Staat und Religion: Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente [1 ed.] 9783428522293, 9783428122295

Im Zentrum der Vorträge steht das Verhältnis von Staat und Religion, das auf eine bewegte Geschichte zurückgeht. Nach vi

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Staat und Religion: Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente [1 ed.]
 9783428522293, 9783428122295

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 38

Staat und Religion Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente Herausgegeben von WALDEMAR SCHRECKENBERGER

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Staat und Religion

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 38

Staat und Religion Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente

Herausgegeben von

Waldemar Schreckenberger

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-12229-1 978-3-428-12229-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Es gibt keine Wissenschaft, die sich ausschließlich dem Verhältnis von Staat und Religion annimmt. Eine vermittelnde Rolle versucht hier die Rechtsphilosophie. Sie widmet sich unter normativen Ordnungsaspekten fundamentalen Lebenselementen. Diese sind nicht das Ergebnis theoretischer Annahmen, sondern Bestandteile einer erfahrbaren Lebenswirklichkeit. Ihre komplexe Struktur verlangt die besondere Erfahrung von Fachdisziplinen, die sich mit den jeweiligen Handlungsausschnitten näher befasst haben. Der Herausgeber nutzte daher eine Vorlesung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als eine Abfolge von Vorträgen, die von erfahrenen Fachleuten verschiedener Disziplinen gehalten wurden. In einem einführenden Vortrag wird der Ordnungsrahmen für religiöse Bewegungen und die normative Rolle der „Öffentlichkeit“ dargelegt. Sie ist das Medium, das Staat und gemeinschaftliche Lebenswirklichkeit der Gesellschaft verbindet. Die Erörterung wird im Blick auf ihre nationale Bedeutung auf die Religion des Christentums, des Islams und des Judentums beschränkt. Raif-Georges Khoury vermittelt einen differenzierten Überblick über die historische Entwicklung des Islams, und zwar parallel zu westeuropäischen Entwicklungsabschnitten: Im Mittelpunkt stehen eine Vielfalt von Herrschaftsdynastien und die Versuche, sie religiös durch den Koran zu rechtfertigen. Die Grundlage ist das Prinzip der Theokratie mit Allah als einzigem Gott und oberstem Herrscher. Zahlreiche Machtkämpfe umgeben religiöse Dogmen und Herrschaftsbereiche. Der vielgenannte Dschihad meint nicht nur militärische Konflikte, sondern im Bezug auf den Idschtihad auch den Kampf um die

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Vorwort

geistige Entwicklung im Islam. Diese kennt die intensive Zuwendung zur klassischen griechischen Philosophie, die sie bekanntlich mit erheblichen Folgen auch in den Westen Europas einführte. Der nachfolgende Niedergang erreichte auch die sozialen und politischen Verhältnisse der islamisch regierten Welt. Der Autor verweist auf die kraftvollen Stimmen, die sich bei aller Pluralität der Religionen für eine gemeinsame Welt der Werte einsetzen. Er ermahnt zur Mitarbeit, die auch der Aufklärung über gemeinsame religiöse Lehren dienen könnte. Gerhard Rau geht von einigen praktischen Tagesproblemen vor allem im Blick auf rechtliche Statusfragen und ihre kontroversen Beurteilungen aus. Der Vortrag findet eine Vertiefung in historischen Darstellungen und in den teilweise kontroversen zeitgenössischen Lehrmeinungen der Theologie. Der Autor sieht in wichtigen Fragen eine Lösung in dem Ordnungsrahmen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Weihbischof Otto Georgens stellt aus katholischer Sicht die Solidarität in das Zentrum seiner Darlegungen über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religion. Er weist den Weg zu einer neuen „Solidarkultur“. Er kann in dieser Arbeit seine Erfahrungen als ein führendes Mitglied von Caritas-Verbänden und -gremien einbringen. Er verleiht seinen Ausführungen besonderes Gewicht, indem er sie als „Grundsätze“ zusammenfasst. Daniel Krochmalnik führt unter dem Titel „Theokratie in Israel“ in die dogmatischen Herrschaftslehren in Religion und Staat ein. Er gibt einen vielfältigen Eindruck von den unterschiedlichen Interpretationen der Bibel und ihrer Bedeutung für die jeweiligen Machtbezüge. Er verweist auf Unklarheiten und Widersprüche. Einen tiefgreifenden Konsens findet er im Bekenntnis zahlreicher gelehrter Persönlichkeiten zum Namen „Israel“ und dessen Bedeutung als „Gott herrscht“. Das abschließende Ergebnis lautet: Alle Auffassungen der Theokratie gehören der Vergangenheit an. Aktuell ist die rabbinische Konzeption der Theokratie als Gesetzesgehorsam. Waldemar Schreckenberger

Inhaltsverzeichnis Staat und Religion. Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente Von Univ.-Prof. Dr. Waldemar Schreckenberger, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer . . . . . . . . . .

