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German Pages 188 [192] Year 2013
Bernd Belina (Hg.) Staat und Raum
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 26
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Erfurt Paula Diehl, Berlin Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Peter Schröder, London
Bernd Belina (Hg.)
Staat und Raum
Franz Steiner Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10346-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt
INHALTSVERZEICHNIS Bernd Belina Einleitung: Staat und Raum – Positionen der Politischen Geographie....................7 Hans-Dietrich Schultz „Raumfragen beherrschen alle Geschichte.“ Macht und Raum im Denken der klassischen Geographie des 19./20. Jahrhunderts......................................................................................... 15 Anke Strüver Raum, Staat und Geschlechterkonstruktionen in feministischen Zugängen zur p/Politischen Geographie ................................................................ 37 Antje Schlottmann Sprache, Staat und Raum – Zur (Neu-)Erfindung von Nation aus sprachpragmatischer Perspektive .................................................................... 59 Paul Reuber Critical Geopolitics – Eine Forschungsrichtung zur Analyse des Verhältnisses von Staat und Raum im Kontext der internationalen Geopolitik ............................................................................... 77 Julia Lossau Politische Geographie und postkoloniale Theorie – Territorien, Identitäten, Verflechtungen ................................................................................... 95 Matthew Hannah Foucault, Macht, Territorium............................................................................... 109 Iris Dzudzek, Annika Mattissek und Georg Glasze Nationalstaat und Identität mit Laclau und Mouffe gedacht – Ein Beitag zur Politischen Geographie aus diskursund hegemonietheoretischer Perspektive............................................................. 129
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Inhaltsverzeichnis
Ulrich Best Staat und Raum bei Deleuze und Guattari ........................................................... 147 Bernd Belina Staat und Raum im Anschluss an Marx – Positionen in Radical Geography und Materialistischer Staatstheorie ...................................................................... 161 Autor_innen ......................................................................................................... 187
EINLEITUNG: STAAT UND RAUM Positionen der Politischen Geographie Bernd Belina Im Kontext deutschsprachiger Sozialwissenschaften hat das Begriffspaar im Titel dieses Bandes, gelinde gesagt, ein Imageproblem – und dies aus guten Gründen. „Staat und Raum“, da werden Assoziationen geweckt in Richtung dunkler bzw. umstrittener Kapitel deutscher Wissensproduktion. Namen wie Friedrich Ratzel, Karl Haushofer oder auch Carl Schmitt sowie Begriffe wie Geopolitik, Mittellage und Lebensraum fallen einem dazu ein – möglicherweise auch Buchtitel wie „Volk ohne Raum“ (Grimm 1926) oder Formulierungen aus Hitlers „Mein Kampf“, wo er verspricht, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“ (zit. nach Kühnl 1977: 105). Die Kritik von Karl-August Wittfogel (1929) an „Geopolitik“ und „geographischem Materialismus“, geschrieben vor dem Hintergrund „der Desintegration der Weimarer Republik und des Aufstiegs Hitlers, in dessen Konzentrationslagern er sich kaum vier Jahre später wiederfinden sollte“ (Smith 1987: 129), in der er treffend die wissenschaftliche Unhaltbarkeit, den Idealismus und z.T. Spiritualismus sowie den politischen Konservatismus eines Denkens kritisiert hat, das ausgehend von Naturausstattung, Raumbedürfnissen der Völker und dergleichen über Kultur, Politik und Staat sich äußert, blieb im nationalen Wahn weitgehend ungehört. Über das Verhältnis von „Staat und Raum“ nachzudenken, stand hierzulande nach 1945 unter dem begründeten Verdacht von Revisionismus und Neofaschismus, ja „Raum“ als theoretischer Begriff war diskreditiert. Die Formulierung: „Der Raum ist die absolute Entfremdung“ (Horkheimer/Adorno 1988[1944]: 189) aus der Dialektik der Aufklärung ist nur vor diesem historischen Hintergrund zu verstehen. Zwar wurde Wittfolgels (1929) Argumentation „ignoriert“ (Oßenbrügge 1983a: 71), sein Schluss jedoch, dass es angesichts der, wie man heute vielleicht sagen würde, Diskurshistorie der Geopolitik keine marxistische Geopolitik geben könne, wurde ausgeweitet auf deren Unmöglichkeit in jeglicher sozialwissenschaftlicher Hinsicht. Dies gilt mit Abstrichen auch für die Politische Geographie, die „zuständige“ Subdisziplin der Geographie, der alle in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren entstammen. Für die geographischen Debatten legte Carl Troll (1947) mit seiner Rechtfertigung geographischer Aktivitäten während Nationalsozialismus und Krieg den Grundstein für die – von der Sache her haltlose, als Legitimationsideologie aber erfolgreiche – Trennung in (böse) Geopolitik und (gute) Politische Geographie (vgl. Lossau 2002). Letztere blieb in den folgenden Jahr-
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Bernd Belina
zehnten als wenig relevante Subdisziplin auf ähnlicher theoretischer Basis wie vor 1945, wenn auch in abgeschwächter Form, erhalten (vgl. kritisch Oßenbrügge 1983a; Wardenga 2001). Immerhin kam es in den 1970er Jahren im Gefolge der Kritik Peter Schöllers an den „Irrwegen“ der Politischen Geographie und Geopolitik (1957) und den Arbeiten Klaus-Achim Boeslers (1969, 1974) zu einer Neuausrichtung der Politischen Geographie, die nicht mehr den Staat und politisches Handeln an Naturraumfaktoren band, sondern sich mit den raumwirksamen Investitionen der öffentlichen Hand und den Auswirkungen regionaler Planung befasste.1 Entwicklungen wie etwa in Frankreich, wo Yves Lacostes (1976) schmalem Band La Géographie, ça sert, d’abord, à faire la guerre („Die Geographie dient vor allem anderen der Kriegsführung“) eine Debatte um die Möglichkeit einer progressiven Geopolitik folgte, oder jener in der anglo-amerikanischen Geographie, wo im Rahmen der Radical Geography (vgl. Belina in diesem Band) die Befassung nicht mit „Raum“ sondern mit dessen sozialer Produktion, neue Möglichkeiten des Nachdenkens über raumbezogene Konflikte, Politik und Staat eröffnete, blieben für die Debatte hierzulande weitgehend folgenlos. Einzig Jürgen Oßenbrügge (1983b) hat die letztgenannten Diskussionen aufgegriffen und produktiv mit deutschsprachiger Literatur verbunden. Allein auf weiter Flur, blieb diese Initiative im Fach ohne nennenswerten Einfluss. In den 1980er Jahren fand eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle geographischer und geopolitischer Wissensproduktion in der jungen Geschichte dieser Subdisziplinen statt, in der theoretische Grundlagen und praktische Involviertheit von Politischer Geographie, Geopolitik und „Ostraumforschung“ in den Fokus gerieten (Fahlbusch 1989; Heinrich 1991; Kost 1988; Rössler 1989, 1990; Schultz 1989; Siegrist 1989; vgl. Schultz in diesem Band). Etwa zur gleichen Zeit entstanden in angloamerikanischen Debatten die Critical Geopolitics (vgl. Reuber in diesem Band), in der der Fokus auf – als wirklichkeitskonstituierend verstandenen – Diskursen über Geopolitik liegt (vgl. Ó Tuathail 1996). Durch die Rezeption dieser Denkrichtung (Oßenbrügge 1993; Reuber 2000; Reuber/Wolkersdorfer 2001; Wolkersdorfer 2001) sowie im Anschluss an handlungs- (Werlen 1995, 1997) und systemtheoretische (Klüter 1986) geographische Ansätze, die ebenfalls nicht „Raum“, sondern dessen zugeschriebene Bedeutungen – als „signifikative Regionalisierung“ bzw. „Element sozialer Kommunikation“ – ins Zentrum stellen, wurde eine Reihe von Arbeiten inspiriert, die sich mit Fragen von (Repräsentationen von) Raum und Politik bzw. Staat befassen (Lossau 2002; Redepenning 2006; Reuber 1999; Schlottmann 2005; Wolkersdorfer 2001)2. Was bei vielen Differenzen die genannten Kritiken älterer sowie die Arbeiten neuerer Politischer Geographie eint, ist, dass alle Vorstellungen abgelehnt werden, 1 2
Ich danke Hans-Dietrich Schultz für den Hinweis, diese Entwicklung nicht unerwähnt zu lassen. Wegen des Fokus auf die deutschsprachige Debatte und da es hier nicht um eine komplette Bibliographie gehen kann, beschränken sich die Hinweise auf Monographien in deutscher Sprache.
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nach denen „Raum“, konzeptualisiert als Naturraum oder abstrakter Raum i.S.v. räumlicher Distanz oder Lage im Raum, zur Erklärung sozialer Prozesse herangezogen wird. Eine solche Determinierung durch die Naturausstattung oder eine solche Verdinglichung bzw. Fetischisierung von Raum, so die geteilte Analyse, sieht gerade ab von den sozialen Prozessen und/oder Diskursen, deren Untersuchung für eine Erklärung nottäte, und öffnet mittels naturalistischer Fehlschlüsse jenen menschenverachtenden Ideologien und Politiken Tür und Tor, die zu Beginn dieser Einleitung angedeutet wurden. Nicht jeder Geodeterminismus, bei dem die erdräumliche Naturausstattung zur Erklärung herangezogen wird, und nicht jeder Raumfetischismus, bei dem abstrakter Raum als Explanans fungiert, ist faschistisch; aber jede solche Erklärung ist kritikabel und auf ihre ideologischen Leistungen hin zu befragen. Geodeterminismus oder Raumfetischismus in Reinform werden zwar nur noch vereinzelt vertreten, gleichwohl tauchen sie immer wieder auf, zuletzt etwa an prominenter Stelle in Foreign Policy (Kaplan 2009; vgl. die Kritik bei Morrissey et al. 2009). Eine andere gängige Annahme im Verhältnis von „Staat und Raum“ hingegen, die ebenfalls tendenziell von der sozialen und/oder diskursiven Produktion des Raums absieht, ist nach wie vor virulent: die territoriale Form des Staates wird gemeinhin unterstellt und für nicht erklärungswürdig angesehen. In der Trias Staat-Nation-Territorium wurde in den letzten Jahrzehnten der Zusammenhang zwischen den ersten beiden Elementen zunehmend einer kritischen Betrachtung unterzogen (Anderson 1983; Billig 1995; Brubaker 1996; Gellner 1983; Hobsbawm 1990; Noiriel 1994[1991]). Kaum mehr gibt es ernsthafte akademische Beiträge, die die „Nation“ als primordiale Entität betrachten, der ein eigener Staat zustünde. Vielmehr wird das Verhältnis zwischen Staat und Nation als historisch gewordenes und in Deutungs- ebenso wie in blutigen Kämpfen ausgehandeltes verstanden, das mit Homogenisierungen, Ausschlüssen und institutionalisierter Gewalt einhergeht. Im Gegensatz dazu erscheint das Territorium im weiten Feld der Sozialwissenschaften nach wie vor weitgehend als nicht weiter erklärungsbedürftige Eigenschaft des Staates. Nur auf dieser Basis wird plausibel, warum im Rahmen des „Globalisierung“ genannten Bedeutungsgewinns von Weltmarkt- und anderen globalen Zusammenhängen und, damit einhergehend, jenem multinationaler Handelsblöcke, subnationaler Regionen und Städte oder von grenzüberschreitenden Umweltproblemen und Terrornetzwerke, ein Ende des Nationalstaates vermutet wird, aufgrund dessen die Untersuchung sozialer Phänomene auf nationaler Ebene als untauglich verworfen wird (vgl. Beck 2007; Urry 2000). Nur weil tendenziell weniger soziale und sozial-ökologische Prozesse in der territorialen Form des Nationalstaates organisiert sind, bedeutet das ja noch lange nicht, dass die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren (Taylor 1994). Im Gegenteil kann argumentiert werden, dass die Flexibilität der räumlichen Form zu den Stärken mächtiger Staaten gehört (Brenner 2004; Harvey 2003; Jessop 2001; vgl. Belina in diesem Band). Der als gegeben angenommene Zusammenhang von Nationalstaat und Territorium kann sich auf als klassisch geltende Bestimmungen berufen. So heißt es
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etwa in Georg Jellineks Allgemeiner Staatslehre, dass „der Staat zu seiner Existenz der räumlichen Ausdehnung [bedarf]“ (1960: 396), weshalb das „Staatsgebiet“ neben dem Staatsvolk und der Staatsgewalt „ein Moment des Staates als [Subjekt]“ darstellt (ebd.: 395). Staaten, so die geteilte Sicht, sind territorial. Der Geograph John Agnew, der für diese Sicht im Feld der Theorien Internationaler Beziehungen den Terminus „territorial trap“ (Agnew 1994) geprägt hat, stellt fest: „moderne politische Theorie neigt dazu, Geographie ausschließlich als territorial zu begreifen“ (Agnew 2009: 21). Dass dem in den Debatten in der Geographie explizit nicht (mehr) so ist, sollte in den Beiträgen dieses Bandes deutlich werden. Die Revitalisierung der Subdisziplin der Politischen Geographie hierzulande ist im Zusammenhang zu sehen mit neuen Debatten um Geopolitik, globale Konflikte sowie „alte“ und „neue“ Kriege, die zurückgeführt werden auf „kulturelle Unterschiede“, Rohstoffe oder den Klimawandel. Es ist kein Zufall, dass die hierbei häufig konstruierten Kausalitäten in einer Subdisziplin mit der eingangs angedeuteten Geschichte besonders leicht als fragwürdig erscheinen. Einige der Beiträge, die Positionen aus der Politischen Geographie für eine interdisziplinäre Debatte um „Staat und Raum“ leisten können, wurden in dieser Einleitung angedeutet: die Rekonstruktionen von Vorstellungen von und Diskursen über die „richtige“ Weltordnung, die Kritik an geodeterministischen und raumfetischistischen Ideologien, ein Verständnis der Räume von Staat und Politik als diskursiv und/oder sozial hergestellten. Politische Geographie in der Bundesrepublik Deutschland kann nach rund 15 Jahren neuer und erneuerter Debatten als gefestigte Subdisziplin gelten, wovon neben den genannten und weiteren Publikationen auch eigene Tagungen, ein eigener Arbeitskreis (vgl.: http://www.politische-geographie.de) sowie auch das Erscheinen eines neuen Lehrbuchs (Reuber 2012) zeugen. In dieser Situation kam die Anfrage des Herausgebers der Buchreihe „Staatsdiskurse“, Rüdiger Voigt, gelegen, um eine Zwischenbilanz des Diskussionsstandes in der deutschsprachigen Politischen Geographie zum Verhältnis von „Staat und Raum“ anzugehen 3. Weder ist diese Bestandsaufnahme in der Breite vollständig (u.a. in Folge einiger Absagen wegen Arbeitsüberlastung), noch kann sie anhand empirischen Materials in die Tiefe gehen. Im Zentrum der einzelnen Kapitel steht die Darstellung einer distinkten Art über das Verhältnis von „Staat und Raum“ nachzudenken. Die Grundannahmen bezüglich dessen, was dabei jeweils unter „Staat“ verstanden wird, werden in den einzelnen Kapiteln mit Hinweisen auf die jeweiligen größeren Theoriedebatten aus Gesellschaftstheorie und (Politischer) Philosophie eher knapp dargestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Art und Weise, in der im jeweiligen Ansatz „Raum“ relevant wird, bzw. darauf, was ein Fokus auf „Raum“ zum Verständnis von Staat und staatlichen Praktiken leisten kann. Mit der eingangs angedeuteten Geschichte des Faches befasst sich im ersten Beitrag des Bandes Hans-Dietrich Schultz. Er skizziert die noch immer diskutierte bzw. wieder ins scharfe Gerede gekommene Denkweise zentraler Autoren wie 3
Mein Dank für das kompetente Korrekturlesen, Formatieren und Koordinieren der Beiträge gilt Hannah Hecker.
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Friedrich Ratzel und Albrecht Penck und situiert deren Werk im historischen Kontext sowie innerhalb der Vor- und Nachgeschichte ihrer Positionen. Während dieser Beitrag zur Fachgeschichte aus guten Gründen am Anfang des Bandes steht, folgen die weiteren, bei denen es solche Gründe nicht gibt, in umgekehrter alphabetischer Reihenfolge ihrer Autor_innen (umgekehrt, damit nicht der Beitrag des Herausgebers den Reigen eröffnet). Anke Strüver diskutiert das Verhältnis von Staat und Raum im Kontext feministischer Debatten in Politikwissenschaft und Staatstheorie einerseits und (Politischer) Geographie andererseits, wobei in ihrer vorgeschlagenen Synthese der Schwerpunkt auf poststrukuralistischen Ansätzen liegt. Dies wird anhand der Themenfelder migrantische, feminisierte Hausarbeit und neoliberalisierte Gesundheit illustriert. Antje Schlottmann wendet eine sprachpragmatische Auffassung des Sozialen auf die Frage an, wie Nationalstaaten, das Nationale und Staatsgrenzen auch und gerade in Debatten über deren Überwindung, etwa im Rahmen von Konzepten zu „Transnationalismus“ und „Kosmopolitanismus“, sprachlich re-/produziert werden. Während hier, so das Argument, ex negativo auf die als überwunden behaupteten Verhältnisse verwiesen wird, werden diese durch Iteration fortlaufend sprachlich und sozial bestätigt. Paul Reuber zeichnet die Kritik der „alten“ Geopolitik in den oben erwähnten Critical Geopolitics sowie deren genuinen Beitrag zur Untersuchung geopolitischer Leitbilder und Vorstellungen nach, wobei sowohl die angloamerikanischen Ursprünge als auch deren deutschsprachige Aneignungen und Weiterentwicklungen vorgestellt werden. Schließlich skizziert er mit der Vernachlässigung von Praktiken zugunsten von Diskursen eine zentrale Kritik an der Praxis der Critical Geopolitics. Julia Lossau skizziert Ansatz und Themen einer postkolonialen Politischen Geographie, in der auf Basis epistemologischer Kontingenz und der Annahme dezentrierter Identitäten und fragmentierter Subjekte danach gefragt wird, wie Verortungen, also Vorstellungen von und diskursive Platzierungen im Raum, Ordnungen hervorbringen. Am Beispiel der Entwicklungsdebatte illustriert sie die politische Relevanz solcher Verortungen. Matthew Hannah, der als einziger Autor des Bandes im angloamerikanischen Kontext zu Hause ist, dabei die deutschsprachigen Debatten aber gut kennt, zeigt im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults, dass modernes, staatliches Territorium der zentrale Ort ist, an und in dem sich die wichtigsten Machtformen der Moderne in Verbindung miteinander realisieren. Was es hiermit auf sich hat, illustriert er mit Bezug auf Arbeiten, die Territorien als Ergebnis und Mittel moderner staatlicher Kalkulationen diskutieren. Iris Dzudzek, Annika Mattissek und Georg Glasze stellen vor, was die Diskurs-, Hegemonie-. und politische Theorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe für die Politische Geographie leisten kann. „Staat“ wird dabei als hegemonial aber stets nur temporär fixierter Diskurs gedacht und „Nationalstaat“ als „Sedimentierung“ hegemonialer Diskurse, wobei beide durch spezifische Muster von Ein- und Ausschlüssen hergestellt, aufrechterhalten bzw. in Frage gestellt werden.
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Welche zentrale Rolle hierbei Verräumlichungen i.S. diskursiver „Zuweisungen“ im Raum spielen, wird anhand der globalen Klimapolitik, der Repräsentationspolitik der UNESCO und von Landnutzungskonflikten in Thailand illustriert. Ulrich Best diskutiert in seinem Beitrag anhand sehr „räumlich“ klingender Begriffe wie „Karte“, „gekerbter Raum“ und „De- und Reterritorialisierung“ zentrale Aspekte der Politischen Philosophie von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Er zeigt, dass diese Begriffe von den beiden Autoren komplett anders verwendet werden, als wir dies in Alltag und Wissenschaft gewohnt sind, und diskutiert Beispiele, in denen mittels dieser und anderer Begriffe von Deleuze/Guattari Themen im Verhältnis von „Staat und Raum“ diskutiert werden, etwa Indigenität, die EU und Grenzen. In meinem eigenen Beitrag schließlich skizziere ich, wie, aufbauend auf Debatten aus materialistischer Staatstheorie und Radical Geography, das Verhältnis von „Staat und Raum“ als eines bestimmt werden kann, das durch unterschiedliche – institutionelle ebenso wie physische – Materialitäten strukturiert ist. Illustriert wird dies anhand von Arbeiten zu territorialen Grenzen, der Reskalierung des Staates sowie zu staatlicher Machtausübung, die ohne Territorialisierungsstrategien auskommt („Neuer Imperialismus“). Die Funktionen einer Bestandsaufnahme, wie sie mit diesem Band vorliegt, sind unterschiedliche. Nach „innen“, in der Subdisziplin bzw. in der Geographie, dienen sie der Selbstverständigung, dem Ausloten von Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie der Positionsbestimmung im Fachdiskurs. Nach „außen“ stellen sie möglicherweise – und hoffentlich – (weitere) Anschlüsse an Debatten in Politikwissenschaft, Politischer Philosophie und dem weiteren Feld der Sozialwissenschaften her. Ein nicht intendierter Effekt einer solchen Zusammenstellung kann es schließlich sein, den Eindruck zu vermitteln, die hier vertretenen Ansätze und Personen würden für sich Exklusivität im Feld der Politischen Geographie beanspruchen. Nichts liegt den Beteiligten ferner. Das Ziel dieses Bandes soll und kann es nur sein, zu Debatte, Auseinandersetzung und Kritik einzuladen. Frankfurt/Toronto im Juli 2012 LITERATUR Agnew, John (1994): The territorial trap: the geographical assumptions of international relations theory. Review of International Political Economy 1: 53–80. Agnew, John (2009): Globalization & Sovereignty. Lanham et al. Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. London. Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Frankfurt/Main. Billig, Michael (1995): Banal Nationalism. London. Boesler, Klaus-Achim (1969): Kulturlandschaftswandel durch raumwirksame Staatstätigkeit. Berlin. Boesler, Klaus-Achim (1974): Gedanken zum Konzept der Politischen Geographie. Die Erde 105: 7–33. Brenner, Neil (2004): New State Spaces. Oxford.
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Schultz, Hans-Dietrich (1989): Versuch einer Historisierung der Geographie des Dritten Reiches am Beispiel des geographischen Grossraumdenkens. Geographie und Nationalsozialismus (= Urbs et Regio 51): 1–75. Siegrist, Dominik (1989): Heimat – Landschaft – Nation. Ein Beitrag zur Geschichte der Schweizer Geographie während des deutschen Faschismus. Geographie und Nationalsozialismus (Urbs et Regio 51): 275–394. Smith, Neil (1987): Rehabilitating a renegade? The Geography and Politics of Karl August Wittfogel. Dialectical Anthropology 12:127–136. Taylor, Peter (1994): The state as container: territoriality in the modern world-system. Progress in Human Geography 18(2): 151–162. Troll, Carl (1947): Die geographische Wissenschaft in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Kritik und Rechtfertigung. Erdkunde 1(1): 3–48. Urry, John (2000): Sociology beyond societies. London/New York. Wardenga, Ute (2001): Zur Konstruktion von Raum und Politik in der Geographie des 20. Jahrhundert. In: Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter (Hrsg.): Politische Geographie. Heidelberg: 17–32. Werlen, Benno (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Bd. 1. Stuttgart. Werlen, Benno (1997): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Bd. 2. Stuttgart. Wittfogel, Karl August (1929): Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus (3 Teile). Unter dem Banner des Marxismus 3: 17–51, 485–522, 698–735. Wolkersdorfer, Günter (2001): Politische Geographie und Geopolitik zwischen Moderne und Postmoderne. Heidelberg.
„RAUMFRAGEN BEHERRSCHEN ALLE GESCHICHTE.“1 Macht und Raum im Denken der klassischen Geographie des 19./20. Jahrhunderts Hans-Dietrich Schultz
1. DAS UMFELD: DER NATIONALPOLITISCHE DISKURS ZU BEGINN DES 19. JAHRHUNDERTS Die klassische deutschsprachige Geographie, die in den 1960er Jahren auslief, hat mit der so genannten Klimatheorie und der Theorie der „natürlichen Grenzen“ ihre Wurzeln in der Antike, aber zu einem disziplinären Denkstil fusionierten beide erst um und nach 1800, wobei der Idee der „natürlichen Grenzen“ eine Vorreiterrolle zukam. Die Forderung der französischen Revolutionäre nach der Rheingrenze als der naturgewollten politischen Grenze Frankreichs setzte einen Diskurs in Gang, der sich mit der Frage beschäftigte, ob und auf welche Weise die konkrete Natur des Erdbodens mit dazu beitragen könne, ein sicheres Zusammenleben der Völker zu ermöglichen bzw. zu garantieren. Maßgebliche Vertreter der deutschen Nationalbewegung, darunter Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Ludwig Jahn, beteiligten sich daran, doch schlossen sie Ströme als natürliche Grenzmarken aus, weil diese die Völker nicht trennen, sondern verbinden würden. Die deutschen Anhänger der „natürlichen Grenzen“ bevorzugten Wasserscheiden und das Meer; Frankreichs Anspruch auf den Rhein war damit theoretisch abgewehrt. Natürlich wussten sie, dass Völker sich selten um solche natürlichen Marken scherten, darum erklärten sie diese zur Norm und räumten ihnen für die Grenzziehung Priorität ein. Selbst ein so eingefleischter Ethnozentriker wie Jahn, der nur die Sprache als die „natürlichste“ Grenze der Völker durchgehen lassen wollte, konstatierte unter Berufung auf den Göttinger Universalhistoriker Johann Christoph Gatterer, der mit seinem Abriß der Geographie (1775) die spätere Entwicklung maßgeblich angestoßen hatte: „Natürliche [d.h. geographische] Gränzen oder Scheiden giebt es“ (Jahn 1810: 40). Mahnend hielt er den Völkern die Wasserscheiden als Stoppschild entgegen: Bis hierher und nicht weiter! Hatten die Völ1
Das Zitat stammt von Ratzel (31909: 150). Hervorhebungen in Zitaten sind solche im Original, unabhängig von der dortigen Form. Um Missverständnissen und enttäuschten Erwartungen vorzubeugen, sei außerdem darauf verwiesen, dass hier nur die deutschsprachige Geographie thematisiert wird und der geopolitische Diskurs um Haushofer u.a. ausgespart bleibt.
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ker die ewige „Ordnung des Erdreichs“ (Jahn 1885: 583) überschritten, sollten sie umkehren. Gelegentlich wurde diese ewige Naturordnung der Staatenwelt, die im Einzelnen recht unterschiedlich ausfallen konnte, sogar kartographisch fixiert, für Europa vom Mainzer Hofbibliothekar Ritter v. Traitteur (1814), für alle Kontinente vom Redakteur des Bulletins der Donau- und Neckar-Zeitung (Aichen), der 1833 eine umfangreiche „Natürliche Diplomatik“ publizierte, die er als „physischpolitische Geographie“ präsentierte. Aichen sah allerdings auch Ströme als Naturmarken vor, z.B. den Rhein.2 Es gab damals sogar eine differenzierte, in der Forschung bisher vernachlässigte, Handreichung für die Politik aus der Feder des Jenenser Historikers Heinrich Luden, bei der den „natürlichen Grenzen“ eine wichtige Rolle zukam. Die Menschheit präsentierte sich Luden in „Urvölkern“ und „Mangvölkern“ (Mischvölker). Die Deutschen waren selbstverständlich ein „Urvolk“, die Franzosen nicht. Den Kosmopolitismus lehnte Luden als „gestaltloses Unding“ (Luden 1814: 231) ab. Nur im Rahmen seines „Volksthums“ könne der Einzelne die menschheitliche Kraft, die in ihm stecke, sein Selbst, frei bilden und ausleben, dazu aber brauche er einen Staat. Erst wenn Volk und Staat im Vaterland eins geworden seien, werde „ruhiges Gedeihen (…), fester Friede, kräftige Bildung und allgemeines Glück“ herrschen. Hier nun kamen auch für ihn die „Naturgränzen“ (ebd.: 17) ins Spiel, durch welche die Natur die „bewohnbare Erde (…) in gewisse Abschnitte getheilt“ habe, „die in ihrem Verhältnisse zu einander eigene Ganzheiten ausmachen“ würden, wobei die Grenze zwischen ihnen das eine Mal „unverkennbar“, das andere Mal „weniger auffallend“ (ebd.: 28) sein könne. Somit würden Gebirge und Meere die Länder, welche sie einschließen, auch für das menschliche Leben zu besondern Ganzheiten machen; sie trennen die Menschen, welche diesseits wohnen von denen, die jenseits leben, und eben deswegen vereinigen sie dieselben unter sich (ebd.: 310).
Denn sie zwängen die Menschen „zum innigsten Verkehr mit einander, und zu mannichfaltiger Wechselwirkung auf einander“ (ebd.: 311). Damit steckten die Räume den Interessen der Völker ihren politischen Handlungsspielraum ab, soweit dieser Handlungsspielraum mit einer vernünftigen Weltordnung vereinbar war: einer Ordnung des machtpolitischen Gleichgewichts, garantiert durch die ewige Natur. Wo diese Ordnung sich nicht von alleine herstellte, sollte die Politik korrigierend eingreifen. Hätte es seinerzeit schon den Begriff des Selbstbestimmungsrechtes der Völker gegeben, so hätten die Verfechter von Naturgrenzen diesem ein Selbstbestimmungsrecht der Räume entgegengehalten. Tabelle 1 gibt die von Luden vorgesehenen Fälle und die empfohlenen Maßnahmen der Politik wieder.
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Das Werk ist ohne Namensnennung des Autors. In einer Besprechung in der Revue Germanique, 3. Serie, 2 (1835): 98, auf die mich Björn Schrader aufmerksam gemacht hat, wird als Verfasser M. Aichen genannt.
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Tabelle 1: „Die höchste Aufgabe der Politik“ nach Heinrich Luden (1814) A. Ein Staat ist „reinvolksthümlich“ Fall 1a): Der Staat „umfaßt das ganze Volk; Staatsgränzen und Volksgränzen fallen zusammen“ (307).
Politik: Weder dürfe eine Erweiterung der Grenzen noch eine Verengung stattfinden, denn beides sei „Sünde“ und verkehrt, da der Staat seine „reine Eigenthümlichkeit“ (307) erreicht habe. Siege der Staat im Falle eines Angriffs, dürfe er nur seine alten Grenzen behaupten.
Fall 1b): Der Staat fällt nicht mit natürlichen Grenzen zusammen, sein Boden reicht nicht zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse seiner Bewohner aus, ihm fehlt der Zugang zum Meer und damit die Möglichkeit des Kontaktes mit der übrigen Welt (208).
