnende, heiligende Princip in ihnen allen; durchaus universell, aber nur im Innern der Gesinnungen waltend und absolut zwanglos auf die freien Ueberzeugungen wirkend.«1024
Es mag befremdlich klingen, wenn Fichte angesichts der bekannt »düstere[n] Kapitel in der Chronik der Kirchengeschichte«1025 über die christliche Kirche sagt, sie wirke »absolut zwanglos auf die freien Ueberzeugungen«. Hier ist eine ideale Gestalt bezeichnet, die Fichte im Unterschied zur »historische[n]« die »ewige« oder »wahre« Kirche nennt.1026 Verstanden als eben das »heiligende Princip« in allen Gemeinschaften, soll dieses weltumspannend in der »sittliche[n] Ausbildung des Menschengeschlechts«, in steter »Belebung von Liebe, Glaube und Hoffnung in demselben« wirksam werden.1027 So dass sich – der Idee der Gottinnigkeit1028 entsprechend – das »›Reich Gottes‹ im irdischen Reiche«1029 verwirkliche. Demgegenüber sei die »historische« Kirche mit der Durchführung dieser Aufgabe, nämlich »den Gesammtzustand der Kirche […] zu steigern und immer vollkommener zu machen«1030, bislang nicht wirklich erfolgreich gewesen. »Wo […] Häresieen, Secten entstanden sind, da gaben sie Zeugniss von der Schwäche der Kirche, entweder dem religiösen Bewusstsein Aller genugzuthun oder den Glaubensirrthum über sich aufzuklären, welches Zeugniss der Schwäche endlich dadurch besiegelt wurde, dass die Kirche kein anderes Mittel kannte, als die Abweichenden von sich auszuschliessen, statt in der ersten Weise oder in der zweiten ihnen genugzuthun.«1031 1022 »Die Religion ist zugleich ethische Macht: sie hält auch in allen bürgerlichen und Verkehrsverhältnissen jenen Geist der Gewissenhaftigkeit lebendig, der nicht bloss Loyalität, ›Unbescholtenheit‹ erzeugt, sondern jene Bereitwilligkeit ›Opfer zu bringen‹ für die Gemeinschaft, wie für jeden Einzelnen.« Ebd., S. 490. 1023 Ebd., S. 441. 1024 Ebd. 1025 A. Köberle: Art. ›Christentum‹, in: Theologische Realenzyklopädie (hrg. v. G. Krause; G. Müller u. a.), Bd. 8, Berlin; New York 1981, S. 13 – 23, hier: S. 21. 1026 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 444; vgl. ebd., S. 450; S. 443. 1027 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 74 f. 1028 Vgl. oben: Teil 1, Kap. IV. 3. 1029 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 74. 1030 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 461. 1031 Ebd., S. 462.
208
Der Blick auf den Staat
Eine solcherart defizitäre Praxis führte demnach auch zur Spaltung der christlichen Kirche in der Reformation. Macht Fichte bei den damit verbundenen Ereignissen einen – wenngleich mit revolutionären Umbrüchen einhergegangenen – »Fortschritt« aus, wäre dieser seinem Verständnis zufolge umso vorteilhafter ausgefallen, hätte er »innerhalb der gemeinsamen Kirche auf organische Weise […] vollzogen werden können«.1032 Denn zum einen habe der erstarkende Protestantismus Dinge beseitigt, die keineswegs ihre Existenzberechtigung verloren hätten. Und zum anderen sei mit dem Konzil von Trient (1545 – 1563), das »erst die Formierung der neuzeitlichen röm.-kath. Kirche überhaupt«1033 begründete, eine verhängnisvolle Reaktion des Katholizismus gegen die Reformation heraufbeschworen worden. Dieser habe sich auf der Suche nach geistiger Orientierung in ein dogmatisch-starres Selbstverständnis vermeindlichen Vollendetseins begeben, das noch in der Gegenwart fatale Wirkungen zeitige.1034 »Wenn […] eine Kirche, neben eine in Wissen und Gesittung unaufhörlich sich verändernde und vervollkommnende Zeit gestellt, gegen welche sie stets als das Uebermächtigeinwirkende sich verhalten soll, sich selber in irgend einem Stadium ihrer Entwicklung für vollkommen und unveränderlich erklärt: so ist dies der höchste geistige Widerspruch und das Todesurtheil derselben.«1035
Es ist kaum anzunehmen, dass Fichte diese harsche Kritik primär auf jene weit zurückliegenden Richtungsentscheidungen von Trient bezieht. Hier stehen wohl vor allem die in seiner Zeit so umstrittenen programmatischen Zielsetzungen des ›Ultramontanismus‹ im Blick, »der die päpstliche Monokratie zur einzigen unanfechtbaren Entscheidungsinstanz der römisch-katholischen Weltkirche erheben wollte«1036, von Franz von Baader schon 1839 als »römische Dictatur«1037 tituliert. 1032 Ebd. 1033 B. C. Schneider u. a.: Art. ›Konzil‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft (hrg. v. H. D. Betz u. a.), Bd. 4, Tübingen 4 2001, Sp. 1656 – 1664, hier: Sp. 1659. 1034 »So ist denn der Nebenerfolg gewesen, wie dies immer die Weise gewaltsamer Explosionen ist, dass von der sich trennenden Kirche Vieles miteingerissen wurde, was verdient hätte, stehen zu bleiben. Aber eine noch beklagenswerthere Folge scheint die ältere Kirche dadurch betroffen zu haben, indem diese, aus Furcht vor dem weiter greifenden revolutionären Geiste in ihr, durch die Tridentiner Beschlüsse sich für unwandelbar vollendet erklärte, und so sich selber vorzeitig um all die reichen und edlen Früchte betrog, welche im Mittelalter, einer künftigen Entwicklung harrend, ausgestreut lagen.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 462. 1035 Ebd., S. 463. 1036 H.-U. Wehler : Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, a. a. O., S. 385. 1037 F. v. Baader : Über die Thunlichkeit oder Nichtthunlichkeit einer Emancipation des Catholicismus von der römischen Dictatur in Bezug auf Religionswissenschaft, Nürnberg 1839.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
209
Dabei hat in Fichtes Augen das Papsttum – auch jenseits solcher zugespitzten Programmatik – längst »seine welthistorische Bedeutung verloren«1038. Gleichfalls reagiere die protestantische Kirche, eigene Grundsätze geradewegs unterlaufend, nicht angemessen auf die Herausforderungen der Zeit. Entsprechend sieht Fichte, der von einem überkonfessionellen Standpunkt urteilen und den »Kern, der in allen vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Kirchen […] ihr Ziel enthält«, herausstellen möchte1039, keineswegs bloß die katholische Kirche in einem inneren »Widerspruch« verfangen. »Aber ein fast grösserer ist es noch, wenn andrerseits eine Kirche, die das Princip der Entwicklung anerkennt, ja die nur aus demselben das Recht ihrer Existenz schöpft, bei bedenklichen Phasen dieser Entwicklung kein anderes Mittel kennt, als den Versuch, den gethanen Schritt wieder zurückzuthun und sich gewaltsam in einem verlebten Zustande zu fixieren, wie die Evangelische Kirche in Deutschland jetzt thun zu wollen scheint, wenn sie die gewonnene Union wiederaufheben und ein erstarrtes Luthertum gewaltsam repristiniren will. Einem solchen Verfahren können wir nicht einmal das Recht und die Würde äusserer Consequenz zugestehen: hier verräth sich die Rathlosigkeit eines willkürlichen Experimentirens.«1040
Kam es im Jahrzent zwischen 1817 und 1827 in diversen deutschen Territorialstaaten zur Bildung konfessioneller Unionen von Lutheranern und Reformierten1041, erlangten seit den späten 1840er Jahren insbesondere in Preußen zunehmend Kräfte an Einfluss, die dem Unionsgedanken ablehnend gegenüberstanden.1042 Als einer der Hauptrepräsentanten dieser Strömung kann der Berliner Theologe Ernst Wilhelm Hengstenberg gelten, der entschieden für die »Repristination der Orthodoxie i. S. einer konfessionalistischen Lehrgesetzlichkeit«1043 eintrat. 1038 1039 1040 1041 1042
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 470. Ebd., S. 436. Ebd., S. 463. Vgl. M. H. Jung: Der Protestantismus in Deutschland von 1815 – 1870, Leipzig 2000, S. 77 ff. Vgl. W. H. Neuser : »Landeskirchliche Reform-, Bekenntnis- und Verfassungsfragen«, in: J. F. G. Goeters; R. Mau (Hrg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1, Leipzig 1992, S. 342 – 366, hier : S. 350 ff. 1043 W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, Gütersloh 32005, S. 775. – »Die Reaktionszeit ist durch das Bündnis der Regierungen mit der Neuorthodoxie charakterisiert. Gerade in den Ländern mit betont lutherisch-konfessioneller Orthodoxie […] werden alt- und hochkirchliche Formen und Formeln wiederhergestellt, Lutheraner schroff von Reformierten geschieden, […] so in Mecklenburg und Kurhessen und Bayern, zum Teil auch in Sachsen.« (T. Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800 – 1866, a. a. O., S. 435). Wenn überdies in Preußen »trotz eines orthodoxen Kirchenregiments eine erstrebte Rekonfessionalisierung« letztlich scheiterte (ebd.), so gelang es doch ab 1850 »E. W. Hengstenberg, L. v. Gerlach und F. J. Stahl, die nun […] des Königs Ohr besaßen, die Union noch weiter zurückzudrängen«. W. H. Neuser : »Union und Konfession«, in: J. Rogge; G. Ruhbach (Hrg.): Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 2, Leipzig 1994, S. 29 – 42, hier: S. 35.
210
Der Blick auf den Staat
»So steht die christliche Kirche im Grossen und Ganzen vor einer schwierigen und dunkeln Zukunft. Von der einen Seite droht das Princip der Stabilität eine immer tiefere Kluft zu befestigen zwischen ihr und den Regionen der Bildung, und dadurch sie stets unfähiger zu machen, ihre segensreiche Aufgabe an Allen zu erfüllen. Von der andern Seite bringt das Princip der Veränderlichkeit die Kirche in Gefahr, in die unbestimmte Individualisierung zahlloser Secten zu zerfallen oder in blosse Moral und Aufklärung übergehend sich selbst zu verlieren. Wenn wir nach menschlichem Urtheil sprechen wollen […]: so wäre es nur eine völlige Umgestaltung des bisherigen Begriffes vom ›Glauben‹ […], wodurch beide Principe wirklich vermittelt und in innern Einklang gesetzt werden könnten.«1044
Offensichtlich zielt Fichtes Rede vom Prinzip der »Stabilität« auf die zuvor gescholtenen, weil längst überlebten Positionen katholischer wie protestantischer Orthodoxie, von denen sich gerade viele gebildetere Kirchenmitglieder distanzierten. Demgegenüber gilt die Kritik am Umgang mit dem Grundsatz der »Veränderlichkeit« vornehmlich der protestantischen Seite. Das erhellt nicht nur aus der bereits zitierten Aussage, die protestantische Kirche finde in dem Moment der »Entwicklung« gerade »das Recht ihrer Existenz«.1045 Deutlicher noch wird dies an einer Stelle der Ethik, an der Fichte konstatiert, dass »in der gegenwärtigen Entkräftung und Substanzlosigkeit des Protestantismus […] das Auseinandergehen in Secten und die subjective Vereinzelung des Glaubens ihr Höchstes erreicht«1046 habe. Als problematisch zeigen sich somit einerseits gewisse Folgeerscheinungen der dem Protestantismus im Sinne wesenhafter Grundsätze zugeschriebenen Bestimmungen, »als geschichtliche Erscheinung […] ein Entwicklungsprozess«1047 und für die subjektive Freiheit und Autonomie der Gläubigen1048 repräsentativ zu sein. Andererseits hebt Fichte ab auf die vor allem in bildungsnahen protestantischen Milieus Spuren hinterlassende Wirksamkeit der Kant’schen »Verhältnisbestimmung von Moral und Religion«, dernach »die Religion auf die Moral begründet wurde«1049. 1044 1045 1046 1047
I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 463. Ebd., S. 463. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. 32. So ein Zeitgenosse Fichtes, der Theologe und Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur : »Kritische Studien über das Wesen des Protestantismus«, in: Theologische Jahrbücher (hrg. v. E. Zeller), Bd. 6, Tübingen 1847, S. 505 – 581, hier : S. 508. 1048 »Der Protestantismus ist das Princip der subjektiven Freiheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Autonomie des Subjekts im Gegensatz gegen alle Heteronomie des katholischen Begriffs der Kirche«. F. C. Baur : Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, Tübingen 1852, S. 257. 1049 W. Pannenberg: Theologie und Philosophie, Göttingen 1996, S. 199 f. – Wolf-Dieter Hauschild zufolge hat Lessings und Kants Eintreten für eine »Transformation des Christentums«, die »Religion als Moral definierte«, schließlich »weite Teile des protestantischen Bürgertums im 19. Jahrhundert im Sinne einer unkirchlichen, humanistisch-säkularistischen Christlichkeit geprägt«. W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, a. a. O., S. 472.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
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Bei der anvisierten Vermittlung der benannten Prinzipien geht es also um ein stabiles und zugleich entwicklungsfähiges Fundament der künftigen Kirche in ihrer Gesamtheit. Stellt dabei nach Fichtes Auffassung die Neuausrichtung des christlichen Glaubensverständnisses einen tragenden Faktor dar, so muss diese Wandlung insbesondere die gebildeteren Bevölkerungskreise ansprechen. Denn Fichte teilt jene Ansicht, dergemäß »die gegenwärtigen Formen der Kirche« schlicht »untergehen werden«, da sie »schon jetzt gerade dem besten und gebildetsten Theile der Gemeine unangemessen, oder wenn man will, ihm ›überflüssig‹ geworden« seien.1050
2.