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Politik und Religion im Islam. Die Probleme in der modernen Zeit und der Beitrag der Reformen Von Univ.-Prof. Dr. Raif-Georges Khoury, Universität Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Staat und Religion: Die evangelisch-protestantische Perspektive Von Univ.-Prof. Dr. theol. Gerhard Rau, Universität Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Solidarität – Auslaufmodell oder Ressource der Gesellschaft? Von Weihbischof Otto Georgens, Speyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theokratie in Israel Von Univ.-Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für jüdische Studien, Universität Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Staat und Religion Der moderne Staat im Rahmen kultureller und religiöser Lebenselemente Von Waldemar Schreckenberger, Speyer

Nach unserem traditionellen Verständnis sind religiöse Themen und Erfahrungen Teil der öffentlichen Kultur. Sie ist die Gesamtheit der gestaltungsfähigen Lebenselemente und -formen der Staat und Gesellschaft übergreifenden Öffentlichkeit. Der universale Anspruch von religiösen Überzeugungen verweist gar auf eine globale Reichweite. In der Kulturkritik wurde die religiöse Welt zum Kernstück eines schicksalhaften Kampfes der Kulturen. I. Folgende Gesichtspunkte stehen im Vordergrund: 1. Das grundlegende Verhältnis von Staat und Religionen als einheitlichen Glaubensüberzeugungen. Gegenstand sind religiöse Bekenntnisse des Christentums, des Judentums und des Islams. Die „Kirchen“ nehmen darin als soziale Institutionen eine herausragende Stellung ein. Von besonderer Bedeutung ist die institutionelle Gewalt, die als Machtfrage für Staat und Religion eine zentrale Rolle spielt. 2. Die Erweiterung der staatlichen Ordnung durch internationale politische Vereinigungen, durch einen weltweiten Wirtschaftsund Arbeitsverkehr, die erhöhte Migration sowie die Vertiefung des Kulturaustausches: Sie schaffen neue Herausforderungen im Verhältnis von Staat und Kirche. 3. Wichtig ist für die Themenstellung der zentrale Begriff der Gesellschaft. Sie ist als Medium, das eine Bevölkerung im Rahmen öffentlicher Ordnungen verbindet, von herausragender Bedeu-

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tung. Dies gilt auch für die Konkurrenz verschiedener Religionen und Kirchen. 4. Nach dem Recht der Bundesrepublik stützt sich die juristische Grundlage der Kirchen, durch die Verfassung erhärtet, auf das Grundrecht der Religionsfreiheit und der Gleichheit. Kann dies uneingeschränkt für alle christlichen und nichtchristlichen Religionen gelten? Darüber gibt es Meinungsverschiedenheiten vor allem im Blick auf Fragen des Religionsunterrichts und die staatskirchenrechtliche Anerkennung der islamischen Religion. In dieser Diskussion wird meist der politische und verfassungsrechtliche Status der „Gesellschaft“ vernachlässigt. Diese Frage kann aber nur beantwortet werden, wenn wir auf die soziale, politische Struktur der Religion zurückgreifen. Für alle Fragen ist es notwendig, die traditionelle Entwicklung des Kirchen-Staat-Verhältnisses wenigstens in den Grundzügen zu erörtern und die aktuelle politische Wirksamkeit des religiösen Verhaltens der Bürger und von öffentlichen religiösen Einrichtungen in Betracht zu ziehen. Ausgangspunkt ist ein Blick auf die europäische und nahöstliche Entwicklung der Religionen. Eine vertiefte Einsicht ist allerdings nur möglich, wenn wir die Untersuchung auf die hier hauptsächlich tätigen Kirchen, religiösen Gemeinschaften oder Lehreinrichtungen erstrecken. Zu diesem Zweck werden verschiedene kulturwissenschaftliche und theologische Fachleute Vorträge halten. Zunächst befassen wir uns mit einigen Aspekten der christlichen Religionen in der Bundesrepublik Deutschland. II. Die erste Untersuchung gilt dem vielfach erörterten institutionellem Verhältnis von Kirche und Staat. Es beeinflusst tiefgreifend auch die religiösen Themen. Die christlichen Gemeinden, die teilweise als Untergrundbewegungen begannen, verband nach zahlreichen Verfolgungen im vierten Jahrhundert nach Christi Geburt mit Kaiser Konstantin eine enge Teilnahme an der staatlichen Herrschaft. Sie spielten eine herausragende Rolle hauptsächlich in den Bereichen mit absolu-

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tistischen und feudalen Herrschaftsformen, welche Machtbezüge mit einer Kirche teilten. Sie bestand auch nach der west-östlichen Kirchenteilung, der Bildung der Nationalstaaten zu Beginn der Neuzeit und nach den Kirchenspaltungen in Europa in unterschiedlichen Formen fort. Die Lösung suchte man in der Bildung partikularer, komplexer Machtbezüge. Die allgemeine Teilnahme an der herrschaftlichen Macht fand bekanntlich mit vielen Veränderung – vor allem im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen – erst im Übergang zum 20. Jahrhundert ein Ende. Die katholische Kirche zog sich auf den Vatikan als „Kirchenstaat“ zurück. Die engste herrschaftliche Verbindung ging dogmatisch und im praktischem Vollzug der Islam ein. Die fundamentale islamische Auffassung kennt keine Trennung von „weltlicher“ und „geistlicher“ Sphäre. Eine gewisse Distanz fand erst im 20. Jahrhundert in der Türkei statt. Im Judentum bestand bis zur Vertreibung der Juden aus Palästina eine Einheit von Religion, Volk und staatlicher Herrschaft. Der geschichtliche Bezug von Religion und staatlicher Macht fand in der religiösen Lehre Augustins (354 – 430) einen hervorragenden Ausdruck. Sie gewann im Übergang zum europäischen Mittelalter einen nachhaltigen Einfluss auf die Staats- und Kirchenvorstellungen. Augustin sah im Verhältnis von Staat und Kirche einen Dualismus der Herrschaftsformen: civitas terrena und civitas dei. Entscheidend sind die unterschiedlichen Herrschaftsbereiche: Die von Gott geleitete himmlische Ordnung und die Herrschaftsordnung einer brüchigen Welt. Sie sollten im Kampf gegen eine verderbliche Welt streng getrennt bleiben. Es verband sie aber eine begrenzte grundlegende Gemeinsamkeit: Die Herstellung einer erträglichen weltlichen Friedensordnung.1 Die Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Praxis allerdings nicht auf rechtliche oder ethische Prinzipien, die am ehesten mit 1 Vgl. dazu Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat, 3 Bände, Salzburg 1951 – 1953.