Politik: Wo es keine scharfe Naturgrenze gibt, soll der Staat mit der Volksgrenze zusammenfallen, da jede Erweiterung mehr Schaden als Nutzen stifte (310). Bei unzureichendem Boden und fehlendem Meer müsse alles getan werden, um die Mängel zu beseitigen. Sollten dadurch „fremde Volksgenossen“ Bürger des Staates werden, müsse dieser Nachteil in Kauf genommen und anderweitig ausgeglichen werden (309).
Fall 2a): Teile eines Volkes sind mit „fremden Völkern bürgerlich verbunden“ (307).
Politik: Hier verlange „die heilige Stimme der Menschheit (…) die Befreiung unserer Brüder von dem Joche der Knechtschaft“ (313).
Fall 2b): Die „abgerissenen Volksgenossen“ wohnen „jenseits der Marken (…), welche die Natur so deutlich und unverkennbar aufgestellt hat“ (314).
Politik: Nehme man für sich selbst natürliche Grenzen in Anspruch, könne man sie anderen nicht verweigern. So bleibe nur, die „Volksgenossen“ zurückzuziehen, was „das Edelste und Schönste“ wäre, oder auf „die Unglücklichen“ zu verzichten und ihnen den raschen Verlust ihrer „Volksthümlichkeit“ zu wünschen. Ihr verhindertes Mitwirken am Staat müsse dann anderweitig kompensiert werden (314f.).
Fall 2c): Die „abgerissenen Volksgenossen“ wollen nicht „mit uns vereinigt“ werden, weil „unser Staat schlechter“ sei „als der fremde“ (315).
Politik: Die eigenen Einrichtungen müssen verbessert werden, damit „unsere Volksgenossen stets die Verbindung mit diesen Fremden als Knechtschaft ansehen, und sich zu uns, zum gemeinen Vaterlande, zurücksehnen, zu Freiheit und Liebe!“ (315f.).
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Fall 3: „Mehrere Staaten, alle rein volkstümlich, gehören zu einem Volke“ (317).
Politik: Alle Staaten sollen nach Außen als „ein Ganzes“ auftreten, während im Innern „der freieste Verkehr und das freieste Zusammenleben mit den Bürgern aller andern Staaten unsers Volks rechtlich erlaubt und gesetzlich gesichert seyn“ (318) müsse.
Fall 4: Dieser Fall „könnte nur aus dem zweiten und dritten zusammengesetzt seyn“ (307).
Keine Angaben.
B. Der Staat ist „nicht reinvolksthümlich“. Fall 1: Die „fremden Volksge- Politik: Der Staat muss sich auf seine Naturnossen“ wohnen „jenseits der marken zurückziehen; denn ein Volk, das Naturmarken, aber zerstreut“ „edel und verständig“ sei, werde seine (321). „Volksgenossen“ immer zurückfordern, und diese würden selbst auch immer zurückstreben. „Wir verlieren an äußerer Macht, aber wir gewinnen an innerer Stärke; wir verlieren an sinnlicher Größe, aber wir gewinnen an sittlicher Kraft“ (322). Fall 2: Die „fremden Volksgenossen“ leben zerstreut „innerhalb der natürlichen Gränzen unsers Staats“ (322).
Politik: Die „fremden Volksgenossen“ müssen das Bürgerrecht erhalten und im eigenen Volkstum aufgehen (322).
Fall 3: Die „fremden Volksgenossen“ leben „innhalb dieser Grenzen vereint“ (322)
Politik: Entweder könnte man „die Bürger eines fremden Volksthums über die Naturmarken unsers Staats entfernen, und auf diese Weise unsern Staat reinigen“, oder man könnte das „Streben der Natur“, ein einheitliches Volk zu bilden, unterstützen, um die fremden Bürger „in unsere Eigenthümlichkeit aufzulösen“ (323f.).
Mitten hinein in diesen nationalpolitischen Diskurs gehören die Anfänge der klassischen Geographie, die sich parallel dazu und von ihm inspiriert entwickelte und sich während ihrer „Laufzeit“ an den gleichen Problemen abarbeitete. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass der Kerngedanke der klassischen Geographie aus ihrer Anfangszeit, der trotz Anpassung an veränderte historische Umstände
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sowie mancherlei grundsätzlicher Kritik bis zu ihrem Ende lebendig blieb, in diesem Diskurs vorweg formuliert wurde. 2. VON DER STAATENKUNDE ZUR LÄNDERKUNDE Die Geographie wurde um 1800 traditionell in eine mathematische, eine physikalische und eine politische Geographie unterteilt, wobei letztere als Staatenkunde im Zentrum der Lehrbuchschreiber stand, während die ersten beiden meist als kurze Einleitungskapitel firmierten. Die Staaten waren die Raumcontainer des Geographen, die mit Informationen aller Art, seien es Objekte der Natur oder Artefakte des Menschen inklusive der Staatsverfassungen, gefüllt wurden. Selten wurden auch kausale Beziehungen angegeben. Änderten sich die politischen Grenzen, mussten neue Staatenkunden geschrieben werden. Nur in politisch ruhigen Zeiten war das Schreiben von Staatenkunden problemlos, in turbulenten Zeiten, in denen Staaten vergrößert oder verkleinert wurden oder gar ganz von der politischen Landkarte verschwanden, hinkten die Autoren den Veränderungen hinterher, und ihre Lehrbücher waren Makulatur, bevor sie vollendet waren. Vor dem Hintergrund dieser Krise der Staatenkunde wird verständlich, dass der Ruf nach einer „natürlichen“ Geographie, die ewig halten würde, zahlreiche Anhänger fand. Zeitgenössische Bestrebungen in der Wissenschaft, die physische Geographie auszubauen, und ein verändertes bzw. erweitertes Naturgefühl begünstigten diese Idee (Wisotzki 1897: 250ff.). Alles schien ganz einfach zu sein: Man brauchte nur den Wasserscheiden der großen Ströme bis zum Meer zu folgen und würde mühelos zu natürlichen Abteilungen gelangen, die nun als Länder den eigentlichen Gegenstand der Geographie abgeben sollten. Die Geographie sei nicht Staatenkunde, sondern Länderkunde. Das hatte den zusätzlichen Vorteil, sich endlich klar von der Statistik, einer Modedisziplin des 18. Jahrhunderts, abzusetzen, die ebenfalls Staatenkunden produzierte und in der Gunst des Publikums der politischen Geographie zeitweise den Rang ablief. Mochten sich die Statistiker weiterhin mit den wechselvollen politischen Konstellationen herumschlagen, der Geograph war das lästige Problem los. Dass die politischen Zeitereignisse bei diesem Paradigmenwechsel Pate gestanden hatten, bekunden viele Autoren der geographischen Lehrbücher selbst. Kaum hatten sich die politischen Turbulenzen mit dem Wiener Kongress gelegt, bekam die alte Staatenkunde wieder Auftrieb, so dass der Paradigmenwechsel zunächst gescheitert schien und die Länderkunde nur, aber immerhin, auf Sparflamme weiterlief. Eine erneute Chance kam für sie erst mit der endgültigen Akademisierung der Geographie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Da der Versuch, die inzwischen zu selbständigen und ebenso selbstbewussten Disziplinen herangewachsenen Erdwissenschaften unter die Vormundschaft der Geographie zu stellen, erfolglos blieb, erinnerte man sich der Länderkunde und erklärte sie mehrheitlich zum Proprium des Faches. Wer sich dem verweigerte, der sah sich von nun an mit dem Vorwurf konfrontiert, kein echter Geograph zu sein. Kerngedanke der Länderkunde war es seit Carl Ritter, das Verhältnis von Mensch und
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Natur resp. Volk und Raum als kausales Wechselverhältnis zu verstehen, aus dem an einer bestimmten Stelle der Erdoberfläche im Verlaufe der Geschichte eine regionale Natur-Kultur-Synthese hervorgegangen war. Länder wurden so zu physisch-kulturellen Ganzheiten mit individuellen, auf der Erde so nur einmal wiederkehrenden charakteristischen Zügen. Sie waren Unikate. Das Bild vom Raumcontainer, das die Möglichkeit eines Umsortierens der Inhalte bei Veränderung der Containergröße einschließt, passt auf sie nicht mehr. Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass der Anpassungsprozess von Ländern und Völkern im Einzelnen durchaus unterschiedlich gedacht wurde (Schultz 2008), sei es als ein Zueinanderfinden von a priori aufeinander abgestimmten „Partnern“, wobei die Völker auf ihren Wanderungen über die Erde den zu ihnen passenden Raum nur finden mussten, sei es lamarckistisch als Organanpassung durch Gebrauch, darwinistisch als Auslese der tauglichsten Einwanderer oder schließlich als Ergebnis einer von den geographischen Bedingungen geförderten Kommunikation, durch die sich auf dem Boden des jeweiligen Landes, das hier als Kontaktraum fungierte, gemeinsame Interessen herausbilden würden. Daneben gab es immer wieder auch Autoren, für die die Völker gleichsam aus dem Boden „wuchsen“ wie Pflanzen auf dem Felde. Oft aber wurden Landesnatur und Volkscharakter einfach nur diffus parallelisiert oder die Theorien zu unentwirrbaren Hybridformen vermengt. Worauf es aber stets ankam, war die Feststellung, dass Land und Volk zu einer unlösbaren Verbindung gefunden hatten. Je nach gewünschter Betonung der einen oder anderen Seite gab man dabei mehr den natürlichen Bedingungen oder mehr der inneren Mitgift des Volkes und seiner Kulturhöhe den Hauptanteil bei der Herausbildung der Land-Volk-Einheit. Wer sich nicht entscheiden konnte, beließ es bei der vagen Feststellung: Wie das Land, so das Volk, wie das Volk, so das Land. Auch wurde das Verhältnis zeitlich gedeutet, wonach anfangs die Prägung des Volkes durch das Land dominierte, später dann umgekehrt das Volk stärker auf das Land zurückwirkte, je mehr es sich aus den Zwängen der lokalen Bedingungen seines Landes befreite. Zur Feststellung solcher wechselseitigen Spiegelungen von Land und Volk dienten, wie schon in der Antike, schematische Vorwegannahmen. Hatte eine Landschaft keine hervorstechenden Züge, so zeigte auch das sie bewohnende Volk keine solchen. Zeigte sich die Landschaft dagegen in starken Gegensätzen, so sah man solche auch auf den Charakter des Volkes übergegangen. Demzufolge lebten in rauen, schroffen Landschaften herbe, kernige Menschen, in lieblichen Landschaften waren dagegen auch die Menschen gemütvoll und heiter. Als gesichert galt die Einwirkung des Klimas auf die „körperliche und geistige Spannkraft“ (Sapper 1917: 28) der Menschen. Die Arbeitsfreudigkeit, behauptete man, nehme nach Norden zu, während nach Süden die Verweichlichung wachse und eine eher behagliche Lebensauffassung vorherrsche. Ebenen nivellierten den Charakter der Menschen, Gebirge individualisierten ihn. Mit der Höhe der Gebirge schwächten sich die gebirgstypischen Eigenschaften ab, mit der Ausweitung der Ebene wuchsen diese fast ins Monströse. So schrieb der vielgereiste Ratzel-Inspirator Moritz Wagner 1856 über Russland:
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Dieses einförmige Land von Steppen und Föhrenwäldern, dieser flache schwerfällige ungeheure Körper war mit seinen Völkern von der Natur [dazu] verdammt zu werden was er war, ist und bleiben wird: einförmig und eintönig in seiner Cultur und Geschichte, gleich homogen und monoton als handelnde politische Großmacht und als Nation – in Sprache, Sitte, Religion, Denkart, staatlicher Einrichtung von schauerlicher Gleichförmigkeit, mit einer noch schauerlicheren Tendenz dieses trostlose Unisono seiner innern Gestaltung, seines Lebens und Schicksals auf alle von ihm bezwungenen Völker auszudehnen die unter gleichen Naturverhältnissen schmachten (1856: 1146).
Relativiert wurden solche Korrespondenzen durch die Feststellung, dass die Natur nicht immer und überall, sondern nur meistens so wirke, was „das Irrthümliche einer unbedingten Herleitung innerer Zustände von dem Einfluss der umgebenden Natur“ (Kriegk 1840: 243) zeige. Umgekehrt begehe man den gleichen Fehler, wenn man alle Tugenden und Laster eines Volkes als angeboren unterstelle. Vor allem aber dürfe man nicht den Einfluss des Kulturzustandes auf den moralischen Charakter der Völker übersehen. Mit der Behauptung, dass physische Unterschiede der Länder Unterschiede im Charakter und in der Lebensweise der Völker mitbedingen würden, um dies dann im Einzelfall aufzuzeigen, hätte sich die Länderkunde begnügen können – sie tat es nicht. Schon dass sie Länder und Völker als untrennbare Einheiten betrachtete, legte ihr nahe, die Staaten nicht zu ignorieren; denn solange mehrere Staaten an den Ländern Anteil hatten, wurde deren Einheit zerschnitten und durch die Einbindung in verschiedene politische Verhältnisse gestört. Die Anbindung der Staaten an die Länder erfolgte durch die Annahme, dass sie nicht nur erdgebunden, sondern auch erdbedingt seien. Gestalt und Formen der Erdoberfläche würden die Weichen für die Wanderung der Völker, den Gang der Kultur über die Erde und den Verlauf der politischen Geschichte stellen. So wurden die geographischen Bedingungen, summarisch als Landesnatur firmierend, nicht nur zu Kofaktoren bei der Ethnogenese, sondern auch beim nation building. Der Wille der Menschen, zusammenzubleiben, ging letztlich auf die Ein- bzw. Mitwirkung des Bodens zurück, für einige Geographen (wie auch manchen Nicht-Geographen) sogar primär. Speziell für Europa wurde immer wieder festgestellt, dass nicht nur im Falle von Inseln und Halbinseln, sondern selbst auf dem Kontinentalrumpf die meisten Staaten „im großen und ganzen mit natürlichen Abteilungen“ zusammenfallen würden, „deren Eigenart die Eigenart des Staates“ bestimme „oder wenigstens sehr“ (Hettner 1907: 66f.) beeinflusse. Die Länder waren somit potentielle Staatsgebiete, Hohlformen, in die die Völker hereinströmten und die sie schließlich auch politisch organisierten. Der Endzustand dieses zum Teil als Lernprozess konzipierten, aber unverkennbar teleologisch gedachten Prozesses lief darauf hinaus, dass Länder, Völker und Staaten sich nach längerem Hin und Her schließlich decken würden, ganz wie dies zu Beginn des länderkundlichen Denkstils um 1800 propagiert wurde. Die staatlichen Grenzen mussten natürlich linear gezogen werden, während man für die Länder schon bald feststellte, dass sie meist durch breite Säume voneinander getrennt seien und nur allmählich ineinander übergingen. „Physische Abtheilungen“, erläuterte Kriegk (1840: 12), seien „nicht als mathematische Figu-
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ren, sondern als Regionen zu betrachten“, deren Grenzen „durch ihr Inneres und von der Mitte aus bestimmt“ werden müssten. Naheliegenderweise beanspruchte der Geograph daher ganz im Sinne Heinrich Ludens für sich eine Politikberatung, sprich die Prüfung, ob und inwieweit sich Länder und Staaten deckten und ob die Grenzen auch wirklich innerhalb der natürlichen Grenzsäume lagen und sich dabei möglichst an auffälligen Naturobjekten orientierten. Fehlende Naturmarken sollten durch kulturlandschaftliche Merkmale substituiert werden. Die länderkundliche Geographie besaß somit von Anfang an durch ihre Erdung des Nationalstaates (Schultz 2000) auch eine praktisch-politische Ausrichtung. Sie konnte für sich in Anspruch nehmen, den langwierigen Prozess der historischen Anpassung von Ländern und Staaten, bei dem die „unsichtbare Hand“ der Natur ein normwidriges Handeln der Menschen durch ein Scheiternlassen à la longue korrigierte, durch wissenschaftliche Politikberatung entscheidend abzukürzen. Immer wieder mischten sich Geographen daher in Grenzdiskussionen und -revisionen ein, sei es, um Ansprüche fremder Mächte mit geographischen Argumenten abzuwehren oder umgekehrt Abtretungsansprüche an sie zu rechtfertigen. Aber auch bestimmte Bündniskonstellationen und Hegemonialverhältnisse wurden mit Argumenten der Landesnatur, der geographischen Lage und klimatischer Verhältnisse abgesichert oder gefordert, wie z.B. die Diskussionen um Mitteleuropa und die Stellung Europas in der Welt belegen (Schultz 1997, 2002), die in und außerhalb der Geographie die Gemüter in immer neuen Wellen bewegten. Als besonders schwieriger Fall erwies sich für die länderkundliche Geographie ausgerechnet Deutschland, dessen Gefährdung durch Frankreich einst die Etablierung des länderkundlichen Denkstils wesentlich beförderte. Der Vorschlag, Rhein und Oder als Deutschlands Naturmarken im Westen und im Osten anzunehmen, wurde mit der Niederlage Napoleons hinfällig. Der Deutsche Bund war für die deutsche Nationalstaatsbewegung eine Enttäuschung, und so kam die grundsätzliche Frage auf, ob Deutschland überhaupt für einen Nationalstaat geographisch geeignet sei. Seine Morphologie und Geologie schienen manchem Fachmann eher dagegen zu sprechen. Im Innern würden Gebirge und parallel fließenden Flüsse das Land zerstückeln und ihm (im Gegensatz zu Frankreich) eine Zentrallandschaft verweigern, im Westen sei seine natürliche Begrenzung lückenhaft, im Osten fehle sie ganz: Alles schien dafür zu sprechen, dass dem Deutschen nur die Wahl zwischen Kosmopolitismus oder Partikularismus, Offenheit gegenüber allem Fremden oder Eigenbrötelei übrigblieb. Dennoch entstand das Bild von einem geographischen Deutschland, das vom Kanal bis mindestens zur Wasserscheide zwischen Oder und Weichsel reichte. Als feste Marken setzten sich durch: die Hügel von Artois, der Südfuß der Ardennen, die Argonnen, die Vogesen, der Schweizer Jura, dann die Hauptalpenkämme und die Kleinen Karpaten. Sie bildeten den Rahmen einer spezifischen Abfolge von Flachland, Mittelgebirge und Hochgebirge, die erst als Dreistufigkeit, später als „Dreiklang“ beschrieben und zum Charakteristikum des geographischen Deutschlands erkoren wurde. Kulturgeographisch entdeckte der Länderkundler den deutschen Arbeitsgeist, der über alle Reliefbesonderheiten und Stammeseigenheiten hinweg diesem Land sein deutsches Gepräge gegeben habe. Der von Alfred Kirchhoff (1887, 1897) unter-
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nommene Versuch, das Bismarck-Reich von 1870/71 als geographisch begründet auszuweisen, konnte sich nicht allgemein durchsetzen, großdeutsche Auffassungen blieben virulent. Aus anderen Gründen kompliziert war für den Länderkundler der Fall Österreich-Ungarns. Als multinationaler Staat war er, länderkundlich betrachtet, ohne Zukunft. Viele reichsdeutsche Geographen hielten ihn für den ungeographischsten Staat Europas, sein Zerfall überraschte sie nicht. Österreichische Geographen urteilten naturgemäß anders, aber auch der berühmte Alpeneiszeitforscher Albrecht Penck, der bis 1906 in Wien lehrte und danach in Berlin, bestätigte im Ersten Weltkrieg Österreich-Ungarn, als „Lebensraum“ geradezu ein „Zwang geographischer Verhältnisse“ zu sein. Zwar bestehe dieser aus teilweise „sehr scharf umgrenzten kleineren Lebensräumen“, doch seien diese wiederum „zu einer höheren Einheit verknüpft“, so dass sich hier trotz „buntesten Völkergemischs“ (Penck 1917: 20) die Doppelmonarchie herauskristallisiert habe. Bewirkt sah Penck dies durch die geographische Anziehungskraft des Wiener Beckens auf die umliegenden Landschaften. Im Süden hätte die Monarchie ihm zufolge sogar noch über die Donau hinausgehen dürfen, im Norden greife sie aber schon über ihren natürlichen Rahmen, die Karpaten, hinweg. Nach dem Ersten Weltkrieg schlug Penck das neue Österreich und Böhmen mit Mähren dem „natürlichen Deutschland“ zu. Bezüglich der Stellung Europas unter den übrigen Weltteilen proklamierten Länderkundler mit naturwissenschaftlicher Gewissheit: Je stärker sich die Raumgestalt eines Kontinents einfachen geometrischen Figuren nähert, umso mehr bleibt die kulturelle Entwicklung seiner Bewohner zurück – und umgekehrt. Paradigma für eine einfache äußere Gestalt bei gleichzeitiger innerer Einförmigkeit waren Afrika und Australien, während Europas Gestalt (mit Ausnahme des kontinentalen Ostens) als die am besten entwickelte charakterisiert wurde. Aus ihrer einzigartigen, zerrissenen Küstengliedrigkeit bei nur schmalem kontinentalen Stamm sowie weiteren physischen Vorzügen vom vielgestaltigen, abwechslungsreichen Relief im Innern bis zum moderaten Klima leitete der Geograph das natürliche Recht Europas gegenüber den anderen Kontinenten ab, diese in seine direkte oder indirekte Abhängigkeit zu bringen und außereuropäische Gebiete zu kolonisieren. Ihre Ausbeutung konnte so als geographisch gebotene zivilisatorische Erziehungsaufgabe gerechtfertigt werden, weil die anderen Kontinente sich angeblich aufgrund ihrer natürlichen Bedingungen nicht aus eigener Kraft hätten weiterentwickeln können. Umstritten unter Geographen war, ob Europas Primatstellung auch auf Dauer so erhalten bleiben würde. 3. RATZELS DYNAMISIERUNG DES LÄNDERKUNDLICHEN RAUMDENKENS Die ursprüngliche Idee der natürlichen Grenzen und Länder ist an die Vorstellung gebunden, es gebe eine eindeutige und einmalige Gliederung der Erdoberfläche, die in sich das ontologische Potenzial für eine endgültige staatliche Gliederung enthält. Hätten erst einmal alle Völker ihre Länder gefunden oder umgekehrt alle
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Länder sich ihre Völker gemodelt, so wäre das Potenzial zur Realität geworden, und es bestünde kein Grund mehr für weitere Grenzveränderungen. Ein Friedenszeitalter könnte beginnen. Diese Konzeption taugte jedoch nicht als theoretische Legitimation für die raumgreifenden politischen Aktivitäten im Zeitalter des Imperialismus. Gebraucht wurde ein dynamisches Raumverständnis, das einerseits das länderkundliche Konzept der Geographie bewahrte, andererseits aber die ihm inhärente Erstarrung überwand und der seinerzeit Kultstatus genießenden Weltformel vom ewigen „Kampf ums Dasein“ eine geographische Grundlage verschaffte. Die alte Staatengeographie hätte dieses Problem nicht gehabt, denn sie nahm die politischen Grenzen, wie sie aus den Konflikten hervorgingen, ohne sie einer normorientierten Prüfung zu unterziehen. Die gesuchte Lösung lieferte Friedrich Ratzel mit seiner Anthropogeographie, seiner Völkerkunde, seiner Politischen Geographie und seiner Lebensraumtheorie. Auch wenn er explizit der damaligen Geologisierung der Geographie entgegentrat, so wollte er keineswegs die Geographie zu einer Sozial- oder Gesellschaftswissenschaft entwickeln oder ihrer naturwissenschaftlichen Seite eine gesellschaftswissenschaftliche zur Seite stellen. Die Anthropogeographie war für ihn vielmehr Teil einer umfassenden Biogeographie. Sie habe es „immer mit den Völkern innerhalb ihrer [natürlichen] Schranken zu tun“, sie sehe sie „immer nur auf ihrem Boden“, auf dem sich „auch die Gesetze des Völkerlebens“ (Ratzel 31909: 64) abzeichnen würden. Folglich arbeite sie auch „nur“ mit „geographisch zu formulieren[den]“ Gesetzen. Sie müsse herausfinden, „wie aus Raum, Lage und Gestalt der Länder Grundsätze für die Beurteilung auch des Lebens ihrer Völker zu gewinnen“ (ebd.) seien. „Das Wesentliche“, um das es gehe, sei, „zu erkennen, ob die Schicksale der Völker in einem gewissen Maße von ihren Naturumgebungen bestimmt“ (ebd.: 67) würden. Selbst im Falle der Einrichtungen von „Gesellschaft und Staat“, die primär „auf geistiger Basis“ ruhen würden, empfahl Ratzel, „die äußersten, aber wichtigsten Wurzeln“, die natürlichen, „wegen ihres Tiefgehens [nicht] zu übersehen“ (ebd.: 35). So war die konkrete Natur bei ihm immer als Hintergrundrauschen dabei. Mit dem Prüfauftrag „ob“ stellte Ratzel jedoch die Steuerung der Handlungen des Menschen durch die Naturbedingungen nicht etwa zur Disposition. „Länder“ seien „kraft ihrer natürlichen Ausstattung [dazu] bestimmt (…), der geschichtlichen Bewegung gewisse Formen zu geben und Richtungen zu erteilen“ (Ratzel 3 1909: 67). Es sei sogar möglich, „eine geschichtliche Gleichung mit anthropogeographischen Tatsachen so anzuschreiben, daß nur eine Größe unbekannt“ bleibe; diese aber gehöre „jedesmal der Zeit an“. „Ein Ereignis“ werde „unter gegebenen Größen-, Raum-, Lageverhältnissen eintreten“, man wisse „nur nicht wann“. Reiche „die Beobachtung über genügend ausgedehnte Zeiträume hin“, werde „die Wiederholung des Eintrittes des Ereignisses gestatten, der Rechnung einen noch höheren Grad von Sicherheit zu geben“ (ebd.: 64). Dass dies auch normativ gemeint war, wird daran deutlich, dass es für Ratzel Fehlentwicklungen gab, die der „Bestimmung“ eines Landes zuwiderliefen. „Das geübte Auge des tiefer blickenden Geschichtskenners“ werde jedoch „unter der Hülle einer bestimmungswidrigen, ungeographischen Geschichte die Züge jener Bestimmung da und dort fin-
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den“ (ebd.: 67). Und so blieben die „Naturgebiete“ auch für Ratzel weiterhin von zentraler Bedeutung, wobei er sich lediglich gegen die „widernatürliche Einschränkung“ wandte, diese seien „nur in natürlich umgrenzten Ländern“ (Ratzel 2 1903: 183) zu sehen. Vielmehr gelte: „Jeder Erdteil ist ein großes Naturgebiet“ (ebd.), wovon die Länder Unterabteilungen seien, die Merkmale ihres Erdteils trügen. Unter Völkern verstand Ratzel einerseits einen „Organismus“, der an Abstammungsgemeinschaften erinnerte, andererseits Großgruppen, die sich durch ein „Zusammenhangsbewußtsein“ auszeichneten, was dem heutigen Verständnis von vorgestellten Gemeinschaften nahekommt: Je höher dieses Zusammenhangsbewusstsein sei, desto größer würden Leistungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit eines Volkes. Bei manchen Völkern arbeite die Natur selbst „an deren Zusammenkittung“ mit, so bei Inseln oder „mit den Mauern und Wällen guter Naturgrenzen“ (Ratzel 1878: 190). An anderer Stelle definierte Ratzel Völker als bewegliche Körper, zusammengehalten durch Gleichheit [!] des Ursprunges, der Sprache, der Sitten, der Lage und oft am allermeisten durch das Schutzbedürfnis (Ratzel 1899: 69).
Im Widerspruch hierzu hieß es später bei ihm wieder, ein „Volk“ sei eine Gruppe der Menschheit, deren Glieder ursprünglich sehr verschieden [!] sein mögen, die aber durch Gemeinsamkeit des Wohngebietes und der Geschichte einander so ähnlich geworden sind, daß sie von einer anderen Gruppe wohl unterschieden werden können (Ratzel 1902/2: 667).
„Reine“ Völker gab es für Ratzel nicht, nur Mischgebilde. Die „Verdauungsfähigkeit für fremde Elemente“ wertete er positiv als Merkmal „gesunder und kräftiger“ Völker. Keinesfalls bräuchten kleinere Völker ausgerottet zu werden, vielmehr reiche die Überlegenheit der größeren aus, um sie „unmerklich aufzusaugen“ resp. „eine natürliche Anziehung“ und „natürliche Fähigkeit (…), kleine Völkersplitter ohne Zwang in sich aufzunehmen“ (Ratzel 1878: 192f.). Den „fanatischen Urteutonen“ (ebd.: 195) hielt Ratzel entgegen, dass Mischungen den Vorteil böten, „Zahl und Mannichfaltigkeit der Anlagen“ (ebd.: 194) zu steigern. Auch könnten den verschiedenen „Nationalitäten“ in einem Staat „verschiedene Functionen“ (ebd.: 195) zugewiesen werden, doch war ihm „ein so buntes und disparates Völkergemisch wie das der europäischen Türkei oder der österreichungarischen Monarchie“ dann doch „nichts Wünschenswerthes“ und die Hinzufügung eines erheblichen Bruchtheils fremden Volkes zu einer schon vorhandenen, fertigen Nation ein gefährliches Experiment (…), das nur in der Atmosphäre der größten Freiheit, [wie] in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten mit Glück versucht [werde] (ebd.: 196).
Von einer „langsamen, aber beständigen Aufnahme fremder Volkselemente, die [sich] in jedem noch so abgeschlossenen Volkskörper“ vollziehe, erwartete Ratzel dagegen einen „damit Hand in Hand gehenden Wechselverkehr und die wechselseitige Schätzung der Völker“ (ebd.), d.h. die Herausbildung eines „Kosmopolitismus“ oder „Weltbürgerthums“ im Sinne einer arbeitsteiligen Weltgesellschaft.
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Abgelehnt wurde von ihm hingegen ein „schrankenloses, an Pflichten und Neigungen armes Weltbürgerthum“ (ebd.). Der Weg vom „Volk“ zur „Nation“ führte bei Ratzel über den Staat: Die Nation ist ein Volk in politischer Selbständigkeit, oder fähig dazu; die Nationalität ist ein politisch unselbständiger Teil eines Volkes (Ratzel 1902/2: 674).
In seiner Politischen Geographie legte er, nachdem er zuvor den Staat als „ein Stück Menschheit (...) und zugleich ein Stück Erdboden“ definiert hatte, fest: Volk nenne ich (…) eine politisch [!] verbundene Gruppe von Gruppen und Einzelmenschen, die weder stamm- noch sprachverwandt zu sein brauchen, aber durch den gemeinsamen Boden auch räumlich verbunden sind (Ratzel 21903: 4f.).