Die Neuausrichtung der Theologie und die Notwendigkeit kirchlicher ›Selbsterziehung‹
Die Kirche insgesamt und insbesondere in Fragen des Glaubens auf eine neue Basis zu stellen, ja Religion und Kirche in die Lage zu versetzen, »als wiederherstellende Macht der Gegenwart«1051 in Erscheinung zu treten, bedeutet für Fichte nicht zuletzt, bestimmte dogmatische Beschränktheiten der überkommenen Theologie aufzugeben. Allem voran habe man die antagonistische Gegenüberstellung von ›Glaube‹ und ›Wissen‹ zu beseitigen, die verkenne, dass »das ächte Glauben« niemals »ohne innigstes Wissen und Erleben von dem« sei, »was eigentlicher Gegenstand des Glaubens ist«1052. Das Wesen des religiösen Glaubens werde verfehlt, redu1050 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 444. Zumal zu oft gerade das vernachlässigt werde, was ganz wesentlich die kirchliche Gemeindearbeit ausmache: Eine intensive und extensive Vermittlung der Inhalte des christlichen Glaubens. »Nur in unauflöslicher Verbindung beider ist die Blüthe der Kirche zu erkennen, nicht in der Entwicklung äusserlichen Umfangs und notorischer Macht, ebenso wenig in der Ausbildung äusserer Formen. Wenn wir diesem wahren Bestande der Sache gegenüber auf die wetteifernden Bestrebungen der jetzt kämpfenden Kirchen hinblicken: so will uns bedünken, als wenn sie das gerade Gegentheil des Rechten thäten, indem es ihnen lediglich auf die äussere Zahl der Bekenner anzukommen scheint. Jeder ächte Kampf der Kirchen kann nur im Wetteifer ihrer intensiven Leistungen bestehen, in der gesteigerten Kraft ihrer segenbringenden Wirkungen innerhalb ihrer eigenen Gemeinen. Ihr Werk kann nur das das Friedens sein: wo sie Hader zeugen und Glaubensstreit, da liegt gewiss nur jener falsche, äusserliche Begriff des Glaubens zu Grunde, und der ebenso falsche Wahn, als könne eine so äussere ›Bekehrung‹ zu einer andern Confession dem religiösen Leben des Neophyten frommen.« Ebd., S. 468 f. 1051 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart«, in: ZPpK, Bd. 21 (1852), S. 139 – 153 (1. Art.); ZPpK, Bd. 21(1852), S. 294 – 318 (2. Art.); ZPpK, Bd. 22 (1853), S. 159 – 180 (3. Art.). Fichte nimmt in der Ethik auf diese Artikelreihe mehrfach Bezug. Vgl. Ethik 2/2, S. 427 f., Anm.; ebd., S. 440, Anm.; ebd., S. 452, Anm. 1052 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 445. »So giebt es keinen schädlichern Missverstand und keine kläglichere Verblendung, als das lange genug überlieferte Vorurtheil, dass ›Wissen‹ und
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Der Blick auf den Staat
ziere man ihn auf ein »blosses Dafürhalten historischer oder unbegreiflicher Dinge«1053. »Wo mann diesen sogenannten ›Unbegreiflichkeiten‹ der ›Glaubenswahrheit‹ begegnet, da kann man sicher sein, auf trübe, unaufgehellte Gebiete des theologischen Wissens zu treffen, oder auf leere object- und werthlose Abergläubigkeiten. Der Glaube hat sich daher nicht sowohl in Erkenntniss aufzulösen; – dies ist die entgegengesetzte Seite des Irrthums: der Glaube ist niemals ein bloss theoretischer Act; – aber er hat sich von der freien Erkenntniss bestätigen zu lassen.«1054
Werde es überhaupt nur »in Harmonie mit der allgemeinen Wissenschaft, deren Resultate in der Philosophie ihren Gipfel finden«1055 gelingen, den christlichen Glauben gerade auch den Gebildeteren wieder näher zu bringen, dürfe man folglich nicht an dem Alleinstellungscharakter bisheriger Theologie festhalten. Ausdrücklich gibt Fichte den erklärten Gegnern der Letzteren Recht, »daß es mit ihr, als isolirter oder sich isolirender Wissenschaft, vorüber sey«1056. Die leitende Hinsicht für eine Theologie auf der Höhe der Zeit müsse also sein, sich neben den Ergebnissen der verschiedenen Wissenschaftszweige die Einsichten philosophischer Spekulation und speziell der Spekulativen Ethik zueigen zu machen, um den theologischen Wissensbestand »zu einer vollständigen Erkenntniss des Menschen und der Welt auszubilden«1057. Dazu gereiche vor allem die Anbindung an die zentrale Aufgabe philosophischer Spekulation, qua wissenschaftlicher Erkundung aller Bereiche der Schöpfung Einblick in den göttlichen Heilsplan zu eröffnen und so die Menschheitsgeschichte als ›Erlösungsgeschichte‹ greifbar zu machen.1058 Gestützt auf ein theologisches Fundament dieser Art und einen Theologen-
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›Glauben‹ zwei widerstreitende Mächte des geistigen Lebens seien, oder zwei auseinanderfallende Regionen beherrschten, zwischen denen der Geist sich zu theilen, oder auch, unter welchen er zu wählen habe, mit jedesmaligem Ausschlusse des Einen oder des Andern.« Ebd. Ebd. Ebd., S. 446. I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Erster Artikel«, a. a. O., S. 148. Ebd. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 460. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 459 f. So stellt Fichte angesichts der seines Erachtens höchst unbefriedigend ausgefallenen »zahlreichen Versuche neuer Kirchenbildung« der jüngsten Zeit die programmatische Frage, was eigentlich »das Kriterium sey zwischen der wahren kirchlichen Reform und der falschen?« und fährt im Weiteren fort: »Ebenso können wir nicht einmal wünschen oder zugeben, daß jene Frage bloß vom theologischen Standpunkte und nach seinen bisherigen Mitteln und Voraussetzungen gelöst werde: […] Deshalb sprechen wir es mit dem vollen Nachdrucke der Ueberzeugung aus: diese Frage enthält ein Problem, welches in letzter Instanz nur die Ethik und die Philosophie der Geschichte im Vereine lösen können.« I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Erster Artikel«, a. a. O., S. 142 f; vgl. ebd., S.145.
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typus, dem es Ernst ist mit der ihm obliegenden Verpflichtung, »die grossen Resultate aller wissenschaftlichen Erkenntniss in den Gesammtbesitz der Gemeine zu bringen«1059, könne die Kirche der Bestimmung nachkommen, im Prozess universaler kultureller Vervollkommnung als impulsgebende Kraft zu agieren.1060 Dann würde sie der ihr zugeschriebenen Position gerecht werden, »das höchste, allumfassende Culturinstitut« zu sein; dazu freilich habe »sie selber« sich »erst zu erziehen«.1061 Diese Herausforderung einer aus eigener Kraft zu bewältigenden Neuorientierung anzunehmen, hieße für die Kirche zudem anzuerkennen, dass die christliche Religion »als praktisches Princip durchaus noch in ihren Anfängen stehe«1062. Fichte führt dies u. a. auf die dogmatisch aufgeladenen Streitigkeiten zwischen den einzelnen Konfessionen zurück. Hier werde Energie in die falsche Sache investiert, zumal keine der christlichen Konfessionen einen Vorsprung vor einer anderen zu verzeichnen habe bei der Umsetzung des vordringlichen, weil auf die sittliche Praxis ausgerichteten Ziels: Die »dauernde Umgestaltung des sittlichen Willens in ihren Pflegbefohlenen«1063. »Bei ihnen allen steht die rechte Wirkung durch eigentliche ›Seelsorge‹ gleich tief, und giebt dadurch Zeugniss, wie wenig die Religion in ihrer bisherigen Anwendung überhaupt noch zu leisten im Stande war. Ja, trotz des lange uns eingewohnten Christenthumsdünkels, müssen wir bekennen, dass die christliche Durchschnittsbildung, wo sie allein wirkt und wo nicht andere Bildungselemente zugleich hinzutreten, durchaus keinen Vorzug zeige vor den Wirkungen des Muhamedanismus, oder der Reste des Judenthums und des Buddhacultus.«1064
Trotz dieser Diagnose und der Feststellung, »darin im Islam einen Fortschritt über das jeweilige Christentum« gefunden zu haben, »dass er seinen Gläubigen […] die Zuversicht des künftigen Paradieses energisch einzuflössen wusste«1065, bleibt für Fichte das Christentum ob der ihm zugrunde liegenden Idee »die 1059 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 460. 1060 »Hieraus erwächst für die Idee der Kirche folgender durchgreifender Kanon: Sie soll mit der universellen Bildung nicht nur versöhnt sein, sondern ihr voranschreiten, in der wahren und innerlich berechtigten Gewissheit, durch die unbedingte, völlig freigelassene Forschung nur immer mehr bestätigt werden zu können.« Ebd., S. 446. 1061 Ebd., S. 491. 1062 Ebd., S. 427. 1063 Ebd., S. 424. Im Fortgang seiner Ausführungen präzisiert Fichte dies freilich dahingehend, dass aus einer historischen Betrachtungsweise sich das »philosophische Recht« ableiten ließe, die katholische und die evangelische Kirche als »die einzigen gegenwärtigen Repräsentanten des weltgeschichtlichen religiösen Processes« anzusehen, »während ihre dritte Form, die griechische Kirche, in kindhafter Unentwickeltheit überwiegend auf der Stufe des bloss ceremoniellen Cultus zurückgeblieben ist, wie vollends die armenische und die koptische«. Ebd., S. 457. 1064 Ebd., S. 424 f. 1065 Ebd., S. 476.
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Der Blick auf den Staat
einzig wahre und auch für die Zukunft die einzig mögliche Religion«1066. Denn nur hier trete »die Liebe ohne alle Ausschliessung«1067 hervor ; dies meint die ›urchristliche Botschaft‹ menschenverbindender Nächstenliebe, die gegründet ist in der unbedingten, alle Individuen einschließenden Liebe Gottes.1068 Überdies sei die dieser Botschaft innewohnende Wirkmächtigkeit bislang nicht im mindesten ausgeschöpft worden. Zu sehr habe sich das Christentum auf die einzelnen Menschen gerichtet, »nur mittelbar durch diesen an die Gemeinschaft und auf den Staat«1069. So ist es für Fichte nichts weniger als »die nächste praktische Aufgabe der Gegenwart«, der Idee eines »›christlichen Staates‹« Anerkennung zu verschaffen1070.
3.
Deutungen einer Idee: Hinsichten zum ›christlichen Staat‹ im frühen und mittleren 19. Jahrhundert
In der Vorrede zum allgemeinen begrifflichen Teil sowie zur Tugend- und Pflichtenlehre der Ethik merkt Fichte an, bislang seien die »Bildungsversuche und Ansätze« zu einem ›christlichen Staat‹ »phantastisch oder abstract-puritanisch« geblieben, ja es werde »unter seiner Fahne das widersinnigste Gemisch heterogener Bestandtheile uns dargeboten«1071. Fichtes Einlassung richtet sich wohl in erster Linie gegen die »z. T. verschwommenen und unpräzisen Ansichten über den christlichen Staat, wie sie sich in der Romantik herausgebildet hatten«1072. Bezugspunkt der Kritik ist vor allem die staatsphilosophische Abhandlung Adam Müllers zur Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften, die die »christliche« zur »ersten und einzigen politischen Verfassung« erklärt, »welche auf der Erde bestanden hat«1073. Fichte findet hier einen wenig tragfähigen 1066 Ebd., S. 427. 1067 Ebd. 1068 Ebd., S. 423. »Man vergönne dem Christenthum endlich zu seiner angestammten Kraft sich zu erheben, als die reine Religion der Liebe hervorzutreten, und nichts Anderes sein zu wollen, als dies: dann wird es auch seine umgestaltende Allgewalt auf die Gemüther üben, den eingebornen Keim der Liebe unwiderstehlich in ihnen zu wecken.« Ebd., S. 425. 1069 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. X. »Wer aber, der seine ganze Tiefe glaubend oder frei erkennend umfasst hat, kann daran zweifeln, dass es irgend einmal auch die innere organisirende Kraft des Staates werden müsse und erst dann mit der ganzen Tiefe seines Gedankens und der ganzen Fülle seiner Segnungen hervortreten könne?« Ebd. 1070 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 301. 1071 I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. X. 1072 A. Nabrings: Friedrich Julius Stahl – Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik, Bielefeld 1983, S. 179. 1073 A. Müller : »Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staats-
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Entwurf, dem es insbesondere an Vorgaben für eine zukunftsorientierte Ausgestaltung des Staates mangele. Aufs Ganze gesehen biete Müller lediglich »lückenhafte ApperÅu’s« und »eine blosse Empfehlung des mittelalterlichen christlichen Staates […], die auf sich beruhen mag«.1074 Ähnlich die Stellungnahme zu Friedrich Schlegel: Fichte macht im Werk des romantischen »Propagandisten des christlichen Staates«1075 die Spielart einer rückwärtsgewandten »theokratische[n] Lehre vom Staate« aus. Das Urteil fällt freilich moderater als bei Müller aus, insofern man einer solchen Konzeption wie der Schlegel’schen nur ihre »beschränkten historischen Auffassungen abzustreifen« hätte, um in der Form einer derart erneuerten Lehrgestalt »den Staat auf einer höhern Grundlage« entstehen zu lassen.1076 »Namentlich der am Schlusse seiner Philosophie der Geschichte ausgesprochenen Hoffnung: ›dass in der vollendeten religiösen Wiederherstellung des Staates und auch in der Wissenschaft die Sache Gottes und das Christenthum vollständig auf Erden siegen und triumphiren werde‹, kann sich der Einsichtige mit voller Ueberzeugung anschliessen, aber nur in dem Sinne, dass diese ›Wiederherstellung‹ eine neue und durch Freiheit erst zu findende sei, nicht eine zurückführende ›Restauration‹ des Alten.«1077
Jenseits dieses geschichtsphilosophischen Vermittlungsversuches1078 Fichtes gilt festzuhalten, was Schlegel als den »lebendigen Begriff und die wahre Idee des christlichen Staats«1079 zum Ausdruck zu bringen sucht. In dieser Hinsicht formuliert er zu Beginn der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen Kerngedanken diverser Betrachtungen und Stellungnahmen zum ›christlichen Staat‹, die in der Folgezeit bis zur Jahrhundertmitte anzutreffen sind. So bedeutsam für Schlegel die »schonende Achtung« ist, die »den christlichen Staat in seinem Verfahren gegen den Menschen als Individuum, gegen die Ehe und das sittlich geordnete Privatleben«1080 auszeichnen solle, so unerheblich sei
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wissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere« (1819), in: R. Kohler (Hrg.): Adam Müller. Schriften zur Staatsphilosophie, München 1923, S. 177 – 246, hier : S. 246. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 439. K. v. Beyme: Geschichte der politischen Theorien in Deutschland 1300 – 2000, Wiesbaden 2009, S. 290. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 447. Ebd., S. 446. Das Orginalzitat findet sich in: F. Schlegel: Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1828, in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe (hrg. v. E. Behler u. a.), Bd. 9, München; Paderborn; Wien 1971, S. 428. Für den freilich auch Anhalt bei Schlegel zu finden ist, insofern laut Klaus Behrens »[k]onservativ-bewahrendes und progressiv-veränderndes Denken« hier »dicht beieinander« liegen und seine »politischen Entwürfe« sich stets »an den Möglichkeiten der Veränderung orientiert« zeigen. K. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794 – 1808), Tübingen 1984, S. 273. F. Schlegel: »Signatur des Zeitalters« (1820 – 1823), in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, a. a. O., Bd. 7, München; Paderborn; Wien 1966, S. 483 – 596, hier: S. 565. Ebd., S. 571.