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religiösen Erwartungen und Regeln vereinbar erschienen. In den Vordergrund rückte immer mehr die mit der dualen Herrschaftsordnung verbundene Gewalt zur Herstellung friedfertiger Gemeinschaften. Vorherrschend wurde der beiderseitige Machteinfluss von weltlicher Gewalt und einer der politischen Ordnung verbundenen Staatsreligiosität. Sie stützte sich dogmatisch auf das Bild Gottes als einer universalen Herrschaftsmacht mit dem unvergleichbaren Glanz göttlicher Herrlichkeit. Dieses Bild war zugleich das allgemeine Muster für die glanzvolle Darstellung fürstlicher Macht, aber auch – vor allem bis zur Reformation – von kirchlichen Ereignissen. Die lebensnahe Ästhetik wurde trotz der umstrittenen kirchlichen „Bilder“ (Bilderstreit) zu einem hervorragenden Element staatlicher und religiöser öffentlicher Darstellungen. Auch die machtpolitisch maßgebliche Raumstruktur spielt eine wichtige Rolle, indem Kirchen sich unter globalem Raumbezug als „Weltkirche“ ausweisen. Allgemein können wir insoweit von einer Analogie zwischen staatlichen und religiösen Machtvorstellungen sprechen. III. Seit der Aufklärung dringen Meinungen vor, den absolutistischen Machtstaat zu deregulieren und die Handlungsfreiheit des Einzelnen zu erweitern. Den Höhepunkt bildet bekanntlich der „demokratische Staat“, teilweise föderativ gegliedert, mit einer Verfassung, die „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Menschenwürde“ jedes Bürgers schützt. Als „sozialer Rechtsstaat“ erstreckt sie den Aufgabenbereich, wenn auch nicht unwidersprochen, auch auf soziale Fragen der Allgemeinheit. Den Höhepunkt für die Machtfrage bildet die imaginativ gestaltete Verfassungsnorm, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz). Je nach der institutionellen Grundverfassung von Kirchen bringt die „pluralistische“ demokratische Machtstruktur, die einen globalen Anspruch erhebt, die Kirchenordnungen in erhebliche Schwierigkeiten. Die traditionelle Analogie der dualen Machtverhältnisse und ihrer Strukturen ist fraglich geworden.

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Es sei in Grundzügen auf zwei alternative Ordnungsprinzipien hingewiesen: Erstens: Das freie, pluralistische Machtspiel des Volkes erscheint im Blick auf seine sozialen Risiken problematisch und fragwürdig. Es gibt hierfür wenige, konservative, meist aber nationalistische oder rassistische Stimmen. In einigen Kirchen erhebt sich Widerstand, das dezentrale, pluralistische Machtmodell in die Gliederung der Verwaltung der Kirchen und in die religiöse Dogmatik einzubringen, da es das überkommene universale Ordnungsbild, aber auch seine absolutistischen Züge stören oder durch wenig koordinierbare Handlungskompetenzen gar tiefgreifend beeinträchtigen könnte. Zweitens: Eine differenziertere Haltung bietet die Vorstellung, die in der religiösen Praxis nicht die Machtunterwerfung, den Gehorsam des Volkes im Vordergrund sieht, sondern die transsubjektive sinnstiftende Erfahrung des individuellen Menschen, welche die Nähe zu den Mitmenschen, in religiöser Sicht zu einem regelsetzenden, liebenden, sich offenbarenden und barmherzigen Gott vermittelt. Sie folgt der Regel: Nicht Unterwerfung, sondern Teilhabe als Ordnungsprinzip; sie transformiert einen wesentlichen Teil der religiösen Macht in die persönliche Selbstgestaltung und die sittliche Gemeinschaftsbindung des Menschen. IV. In der historischen Entwicklung gewann der kulturelle und wissenschaftliche Fortschritt zunehmend an Bedeutung. Wissenschaften und Philosophie haben bis dahin unvorstellbare Erkenntnisse über die empirische und kognitive Welt ermittelt. Die veränderte Erkenntniseinstellung hat aber die allgemeine religiöse Erfahrung und den Glauben an eine göttliche Welt eher erschwert, zum Teil als Mystifikation abgelehnt. 2 Es wird dies oft als ein Säkularisierungsprozess beschrieben, der im „Atheismus“ als Ausdruck einer individualistischen 2 Siehe Waldemar Schreckenberger, Ideologie und Herrschaftssysteme, in: Der Staat, Berlin 1992, S. 419 ff.