Ratzel operierte demnach mit verschiedenen Volksbegriffen, die sich keineswegs deckten und teilweise widersprachen. Hier nun, bei der Nationswerdung der Völker, spielten die schon erwähnten „Naturgebiete“ eine wichtige Rolle. Ratzel postulierte, dass ein natürlich „geschlossenes Gebiet“ „früher das politische Verständnis für den Wert des Bodens“ reifen lasse und leichter „der politischen Bewältigung (…) zugänglich“ (Ratzel 2 1903: 182) sei als ein anderes. Das „gesündeste Wachstum“ eines Staates liege vor, wenn er „in natürliche Grenzen“ (Ratzel 1899: 75) hineinwachse. Jedes „Volksganze“ wolle „ein Naturganzes werden“ und „ebendeswegen ein geschlossenes oder doch übereinstimmend geartetes Gebiet für sich haben“ (Ratzel 21903: 183). „Ein Volk, ein Staat“ wachse „mit Vorliebe dahin, wo ihm ähnliche Bedingungen winken wie auf dem bisherigen Standort“ (ebd.: 101). Die „Frage nach der geographischen Selbständigkeit einer Landschaft“, also „der Behauptung ihrer Eigenart gegen die Umgebung“, sei „für die politische Geographie [daher] immer eine der wichtigsten“; denn „an geographische Selbständigkeit“ schließe sich „die politische an“ (ebd.: 185). Mit der politischen Organisierung des Bodens verband Ratzel zugleich die Vorstellung, dass Volk und Boden im Staat sich zu einer untrennbaren Einheit entwickeln würden, so dass sie nicht mehr voneinander getrennt gedacht werden könnten. Indem das Volk als „organisches Wesen“ durch „die Arbeit der Einzelnen immer inniger mit dem Boden“ verwachse, ziehe der Staat „gerade wie die Wurzeln einer wachsenden Pflanze immer mehr Nahrung aus seinem Boden“ und werde „immer fester mit ihm verbunden und auf ihn angewiesen“ (Ratzel 21903: 46f.). Durch dieses „Wachstum nach der Tiefe“ stärke er seine Grenzen und sichere seine Lage; er wurzele ein, was „mehr als bloß ein Bild“ (ebd.: 46f.) sei. Entsprechend verurteilte Ratzel „mechanische Gebietsverteilungen, die einen politischen Körper wie den Leichnam eines geschlachteten Tieres“ behandelten, weil sie verstümmelten, „was die Natur zur Einheit bestimmt“ (ebd.: 20) habe. Ratzel übertrug den Organismusbegriff jedoch nicht eins zu eins von Pflanzen und Tieren auf Völker und Staaten. Bei Letzteren bleibe der Einzelne ein Individuum, das „keine Faser und keine Zelle dem Ganzen“ opfere, „nur seinen Willen (...), indem er ihn hier“ beuge „und dort fürs Ganze wirken“ lasse. Ratzel sprach daher lieber von
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Aggregatorganismen, die erst durch die Wirkungen geistiger und sittlicher Mächte den höchsten Organismen nicht bloß ähnlich, sondern weit überlegen (...) an zusammengefaßtem Leben und Leisten [würden] (Ratzel 31909: 2).
Politisch-geographisch bezeichnete Ratzel den Staat sogar als einen „äußerst unvollkommenen“ Organismus (Ratzel 21903: 11); denn er sah sehr wohl, dass erst die „fortschreitende Organisierung des Bodens durch immer engere Verbindung mit dem Volk“ (ebd.: 7) den Staat zu einer Art Organismus machte. Bis hierher war Ratzel noch im Großen und Ganzen im Rahmen des traditionellen statischen Paradigmas verblieben, doch war mit der Ausfüllung eines Naturgebietes dieser Aggregatorganismus Staat für ihn keineswegs territorial gesättigt, im Gegenteil: Leben sei immer in Bewegung. „Nur vorübergehend“ raste es in den Naturgebieten, „zuletzt“ überflute es diese „immer wieder“ und suche sich „weitere Räume zur Ausbreitung“ (Ratzel 31909: 131). So folgten „die größeren Naturgebiete den kleineren, und die größeren“ wirkten „auf jeder Stufe als Ziele, denen das Wachstum“ (Ratzel ²1903: 188) zustrebe. Ratzel war damit das Kunststück gelungen, das ursprüngliche Konzept der natürlichen Länder, das einen stabilen Endzustand mit friedlich nebeneinander liegenden Staaten kannte, hinter sich zu lassen, ohne es aufzugeben: Auch die Expansion von Völkern und Staaten über die Grenzen der natürlichen Länder hinweg orientierte sich an der Ordnung der Natur, wobei die Völker stetiger wüchsen als die Staaten. Andererseits lobte Ratzel eine Politik, die „dem wachsenden Volke den unentbehrlichen Boden für die Zukunft“ sicherte, „weil sie die ferneren Ziele“ erkannt habe, „denen der Staat“ (Ratzel 21903: 11) zutreibe. Das war Bodenerwerb auf Vorrat, gedeckt vom „Gesetz des räumlichen Wachstums“, hier „der Staaten und Völker“ (Ratzel 3 1909: 159), doch konnte dieses Gesetz auch schon erfüllt sein, wenn es nur um wirtschaftliche Zusammenschlüsse oder die Ausweitung des Verkehrs ging. Damit war Raumbewältigung für Ratzel eine politische Daueraufgabe im „Kampf ums Dasein“ der Völker, der aus seiner geographischen Sicht nichts anderes war als ein „Kampf um den Raum“. Das klassische länderkundliche Denken hatte hiermit seine imperialistische Form erreicht. Der Geograph konnte einerseits mit bestimmten natürlichen Grenzen argumentieren und andererseits ihre Überwindung fordern. Die erste große Bewährungsprobe für dieses auf Expansion umgestellte neue Raumdenken kam mit dem Ersten Weltkrieg. Schon bei der Suche nach den Ursachen dieses Krieges kam der modifizierte Denkstil des länderkundlichen Paradigmas voll zum Einsatz. Nicht die Politik, sondern dauernde Naturnotwendigkeiten hätten diesen Krieg ausgelöst. Die Kämpfe „gesunder Staaten“, erläuterte Felix Lampe unter Rückgriff auf Ratzels Politische Geographie, seien nichts anderes als „naturnotwendige Wachstumserscheinungen (...) von biologischer Folgerichtigkeit“. Auf den aktuellen Weltkrieg übertragen, konstatierte er: Lageverhältnisse und Raumgrößen waren unhaltbar geworden, bedurften der Nachprüfung, wieweit innerer Wert und äußerer Anspruch, innere Kraft und äußerer Umfang noch einander entsprachen (Lampe 1915: 32).
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Hierin lägen „die Urgründe des Kampfes, Lebensraum [sei] das Ziel“ (ebd.: 31). Um dieses alternativlose Verhalten noch alternativloser erscheinen zu lassen, griff er auf das Bild eines Vulkanausbruchs zurück: Berge öffnen sich mit Flammenspiel, und aus den Feuerschloten wirbeln Schlacken oder fließt flüssiges Gestein der Tiefe; ringsum bebt das zitternde Erdreich. So schwellen auch auf dem Rücken der Erde die Völker oder schwinden zusammen, streben ihren Raum zu erweitern oder vermögen ihn nicht mehr zu erfüllen (ebd.: 31).
In einem ca. 1917/18 geschriebenen, aber erst nach dem Krieg publizierten Text wurde Lampe, der in der Weimarer Republik ein führender Geographiedidaktiker war, nicht müde, immer wieder herauszustreichen, dass Krieg ein „Ringen um Raumgewinn“ (Lampe 1919: 457) sei. „Die Erde ist für die Staaten eine unveränderliche Raumgröße; aber die Völker wachsen. Der Krieg entscheidet, wer Raum erhält und behält“ (ebd.: 487). „Der Mensch kann sich umso individueller ausleben, je mehr Raum ihm zur Verfügung steht; auch der minder eingeengte Staat kann sich selbstherrlicher entfalten“ (ebd.: 494). Der Geograph sieht im Staate selbst ein Lebewesen, das die Kraft, die im ruhenden Staatsraum steckt, durch das bewegliche Volk in Macht umsetzt. Gewalt herrscht darum im Staatenleben nicht minder, wie in der Natur überall, sei es Gewalt der Geister oder der Leiber (ebd.: 495).
Es gehöre „nicht mehr zu den Aufgaben der angewandten Geographie, (…) nach dem Grund für körperliche und geistige Ungleichheit der Rassen und Völker“ zu fragen, welche es mit sich bringe, „daß ein Teil der Menschheit Landschaften zu Fruchtgefilden“ umwandele, „die ein anderer verkümmern“ lasse. Wohl aber werde die „politische Geographie, weil sie im Staate die Frucht der Vermählung eines Teiles der Menschheit mit einem Stück Erboden“ sehe, „das Besitzanrecht eines Volkes auf ein Land“ danach beurteilen, ob es „in erst zu schaffender Zukunft“ in der Lage sei, „aus Boden, Luft und Wasser wohl das Meiste und Nutzbringende zu gestalten“ (ebd.: 496). Weniger dagegen sollte aus Lampes Sicht dieses Besitzanrecht „aus Ansprüchen nationalen Gehaltes oder verfassungsrechtlicher und konfessioneller Grundsätze“ (ebd.: 496) abgeleitet werden. Das bedeutete: Ein Volk, das die Potenziale seines Raumes nicht optimal zu nutzen verstand, hatte sein Recht auf diesen Raum verwirkt und ihn zur Invasion durch andere Völker freigegeben. Vor dem Hintergrund dieses Weltbildes, dem die Vorstellung eines Dauerkampfes um „Lebensraum“ zugrunde lag, wird verständlich, dass Lampe an den leuchtend bunten politischen Karten monierte, eine „Suggestivwirkung“ auszuüben, die „eine Verrückung der Grenzen als etwas das gewohnt gewordene Bild Verletzendes“ (ebd.: 461) erscheinen lasse. Abgesichert hatte er seine raumbellizistische Position durch die Überzeugung, dass sie „mit dem Auge des Naturforschers gesicherte Tatsachen“ wiedergebe, der Geograph, also er, daher „mit leidenschaftslos sachlicher Unparteilichkeit ohne Scheu auch auf geistige Veranlagungen der staatenformenden Völker“ (ebd.: 459) blicke. Mit dieser Position stand Lampe innerhalb der Geographie nicht etwa als Spinner isoliert da. Es war vielmehr Gemeingut zu glauben:
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Eng und klein ist die Fläche, welche uns Deutschen auf der Erde zur Verfügung steht. (…) Ein wachsendes Volk braucht Raum. Die richtige Lösung des Bevölkerungsproblems liegt auf politisch-geographischem Gebiete (Penck 1915: 9f.).
4. NEUE RAUM- UND GRENZKONZEPTE Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg kreiste das deutsche politisch-geographische Denken vorrangig um die Revision der Pariser Vorortverträge. Allerdings wurde keineswegs einheitlich argumentiert. Eine Reihe von Geographen blieb bei einem geozentrischen Weltbild und führte die Existenz geographischer Länder und die normative Kraft der konkreten Natur ins Feld, die den Völkern und Staaten ein für allemal ihren Platz zuweise, was auf lange Sicht zu einer Korrektur der aktuellen politischen Landkarte führen müsse. Andere teilten diese Gewissheit nicht; sie gingen ethnozentrisch resp. ethnovoluntaristisch vor und machten die Revision der Friedensverträge und die Rückkehr Deutschlands unter die Großund Weltmächte allein vom Willen des Volkes abhängig. Eine dritte Gruppe schließlich praktizierte ein Sowohl-als-Auch. Für sie gab es einerseits ein natürliches (geographisches) Deutschland, andererseits aber auch ein VolksDeutschland. In der Frage, ob diese sich decken sollten, war man sich nicht einig, alle aber verband, dass das gegenwärtige politische Deutschland kleiner sei als die beiden anderen Raumeinheiten und dass diese Situation auf Dauer so nicht bleiben könne. Eine steile Karriere machte in und außerhalb der Geographie Pencks Doppelbegriff vom „deutschen Volks- und Kulturboden“ (Schultz 22011) von 1925, der die angeschlagene Selbstachtung stärken und die Revisionspolitik stützen sollte. Als „Volksboden“ definierte der Quartärforscher den Boden, der von einem bestimmten Volk, wo auch immer, geschlossen oder streuinselartig besiedelt wurde, als „Kulturboden“ den Boden, der die Spuren des Arbeitsgeistes dieses Volkes im Bilde seiner Landschaft trug. Deutscher Kulturboden konnte also überall auf der Welt entstehen, er sei „nicht das Ergebnis besonderer geographischer oder klimatischer Verhältnisse“, sondern „das Werk bestimmt veranlagter Menschen, die die Natur nach ihrem Willen verändern“ (Penck 1925: 70). Entsprechend dem deutschen Charakter zeichne er sich durch Sauberkeit und Ordnung aus. Doch nicht jedem Volk gelinge die Entwicklung eines eigenen Kulturbodens. So hätten z.B. die Tschechen nur den deutschen Kulturlandschaftsstil kopiert; eine tschechische Kulturlandschaft gebe es nicht. Weniger dass Penck damit der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik womöglich vorgearbeitet hat, als vielmehr der Grad dieser Vorarbeit ist in der heutigen Aufarbeitung der damaligen Volkstumsforschung umstritten. Sicher aber haben seine Begriffe und seine hartnäckige Herabsetzung der kulturellen Leistungsfähigkeit der Slawen die Wahrnehmung des Ostens als „Traumland“ künftiger deutscher Besiedlung gefördert. Zumindest hat Penck solche Phantasien durch keinerlei Klarstellung gebremst. Penck kannte aber auch, worüber Historiker meist und Geographen manchmal hinwegsehen, den Begriff eines geographischen Deutschlands:
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Hans-Dietrich Schultz Deutschland ist für uns eine geographische Einheit und nicht bloß ein politischer Begriff. (…) Was seit Jahren als Deutschland gilt, ist ein bestimmter Teil der Erdoberfläche mit charakteristischen Eigenheiten, von eigener Gestalt (Penck 1928: 1).
Ein „Zusammenfallen von geographischen Gestalten mit Volks- und Staatsräumen“ im Sinne einer „natürlichen Zweckbestimmung“ lehnte Penck ab, die Erdoberfläche schaffe keine Staaten, Menschen würden vielmehr natürliche Gegebenheiten für die Staatsbildung nutzen. Gleichzeitig unterstellte er aber, dass der Wille der großen Masse „unter stiller Beeinflussung von seiten ihrer Umgebung“ stehe, wobei „harmonische Landschaften (…) das Gefühl von Zusammengehörigkeit und den Wunsch des Zusammenschlusses“ (ebd.: 9) zeitigen würden. „Diese Wirkung“ könne „zu einer dauernd wirkenden, Staaten bildenden Kraft führen, welche ebenso dem Willen des Einzelnen wie der zündenden Macht einer Idee“ trotze: „Auf die Dauer ist die Natur stärker als der Mensch“ (ebd.: 9). Während Penck also weiterhin in Anlehnung an das klassische Paradigma in natürlichen Ländern eine mögliche Basis von Staaten sah, gingen andere Geographen konsequent dazu über, physischgeographische und anthropogeographische Räume nicht mehr kausal und/oder normativ aufeinander zu beziehen, sondern Grenzfragen nur unter völkischen Gesichtspunkten zu betrachten. In einer methodischen Skizze zum Grenzthema konstatierte Moritz Durach, dass die vom Menschen gemachten Grenzen „wesentlicher“ seien „als die sogenannten ‚natürlichen’, und daß auch in Grenzfragen der alte Satz“ gelte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ (1938: 890). Setze man „Volksgrenzen und Naturgrenzen zueinander in Beziehung“, so müsse man jeder „absoluten Bewertung irgendwelcher sogenannten Naturgrenzen“ (ebd.: 896) widersprechen, vielmehr gelte es, die oft reichlich hohe und theoretische Einschätzung der Naturgrenzen ab[zu]werten und dafür die Volksgrenze als die in Wahrheit natürlichste unter allen Naturgrenzen ihrer Bedeutung gebührend ein[zu]schätzen (ebd.: 896).
Anknüpfend an Ratzels „Begriff der Bewegungsgrenze“ (ebd.: 890), bestimmte Durach: „Jede Grenze ist Kraftlinie oder Kraftliniensystem; anders wäre sie nicht Grenze, sondern Ende“ (ebd.: 891). Wie die Staatsgrenze sei auch die „lebendige Volksgrenze“ durch ein „immer vorhandenes Wachstumsbedürfnis gekennzeichnet“. „Natürlich“ sei dieses, wenn ein „Lebensraum“ noch nicht voll erschlossen und „natürliche Lebensraumschranken“ noch nicht überwunden seien, „unnatürlich“, „wenn es hemmungslos, mit einem phantastischen Fernziel in fremden Volksbereich“ einbreche „und dabei das eigene Vermögen weit“ (ebd.: 897) überschätze. Generell konstatierte Durach: Für lebensstarkes Volks- und Staatstum gibt es schlechthin keine unüberwindbaren Naturgrenzen, sondern nur natürliche Hindernisse, von denen der Anreiz zum Überwinden [ausgehe].
„Das Überwinden von Naturgrenzen“ könne „geradezu zum Gradmesser völkischer und staatlicher Willenskraft“ (ebd.: 897) erhoben werden. Das gelte für alle „lebenskräftigen“ Völker. Durachs Grenzstudie endete mit einer Apotheose der Volksgrenze, „weil sie das höchste naturgewollte Gebilde dieser Erde in seinem
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ewig bewegten Umriß sichtbar“ mache: „das Volk“ (ebd.: 898). Volksnatur schlug Erdnatur! Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei wurde Durach wieder geographischer im klassischen Sinne. Bislang habe man „die Unterschiede und Grenzen des sudetendeutschen und des tschechischen Volksraumes scharf“ hervorgehoben, jetzt gelte es „gewisse Blickhemmungen“ aufzugeben und zu erkennen, daß über der nach wie vor bestehenden völkisch-lebensräumlichen Zweigliedrigkeit die natürliche Verklammerung zur ausgeprägtesten Lebensraumkammer Mitteleuropas besteht, eine Großkammerung, die im Kartenbild eindrucksvoll sichtbar und in der Natur draußen allenthalben spürbar ist (Durach 1939: 105f.).
Wie war das mit der These vom völkischen Charakter aller Grenzen zu vereinbaren? Kein Problem für Durach! Während der „deutsche Lebensraumpartner in dieser Kammer die sogenannten ‚natürlichen’ Grenzen siedlungsräumlich überwunden“ habe, habe der tschechische „in ziemlicher Achtungsentfernung vor ihnen“ Halt gemacht. Von einer „zweivolklichen Siedlungsharmonie“ wollte Durach aber dennoch nicht sprechen. „Der böhmische Großkessel als geschlossener und machtpolitischer Raum“ dulde „eben jeweils nur einen Herrn“ (ebd.: 106). Dabei sei Böhmen als oberes Elbegebiet „dem Norden zugeordnet“ und Mähren mit dem Marchgebiet als „Nebenkammer des oberen Donaubeckens“ dem Süden, und so erstrecke sich das Protektorat Böhmen und Mähren „lebensräumlich zwei-gesichtig (…) über die natürliche Lebensraumschranke der BöhmischMährischen Höhen“ hinweg und stelle „enge Lebensbeziehungen zwischen hüben und drüben“ (ebd.: 107) her. Andere Geographen blieben auch in der Zeit des Nationalsozialismus dabei, dass selbst „Leistungsvölker“ unerbittlich dem Einfluss der geographischen Bedingungen der jeweiligen Landesnatur unterlägen. Aus der „grossen Konstanz in der Verbreitung der Arten in der gesamten organischen Welt“ bezog z.B. Hans Graul die Warnung, „die Versuche menschlichen Willens, die Schranken der Natur zu durchbrechen und überall zu siedeln, zu hausen und zu wirtschaften, falsch einzuschätzen“. Solche Versuche seien „biologisch gesehen nur kurze Vorstösse einer Rasse, um die Grenzen ihres Lebensraumes zu ertasten“. Lerne eine Rasse aus ihren Verlusten nichts, werde sie „immer noch mehr verlieren“ und müsse „schliesslich zugrundegehen“ (Graul 1941: 23). Von einer „physiologischbiologischen Untersuchung der deutschen Ostbewegung“ erwartete er den Nachweis, dass „der deutsche Siedler [sich] mit sicherem Gefühl“ durch die Landesnatur „unbewußt“ habe lenken lassen; denn auch der Mensch bleibe „ewig ein Stück der Natur, und in dieser ist auf die Dauer nichts zu erzwingen, was ihrem Wesen nicht entspricht und angepaßt ist“ (Graul 1942: 349). So seien die in Landschaften zusammengefassten natürlichen Erscheinungen gleichsam der „experimentelle Beweis für die Annahme, welche die Naturwissenschaft zu einer Ökologie der Menschenrassen“ (ebd.: 348) aufstelle. Grauls Aufmerksamkeit galt besonders dem Ergebnis „des Umvolkungs- und Ausmerzungsvorganges“ (ebd.: 348) in den Gebieten der deutschen Ostkolonisation.
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5. RÜCKBLICK UND AUSBLICK Der Kern des länderkundlichen Denkens bestand aus einem kausalen und/oder normativen Nexus zwischen Ländern, Völkern und Staaten, wobei anfangs apriorische Konstruktionen vorherrschten, zu denen später eine auf Ratzel zurückgehende Dynamisierung und Flexibilisierung trat, ehe mit der völkischen Wende der Geographie der Schwerpunkt der Argumentation bei einer Reihe von Geographen ganz auf die Seite des Menschen überging. Mit der seit den 1930er Jahren wachsenden Einsicht, dass physische und anthropogeographische Erdraumgliederungen zwei grundverschiedene Dinge seien, war der Kern des ursprünglichen Paradigmas verlassen, der Weg für eine eigenständige Entwicklung der Geographie des Menschen nicht mehr grundsätzlich verbaut. Kritik von Geographen (wie Nicht-Geographen), die die Eigengesetzlichkeit des Politischen betonten und die Suche nach natürlichen Grenzen zur Legitimation von Staaten für verfehlt hielten, begleiteten das länderkundliche Denken allerdings von Anfang an. So stellte z.B. Spörer (1870: 351) klar: Wohl findet die Staatengestaltung naturgemäss auf geographischer Basis statt und giebt es unleugbare Naturgrenzen, – aber diese sind an Verträge gebunden und haben nur so lange Geltung, als der Staat den Willen und die Macht hat, seiner Grenze Achtung zu verschaffen. (...) So lange es Staaten auf dem Erdboden gegeben hat, war ihre Existenz eine Machtfrage, die erbarmungslos durch Eisen und Blut entschieden wurde.
Und der Ratzel-Schüler Ernst Friedrich (1909: 46) konstatierte: Alle Fortschritte der Staatswesen zu höheren Formen über die primitivste Form hinaus, also überhaupt zur Mannigfaltigkeit, zur geographischen Verbreitung der Staaten, beruhen auf der psychischen Steigerung der Menschen als der staatsbildenden Wesen, deren Schaffen auf der Naturunterlage in deren Formen nur auszunutzende oder zu überwindende Materie sehen kann. Nur in den Anfängen der Staatenbildung ist die Natur von erheblichem Einfluß auf ihren Erfolg; heute ruhen die Grenzen der Staaten nicht in Naturverhältnissen verankert, sondern in der Kraft ihrer Völker.
Dennoch besaß die Idee einer Formierung und Normierung von Politik und Gesellschaft durch die Physik der Erdoberfläche eine solche Attraktivität, dass sie sich im deutschsprachigen Raum in Ausläufern bis in die 1970er Jahre halten konnte. Selbst heute gibt es noch Spuren solchen Denkens, so etwa, wenn der Historiker Michael W. Weithmann die „ineinander verschachtelten Bergketten“ (21997: 13) mitverantwortlich macht für den ausgeprägten Partikularismus Südosteuropas und Jared Diamond unter der Kapitelüberschrift „Die Zukunft der Geschichte als Naturwissenschaft“ (1998: 501) die Ursachen für Europas Erfolgsgeschichte u.a. auf seine Küstengliederung und seine Kleinkammerigkeit im Innern zurückführt. Abgesehen von solchen Einzelstimmen ist die klassische Länderkunde jedoch Vergangenheit. Für das Auseinanderfallen Jugoslawiens und der Sowjetunion werden in der Geographie von heute andere Faktoren verantwortlich gemacht, nicht mehr die stille Wirkung der Erdnatur, während sich z.B. Penck, der einst einen unabhängigen ukrainischen Staat geographisch legitimiert hatte, voll bestä-
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tigt fühlen könnte, wenn er noch lebte. Die Gegenstände der physisch-materiellen Welt sind für die politisch-soziale Welt an sich bedeutungsindifferent, erst wenn sie unter bestimmten soziokulturellen, ökonomischen und politischen Perspektiven bestimmte Zwecke erfüllen sollen, werden sie mit Bedeutungen versehen resp. aufgeladen und können nun der Gesellschaft dienen, nicht zuletzt zur räumlich-politischen Orientierung. Raumkategorien basieren nicht auf ontologischen Vorgaben, sondern haben ihre Geschichte. Auf eine kurze Formel gebracht, bedeutet dies: „Räume sind nicht, Räume werden gemacht“ (Schultz 1997). Die klassische Geographie erlag dagegen der Illusion, dass eine Geo-Politik, die sich an den Gegebenheiten der konkreten Natur orientierte, allgemeingültig und frei von einseitigen Parteiinteressen sei, weil die Natur selbst (z.B. die Urstromtäler) die Richtung des Handelns vorschreibe. Im Gegensatz dazu geht es der gegenwärtigen Politischen Geographie (Lossau 2000, Ó Tuathail 1996, Reuber/Wolkersdorfer 2005, Wolkersdorfer 2001) nicht mehr darum, das ontologisch-normative Potenzial der Erdräume zu mobilisieren, um daraus eindeutige Handlungsanweisungen abzuleiten, sondern allein darum, sie als gesellschaftlich konstruierte Raumbilder zu verstehen, die es zu dekonstruieren, zu kontextualisieren und interessenfokussiert kritisch zu hinterfragen gilt: Wer hat aus welchen Gründen und zu wessen Nutzen oder Schaden mit welchen Raumbildern in welchen Kontexten operiert und die politischen Diskurse in eine bestimmte Richtung lenken wollen bzw. erfolgreich gelenkt? Wie wurde darauf reagiert? Welche Gegenkonzepte hat es gegeben? Konnten sie sich durchsetzen bzw. warum nicht? Usw. LITERATUR Aichen, M. (1833): Ueber das physische Element der Bildung und der Wechsel-Verhältnisse der Staaten, oder Natürliche Diplomatik. Stuttgart. Arndt, Ernst Moritz (1803): Germanien und Europa. Altona. Diamond, Jared (1998): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt/Main. Durach, Moritz (1938): Grenze. Eine methodische Skizze. Zeitschrift für Erdkunde 6: 890–898. Durach, Moritz (1939): Böhmen und Mähren wieder Glieder des Reiches. Petermanns Geographische Mitteilungen 85: 105–110. Eisel, Ulrich (2008): Moderne Geographie mit atavistischen Methoden. Über die undeutliche Wahrnehmung eines deutlichen Paradigmas. Klassische Geographie. Geschlossenes Paradigma oder variabler Denkstil? (= Berliner Geographische Arbeiten 111). Berlin: 1–37. Fichte, Johann Gottlieb (1800): Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und Probe einer künftig zu liefernden Politik. Tübingen. Friedrich, Ernst (1909): Die Fortschritte der Anthropogeographie (1891–1907). Geographisches Jahrbuch 32: 2–68. Gatterer, Johann Christoph (1775): Abriß der Geographie. Göttingen. Graul, Hans (1941): Aufgaben und Bedeutung der Sektion Landeskunde. Deutsche Forschung im Osten 1: 21–27. Graul, Hans (1942): Die naturlandschaftliche Gliederung des Generalgouvernements und ihre Bedeutung. Zeitschrift für Erdkunde 10: 337–350. Hettner, Alfred (1907): Europa. Grundzüge der Länderkunde 1. Leipzig/Berlin. Jahn, Friedrich Ludwig (1810): Deutsches Volkstum. Leipzig.
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RAUM, STAAT UND GESCHLECHTERKONSTRUKTIONEN IN FEMINISTISCHEN ZUGÄNGEN ZUR P/POLITISCHEN GEOGRAPHIE Anke Strüver
1. EINLEITUNG Das Verhältnis von Staat, Geschlecht(-erkonstruktionen) und Raum hat lange Zeit weder in feministisch-politikwissenschaftlichen Debatten noch in feministischen Ansätzen der Politischen bzw. der Sozialgeographie eine nennenswerte Rolle gespielt. Vielmehr stand bis weit in die 1990er Jahre eine so intensive Abarbeitung an dem Anspruch „Das Private ist politisch!“ im Vordergrund, dass „der Staat“ – und auch der nationalstaatliche (Container-) Raum – als zentrale Begriffe des Politischen unterthematisiert blieben und die Forderungen nach einem erweiterten Politik-Begriff im obigen Sinne sowie nach einem Aufbrechen der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung vorrangig behandelt wurden. Gleichwohl stellt die zentrale feministische Kritik an der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, den daran gekoppelten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie damit konnotierten Dimensionen von Räumlichkeit eine aufschlussreiche Perspektive dar, um das Verhältnis von Staat und Raum(pro-duktion) in politikwissenschaftlichen wie geographischen Auseinandersetzungen kritisch zu durchleuchten und hinsichtlich ihrer Potenziale für eine stärkere Berücksichtigung der Rolle von Räumlichkeit in gesellschaftlichen Prozessen herauszuarbeiten. Dies wird nicht zuletzt im Kontext der neoliberalen Transformation ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse relevant, durch die der Staat nicht länger als „die Anti-Institution“ feministischer Politik und Praxis gilt. Insbesondere in poststrukturalistisch orientierten feministischen Überlegungen zur Konstitution von Geschlecht(-ern) und geschlechtlich codierten Machtstrukturen rückt analog zur Dekonstruktion der Vorstellung einer vermeintlich homogenen Gruppe „der Frauen“ – die gegen „die Männer(-herrschaft)“ antritt – zunehmend eine Beschäftigung mit dem Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Raum in den Vordergrund. Dieses Verhältnis umfasst die Aspekte, wie (1) Geschlechterverhältnisse und ihre Kopplung an die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit den Staat konstituieren und wie (2) staatliche Institutionen und Praktiken vergeschlechtlichte Subjektidentitäten sowie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und zwischen Öffentlichkeit und Privatheit (re-)produzieren und regulieren.