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Der Blick auf den Staat
für ein christliches Staatswesen die Frage, welche der christlichen Konfessionen eine bestimmende Stellung innehabe und inwieweit nichtchristliche Glaubensrichtungen zugelassen seien.1081 »Es kommt vielmehr nur darauf an, ob die vorwaltenden Maximen, Verfahrungsweisen, Grundsätze und herrschenden Prinzipien des Staats selbst, in seiner eigenen Sphäre, ganz unabhängig von der äußern kirchlichen Konfession, ihrem innern Geiste nach, mit dem Christentume übereinstimmen, und also wesentlich christlich sind, oder nicht.«1082
Es geht um ein sittlich-religiöses Ethos, das alle Bereiche des Gemeinwesens, mithin neben der gesellschaftlichen Sphäre gerade die staatlich-institutionellen Handlungsfelder durchdringen soll. Abgelehnt wird die ›mechanische‹, die »rein mathematische Staatsansicht«1083, die den Staat als weltanschaulich neutrales Institut zur Gewährleistung der Rechtssicherheit betrachtet. Fast zwei Jahrzehnte nach Schlegels Formulierung in der Concordia bringt Robert Blums Handbuch der Staatswissenschaften jenen Gedanken gleichermaßen prägnant auf den Punkt. Geurteilt auf dem Standpunkt des »germanischchristlichen Staates« müsse »[i]n den Verhältnissen des Staatslebens […] eben die sittliche Ordnung vorwalten, welche die Religion für das Privatleben zur Vorschrift macht«.1084 »Der Geist der göttlichen Offenbarung muß den ganzen Staatskörper in all seinen Gliedern durchströmen, aus allen Einrichtungen, aus allen Gesetzen, aus allen Staatshandlungen darf nichts sprechen, als die von Gott geoffenbarte, die christliche Moral oder Sittenlehre.«1085
Vermittels einer ganz ähnlichen Grundperspektive betont der Staatsrechtler Carl Welcker, dass der Staat umso gedeihlicher sich gestalte, »je mehr ächte christliche Gesinnung und Handlungsweise ihn durchdringen und beherrschen«. Daher müsse »auf den christlichen Staat in diesem Sinne […] das Streben aller christlichen Regierungen und Bürger fortdauernd gerichtet sein«.1086 »Wer dürfte […] noch einen Augenblick zweifeln, daß Christen, von solcher praktischen Gesinnung und Liebe durchdrungen, daß wirklich christliche Regenten und Bürger auch ihre gemeinschaftlichen, staatsgesellschaftlichen Gesetze und Einrichtungen, […] soweit die wesentliche technische Natur des Rechts- und Staatsvereins es 1081 1082 1083 1084
Ebd., S. 565. Ebd. Ebd., S. 495. Art. ›Moral‹ (o. Verf.), in: Volksthümliches Handbuch der Staatswissenschaften und Politik (hrg. v. R. Blum), Bd. 2, Leipzig 1851, S. 94 – 95, hier : S. 95. 1085 Ebd. 1086 C. Welcker : Art. ›Sittlichkeit‹, in: Das Staats-Lexikon (hrg. v. C. v. Rotteck; C. Welcker), Bd. 12, Altona 21848, S. 191 – 214, hier : S. 206.
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gestattet, mit Freiheit mittelbar christlich oder nach jenen Geboten und Zwecken der christlichen Moral einrichten müssen!«1087
Dabei macht Welcker zugleich deutlich: Eben das Vorwalten einer christlichen »Gesinnung« im Staate ist der Kernpunkt der Betrachtung; dieser entspricht die Rede vom »Geist« der christlichen Überlieferung bei Schlegel und Blum. Demgegenüber hüte man sich laut Welcker davor, nach Art des mittelalterlichen Staates die »christlichen Moralgrundsätze schon unmittelbar als weltliche Gesetze« anzusehen1088. Wenn schließlich Friedrich Julius Stahl, der »wegweisende Theoretiker«1089 der Idee des ›christlichen Staates‹ im 19. Jahrhundert, den Staaten nahelegt, danach zu streben, »christliche Staaten zu seyn, und es immer mehr zu seyn«, sollten sie auch seiner Ansicht zufolge »weder einen theokratischen noch einen bloß religiösen Charakter haben«1090. Entschieden stehe diese »ungeläuterte Auffassung des Mittelalters«1091 im Gegensatz zu der Einsicht über Staat und Kirche, dernach man diese als »die bevollmächtigten Anstalten Gottes, aber nicht (mit dem Vollmachtgeber identische) Repräsentanten desselben«1092 anzusehen habe. So findet sich der besagte Kerngedanke zur Eigenart des ›christlichen Staates‹ hier in der Weise zum Ausdruck gebracht, dass Letzterer »sowohl die Gebote der christlichen Offenbarung« befolgen solle, wie sie die Kirche beispielsweise über die Ehe bezeuge, als auch »die Principien christlicher Gesittung in seinen Einrichtungen und seiner Lenkung«.1093 1087 C. Welker : Art. ›Christenthum‹, in: Ebd., Bd. 3, Altona 21846, S. 214 – 239, hier: S. 226. Spricht Carl Welcker von der »technische[n] Natur« des Staates, hat er wohl im Besonderen den Bereich der Verwaltung im Auge. Denn im Allgemeinen lehnt auch er das mechanistische Staatsverständnis ab, sieht den Staat als »wahrhaft lebendiges Ganzes«: »Ja, der Staat ist […] weder etwa eine todte Actiengesellschaft, oder eine bloße Abstraction, eine bloße äußerliche Rechtsform, oder äußere Zwangs- und Rechtssicherungsanstalt, oder ein Haufe, ein Aggregat, […] so wie bei einer Maschine […] oder auch eine blos animalische Verbindung [der] Staatsglieder zu dem auf Leben und Tod verbundenen unsterblichen Ganzen.« C. Welcker : Art. ›Staatsverfassung‹, in: Ebd., Bd. 12, Altona 21848, S. 363 – 387, hier: S. 367. – Vgl. dazu den Theologen Karl Bernhard Hundeshagen, der die »Idee des christlichen Staates«, durch welche der Staat als »sittliche Lebensgemeinschaft« aufgefasst werde (Der deutsche Protestantismus, Frankfurt a. M. 31850, S. 351 f.), von einem »unlebendigen Begriff des Staates« unterscheidet, »der den Staat nur als Mechanismus gebietender und verbietender Gewalten kennt« (ebd., S. 353) und eben diesem Begriff gegenüber an anderer Stelle konstatiert: »Nicht der Staat, sondern die Verwaltung ist eine Maschine, und selbst letztere nicht einmal ganz und durchaus«. Ebd., S. 141, Anm. 1088 C. Welcker : Art. ›Christenthum‹, a. a. O., S. 226. 1089 W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, a. a. O., S. 783. 1090 F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/2, a. a. O., S. 156. 1091 Ebd. 1092 Ebd., S. 158. 1093 Ebd., S. 154 f.
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Der Blick auf den Staat
»Es besteht also der christliche Charakter des Staats sowohl in den Einrichtungen als in der Gesinnung und Würdigung, mit der sie betrachtet werden, in dem Geiste, der den ganzen politischen Zustand erfüllt.«1094
Stahl warnt jedoch vor der Gefahr, dass der Staat in dem genannten Sinne gar nicht zu einer gereiften Form gelangen könne. Werde nämlich die christliche Gesinnung aufgrund des Erstarkens eines rationalistisch und atheistisch orientierten Welt- und Staatsverständnisses zurückgedrängt, drohe nicht nur der Verfall des Staatswesens zur rein ›mechanischen‹ Rechtssicherungsinstitution1095. Zugleich sei die konstitutionelle Monarchie und mit ihr das Königtum überhaupt gefährdet1096, was Stahl gerade als engagierten Verteidiger des monarchischen Prinzips beunruhigt. »Soll der constitutionelle Staat, der in der That der tiefsinnigste, der sittlich befriedigendste ist, seine Mission erfüllen, so muß er aus dem Geiste des Christenthums wiedergeboren werden, er muß ein christlicher Staat seyn.«1097
Fasse man dieses Ziel ernsthaft ins Auge, habe sich der Staat nach Stahls Ansicht vor allem auf seinem ureigensten Terrain vor einer Erosion der christlichen Gesinnung zu schützen. Daraus folge mit unabweisbarer Konsequenz, »daß nur Bekenner des Christenthums ihn ordnen und verwalten«1098 sollen. Personen jüdischen Glaubens sowie »katholischen und protestantischen Dissidenten«1099 habe der Zugang zu öffentlichen Ämtern verwehrt zu bleiben. Zwar seien diesen Staatsangehörigen ebenfalls die bürgerlichen Rechte zuzugestehen; eine »politische Gleichstellung aller Menschen« im ›christlichen Staate‹ bringe jedoch erklärtermaßen die »Gefährdung seines Bestandes«1100 mit sich. Dies offenbart zugleich eine Bedeutung der Idee des ›christlichen Staates‹ für 1094 Ebd., S. 155. 1095 Ebd.; vgl. F. J. Stahl: Der christliche Staat und sein Verhältniß zu Deismus und Judenthum, Berlin 1847, S. 12. – Zur Verbindung von Stahls Philosophie des Rechts mit dieser späteren Schrift merkt Uwe Rieske-Braun an, dass die »Gedankenführung der Rechtsphilosophie […] in der Begründung des christlichen Staates« gipfele. Dabei habe Stahl »die hier formulierten Prinzipien später nur unwesentlich modifiziert. Er hat sie in ihren wesentlichen Konsequenzen 1847 in seiner Abhandlung über den christlichen Staat wiederholt und ausgeführt«. U. Rieske-Braun: Zwei-Bereiche-Lehre und christlicher Staat, Gütersloh 1993, S. 56 f. 1096 »Nimmt in der Nation die Lossagung vom christlichen Glauben zu, die sich jetzt so mächtig zeigt, hören die öffentlichen Institutionen auf, vom Christenthum bestimmt zu seyn, so ist es nicht mehr möglich, das Ansehen des Königthums zu behaupten, wir erhalten in der unvermeidlichen Fortbildung unserer Verfassung nicht einen constitutionellen Staat, sondern einen demokratischen.« F. J. Stahl: Der christliche Staat, a. a. O., S. 12. 1097 Ebd., S. 13. 1098 Ebd., S. 31. 1099 Ebd., S. 35. 1100 Ebd., S. 34 f.
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die politische Praxis.1101 So verstand Stahl seine Schrift über den christlichen Staat und sein Verhältniß zu Deismus und Judenthum auch als Empfehlung an den Vereinigten Landtag Preußens, eben »die politischen Rechte auf die Mitglieder der anerkannten christlichen Kirchen zu beschränken, d. h. auf katholische und evangelische Staatsbürger«1102. Bezugnehmend auf eine Stelle der Rechtsphilosophie Stahls lehnt Fichte diese Sichtweise mit der Begründung ab, »dass der Staat als solcher kein Glaubensbekenntniss habe«, sondern allen Bekenntnissen die gleichen Rechte gewähre, »eben weil er Staat, nicht Religionspartei ist«, und zudem gerade diesem Gleichheitsgrundsatz zufolge »auch Jedem der Zugang zu allen Stellen im Staate« zu eröffnen sei.1103 Dem bei Stahl in Rede stehenden Loyalitätsproblem schenkt diese Erwiderung freilich keine Aufmerksamkeit, mithin auch nicht der Frage, ob es überhaupt Anhalt geben mag für die Befürchtung, dass ›Dissidenten‹ in öffentlichen Ämtern den Bestand des Staates gefährdeten. Demgegenüber widmet Fichte sich mit einer ausführlichen Kritik der Frage, inwieweit Stahls Philosophie des Rechts dem Anspruch genüge, eine Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung1104zu bieten und so denn auch das geistige Fundament eines ›christlichen Staates‹. Obgleich Stahl sich bekenne zur Idee eines personalen Gottes, in dem die Existenz des Men-
1101 Bemerkenswerterweise wird Stahl eine Mitgliedschaft in der »sog. Camarilla am preußischen Hof« zugeschrieben, die »in der Reaktionsära 1850 – 1858« verantwortlich gewesen sei für eine Einflussnahme auf die Kirchenpolitik des regierenden Königs Friedrich Wilhelm IV. (W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, a. a. O., S. 790) im Sinne der von Stahl dargelegten Idee des ›christlichen Staates‹. Ebd., S. 784; vgl. E.-R. Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, a. a. O., S. 256. 1102 A. Nabrings: Friedrich Julius Stahl – Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik, a. a. O., S. 172. ¢ Vgl. auch die Stellungnahme des jungen Abgeortneten Otto von Bismarck in jener Debatte des Preußischen Landtages, die Stahl zur Abfassung seiner Schrift über den ›christlichen Staat‹ veranlasste. Er gönne, so Bismarck, den Juden durchaus alle Rechte, »nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden«. Denn entgegen anderslautender Bekundungen sei der »christliche Staat« keineswegs »eine müßige Fiktion, eine Erfindung neuerer Staatsphilosophen […] Ich bin der Meinung, daß der Begriff des christlichen Staats so alt sei, wie das ci-devant heilige römische Reich, so alt, wie sämtliche europäische Staaten, daß er gerade der Boden sei, in welchem diese Staaten Wurzel geschlagen haben […] Erkennt man die religiöse Grundlage des Staates überhaupt an, so glaube ich, kann diese Grundlage bei uns nur das Christentum sein. Entziehen wir diese Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle, welchen die ältere Philosophie aufgestellt hat.« O. v. Bismarck: Rede im Vereinigten Landtag Preußens vom 15. Juni 1847, in: P. Stein (Hrg.): Fürst Bismarcks Reden, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 22 ff. 1103 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 50; vgl. F. J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Bd. 2/1, a. a. O., S. 263. 1104 So der Titelzusatz in Bd. 2/1 und Bd. 2/2 von Stahls Philosophie des Rechts.