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Selbstherrlichkeit gipfelt. Hier schwingt noch immer die alte Vorstellung von der absoluten Allmacht als höchstem Wert mit. Sie fand einen vielerörterten Ausdruck in der Figur des „Übermenschen“ von Friedrich Nietzsche, die Gott und Mensch als schicksalhafte Willenskraft vereinigt.3 Die erhoffte Daseinsorientierung vermochte die moderne Wissenschaft, die sich strengen Methoden der Logik und von Wahrscheinlichkeitstheorien für die Erkenntnis „punktueller“ Realitäten unterwirft, nur beschränkt leisten.4 Zwar gewinnen ganzheitliche Systemzusammenhänge immer mehr an Beachtung. Die Sorgen um die globalen existenziellen Bedrohungen, sei es durch Krankheiten, soziale Not, Katastrophen, Kampf oder Tod, wollen jedoch nicht verblassen. Hier verspricht die Kraft der religiös-geistigen Erfahrung eine verlässlichere Hilfe für eine weiterreichende Lebensorientierung. Sie kann sich über religiöse Institutionen mit sozialer und politischer Unterstützung verbinden. Der religiösen Erfahrung gelingt es vielmehr, in das Geflecht von Macht und Ordnung die göttliche Welt der Sicherheit und Befriedung einzubringen. „Sicherheit“ ist für das gesamte menschliche Leben ein fundamentales Bedürfnis, das trotz größter Anstrengungen unerfüllbar erscheint. Die religiöse Erfahrung bietet aber mehr als die seelische Obhut in einer brüchig erscheinenden sozialen und politischen Wirklichkeit. Sie stiftet eine Existenzweise, welche die Selbsterfahrung des „Ich“ und das persönliche Gotteserlebnis, im Christentum über die Gegenwart Christi vermittelt, vereint: Gott wird gleichsam zur bewegenden Kraft und zum Mitgestalter in der persönlichen und sozialen Erfahrungswelt der Menschen. Die veränderte religiöse Erfahrung wird in den Kir3 Siehe Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vorrede, Ausgabe Zürich 2000. 4 Siehe Waldemar Schreckenberger, Grenzen der Wissenschaft – Ein Beitrag zur humangenetischen Forschung, in: Homunculus, Der Mensch aus der Phiole, hrsg. von Letizia Mancino-Cremer, Dieter Borschmeyer, Neckargemünd und Wien, 2003, S. 101 ff.

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chen, wenngleich mit unterschiedlichem Gewicht, zunehmend beachtet. Man könnte allerdings annehmen, dass im Blick auf die konstitutiven Systemvorstellungen das dreigegliederte christliche Gottesbild (Vater, Sohn und Heiliger Geist) die religiöse Erfahrung der Einheit stiftenden Macht- und Aufgabenverteilung erleichtert hätte. Im Vordergrund steht aber in der kirchlichen Tradition als höchste Macht die Einheit Gottes als Weltschöpfer und befreiender Erlöser. Zurecht wird daher die islamische Kritik des Polytheismus von den christlichen Kirchen zurückgewiesen. V. Von besonderer Bedeutung ist für das differenzierte Kirchenbild, durch Machtteilungen und Kirchenspaltungen gefördert, die politische Globalisierung. Sie wirkt sich vor allem auf kirchliche Sozialeinrichtungen, aber auch auf Kirchen mit langer machtpolitischer Tradition aus. Die Kirchen und ihre Einrichtungen wachsen immer mehr in ein Netz globaler Unterstützung, das sich vor allem auf tätige Mitwirkung und finanzielle Hilfe zahlreicher Spender, zuweilen steuerlich gefördert, stützen kann. Der Einfluss auf das allgemeine religiöse Leben ist zwar nicht offenkundig, aber doch zu vermuten. Die nachhaltige soziale Hilfe kann die Erkenntnis überwindbarer Not, den Lebensmut, aber auch die erfahrbare Gottesnähe als Liebe und Geborgenheit vermitteln. Eine besondere Rolle hat die globale Welt der Machtpolitik wieder den Kirchen eröffnet. Mehr oder weniger erwünscht nehmen sie zu außenpolitischen Fragen insbesondere im Namen der Friedensbewahrung und Kriegsverhinderung Stellung. Es ist dies gewiss ein gefährliches Feld, da es nationale Fragen der Machtausübung berührt und den Argwohn weckt, kulturelle, religiöse Streitfragen international auszutragen. Auch wächst die Versuchung, auf die staatliche Willensbildung wieder stärker Einfluss zu nehmen. Noch ermangelt es geeigneter Formen der globalen religiösen Diskussion. Die kirchenübergreifende Erörterung steht nach den Kirchenspaltungen noch immer in den Anfängen. Alle diese Fragen sind

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zutiefst mit Machtvorstellungen und universalen Geltungsansprüchen religiöser Überzeugungen verbunden. Der historische Verständigungsprozess, der auch für die religiöse Erkenntnis von hoher Bedeutung ist, findet durch die Globalisierung eine gewisse Unterstützung. Er erfordert nach jahrhundertelangen Erfahrungen und in einer kulturkritischen Umwelt tiefe Einsichten und erhebliche Anstrengungen religiöser Offenheit. VI. Die Arbeit der Kirchen fand durch die moderne Kommunikationstechnik, die rasch und weltweit Informationen vermitteln kann, eine erhebliche Unterstützung. Sie unterliegt allerdings auch den Gefahren der publizistischen Sensation und Selektion. Dies gilt vor allem für das Bild kirchlicher Macht und Gestaltungskraft, das eine größere Beachtung durch weltweite Reichweiten sucht. Die Kirche kann ihre Wirkung durch machtvolle Demonstrationen und Massenbewegungen steigern. Sie unterwirft sich damit der publizistischen auf Einschaltquoten zielenden Konkurrenz, welche aber eher der Verflachung der religiösen Thematik als ihrer sinnfördernden Verbreitung dient. VII. Einen weiteren herausragenden Ordnungsfaktor bilden, insbesondere in Demokratien, die Bewohner des Staatsgebiets als „Gesellschaft“. Sie ist auf das Engste mit der modernen Staatenentwicklung verbunden, die seit der Aufklärung zunehmend ambivalente Beziehungen vom Freiheit und Gleichheit schützenden Staat und den Bürgern kennt. Analog spricht man auch von einer Weltgesellschaft. Die Bewohner stehen zum Staat bekanntlich in unterschiedlichen rechtlichen Beziehungen. Sie gipfeln juristisch in der „Staatsangehörigkeit“. Die Gesellschaft ist mehr als die Summe der jeweiligen Bewohner. Sie bietet als „Volk“ eine den Staat stiftende oder stützende Einheit. Die Grenzen der Handlungskompetenzen der Gesellschaft sind für den Staat beschränkt durchlässig. Dies gilt vor allem für Fragen der rechtlichen Sicherheit, der kulturellen Förderung, der Vorsorge und des wirtschaftlichen Ausgleichs.