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Anke Strüver
Trotz der anhaltenden feministischen Abarbeitung an der vergeschlechtlichten Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit einerseits sowie dem Ziel der Politisierung und damit „Ver-Öffentlichung“ des Privaten andererseits kommt der direkten Übertragung auf konkrete Räumlichkeiten allerdings wenig Aufmerksamkeit zu – auch nicht in der feministischen Geographie: Sowohl die Beiträge aus der angloamerikanischen als auch die (ohnehin wenigen) aus der deutschsprachigen feministischen politischen wie Politischen Geographie1 konzentrieren sich zumeist entweder auf die Wechselverhältnisse zwischen staatlichen Institutionen und Geschlechterkonstruktionen oder auf an diese Geschlechterkonstruktionen gebundenen Raumproduktionen (vgl. Bauriedl et al. 2010; England 2003; Hyndman 2004; Sharp 2003, 2007; Staeheli et al. 2004; Wastl-Walter 2010). Dieser Beitrag arbeitet anhand der jüngeren Diskussionen innerhalb der feministischen Politikwissenschaften (Abschnitt 2.) und der feministischen p/Politischen Geographie (Abschnitt 3.) die dominanten Themen und gesellschaftstheoretischen Positionen heraus. Als Folge des Perspektivenwechsels im Sinne der Politisierung des (vermeintlich) Privaten konzentrieren sich diese zunehmend auf das verkörperte Subjekt – auf geschlechtlich codierte Subjektidentitäten als konstituiert durch und konstitutiv für staatliche Institutionen und deren soziale und räumliche Regulationsformen (Abschnitt 4.). Dabei verweisen die Themen weiterhin auf die Kritik an der dominanten Wechselbeziehung von „politischer Öffentlichkeit“ und „apolitischer Privatheit“, indem sie darauf abzielen das Private zu politisieren und das Konzept des Politischen zu erweitern: Das Politische umfasst dann neben institutionalisierten Formen und Räumen auch und insbesondere soziale und räumliche Praxen, die jenseits des Staates/Staatsterritoriums auf unterschiedlichen Maßstabsebenen wirk„mächtig“ sind. Mit der Vielfalt an Machtbeziehungen wiederum beziehen sie auch die Vielfalt und Untrennbarkeit von Scales mit ein, so dass die Themen der feministischen p/Politischen Geographie von der internationalen Grenz- und Migrationsforschung sowie nationalen Identitäten über regionale und soziale Formen der Arbeitsteilung bis hin zu Aspekten der Sexualität, der Körperlichkeit, der Gesundheit u.v.a.m. reichen (Abschnitt 5.). Letzteres, die explizite Fokussierung auf die Mikroebene in Rückbindung an nationale und globale Konflikte und Strukturprozesse (wie bspw. Krieg oder Migration), wiederum schließt an die Fachdebatten zur Skalierung an, um die gesamte Bandbreite räumlicher Maßstabsebenen zu berücksichtigen und die klassische Konzentration auf den Nationalstaat bzw. die daran gekoppelte Dreiteilung „global – national – lokal“ um das verkörperte Subjekt in multiskalarer und relationaler Perspektive zu erweitern.
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Die Differenzierung in politische und Politische Geographie beinhaltet im Erstgenannten einen gesellschaftspolitischen Anspruch und verweist im Letztgenannten auf die Teildisziplin – der vorliegende Beitrag behandelt beide Zugänge (siehe Abschnitt 3.).
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2. ERSTE PROBLEMATISCHE BEZIEHUNG – FEMINISMUS UND STAAT: „FEMINISM HAS NO THEORY OF THE STATE“2 Trotz zunehmender Etablierung und teilweise sogar Institutionalisierung feministischer Positionen in den Politikwissenschaften gibt es auch mehr als zwanzig Jahre nach Catharine MacKinnons Feststellung keine ausformulierte(n) feministische(n) Staatstheorie(n). Gleichwohl wurde und wird Kritik an bestimmten staatstheoretischen Aspekten bzw. an staatlichen Institutionen und Praktiken aus feministischer Perspektive geübt und es gibt daher eine Vielzahl von feministischen Positionen zum bzw. gegen den Staat, z.B. das Verständnis vom „Staat als Männerbund“ (Kreisky 1992). Diese Formulierung bezieht sich vor allem auf die staatliche Binnenstruktur und kritisiert den modernen Nationalstaat als traditionelle Arena ritualisierter Männerkonkurrenz und -kooperation, als historisch männerzentrierte Institution. Ein erweiterter Zugang erfasst den Staat als geschlechterhierarchisches, da patriarchales Unterdrückungssystem und verweist auf die staatliche Außenstruktur, d.h. auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaftsstruktur. Beide Analyseebenen haben zu einer feministischen Skepsis gegenüber dem Staat geführt, da Frauen und Männer nicht gleichberechtigt an politischen Institutionen teilhaben und in unterschiedlichem Maße von dort gefällten Entscheidungen berührt sind. Gemein ist beiden Positionen zudem ein Verständnis vom Staat als Institutionalisierung eines Herrschaftsverhältnisses, nämlich des Geschlechterverhältnisses und somit die Auffassung vom geschlechterhierarchischen Staat, der zugleich Produkt als auch Produzent gesellschaftlicher Ungleichheiten ist.3 Da die Formierung der modernen Nationalstaaten mit einer geschlechtsspezifisch hierarchischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in zwei Arbeits- und Lebensbereiche einherging, wurde die traditionell weibliche Sphäre, der Privathaushalt, nicht als aktiver Bestandteil des Politischen begriffen – den es gleichwohl von der Politik zu kontrollieren galt. Diese Trennung offenbart zugleich die vergeschlechtlichte Struktur des Staates und seiner Institutionen entlang von ideologischen Männlich- und Weiblichkeitsrollen sowie der daraus resultierenden geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung und Raumzuweisung (politisch-öffentlich/privat-privat). Die dezidierte Unterteilung der Analyse- bzw. Kritikebenen in Binnen- und Außenstruktur wiederum geht auf zwei sich grundlegend unterscheidende feministische Positionen zurück, den Streit um Autonomie oder Institution.
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MacKinnon 1989: 159 Diese eindimensionale Sicht wird erst durch den poststrukturalistischen Feminismus abgelöst; s.u.
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2.1. Autonomie oder Institution? Antietatistische und staatsreformerische feministische Positionen Eine konsequente Ablehnung des Staates durch Feministinnen ist als spezifisch deutsches Phänomen aus den Anfängen der „Neuen Frauenbewegung“ einzuordnen (vgl. Ludwig et al. 2009). Die so genannte autonome Frauenbewegung hatte ein antiinstitutionelles und damit auch antistaatliches Selbstverständnis und konzentrierte sich auf die Politisierung der Privatsphäre. Der Staat als solcher wurde als zentralisierter Gewaltapparat, als exklusiv männliche, hierarchisch-patriarchalische und nicht-reformierbare, repressive Organisationsform abgelehnt. Verstehen lässt sich diese Ablehnung z.T. durch die Einordnung in den essentialistischen Differenzfeminismus, der auf der Annahme eines grundlegenden Unterschiedes zwischen Männern und Frauen basiert. Die oftmals als Gleichheitsfeminismus bezeichnete Position hat sich hingegen – und in Abgrenzung zur autonomen Selbstorganisationspolitik – aus einem häufig marxistisch geprägten Staatsverständnis heraus auf die Kritik am Sozialstaat gestützt, insbesondere auf das, Frauen benachteiligende, Sozialversicherungs- und Rechtssystem. Vertreterinnen dieser Richtung betrachten den Staat nicht nur als patriarchales Herrschaftsinstrument, sondern sehen in seinen Institutionen auch geeignete Instrumente zur Überwindung der Geschlechterungleichheiten. Durch Übernahme von politischen Führungsämtern, Durchsetzung von Frauenförderplänen und Gleichstellungsbeauftragten wird eine Institutionalisierung oder gar Verstaatlichung der Frauenbewegung angestrebt. Dahinter steht das Ziel, staatliche Instrumente wie die Gesetzgebung zugunsten von frauenpolitischen Interessen zu nutzen.4 Im Kontext der feministischen Kritik am Sozialstaat wurde u.a. die trotz formaljuristischer Gleichstellung schlechtere materielle Absicherung von Frauen in sozialen Notlagen thematisiert – die in der lohnarbeitszentrierten Struktur des Sozialversicherungssystems angelegt ist – und darauf aufbauend deren ununterbrochene Reproduktion durch die Mechanismen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Gefordert wurde daher eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs um nichtentlohnte Haushaltsarbeit und Fürsorgetätigkeiten sowie ein „feminisierter Sozialstaat“ (zusammenfassend, vgl. Braun/Jung 1997). 2.2. Die vergeschlechtlichte Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit Beide feministische Positionen konzentrieren sich somit stark auf die gesellschaftliche Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Sie kritisieren u.a. anhand des Slogans der Neuen Frauenbewegung „Das Private ist politisch!“ die geschlechtlich codierte Trennung der Arbeitsbereiche und betonen zum einen, dass das Private durchaus staatlich reguliert und kontrolliert wird und zum anderen, dass ge4
Die bekannteste daraus abgeleitete Politikform ist sicherlich das „Gender Mainstreaming“; s.u.
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rade die Trennung der beiden Bereiche zur strukturellen Benachteiligung von Frauen führt. Dennoch gilt in den Politikwissenschaften und in der Staatstheorie (und auch in der Geographie) das Private meist als die zu vernachlässigende Sphäre, während die Öffentlichkeit als Voraussetzung für Politik bzw. politisches Handeln begriffen wird. Öffentlichkeit als sozialer und geographischer Raum bzw. als bestimmte Aktionsform steht dabei Privatheit konzeptionell gegenüber. D.h. beide Sphären werden oftmals als abgrenzbar voneinander verstanden – und beide Sphären werden „eindeutig“ mit jeweils einem Geschlecht assoziiert. Öffentlichkeit und Privatheit sind jedoch weder soziale noch räumliche Konstanten, sondern basieren auf dualistisch angelegten Konnotationsketten wie „privat/feminin/emotional“ und „öffentlich/maskulin/rational“ und führen zu gesellschaftlichen Zuschreibungen an vermeintlich „spezifisch“ weibliche bzw. männliche soziale und räumliche Handlungsfelder. Während sich die „antietatistischen Feministinnen“ dieser Trennung über die Forderung nach einer Politisierung der Privatsphäre annähern, treten die „Staatsfeministinnen“ für eine Institutionalisierung frauenpolitischer Interessen auf der Ebene der Öffentlichkeit ein. Obwohl sich beide Positionen intensiv mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und somit zwangsläufig der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit beschäftigen, ist das Ziel nicht unbedingt die Überwindung dieser Trennung, sondern die Politisierung der jeweiligen Sphäre (vgl. Braun/Jung 1997; Kreisky/Sauer 1995; Ludwig et al. 2009). In der damit verbundenen Aufrechterhaltung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit liegt zugleich die Schwäche beider Ansätze: Im ersten Fall wird die traditionelle Rollenzuweisung der Frauen manifestiert, im zweiten Fall eine Angleichung an männliche Politikvorstellungen eingefordert. Gerade letzteres hat Eva Kreisky (1992) im Rahmen ihrer „feministischen Staatssicht“ bzw. der Kritik am „Staat als Männerbund“ als unproduktiv analysiert, da der Staatsapparat als Vertreter männlicher Interessen unter Ausschluss alles Weiblichen nicht einfach durch eine Umkehr für frauenpolitische Belange institutionalisiert werden kann. Vielmehr müssten das einseitig-männliche Prinzip und die strukturelle Geschlechtlichkeit freigelegt werden, die sich unter dem Deckmantel demokratischer Teilhabe und Neutralität in den Institutionen festgesetzt haben. Dieses Prinzip bzw. das patriarchale Staatssystem basiert nach Kreisky auf einer fortwährenden Remaskulinisierung, die sich im Spannungsfeld zwischen einzelnem Mann und (konstruierter) Männlichkeit, auf jeden Fall aber in Abgrenzung zur Weiblichkeit, reproduziert. Die Vermittlungsstruktur zwischen einzelnem Mann und Männlichkeit ist der „Männerbund“: In ihm wird der Machtwunsch des Einzelnen durch das Männerbündnis verstärkt und institutionalisiert. Alle relevanten politisch-administrativen Strukturen (wie Parteien, Gerichte, Parlamente, Verwaltungen etc.) sind laut Kreisky auch Ende des 20. Jahrhunderts noch von einseitig männlichen Interessen und Erfahrungen geleitet – und manifestieren so die politische Rechtlosigkeit der Frauen sowie die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre. Es existieren darüber hinaus weitere feministische Überlegungen, die den Staat nicht länger als patriarchales Herrschaftsinstrument strikt ablehnen, sondern
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vor allem an die innerfeministische Kritik an essentialisierenden Weiblichkeitsund Männlichkeitsbegriffen sowie an die aktuelleren sozialstaatlichen Transformationen anschließen. Die Betrachtung gesellschaftlicher Veränderungen unter den Bedingungen von Globalisierung und Neoliberalisierung erfolgte dabei zunächst aus regulationstheoretischer bzw. neo-marxistischer Perspektive und bezog sich auf die Analyse der veränderten Geschlechterverhältnisse im Übergang von Fordismus zu Postfordismus: Ausgehend von der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Zuweisung öffentlicher und privater Sphären als fordistisches Strukturmoment (Ausschluss von Frauen aus Wirtschafts- und Interessenverbänden sowie von qualifizierten Arbeitsplätzen – und zugleich „Einschluss“ in das System in der Rolle als Hausfrauen) stützt sich die Kritik hier auf die wachsende Spaltung in hoch- und niedrigqualifizierte bzw. gut und schlecht entlohnte Beschäftigte in den globalisierten Dienstleistungsökonomien sowie auf die Entstehung flexibilisierter, ethnisierter und vergeschlechtlichter Beschäftigungsformen im Niedriglohnbereich (vgl. Sauer 1998; Young 1998). Diese Entwicklungen haben schließlich zu einer Dekonstruktion der vermeintlich einheitlichen und essentialistisch angelegten Identitätskategorie „Frau“ geführt, da die Ungleichheiten zwischen Frauen bedeutend(-er) wurden (z.B. hochoder geringqualifiziert) und die Durchkreuzung der Kategorie Frau mit anderen Struktur- bzw. Ungleichheitskategorien wie Alter, nationale/ethnische/religiöse Zugehörigkeit etc. an Relevanz gewann. Bevor dies in Abschnitt 4 ausgeführt wird, geht es jedoch zunächst um eine weitere „problematische Beziehung“, die zwischen feministischer und Politischer Geographie. 3. ZWEITE PROBLEMATISCHE BEZIEHUNG – FEMINIST POLITICAL GEOGRAPHIES: „ARE WE THERE YET?“5 Erste Grundlagen für eine feministische p/Politische Geographie wurden im anglophonen Sprachraum durch Eleonore Kofman und Linda Peake (1990) in ihrem „Manifest für eine geschlechtersensible Politische Geographie“ gelegt. Darin plädieren sie für ein Verständnis von Politik als „Verteilungs-Politik“, das die Verteilung von sozialen wie ökonomischen Nutzungsrechten und Teilhabechancen regelt und damit (1) gleichermaßen die öffentliche wie private Sphäre einbezieht sowie (2) Politische Geographie als politische Geographie bzw. als (frauen)politisch ambitioniertes Projekt begreift. Trotz dieser Initiative gibt es nach wie vor Äußerungen des Bedauerns, dass feministische und Politische Geographie (zu) weit voneinander entfernt bleiben. So warnt und mahnt bspw. Jennifer Hyndman (2004) „mind the gap!“ und beklagt die „Lücke“, die zwischen feministischer und Politischer Geographie trotz zahlreicher Berührungspunkte und „Brückenbauprojekte“ bestehen bleibt. Fast zeitgleich fragen Michael Brown und Lynn Staeheli (2003) skeptisch, ob wir schon von einem eigenständigen Projekt im Sinne einer „Feministischen p/Politischen Geographie“ sprechen können: „Are we 5
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there yet?“ (siehe auch, in ähnlich fragender bzw. ermahnender Weise, England 2003, 2008; Hyndman 2007; Sharp 2003, 2007 sowie Staeheli/Kofman 2004). 3.1. Feministische Ansätze für die Politische Geographie In ihrer Reflexion über die Bedeutung feministischer Ansätze für die Politische Geographie betonen Brown und Staeheli (2003) zunächst die Vielfalt an Machtbeziehungen, die das soziale Leben organisieren und beziehen sich damit auf einen erweiterten Begriff des Politischen, der neben institutionalisierten Formen und Räumen auch und insbesondere soziale und räumliche Praxen einbezieht, die jenseits des Staates bzw. des Staatsterritoriums auf unterschiedlichen Maßstabsebenen wirk-„mächtig“ sind. Neben der Vielfalt an Machtbeziehungen weisen sie damit auch auf die Vielfalt an Scales sowie an Themen hin, die bspw. die internationale Grenz- und Migrationsforschung, nationale Identitäten, regionale und soziale Formen der Arbeitsteilung – aber auch Aspekte der Subjektkonstitution, der Sexualität, der Körperlichkeit, der physischen wie psychischen Verletzlichkeit etc. umfassen. Insgesamt unterscheiden Brown und Staeheli drei (sich ergänzende) Perspektiven in der feministischen p/Politischen Geographie, die sich in Fragen der Räumlichkeit zum einen auf die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit als Leitdifferenz beziehen und zum anderen die Bedeutsamkeit einer multiskalaren Perspektive betonen: 1. Vor allem frühe Arbeiten konzentrieren sich auf die Offenlegung der Beziehungen zwischen räumlichen und sozialen bzw. geschlechtsspezifischen Unterschieden – auf die so genannte „Verteilungsfrage“ (Distributional Approach, Brown/Staeheli 2003: 249f.). In diesem Kontext geht es sowohl um die soziale Be(nach)teiligung bzw. den Ein- oder Ausschluss von Frauen in vielen Lebensbereichen als auch um die regionalen Unterschiede in den Lebensbedingungen von Frauen (vgl. Bühler 2001 am Beispiel der Schweiz). Ein „Klassiker“ aus diesem Bereich ist Doreen Masseys Arbeit zur regionalen Arbeitsplatztransformation in Großbritannien, einschließlich der Untersuchung räumlicher Unterschiede in der Konstruktion von Weiblich- und Männlichkeit (deutsche Zusammenfassung in Massey 1993). Ihre Kritik an der geschlechtsspezifischen Trennung von Arbeitsplätzen ist dabei ein so genanntes „Brücken(bau)beispiel“, da das Werk die Diskussionen inner- und außerhalb der feministischen Geographie maßgeblich beeinflusst hat. 2. Einen weiteren Ansatz der feministischen p/Politischen Geographie bezeichnen Brown und Staeheli (2003: 250ff.) als „The Antagonistic“ und verweisen damit auf individuelle wie kollektive Abgrenzungsprozesse („Othering“), die neben den grundlegenden Mechanismen der Identitätskonstitution auch die teils subtilen, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen der In- und Exklusion ausmachen. Subtile wie gewaltförmige auf Abgrenzungen basierende Konflikte werden darauf zurückgeführt, dass alle Formen gesellschaftlicher Be-
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ziehungen politisch sind und dass dem Politischen Interessens-Konflikte, aber auch Interessens-Koalitionen inhärent sind. 3. Vor allem im Anschluss an letzteres basiert der dritte Ansatz („The Constitutive“) auf der Annahme, dass die aus dem Politischen resultierende Interessenskonflikte und -koalitionen prozessual und formativ bzw. konstitutiv sind – konstitutiv sowohl für die in sie involvierten Subjekte als auch für die in Konflikt oder Kooperation produzierten Räume. Während die dritte Perspektive primär subnationale und mikrosoziale lokale Räume thematisiert, nämlich Stadtteile, Haushalte oder auch menschliche Körper – und damit die wichtige Kritik an der Trennung in öffentliche und private Räume aufgreift und aufweicht –, verweisen insbesondere die ersten beiden auf die Berücksichtigung der „full range of scalar processes“ (ebd.: 250), die die „troika of global – national – local“ (ebd.) um das verkörperte Subjekt ergänzt und zudem die Multiskalarität gesellschaftlicher Prozesse unterstreicht. Die Scale-Theoretisierung gehört daher zu den zentralen Anknüpfungspunkten zwischen feministischer und Politischer Geographie (vgl. England 2003; Katz 2001; Marston 2000; Roberts 2004; Sharp 2007; Strüver 2008). Einen weiteren – und davon nicht unabhängigen – zentralen Anknüpfungspunkt stellen die Analysen im Rahmen einer Feminist Geopolitics dar. So werden über die feministische Kritik an der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie insbesondere durch die Forderung nach einer Politisierung des Privaten Maßstäblichkeiten jenseits von Nationalstaaten und Internationalen Beziehungen als klassische Betrachtungsebenen der Politischen Geographie thematisiert. Das Private ist dabei in mehr als einer Hinsicht Bestandteil des Politischen – da es (sei es als Haushalt, als verkörpertes Subjekt oder auch als Gefühl der Nicht-/Zugehörigkeit) über staatliche Regulationsformen konstituiert und kontrolliert wird (vgl. Abschnitt 5.1.). Die veränderte Konzeption des Politischen in der bzw. durch die feministische Geographie erweitert vor allem den politisch-geographischen Fokus auf formalpolitische Sphären und Räume und konzentriert sich machtkritisch und normativ auf die Offenlegung sozialer und räumlicher Ein- und Ausschlussprozesse: reworking the very concept of the political has been at the center of creating feminist political geographies. (…) It moves away from the macro level of analysis to consider the ways in which political relationships are shaped by – and resisted through – gender roles and relations in a variety of settings. (…) What is important is that reworking the political involves a commitment so social change. (Staeheli/Kofman 2004: 6)
Auch für Staeheli und Kofman (2004) sowie für Kim England (2008) fokussieren feministische p/Politische Geographien in Fragen der Räumlichkeit die Dichotomie bzw. Relation zwischen Privatem und Öffentlichem sowie die Frage der Relevanz und Relation von Scales, die vom verkörperten Subjekt über die Ebene des Haushalts und des Wohnumfeldes als klassische Räume der Reproduktionsarbeit reichen und auch die des nationalstaatlichen Raumes und die globale Ebene einbeziehen. Da all diese Ebenen von Machtbeziehungen strukturiert werden, sind
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auch die vermeintlich lokalen Räume des Körpers, des Schlafzimmers oder des Spielplatzes genauso relevant für die Politische Geographie wie die des Staatsraumes. In jüngerer Zeit ist dabei gleichwohl eine Schwerpunktverschiebung beobachtbar, so dass es weniger um die (Untersuchung der) Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit als um ihre wechselseitigen Konstitutionsprozesse geht sowie – im direkten Anschluss an diese Wechselseitigkeit – um die gesellschaftliche wie wissenschaftliche Konstruiertheit von Scales (siehe Katz 2001; Marston 2000; Marston/Smith 2001). So haben bspw. Marston, Jones und Woodward (2005) Skalierungen ganz grundlegend hinsichtlich der dem Scale-Konzept zugrundeliegenden Dualismen und Hierarchien kritisiert. In der – epistemologisch verfestigten – hierarchischen Anordnung räumlicher Maßstabsebenen sehen sie die unterschwellige Tendenz, sich dem hierarchischen Denken unterzuordnen und auch Forschungsfragen darin zu integrieren. Im Kontext feministischer p/Politischer Geographien geht es aufbauend auf dieser Dualismus-Kritik gleichwohl stärker um ein Rescaling in dem Sinne, dass die Wechselbeziehungen zwischen Scales analysiert werden. Vor dem Hintergrund der anglophonen Scale-Debatten einerseits und im Rahmen ihrer Suche nach „feminist political geographies“ andererseits plädiert Joanne Sharp (2007: 382; Hervorh. A.S.) daher zusammenfassend für: [G]eographies of political subjectivity [that] allow feminist geographers to go beyond previous critiques of the totalizing ambitions of political geography. These have given way to feminist theorizations that see the body, nation and global as indicative of the same processes rather than as different scales.
3.2. Feministische Ansätze in der Politischen Geographie „Umgekehrt“ fokussieren Arbeiten aus der feministischen Geographie zunehmend auch (inter-)nationale räumliche Konflikte und (geo-)politische Konstellationen. Hervorzuheben sind hier namentlich die Feminist Geopolitics. So löst Jennifer Hyndman in ihrer Analyse des Umgangs mit Vergewaltigungsopfern vor internationalen Kriegsverbrechertribunalen die Unterscheidung in Privatheit und Öffentlichkeit vollends auf, denn sexualisierte Gewalt von Soldaten gegen Mädchen_Frauen ist für keine_n der Beteiligten eine Privatangelegenheit. Für Hyndmann bedeutet die Anerkennung von Vergewaltigung als Kriegsverbrechen: [A] new category of crime that reorganizes the scale and scope of punishment, and recasts what counts (that which is public) and what does not (that which is considered private). The safety of the body as the finest scale of geopolitical space is politicized (Hyndman 2001: 216)6.
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Ähnlich argumentiert auch Tamar Mayer (2004) im Rahmen ihrer Untersuchungen zu Massenvergewaltigungen als „Kriegstaktik“ in Bosnien-Herzegowina; zu Feminist Geopolitics, siehe auch Hyndman (2007); Pain (2009); Sharp (2003) sowie Smith (2001).
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An anderer Stelle betont die gleiche Autorin: [F]eminist geopolitics decentres but does not dismiss state security, the conventional subject of geopolitics (…). It attempts to develop a politics of security at the scale of the (civilian) body (Hyndman 2004: 309).
Ebenfalls im Kontext einer Feminist Geopolitics kritisiert zudem Fiona Smith (2001: 215) die Konzeption der Critical Geopolitics (vgl. den Beitrag von Paul Reuber in diesem Band) als eine „Menschenleere“ und fordert eine stärkere Berücksichtigung der Wahrnehmungen und Wirkungen von geopolitischen Diskursen im Alltagsleben. Diese Forderung untermauert sie anhand einer Untersuchung zu geschlechtsspezifischen Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung. Diese „Menschenleere“ auffüllend setzt Mountz (2004) wiederum direkt an der Schnittstelle von „security at the scale of the body“ an, indem sie am Beispiel des Umganges mit chinesischen Bootsflüchtlingen in Kanada darlegt, wie der staatliche Grenz- und Sicherheitsdiskurs die migrantischen Körper instrumentalisiert: Einerseits werden die Migrant_innen als Staatsgrenzen-verletzende, körperliche Eindringlinge thematisiert, andererseits als billige Arbeitskräfte für körperlichschwere Tätigkeiten favorisiert. Ähnliche Ergebnisse finden sich schließlich in der Analyse von geschlechtlich verkörperten Identitäten in geopolitischen Raumbildern und Repräsentationen von international agierenden Hilfsorganisationen (Strüver 2010). Auch hier wird der (männliche) migrantische Körper als Staatsgrenzen-verletzend instrumentalisiert. Einen anderen Zugriff auf die Wahrnehmung geopolitischer Diskurse im Alltagsleben verfolgt Rachel Pain (2009, 2010). Mit einer feministischen Perspektive auf Skalierungen und auf die Verschränkung von globalen und lokalen Prozessen sowie dem Plädoyer für eine verstärkte Berücksichtigung von Emotionen als Forschungsthema der Geographie und Geopolitik („emotional geopolitics“) kritisiert Pain die binär angelegte Skalierung der „new geopolitics of fear“, in der ein globalisierter und omnipräsenter Angstdiskurs dem verkörperten Alltagsleben und dem alltäglichen Angsterleben gegenübersteht. Während bis in die 1990er Jahre Angst und Angsträume als individuelle und lokale Phänomene bzw. Probleme verstanden wurden, erweiterte sich das Spektrum im Laufe der 1990er Jahre um Angstdiskurse, d.h. um die diskursiv vermittelte Angst als (staats-)politisches Überwachungs- und Steuerungsinstrument. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ist ein weiterer Wandel feststellbar, eine „globalisierte Angst“ vor allem vor internationalen Migrationsströmen, vor terroristischen Anschlägen sowie vor Pandemien. Damit ist eine Verschiebung von der individuellen, aber strukturell bedingten Angst (z.B. die Angst von Frauen vor sexualisierten Gewaltübergriffen in dunklen Parkanlagen) hin zur diskursiven, kollektiven Angst beobachtbar, die wiederum für die Einführung von staatlichen Überwachungsstrategien instrumentalisiert wird. In Bezug auf die diskursiv vermittelten und strategischen Inwertsetzungen von Angstgefühlen – sowie deren räumliche Erweiterung auf das Globale – mahnt Pain jedoch die vernachlässigte Berücksichtigung der Angstgefühle, der subjektiven Wahrnehmungen von Angst sowie der Materialität von Emotionen im weite-
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ren Sinne an „the paradoxical lack of interest in feeling itself within analysis of the new geopolitics of fear is likely only to reinforce a fixation with the global as the key scale for analysis“ (Pain 2009: 472).7 Darauf aufbauend entwickelt Pain die Konzeption einer „emotional geopolitics of fear“ (ebd.: 474ff.), die die feministischen Angstraumdiskussionen zum Ausgangspunkt nimmt, um die Verschränkung von individueller Inkorporation und gesellschaftlicher Konstruktion in der Konstitution lokaler Angsträume auf „globalisierte Angst(-räume)“ und deren emotionale Erfahrung zu übertragen. Diese verstärkte Konzentration auf das Körperliche nicht nur in der feministischen, sondern auch in der Politischen Geographie, schließt wiederum an die Perspektivverschiebung im Anschluss an poststrukturalistische Ansätze zur Subjektkonzeption an, die die Prozesshaftigkeit von Identitätskonstitutionen, die Verkörperungen und Verräumlichungen von differentiellen Ein- und Ausschlüssen sowie die Differenzen unter Frauen thematisieren. 4. POSTSTRUKTURALISTISCHE IDENTITÄTSPOLITIK UND FEMINISTISCHE STAATSTHEORIEN Angestoßen durch die in Abschnitt 2.2. bereits erwähnten gesellschaftlichen Transformationsprozesse als Folge von Globalisierung und Neoliberalisierung einerseits und durch die innerfeministischen Debatten zur anti-essentialistischen Subjektkonstitution andererseits wurden die Differenzen zwischen Frauen unterschiedlicher Altersgruppen, nationaler, religiöser oder Klassenzugehörigkeit sowie unterschiedlicher Hautfarbe und sexueller Orientierung (an-)erkannt. Die existierende Vielfalt von weiblichen Alltagszusammenhängen verdeutlicht, dass die Einheitskategorie Frau(en) denaturalisiert, multipliziert und aufgelöst werden muss. Im Kontext der Berücksichtigung der Vielfalt weiblicher Lebenszusammenhänge sowie durch die Konzentration auf mikrosoziale Alltagssituationen hat sich ein anti-essentialistischer Feminismus entwickelt, der sich stark auf poststrukturalistische Theoretiker_innen bezieht. In diesen Rahmen gehören auch die pluralistisch und heterogen angelegten feministischen Staatsvisionen, die Staatlichkeit als dezentrale Arenen der Macht rekonstruieren – die den Staat „als ein Set unterschiedlicher diskursiver Arenen [konzipieren], die eine zentrale Rolle für die Organisation von Machtverhältnissen spielen“ (Kulawik/Sauer 1996: 33). Rethinking the state (...) requires a shift away from seeing the state as a coherent, if contradictory, unity. Instead we see it as a diverse set of discursive arenas which play a crucial role in organizing relations of power (Pringle/Watson 1992: 70).