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Der Blick auf den Staat
schen als freier Person sich gründe1105, werde gerade der »Theismus« und das »Princip der freien Persönlichkeit« nur »halb« berücksichtigt1106. So erhalte der ›ethische Prozess‹ einer fortdauernden Perfektibilisierung der menschlichen Kultur bei Stahl keine genügende Aufmerksamkeit1107. Zu sehr verlege sich Stahl auf die Konstruktion eines mehr oder minder starren Obrigkeitsstaates, dessen rechtliche und soziale Strukturen sich speisten aus der auf Gottes Urheberschaft zurückzuführenden »absoluten Rechtsordnung«1108. Wie bei Hegels Staatsmodell gleichermaßen, so vermisst Fichte bei Stahl die leitende Grundhinsicht, dernach der Staat als ein im Prozess steter Vervollkommnung begriffener »Organismus des Rechts und der Wohlfahrtsthätigkeit«1109 zu verstehen sei, der die »positive sittliche […] Freiheit«1110 jeder Person zum Ziele habe. Erst angesichts eines solchen Verständnisses lassen sich in Fichtes Augen stetig bessere Rahmenbedingungen schaffen, die den Staatsangehörigen insbesondere die Möglichkeit eröffneten, ihre individuellen Fähigkeiten auf je originäre Weise zu entfalten. Dann erst seien die Einzelnen in die Lage versetzt, im religiösen Bewusstsein gottgegründeter zwischenmenschlicher Verbundenheit ein in freier Selbstverantwortung tätiges Mitglied des Gemeinwesens zu werden.1111 1105 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 495. 1106 Ebd., S. 507. 1107 »Zum Gedanken einer allmähligen Befreiung unserer allgemeinen Zustände durch das Christenthum, zu der Ueberzeugung, dass es erst dann seine Bestimmung erfüllt habe, wenn es staatlich erlösende, das Böse in der Menschheit von Innen her vernichtende Weltmacht geworden sei, zu dieser ebenso gründlichen als begeisternden Einsicht erhebt Stahl sich nirgends […].« Ebd., S. 506 f. 1108 Ebd., S. 507. 1109 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 267. – »Stahl lehnt den Organismusbegriff für den Staat gerade deswegen ab, weil er auf die Wechselbeziehungen der Glieder und eine immanent-autonome Ordnungskraft abzielt. Diese vertragen sich nicht mit Stahls im spezifischen Sinne obrigkeitlicher Staatsauffassung, die die Staatsgewalt als eigenständige, gottgegründete, auf objektive Zwecke verpflichtete Autorität über den Menschen versteht.« E.-W. Böckenförde: Art. ›Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper‹ VII – IX, in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O., Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 561 – 622, hier : S. 610. 1110 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 24. 1111 Eine in dieser Hinsicht zustimmungswürdige Vorstellung eines ›christlichen Staates‹ findet Fichte immerhin bei Moriz CarriÀre, der es allerdings »hierüber bei den allgemeinsten Andeutungen gelassen« habe (I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 301). So spricht CarriÀre von einem Staat, in dem die »Freiheit eines Jeden […] nicht blos nur so weit giltig« sei »als die aller Andern mit ihr bestehen kann«. Vielmehr müsse die Freiheit als »das Vereinende« betrachtet werden: »[D]er Wille der Einzelnen ergänzt sich zur Verwirklichung gemeinsamer Ideen, und dadurch erst wird der Staat Organismus der Sittlichkeit, in welchem für die materielle und ethische Cultur in der Art Sorge getragen wird, daß Jeder das Seine findet und sich selbstständig entwickeln kann: und dieser sittliche Staat ist der christliche«. M. CarriÀre: Religiöse Reden und Betrachtungen für das deutsche Volk, Leipzig 1850, S. 354; vgl. ebd., S. 358.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
221
»Die Freiheit, sagt er, hat den ›Sündenfall‹ erzeugt; in allen Freiheitsbestrebungen daher macht die ›Erbsünde‹ sich geltend. Wer bei diesem Gedanken stehen bleibt, wer nicht die andere weit wichtigere Einsicht hinzufügt, dass nur in der Freiheit die wahre Erlösung möglich sei: der ist verpflichtet, heilig verpflichtet, allen Freiheitsbestrebungen zu misstrauen und die äussere Autorität, die historische, wenn auch unbegreifliche Rechtsordnung aufrecht zu erhalten. […] Ist es wahr, dass der christliche Gott die Liebe sei, habt Ihr diesen Gedanken in der That mit Ernst und Ueberzeugung umfasst: so kann er Euch auch nur ein Gott der Klarheit und Freiheit sein, der keinen Zwang und keine unbegreifliche Autorität übrig lässt, der seine ganze Menschheit durch Freiheit zur vollkommnen Gemeinschaft unter sich und mit seinem Geiste emporbilden will. Der ›christliche Staat‹ darf Euch daher nur ein Staat der höchsten Freiheit sein!«1112
4.
Der Staat der »Humanität«: Fichtes Ausblick auf einen ›christlichen Staat‹
A.
Der »wahre Geist« des Staates
Wie aber kann unter der Prämisse, das Christentum solle in Zukunft als »neues staatsbildendes Princip«1113 auftreten, eine »tiefgreifende religiöse Neubildung« gelingen, die Fichte für das »allerdringendste Bedürfniss« seiner Zeit hält?1114 Wie können religiöse Positionen und Traditionen überwunden werden, die dem Erreichen dieses Zieles und damit der Ausformung eines wahrhaft ›christlichen Staates‹ entgegenstehen? Bereits thematisiert wurde die Rolle, die für Fichte in diesem Zusammenhang eine Umorientierung hinsichtlich des Verhältnisses von Glaube und Wissen spielt. So gelte es, unter Zuhilfenahme insbesondere der Wissensbestände philosophischer Spekulation, die wesentlichen Inhalte des christlichen Glaubens im Lichte der Verbundenheit mit dem Prozess universaler Kulturentwicklung zu zeigen. Ein Schwerpunkt dieses Klärungsauftrages habe dabei dem Praxisbezug der christlichen Grundsätze zu gelten: Spiegele sich doch die recht verstandene christliche Religiösität »einzig in der Gesinnung und im Handeln«1115 wider. Dementsprechend müsse auch die irreführende Annahme ausgeräumt werden, gottgefällig zu leben bedeute, sich aus der Welt zurückzuziehen. Vielmehr sei es aus christlicher Sicht gerade darum getan, sie »mit freiem Verständnisse […] 1112 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 507 f. 1113 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 300. 1114 I. H. Fichte: Ethik 1, S. XII. 1115 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 423.
222
Der Blick auf den Staat
umzugestalten zum Schauplatze sittlich-religiöser Thaten«1116. Eine Deutung des christlichen Glaubens habe Vorrang zu erhalten, »in der die religiöse Idee nicht mehr ein Abgesondertes oder Jenseitiges bleibt«, sondern als ein praktisches Prinzip im Verhalten der Einzelnen zur Mitwelt ihre Wirksamkeit entfalte und in allen Formen des menschlichen Miteinander »sich verleiblicht«1117. »Jedes Verhältniss ergänzender Gemeinschaft wird desto lebendiger und gelungener dargestellt, je mehr es durchdrungen ist vom Geiste der Religion: umgekehrt empfängt die religiöse Idee den eigentlichen Schauplatz ihrer Bethätigung nur im Verhältnisse des Menschen zum Menschen, des Menschen zu den empfindenden Geschöpfen. Die Religion ist überhaupt Nichts, was einen besondern, nur ihr allein vorzubehaltenen (Glaubens-) Inhalt besässe, in dessen Anerkennung die specifisch religiöse That zu setzen wäre: dies ist das bisherige, falsche, transcendente Princip der Religion, dessen verhängnissvoller Irrthum jenen schon geschilderten Fanatismus erzeugt hat, und im Widerspiele desselben den oft sehr gerechten Hass gegen eine solche Religion. Der Staat, die Gesellschaft soll nicht in einer unabänderlichen Theokratie mit ihrem unbegreiflichen Dogma erstarren: – dies wäre wiederum die Isolirung der Idee der Gottinnigkeit, welche wir von allen Seiten widerlegt haben.«1118
An die Stelle eines Religionsverständnisses, das sich vor allem an Ritualen und Glaubensvorschriften orientiert, soll aus der gewandelten Auffassung religiöser Inhalte heraus eine »gotterfüllte Gesinnung« möglichst authentisch gelebter Mitmenschlichkeit treten.1119 Erst auf diesem Wege erscheint nach Fichtes Ansicht die Aufgabe realisierbar, in allen Sphären des Gemeinwesens eine Haltung der Fürsorge, der Hilfsbereitschaft und des Mitgefühls bestimmend werden zu lassen, kurz: die christliche Idee der ›Nächstenliebe‹ zum »wahren Geiste des Staates zu machen«1120. Dem möglichen Einwand, hier werde einer weltfernen Utopie das Wort geredet1121, begegnet Fichte mit dem Verweis auf die Einsichten des ethischen Theismus. Dieser stelle klar, dass es und was es mehr brauche als einen stabilen rechtlichen Rahmen, um das Zusammenleben von Menschen im Staate »in höchster Vollkommmenheit zu verwirklichen«1122. Jegliche Form menschlicher 1116 1117 1118 1119
Ebd., S. 425 f. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 820. Ebd., S. 819 f. I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. IX. »Ich vermag in ächt religiösem Geiste Kleinhandel zu treiben oder dramatischer Künstler zu sein; aber ich kann auch mit antireligiöser Heuchelei mich in das Gewand des Priesters hüllen oder Gebetsbücher verfassen.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 426. 1120 I. H. Fichte: Ethik 1, S. XI. 1121 »Da hören wir jedoch schon lange unsere praktischen Staatsweisen mit höhnischer Miene uns fragen, ob ein […] Staat […], weit weniger durch strafedrohende Gesetze als durch sittlich-religiöse Kräfte geleitet, nicht zu den grössten politischen Träumen gehöre, dergleichen nur der Welt unkundige Phantasten sich vorgaukeln können?« Ebd., S. XIIf. 1122 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 818.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
223
Gemeinschaft könne sich nur aufgrund des sozialen Sinns ihrer Mitglieder erhalten. Folglich gelte das auch für den Staat. Über die Rechtsordnung hinaus sei dieser auf den »Gemeingeist seiner Bürger« angewiesen, auf das »gegen das Allgemeine gerichtete, selber organisirte Wohlwollen«.1123 Diese also prinzipiell schon vorhandene Einstellung gelte es mit dem neu zu gewinnenden Verständnis christlicher Religiösität gleichsam zu kultivieren und zu vertiefen. Die gerade in einer Gesinnung des Wohlwollens ihre Verwirklichung findende »Idee der ergänzenden Gemeinschaft« müsse, so die Fichte’sche Diktion, »sich in allen ihren Formen von der Idee der Gottinnigkeit durchdringen lassen, um der eigenen Dauer sicher zu sein, um stets durch sie gereinigt und gesteigert zu werden«1124. In Anwendung auf die realen Verhältnisse des Staates bedeute dies: Im gesamten administrativen Bereich, in dem es stets auch um das »künstlerische Anpassen des Rechts an die gegebenen Verhältnisse« gehe, soll neben der Ausrichtung auf die »höchste Zweckmässigkeit« eine von der »Milde des Wohlwollens« getragene Grundhaltung Einzug halten.1125 Beispielhaft spricht Fichte im Sinne des umfangreicheren Polizei-Begriffes jener Zeit davon, dass diese wohlwollende Haltung »der innerste Geist der Polizei-Verwaltung«1126 werden müsse. »Um dieses hochwichtigen Charakters willen sollte man die Functionen der Polizeigewalt nur den gebildetsten und besonnensten Beamten überlassen oder Personen in der Gemeine anvertrauen, die in besonderer Verehrung stehen und diesen Pflichten freiwillig aus human-religiösen Gründen sich unterziehen.«1127
Hinsichtlich der skizzierten Vorstellungen anderer Denker über einen ›christlichen Staat‹ schreibt Fichte also grundsätzlich die Aussage fort, dass auch, wie Welcker formuliert, die »staatsgesellschaftlichen Gesetze und Einrichtungen […] mit Freiheit mittelbar christlich«1128 bestimmt sein müssten. Gleichfalls spricht sich Fichte gegen eine – zumindest bei Welcker und Stahl ausdrücklich abgelehnte – theokratische1129 oder vom »Irrthum« des »Puritanismus«1130 geprägte Sichtweise aus, in der das »kirchliche Gebot« als »Staatsgesetz und Policeimaassregel«1131 auftrete. 1123 Ebd., S. 819. 1124 Ebd. 1125 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 268. »Ohne organisirte Verwaltung vermag, wenigstens in gegenwärtiger Zeit, kein Staat mehr zu bestehen. Dass indess dabei die Idee des Wohlwollens vorwalten müsse, ist wenigstens dem Principe nach bisher noch nicht anerkannt worden.« Ebd. 1126 Ebd., S. 332. 1127 Ebd., S. 333. 1128 C. Welcker : Art. ›Christenthum‹, a. a. O., S. 226. 1129 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 820. 1130 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 426. 1131 Ebd.
224
Der Blick auf den Staat
Nichtsdestotrotz treffen die meisten der Fichte zu Kenntnis gelangten Ansichten über den ›christlichen Staat‹ nicht oder höchstens sehr eingeschränkt die Vorstellungen, die er mit dieser Idee verbindet. Eben das belegt seine diesbezügliche Zurückweisung »bisherige[r] Bildungsversuche und Ansätze«1132. Zudem findet er bei der öffentlichen Inachtnahme dieser Thematik neben Unklarheiten über das Anvisierte zugleich eine mangelhafte Konturierung des zielführenden Weges. B.