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Die Gesellschaft wird von sehr unterschiedlichen Lebenselementen bestimmt, insbesondere der nationalen Geschichte und ihrer Aufarbeitung, von herausragenden politischen Meinungsbewegungen, kulturellen Auffassungen, gestützt durch Wissenschaft und Kunst, und nicht zuletzt von sittlichen und moralischen Überzeugungen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind ein besonderer Faktor für soziale Einstellungen. Ein grundlegendes Element ist die Religion als kirchliche Institution, aber mehr noch als Handlungsdimension religiöser Überzeugungen. Sie nimmt mit unterschiedlichem Gewicht wesentlichen Einfluss auf individuelle Tugenden, die ethischen Vorstellungen von Gut und Böse, auf die allgemeine Meinungsbildung, aber auch auf politische Bewegungen. Einstellungen, Meinungen und Stimmungslagen des „Volkes“ spielten in der Theorie, hauptsächlich der Philosophie der Aufklärung (Montesquieu, Herder) der idealistischen Philosophie (Fichte, Hegel) des Historismus (Friedrich Carl von Savigny) und der neueren geisteswissenschaftlichen Lebensphilosophie (Dilthey) eine herausragende Rolle.5 6 7 8 9 10 Sie erhielten als „Volksgeist“ eine vielbeachtete politische Ordnungsfunktion. Durch nationalistische Übertreibungen verlor die ideelle „Volksauffassung“ aber an politischer Wertschätzung, um so mehr errang sie das Interesse zahlreicher Wissenschaften. 5 Siehe zum „allgemeinen Geist“ Charles de Montesquieu, deutsch: Vom Geist der Gesetze (1748), Ausgabe Stuttgart 1965, S. 286 ff. 6 Siehe zum „Volksgeist“ Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 – 1791), Ausgabe Wiesbaden 1985. 7 Johann Gottlieb Fichte (1763 – 1814), Reden an die Nation, ausgewählte Werke, ausgewählt von Fritz Medicus, Bd. V, S. 365 ff. 8 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Berlin, 1821), Ausgabe Hamburg 1955, § 346 ff. 9 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814. 10 Siehe Willhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Göttingen 1990.

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Sie öffneten den Blick für notwendige historische Zusammenhänge und Einstellungen. Besonderes Gewicht gewann die Rhetorik der „öffentlichen Meinung“ und des Meinungskampfes.11 12 13 Der soziale Rang von individuellen Tugenden wurde als Bildungsfaktor für einige politische Bewegungen, insbesondere marxistische Soziallehren, gar zum bedeutenden Klassenelement im Kampf gesellschaftlicher Kräfte, die als „gebildete“ oder „ungebildete“ Schicht sich gegenüber standen. Heute sind es vornehmlich die staatlich geförderten Schulen, Wissenschaften und Kultureinrichtungen, welche für die Vermittlung der gemeinschaftlichen Tugenden als verantwortlich gelten. Auch wird zunehmend der Einzelne als Bildungsvermittler entdeckt. Eine weniger beachtete, aber gewiss nicht minder bedeutende Aufgabe erfüllen religiöse Überzeugungen, die das gesellschaftliche Leben beeinflussen. Hauptverantwortlich sind hierfür die Kirchen. Die Religion vermittelt neben der „säkularen“ Vernunft und metaphysischen Konzeptionen als kultureller Grundlage von Recht und Moral die am tiefsten begründete, über die empirische und rationale Erkenntnis hinausreichende göttliche Erfahrung. Sie ist das Kernstück einer geistigen Besinnung, welche in der Gesellschaft Selbsterfahrung mit der sozialen Verantwortung und dem vertrauensstiftenden Mitgefühl in Ein11 Vgl. zum kultur- und rechtsstiftenden methodischen Rang der „Öffentlichkeit“ und öffentlichen Prozesse der Meinungsbildung Waldemar Schreckenberger, Gesetzgebung als Prozess von Öffentlichkeit, in: Staat und Verwaltung, Berlin 1997, insb. S. 187 ff., ders, Rhetorik und Demokratie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Vol.-86-2000), Stuttgart 2000 S. 389 ff. 12 Vgl. zur Geschichte von „gesellschaftlicher“ Öffentlichkeit: Falko Schneider, Öffentlichkeit und Diskurs, Studien zur Entstehung, Struktur und Form der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Bielefeld 1992, zur Öffentlichkeit und Massenkommunikation, Stefan Müller-Dohm, Klaus Neumann-Braun (Hrsg.) Öffentlichkeit-Kultur-Massenkommunikation, Oldenburg 1991, insb. S. 7 ff., S. 165 ff. 13 Siehe zu Fragen der öffentlichen Meinung Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung, Berlin, Frankfurt / M, 1996.