Der Staat ist in diesem Verständnis keine monolithische, lineare und universale Einheit, sondern ein heterogenes, widersprüchliches und paradoxes Ensemble von 7
Für eine Rückkehr zur feministischen Auseinandersetzung mit Emotionen plädieren aktuell auch Sharp (2009) und Wright (2010).
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Kräfteverhältnissen in Form verschiedener machtpolitischer Entscheidungszentren: [T]he domain we call the state is not a thing, system, or subject but a significantly unbounded
terrain of powers and techniques, an ensemble of discourses, rules, and practices (Brown 1992: 12).
Diese Zitate aus dem Kontext der frühen poststrukturalistisch-feministischen Staatstheorien verdeutlichen die Nähe zu Foucault, der den Staat als soziales Kräfteverhältnis, als eine Verdichtung von sozialen Widersprüchen begreift, die die Vielfalt der unterschiedlichen Institutionen und Politikformen widerspiegeln (Foucault 1977: 13). Diese Auffassung vom Staat als Kräfteverhältnis impliziert, dass er fragmentiert ist und dass kein einheitlicher Akteur als „der Staat“ hinter einzelnen Politiken steht. Daher kann der Staat nicht der Agent einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (z.B. der Männer) sein, noch Abbild einer vorgängigen Geschlechterhierarchie. Vielmehr ist er das Ergebnis verschiedener Verhältnisse und Netzwerke, die in Form von staatlichen Institutionen und Diskursen Interessen durchsetzen, Dominanzen und Marginalitäten konstruieren (vgl. Foucault 1977; Kulawik/Sauer 1996; Sauer 1998). Somit sind der Staat und sein (vielfach differenziertes) Territorium nicht Ursprung, sondern Produkt politischer Auseinandersetzungen. Wenn der staatliche Androzentrismus keine lineare Machtformation ist, die auf einer sich im Staat materialisierenden männlichen Logik basiert, sondern eine heterogene Interessenskonstellation, dann können durch den Staat als Institution patriarchale Verhältnisse in Frage gestellt und für die Durchsetzung feministischer Interessen und Strategien genutzt werden. Auf Basis dieser Erkenntnis erscheinen die innerfeministischen Auseinandersetzungen bezüglich einer radikalen Ablehnung oder Instrumentalisierung des – implizit essentialisierten – Staates überwunden. Gleichwohl hat sich im Kontext des pluralistisch-poststrukturalistischen Feminismus eine neue Variante der Frage um „Autonomie oder Institution“ entwickelt, in der sich die Debatten um „Gouvernementalität und/oder Diversität“ gegenüberstehen. 4.1. Gouvernementalität In den feministischen Politikwissenschaften ist auf Grundlage der Hinterfragung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie der Suche nach einem erweiterten Politikbegriff in jüngerer Zeit eine Wende in der empirischen wie theoretischen Auseinandersetzung mit dem Staat beobachtbar, die maßgeblich durch Foucaults Begriff der Gouvernementalität und daran anschließende Regierungsformen beeinflusst ist. Der Gouvernementalitätsbegriff wird dabei insbesondere zur Analyse und Kritik neoliberaler Politiken verwendet, die staatliches Regieren als Selbst-Regieren bzw. die Selbstführung als Prinzip staatlicher Disziplinierung erfassen.
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Gundula Ludwig (2009, 2010) versucht sich in diesem Zusammenhang an einer feministisch-poststrukturalistischen Staatstheorie, die auf einem anti-essentialistischen Subjekt- und Staatsverständnis basiert und vor allem das Verhältnis von Staat und Subjekt gouvernementalitätstheoretisch thematisiert: 1. „Der Staat“ wird als Effekt widersprüchlicher Diskurse und Machttechniken erfasst (s.o.). 2. „Das Subjekt“ konstituiert sich anhand verschiedener Identitätskategorien – und damit auch entlang von Geschlechtsidentitäten. Subjektivität wird jedoch durch staatliche Politiken nicht nur reguliert, sondern auch als Selbst „regiert“. D.h. die Subjektkonstitution wird u.a. durch Politiken der Zweigeschlechtlichkeit und der nationalen (Nicht-) Zugehörigkeit regiert und normiert – und dabei oftmals entlang dualistischer Kategorisierungen naturalisiert. Mithilfe von Foucaults Machtverständnis als eine „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ und als „Strategien, in denen sie [die Kräfteverhältnisse] zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern“ (Foucault 1977: 113), wird „der Staat“ zum Effekt heterogener Kräfteverhältnisse und kann dementsprechend nicht länger als „Männerbund“ konzipiert bzw. als patriarchalisch-repressive Organisation kritisiert werden. In der Verbindung der Genealogie des modernen Staates mit der des Subjekts beschreibt Foucault „Regieren“ als Zusammenspiel von Führungs- und Selbsttechniken – und Machtausübung als „Führung der Führungen“, die „die Tätigkeit des ‚Anführens’ anderer und die Weise des Sich-Verhaltens“ – kurzum: die Anleitung von Verhaltensweisen – umfasst (Foucault 1987: 255). Vor diesem Hintergrund fasst Ludwig (2010: 43) die Ko-Konstitution von Staat und Subjekt über die Gouvernementalität wie folgt zusammen: Über die Gouvernementalität wird die konkrete historische Konstitution der Subjekte als auch des Staates ermöglicht. Einerseits gestaltet die Gouvernementalität das Bedingungsgefüge, über das Subjekte regiert werden können und konstituiert werden. Zugleich wird über diese andererseits auch eine historisch spezifische Form von Staat rationalisiert und ermöglicht. (…) Indem sich das Subjekt in alltäglichen Praxen als freies und souveränes denkt, wahrnimmt und sich als solches verhält, bestätigt es nicht nur diese Form der Subjektkonstitution, sondern auch eine bestimmte Form des modernen Staates: eine Form des Staates, deren Machtausübung in der „Führung der Führungen“ (Foucault 2005) vielfältiger, alltäglicher gesellschaftlicher Praxen liegt.
Von Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Geschlechterkonstruktionen ist darüber hinaus Judith Butlers feministischer Zugriff auf Foucault, da sie Gouvernementalität als das adressiert, was Subjekte „frei und souverän regierbar“ macht – jedoch als vergeschlechtlichte Subjekte (vgl. Butler 1997, 2001). Wenn Geschlecht nicht naturgegeben, sondern Teil des Nexus von Fremd- und Selbstführungstechniken ist, kann sich über die Kategorie Geschlecht staatliche Macht in einer körperlichen Form materialisieren – und somit sind zweigeschlechtlich
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materialisierte Körper zugleich Ausdruck und Bedingung der Subjektkonstitution. D.h. der Staat produziert, regiert und „führt“ die zweigeschlechtliche Subjektkonstitution und zugleich (re)produzieren Subjekte in ihren Alltagspraktiken den zweigeschlechtlich und geschlechterhierarchisch strukturierten Staat. Dabei wird die individuelle Geschlechtsidentität (als Mann oder Frau) eher als „natürliche Fügung“ denn als „staatliche Führung“ wahrgenommen, sodass die staatlich geführte Zweigeschlechtlichkeit auch den gewaltförmigen Ausschluss bzw. die operative Angleichung von Inter- und Transsexuellen umfasst. Mit Rekurs auf Foucault und Butler ist daher die Selbst-Führung vergeschlechtlichter Subjekte nicht i.S.v. Selbst-Bestimmung der autonomen Frauenbewegung zu verstehen, sondern i.S.v. Selbst-Verantwortung und individualisiertem Risiko-Management (vgl. Abschnitt 5.2.). Dadurch wird Ungleichheit im neoliberalen Staat nicht länger als soziostrukturelles, sondern als individuelles Problem klassifiziert und durch (supra-)nationale Diversitätspolitiken zunehmend legitimiert. 4.2. Diversität Diversitätspolitik als Ausdruck der EU-Anti-Diskriminierungs-Richtlinien hat im Prinzip (wie auch Gender Mainstreaming) ihren Ursprung in der internationalen Frauenbewegung und Geschlechterforschung. Das Ziel besteht in beiden Fällen in der Bekämpfung von geschlechtsbasierten Ungleichheitsstrukturen. Allerdings wurden sie im Kontext der Transformation von Staatlichkeit „hegemonial vereinnahmt“ (Sauer 2007: 36) und stellen somit nicht länger herrschaftskritische Konzepte, sondern „strategische Funktionalisierungen“ (ebd.) dar: Diversitätspolitik ist somit eine neue Form der Regierungstechnik, eine – im Foucaultschen Sinne – Form neoliberaler Gouvernementalität, die feministische Aushandlungsprozesse hegemonial überformt und zum Teil eines neoliberalen ökonomischen Projekts macht (…) [bzw.] zusehends zu Entsolidarisierung und Entpolitisierung von Ungleichheitsstrukturen führt (ebd.: 40).
Ziel ist nicht länger soziale Gerechtigkeit, sondern die Anerkennung von Ungerechtigkeit. Identitätskategorien wie Geschlecht, Alter oder Nationalität werden weiterhin durch staatliche Institutionen normiert – und führen im Kontext der neoliberalen Restrukturierung des Arbeitsmarktes, der Flexibilisierung und Transnationalisierung von Arbeitenden sowie der Privatisierung ehemals wohlfahrtsstaatlicher Aufgabenbereiche zu einer Rekonfiguration von geschlechts-, alters- und klassenspezifischen sowie ethnischen Ungleichheitsstrukturen. Dies wird im folgenden Abschnitt beispielhaft und in Erweiterung um den Raum erläutert.
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5. FEMINISTISCHE P/POLITISCHE GEOGRAPHIEN In vielen aktuellen feministischen Auseinandersetzungen mit der Transformation des Verhältnisses von Staat und Geschlecht nimmt – jenseits von disziplinären Kontexten – die so genannte Care-Debatte einen wichtigen Stellenwert ein. Sie verbindet das Private mit dem Politischen, den lokalen Haushalt mit globalen Prozessen sowie das Gefühl der (Nicht-)Zugehörigkeit mit staatlichen Regulationsformen. Stark verkürzt lassen sich die Auswirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Transformationen folgendermaßen zusammenfassen (siehe 2.2.): Sie wirken einer Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses entgegen, da Frauen tendenziell vom Abbau sozialstaatlicher Leistungen stärker betroffen sind als Männer. Zudem wird durch den Abbau staatlicher Kinderbetreuungsangebote sowie Kürzungen im Gesundheits-, Pflege- und Bildungsbereich die soziale Reproduktionsarbeit zunehmend wieder in den privaten Bereich verlagert, von Frauen erledigt und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verschärft. D.h. die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sind einmal mehr strukturell geschlechtlich codiert – trotz Gender Mainstreaming und Diversitätspolitik als Chancen und Grenzen feministischer „Gleichstellungspolitik“. Denn die neoliberale Restrukturierung der Wohlfahrtsstaaten entlarvt sich als eine geschlechtsspezifische, die durch die zunehmende Reprivatisierung von Fürsorgetätigkeiten (insbesondere Kranken- und Altenpflege sowie Kinderbetreuung) das alte Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung reproduziert und zudem „ethnisiert“. 5.1. Globalisierte Hausarbeit Verdeutlichen lässt sich dies anhand von globalisierter migrantischer Haushaltsarbeit – und damit in der Verbindung von eher klassischen Themen der Politischen Geographie (Grenz- und Migrationsforschung) mit den Debatten um Hausarbeit als klassisches Thema der feministischen Geographie. Am Beispiel von transnationalen Haushaltshilfen als so genannten „Dienstmädchen der Globalisierung“ (Lutz 2008) wird deutlich, wie die mikrosoziale Ebene verkörperter Alltagspraktiken, die lokale Ebene einzelner Privathaushalte sowie die nationalstaatliche Ebene von Arbeitsmarkt- und Grenzregimen innerhalb von internationalen EU-Integrations- sowie von Globalisierungsprozessen direkt miteinander in Wechselbeziehung stehen. Transnationale Migrantinnen haben in diesen politischen wir sozioökonomischen Prozessen eine aktive Rolle inne: Im Falle der globalisierten Dienstmädchen allerdings weniger im Rahmen ihrer beruflichen Professionalisierung als in Form einer (reproduzierten) „Domestizierung“, nämlich als migrantische Haushaltshilfen, die mit der re-privatisierten Verrichtung vormals öffentlicher Fürsorgetätigkeiten auch das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit neu strukturieren. Diese Migrantinnen schließen die durch den Rückbau der Sozialstaaten bedingte „häusliche Dienstleistungslücke“ (Metz-Göckel 2010: 45) in der Versor-
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gung von Privathaushalten im Allgemeinen und von Pflegebedürftigen im Besonderen. Umgekehrt schließt die Arbeit der Migrantinnen auch in ihrem „Zuhause“ eine häusliche Versorgungslücke, nämlich die, die in ihren Heimatländern aufgrund der sozioökonomischen Transformationsprozesse entstanden ist: Viele der osteuropäischen Reinigungs- und Betreuungskräfte in deutschen Privathaushalten bspw. haben zwar eine abgeschlossene Berufs- oder Universitätsausbildung, können jedoch als Lehrerin, Ärztin, Juristin o.ä. keine Anstellung finden bzw. können damit nur sehr wenig verdienen. In Deutschland arbeiten sie zwar unabhängig von bzw. unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation, haben jedoch als irregulär Beschäftigte ein vergleichsweise hohes Einkommen, mit dem sie das (Über-)Leben ihrer Familie „zuhause“ sichern können. Die transnationale Arbeitsmigration von „globalisierten Dienstmädchen“ muss daher als Strategie und Ressource der Migrantinnen verstanden werden, die durch Raumrelationen, insbesondere durch nationale Grenzregime reguliert wird: Sozioökonomische Disparitäten zwischen einzelnen Staaten sowie die zwischen ihnen etablierten Grenzregime und daran gekoppelte Aufenthalts- und Arbeitsregulierungen führen zu variierenden Wertigkeiten der Qualifikationen von Migrantinnen zwischen Herkunfts- und Zielland. „Qualifikationen“ umfassen hier die sprachlichen, emotionalen und sozialen Kompetenzen der Migrantinnen, aber auch ihre Familien- und Freundesnetzwerke sowie speziell ihr Frau-Sein und Hausfrau-Sein. D.h. sozialstrukturelle Kategorien wie Geschlecht, Alter und Nationalität sowie die berufliche Flexibilität und Risikobereitschaft werden zum „Wettbewerbsvor- oder Nachteil“ eines Subjekts – und variieren in ihrer Wertigkeit je nach nationalem Kontext. Diese Form der transnationalen Migration stellt zudem den methodologischen Nationalismus und damit die Annahme in Frage, dass ein nationalstaatlicher Containerraum das rahmende Moment sozialer und räumlicher Identitäten sei. Mithilfe eines „methodologischen Kosmopolitismus“ lassen sich hingegen die sozialen Ungleichheiten zwischen nationalen Gesellschaften berücksichtigen – wie auch das weiterhin durchaus wirkmächtige Prinzip nationaler Staaten und Grenzregime und die daran gebundene (Re-)Produktion globaler bzw. geopolitischer Ungleichheiten. Denn die strategische Migration von Haushaltsarbeiterinnen bedarf einerseits nationalstaatlicher Grenzen und Unterschiede, um überhaupt entstehen zu können; sie bedarf andererseits aber auch einer Forschungsperspektive jenseits der „territorialen Falle“, die nationalstaatliche und räumliche Zuschreibungen denaturalisiert und multipliziert. Eine transnationale Perspektive in der feministischen Migrationsforschung erfordert somit die explizite Einbeziehung von Staatsbürgerschaft und Nationalität als zentrale gesellschaftliche Strukturkategorien, die Geschlecht, Alter und Klasse durchkreuzen – nicht zuletzt, da die soziale Position über die Kategorie Staatsbürgerschaft bei den Migrantinnen zwischen Herkunfts- und Arbeitsland meist stark variiert bzw. durch diesen Unterschied die Migration initiiert. Münst (2008) verdeutlicht dies an polnischen Pendelmigrantinnen, die ohne langfristige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in deutschen Privathaushalten als Pflegerin oder Putzkraft arbeiten: Während sie in Deutschland arbeiten, verfügen sie über keinerlei
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Ressourcen – weder einen regulären Aufenthaltsstatus noch eine anerkannte Berufsqualifikation, doch sobald sie in Polen sind, steigt ihre ökonomische und soziale Anerkennung. Die horizontale, da räumliche (grenzüberschreitende) Mobilität sowie die vertikale, da soziale Abwärtsmobilität und Marginalisierung in Deutschland wird dabei von den meisten Haushaltshilfen bewusst einkalkuliert bzw. eingesetzt und als Chance gesehen, um ökonomisch zu profitieren und zuhause soziale Aufwertung zu erfahren. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung ist transnationale Arbeitsmigration zu einem zentralen Ausdruck von sozioökonomischen Ungleichheiten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen sowie im Kontext des vorliegenden Kapitels zu einem exemplarischen Untersuchungsgegenstand für eine feministische p/Politische Geographie geworden (ausführlicher, siehe Strüver 2011a, b): Im Prozess der transnationalen Migration von Haushaltshilfen verbinden sich erstens verkörperte Alltagspraktiken, die durch lokale und globale Konstellationen sowie durch nationalstaatliche Grenzregime beeinflusst sind. Zweitens wird die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit rekonfiguriert, da ehemals öffentliche CareAufgaben re-privatisiert werden (entweder als familiäre Pflege oder als private Dienstleistung). Dies stellt drittens insbesondere im Zusammenhang mit Letztgenanntem – nationalen Grenzregimen und daran gekoppelten Arbeits- und Aufenthaltsregulationen – eine weitere „Grenzverschiebung“ zwischen Öffentlichkeit und Privatheit dar: Die überwiegend irregulär und teilweise illegalisiert in Deutschland arbeitenden migrantischen Haushaltshilfen aus Osteuropa8 bedürfen einer „institutionalisierten Durchlässigkeit der Grenze“ (Karakayali/Tsianos 2005) bzw. einer „Institutionalisierung der informalisierten Durchlässigkeit der Grenze“ (Strüver 2011b), um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Zugleich bedarf auch der deutsche neoliberalisierte Sozialstaat einer solchen Durchlässigkeit, um so den gestiegenen Bedarf an häuslichen Dienstleistungen flexibel und „günstig“ mit illegalisierten Arbeitskräften „bedienen“ zu könne. D.h. die irreguläre Grenzüberschreitung und/oder „private“ Arbeitsaufnahme wird öffentlich akzeptiert. Viertens schließlich verbinden sich im Subjektivierungsprozess der transnationalen Haushaltsarbeiterinnen vertikale und horizontale Differenzkategorien, die „Ressourcenausstattung“ einer Migrantin mit dem Bedarf an dieser Ressource in bestimmten nationalräumlichen Kontexten. All diese Kontext- und Analyseebenen sollten – einzeln und vor allem in Verbindung untereinander – in multiskalaren und relationalen Geographien sozioökonomischer Ungleichheiten berücksichtigt 8
Durch die zwei Phasen der EU-Osterweiterung müsste hier formal viel deutlicher zwischen den verschiedenen osteuropäischen EU-(Nicht-)Mitgliedern und ihrem Recht auf Bewegungsund Arbeitnehmerfreizügigkeit differenziert werden. Allerdings zeigen erste Bilanzen der Bundesagentur für Arbeit (2011) nach Einführung des Rechts auf freie Beschäftigung für die östlichen Beitrittsländer aus 2004, dass viele der qualifizierten osteuropäischen Pflegekräfte in der Irregularität verbleiben, da ihre Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt ist. Für den hier vorliegenden illustrativen Kontext wird daher nicht zwischen den Beitrittsländern von 2004 und 2007 sowie weiteren osteuropäischen Ländern differenziert, noch explizit berücksichtigt, dass für Pflegekräfte aus Russland, Weißrussland, der Ukraine etc. sowohl der Grenzübertritt als auch die Arbeitsaufnahme weiterhin „illegal“ bleiben.
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werden. D.h. es geht nicht um die Addition oder den Vergleich von Ungleichheiten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen, sondern darum, dass Ungleichheiten multiskalar sind – und daher auch als multiskalare sowie als zutiefst hegemoniale Prozesse untersucht werden. 5.2. Privatisierte Gesundheit Die in neoliberalen Regierungsformen zentral gewordene Privatisierung des Öffentlichen und Politisierung des Privaten verschiebt soziale Verantwortlichkeiten in den Bereich der Selbst-Verantwortung bzw. des individualisierten Risikomanagements. Dies soll abschließend kurz am Beispiel der aktuellen Gesundheitspolitik illustriert werden, denn im Anschluss an das oben skizzierte anti-essentialistische, poststrukturalistische Subjektverständnis kann der postfordistischaktivierende Sozialstaat als Umsetzung der frühen feministischen autonomen Selbstorganisationspolitik gelesen werden. Die Ko-Konstitution von Staat und (vergeschlechtlichtem) Subjekt über die Gouvernementalität macht hingegen deutlich, dass es sich bei der Selbstführung als Prinzip staatlicher Disziplinierung bzw. dem „Regieren als Selbst-Regieren“ fast klassisch um das Verhältnis von Bevölkerung und Regierung, um die Regulierung des Verhaltens der Einzelnen handelt. Der Beschäftigung mit dem Verhältnis von Herrschafts- und Selbsttechniken geht ein Subjektverständnis voraus, in dem das verkörperte Subjekt Ausdruck individualisierter Identifikationsprozesse innerhalb der herrschenden Gesellschaftsstrukturen ist. Diese umfassen derzeit u.a. eine Gesundheitspolitik, in der gesunde Ernährung und sportliche Bewegung zum neoliberalen Prinzip der Selbstsorge – zur individuellen Aufgabe und zum persönlichen Lei(s)tungsmotiv geworden sind. Zugleich geht es um etwas Über-Individuelles, das „nationale Wohlergehen“ – und damit um „Regierung“ im Sinne von Regulierung und Leitung bzw. „Führung“ des Verhaltens des Einzelnen zum Wohle „der Allgemeinheit“. Im Kontext dieser Gesundheitspolitik wird das Subjekt zu einem „präventiven Selbst“ – zu einem Selbst, das seinen Körper durch das dominante Gesundheitsregime normiert und „optimiert“: Das präventive Selbst inkorporiert die gesellschaftlich regulierte „Führungspolitik“ der Gesundheitsprävention – es inkorporiert und „privatisiert“ die öffentliche Präventionspolitik. Das Zusammenspiel von Führungs- und Selbsttechniken äußert sich als individualisierte inkorporierte Disziplin, mit dem Ziel, einem „öffentlichen“ gesellschaftlichen Ideal – hier dem der Gesundheit – zu entsprechen (vgl. Foucault 1993). Durch den neoliberalen Umbau des Gesundheitssystems wird Gesundheit zunehmend zum privaten Gut und diese Privatheit von Gesundheit macht den Körper zu einem Ort, an dem Gesellschaft ihre Individuen definiert, normiert und
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optimiert – und über den sie die Bevölkerung sozial und räumlich platziert.9 Das Private (der Körper) ist damit erneut politisch – nun allerdings nicht im Kontext emanzipativer oder subversiver Politik, sondern als Ausdruck der oben beschriebenen „Regierung“ im Sinne der „Selbst-Führung“. 5.3. Ausblick: „Emotion, Power and Change“10 Feministische p/Politische Geographien erweitern die Perspektive von der öffentlichen und nationalstaatlichen Sphäre um die private und subjektzentrierte – dies allerdings nicht als „Romantisierung“ des Privaten und damit als „Umkehr“ der Dichotomie, sondern mit Blick auf deren wechselseitige Konstitutionsbedingungen. Die feministische Kritik an der Konzentration der Politischen Geographie auf nationalstaatliche Konfigurationen hat zu der Erkenntnis geführt, dass „der moderne Staat die Geschlechtertrennung nicht nur hervorruft, um männliche Macht zu stärken, sondern diese auch benötigt“ (Wastl-Walter 2010: 139). Gleichwohl wird das in der Regel so in der Politischen Geographie nicht thematisiert, denn der Staat, seine Institutionen und deren Praktiken werden als geschlechtsneutral verstanden. Feministische Theorien und Geographien wiederum setzen zunächst an einer veränderten Konzeption dessen an, was als politisch gilt und stellten in ihrer Konzentration auf das Mikrosoziale, auf lokale und körperliche Aspekte staatliche Raumkonstellationen und -produktionen (zu) stark hinten an. Doch die mittlerweile für feministische p/Politische Geographien als zentral herausgestellten Fragen zu Raum und Räumlichkeit beziehen sich neben dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit auf die Vordringlichkeit einer multiskalaren und relationalen Perspektive. Viele der staatlich regulierten Gesellschafts- und Raumverhältnisse haben lange Zeit auf der Trennung von Öffentlichkeit versus Privatheit und den daran gekoppelten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit basiert. Die Dominanz der an die Konstruktion und Hierarchisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit gekoppelten Lebens- und Arbeitsbereiche sowie deren dualistisch angelegte Raumzuweisungen verdeutlichen, wie das Geschlechterverhältnis und die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit den Staat konstituieren und stabilisieren – und wie zugleich staatliche Institutionen und Praktiken vergeschlechtlichte Subjektidentitäten konstituieren und regulieren. Im Hinblick auf eine verstärkte Berücksichtigung der Rolle von Räumlichkeit in gesellschaftlichen Verhältnissen ist dabei Raum weder neutraler Ursprung noch belangloser Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Abgrenzungsprozesse, sondern durch sie konstituiert und in seiner gesellschaftlicher Produziertheit für sie konstitutiv. Dies gilt auch im veränderten Gefüge des Geschlechterarrangements sowie 9
Zum Gesundheitsdiskurs am Beispiel der „Sportisierung“ des Sozialen und des Räumlichen, siehe Strüver (2011c); zum Imperativ von „schlanken Körpern im schlanken Staat“, siehe Kreisky (2008). 10 Sharp 2009
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im neoliberalisierten Sozialstaat. Dennoch machen die Beispiele der Auswirkungen veränderter Sozialstaatlichkeit deutlich, dass der Vorwurf vom Staat als patriarchales Herrschaftsinstrument („Männerbund“) nicht länger haltbar ist, da sich die Ungleichheiten zwischen Frauen, z.B. entlang von Altersgruppen, Klassenund nationalen Zugehörigkeiten deutlicher abzeichnen, so dass sowohl die Kategorie Frau(en) als auch die staatlichen Kräfteverhältnisse in der Untersuchung multipliziert werden müssen. Es ist der letztgenannte Punkt, in dem die aktuellen feministischen Perspektiven in weiten Teilen mit anderen herrschaftskritischen Gesellschaftstheorien übereinstimmen, die den Staat als heterogenes Kräfteverhältnis sowie als konstituiert durch und konstitutiv für gesellschaftliche Machtbeziehungen verstehen (vgl. Belina in diesem Band). Abgrenzungskriterien sind gleichwohl (1) die anhaltende Auseinandersetzung mit der Trennung bzw. den Neudefinitionen von Privatheit und Öffentlichkeit, einschließlich ihrer jeweiligen Räumlichkeit(en), (2) die Forderung des Zusammendenkens und -wirkens von „emotion, power and change“ sowie (3) der daraus abgeleitet Verweis auf ein Rescaling, das die Untrennbarkeit von Maßstabsebenen wie Körper, Haushalt und Nationalstaat innerhalb sich globalisierender Konfigurationen fokussiert: Feminist geography is already inherently political in that it advocates change where social, economic, or political relations, including those of gender, are inequitable, violent, or exploitative. This political turn [in feminist geography] aims to synthesize the small “p” political of feminist geography with the larger “P” political of political geography (Hyndman 2004: 308).