Christentum und Humanismus
Wenn sich denn schon die Einsicht verbreite, dass es mitnichten um einen Staat bloßer Rechtssicherheiten gehe, fehlt nach Fichtes Ansicht noch das klare Bewusstsein, dass und wie dieser Staat der Zukunft eine Institution der Beförderung humaner Kultur, oder wie er formuliert: »der christliche Staat eben der der Humanität«1133, werden soll. »Man hat in der letzten Zeit viel vom ›christlichen Staate‹ gesprochen, und in tadelnder oder in lobender Bedeutung ihn dem Rechtsstaat entgegengesetzt. Man meinte eigentlich den Staat der Humanität, der mit den positiven Lehren des Christenthums nicht in directer Verbindung steht.«1134
Hebt Fichte an dieser Stelle wohl darauf ab, dass als »Hauptstrom, aus dem sich das neuzeitliche Humanitätskonzept speist […] nicht die kirchlich-theologische, sondern die bürgerlich-aristokratische Tradition«1135 hervortritt, betrachtet er es als Herausforderung der Zeit, eine Zusammenführung der christlichen Prinzipien mit dieser Humanitätsidee voranzubringen. Dies wirft noch einmal ein Licht auf seine Vorzeichnung der Wegstrecke, entlang der die Erneuerung und Fortentwicklung des Christentums zu vollziehen und ein tragfähiges Fundament für einen ›christlichen Staat‹ zu legen sei. Dabei ist auch hier das Diktum der notwendigen Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und religiösem Glaube, die vor allem den gebildeteren Teil der Bevölkerung ansprechen soll, ein Leitmotiv des Gedankenganges. Soll jene Humanitätsidee in die christliche Tradition einbezogen werden, müsse Letztere sich weit mehr der Aufnahme humanistischer Grundsätze öffnen, als dies bislang geschehen sei. Diagnostiziert Fichte gar eine »innerlich bisher feindselige Tendenz«1136 zwischen Christentum und Humanismus, könne 1132 1133 1134 1135
I. H. Fichte: Ethik 2/1, S. X. Ebd. I. H. Fichte: Ethik 1, S. 390 f. E. Herms: Art. ›Humanität‹, in: Theologische Realenzyklopädie, a. a. O., Bd. 15, Berlin; New York 1986, S. 661 – 682, hier: S. 663. 1136 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
225
schließlich nur deren »völlige Versöhnung«1137 eine neue Form des christlichen Selbstverständnisses begründen, in die auch die »ethische Vollendung des Staates«1138 einbezogen sei. So bringt laut Fichte der Humanismus nicht nur »die große Lehre von der Vernunft« dem »Christenthum zur Morgengabe«. Er sei zudem in »seiner ganzen Tendenz nach vermittelnd, viel- ja allseitig«, nämlich ob der Gründung im Gedanken »freier Wissenschaftlichkeit«.1139 Präsentiere sich demgegenüber das Christentum aufgrund der Selbstgewissheit, im Besitz einer einzigartigen Heilsbotschaft zu sein, »in seiner specifischen Eigentlichkeit« als »abweisend und intolerant«1140, kann es Fichte zufolge durch die Versöhnung mit dem Humanismus nur gewinnen. Zumal es ja für die Entstehung und Festigung eines künftigen Staates aus dem Geiste christlichen Wohlwollens nach seiner Ansicht unbedingt vonnöten sein wird, die tragende Basis für eine lebbare Grundhaltung der Toleranz und Weltoffenheit, des Weitblicks und des gegenseitigen Verständnisses zu entwickeln. Einen Hauptanknüpfungspunkt für diesen Versöhnungsprozess findet Fichte so denn auch in der Gegebenheit, dass die prinzipielle Ausrichtung des Christentums auf eine Vervollkommnung des Menschen im Humanismus gleichfalls anzutreffen sei.1141
1137
1138 1139 1140 1141
Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 311. Wo aber ist dies Konflikthafte angesiedelt? Unklar bleibt, ob Fichte ganz allgemein die »stark anthropozentrische Komponente« jener kulturhistorischen »Bewegungen« im Blick hat, die mit dem Wort ›Humanismus‹ bezeichnet wurden (L. W. Spitz: Art. ›Humanismus, Humanismusforschung‹, in: Theologische Realenzyklopädie, a. a. O., Bd. 15, Berlin; New York 1986, S. 639 – 661, hier : S. 639) oder der Fokus auf den zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzenden bildungsreformerischen Bestrebungen des später so genannten ›Neuhumanismus‹ liegt: »Gegenüber den älteren Humanisten setzten die Gründungsheroen des neuen Humanismus auf Konfrontation mit dem Christentum […] So erhielt die neue Bildung, die durch Rezeption der Antike gewonnen wurde, ihre Konturen aus dem Gegensatz zur christlichen Bildung, d. h. der bestehenden Bildung überhaupt, denn alle Bildung der Zeit war christlich.« M. Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1988, S. 43. I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 311. »[…] so daß der Gebildete durch seine Bildung gerade der Religion, und zwar nicht irgend einer abstracten, utopischen sondern der christlichen zugeführt wird; und umgekehrt: daß der Religiöse in der ihn umgebenden Bildung und in den Resultaten der Wissenschaft gerade die freie Bestätigung alles Dessen findet, was im innersten religiösen Erlebniß sich ihm schon bewährt hat.« Ebd. Ebd., S. 306. Ebd., S. 309 f. Ebd., S. 306. »[…] ein Jeder ist ausgeschlossen vom ewigen Heile und von der Seligkeit, der nicht durch gewisse äußerliche Acte und Vollziehungen, ebenso durch die Annahme gewisser Glaubensartikel zur christlichen Gemeinschaft sich bekennt.« Ebd., S. 306 f. Bei Friedrich Immanuel Niethammer, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Begriff ›Humanismus‹ in den öffentlichen Sprachgebrauch einbrachte, findet sich eine für Fichtes Humanismus-Auffassung bezeichnende Bestimmung des Menschen, die sich orientiert an der vor allem durch Herder mitgeprägten »innovative[n] Begriffskon-
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Der Blick auf den Staat
»Genährt durch die Einsichten der edelsten Geister aller Zeiten und erleuchtet durch alle Elemente ästhetischer und gemüthlicher Bildung strebt er dahin, alle Seiten des Menschen harmonisch zu entwickeln, vor Allem aber jener milden, duldsamen Weisheit Bahn zu machen, welche die Mängel und Irrnisse des Menschengeschlechts durch stätige Entwicklung auszuheilen sucht und gerade darin mit der christlichen Liebe sich begegnet.«1142
Darüber hinaus macht Fichte angesichts der Bedeutung, die beide Geistesströmungen in einem Fundament abschließender Gewissheit fänden, ein weiteres verbindendes Moment zwischen den Grundsätzen des Christentums und dem nach seinem Dafürhalten so wissenschaftsbezogenen Prinzip des Humanismus aus. Verbuche hier das Christentum für sich den Vorteil, ob der »göttliche[n] Selbsterweisung« der Offenbarung je schon in der »Zuversicht göttlicher Thatsachen« zu ruhen gleichwie »in einer tiefen ethischen Evidenz eigenthümlicher Art«, komme daran auch das »bloß theoretische Forschen und Sichverhalten« nicht vorbei: um einer tragenden, weil wirklich gewissen Basis des menschlichen Erkenntnisbaus willen.1143 Je mehr diese Notwendigkeit zur Anerkennung gelange, desto stärker werde dem »Nichts von sich ausschließenden Geiste des Humanismus volle Rechnung getragen«1144 und der Pfad der Versöhnung beschritten. Wenn Fichte hier in spekulativ-theistischer Perspektive die »Thatsachen« christlicher Offenbarung als Schlussstein auch der wissenschaftlichen Erkenntnis bemüht, reicht freilich hinsichtlich des intendierten Versöhnungsprozesses eine nachgerade beschwörende Inanspruchnahme der Toleranz und Offenheit des humanistischen Geistes nicht hin. Plausibel und annehmbar kann jenes Argument der Erkenntnissicherung durch christliche Offenbarungsgewissheiten allein für solche dem Humanismus Zugetanen erscheinen, denen stellation der wechselseitigen Bezogenheit von ›Menschheit‹, ›Humanität‹, ›Kultur‹ und ›Bildung‹« (H. E. Bödecker : Art. ›Menschheit, Humanität, Humanismus‹ in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O. , Bd. 3, Stuttgart 2004, S. 1063 – 1128, hier : S. 1098): »Der ganze Mensch ist die mit mannigfaltigsten Anlagen und Kräften zu einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft: die vollendete, allseitige, harmonische Ausbildung zu einem Ganzen ist das Ideal der Menschheit, dem wir den alten oft verkannten, ehrwürdigen Namen der Humanität mit Recht erhalten.« F. I. Niethammer : Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit, Jena 1808, S. 190. 1142 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 307. 1143 Ebd., S. 310. »[…] auch die Vernunftwissenschaft muß in ihrer reifsten Entwicklung anerkennen, daß im Umkreise bloßer Begriffe, die es nur bis zu auf- und abschwankenden Möglichkeiten bringen, weder die Erkenntniß zur Entschiedenheit vollendet, noch das Leben ergriffen und geheilt werden könne: daß es in allen jenen Beziehungen der abschließenden Thatsächlichkeit bedürfe.« Ebd. 1144 Ebd.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
227
entweder bereits eine christlich-religiöse Grundhaltung zu eigen ist oder die entschieden eine Hinwendung zur Religion mitvollziehen.1145 Auch bereinigt Fichte den sichtlich hindernisbestellten Pfad christlich-humanistischer Versöhnung allzu leichtfertig, wenn er unter Berufung auf das – in seiner Wirkungskraft hier abermals überschätzte – Toleranzprinzip des Humanismus die Botschaft an die Verantwortlichen der Kirche sendet, die religiöse Praxis von den konfessionellen Beschränktheiten zu befreien. Bislang habe es nämlich die christliche Kirche lediglich umgangen, »jenes Princip der Toleranz geradezu auszusprechen und an die Spitze ihrer verschiedenen Bekenntnisse zu stellen«.1146 »Und warum könnte man den Zeitpunkt nicht sich nahe denken – unserer innern Bildung widerstrebt es nicht, nur verworrene, rechthaberische Leidenschaften halten ihn noch zurück, – wo Jeder, von der Einen, aber reichhaltigen und vielseitigen Gemeinschaft der Kirche umschlossen, ohne confessionelle Sonderung, die ihm gemäßeste Form des Cultus, nach augenblicklicher Stimmung oder nach bleibender Neigung bei der einen oder bei der andern Confession aufsuchen darf ? Was im Einzelnen und Stillen öfter geschieht, als man meint, warum sollte dies nicht zum offenen Bekenntniß erhoben werden können? […] Gebietet schon die Sitte unsers Jahrhunderts, der allgemeine Geist der Schicklichkeit, Duldung im weitesten Sinne zu üben: wie sollte nicht weit mehr noch die segenvollste Anstalt auf Erden, die Kirche, sich öffentlich und laut zu diesem erhabenen Grundsatze bekennen?«1147 1145 Insbesondere die zweite Möglichkeit wurde jedoch durch die geistigen Bewegungen der Zeit nicht unbedingt gestützt: Seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkte sich eher die Tendenz, den Humanismus von religiösen Inhalten zu entbinden. Erhebt ihn Ludwig Feuerbach als die »Negation der Theologie« zum »Wesen der neuern Zeit« (L. Feuerbach : Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) [hrg. v. G. Schmidt] , Frankfurt a. M. 1967, S. 55), stellt Arnold Ruge dem »reinen Humanismus« die »himmlische Wirthschaft, in welcher die alte Menschheit noch befangen ist« gegenüber und damit »den ganzen romantischen Wust in Religion und Politik« (A. Ruge: »Plan der Deutsch-Französischen Jahrbücher«, in: Arnold Ruges Sämmtliche Werke, Bd. 9, Mannheim 21848, S. 145 – 160, hier : S. 151). Bei Marx ist schließlich der »Atheismus« der »durch Aufhebung der Religion, der Kommunismus der durch Aufhebung des Privateigentums mit sich vermittelte Humanismus. Erst durch die Aufhebung dieser Vermittlung […] wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus«. K. Marx : »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (1844), a. a. O. , S. 583. – Vgl. dazu Fichtes Polemik gegen den vom christlichen Glauben gänzlich gelösten Humanismus als etwas Defizitärem, das mit der Hinwendung zum bloß Innerweltlichen, zu nur menschlich gemachten Geboten und allein irdischen Gütern auf die »tantalische Noth« reduziert bliebe, »immer von Neuem Lebensversuche machen zu müssen, deren Ungenüge man schon erprobt hat. Er ist die zum Höchsten vergeistigte, aber nicht minder endliche, beschränkte ›Weltbildung‹. In ihren Vollgenuss gerade eingetaucht empfinden wir die erdrückendste Leere, das Einerlei des Wechsels, den tödtenden Kreislauf«. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 431 f. 1146 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 312. 1147 Ebd., S. 312 f.
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Der Blick auf den Staat
Es bleibt zu fragen, wie Fichte diese tolerantere Kirche der Zukunft in ihren rechtlichen und institutionellen Dimensionen konkret denkt. Wie soll die äußere rechtliche Stellung der Kirche im Staat beschaffen sein und wie ihre innere Verfasstheit? Wieviel Raum für mitverantwortliches Handeln der Kirchenangehörigen ist vorgesehen? War doch um die Jahrhundertmitte gerade in diesem Bereich Reformbedarf vorhanden angesichts des Rufes nach mehr Beteiligung der Gemeinde. Und wie wird die Rolle der Kirche betrachtet in Bezug auf die anderen Institutionen, in denen Teilhabe der Bürgerschaft und eigenverantwortliches Tätigsein derselben selbstverständliche Praxis werden soll?
5.
Das Bild der künftigen Kirche
A.