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klang bringt. Sie erfordert allerdings ein besonderes Maß an Erlebnis- und Erkenntnisfähigkeit. Die vielbeachtete universale, aber unterschiedlich interpretierte geistige Macht schafft einen erlebbaren Horizont der Gemeinschaft menschlichen Handelns, der trotz aller Risiken und Gefahren des Lebens letztlich nicht zerstörbar ist. So verbinden sich Gemeinschaftserlebnis, soziales Vertrauen, universale Ordnungsvorstellungen und die Erfahrung der Einheit mit dem göttlichen Wesen (Geist) zu einem Lebensgefühl existenzieller Sicherheit. Religiosität ist kein Gelegenheitsgeschäft, sondern eine permanente persönliche Einstellung, die sich in einer wachsamen Gesinnung ausdrückt. Die „Gesellschaft“ erfasst nur einen Teil der Religiosität. Von besonderer Bedeutung ist hierfür das persönliche religiöse „Zentrum“ Es bildet die transsubjektive Selbstgewissheit, die ihre letzte Sicherheitserfahrung in der Vermittlung der Gottesnähe findet. Sie ist die maßgebliche Grundlage für die globalen Verbreitungen religiöser Lehren und sozialer Tugenden. Diese sind heute unter den Bedingungen massenhafter Publizität der Gefahr einer auf Werbesprache verkürzten Mission ausgesetzt. Die tiefere Religiosität sucht die Geborgenheit der Stille, die Nähe des Vertrauens und die befreiende Bindung der religiösen Gemeinschaft. Sie wird gefördert durch den Verzicht auf die überkommenen, den einzelnen bedrückenden obrigkeitlichen Herrschaftsformen religiöser Einrichtungen. Solche Bedingungen der religiösen Bildung gelten nicht nur für Kirchen, sondern analog auch für die staatlichen Bemühungen, die Einübung von Tugenden als Teil der öffentlichen Bildung anzubieten; es fehlt allerdings nicht an Versuchen, die staatlich veranstaltete kirchliche Schulbildung zu begrenzen, um im Blick auf die Verfassungslage die Einführung nichtchristlichen Religionsunterrichts zu erleichtern. Das Zusammenspiel kultureller Lehren und religiöser Überzeugungen ist ein höchst komplexes Geflecht gesellschaftlichen Lebens, für das die staatliche Distanz des Rechtsstaats zu beachten ist. Die geltenden verfassungsmäßigen Verschrän2*

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kungen von Staat und Kirche (z. B. Unterricht oder Kirchensteuer) sind in den freiheitlichen Staat als Teil der historischen Entwicklung eingeflossen. Im Ergebnis ist die differenzierte, tiefere religiöse Erfahrung für die nationale Gesellschaft nur beschränkt erreichbar. Sie ist aber nicht auf einen willkürlichen Teilaspekt verkürzt. Die religiöse Einstellung kennt vielmehr verschiedene Erlebnisstufen. Sie reichen von der Ebene der alltäglichen Umgangserfahrung bis in die Tiefen religiöser Selbstgewissheit im Gotteserlebnis. Glaubenslehren sind der Gesellschaft am ehesten im Bereich kultureller Erörterungen im öffentlichen Alltag zugänglich. Sie öffnen sich den vorherrschenden sittlichen und sozialen Anschauungen sowie den allgemeinen, meist auf mittlerem Niveau sich bewegenden Bildungsgewohnheiten. Religiöse Anstöße bieten kriegerische Auseinandersetzungen, ungewöhnliche politische oder soziale Ereignisse und natürliche Zerstörungen (Katastrophen). So bleibt Religion, mit unterschiedlichem Einfluss, ein Element auch der modernen Zivilisation, ohne ihren existenziellen Rang für vertiefte Gemeinschaft und individuelle Persönlichkeit in Frage zu stellen. VIII. Eine schwierige politische Lage ist durch die vielfältigen Begegnungen globaler Religionssysteme, insbesondere des Christentums, Judentums und des Islams, entstanden. Es erhebt sich unausweichlich die Frage: Traditioneller Streit oder Versöhnung von Religionen und Kirchen? Erschwerend sind die eingeübten Machtkomplexe. Sie bilden bekanntlich die pragmatische Vorgabe für öffentliche Gewaltakte. Die geschichtliche Entwicklung weist jedoch trotz aller Widerstände auf eine bisher kaum vorstellbare Chance hin: Die vorsichtige Öffnung und Annäherung der globalen Religionen. Da sich Religionen auf absolute, auch sich ausschließende Prinzipien stützen, die sich unüberwindbar zu widersprechen scheinen, gilt eine syntaktische Annäherung der grundlegenden Lehrsätze als wenig vorstellbar. Es könnte die universelle Sicherheit religiöser Einsichten, welche die Lebenshaltung

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trägt und damit die Grundlage der darauf gestützten Ethik, in Frage stellen. Die Aufgabe ist schwieriger. Die religiösen Erfahrungen sind nicht das Ergebnis feststehender, „statischer“ Ordnungsvorstellungen. Sie finden vielmehr, wie ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, einen Prozess vor, der eng mit der komplexen Dynamik von politischen Ereignissen, von Glaubenserkenntnissen und von Einsichten in allgemeine Menschheiterfahrungen verbunden ist. Er verlangt die schöpferische Diskussion und den ernsthaften Willen, kompatible Lösungen zu suchen, welche im Blick auf schicksalhafte Bedrohungen eine Basis für eine zukunftsfähige, friedliche Weltordnung erarbeiten. Darin finden kriegerische Auseinandersetzungen der Religionen keinen Platz. Die lange Geschichte der Gewalt bietet ein abschreckendes Lehrstück. Eine positive Aussicht gewährt der ungewöhnliche Anfang der drei Religionen, der auf tiefgreifende gemeinsame Wurzeln der religiösen Erfahrung verweist. Ein besonderes Kapitel ist das aktuelle Verhältnis von religiösen Überzeugungen einzelner und der sie unterstützenden gewalttätigen Gruppen. Es schadet allen Beteiligten und erschwert den Zugang zur Kraft einer friedvollen Gesinnung. Nützlich könnte der Versuch sein, gewisse Gemeinsamkeiten der religiösen Erfahrung und der existenziellen menschlichen Hoffnungen und Tugenden anzustreben. Für eine Lösung der Probleme empfehlen sich auch die Diskursmethoden, die über die wissenschaftlichen Fachrichtungen hinaus weitgehende Anerkennung gefunden haben. So eröffnen die Erfahrungen der einzelnen Teilnehmer einen weiten Raum und bieten in der menschenkundigen Kommunikationsabsicht auch zustimmungsfähige Leitsätze für eine globale Kultur. Als konkrete Anknüpfungspunkte für den religiösen Diskurs bieten sich an: Die Auslegung religiöser Texte, der Austausch religiöser Erfahrungen, die Erkenntnis grundlegender historischer Prozesse und nicht zuletzt die allgemeinen öffentlichen Erwartungen an die Kirchen. Dazu gehören auch die Erfahrungen aus einer kirchen- und religionsübergreifenden