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SPRACHE, STAAT UND RAUM Zur (Neu-)Erfindung von Nation aus sprachpragmatischer Perspektive Antje Schlottmann
1. EINLEITUNG: SPRACHE UND TRANSNATIONALITÄT Im Frühjahr 2011 erreichten Hunderte von Flüchtlingen aus nordafrikanischen Ländern die Insel Lampedusa. Von den italienischen Behörden wurden sie mit befristeten Identitätspapieren ausgestattet und so wurden sie Teil des in sich grenzenlosen transnationalen Gebildes Schengenraum. An der Grenze zu Frankreich und Deutschland standen sie dennoch wieder vor geschlossenen Schlagbäumen. Die italienische Identifizierung, die aus den Menschen Rechtssubjekte machte, wurde von den beiden Nationalstaaten nicht anerkannt. Auch Dänemark erteilte Schengen eine Absage, indem der Staat Grenzkontrollen wieder einführte, um „die zunehmende grenzüberschreitende Kriminalität“ zu bekämpfen, so Finanzminister Claus Hjort Frederiksen (FAZnet vom 11.5.2011). Gleichzeitig wird aber die Idee einer Gemeinschaft jenseits nationalstaatlicher Regelung von den beteiligten Staaten diskursiv hochgehalten. In einer Zeit allgemeiner, globaler Flexibilität und Mobilität, insbesondere aber angesichts der Flucht von Menschen aus wirtschaftlichen, sozialen oder ökologischen Katastrophengebieten, stellt sich im öffentlichen Diskurs zunehmend die Frage, was heute noch unter einer Nation verstanden werden kann und sollte und welche Aussicht für den Erhalt nationaler Identität besteht, wenn der „Migrationshintergrund“ zur Regel wird. In der wissenschaftlichen Literatur ist der Nationalstaat und mit ihm das Konzept der Nation bereits in den 1990er Jahren für überholt erklärt worden. Heute, nachdem irgendeine Art von Globalisierung kaum noch in Frage gestellt wird, sind „Transnationalismus“ und „Kosmopolitismus“ Begriffe, die den Zustand einer vernetzten Welt beschreiben und erklären sollen, zumindest den, den diese in nicht ferner Zukunft annehmen soll und wird. Beck etwa unternimmt damit auch den Versuch, dem herrschenden „Weltbild, das territoriale, staatliche, ökonomische und gesellschaftliche Grenzen in eins setzt“ (Beck/Poferl 2010: 19) mit einer kosmopolitischen Soziologie sozialer Ungleichheiten zu begegnen. Deren Anliegen ist es, nationalstaatliche Gesellschaftsbegriffe nicht mehr zur methodologisch präskriptiven Bedingung zu machen und soziale Ungleichheiten heute in ihrer Entgrenztheit zu erfassen (ebd.). Mit diesem „methodologischen Kosmopolitismus“ soll „die Vermittlung national sedimentierter
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Strukturen mit Formen der De- und Renationalisierung“ soziologisch begriffen werden (ebd.: 20). Auch Pries (2008, 2010) spricht von einer „Transnationalisierung der Gesellschaft“ und hält die Aufteilung der Welt in „säuberlich getrennte und mehr oder weniger homogene Nationalstaaten und Nationalgesellschaften“ (Pries 2008: 37) im 21. Jahrhundert für problematisch. Unter Transnationalisierung versteht er den „Prozess der Herausbildung relativ dauerhafter und dichter pluri-lokaler und nationalstaatliche Grenzen überschreitender Beziehungen“ (ebd.: 44), nicht nur von Artefakten, sondern auch von sozialen Praktiken und Symbolsystemen. Im Sinne der Transnationalisierung werden durchaus Argumente gegen die globale Vernetztheit der Welt im Sinne einer Homogenisierung von Gesellschaft ins Feld geführt. Therborn (2010) etwa spricht von der Globalisierung als einem Prozess des Gleichmachens einerseits, aber auch und vor allem des Ungleichmachens. Beck (2010) sucht explizit die Ungleichheiten aufzuspüren, die trotz oder gerade aufgrund der nationalstaatlichen Entgrenzung neu entstehen und weiter bestehen. Pries wendet sich ebenfalls gegen ein „allzu einfach gestricktes Globalisierungsverständnis“ (Pries 2008: 31). Kulturelle, soziale und politische Globalisierung seien keineswegs gradlinige Entwicklungen (ebd.). Welche Rolle spielt aber Raum bzw. das Räumliche in diesen primär soziologisch geführten Diskursen vom Bedeutungsverlust des Staates für gesellschaftliche Prozesse? Globalisierung als geographischer, mithin raumbezogener Begriff ist assoziiert mit der Auflösung räumlicher Kammerung, mit Grenzüberschreitung, Vernetzung von Orten, weltweiter Mobilität von Menschen, Gütern, Stoffen etc. Während in sozial-/politikwissenschaftlicher Hinsicht der Begriff mit einer „kosmopolitischen Konstitution von Sozialität“ (Poferl 2010) verbunden mit einem stetigen Bedeutungsverlust von Nationalstaaten erscheint (Pries 2008: 27), wird in diesem Zusammenhang auch von einer „De-Lokalisierung“ gesprochen (Urry 2001: 29). Demgegenüber wird aber erkannt, dass keineswegs eine generelle Enträumlichung des Sozialen stattfindet, sondern eher von einer Re-Lokalisierung und geographischen Neuverteilung ausgegangen werden muss. Worin sich die sozialwissenschaftliche Theorie im Hinblick auf den räumlichen Aspekt der Globalisierung einig zu sein scheint, ist, dass von der „Container-Theorie des Raumes“ abgesehen werden muss, will man die Lage der Welt adäquat beschreiben (Berking 2010: 110). Das Modell von nationalen „Container-Gesellschaften“ wird hochgradig in Frage gestellt und als inadäquat für die Beschreibung der tatsächlichen Lage der Welt zurückgewiesen (Pries 2008: 32). Dies bezieht sich auch auf die Idee einer neuen kosmopolitischen Verfasstheit von Welt. Beck (1998, 2004) etwa sieht Kosmopolitismus als Anerkennung kultureller Andersartigkeit, „Kosmopolitismus entsteht demnach durch eine vertikale und eine horizontale Öffnung des nationalgesellschaftlichen ‚Containerdenkens’“ (Pries 2008: 30). Kosmopolitismus gehe dabei gleichzeitig aber, jenseits der starren Zugehörigkeit von Menschen zu ihrem Raum, „von der nicht auflösbaren Andersartigkeit der Menschen und Menschengruppen aus und fordert bzw. lebt die wechselseitige Anerkennung und Toleranz“ (Pries 2008: 31).
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Festzuhalten ist, dass diesen Gedanken folgend allen Globalisierungserscheinungen zum Trotz sehr wohl wesentliche Unterschiedlichkeiten gesellschaftlicher Zusammenhänge existieren, dass das vereinfachende Containerdenken in Staatsterritorien aber aufzugeben ist, soll die Welt adäquat beschrieben und begrifflich gefasst werden. Welche Einteilung soll aber die „richtige“ sein? Inwiefern lässt sich mit der Kontingenz und Perspektivität der in räumlichen Containern offenbar so systematisch und plausibel definierten Klassifizierungen und Kategorisierungen von Andersartigkeit adäquat umgehen? Welche Mittel stehen dafür zur Verfügung? Und ist nicht schon die Frage, wie sich Ist-Zustände der Welt heute adäquat beschreiben lassen, eine falsche und die richtige die, wie sich adäquat beobachten lässt, wie Welt beschrieben und begrifflich gefasst und strukturiert wird? Dann wäre das Containerraum-Konzept als eine empirische Tatsache anzusehen. Es wäre nicht obsolet, sondern sehr potent und aufgrund seiner Funktionalität vielleicht sogar unhintergehbar. Die folgende Betrachtung hat zum Anliegen, die soziopolitischen und sozioökonomischen Perspektiven um eine sozialgeographische Perspektive zu erweitern, die weniger die räumliche Transformation von sozialen Eigenschaften im Raum betrachtet, als die Verortungspraxis im Kontext des Zusammenwirkens von Macht und Raum in den Blick nimmt. Der Zusammenhang von Staat und Raum, insbesondere von Nationalstaat und Staatsterritorium und dem damit verbundenen Diskurs um Niedergang und Wiedererstarkung der Nationalgesellschaft, soll vor dem strukturellen Problem betrachtet werden, welche Mittel für die Konzeption und Handhabung von gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen wie „Integration“, „Zuwanderung“, „Grenzüberschreitung“, „Identität“ oder „Ungleichheit“ bereit liegen. Struktur soll dabei im handlungstheoretischen Sinne verstanden werden als institutionalisiertes Produkt alltäglicher Strukturierung (Schlottmann 2005: 103). Insbesondere geht es also um die alltägliche Festschreibung und Verwirklichung von gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen mit Hilfe räumlicher Logiken und Kategorien. Im Gegensatz zu einer diskurstheoretischen Herangehensweise rücken mit der Beobachtung von Sprachgebrauch und einzelnen Sprechakten Handlungsspielräume und -restriktionen des Einzelnen stärker in den Fokus. Gleichzeitig wird neben der Macht von politischen Institutionen dem damit verbundenen machtvollen Widerstand der Institution Sprache erhebliche Bedeutung zugemessen. Die Bedeutung des Sprechens als strukturierender Handlung und als performativer Praxis wird in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um Inklusion und Exklusion eher selten betrachtet.1 Wenn es um die Integrationsproblematik und um Ungleichheiten geht, steht eher das ohne Zweifel bedeutsame Problem der interkulturellen Verständigung vor dem Hintergrund verschiedener (National-)Sprachen zur Debatte. Hier sollen hingegen, bezogen auf Europa und den europäischen Sprachraum und unabhängig von unterschiedlichen Sprachsystemen und -regeln, die sprachlich in Anschlag gebrachten raumbezogenen Konzepte und Logiken von kollektiver und nationaler Identitätsbildung im Fokus ste1
Vgl. z.B. das Themenheft „Inklusion/Exklusion: Rhetorik – Körper – Macht“ der Zeitschrift Soziale Systeme (2008).
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hen. Es geht also weniger um Sprachgemeinschaften als um die raumbezogene Bestimmung von Gemeinschaften in der Sprachpraxis und ihre Widersprüche zu neuen Konzepten, welche von der Auflösung raumbezogener Bestimmung ausgehen. In der Aussage des dänischen Finanzministers, in der Rede von der Bekämpfung „grenzüberschreitender Kriminalität“, deutet sich bereits die Paradoxie einer vermeintlich transnationalen oder gar postnationalen Welt an: Wenn die Räume sich grenzenlos verbinden, wenn das Abkommen von Schengen freie Bewegung garantieren soll, welchen Sinn hat dann der Begriff der „Grenzüberschreitung“? Auch mit der darauf folgenden Verlautbarung eines Regierungssprechers in Kiel, der da sagte „Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten Dänemarks ein“ (FAZnet vom 11.5.2011), wird doch wieder die Grenze und ein nationaler Containerraum innerhalb des Schengenraums, der ein Drinnen vom Draußen trennt, verwirklicht. 2. SPRACHE UND GEMEINSCHAFT: DIE ROLLE VON RAUMLOGIKEN BEI DER NATIONALEN IDENTITÄTSBILDUNG Mit der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen (Werlen 1997) wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass Raum nicht einfach „ist“, sondern durch alltägliche Bezugnahme gemacht wird, sowohl symbolisch, als auch physischmateriell. Raum bzw. Räumlichkeit werden permanent durch Handeln geschaffen und verwirklicht und besitzen kein starres bezugsunabhängiges Wesen, das es wissenschaftlich lediglich zu entdecken gälte. Sprache bzw. sprachliche Praxis bildet dementsprechend keine bestehenden Grenzen und damit verbundene soziale Differenzen ab; ähnlich wie es Anderson (1998: 150) der Landkarte attestiert, nimmt sie sie gewissermaßen vorweg. Sprache ist nicht allein reproduktiv, sondern produktiv an Prozessen der Inklusion und Exklusion beteiligt. Was wir von der Welt („Globalisierung“), ihren sozialen (Un-)Gleichheiten und der Relevanz nationaler Containerräume wissen, wird nicht zuletzt durch unseren Sprachgebrauch und darin eingesetzte räumliche Strukturierungskonzepte hergestellt. Der Sprachgebrauch ist sowohl Zeiger als auch Mittel von Transformationen im Zusammenspiel von Gesellschaft und Raum. Die im Sprachgebrauch verwirklichten Strukturierungen leisten viel in Bezug auf die Handhabbarmachung von und Verständigung über die Welt und Teilen davon.2 Gleichzeitig ist Sprache der Sprechakttheorie Searles (1997, 2001) zufolge eine fundamentale Voraussetzung von institutionellen Tatsachen wie etwa „Geld“ oder eben auch „Staatsbürgerschaft“ (Searle 2001: 182). Dabei ist die symbolische Zuweisung von Statusfunktionen an Gegenstände entlang der konstitutiven Regel „X gilt als Y im Kontext Z“ entscheidend. Einem Gegenstand wird eine Funktion zugewiesen, die über ihre immanente Funktionalität hinausgeht, so 2
Für eine detaillierte Analyse am Beispiel „Ostdeutschland“ s. Schlottmann (2005), vgl. auch Burghardt zu „Wien“ (2010).
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etwa im Falle von Staatsgrenzen, die imaginierten Linien im Gelände zugeschrieben werden. Um die zugewiesene Statusfunktion zu erkennen, sind oftmals Hilfsmittel vonnöten, die dann ebenfalls sprachlich sind, obwohl sie nicht unbedingt Wörter enthalten. Der Ehering sagt: „Ich bin verheiratet“; ebenso wie die Identitätskarte sagt: „Ich bin ein Staatsbürger (und ein Rechtssubjekt)“; und die Karte sagt: „[H]ier verläuft die Grenze“ (Searle 2001: 185). Wenn die kollektive Anerkennung der Funktion nicht oder nicht mehr gewährleistet ist, kann es allerdings nötig werden, die symbolische Funktionalität durch eine immanente Funktionalität weiter zu stützen, wie etwa im Falle der Grenze durch Mauern und Selbstschussanlagen. Zentral ist aber in jedem Fall, dass die Grenze als „institutionelle Tatsache nur existieren kann, wenn sie als existierend repräsentiert wird“ (Searle 1997: 72). Um die strukturierende Wirkungsweise und verbundene Implikationen sprachlichen Handelns weiter zu verstehen, ist ein metapherntheoretischer Blick auf die raumbezogene „Grammatik der Weltdeutung“ (Schlottmann 2005: 36ff.) hilfreich. Für eine sprachbezogene, politisch geographische Forschung ergibt sich mit dieser Perspektive die Aufgabe, die Festgelegtheit, aber auch die Freiheitsgrade von räumlicher Bezugnahme, in der Sprache näher zu erkunden. Damit sei nicht behauptet, es handle sich beim Raumbezug des Sprechens um „sprachliche Naturgesetze“. Die herausgestellten Bedeutungen und „Logiken“ werden vielmehr – gemäß des sprachpragmatischen Ansatzes von Wittgenstein (1984[1953]) – aus ihrer Verwendung in ihrer Regelhaftigkeit erschlossen. Dabei wird der Fokus im Gegensatz zu vielen diskurstheoretischen Ansätzen nicht auf kommunikative Anschlüsse gelegt, sondern auf die performative Handlung von intentional fähigen (menschlichen) Akteuren. Auch steht die politische Dimension der Ausbildung und Veränderbarkeit von Diskursen nicht allein im Zentrum der Analyse wie etwa bei Laclau/Mouffe (1985). Die Kontingenz von Zuweisungen und Identifizierungen wird vorausgesetzt, ihr wird aber das strukturierende Element alltäglicher sprachlicher Handlungsweisen entgegengestellt. Diese individuelle Ebene ist indes konzeptionell nicht subjektiv, sondern in Verbindung mit Handlungssituationen, -kontexten und den soziokulturellen Hintergründen der Handelnden zu erfassen. Das heißt, es wird ein kollektives, konventionelles, wenn nicht gar strukturelles Moment vorausgesetzt in der Art und Weise, wie sich jeder Einzelne symbolisch auf Raum bezieht. Insbesondere durch die Arbeiten von John Searle (1974, 1982, 1991, 1997, 2006), der Sprechakte in eine größere Theorie zur „Konstruktion gesellschaftlicher Tatsachen“ (1997) einbettet, wird dieser Zusammenhang von subjektbezogener Einzelhandlung und intersubjektiver Ebene für die sozialgeographische Perspektive fruchtbar. Entgegen einer reduktionistischen Grundannahme, alle Wirklichkeit ließe sich semantisch begreifen, werden Sprechakte zum Ausgangspunkt der Frage, wie durch Funktionszuweisungen soziale Tatsachen geschaffen werden, die ohne Sprache nicht existieren würden. Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über verschiedene, beim alltäglichen Sprechen relevante Raumbezüge, in ihrer Verwendungs- und Wirkungsweise. Unter den strukturierenden Metaphern und metaphorischen Konzepten, die an der Verortung und Identifikation von Gegenständen beteiligt sind, ist das Contai-
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ner-Konzept prominent. Der Container bzw. die Idee von Innen und Außen, spielt insbesondere bei der Konstitution räumlicher Einheiten wie Staaten, Ländern oder auch Landschaften eine hervorragende Rolle. Großklaus (1995: 103) spricht von ihm gar als einer „kulturellen Invariante“ und einem binären Grundbaustein einer Sprache des Raumes. Komplexe, vieldimensionale Gebilde wie etwa Nationalstaaten erhalten über eine Innen-Außen-Orientierung räumliche Konturen, über die sie sich weiter organisieren lassen. Die metaphorische Übertragung äußert sich in Begriffen wie „Inland“, „Ausland“, „innere Einheit“, „Minister für Inneres“, „Außenpolitik“, „Landesinneres“ etc. Metaphorisch weitergehende Konzepte sind solche wie z.B. Sicherheit/Geborgenheit ist Innen; Gefahr/Unsicherheit ist Außen. Sprachlich sind sie in Ausdrücken wie „die Familie (oder auch: Gemeinde) ist ein Haus“, „sich in sich zurückziehen“, „aus sich herauskommen“, „sich verbarrikadieren“ oder „Politik der Abschottung“ zu finden. Hier deutet sich zum Beispiel im Hinblick auf die terroristischen Anschläge der 1970er Jahre, aber auch neuerdings mit Blick auf den 11. September 2011, eine Diskontinuität an. Dass der Feind „von innen“ kam, widerspricht dem konsolidierten Konzept, das auch der räumlichen Orientierung der Waffen zugrunde liegt. Nah/Fern ist eine ebenso wichtige Orientierung für die Vorstellung von Gemeinschaften, und sie ist mit dem Container-Konzept kongruent (vgl. Schlottmann 2005: 170f.). Metaphorische Erweiterungen lassen sich, angelehnt an Lakoff (1990) und Lakoff/Johnston (1998), wie folgt finden. Ähnlich ist nah: physische Nähe oder das physisch Nahe ist das Ähnliche, das Ferne das Differente, oder Andersartige. Das Nahe ist das Gleichartige, sich physisch nahe Menschen sind von einer Art, kulturell gleichartig, bilden eine Gemeinschaft oder „nähern sich einander an“ („Ost und Westeuropa kommen sich näher“). Viele metonymische Stereotypisierungen enthalten in ihrer Sphäre das Konzept Nähe ist Gleichartigkeit. In der Erweiterung besteht auch das Konzept räumliche Nähe ist Identität, Einheitlichkeit. Meist formieren sich diese Stereotypen aus einer Außen- bzw. Beobachterperspektive. Weitergehende Übertragungen sind dann „ein naher Verwandter“ oder „in Zeiten der Not rücken wir näher zusammen“. Menschen aus einer sich räumlich nahen Gemeinschaft werden somit als gleichartig betrachtet, dabei wird der Ort (die Herkunft) zum maßgeblichen Indikator der Ähnlichkeit. Physische oder räumliche Nähe wird darüber hinaus gleichgesetzt mit Vertrautheit und/oder mit Verständnis. „Ich war ihm sehr nah“ oder „wir haben uns voneinander entfernt“, „wir haben uns auseinander gelebt“, „jemanden von sich fern halten“ oder „jemanden nicht an sich heran lassen“ sind sprachliche Umsetzungen dieses Schemas. Bezüglich der Vorstellungen, die an diesem Konzept hängen, werden physisch nahe Menschen als „mit sich vertraute“ Gemeinschaften imaginiert. Metonymisch wird daraufhin angenommen, ein Deutscher müsse (als „Experte“) über die Deutschen Auskunft geben können. Bei diesen Nah/FernKonzepten spielt in Bezug auf die Vorstellung von Gemeinschaften auch die Indexikalität eine Rolle. Die untereinander nahen Menschen, die als Gemeinschaft imaginiert werden, sind dem außenstehenden Beobachter als Gesamtheit fern/fremdartig. Wenn etwa ein dänischer Sprecher über „die Deutschen“ redet, kon-
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struiert er eine gemeinschaftliche, untereinander gleichartige Andersartigkeit im Verhältnis zu ihm. Identität ist sprachpragmatisch betrachtet eine mehr oder weniger institutionalisierte Form der alltäglichen Praxis des Identifizierens (Schlottmann 2005: 229). Dabei kommen sowohl raumbezogene Konzeptsysteme wie das des Containers zum Einsatz (ich komme aus xy …, gehöre in das Land xy …, ich gehöre zu den xy’s) als auch Statussymbole wie die Identitätskarte. Das Narrativ der Identität wird verbunden mit der Logik räumliche Nähe ist Gleichartigkeit und der Containerlogik, dass alles, was innerhalb der Grenzen verortet wird, insbesondere auch die Kultur, gleichartig und eigenartig ist (Schlottmann 2003). So stehen Sprache und Handlung in engem Wechselspiel: Weil Menschen in einem Container Deutschland verortet werden, werden sie als Deutsche behandelt. Ohne Frage sind es nicht allein raumbezogene, symbolische Handlungen, die für einen Gegenstand wie „Deutschland“ konstitutiv sind, auch wenn die symbolische Funktionszuweisung für alle institutionellen Tatsachen Voraussetzung ist. Mit den sprachlichen Strukturierungen gehen aber verschiedene Handlungsmuster einher, die im Regelfall zu ihnen „passen“, insofern sie begründend auf die unterliegenden Logiken verweisen. Die Etablierung des Eigennamens als intersubjektiver Bezug auf eine RaumZeit-Stelle eröffnet die Möglichkeit zu weiteren Funktionszuweisungen, also eine Iterierung der symbolischen Funktion. Die gesellschaftliche Bedeutung der grundlegenden Verortungsmodi entspricht einer weiteren Funktionszuweisung. So kann aus einem indizierten Gebiet ein Territorium werden und dieses wiederum zur Grundlage einer Nation. Aus einem Menschen, der aus dem entsprechend indizierten Gebiet kommt, wird so z.B. ein „Deutscher“, der anhand gewisser Indikatoren (Pass) als solcher eindeutig identifiziert werden kann. Auch in den Fällen, in denen es keine öffentlichen Statusindikatoren gibt, leitet sich die Zuordnung nicht zwingend, aber doch überwiegend aus der Raumbindung her: dem Wohnort, dem Aufenthaltsort oder dem Geburtsort. Der Ort verweist auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie, die ihrerseits mit kulturellen Eigenschaften verknüpft wird. Kultur oder kulturelle Eigenart wird auf diese Weise verortet (Schlottmann 2005: 232). Auf diese Weise besteht der Zusammenhang von sprachlich in Anschlag gebrachten Raum-Logiken und dem Begriff der Nation, nationaler Identität und der praktischen Verwirklichung des Nationalstaates. Die Rede vom Raum ist derart eingebunden in das soziale Handeln und zwar sowohl in produktiv-konsumtiver als auch in politisch-normativer Hinsicht (Werlen 1997: 272).
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3. RAUMLOGISCHER SPRACHGEBRAUCH: DIE DESINTEGRIERENDE REDE VON INTEGRATION Am Beispiel Migration, Zuwanderungssteuerung und Integrationspolitik lässt sich aus sprachpragmatischer Perspektive ein immanenter Widerspruch von dem Konzept Staat auf der einen Seite und Konzepten wie (absoluter) Integration und multipler Identität auf der anderen Seite deutlich machen: Die Kontrolle, Steuerung, Limitierung sowie die Möglichkeiten einer vollkommenen Restriktion von Zuwanderungen ist (...) etablierter Bestandteil jeder Politik – ein Bestreben, das im übrigen auch die Staaten der EU im Hinblick auf eine zukünftige gesamteuropäische Zuwanderungspolitik übereinstimmend artikulieren (Behr 1998: 43).
Behr zieht in seiner Arbeit zu „Zuwanderung im Nationalstaat“ das Fazit, dass von einer „Prämisse der Fremdausgrenzung“ (ebd.: 302) zu sprechen ist, welche die Funktionalisierung der Zuwanderungspolitik bestimmt (ebd.: 304). Gleichzeitig wird man in der aktuellen Programmatik des Bundesministeriums für das Innere (!) angerufen: „Zuwanderung ist Zukunft!“ (BMI 2009–2012). Gerade der Begriff der Integration, also das Gegenteil von Fremdausgrenzung, ist hier diskursbestimmend: Bei mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ist Integration eine Schlüsselaufgabe für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land (BMI 2009–2012).
Wie lässt sich dieser widersprüchliche Befund sprachpragmatisch begreifen? Konzepte wie „Integration“ oder auch „Transnationalität“ sind schwer fassbar, weil versucht wird, mit einem impliziten Konzeptsystem, das auf Begrenzung, Desintegration und Diskriminierung angelegt ist, das Entgrenzte, Integrierte oder Multiple zu begreifen. Ohne eine gänzlich „neue“ (unstrukturierte und nichtstrukturierende) Sprache verbleiben die Konzepte aber eine diffuse Negation der alltäglichen Strukturierungsleistungen. Anders gesagt: Proposition und strukturierende Wirklichkeit der Sprechakte geraten in einen Widerspruch. Aus Grenzen und Begrenzung wird „Ent-Grenzung“, aus Territorialisierung wird „DeTerritorialisierung“ oder „De-Lokalisierung“, aus dem Nationalen das „Transnationale“. Was aber ist eine nicht- oder nicht-mehr-Grenze? Wie ist sie vorstellbar, ohne die Grenze zu zitieren? Wie ist ein verschwundener, integrierter Unterschied artikulierbar, ohne auf alte Unterschiede zu rekurrieren oder neue Unterschiede einzuführen? In Anlehnung an Nassehi (1997: 192) ist der Begriff einer „enträumlichten“ oder „transnationalen“ Welt wie der der „multikulturellen Gesellschaft“ einer, der gar nicht anders kann, als „jene Mauer zwischen vermeintlich geschlossenen Symbolwelten mitzuerrichten, gegen die zu opponieren er sich anschickt“. Aus der Widersprüchlichkeit des Unterfangens heraus sind diese NegativKonzepte demnach nicht einfach Worthülsen. Sie schreiben als Negationsfiguren ihren Gegenstand, die Differenz, fort. Ihr strukturierender, begrenzender Gehalt bleibt bestehen, auch wenn sich das Vorzeichen ändert oder eine „Überschreitung“ von Grenzen gemeint wird, und die gemeinte („explizite“) NichtStrukturierung gerät in Widerspruch mit der immanenten („impliziten“) Struktu-
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rierung. Dieser Widerspruch ist aber nicht subversiv, sondern konstitutiv. Gesellschaftstheoretisch wurde mit dem ursprünglich von Jaques Derrida eingeführten Begriff des „konstitutiven Außen“ und dem „einschließenden Ausschluss“ bei Laclau ein ähnlicher Sachverhalt gefasst. Gesellschaftliche Einheit lässt sich demzufolge „nur über den Antagonismus der Exklusion des ‚Anderen‘ ausbilden, das aber als Ausgeschlossenes elementar mit dem Innenbereich der Gesellschaft verbunden bleibt“ (Scheu 2008: 298). Dieses Prinzip gilt auch und gerade für die räumliche Formierung des Staates. Konzeptsysteme wie die Container-Metapher sind leistungsstarke Prinzipien der Abgrenzung von Entitäten und deren einheitlichen Eigenschaften und im Sinne einer „Grammatik der Weltdeutung“ kaum Gegenstand kritischer Reflexion. Auch wenn wir explizit Wörter dafür finden können, lässt sich „Integration“ als Konzept mit diesem Konzeptsystem schwerlich abbilden. Aus gleichem Grunde werden auch kulturelle Einheitlichkeit, Homogenisierung oder Nivellierung zu Schreckgespenstern des Unbegreiflichen. Das heißt auch, dass es keine „Einheit“ ohne Grenzen geben kann, auch wenn es sich um neue oder andere Grenzen handelt. Die Kategorien etwa des deutschen Staates als Einheit und seiner „territorialen Integrität“ werden trotz aller Integrationsprogrammatik nicht grundsätzlich in Frage gestellt, selbst wenn „Zuwanderer_innen“ oder „Ausländer_innen“ drinnen bleiben dürfen. Auch die so genannten „Ausländer_innen“ werden der raumbezogenen Herkunftslogik folgend ebensolche bleiben, selbst wenn und gerade weil sie sich „in Deutschland“ befinden, wo sie allerdings, dem nationalen Integrationsplan gemäß, deutsche Werte und die deutsche Sprache annehmen sollten (Bundesregierung Deutschland 2007). Hierin liegt die „Macht der Kategorie“ (Natter/Jones 1997) und die Schwierigkeit, nicht-essentialistische Vorstellungen von Identität und Raum nicht nur explizit einzuführen, sondern auch implizit einzulösen. Hoffmann (2002: 221) formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: Der Staat hat nicht nur dafür Sorge zu tragen, daß keine Unterschiede zwischen den Menschen gemacht werden. Vor allem anderen soll er selbst die Menschen gleich behandeln. Aber solange er nur einer unter vielen ist, solange er auf ein bestimmtes Territorium beschränkt bleibt, beruht seine Existenz auf Ungleichheit, nämlich auf der Unterscheidung zwischen den eigenen Angehörigen und denen anderer Staaten. Wollte er sich über die strukturelle Asymmetrie der Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen dem partikularen Ausschnitt seiner eigenen Bewohner und der übrigen Menschheit hinwegsetzen, so würde er sich selbst aufheben. Da mag zwar die wirtschaftliche Globalisierung und die außenpolitische Verflechtung voranschreiten; aber dem partikularen Staat sind in der Anwendung des Gleichheitsprinzips Grenzen gesetzt, die sich aus seiner eigenen Natur ergeben.
Es gibt keine Möglichkeit, die „Ausländerfrage“ pragmatisch und programmatisch abzuhandeln, ohne „den Ausländer“ resp. „die Ausländerin“ als exklusive Kategorie, als exklusiv verortete Gruppe zu reproduzieren. Da hilft es wenig, die bundesdeutsche „Ausländerbeauftragte“ in „Integrationsbeauftragte“ umzubenennen. Auch die „multikulturelle Gesellschaft“ ist begrifflich nicht fassbar, ohne dabei in eine Vordergründigkeit vorzustoßen, welche die alten Schemata nicht verlässt, diese aber moralisch verschleiert (Hoffmann-Nowotny 1996). „Schmelztiegel“ und „integrierte Nationalgesellschaft“ erweisen sich so betrachtet in der Tat als
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Mythen (Pries 2008: 35), aber weniger aufgrund der unzulänglichen Performanz verordneter Integrationspolitik, sondern, noch viel grundlegender, aus sprachpragmatischen Gründen, weil auch die Rede von Integration die impliziten kategorialen Logiken nicht verlässt. „Nationalität“ ist eine hochgradig stabile institutionelle Tatsache, die sich auch auf der Basis der symbolischen Iterierung „Raum ist Container“ und „Containerinhalt steht für gleichartige menschliche Eigenschaft“ begründen, und deren weitere Statusfunktion („Eigenschaft gilt als Zugangsberechtigung“) sich im Pass, also dem Statussymbol und seiner fortlaufenden Reproduktion (z.B. beim Grenzübergang) manifestiert. Gleichzeitig erlaubt aber die trennscharfe, raumlogische Identifizierung eine Zuwanderungspolitik, die ohne aufwändige Einzelfallprüfung regelt, wem Einreise und Aufenthalt gestattet wird. Die sprachlich erscheinenden Verortunglogiken sind so gesehen organisatorisch hochfunktional. Dies sind sie selbstverständlich auch deshalb, weil schon die Begriffe der „Einreise“ und des „Aufenthalts“ in der gleichen Logik operieren. Zu einem ähnlichen Befund gelangen Reutlinger und Brüschweiler (2011) in Bezug auf die Rede von „Parallelgesellschaften“. In ihrer kritischen Auseinandersetzung zeigen sie, wie mit diesem Begriff und einer damit verbundenen unterliegenden Raumlogik homogene kulturelle Einheiten und Eigenschaften konstruiert werden (ebd.: 157). Zudem zeigen sie die Widersprüche auf, die sich durch die Rede in absoluten Einheiten und einem Verständnis von Sozialräumen als „ständig (re-)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ ergeben (ebd.: 169). Einer ihrer Schlüsse ist: „Die bisherige Vorstellung von Innen und Außen greift zu kurz“ (ebd.: 166). Wenn also seitens der Bundesregierung programmatisch gefordert wird: Erfolgreiche Integrationspolitik setzt auf die vielfältigen Fähigkeiten, die Leistungen und das Engagement der Migrantinnen und Migranten. Sie vermeidet Klischees und sieht Probleme als Herausforderungen und Chance zur weiteren Entwicklung von Politik und Gesellschaft (Bundesregierung Deutschland 2007: 13),
dann ist dem entgegenzusetzen, dass die Vermeidung von verortenden Klischees bereits im von ihr selbst eingesetzten Sprachgebrauch, der den alltäglichen wiederum reproduziert und verfestigt, kaum möglich ist. Die metaphorischen Konzepte werden stetig reproduziert und dies ist, so lässt sich behaupten, auch Teil des (rhetorischen) Programms. Angela Merkel jedenfalls richtet in diesem Sinne ganz explizit ihren metaphorischen Appell an eine unbestimmte Gemeinschaft, die sich unter demselben Dach vereinen und mit ihrem Aufenthaltsort identifizieren soll: Es liegt an uns, das gemeinsame Haus Deutschland als liebens- und lebenswerte Heimat verstehen und erfahren zu können (Bundesregierung Deutschland 2007: 7).