Das Verhältnis von Kirche und Staat
So bedeutsam eine Beurteilung der Position der Kirche in einem künftigen ›christlichen Staat‹ insbesondere unter dem Gesichtspunkt der staatskirchenrechtlichen Ausgestaltung dieses Verhältnisses auch erscheinen mag: Fichtes Äußerungen bleiben hier denkbar knapp gefasst.1148 Wird für die Kirche die »volle Unabhängkeit vom Staate«1149 beansprucht, ist in eins mit dieser Forderung der Anspruch auf eine »ungehemmte Wirksamkeit in der eignen Sphäre«1150 gesetzt. Soll die Kirche freilich weiterhin dem rechtlichen Zugriff des Staates und somit den »allgemeinen Strafgesetzen«1151 unterliegen, habe der Staat dem genannten Anspruch der Kirche auf ein freies Wirken in ihrem Bereich zu entsprechen, indem er alle rechtlichen Voraussetzungen zur Ausübung der kirchlichen Tätigkeiten schaffe.1152 Bemerkenswerterweise wird dem Staat auch die Pflicht auferlegt, der Kirche die Sicherung für den »äussern Unterhalt«1153 zu gewähren. Dies kann als Ruf nach der Möglichkeit gelesen werden, in gesetzlich gesichertem Rahmen Kirchensteuern zu erheben. Fichte geht in diesem Punkt über die staatskirchen1148 Einmal mehr verweist Fichte auf den Charakter seiner Ethik, die als philosophische Grundsatzbetrachtung nicht Überlegungen anzustellen und Vorschriften zu machen habe für Einzelheiten, die nur im Bereich der Politik zu regeln seien. Ethik 2/2, S. 471 f. 1149 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 472; vgl. ebd., S. 487. 1150 Ebd., S. 472. 1151 Ebd. Fichte führt hier die Rechtspraxis Belgiens als Beispiel an (ebd.), wo in der Verfassung von 1831 die Auffassung vieler kirchlicher Amtsträger zur Geltung gekommen war, dass »[w]eder Einheit noch Trennung von Kirche und Staat« zu erstreben seien, »sondern gegenseitige Unabhängigkeit«. A. Tihon; A. van de Sande: »Belgien, Luxemburg und die Niederlande«, in: N. Brox u. a. (Hrg.): Die Geschichte des Christentums, Bd. 11, Freiburg; Basel; Wien 1997, S. 200 – 220, hier : 201. 1152 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 472. 1153 Ebd.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
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rechtlichen Bestimmungen der Frankfurter Reichsverfassung von 18491154 hinaus, die in schon weitgehendem Umfang darauf zielten, »die Gewährleistung der Glaubens- und Gewissensfreiheit mit der Garantie der Autonomie der Religionsgesellschaften«1155 zu verbinden. Grundsätzlich liegt Fichtes Auffassung freilich auf einer Linie mit den diesbezüglichen reichsverfassungsrechtlichen Festlegungen: Diese gestanden den Religionsgesellschaften unter der Bedingung, dass sie den staatlichen Gesetzen unterworfen blieben, die selbstständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu1156. Umso mehr beklagt Fichte im Blick auf die realen Verhältnisse, dass die Evangelische Kirche sich hinsichtlich ihrer Selbstständigkeit und Eigenverwaltung mit spürbaren Einschränkungen konfrontiert sehe. »Der moderne Staat missgönnt und beeinträchtigt der Evangelischen Kirche die Entwicklung oder die Erstarkung ihres corporativen Elements, weil er fürchtet, dass bei ihr ein ähnliches Umschlagen in hierarchische Gelüste stattfinden werde, wie dies zu allen Zeiten in der Katholischen Kirche bemerkbar gewesen.«1157
Eine nicht zu Unrecht geführte Klage: Wo nämlich die Bestimmungen zur kirchlichen Ordnungs- und Verwaltungsautonomie der ja nie in Kraft getretenen Reichsverfassung nach 1849 Eingang in die gesetzlichen Regelungen der deutschen Territorialstaaten fanden, konnten diese Rechte zwar »von der katholischen Kirche schnell und energisch wahrgenommen werden«1158. Demgegenüber blieben im Fall der evangelischen Landeskirchen auch nach der Jahrhundertmitte die Bedingungen des landesherrlichen Kirchenregiments in Geltung1159. Eine diesbezügliche Unabhängigkeit von Staat und evangelischer Kirche nach Maßgabe der Frankfurter Reichsverfassung »trat im 19. Jahrhundert in keinem deutschen Lande ein«1160. 1154 Vgl. den Text bei: E. R. Huber ; W. Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2, Berlin 1976, S. 33 f. 1155 Ebd., S. 33. Gab es bereits im Vormärz in einzelnen deutschen Staaten Regelungen für das Kirchensteuerwesen auf gesetzlicher Grundlage, war 1852 das Großherzogtum Oldenburg »das erste deutsche Land, das eine verfassungsrechtliche Anerkennung und Gewährleistung für das kirchliche Steuerrecht aussprach«. Ebd., S. 46 f. 1156 Vgl. vor allem den § 147 der Frankfurter Reichsverfassung. Ebd., S. 33. 1157 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 255. 1158 J. Mehlhausen: »Kirche zwischen Staat und Gesellschaft«, in: G. Rau; H.-R. Reuter ; K. Schlaich (Hrg.): Das Recht der Kirche, Bd. 2, Gütersloh 1995, S. 193 – 271, hier : S. 245. 1159 »Wenn irgend es statthaft ist, die staatlich-politischen Kategorien auf die kirchlichen Einrichtungen und Funktionen anzuwenden, so ging in Preußen (wie auch in den anderen protestantischen Ländern) die Überwindung des staatlichen Absolutismus durch den modernen Verfassungsstaat zunächst Hand in Hand mit der Aufrichtung des kirchlichen Absolutismus in dem nun von der staatlichen Kontrolle gänzlich befreiten landesherrlichen Kirchenregiment.« E. R. Huber : Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart; Berlin; Köln 1994 (rev. Nachdr. d. 2. verbess. Aufl. 1982), S. 837. 1160 J. Mehlhausen: »Kirche zwischen Staat und Gesellschaft«, a. a. O., S. 245.
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Der Blick auf den Staat
Fichtes Empfehlung an die Verantwortlichen in Kirche und Staat hinsichtlich des Konfliktpotenzials, das das kirchliche Streben nach Eigenständigkeit ohne Zweifel in sich barg, setzt auf zunehmend dezentralisierte Strukturen, besonders im Bereich der leitenden Kirchenorgane. Die Förderung des Aufbaus der Kirche ›von unten‹ werde verhindern, dass mit einem höheren Grad kirchlicher Eigenregie auch das Moment ihrer Eigenmächtigkeit über die Maßen zunehme. »In jener [der evangelischen Kirche, W. S.] wird es nicht aufkommen können, wenn man bei Organisation der kirchlichen Gemeinen dem Princip der Gemeinevertretung das gehörige Gewicht giebt: in dieser [der katholischen Kirche, W. S.] wäre es längst zurückgedrängt worden, wenn man katholischer Seits sich entschliessen könnte, was vor und seit Febronius viele erleuchtete Katholiken angestrebt haben, das Episkopat zu stärken und selbstständige Landeskirchen zu errichten.«1161
Fichtes Grundansatz beinhaltet die wiederkehrende Mahnung, innerhalb der verschiedenen Gesellschaftssphären Bedingungen zu schaffen, die es mit der Zeit immer mehr Menschen ermöglichten, einen Umgang selbstverantwortlicher Teilhabe an den öffentlichen Belangen zu pflegen. Dementsprechend soll auch und gerade in den beiden Hauptkirchen der Einfluss der Gemeindeangehörigen gestärkt werden – analog zur Förderung der Autonomie der politischen Ortsgemeinde. Als oberste Sachwalterin des Kulturentwicklungsprozesses habe sich die Kirche in eine Position zu bringen, in der sie die Lösung der Aufgabe konsequenter Mitwirkungsförderung gleichsam vorbildhaft voranbringen könne.
B.
Der Organismus der Kirche und die Kirchengemeinde
Begreift Fichte den »innern Organismus der Kirche«1162 als ein dreigliedriges System aus theologischem Lehrstand, geistlichem Stand und kirchlicher Gemeinde, erschließt sich seine Haltung zur Stellung der Kirchengemeinde nur im 1161 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 255. Die Bemerkung zur Situation der katholischen Kirche zielt als implizite Stellungnahme zum ›Zentralismus‹ des Papsttums wohl nicht zuletzt auf die von Fichte auch an anderer Stelle kommentierten ultramontanen Bestrebungen (vgl. Ethik 2/2, S. 462 f.; S. 469 f.). So ist der erwähnte Febronius das Pseudonym des Trierer Bischofs Nikolaus von Hontheim, dessen wirkungsmächtiges Hauptwerk von 1763 vor allem zur päpstlichen Gewalt und zur Kircheneinheit Position bezieht. Nicht der Papst stellt nach Ansicht Hontheims die höchste kirchliche Autorität dar, »sondern das Allgemeine Konzil, das als Versammlung aller Bischöfe die universale Kirche repräsentiert«. V. Pitzer : Art. ›Febronius, Febronianismus‹, in: Theologische Realenzyklopädie, a. a. O., Bd. 11, Berlin; New York 1983, S. 67 – 69, hier : S. 68. – Vgl. auch: W.-F. Schäufele: Art. ›Unionen, kirchliche; III. Unionen der protestantischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche‹, in: Theologische Realenzyklopädie, a. a. O., Bd. 34, Berlin; New York 2002, S. 319 – 323, hier: S. 320. 1162 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 458.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
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Blick auf die Funktionen, die er den beiden anderen Gliedern innerhalb des Gesamtgefüges zuschreibt. Vom Berufsstand der Theologen war schon die Rede: Sieht Fichte für diesen die Aufgabe vor, das Verhältnis von Glaube und Wissen neu zu begründen, geht es ihm letztlich um die Erweiterung und die Stärkung des Fundaments, auf dem in Zukunft die Glaubensgewissheit der Gemeindemitglieder ruhen soll. So orientiert sich für ihn die Verwirklichung des Vorsatzes, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung »in den Gesammtbesitz der Gemeine zu bringen«, an dem weiteren Ziel, den Glauben der Gemeindemitglieder an einen Punkt zu führen, an dem dieser »aus der freien Einsicht begeisternder Wahrheiten«1163 entspringt. Die Rolle der vermittelnden Instanz zwischen dem Gebiet der wissenschaftlichen Theologie und der Lebenswelt der Gemeinde fällt dabei der Geistlichkeit zu. Jenseits von Gelehrtendiskursen und Dogmenstreitigkeiten habe der einzelne Geistliche sein Wirken auf die Erneuerung und die Vertiefung eines Glaubens zu richten, der gerade im tätigen Leben der Menschen Bewährung finden soll. »Was Jedem aus der Gemeine zu ›glauben‹, in seine Lebensüberzeugung aufzunehmen Noth thut, hat er im Bewusstsein der Gemeine stets lebendig zu erhalten, immer höher zu beleben und in den Willen und das Handeln derselben hinüberzuführen. Er ist daher mit seinem Wirken ganz auf das praktische Bedürfniss, nicht auf die Theorie gewiesen.«1164
Neben der praxisnahen Vermittlung des rechten Glaubensverständnisses obliege es dem Geistlichen, den Angehörigen seiner Gemeinde in allen Lebensfragen als seelsorgender Berater und Helfer zur Seite zu stehen, was diese Tätigkeit als den »höchsten unter allen menschlichen Berufen«1165 qualifiziere. Umso mehr erwartet Fichte von den künftig zu solchem ›Dienst an Anderen‹ Berufenen eine Haltung, die jener Auszeichnung angemessen ist. Hier gelte es nicht nur, der Neigung zu widerstehen, das mit dergleichem Tun verbundene Vertrauensverhältnis zu missbrauchen und z. B. zu kirchenpolitischen Zwecken zu instrumentalisieren1166. Gleichfalls sei eine Revision des Umgangs mit jenen vonnöten, die für ihre Sorgen, Misslichkeiten und Zweifel den Austausch mit der Geistlichkeit suchten. Die seelsorgerische Hilfestellung aus dem Geiste der christli1163 1164 1165 1166
Ebd., S. 460. Ebd., S. 464. Ebd., S. 467. »Diese Neigung hat zu allen Zeiten jene hierarchischen Bestrebungen erzeugt, die auf ’s Tiefste zu brandmarken sind, weil sie das ächte sittliche Verhältniss der Religion geradezu auf den Kopf stellen, indem sie durch innere geistliche Mittel die rein äusserliche Macht der Kirche zu erhöhen trachten; in offenbarer Analogie zu der gleich verkehrenden Richtung des Staates, wenn er Cultur und Erziehung, für deren Dienst er bestimmt ist, zu Knechten seiner Interessen herabsetzt.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 254.
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Der Blick auf den Staat
chen Religion müsse sowohl auf der Ebene psychischer Bedürftigkeit als auch auf der Ebene des intellektuellen Anspruchs den individuellen Problemlagen der Ratsuchenden gerecht werden. Die Geistlichen hätten entsprechend vorbereitet zu sein auf diese zwischenmenschliche Begegnung: Nicht durch eine »unbrauchbare Casuistik«, vielmehr »durch freie, aber tief gegründete ethischpsychologische Einsichten«1167. Fichte gibt hier ein beredtes Beispiel für seine Auffassung an die Hand, auch die Ausbildung der Geistlichkeit sei an dem Kriterium »fortschreitender Wissenschaftlichkeit«1168 zu orientieren. Dies erweise sich als notwendig gerade in Sicht auf den – wie Fichte immer wieder betont – gebildeteren Teil der Kirchenmitglieder1169. Das Ersuchen nach Anerkennung einer zunehmenden Mündigkeit innerhalb der Gemeinde kommt schließlich in der Erwartung zum Ausdruck, dass die Geistlichen bereit sein sollten, Macht und Verantwortung zu teilen und sich offen zu zeigen für die Mitarbeit von Gemeindemitgliedern an den Gemeindeangelegenheiten. Dabei geht es um einen personalen wie einen institutionellen Aspekt: Der verantwortliche Geistliche muss ›Laien‹ neben seiner Person zulassen, da die Förderung partizipativen Handelns auch seine Aufgabe als Vertreter der Institution Kirche ist, die den gesamtgesellschaftlichen Prozess individueller wie sozietärer Verselbstständigung entscheidend mittragen soll. So werde insgesamt zwischen Geistlichem und Gemeindeangehörigen ein Wandel der Beziehung eintreten, die sich vormals ausschließlich als ein »dem
1167 Ebd., S. 480. 1168 Ebd., S. 461. – Im 19. Jahrhundert wird nicht zuletzt ob der zunehmenden Enttraditionalisierung individueller Lebenslagen die Seelsorge überhaupt zu einem »Dauerthema theologischer Reflexion« (R. Schmidt-Rost: Seelsorge zwischen Amt und Beruf, Göttingen 1988, S. 12). So erscheint bezeichnenderweise einige Jahre nach Fichtes Ethik die Seelsorgelehre des Vermittlungstheologen Carl Immanuel Nitzsch, die dieser als Grundlegung für eine »wissenschaftliche Seelenpflege« verstanden wissen will. Ein Schwerpunkt dieser Schrift widmet sich den persönlichen Kompetenzen des Seelsorgers: Nitzsch zufolge sei dessen »diagnostische Befähigung« ebenso wie seine »therapeutische Tüchtigkeit« gefragt, wozu sich eine »theologische und allgemeine Bildung« gesellen müsse. C. I. Nitzsch: »Die eigenthümliche Seelenpflege des evangelischen Hirtenamtes mit Rücksicht auf die innere Mission«, in: Ders.: Praktische Theologie, Bd. 3, Bonn 1857, S. 1 – 314, hier : S. 118 ff. 1169 »Wie das Princip der christlichen Religion, richtig erkannt und zu eigentlicher Geltung gebracht, jeder Bildung gewachsen, jedem menschlichen Zustande absolut überlegen ist, so soll diese innerlich ihr beiwohnende Gewalt, wie in der Lehre, so auch in ihrer praktischseelsorgerischen Anwendung zu voller Geltung gelangen. Dies ist bisher noch nicht geschehen; nur desshalb haben die ›Gebildeten‹ und keinesweges aus bloss frivolen Gründen, von der innern Verbindung mit der Kirche sich abgelöst. Sie mussten sich gestehen, dass sie, in diesen Kreis getreten, sogleich beschränkten Vorstellungen und unklarem Beginnen sich hingegeben sehen. Sie mussten bemerken, dass je grösser in Einzelnen die kirchliche Frömmigkeit, desto beschränkter und lückenhafter ihre allgemeine Bildung erscheine.« I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 480.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
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Verhältnisse des Vaters zu seinen Kindern analoges geistiges Band«1170 dargestellt habe. »Mehr und mehr […] wird sich jener bloss einseitigen Rezeptivität das Verhältniss der Zusammenwirkung beigesellen. Diaconen, Kirchenälteste, kurz Vorsteher der Gemeine werden als Beirath und Ergänzung dem Geistlichen zur Seite treten. Dies wird sich endlich zur freien Gemeineverfassung ausbilden, durch welche sich die Gemeine als organisirte kirchliche Corporation ebenso hinstellt, und ihre religiösen Gemeineinteressen ebenso selbstständig und mündig vertritt innerhalb der allgemeinen, sie umschliessenden Kirche, wie wir dies im Staate bei der Ortsgemeine fanden. Wahlrecht ihres Geistlichen, selbstständige Verwaltung ihrer religiösen und wohlthätigen Stiftungen durch die Gemeineältesten, Sorge für den religiösen und sittlichen Zustand der Gemeine oder einzelner Glieder mit Unterstützung des Geistlichen: – dies möchten ihre Hauptrechte und Pflichten sein.«1171
Wenn Fichte auch nur mehr den bedachten Ton einer appelativen Vorausschau anschlägt: Diese Einlassung vermittelt den Geist des liberal-protestantischen Strebens, Kirche und Gemeinde »in ein ausgewogenes Verhältnis von eigenständiger Gemeinschaft und kirchlicher Einheit«1172 zu bringen, für das im 19. Jahrhundert insbesondere Schleiermachers Bemühung um eine Reformierung der protestantischen Kirchenverfassung1173 steht. So versuchte die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 auch im Sinne des Schleiermacher’schen Leitgedankens, dass sich das Kirchenregiment beständig einem Zustand annähern müsse, »in dem es ist wenn es sich frei aus der Gemeine entwikkelt«1174, der Vorstellung eines ausgewogenen Verhältnisses von Kirche und Gemeinde Wirklichkeit zu geben. Wenngleich sich die presbyterial-synodalen Elemente dieser Kirchenordnung als »zukunftweisend«1175 erwiesen, blieb sie doch lange Zeit eine Ausnahme. Über diese Besonderheit hinaus gab es in den evangelischen Kirchen der deutschen Territorialstaaten »[b]is weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts […] keine Institutionen, in denen und durch die sich die Kirchenglieder konkret an der Leitung der Kirche hätten beteiligen können«1176. Aus grundsätzlichen Erwägungen gegen eine vermeintliche kirchenpolitische 1170 Ebd., S. 470. 1171 Ebd. 1172 C. Möller: Art. ›Gemeinde; I. Christliche Gemeinde‹, in: Theologische Realenzyklopädie, a. a. O., Bd. 12, Berlin; New York 1984, S. 316 – 335, hier : S. 323. 1173 Vgl. W. Huber : »Schleiermacher und die Reform der Kirchenverfassung«, in: E. Forsthoff; W. Weber ; F. Wieacker (Hrg.): Festschrift für Ernst Rudolf Huber, Göttingen 1973, S. 57 – 74, hier : S. 57 ff. 1174 F. D. E. Schleiermacher : Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Bd. 13, Berlin 1850, S. 540. 1175 J. Mehlhausen: »Kirche zwischen Staat und Gesellschaft«, a. a. O., S. 237. 1176 Ebd., S. 240.