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Gemeindepflege, die stets die Glaubenskraft des Einzelnen miteinbeziehen. Einen hoffnungsvollen Anfang gewährt die „Ökumenische Bewegung“. Sie hat für die christlichen Kirchen bereits ermutigende Fortschritte, aber auch Grenzen bisheriger gemeinsamer Bemühungen erfahren. Sie hat inzwischen globale Züge angenommen. IX. Ein besonderes Problem schafft die Gesellschaft als soziale, gleichsam homogene Einheit. Trotz aller Vielfalt der Anschauungen ist es die einheitsfähige soziale Verbindung, welche die tragfähige Grundlage für den Staat und die unverzichtbare soziale Ordnung bildet. Die hauptsächlich mit den internationalen Bevölkerungsbewegungen verbundene Ausdehnung unterschiedlicher Religionen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Lebensformen, die von den bisherigen Lebensgewohnheiten und damit von wichtigen Orientierungshilfen abweichen. Es gibt zwar keine nationale Einheit der Weltanschauungen, aber durch historische Erfahrungen gestützte nationale Lebens- und Anschauungsgewohnheiten. Es bedarf stets einer gewissen sozialen Akzeptanz der Gesellschaft, um die soziale Verträglichkeit zu erhalten oder wiederherzustellen. Die historisch eingeübten Gepflogenheiten (Umgangsregeln) und Wertevorstellungen, die sich aus dem gesellschaftsprägenden Einfluss der christlichen Religionen ergeben, bilden eine Schranke für die sie durchbrechenden Verhaltensformen anderer Religionen. Sie sind als gemeinschaftsstiftende Voraussetzungen des Rechtsstaats, gleichsam ein allgemeines soziales Rechtsgut, das gegen Gewährungen der unbegrenzten Religionsfreiheit geschützt ist. Hier ist, wie bei religiösen Bildungsfragen, im begrenzten Rahmen die staatliche Vorsorge gefordert. Die grundrechtlich gewährleistete Religionsfreiheit findet eine Grenze an einer religiösen Praxis, welche diese Freiheit schlechthin untersagt.14 14 Vgl. hierzu die kirchenrechtliche Sicht von: Arnd Uhle, Staat-KircheKultur, Berlin 2004, insb. S. 155 ff.

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Abschließendes Ergebnis: Die Trennung von staatlicher Macht und religiösem Bekenntnis ist nach einer langen Geschichte das Ergebnis religiöser Rückbesinnung und des neuzeitlichen europäischen Denkens. Sie verspricht auch für andere „Weltreligionen“ einen anschlussfähigen Status, der gleichsam triadisch Staat, Religion und Gesellschaft in ein universales Ordnungsgefüge einbringt.

Politik und Religion im Islam Die Probleme in der modernen Zeit und der Beitrag der Reformen Von Raif-Georges Khoury, Heidelberg

Der Vortrag wird in einem ersten kurzen Teil die Entstehung des Herrschaftskonzepts „Theokratie“ im Islam und seine Entwicklung in der klassischen Zeit, unter den Kalifen der Sunniten und Imamen der Schiiten erläutern. In einem zweiten Teil werden die Probleme der modernen Zeit behandelt und die Bedeutung der Reformen bis in unsere Tage verfolgt und die Ursachen radikaler Tendenzen dargestellt. I. Zur Theokratie im Islam: Entstehung und Entwicklung der Herrschaftsnormen im Islam

Es ist wichtig, die Bedeutung des Kalifats in der historischen und religiösen Geschichte des Islam schlechthin zu betonen, zumal die meisten arabischen und islamischen Länder bis zum heutigen Tag mit dem Traum leben, dass sich dieses für sie große Herrschaftsideal unter der einen oder der anderen Form realisieren lässt1. Und dennoch ist sehr peinlich, festzustellen, dass es keine Gesamtstudie über das Kalifat als Institution gibt, und zwar in ihren aufeinanderfolgenden Entwicklungsetappen, seit ihrer Einsetzung in Medina mit dem Stifter des Islam im Jahre 622 n. Chr. bis zu ihrer Abschaffung unter Kemal Atatürk in Istanbul nach dem I. Weltkrieg. Es ist wahr, dass alle nötigen Elemente nicht verfügbar sind, die ermögli1 Über das Kalifat, s. EI2 (= Encyclopaedia of Islam, 2. Ausg., Leiden 1960 ff.), IV, 937 ff., mit weiterführender Literatur.