4. NEU(ER)FINDUNG DES NATIONALEN: REFLEKTIONEN ALLTÄGLICHEN UND WISSENSCHAFTLICHEN HANDELNS Was lässt sich im Geiste Andersons (1998) und aus sprachpragmatischer Sicht sagen zur fortlaufenden Erfindung und potentiellen Neu-Erfindung der Nation in
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der Postmoderne? Es ist zunächst zu trennen zwischen einer alltagsweltlichen und einer sozialwissenschaftlichen Perspektive, bzw. zwischen einer Beobachtung erster und zweiter Ordnung. In alltagsweltlicher Hinsicht ist vor dem Hintergrund der alltäglichen Reproduktion nationaler Containerräume und ihrer Grenzen zunächst Pries (2008: 37) zuzustimmen: Nationalstaaten und Nationalgesellschaften sind immer noch und werden auch in Zukunft für die Prozesse der Selbst- und Fremdwahrnehmung, für das praktische alltagsweltliche Leben, für Organisationen und für soziale Institutionen eine wichtige Bezugseinheit sein.
Gleichwohl, so Pries weiter, „sind die Zeiten eines naiven oder unschuldigen Nationalismus für immer vorbei“ (ebd.: 38). Zwar lassen sich „Transnationalisierungsdynamiken“ ausmachen, zu denen auch der Versuch zählt, andere identitätsstiftende Bezugseinheiten wie die Region oder Europa zu installieren. Auch die von Pries angeführten fundamentalistischen, religiösen Bewegungen können durchaus als Gegenpole zur „Leitidee von nationalgesellschaftlicher Kultur- und Wertehegemonie“ angesehen werden (ebd.: 39). Dennoch steht der von Pries skizzierten Praxis der Transnationalisierung der sozialen Welt die der Nationalisierung im Sinne einer Konzeptualisierung und institutionellen Verwirklichung nationaler Containerräume nicht nur beiseite. Vielmehr ist gerade die nationale Zugehörigkeit ein alltagsweltliches Konzept, das sich fortlaufend in der Frage und Antwort zur Herkunft reproduziert. „Transnationalisierung“ ist dagegen aus der oben angeführten Problematik heraus kein alltagsweltliches Konzept, das dem Bedürfnis nach Identität und Identifizierung in verschiedensten Bereichen sozialer Praxis genügen kann. Vielmehr scheint es sich um eine wissenschaftliche Metakonzeption zu handeln, die sich einreiht in die sozialwissenschaftlichen Bemühungen angesichts neuer Problemlagen, die dem Prozess der Globalisierung zugeschrieben werden, neue Beobachtungsmodi vorzuschlagen. Pries thematisiert das Problem des Auseinanderlaufens wissenschaftlicher Beschreibung und alltäglicher Wirklichkeit durchaus, indem er einen „objektiven“ Teil der Strukturen und Ströme von einem „subjektiven“ Teil der Wahrnehmungen und Weltbilder der Internationalisierung unterscheidet, zwischen denen sich „leider (…) keine saubere Trennlinie ziehen“ ließe (ebd.: 125). Um „Transnationalisierung“ nicht zu einem Catch-All-Begriff verkommen zu lassen, fordert er daher „weitere theoretischkonzeptionelle Präzisierungen“ (ebd.). Hierbei, so die Folgerung aus dem hier Diskutierten, übersieht er aber die sprachlich-konzeptionelle Bedingtheit der begrifflichen Leere. Becks Entwurf einer „kosmopolitischen Soziologie“ zufolge ist hingegen der „methodologische Nationalismus“ in den Sozialwissenschaften zugunsten des kosmopolitischen Blicks aufzugeben. Denn: Erst im kosmopolitischen Blick wird überhaupt sichtbar, daß die Metaprinzipien von Staat, Nationalität und Ethnizität die Bezugseinheit, die Rahmung konstituieren, in der die Fragen der materiellen Verteilung von Ressourcen konfliktvoll ausgetragen werden (Beck 2010: 30).
Es geht ihm darum, den Hintergrund des (vorherrschenden) soziologischen Blicks freizulegen und zu reflektieren und so zu sehen, „daß die Verbindung von Natio-
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nalität und Territorialität vorgängig die soziale Position von Individuen und Gruppen im Weltmaßstab festlegt“ (ebd.). Die Soziologie, so Beck, macht in ihrer (Ungleichheits-)Forschung „die politische und rechtliche Grammatik nationaler Grenzen unreflektiert und affirmativ zur Prämisse der Rahmung“ (ebd.: 34). Ein Argumentationspunkt, der auch bei Beck mit dem Befund der sprachpragmatischen Perspektive durchaus übereinstimmt, ist der einer Kongruenz von Beobachterperspektive und Akteursperspektive: [Die] Prämisse des normativ-politischen Nationalismus der Akteure wird unreflektiert zur Prämisse der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive (Beck 2010: 31).
Man könnte auch sagen: Die wissenschaftliche Beobachtung zweiter Ordnung macht sich die Kategorien der alltagsweltlichen Beobachtung erster Ordnung zu eigen bzw. sie verlässt diese nicht. Daraus resultiert Blindheit gegenüber den Kategorien, ihrer Macht und ihrer Wirkungsweise. Becks aus diesem Befund resultierende Schlüsselfrage ist denn auch die, wie: Rahmen, Einheiten sozialer Ungleichheiten über Grenzen hinweg zwischen Menschen und Bevölkerungen konstruiert werden [können], deren Identitäten unter anderem Solidaritäten einschließen, die auf anderen interaktiven und partizipativen Klassifikationen als Nationen und politischen Einheiten gründen (ebd.: 35).
Dabei soll die Soziologie Abstand nehmen von „einem Vokabular und einer Grammatik (…), die für die simple Modernität erdacht und etabliert wurden“ (ebd.: 48). Trotz einer gewissen Deckung des grundlegenden Arguments ergeben sich aus sprachpragmatischer Sicht dennoch Einwände. Die Erzeugung von Ungleichheit (und Gleichheit) hat zweifelsohne viele Dimensionen. Im Vorangegangenen wurde eine Perspektive angelegt, die auf die Macht symbolischer Differenzbildung mithilfe räumlicher Schemata aufmerksam macht. Deren Befunden folgend ist zunächst daran zu zweifeln, dass es hier überhaupt um eine verordnete Transformation der „Grammatik nationaler Grenzen“ (Beck 2010: 34) gehen kann und soll. Dies bezieht sich auf die alltagweltliche wie die (sozial-)wissenschaftliche Ebene gleichermaßen, insofern es sich um eine sprechakttheoretische Perspektive handelt, welche den Gebrauch der Sprache, also die Sprachpraxis und ihre „Grammatik“ im Vollzug des Sprechens fokussiert und reflektiert – eine Grammatik, die wissenschaftlichem wie alltäglichem Sprachgebrauch gleichermaßen zugrunde liegt. Beck zeigt die Schwierigkeit des Hinaustretens aus den Kategorien, die er an einer herkömmlichen Soziologie kritisiert, daher selbst, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens ist das Konzept von Nationalität und Nationalstaatlichkeit wiederum ein Negativ-Hintergrund für sein neues Konzept des kosmopolitischen Blicks, das der Neuordnung gesellschaftlicher Prozesse im Sinne der Transnationalisierung gerecht werden soll. Gleichzeitig unterstellt er dabei eine Kongruenz, die derselben Tautologie unterliegt wie die von ihm in Bezug auf den methodologischen Nationalismus herausgestellte: Weil die Welt heute transnational geordnet ist, muss sie mit transnationalem, in seinen Worten kosmopolitischem Auge betrachtet werden. Dieses Argument funktioniert nur mit einer onto-
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logischen Setzung. „Territoriale, staatliche, ökonomische und gesellschaftliche Grenzen existieren zwar fort, aber sie koexistieren nicht mehr“ (ebd.: 31). Damit nimmt Beck eine universelle Beobachterperspektive für sich in Anspruch, aus der der entgrenzte oder grenzüberschreitende Status gesellschaftlichen Seins konstatiert werden kann. Erst so werden auch seine „Artisten der Grenze“, wie er die „durchschnittlichen Migranten“, die „Verkörperung der sich vermischenden Grenzen zwischen Nationen, Staaten, gesetzlichen Ordnungen und deren Widersprüchen“ nennt, denkbar (ebd.: 41). Bei aller Plausibilität der von Beck wiederholt ausgeführten Kritik am unreflektierten methodologischen Nationalismus als affirmative Prämisse der Rahmung sozialwissenschaftlicher Ungleichheitsforschung, der Klassentheorie und soziologie (ebd.: 40): Konsequent als reflektierte Perspektive auf Gesellschaft verstanden, müsste der kosmopolitische Blick sich ebenfalls selbst bezüglich seiner konstitutiven Implikationen in den Blick nehmen. Dabei käme heraus, dass die Rede von Grenzüberschreitung das Grenzkonzept immer reproduziert. Für eine solche Reflektion spielen überhaupt gerade raumlogische Beobachtungsmuster, also die gesellschaftliche und symbolische Konstruiertheit von Raum, eine entscheidende Rolle. Raum und Räumlichkeit werden in Verbindung mit Becks Konzept aber lediglich im Sinne eines metrischen (alltagsweltlichen) Raumbegriffs abgehandelt.3 Schließlich gelingt es auch Beck daher nicht (und kann es ihm nicht gelingen), sich von den alltäglichen diskriminierenden, verortenden und vereinheitlichenden Raumlogiken zu distanzieren, sondern er reproduziert sie gleichermaßen. Er spricht von „Staaten, in denen die Armut und Analphabetenrate besonders hoch sind“ (ebd.: 37) oder von „Niedrigsicherheitsländern“ und „Niedriglohnländern“, in die Risiken abgeschoben werden (ebd.: 36). Sprachpragmatisch betrachtet, ergibt sich also zusammenfassend der Einwand, dass hier die in der Sprache selbst angelegte konstitutive Kraft der alltäglichen symbolischen Verwirklichung von nationalen Räumen und die Iterierung ihrer Bedeutung bis hin in die Materialisierung von Schlagbäumen systematisch unterschätzt wird. Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Exklusion und Inklusion sind aus dieser Perspektive als Fragen des Grades (z.B. der Identifikation mit Nation im Sinne von „Heimat“) und der Bestimmungskriterien (z.B. der Identifikation als „Staatsbürger_in“ oder als „Ausländer_in“) anzusehen, weder handelt es sich um ontologische Tatsachen, noch können diese Prozesse der Zuordnung und Verortung generell abgeschaltet, sondern lediglich in Bezug auf die Kategorien modifiziert werden. Die Frage ist dann vielmehr, wer sich unter welchen Bedingungen welcher Bestimmungshoheit beugen muss. Dies sind einerseits im allgemeinen Sinne die Teilhabenden an einer Sprechergemeinschaft, die sich der gleichen verständigungsleitenden Strukturierungspraxis, ihrer Regeln und 3
Pries hingegen erkennt die Wichtigkeit der Reflektion der Debatte inhärenter Raumkonzepte. „Wenn man dagegen Vergesellschaftungsprozesse nur im Modell essentialistischer Raumbehälter denkt, dann wird man nach dem Zeitalter der Nationalgesellschaften nur die Ära der ‚Weltgesellschaft‘ oder des ‚Weltsystems‘ prognostizieren können“ (Pries 2008: 123).
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„Grammatik“ bedienen. Andererseits sind es spezifisch betrachtet, diejenigen, die die Gewalt jener Institutionen spüren, wobei hier im Einzelfall zu prüfen wäre, welche Wirklichkeit für wen situativ relevant wird. Die „Flüchtlinge“ von Lampedusa jedenfalls konnten nicht wählen, ob sie in einer national oder transnational (un-)geordneten Welt leben. Auch Globalisierung konnte in ihrer Situation vor dem geschlossenen Schlagbaum kein alltagstaugliches Konzept sein. Die institutionelle Tatsache Nationalstaatlichkeit und die Idee der Nation traf sie mit der Verweigerung des Einlasses und der damit verbundenen machtvollen Materialisierung der innerterritorialen Grenze. Ihre gerade erst erworbenen italienischen Identitätspapiere in ihrer Hand hatten sie als Statusindikatoren verstanden. Für den Moment waren sie: Schengenbürger, Rechtssubjekte in einem Raum ohne Grenzen. Darauf verwiesen sie, mussten aber erfahren, dass sie im nächsten Moment in ihrer Handlung wieder nur Teil einer anderen alltäglichen Konstitution containerisierter nationaler Ordnung waren. 5. AUSBLICK: ÜBERLEGUNGEN ZUM AUSSTIEG AUS DER NATIONALISIERENDEN SPRACHPRAXIS Der sprachpragmatische Blick auf das Verhältnis von Staat und Raum hält dazu an, soziopolitische, kritische Perspektiven zum herrschenden Nationalismus und daraus programmatisch entwickelte Neukonzepte des Weltbegriffs, sei es Kosmopolitismus oder Transnationalisierung, vor dem Hintergrund verfestigter sprachlicher Handlungsroutinen zu bewerten. Diese verweisen nicht zuletzt auch auf die Nützlichkeit exklusiver Differenzbildung. Sie sind weder einfache Ursache noch Wirkung, sondern integrativer Teil der fortlaufenden Konstitution anderweitig hochgradig problematischer Kategorien. Ausblickend ist demnach die Frage aufzuwerfen, ob und inwiefern es eine tiefgreifende Transformation der impliziten raumbezogenen Grammatik der Weltdeutung geben kann. Reutlinger/Brüschweiler (2011: 169) kommen zu folgendem Schluss: In der Rede über Migrations- und Integrationsphänomene braucht es eine Adäquatheit und Korrespondenz zwischen Begrifflichkeiten und Raumvorstellungen. Diese ermöglicht es, nicht mehr länger scheinbare Gegenstände zu beschreiben, sondern vielmehr die dahinter liegenden Prozesse in den Blick zu nehmen.
Im Vorangegangenen habe ich versucht zu zeigen, dass dieses Anliegen als normativer, moralischer Aufruf formuliert nicht erfolgversprechend ist. Wer soll der Adressat sein, wenn es sich bei dem Problem der mangelnden Adäquanz einerseits um ein zumindest in Teilen strukturelles Problem handelt und andererseits um ein erkenntnistheoretisches? Wer sollte entscheiden können, wie vom Gegenstand adäquat geredet werden kann, wenn Perspektivität und Kontingenz vorausgesetzt werden müssen? Warum sollte eine wissenschaftliche Perspektive privilegiert sein in Bezug auf die Fähigkeit, aus der strukturierenden Sprache hinauszutreten und darüber hinaus die Gegenstände unperspektivisch, eindeutig und wesentlich zu erfassen und zu beschreiben? Anders gesagt: Gerade als moralischer Aufruf („so ist
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es nicht richtig, ihr müsst es besser machen!“) muss dieses Anliegen scheitern, wenn die Bedingungen der Möglichkeit im Dunkeln bleiben und nicht verhandelbar sind. Diskriminierungen sind im allgemeinen Sprachgebrauch praktisch kaum vermeidbar.4 Sie gehören zur politischen Praxis der Steuerung ebenso wie zur alltäglichen Identitätsbildung. In der Tat ist aber die Frage zu stellen, inwiefern die raumbezogene Metaphorik mit ihrer Trennschärfe und ihrem homogenisierenden Effekt entscheidendes Kriterium der Artikulation von Differenz sein muss und soll. Differenzbildung ist ein funktionales Beschreibungsinstrument, sie ist aber nicht notwendig raumbezogen – obwohl die Sedimentierung der alltagssprachlichen Raumlogiken bis hin zur Einschreibung der Konzepte in materielle und damit räumliche Arrangements (Architektur, Sichtbarkeit etc.) für deren Funktionalität und Stabilität spricht. Fraglich ist aber natürlich, ob eine andere Einteilung eine bessere ist (die Beispiele der ethnischen bzw. rassischen sprechen dagegen), bzw. wie dies zu bemessen wäre. Im Sinne des in der aktuellen Debatte geforderten „Kontingenz-Denkens“ (vgl. u.a. Appadurai 2000; Bhabha 2000; Nassehi 1997; Werbner/Modood 2000; auch: Beck 2010 und Pries 2008) scheint also das Nahziel eher darin liegen zu müssen, unterliegende Logiken und Prämissen angelegter Zuordnungen und Verortungen sichtbar und verhandelbar zu machen. Auch die Vielschichtigkeit der (nicht nur räumlich) möglichen Einteilungen könnte programmatisch sichtbar werden. Für das Feld der „kulturellen Integration“ und die „Ausländer_innen“resp. „Zuwanderer_innen“-Thematik hieße dies zum Beispiel, Alternativen zu raumbezogenen Kriterien einer Zugehörigkeit sichtbar zu machen, die gar nicht den Anspruch erheben, objektive, im Sinne von alleinig gültige, Bestimmungskriterien zu sein. So gibt es zum Beispiel im Schwedischen Sprachgebrauch nicht die Stockholmer, sondern die (wörtlich) „Stockholmwohnenden“. Solcherart relationale, auf vorübergehende Handlung bezogene Verortungen könnten etwa die Identifizierung nach Herkunftsort nicht nur weniger „naturgegeben“ und „unumstößlich“ erscheinen lassen, sondern den „methodologischen Nationalismus“ auch faktisch (in politisch-normativem Sinne) verhandelbar machen. Eine weitergehende Frage wäre dann aber, wem die scheinbar überkommenen fundamentalistischen territorialen Logiken dienen und inwiefern also ein politischer Wille zur Transformation besteht. Die sprachpragmatische Perspektive kann sich hier konsistenterweise nicht konstruktiv oder gar moralisch engagieren, sondern letztlich nur auf Widersprüche aufmerksam machen, die in Relation zu bestimmten gesellschaftspolitischen Ziel- und Zwecksetzungen und ihrer Programmatik entstehen. Dies betrifft insbesondere den Widerspruch zwischen einer explizit gewünschten „integrierten“, „multikulturellen“ Weltgemeinschaft ohne Nationalismen und Diskriminierungen einerseits, und andererseits den alltäglichen 4
Dabei kann im Sinne Castells allerdings Diskriminierung von negativer Diskriminierung unterschieden werden, die noch einmal von „Exklusion“ zu unterscheiden ist (Bohn 2008: 176). Zur Unterscheidung einer moralischen und einer strukturellen Dimension von Diskriminierung siehe auch Schlottmann (2005: 225).
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impliziten Diskriminierungen, die bereits mit der Frage, wie viele Zuwanderer_innen der deutsche Container verträgt, einhergehen. Mit so geschärftem Blick lässt sich dann aber durchaus Rhetorik enthüllen und kritisieren, die sich vermeintlich der guten, containerraumdissoziierenden und transnationalen Sache verschreibt, unter diesem Deckmantel aber essentialisierende und stereotypisierende Kategorien reproduziert. So dient etwa ein räumlich bestimmtes Multikulti heute oftmals schon als strategisches Argument der programmatisch verordneten kulturellen Integration: Werbewirksam werden die Klassen der Schule im elitären Neubauviertel entgegen Segregationsargumenten als „total gemischt“ dargestellt. Das mag stimmen in Bezug auf die räumliche Herkunft der Schüler_innen (in der Tat kommen die aus Indien, Arabien, den USA, …), das sozial- und bildungspolitisch entscheidende Kriterium, der sozialen Herkunft bleibt indes ungehört. LITERATUR Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin. Appadurai, Arjun (2000³): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalisation. Minneapolis/London. Beck, Ulrich (2010): Risikogesellschaft und die Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten. In: Beck, Ulrich/Poferl, Angelika (Hrsg.): Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Berlin: 25–52. Beck, Ulrich/Poferl, Angelika (Hrsg.) (2010): Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Berlin. Behr, Hartmut (1998): Zuwanderung im Nationalstaat. Formen der Eigen- und Fremdbestimmung in den USA, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Opladen. Berking, Helmuth (2010): Global Images. Ordnung und soziale Ungleichheit in der Welt, in der wir leben. In: Beck, Ulrich/Poferl, Angelika (Hrsg.): Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Berlin: 110–133. Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. BMI (2009–2012): Zuwanderung in Deutschland. Internet: http://www.zuwanderung.de/ZUW/DE/Home/home_node.html . Bohn, Cornelia (2008): Inklusion/Exklusion: Theorien und Befunde. Von der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zur inkludierenden Exklusion. Soziale Systeme 14(2): 171–190. Bundesregierung Deutschland (Presse und Informationsamt) (2007) (Hrsg.): Der nationale Integrationsplan. Berlin. Internet: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Archiv16/Artikel/2007/07/Anlage/2007-07-12nationaler-integrationsplan.pdf?__blob=publicationFile . Burghardt, Magdalena (2010): Sprachlich-diskursive Konstruktion von Räumen und Orten. Eine Analyse anhand der Konstruktion von „Wien“ im Stadtentwicklungsplan. Jenaer Sozialgeographische Manuskripte 8. Jena. FAZnet vom 11.5.2011: Dänemark will Grenzen wieder kontrollieren. Internet: http://www.faz.net/-01tzft . Großklaus, Götz (1995): Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der räumlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt/Main. Hoffmann, Lutz (2002): Zuwanderung und kollektive Identität. In: Märker, Alfredo/Schlothfeld, Stephan (Hrsg.): Was schulden wir Flüchtlingen und Migranten? Grundlagen einer gerechten Zuwanderungspolitik. Wiesbaden: 215–235.
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CRITICAL GEOPOLITICS Eine Forschungsrichtung zur Analyse des Verhältnisses von Staat und Raum im Kontext der internationalen Geopolitik Paul Reuber
1. EINFÜHRUNG Critical Geopolitics (synonym: Kritische Geopolitik) ist einer der neueren Ansätze der Politischen Geographie, der sich – bezogen auf den Titel dieses Sammelbandes – primär mit Fragen der „inter“-nationalen Geopolitik, konkreter mit Fragen der geopolitischen Repräsentation und Positionierung von Staaten und Großregionen beschäftigt. Diese Arbeitsrichtung entwickelte sich seit den 1990er Jahren, nicht zuletzt als eine kritische wissenschaftliche Antwort auf die nach dem Ende des Kalten Krieges nahezu inflationär ausufernden neuen geopolitischen Leitbilder auf der Weltbühne. Von ihrer wissenschaftlichen Verortung her sind die Critical Geopolitics am Schnittfeld von Politischen Wissenschaften (mit ihrem Teilbereich Internationale Beziehungen) und Humangeographie (mit ihrer Teildisziplin Politische Geographie) angesiedelt. In beide Segmente reichen sie hinein, gleichzeitig verorten sie sich dort konzeptionell gesehen mit einer klaren Abgrenzung von klassisch „realistischen“ Ansätzen: Was sie aus der nahezu uferlosen Zahl politikwissenschaftlicher Theorieansätze im Feld der International Relations (Internationale Beziehungen) heraushebt (vgl. für einen Überblick Schieder/Spindler 2010), ist ihr Ziel, sich dezidiert nicht in erster Linie mit konkreten politischen Strukturen, Institutionen und Konflikten zu beschäftigen, sondern mit deren diskursiver Legitimationsgrundlage, d.h. mit den Konstruktionen des Eigenen und des Fremden, des Guten und des Bösen, auf dem Feld der internationalen Politik. Was sie für den Bereich der Politischen Geographie so wichtig macht, ist ihre dezidierte Abgrenzung von klassisch-geopolitischen Ansätzen dieser Teildisziplin, die sich am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Wahrheitsproduzenten einer „richtigen“ Form geopolitischer Ordnung und Gesetzmäßigkeit verstanden. Im Gegensatz dazu geht es im Feld der Critical Geopolitics darum, eine solche Position zu dekonstruieren und damit sichtbar zu machen, dass geopolitische Leit- und Weltbilder immer Konstruktionen sind, und dass diese Grundhaltung selbst dann gilt, wenn es sich um Vorschläge aus der wissenschaftlichen Arena handelt.
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Um zu verstehen, was der Ansatz der Critical Geopolitics für die Ausleuchtung des Verhältnisses von Staat und Raum zu leisten vermag, soll eine Annäherung in drei Schritten vorgenommen werden: Im ersten Schritt wird der Unterschied zwischen klassischer und Kritischer Geopolitik herausgearbeitet. Im zweiten Schritt soll das Forschungsprogramm der Critical Geopolitics genauer charakterisiert werden. Im dritten Schritt geht es darum, diesen Ansatz selbst zu kritisieren. Dazu sollen vor allem die beiden konzeptionellen Haupt-Schwachstellen ausgeleuchtet werden, um auf diese Weise nicht nur die Leistungsfähigkeit des Ansatzes, sondern auch seine Schwächen und Grenzen hervortreten zu lassen. 2. DIE KRITIK DER „KLASSISCHEN GEOPOLITIK“ ALS GEO- UND NATURDETERMINISTISCHER RAUM-MACHT-DISKURS AUS DER PERSPEKTIVE DER CRITICAL GEOPOLITICS Mit Ó Tuathail (2006[1998]: 1), dem Begründer der Critical Geopoltitics, kann man die Geburtsstunde der klassischen Geopolitik ins Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus datieren. Diese Zeit war in Europa (unter anderem) getragen vom Nationalismus und von einer ersten „Blütezeit“ der Nationalstaaten, die der historischen Transformation von einer feudalistischen Ordnung zu Disziplinargesellschaften die räumlich-territoriale Dimension verliehen (vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen von Foucault zur Geschichte der Gouvernementalität, 2004a, b; Elden 2010). In diesem Umfeld war die Entstehung von Narrationen notwendig, die den Nationen eine Identität, eine Geschichte und einen Ort gaben. Solche Konstruktionen trugen dazu bei, sie als „imagined communities“ (Anderson 1983) so stark in den damaligen gesellschaftlichen Diskursen zu verankern, dass sie den hegemonialen Status quasi-natürlicher Entitäten in dieser Ordnung einnehmen konnten. Dazu diente einerseits eine historisch angelegte Konstruktionsachse von Identität, eine oft vielfältige und nicht selten phantasiereiche „invention of tradition“ (Hobsbawm/Ranger 1992), die den jungen Nationen quasi ex post ihre Geschichte „auf den kollektiven Leib“ schneiderte. Mindestens ebenso machtvoll wie die Essentialisierung des geschichtlichen „Geworden-Seins“ war für das nation building aber die Naturalisierung des räumlich-territorialen Prinzips dieser gesellschaftlichen Organisationsform (Elden 2010, vgl. auch den Beitrag von Hannah in diesem Band). Diese fand ihre ersten Umsetzungsversuche bereits im naturdeterministischen Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, ihren entscheidenden Motor aber dann in der klassischen Geopolitik (Schultz 1998, vgl. auch den Beitrag in diesem Band). Sie entwickelte sich vom Ende des 19. Jahrhunderts an zu ihrer ersten und im Verlauf der Geschichte gleichzeitig auch bisher verhängnisvollsten Blüte. All words have histories and geographies and the term “geopolitics” is no exception. Coined in 1899 by a Swedish political scientist named Rudolf Kjellen, the word “geopolitics” had a twentieth century history that was intimately connected with the belligerent dramas of that century (Ó Tuathail 2006[1998]: 1).
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Auch wenn der Begriff von Kjellen kam, fußten die dahinter steckenden Konzepte vor allem auf den Entwürfen des deutschen Wissenschaftlers Friedrich Ratzel. Er gilt vielen heute als Begründer der Politischen Geographie, war von Haus aus seinerzeit jedoch Zoologe. Aus dieser Schnittfeldposition kommend übertrug er einige der damals populären Leitgedanken der Biologie auf das Soziale und das Politische. Kernbaustein seiner Form von Geopolitik war der Nationalstaat, dem er – qua Analogieschluss aus der Zytologie – den Status eines eigenständigen Organismus verlieh. Mit diesem „Staatsorganizismus“ lieferte er eine ausgefeilte, an naturdeterministische Begründungslogiken anschließende Konzeption für die internationale Geopolitik. Ratzel leitete dazu die gesellschaftlich-politische Ordnung eines Staates in erster Linie von dessen physischen Grundlagen ab, während Aspekte wie Kultur, Soziales und Wirtschaft kaum als relevant angesehen und entsprechend nicht behandelt wurden (vgl. Wolkersdorfer 2001a: 97). Auf diese Weise entstand die Vorstellung vom Staat als „bodenständigem Organismus“ (Ratzel 1897, Inhaltsverzeichnis) mit Hilfe einer „biogeographischen Auffassung des Staates“: So wird dann der Staat zu einem Organismus, in den ein bestimmter Teil der Erdoberfläche so mit eingeht, dass sich die Eigenschaften des Staates aus denen des Volkes und des Bodens zusammensetzen (ebd.: 5).
Jeder Staat, so Ratzel, ist „ein Stück Menschheit und ein Stück Boden“ (ebd.: Inhaltsverzeichnis). Ratzel führt in seinem grundlegenden Lehrbuch zur Politischen Geographie dieses Konzept vom Staatsorganizismus weiter aus und unterscheidet im Staat, seiner biologisierenden Analogie folgend, verschiedene „Organe“ (z.B. Wirtschaftsgebiete), vitale und weniger vitale Regionen und ähnliches mehr. „In der Erde selbst liegen notwendige Schranken der Organbildung“, konstatiert Ratzel (ebd.: Inhaltsverzeichnis) und belegt damit einmal mehr seine biologistische Grundkonzeption sowie die darin angelegte Verkopplung von Volk und Raum. Geopolitik bezeichnete hier ein Phänomen, das als Ausdruck einer natürlichen räumlichen Ordnung erscheint, aber letztlich das Resultat machtdurchzogener politischer Prozesse ist (Redepenning 2007: 94).