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Der Blick auf den Staat
Positionierung lehnt Fichte es freilich ab, selbst Hand anzulegen an den Entwurf einer künftigen Kirchenordnung und z. B. die Frage zu behandeln, in welchem Rechtsverhältnis zur staatlichen Führung die obersten Kirchenbehörden stehen sollen. Gleichwohl setzt er sich gegenüber den Letzteren für die Unabhängigkeit der Gemeindemitglieder in Glaubensangelegenheiten ein. Allein eine generelle Aufsichtsverpflichtung und die Obliegenheit der »äussern Leitung« käme jenen kirchenbehördlichen Stellen zu. Darüber hinaus hätten diese sich jeder Einflussnahme zu enthalten, »weil darin das ganze Princip der Kirche, durch freie Ueberzeugung zu wirken, auf das Tiefste verläugnet würde«.1177 C.
Die christliche Mission als »Seelsorge des öffentlichen Geistes«
Bezeichnet sind somit Fichtes Fingerzeige für eine Kirche, die unabdingbar den Kurs der Erneuerung finden müsse, soll sie bereit sein für die Herausforderungen, mit denen sie angesichts des tiefgreifenden Wandels der gesellschaftlichen Gegebenheiten konfrontiert werde. Theologische Forschung und Lehre seien gegenüber den Erkenntnissen der Wissenschaften zu öffnen, um unter Einbeziehung humanistischen Gedankengutes den christlichen Kernaussagen eine Gestalt zu geben, die den Bedingungen der modernen Welt gerecht werde. Bedeutsam ist für Fichte diese Neuorientierung vor allem in Hinsicht auf die praktische Seite der christlichen Daseinsauffassung: Unbelastet von dogmatischen Zwistigkeiten müsse der Glaube seine Wirksamkeit inmitten der Lebenswelt der Menschen entfalten können. Die tatsächliche Lebenssituation der Gemeindemitglieder mit ihren persönlichen Betroffenheiten habe im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der jeweils verantwortlichen Geistlichen zu stehen. Die christliche Religion werde eine Wiederbelebung erfahren, sofern die kirchliche Praxis die christliche Botschaft tätiger Liebe möglichst authentisch vermittele und zugleich Raum gebe für das Streben der Gemeindezugehörigen nach aktiver Teilhabe. Zumal die Kirche, obzwar in den Prozess ihrer eignen Umgestaltung eintretend, die Neuformierung einer christlichen Welthaltung nicht allein aus sich heraus ›herstellen‹ könne. Hier bedürfe es eines aus der Bürgerschaft selbst hervorgehenden Engagements, um den Geist wohlwollender Zugewandtheit und solidarischen Miteinanders im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Auf dem Weg zu einem ›christlichen Staat‹ seien von religiösem Sendungsbewusstsein getragene Initiativen gefragt, deren Wirkung insbesondere in den kleinen Kreisen sozialer Organisation zum Tragen kommen müssten; also in den sozietären Verbünden assoziativer und berufsständischer Art gleichwie den politischen Ortsgemeinden. Orientiert an der Idee der ›Inneren Mission‹ als 1177 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 471.
Religion und Kirche als geistig-kulturelle Fundamente
235
einer »Lebensäußerung […] des Geistes der gläubigen Liebe, welche die verlorenen, verlassenen, verwahrlosten Massen sucht«1178, sollen diese Initiativen die Verbreitung und Vertiefung einer religiös motivierten Grundhaltung freundschaftlich zugewandter Achtsamkeit für die anderen fördern. Analog dem seelsorgerischen Bemühen kirchlicher Amtsträger um die Probleme Einzelner kann laut Fichte dieses Engagement als »Seelsorge des öffentlichen Geistes«1179 verstanden werden. »[…] hier reiht das letzte vollendende Glied sich ein, um den Staat der Zukunft möglich zu machen. Das Wohl des Ganzen und des Einzelnen, welches keine noch so strenge Controle des Staates von seinem centralisirenden Mittelpunkte aus zu sichern vermag, ist, wie wir sahen, in jedem Kreise der Obhut freier Genossenschaften zu übertragen: dies ist, so zu sagen, die ›innere‹ politische Mission der Zukunft. Wer aber schützt den Geist dieser Genossenschaften vor Entartung, oder wenn sie darin versunken sind nach dem Loose alles sich selbst überlassenen menschlichen Treibens, was stellt sie unablässig daraus wieder her? Es ist allein der Geist der Religion; es ist eine religiös-sittliche Genossenschaft, welche wir eben als ›innere Mission‹ in universalem Sinne glaubten bezeichnen zu dürfen.«1180
Zwar räumt Fichte dergleichen genossenschaftlich orientierten Bastionen religiöser Daseinsfundierung in Sicht auf die nähere Zukunft wenig Realisierungschancen ein.1181 Doch weist er noch einmal darauf hin, welche Bedeutung der bürgerschaftlichen Eigenaktivität in einem künftigen Gemeinwesen beizumessen sei. Und so wird in diesem Zusammenhang zugleich an jene Diagnose erinnert, deren Ergebnisse dazu führen, dem kontrollfixierten Obrigkeitsstaat eine deutliche Absage zu erteilen. Das Werden und der Erhalt eines wohlfahrtsorientierten staatlichen Gefüges aus dem Geist überkonfessioneller, humanistisch ausgerichteter Christlichkeit stehen laut Fichte unter der Voraus1178 J. H. Wichern: »Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche« (1849), in: Johann Hinrich Wichern. Sämtliche Werke (hrg. v. P. Meinhold), Bd. 1, Berlin; Hamburg 1962, S. 175 – 366, hier. S. 183. Dem von Fichte namentlich nicht erwähnten Johann Hinrich Wichern geht es mit der Konzeption, die dieser durch den »von ihm nicht erfundenen, jedoch maßgeblich geprägten« Begriff der Inneren Mission (W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2., a. a. O., S. 793) bezeichnet, um ein sozial und kulturell neu bestimmtes Christentum: In der praktischen Durchführung soll die »um den Pfarrer gescharrte Ortsgemeinde […], verstärkt durch die freien Vereine der Liebestätigkeit, die eigentliche Trägerin der Inneren Mission sein«. Ebd., S. 795. 1179 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 489. »Hier kann […] nur ein Institut in die Lücke treten, welches einerseits religiöser Natur, andererseits den Charakter des Freundschaftsbundes, der freien Verbrüderung trägt; aber keinen andern Zweck erkennt, als durch wechselseitige sittlich-religiöse Erweckung dem ermattenden Schlendrian, der selbstsüchtigen Zwietracht, mahnend oder versöhnend entgegenzutreten: ein Bund, der ebenso ein wechselseitiges Censorenamt, als das eines Friedensstifters in sich schliessen wird.« Ebd. 1180 Ebd., S. 490. 1181 Ebd., S. 489 f.
236
Der Blick auf den Staat
setzung, dass für die Gesellschaftsmitglieder Möglichkeiten vorhanden sind, die eigene Existenz durch institutionelle Gestaltungsformen selbst zu wählender und selbst mitzuprägender Vergemeinschaftung gerade gegenüber den vielfältigen Herausforderungen lebensweltlicher Irrnisse unangreifbarer zu machen.
Schlussbetrachtung
Beurteilt Fichte seine Zeit als eine »bis in die tiefsten Abgründe aufgeregt[e]«1182, sieht er sie gar »an der Schwelle der wichtigsten Krise, die es vielleicht jemals in der Geschichte gegeben hat«1183, so versteht er seine Ethik als Mitbeteiligung an dem Versuch, »fortan eine völlig neue Grundlage für unsere staatlichen, gesellschaftlichen und Glaubenszustände zu erringen«.1184 Damit ist eine Zielsetzung benannt, die sich richtet auf die Nachlässigkeiten und Desorientiertheiten in Bereichen der politischen Führung, der wissenschaftlichen Forschung und der kirchlich-religiösen Fürsorge für das Dasein der Individuen im Besonderen wie auf die sozio-ökonomischen Problemfelder im Allgemeinen. Orientiert an dieser Situationsbestimmung projektiert Fichtes Konzeption eine den Schutz allgemeingültiger Rechte gewährleistende, insbesondere der personalen Freiheit in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären Anerkennung verleihende Gestaltung des Gemeinwesens. Zudem sollen gerade die in diversen Arten sozialer Selbstorganisation nach Ausdruck suchenden Bedürfnisse und Interessen der Bürgerschaft unter die fördernde Inachtnahme des Staates gestellt werden. Wir finden Fichtes Entwurf also auf dem Boden einer entwickelten Form der Rechtsstaatlichkeit, der der grund- bzw. urrechtlich gesicherten Erweiterung individueller wie kollektiver Handlungsspielräume dezidiert Aufmerksamkeit schenkt. Entsprechend versteht er diesen Entwurf auch als kritischen Fingerzeig in Richtung jenes Obrigkeitsstaates, der im Zeichen eines überkommenen »Systeme[s] der Bevormundung«1185 im Deutschland und Europa des mittleren 19. Jahrhunderts noch vielfach anzutreffen war. Und so eindringlich Fichte in Betreff der zeitkritischen Problemdiagnosen frühsozialistischer Ansätze seine 1182 1183 1184 1185
I. H. Fichte: Ethik 1, S. XIII. Ebd., S. 739. Ebd., S. VIII. Ebd., S. XI.
238
Schlussbetrachtung
Zustimmung signalisiert: In deren therapeutischen Kernvorschlägen erscheint ihm die Machtposition des Staates dergestalt ausgelegt zu sein, dass schließlich das »Recht […] dadurch ein durchaus zufälliges«1186 werde. Wenn Fichte demgegenüber die »Stärke und Bedeutung«1187 liberalistischer Denkansätze hinsichtlich des Bestrebens würdigt, einen »vollkommenen Rechtsstaat zu gründen«1188, zeigt sich gleichwohl seine kritische Haltung gegenüber einem Liberalismus, der allein die rechtlichen Rahmenbedingungen des staatlichen Gefüges im Auge habe. Und der ob dieser Konzentration auf die »negative Freiheit, d. h. die bloss in Schranken gehaltene Willkür«1189, das Wesen des Staatlichen nur einseitig erfasse. »Was er vom guten Staate verlangt, Freiheit der Gewissen, rechtliche und politische Sicherheit der Personen, Abschaffung aller Vorrechte, Freiheit der Presse, Heiligkeit der gerichtlichen Formen, Unabhängigkeit und unparteiische Zusammensetzung der Schwurgerichte, – dies Alles sind hochwichtige und unentbehrliche Güter ; aber sie sind nur die schützenden Schranken, der Rahmen, innerhalb deren erst die eigentlichen Aufgaben des Staates und der Gemeinschaft beschlossen sind.«1190
Das vor allem legt Fichte den Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft mit appellativer Absicht ans Herz: Wer diese eigentlichen, nämlich die »sittlichen und socialen Aufgaben«1191 des Staates berücksichtigen und sich den entsprechenden Problemlagen auf gesellschafts-, sozial-, und wirtschaftspolitischem Terrain ernsthaft widmen wolle, müsse den Gesichtspunkt negativer Freiheit um den der positiven Freiheit ergänzen. Ist hier erklärtermaßen ein Gemeinwesen anvisiert, in dem jeder Mensch »das gleiche Recht habe, seine Persönlichkeit (den Genius […]) durch und für die Gemeinschaft«1192 zu entfalten, spricht Fichte diesbezüglich von der »Freiheit […] aus ihr sich anzueignen, was die Entwicklung desselben bedarf«.1193 Daher zielt Fichte darauf ab – gerade auch um des gesamtgesellschaftlichen Gedeihens willen – ein erweitertes Eigentumsverständnis zur Diskussion zu stellen. Eine Auseinandersetzung sei anzuregen, die dem Gedanken der Sicherung einer eigenen, je spezifischen Kompetenzen aufruhenden »rechtmässige[n] Arbeitsthätigkeit«1194 Stärke verleihen könne. Wobei diese Auseinandersetzung auch die
1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194
Ebd., S. 818. Ebd., S. 714. Ebd., S. 712. Ebd., S. 713. Ebd. Ebd., S. 712. Ebd., S. 742. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 22. Ebd., S. 68.