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chen könnten, die Gründung dieses höchsten Amtes im Islam zu verfolgen, dessen Herrschaftsvariationen von Dynastie zu Dynastie, von Region zu Region, in Syrien, im Irak, in Spanien (al-Andalus), in Ägypten und schließlich in Istanbul feststellbar sind. Die Hauptschwierigkeit, von Dominique Sourdel in seinem Artikel in der Encyclopaedia of Islam dargestellt2, kommt vom Mangel an intensiven historischen Studien über die einzelnen Regierungen in diesen islamischen Regionen, während die Arbeiten über die Kalifats-Doktrin selber nicht in derselben Bedeutung für die verschiedenen Herrschaftsperioden durchgeführt worden sind. Nichtsdestoweniger kann man mindestens die wesentlichen Züge dieser Institution beschreiben, vor allem in der Entwicklung ihrer doktrinären Fundamente im Laufe der ersten Generationen des islamischen Imperiums und die Nuancen zwischen Kalifat, Imamat und Königreich hervorheben. Die Lage unter dem Propheten Mohammed (570 – 632 n. Chr., reg. ab 622) ist ziemlich einfach zu verstehen, da das Prinzip der Theokratie, also von Gottesherrschaft auf Erden, seinen vollen Sinn hatte: Es war überall in allen Handlungen des Stifters feststellbar und der Koran bezeugt dies auf Schritt und Tritt. So konnte Reckendorf im Jahre 1907 dies in prächtigen Worten zum Ausdruck bringen: Eine Theokratie im stärksten Sinne des Wortes, d. h. eine absolute, theokratische Monarchie. Die Rechtfertigung dieses Zustandes besteht darin, dass Allah eine irdische Form wollte, unter deren Schutz seine Lehre, die im Koran festgelegt worden ist, weiter leben konnte. Daher ist Allah derjenige, der seine Gnade, in einem besonderen Fall, denjenigen gewährt, die durch ihr Hab und Gut oder durch ihr Blut für seinen Staat tätig sind, kontinuierlich über diesen seinen Staat wacht und auch bestraft3. So kann man dadurch verstehen, dass die Beziehungen zwischen Allah und seinem Propheten, „dem Siegel der Propheten“, von einer besonderen Dimension waren: Es war doch 2 3

S. ebenda. H. Reckendorf: Mohammed und die Seinen, Leipzig 1907, 89.

Politik und Religion im Islam

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Allah, der die Amtshandlungen und das Benehmen seines Auserwählten führte, so dass hier eine echte göttliche Rechtleitung (arabisch: Huda¯) im ganzen Verlauf des Lebens von Mohammed vorliegt; diese Rechtleitung vollzog sich nach bestimmten Vorzeichen, die die Biographien des Propheten von Generation zu Generation nach seinem Tode anhäuften. Von dieser einzigartigen göttlichen Beziehung und Führung ist geboren, der jüdisch-christlichen Tradition entsprechend, das Prinzip der Prophetie, dessen perfekteste Form im Islam die Beschreibung einer bestimmten wahrzunehmenden Aufgabe für den Auserwählten darstellt: Eine Mission im Namen Allahs und bei seinen Kreaturen. Daher die verwendeten Bezeichnungen von al-Nabı¯ (Prophet), Nabı¯ Alla¯h (Prophet Allahs) und besonders von Rasu¯l Alla¯h (Bote Allahs), wobei die letzte deutlich höher ist, da sie die Idee einer Sendung, eines göttlichen Sendauftrags beinhaltet und die spezielle und höchste Gnade voraussetzt, im Namen Allahs eine besondere Botschaft zu verkünden: Hier der Koran, bei Jesus (¨I¯sa¯ / Isa) im Islam) das Evangelium, bei David die Psalmen und bei Moses der Dekalog oder die Zehn Gebote4. Das Problem war also ganz klar, was den Propheten anbetraf; für seine Nachfolger wurde es jedoch vollkommen anders, da die Institution des Kalifats mit ihnen geboren wurde. Das Wort kommt vom Arabischen Khila¯fa (Nachfolge) und Kalif von Khalı¯fa (Nachfolger) her, beide Formen, die erste als Verbalsubstantiv, die zweite als Partizip, sind abgeleitet vom Verb im ersten Stamm khalafa (Nachfolger sein), daher khallafa im zweiten Stamm (Nachkommenschaft haben). „Datum und Erscheinung“ des Terminus Kalifat scheinen, „gut festzustehen“5. Dennoch ist es nicht einfach zu erfahren, wie die 4 Zu den konkreten Botschaften, die islamische Historiker und Gelehrte bei zahlreichen Propheten aufzählen, s. Ibn Hisha¯m, Kita¯b al-Tı¯dja¯n (= Buch der gekrönten Könige der Himyariten, letzte vorislamische Könige vor dem Islam im Jemen), Haydarabad 1928, 2, 2 ff.; neue Ausgabe, mit Einführung und Bemerkungen von ¨Abd al-¨Azı¯z al-Maqa¯lih: , S: an ¨a¯© 1979, 2 ff. 5 S. dazu Dominique Sourdel, EI2, IV, 937.

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ersten Kalifen in ihre Ämter eingesetzt und welche tatsächlichen Machtbefugnisse ihnen zugestanden wurden, zumal die Nachrichten über solche Fragen viel später schriftlich festgelegt worden sind. Von al-Ma¯wardı¯ (364 – 450 H. / 974 – 1058 n. Chr.) stammt nämlich das erste grundsätzliche Buch, alAhka¯m al-sult: a¯niyya (die Regierungsnormen), in dem die drei ˘ wichtigsten Ämter im Islam, das Kalifat, das Wesirat und das Richteramt systematisch vorgestellt und analysiert worden sind. Der Autor schreibt über das Kalifen-Amt folgendes: „Alla