Schlussbetrachtung
239
strikte Übernahme eines Bildungsauftrages vonseiten des Staates auf den Plan rufen soll. Für immer mehr Gesellschaftsmitglieder sei durch staatliche Maßnahmen die Möglichkeit eines Bildungsweges zu eröffnen, der in eine qualifizierte Berufsarbeit münde, die – zumindest grundsätzlich – den besonderen Talenten der Individuen entspreche, den persönlichen bzw. den familiären Lebensunterhalt und angemessene Zeit für Erholung und kreatives Tun sichere. Zugleich kann nach Fichtes Auffassung gerade das Beschreiten dieses Weges individueller Potenzialentfaltung das Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder schärfen für die Bedeutung einer im Rahmen sozietärer Aktivitäten stattfindenden Gestaltung privater und öffentlicher Belange. Fichte meint also nicht, der Staat könne alles besser als die Bürgerinnen und Bürger. Doch die Umsetzung sinnvoller, aufgrund bürgerschaftlicher Eigeninitiative ins Leben gerufener Projekte brauchten Fertigkeiten, die eben qua schulischer Bildung und beruflicher Ausbildung erst erworben werden müssten. Hier wird beispielhaft deutlich, warum in Fichtes Sicht Kulturentwicklung im Allgemeinen wie die Verbesserung der sozio-ökonomischen Befindlichkeit der Nicht-Privilegierten im Besonderen eine Unternehmung reformerischen Voranschreitens darstellt. In eins mit dem gesellschaftlichen müsse der staatlichinstitutionelle Fortschritt ›organischer‹ Natur sein; jede ›revolutionäre‹ Übereilung sei – so würde es heute wohl heißen – kulturpsychologisch blind und somit nachgerade kontraproduktiv. Wo noch immer obrigkeitshörige Gewöhnungen der Verantwortungsverweigerung herrschten und die Wirksamkeit einer dergleiche Haltungen aufbrechender und überwindender Bildung nach wie vor fehle, sei nicht die Selbstregierung des Volkes im Sinne des demokratischen Prinzips auszurufen. Eine solche »Herrschaft der Massen«1195 erweise sich als fehl am Platze. »Wäre das allgemeine Wahlrecht auch ein richtiger politischer Grundsatz – wir haben schon im Laufe unserer Kritik mehrmals gezeigt, warum dies nicht der Fall sei: – so könnte es doch nur als ein verkehrtes Mittel bezeichnet werden, durch Demokratisirung des Staates und der Gesellschaft grosse sociale Reformen, grosse Umbildungen der Eigenthumsverhältnisse anbahnen zu wollen. Was nur durch besonnene Festigkeit gelingen kann, darf nicht der Leidenschaft und den Umwälzungsgelüsten überlassen werden. Die ächte, gründliche Lösung der socialen Frage zerfällt in eine Reihe einzelner, weit auseinanderliegender, langsam sich verwirklichender Reformen in Gesetzgebung, Staatswirthschaft, Sitte, Erziehung; und Geschlechter werden vergehen, ehe sie in unserm Gesammtbewusstsein unaustilgbar Wurzel gefasst haben.«1196
1195 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 796. 1196 Ebd., S. 795 f.
240
Schlussbetrachtung
Fichte vertraut – wie gesehen – hinsichtlich der Sicherung »feste[r] Staatszustände« auf das monarchische Prinzip, damit an die bezeichneten reformerischen Aufgaben »auch nur [zu] denken« sei1197. Gleichwohl ist er kein Modernitätsverweigerer. Eher kann das Credo seines Reformprogramms als Forderung nach einer zurückhaltenden, ›defensiven‹ Modernisierung charakterisiert werden. Freilich waltet hier eine Einstellung übergroßer Bedenklichkeit vor. Die nicht zuletzt Ausdruck findet in einer teils offen zutage tretenden, teils unterschwellig zu vernehmenden Angst vor dem Heer der ›Verführbaren‹, weil eben noch Ungebildeten. Lehnt Fichte einen republikanischen Verfassungsstaat nicht prinzipiell ab, da Letzterer unter bestimmten Voraussetzungen durchaus »Stätigkeit und Dauer der Staatszustände«1198 gewährleisten könne, findet sich diese Einstellung auch gegenüber dem »allgemeine[n] Wahlrecht«, »welches dann, aber auch erst dann in Kraft treten kann, wenn jeder Bürger politisch selbstständig und mündig geworden ist durch fortdauernde staatliche Bildung«.1199
Nimmt man Fichte beim Wort, dann ist die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts per se auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Oder treffen etwa heute, in Zeiten einer Großzahl gefestigter demokratischer Staaten, alle dort Wahlberechtigten ihre Wahlentscheidung auf der Basis eines eigenständigen, wohl begründeten politischen Urteils? Damit wird bei Fichte zugleich ein Phänomen sichtbar, das überhaupt im ›Zeitgeist‹ der gebildeteren Gesellschaftsschichten jener Epoche auszumachen ist: eine Überhöhung des Bildungsideals. Dieses bezog sich »auf einen idealisierten Menschen« wie auf einen Staat, »der zwar zum ›kulturstaatlichen Appell‹ antritt, aber dem Befehl der Freiheit nur bedingt Folge leistet. Kurzum, das Bildungsideal ist zu ›gut‹, um sich als ›wahr‹ zu erweisen«.1200 Beredte Beispiele für die Fichte’sche Überbeanspruchung der ›Bildung‹ sind seine Vorstellung vom ›Bürgerkönig‹ und die in Aussicht gestellte Verbindung von Christentum und Humanismus als Verwirklichungsbedingung eines ›christlichen Staates‹. So könne unter der Voraussetzung einer gesicherten erblichen Thronfolge ein Staatsoberhaupt erzogen werden, bei dem sich »[u]neigennütziges Wohlwollen und Wohlthätigkeit« gleichwie »Theilnahme an allem Gemeinnützlichen ohne ehrgeiziges Streben« als »erfreulichste Frucht wahrer Menschenbildung« ergäben.1201 Damit sei der Grundstein gelegt für eine herrscherliche Haltung, der 1197 1198 1199 1200 1201
Ebd., S. 796. Ebd. Ebd., S. 690. G. Bollenbeck: Bildung und Kultur, a. a. O., S. 192. I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. 291.
Schlussbetrachtung
241
folgend der Monarch bei allen politisch relevanten Entscheidungen »die Einsicht und den Willen des Volkes«1202 im Blick behalte. Auf der Bühne der gesellschaftlichen Wirklichkeit würde freilich auch ein hochgebildeter Monarch seine Machtbefugnisse nicht nur so handhaben, dass die Interessen der Volksvertretung durchgängig eine praktisch nachhaltige Aufmerksamkeit erhielten. Unter den Voraussetzungen realer Politik muss die Konzeption eines erblichen ›Bürgerkönigtums‹ folglich bei dem Unterfangen scheitern, den Dualismus zwischen »Fürst und Volk« aus der Welt zu schaffen. Die Überbeanspruchung des Bildungsideals kommt gleichfalls zum Tragen, wenn laut Fichte nur die »völlige Versöhnung«1203 von christlicher und humanistischer Tradition eine Bewusstseinshaltung begründe, die erst die dauerhafte Existenz eines ›christlichen Staates‹ gewährleiste. Bringe der Humanismus bei dieser Zusammenführung »alle Elemente ästhetischer und gemüthlicher Bildung« ein nebst der Wirkung, einer Gesinnung der Duldsamkeit den Boden zu bereiten, träfe sich diese Ausrichtung auf eine aufgeklärte Toleranz in passender Weise mit dem Standpunkt christlicher Liebe.1204 Dabei widerstrebe es der »innern Bildung« des hier gemeinten Zielpublikums nicht, eine tolerante Haltung einzunehmen, die wesentlich dazu beitrage, dass in nicht allzu ferner Zeit »Jeder, von der Einen, aber reichhaltigen und vielseitigen Gemeinschaft der Kirche umschlossen, […] die ihm gemäßeste Form des Cultus […] bei der einen oder bei der andern Confession aufsuchen darf«.1205 Selbstverständlich richtet sich Fichte hier an die Gebildeten, denen er eine Perspektive eröffnen will gegen den in seiner Zeit schon spürbar werdenden Zerfall der »Einheit von religiöser und gesellschaftlicher Lebenswelt«, mit dem die Religion »verliert […] an sozialem Kurswert, an Realität«.1206 Doch die Angesprochenen konnten immer schwerer erreicht werden; was sich ereignete, war eine »wachsende Ablösung von der Kirche bei Leuten aus den Bildungsschichten, in einer Fülle von Selbstzeugnissen und Beschreibungen festgehalten«.1207 Nimmt man schließlich Fichtes Reformvorhaben noch einmal in einer allgemeinen Sicht in den Blick, so würde es seinem Ansatz nicht gerecht, ihm generell eine »anti-emanzipatorisch[e]« Haltung zu unterstellen, dergemäß »das
1202 Ebd., S. 302. 1203 I. H. Fichte: »Die Religion und Kirche als wiederherstellende Macht der Gegenwart. Zweiter Artikel«, a. a. O., S. 311. 1204 Ebd., S. 307. 1205 Ebd., S. 312 f. 1206 T. Nipperdey : Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988, S. 121. 1207 Ebd., S. 122.
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Schlussbetrachtung
sozial Neue« lediglich »im Denkgefüge des Alten aufgefaßt und also in seiner Neuartigkeit verkannt«1208 wurde. »Es war die Haltung des Sozialkonservativismus und seines paternalistischen Appells an die Reichen und Mächtigen, seiner Ausrichtung an einem idealisierten Mittelalter, wie sie in Deutschland von Franz von Baader, Viktor Aim¦ Huber oder auch Wilhelm Heinrich Riehl vertreten wurde. Eine derartige Deutung des Neuen im Bezugsgefüge des Alten machte allerdings jede innovative Antwort auf die soziale Frage unmöglich. Ein solcher Konservativismus blieb infolgedessen unfähig, eine realistische Gegenposition zur Revolution auszubilden.«1209
Fichte will seine Ethik ja durchaus als Appell zumindest an die Mächtigen verstanden wissen. Auch begrüßt er ausdrücklich das Erscheinen von Wilhelm Heinrich Riehls Schrift »Die bürgerliche Gesellschaft«1210, die er als ein Plädoyer für die ja von ihm selbst favorisierte berufsständische Gesellschaftsgliederung erachtet.1211 Doch Fichte distanziert sich, wo er die Absichten revolutionärer Umwälzungen wie denen von 1789 der »Barberei mittelalterlicher Vorstellungen«1212 gegenüberstellt, von den einen wie den anderen gleichermaßen. Und er erkennt das dem »Associationsprincip« zugehörige innovative Moment. Waren die genossenschaftlichen Ideen eines Victor Aim¦ Huber, Hermann SchulzeDelitzsch oder Friedrich Wilhelm Raiffeisen in der praktischen Anwendung auf den Problemkomplex der sozialen Frage mit unterschiedlichen Erfolgen gekrönt, sind sie in jedem Fall als einfallsreiches Aktivwerden gegen die schwierigen sozialen Lagen vieler Menschen des 19. Jahrhunderts anzusehen. Dabei zeigt uns die heutige sozialhistorische Forschung das damalige Vereinswesen als »das wesentlichste Instrument einer schrittweisen, oft gar schleichenden Reorganisation der Gesellschaft«, innerhalb dessen »generell für alle Schichten und manchmal gar für Geschlechter, Altersgruppen und andere Kollektive […] Orte […] zunehmender Emanzipation, Demokratisierung und Partizipation« auszumachen sind.1213 Zudem hat in Hinsicht auf das Vereins- wie das Genossenschaftswesen das Prinzip des ›assoziierten Zusammenwirkens‹ bis in das 21. Jahrhundert wenig an Aktualität verloren. Zwar ist das Beziehungsgefüge unter den Genossen1208 K. H. Metz: »Die Entdeckung des Neuen in der Gesellschaft: Antworten auf die soziale Frage. Ein Versuch«, in: W. Hardtwig; H.-H. Brandt (Hrg.): Deutschlands Weg in die Moderne, München 1993, S. 63 – 73, hier : S. 69. 1209 Ebd., S. 69 f. 1210 W. H. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 1851. 1211 I. H. Fichte: Ethik 2/2, S. XI. 1212 I. H. Fichte: Ethik 1, S. 689; vgl. ebd., S. VIf. 1213 K. Tenfelde: »Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850 – 1873)«, in: O. Dann (Hrg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, S. 55 – 114, hier : S. 111.
Schlussbetrachtung
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schaftsmitgliedern in unseren Tagen oftmals ein anderes als zu Fichtes Zeiten und die »typische moderne Genossenschaft hat sich inzwischen zu einem Unternehmen mit eigenem professionellen Management […] entwickelt«.1214 Gleichwohl bieten viele Genossenschaften »gerade in dem anonymen flüchtigen Markt der Gegenwart eine Struktur des Verantwortungseigentums, eine Kultur des Maßes, ein Wirtschaften in Nähe und persönlicher Beteiligung«.1215
Damit geben sie auch einen Hinweis auf die Tatsache, dass das einen Hauptaspekt der Fichte’schen Gesamtkonzeption bildende Verhältnis der Individuen zueinander im modernen Gemeinwesen nicht allein von Anonymität, Distanz und Egoismus geprägt ist, wie dies gelegentlich einige Kulturpessimisten vermuten. Sehr wohl wird von einer Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder die Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben als wesentlicher Faktor des gelingenden individuellen Lebens betrachtet und das persönliche Handeln daran ausgerichtet. Obgleich die Strukturen des modernen ›sozialen Rechtsstaates‹ mitunter starr und ›bürgerfeindlich‹ anmuten: Aufs Ganze gesehen sorgen viele Menschen dafür, dass dieser Staat in Wirklichkeit gewiss besser ist als sein Ruf. Wenn auch die Aussage zu hoch greift, Fichte scheine in Hinsicht auf unser Verständnis von einem Sozialstaat »den Boden bereitet zu haben, auf dem wir heute leben«1216, so sind wir doch sicherlich Begünstigte von Zuständen, die auf geistigen Voraussetzungen beruhen, an deren genereller Prägung auch Immanuel Hermann Fichte mitgewirkt hat.
1214 H. Bonus: Das Selbstverständnis moderner Genossenschaften, Tübingen 1994, S. 48. 1215 P. Kirchhof: »Die Aktualität der Genossenschaft im weltoffenen Markt«, in: V. Beuthien (Hrg.): Wozu noch Genossenschaften?, Göttingen 2008, S. 35 – 43, hier : S. 43. - Ende des Jahres 2009 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen unter dem Motto »Genossenschaften schaffen eine bessere Welt« das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften. Vgl. www.genossenschaften.de 1216 L. Oeing-Hanhoff: »Licht der Philosophie im Schatten Hegels«, a. a. O., S. 157.
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