Die disziplinhistorische Rekonstruktion dieser Phase aus Sicht der Critical Geopolitics macht deutlich, wie „plausibel“ solche Thesen, die aus heutiger Sicht in vielen Teilen abstrus und absurd klingen, seinerzeit waren, denn Argumentationen wie diese fielen damals nicht vom Himmel. Sie waren – wie Ratzel selbst – ein „Kind der Zeit“, d.h. ein Produkt seinerzeit hegemonialer diskursiver Logiken. Zentrale Protagonisten des jungen Fachs bedienten sie in den nachfolgenden Jahrzehnten in ähnlicher Weise (vgl. Wardenga 2001). Dies lag genau daran, dass sich die klassische Geopolitik in einem machtvollen, um nicht zu sagen: hegemonialen diskursiven Feld entfalten konnte, das weite Bereiche des gesellschaftlich Sagbaren vorformatierte, und an das sie nahtlos anschließen konnte. Dieses organisierte sich um einige der im 19. Jahrhundert populären „-ismen“ herum, um ideen- und zeitgeschichtliche Strömungen, die den speziellen Nährboden für die Klassische
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Geopolitik gebildet haben und aus deren argumentativem Reservoir sie einige ihrer zentralen Grundannahmen schöpfen konnte: – – – –
Naturdeterminismus und Geodeterminismus Darwinismus und Evolutionstheorie als „Modeströmungen“ des 19. Jahrhunderts und als theoretische Basis einer naturdeterministisch informierten, biologistischen Konzeption von Gesellschaftlichkeit (z.B. Sozialdarwinismus) Nationalismus und nation building als grundlegende Macht-Raum-Formation der Disziplinargesellschaften der sich entwickelnden Moderne Imperialismus und Kolonialismus als zeitgeschichtlicher Nährboden und Anwendungsfeld der Geographie allgemein und der klassischen Geopolitik im Besonderen
Vor diesem Hintergrund waren aus Sicht der Critical Geopolitics die diskursiven Ordnungen der klassischen Geopolitik mitbeteiligt an der Konstitution politischer Praktiken, die in der historischen Phase von 1870 bis 1945 in Europa zu konkurrierenden Empires und zahlreichen Kriegen führten. Die Auseinandersetzungen bewirkten aber nicht nur innerhalb Europas Verschiebungen der politischen Landkarte, sie beeinflussten im Zuge der Kolonisierung und der beiden Weltkriege die gesamte globale Ordnung. Dabei brachten die europäischen Großmächte – gestützt auf ihr militärisches Potential und eine galoppierende Flottenpolitik – in einer historisch einmaligen Welle territorialer Expansion große Teile der Ressourcen und Gesellschaften „in Übersee“ unter ihre Kontrolle (vgl. Schultz 2001; Wolkersdorfer 2001a). Dazu benötigten sie sowohl inhaltliches Wissen über die „fremden Länder und Erdteile“ als auch eine normative Legimitationsbasis und Begründungsrhetorik für ihr Handeln. Vor allem letzteres bescherte ihnen das Wissensgebiet, das später den Namen „Geopolitik“ erhielt, (…) in den Hauptstädten rivalisierender Kolonialmächte des späten 19. Jahrhunderts, an deren Universitäten, geographischen Gesellschaften und anderen Ausbildungsstätten. (…) Zu diesem Zeitpunkt entwickelten sich imperialistische Institutionen und Vereine in Politik und Gesellschaft, deren Propaganda die immer größer werdende Masse von Wahlberechtigten überzeugen sollte, dass koloniale Expansion im allgemeinen Interesse liege (Ó Tuathail 2001: 9).
Die Aufgabe der Geopolitik lag vor diesem Hintergrund seinerzeit nicht in erster Linie darin, die Welt exakt zu vermessen und zu kartieren (damit war bereits die ebenfalls junge und ebenfalls expandierende Geographie beschäftigt). Ihr ging es vielmehr darum, die vielfältige, komplexe und kontingente Welt in eine Reihe „geo“-politischer Einheiten zu teilen und auf dieser Grundlage das Eigene und das Fremde zu konstruieren. In dieser Form der Raumproduktion liegen die „seductive qualities of geopolitical discourse (…), [which] transforms the opaqueness of world affairs into an apparently clear picture“ (Ó Tuathail 2006[1998]: 2). Auf diese Weise schuf und/oder reifizierte die Geopolitik eine globale territoriale Ordnung: Das Morgenland als Gegensatz des Abendlandes, die Südhemisphäre als Gegensatz der Nordhemisphäre, den Osten als Gegensatz des Westens, die Landmächte als Gegensatz zu den Seemächten (vgl. Mackinders Konstruktion von „natural seats of power“) etc. Geopolitik etablierte sich damit als eine Wis-
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senschaft, die die Erschaffung machtvoller globaler geopolitischer Repräsentationen zum Kern ihres Arbeitens gemacht hatte (Gregory 1994, 1998). Mit solchen Argumentationen lieferte die klassische Geopolitik eine Begründungsrhetorik, die imperialistische und expansionistische Erweiterungsinteressen legitimierte. An den Bildungseinrichtungen der Großmächte entwickelte sich in diesem Kontext eine Schicht von organischen Intellektuellen des Kolonialismus, die sich auf praktischer und theoretischer Ebene explizit mit dem Einfluss der Geographie auf die soziale Evolution der Staaten und mit der Formulierung von Außenpolitik beschäftigten. Intellektuelle wie Alfred Mahan und Nicholas Spykman in den Vereinigten Staaten, Friedrich Ratzel und Karl Haushofer in Deutschland, Rudolf Kjellén in Schweden und Halford Mackinder in Großbritannien kodifizierten eine bestimmte Sichtweise internationaler Politik, die dann später im Kontext des Zweiten Weltkriegs erstmals als „geopolitische Tradition“ bezeichnet wurde (Ó Tuathail 2001: 9).
Ihre Beiträge trugen dazu bei, die Selbstrepräsentation der westlich-modernen Welt als einer vermeintlich „überlegenen Kultur“ mit ebenso vermeintlich „realistischen“ Begründungsdiskursen zu unterstützen und auf diese Art und Weise auch die Kolonisierung des solcherart ausgeschlossenen, „vormodernen“ Anderen als notwendigen, wenn nicht sogar „humanen und guten“ Prozess erscheinen zu lassen. Das kam an, nicht nur in den Salons und Hörsälen dieser Periode, sondern auch auf der politischen Ebene. Die sprachlichen Leitbilder und kartographischen Repräsentationen der Geopolitik spiegelten und beeinflussten den außenpolitischen Zeitgeist dieser Epoche im „christlich-abendländischen“ Europa. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die Geopolitik als Denkfigur tief in die hegemonialen Diskurse dieser historischen Epoche einschreiben konnte. Sie führte die damalige Politische Geographie ganz nah an die Pfeiler der gesellschaftlichen Macht heran – direkt in die Arme des Nationalsozialismus, wo ihre Protagonisten mitverantwortlich wurden für die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges. In diesem Sinne identifiziert Natter die presumptive role played by Geopolitik in ideologically justifying and legitimating both National Socialist rule and its ideological deployment of geo-spatial political terminology (Natter 2003: 201; vgl. auch Hipler 1996; Rössler 1990; Wolkersdorfer 2001a, b).
3. DIE KRITISCHE GEOPOLITIK ALS KONZEPTIONELLE ERNEUERUNG UND GEGENBEWEGUNG ZUR KLASSISCHEN GEOPOLITIK Ihre machtvolle Stellung erhielt die klassische Geopolitik am Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem dadurch, dass sie als wissenschaftliche Disziplin den Anspruch erhob, „im Namen der Wahrheit“ zu sprechen, was in dieser Epoche bedeutete, mit Bezug auf geo- und biodeterministische Erklärungsmuster vermeintlich „reale“ und „objektive“ räumliche Gegensätzlichkeiten zu identifizieren, die
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durch die Logik der Lage „zwangsläufig“ zu geopolitischen Konfliktkonstellationen und entsprechendem Handlungsbedarf führten. Genau an diesem Punkt setzt die konzeptionelle Kritik der Kritischen Geopolitik an. Vor dem Hintergrund von Kernthesen des postmodernen Denkens (Lyotard 2005[1979]) und einer gewissen Renaissance konstruktivistisch informierter Debatten in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften leiteten sie im Forschungsfeld der Geopolitik entscheidende Veränderungen der Perspektive ein. Diese fußten auf Kernaussagen des spatial turn, des linguistic turn und des cultural turn (vgl. z.B. Gebhardt/Reuber 2011) und entwickelten eine Perspektive, die eine konzeptionell fundierte Kritik an den Thesen der klassischen Geopolitik ermöglichte. Staaten und andere Formationen gesellschaftlicher Räumlichkeit galten dabei nicht länger als quasi-natürliche Grundbausteine der internationalen Ordnung, sondern als gesellschaftliche Konstruktionen, die sich – mit Rekurs auf die genealogischen Ansätze von Foucault – in langen Zyklen der Entwicklung historischer diskursiver Formationen herausgebildet hatten. Mit einer solchen Grundperspektive konnte man ab den 1980ern auch wichtige, zu beobachtende Transformationen der Rolle von Staaten und Staatlichkeit im Kontext der sich zunehmend globalisierenden Gesellschaften angemessener thematisieren. Dabei ging es nicht zuletzt um die Beengtheit der primär staatenorientierten Denkmuster der Geopolitik, die mit dem nahenden Ende des Kalten Krieges ein weiteres Mal an ihre Grenzen stießen. Während auf der ökonomischen Ebene die Rolle und Bedeutung transnationaler Unternehmensnetzwerke dazu führte, dass deren Einfluss auch in der politischen Arena stärker spürbar wurde, veränderten sich parallel in der Politik die Architekturen der Macht. Dabei spielten auch neue soziale Bewegungen eine Rolle, die in zahllosen Non-Governmental Organisations und in partizipativen Beteiligungsformen ihren Ausdruck fanden, und die mit netzwerkartigen (immer häufiger auch internetbasierten) Organisationsformen die klassische geopolitische Ordnung inklusive der tradierten Institutionen des territorial basierten Staatensystems herausforderten. All diese Veränderungen in Richtung einer vielstimmigen, multiplen Neuorganisation raumwirksamer politischer Kräfteverhältnisse, diese Transformation von der „Staatenwelt“ zur „Gesellschaftswelt“ (Czempiel 1993), vermochten die nationalstaaten-basierten Ansätze der klassischen Geopolitik nicht angemessen abzubilden (Albert et al. 2010). Die Notwendigkeit, auf diese Veränderung zu reagieren, machte es nicht länger möglich, geopolitische Entwicklungen im Kontext einzelner Staaten oder des internationalen Systems deterministisch aus vermeintlich objektiven „räumlichen“ Gegebenheiten von Staaten zu erklären (z.B. Land- oder Seemächte, KulturRaum-Determinismen). Die konzeptionelle Wende von einer eher (geo)-deterministischen hin zu einer konstruktivistischen Betrachtungsweise stellte das für einen solchen Perspektivenwechsel notwendige Rüstzeug bereit, und sie machte es möglich, die Positionen der klassischen Geopolitik selbst als eine spezifische Form des geopolitischen Diskurses betrachten zu können. Die Folgen waren durchgreifend: Die Geopolitik war nicht länger der Agent, sondern das Objekt der Forschung.
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Diesen Wechsel von der klassischen zur zeitgemäßen, gesellschaftstheoretisch fundierten Betrachtungsweise vollzieht in der Politischen Geographie Anfang der 1990er Jahre die Kritische Geopolitik (Ó Tuathail 1996): Gut 20 Jahre ist es mittlerweile her, dass der Ausdruck Critical Geopolitics zum ersten Mal verwendet wurde, um einen kritischen Zugang zum Phänomen der Geopolitik zu bezeichnen; ein Zugang, der den geographischen Horizont enorm erweitert hat, da er konsequent eine Öffnung zu Theorien und Methoden aus Kultur- und Sozialwissenschaften betrieben hat (Redepenning 2007: 91).
Im Grundsatz geht es den Critical Geopolitics ganz allgemein gesprochen darum, zu analysieren, wie im politischen Alltag, in der Wissenschaft und in den Medien mithilfe von Sprache, Karten und Bildern geopolitische Ordnungsvorstellungen geschaffen werden, die im Falle konkreter Konflikte und Auseinandersetzungen das Denken und Handeln der beteiligten Akteure ebenso beeinflussen wie die Rezeption und Beurteilung der Ergebnisse in der Bevölkerung (Lossau 2001, 2002; Ó Tuathail 1996; Oßenbrügge 1997; Redepenning 2001; Reuber 2000, 2002; Wolkersdorfer 2001b). Solche wirkmächtigen raumbezogenen Ordnungsvorstellungen werden als „geographical imaginations“ (Gregory 1994) oder als geopolitische Leit- bzw. Weltbilder bezeichnet (Reuber/Wolkersdorfer 2003, 2004). Das Ziel der Critical Geopolitics besteht darin, diese mithilfe wissenschaftlicher Analysen zu hinterfragen und ihren konstruierten und kontingenten Charakter sichtbar zu machen. Dabei tritt auch deren Rolle im Kontext politischer Praktiken, Konflikte und Kriege zu Tage. Die Konturen dieses Forschungsprogramms haben sich zunächst in den 1990er Jahren in Großbritannien und Amerika entwickelt. Wegweisend waren dazu Veröffentlichungen von Ó Tuathail (1996), Dalby (Dalby/Ó Tuathail 1994), Dodds und Sidaway (z.B. 1994) sowie – eher indirekt – Gregory (1994, 1998), wobei sich letzterer wohl selbst nicht im engeren Kontext der Critical Geopolitics, sondern eher in der Postkolonialismus-Debatte verorten würde (vgl. den Beitrag von Lossau in diesem Band). Die damaligen Ansätze zeigen gemeinsam, dass das Wort „Critical“ im Zusammenhang mit Critical Geopolitics nicht primär eine gesellschaftskritische (z.B. neomarxistische) Positionierung bedeutet, sondern sich in erster Linie auf eine konzeptionell gesehene andere Art zu denken bezieht, „die dazu einlädt, mit vertrauten Denkgewohnheiten zu brechen und vermeintliche Sicherheiten in Frage zu stellen“ (Lossau 2001: 57). Damit bezeichnet sich ein emanzipatorisches, dekonstruktiv angelegtes Projekt, dessen Denkbewegung auf die Sichtbarmachung hegemonialer Argumentationsweisen und Machtstrukturen in der inneren Logik geopolitischer Repräsentationen und bei deren Verbreitung ausgerichtet ist. Aus dieser Perspektive gilt: [T]he geography of the world is not a product of nature but a product of histories of struggle between competing authorities over the power to organize, occupy, and administer space (Ó Tuathail 1996: 1).
Entsprechend wird Geopolitik als eine diskursive Praxis gefasst, mit deren Hilfe die scheinbar natürliche räumliche Ordnung der internationalen Politik erst produziert wird (Lossau 2001: 62).
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Es geht darum herauszuarbeiten, wie über raumbezogene Argumentationen „das Eigene“ und „das Fremde“ konstruiert und mit Grenzen versehen werden. Mit einer solchen Betrachtung gelingt es der Kritischen Geopolitik, den einflussreichen Charakter geopolitischer Leitbilder im Kontext politischer Krisen und Konflikte transparent zu machen. Sie zeigt, wie mit raumbezogenen Konstruktionen, d.h. mit territorialen Verortungen und Abgrenzungen, ein homogenisierendes, containerorientiertes Denken in der internationalen Geopolitik erst möglich wird. Geopolitik ist aus dieser Sicht die Konstruktion entsprechender Leitbilder, d.h. die sprachliche, kartographische und bildliche Inszenierung großräumlicher Gegensätze globaler Dimension und Reichweite. Die raumbezogenen Identitäten, die auf diese Art und Weise entstehen, repräsentieren gesellschaftliche Machtbeziehungen. Aus der Sicht der Kritischen Geopolitik sind sie entsprechend auch ein Schlüssel für das Verständnis internationaler Auseinandersetzungen, denn sie sind in der Lage, Entstehung und Verlauf politischer Konflikte zu beeinflussen. Wie entstehen und funktionieren geopolitische Repräsentationen und Leitbilder? Diese Frage steht entsprechend im Kern des Forschungsprogramms der Critical Geopolitics. Den grundlegenderen Argumentationen von Edward Saids Orientalism (1979) und Derrick Gregorys (1994) Geographical Imaginations folgend, werden dabei in Fallkontexten unterschiedlicher regionaler Reichweiten die diskursiven Repräsentationen analysiert, mit denen die Dichotomien zwischen „unserem Raum“ und „deren Raum“, zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“ hergestellt werden. Interessant für die Forschungen der Kritischen Geopolitik ist vor diesem Hintergrund, in welcher Weise dieses prinzipiell immer gleiche Muster in unterschiedlichen historischen Perioden und Kontexten mit jeweils anderen inhaltlichen Elementen und territorialen Verortungsmustern konstruiert wird. Entsprechend arbeiten Ó Tuathail, Dalby und Routledge (2006 [1998]) in ihrem Geopolitics Reader bezogen auf die letzten 150 Jahre eine Sequenz geschichtlicher Großepochen heraus, in denen sich jeweils unterschiedliche geopolitische Ordnungsvorstellungen für die globalen Archäologien des Eigenen und des Fremden herausgebildet haben. Diese identifizieren sie als – – –
Imperialist Geopolitics für die Phase des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Cold War Geopoltics für die Phase des „Ost-West-Gegensatzes“ nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989 und Post-Cold War Geopolitics für die Phase ab 1989.
Dabei arbeiten sie nicht nur unterschiedliche Verortungsmuster heraus, sondern auch die jeweils hegemonialen inhaltlichen Argumentationen, mit denen die räumlichen Ordnungen politisch hergestellt wurden. Eine solche Form der vergleichenden Gegenüberstellung macht deutlich, mit welch unterschiedlichen Begründungslogiken das Eigene und das Fremde auf dem Feld der internationalen Geopolitik konstruiert werden kann:
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Dieser „Reigen“ startet mit den primär geo- und naturdeterministischen Begründungslogiken im Zeitalter des Imperialismus, als vom Zeitgeist her Ratzels biologisierende Argumente ebenso wohlfeil waren wie Mackinders LageDichotomien zwischen Land- und Seemächten (vgl. Wolkersdorfer 2001a). In der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg spielten dann im Zuge des OstWest-Gegensatzes vor allem ideologische Begründungen eine tragende Rolle, die sich auf die ganze inhaltliche Rhetorik der Systemgegensätze bezogen (Kapitalismus versus Kommunismus, Marktwirtschaft versus Planwirtschaft, Individualgesellschaft versus Kollektivgesellschaft, Parteiendemokratie versus Parteiendiktatur). In der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges konnten dann auf der inhaltlichen Bühne eine Reihe neuer Argumentationen reüssieren, von denen kulturelle Regionalisierungen und geoökologische Risikoszenarien derzeit die größte Breitenwirkung zu entfalten scheinen, allerdings mit wechselndem Erfolg und in immer kürzeren zeitlichen Phrasierungen (Reuber 2012, Kap. 7.4.).
Mit all diesen Beispielen machen die Critical Geopolitics im Sinne des linguistic turn noch einmal deutlich, dass die Sprache keine „unschuldige Instanz“ darstellt, die ohne Bezug zum Geschehen lediglich über die Welt spricht. Gerade bei der Analyse geopolitischer Leitbilder wird unmittelbar klar, dass solche diskursiven Muster Macht ausüben, dass sie alltägliche und politische Praktiken anleiten und materialisierte Ereignisse (z.B. in Form von angegriffenen Nationen, zerstörten Städten usw.) hervorbringen, dass Sprache, im wahrsten Sinne des Wortes, am Ende auch töten kann. Für die Critical Geopolitics, insbesondere im angloamerikanischen Kontext, steht neben der Offenlegung der Konstruktionsprinzipien geopolitischer Leitbilder auch die Suche nach den Akteuren, die solche geopolitischen Leitbilder produzieren, im Vordergrund. Das größte Machtpotenzial schreiben sie dabei den „intellectuals of statecraft“ zu, d.h. Akteuren aus dem Bereich der internationalen Politik oder der politiknahen Think-Tanks, die als geopolitische „spin doctors“ aktiv an Formen der geopolitischen Repräsentation des Eigenen und des Fremden mitarbeiten. Entsprechend geht es bei der Analyse solcher Konzepte um deconstructing the ways in which intellectuals of statecraft have depicted and represented places in their exercise of power (Dodds/Sidaway 1994: 515f.).
Ó Tuathail, Dalby und Routledge (2006[1998]) führen dazu eine Vielzahl von Beispielen aus unterschiedlichen Phasen der internationalen Geopolitik an (z.B. Truman für die „Truman-Doktrin“, eine der zentralen Diskurslogiken am Anfang des Kalten Krieges; Fukuyama als Architekt der geopolitischen Ordnungsvorstellung vom „Ende der Geschichte“, Huntington im Kontext der Aktivierung des Leitbildes vom „Kampf der Kulturen“, beide Anfang der 90er Jahre im Kontext der Transformation der Geopolitik nach dem Ende des Kalten Krieges). In einer solchen Form der wissenschaftlichen Rekonstruktion sind Akteure als konstituierende Elemente der Gesellschaft vorgegeben, und auch die Vorstellung
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des eigennutzenorientierten Handelns bildet hier eine zwar oft plausible Konvention, die aber dennoch normativ gesetzt und erkenntnistheoretisch nicht näher überprüfbar ist (vgl. die Kritik des Konzeptes im nachfolgenden Unterkapitel). Die Critical Geopolitics zeigen aber auch, dass die Gruppe der wirkmächtigen Akteure über den engeren Bereich des politischen Segments hinausgeht. “Critical Geopolitics” second intellectual move is to broaden understandings of geopolitics beyond elitist conceptions. Critical geopolitics does this by introducing the general concept of geopolitical culture which it connects to a series of other concepts (Ó Tuathail 2006[1998]: 7).
Entsprechend analysieren die Critical Geopoltics, in welcher Weise das vielfältige gesellschaftliche Segment der Medien an der Verbreitung und Verfestigung geopolitischer Leitbilder beteiligt ist („popular geopolitics“; Ó Tuathail 1996). So mancher Leitartikel und Kommentar im politischen Feuilleton, der sich mit der weltpolitischen Lage oder bestimmten Krisenszenarien beschäftigt, nimmt Rekurs auf die Argumentationslogiken geopolitischer Leitbilder und verstärkt auf diese Weise deren Präsenz und Durchsetzungskraft (vgl. Husseini de Araújo 2011; Reuber/Strüver 2009; Reuber 2011). Auf eine vergleichbare Weise wirken Hollywood-Blockbuster aus den Sparten der Agenten-, Krisen- und Kriegsfilme, wie z.B. Dodds (2005) gezeigt hat. Sie holen das Publikum bei seinen diesbezüglichen geopolitischen Alltagsvorstellungen (und Ängsten) ab und verstärken damit ein weiteres Mal die gängigen räumlichen Krisen- und Konfliktszenarien. 4. ZWISCHEN DEN STÜHLEN? EINE KRITIK DER KRITISCHEN GEOPOLITIK Im angloamerikanischen Kontext erfreut sich der Ansatz der Critical Geopolitics seit nunmehr gut 20 Jahren einer großen Beliebtheit. Es ist dort zwar immer wieder auch zu kritischen Diskussionen um Grenzen und Leistungsfähigkeit gekommen, aber eine darauf aufbauende konzeptionelle Weiterentwicklung hat hier kaum stattgefunden. Diese Entwicklung verlief im deutschsprachigen Kontext etwas anders. Nachdem der Ansatz – von einzelnen Publikationen abgesehen – mit einer gewissen Verspätung etwa um die Jahrtausendwende herum eine stärkere Verbreitung und erste empirische Umsetzungen in Fallbeispielen fand (Wolkersdorfer 2001a, 2001b; Lossau 2000, 2001; Redepenning 2001), wurden hier – vor dem Hintergrund des Argumentes, dass der Auseinandersetzung mit theoretischen Inkonsistenzen und Paradoxien gegenüber empirischen Fallstudien zu wenig Raum gegeben werde (Redepenning 2006) – parallel bald auch die konzeptionellen Probleme der Critical Geopolitics analysiert und diskutiert. Im Kreuzfeuer der Kritik stand dabei vor allem die konzeptionelle Heterogenität, die als zentrale Schwäche angesehen wurde (vgl. ausführlich Redepenning 2006: 76 ff.; Lossau 2002; Müller/Reuber 2008). Im Kern geht es darum, dass der Ansatz Elemente aus unterschiedlichen Großtheorien in sich vereint, dass diese Elemente aufgrund der unterschiedlichen Basisannahmen der zugehörigen Mak-
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rotheorien nur teilweise kompatibel sind und sich in manchen Bereichen sogar widersprechen. Zudem wird kritisiert, dass die jeweiligen Kernbegriffe der Großtheorien beim Import in den Kontext der Critical Geopolitics aufgeweicht worden sind und in verwässerter Form verwendet werden. Diese Aspekte sollen im Folgenden genauer ausgeführt werden, wobei die Kernargumente sich an die ausführlichere Kritik in den o.a. Veröffentlichungen anlehnen. Als fundamental werden dabei diejenigen Probleme angesehen, die aus der Kombination moderner und postmoderner Theorieansätze resultieren. Teile der programmatischen Veröffentlichungen Mitte der 90er Jahre charakterisieren – wie oben bereits erläutert – in konzeptioneller Hinsicht zwei Ebenen der Betrachtung: Es geht ihnen zum einen um das Verstehen des geopolitischen Handelns von Akteuren, zum anderen um die Frage, welche Rolle dabei die von ihnen entwickelten geopolitischen Repräsentationen als diskursive Ordnungen spielen. Im ersten Teil liegen damit implizit Theorieansätze zu Grunde, die Aussagen über das Handeln von Akteuren machen. Im zweiten Teil geht es dagegen um einen repräsentationsorientierten Ansatz, d.h. um eine Art von Dekonstruktion geopolitischer Repräsentationen und Leitbilder, die ihre Anleihen eher aus diskurstheoretischen Ansätzen beziehen. Daraus ergeben sich verschiedene Probleme. Zunächst ist zu erwähnen, dass das Konzept des Akteurs, sei es in Form von „political elites“ oder „intellectuals of statecraft“ theoretisch relativ oberflächlich ausgeleuchtet wird. Wenn die Critical Geopolitics hier von Akteuren ausgehen, die auf dem Feld der internationalen Politik unter Einsatz geopolitischer Repräsentationen machtorientiert strategisch handeln, dann liegt ein eher essentialistisches Akteurskonzept zu Grunde, wie man es in klassisch realistischen Konzepten der Politikwissenschaften findet. In manchen Veröffentlichungen findet man zwar auch ein etwas differenzierter ausgearbeitetes Akteurskonzept im Sinne des methodologischen Individualismus, wie ihn moderne Handlungstheorien propagieren. Dies ist z.B. dort der Fall, wo sich die Analysen einzelnen – historischen oder aktuell relevanten – Schlüsselakteuren aus dem Bereich der Geopolitik zuwenden und deren geopolitische Konzeptionen und Leitbilder analysieren. Aber auch wenn solche Rekonstruktionen bei ihren Akteurskonzepten einer konstruktivistischen Gesamtperspektive deutlich stärker Rechnung tragen, ist beiden doch gemeinsam, dass sie die handelnden Subjekte als theoretische Grundbausteine „naturalisieren“, d.h. diese nicht weiter in Frage stellen. Diese Positionierung hat gewisse Vorteile auf der Ebene der „Lesbarkeit“ der Ergebnisse, sie wird aber mit gravierenden Nachteilen bezogen auf die konzeptionelle Stringenz erkauft. Beide Aspekte sollen kurz erläutert werden. Auf der Seite der Vorteile ist der vorgenommene theoretische Bezug auf „starke Akteure“ zunächst für einen Teil der Erfolgsgeschichte der Critical Geopolitics verantwortlich, denn sie bietet eine Betrachtungsperspektive für Auseinandersetzungen um Raum und Macht an, die der alltäglichen Metanarrative spätmoderner Gesellschaften vom selbstbestimmt handelnden Individuum relativ nahe steht. Auf dieser Grundlage bietet sie einen Deutungsrahmen, der kompatibel ist mit der Vorstellung von einflussreichen Akteuren, die das (geo-)politische Geschehen lenken und leiten, und die dies jeweils aus der eigenen Position heraus in
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Form eines eigennutzenorientierten strategischen Handelns tun. Es ist gerade diese Nähe der Critical Geopolitics zur Alltagsnarrative und zum Diskurs in den Medien, die es ermöglicht, konkrete geopolitische Konflikte ebenso wie die Auseinandersetzungen um geopolitische Leitbilder in einer Betrachtungsform und Begrifflichkeit abzubilden, die von der Öffentlichkeit gut nachvollzogen werden kann. Diese Kompatibilität mit der gesellschaftlichen Selbstrepräsentation hat aber einen entscheidenden Nachteil: sie überträgt deren „blinden Fleck“ direkt ins Auge des wissenschaftlichen Betrachters. In einer solchen Form der wissenschaftlichen Rekonstruktion werden die Akteure von vornherein (zumeist implizit) als eigennutzenorientierte Nutzenoptimierer gerahmt. Diese eher normative Ausgangsposition bildet dann die Deutungsfolie, vor deren Hintergrund die Entstehung und Verbreitung entsprechender Leitbilder rekonstruiert wird. Dieser Akteursbegriff der Critical Geopolitics ist sowohl in inhaltlicher als auch in konzeptionell-theoretischer Hinsicht problematisch. Auf der inhaltlichen Ebene führt er insbesondere bei Arbeiten, die die „intellectuals of statecraft“ in den Vordergrund rücken, zu einer gewissen Verengung des Blicks auf die Ebene der administrativen und politischen Institutionen. Redepenning weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf den Widerspruch zwischen der Absicht hin, „GeoPolitik und Geo-Macht als breites gesellschaftliches Phänomen thematisieren zu wollen, aber faktisch eine Begrenzung auf die gouvernementale Seite zu vollziehen“ (2006: 98). Es gibt zwar vereinzelt durchaus Ansätze, die die Rolle von transnationalen Unternehmensnetzwerken, von NGOs, von zivilgesellschaftlichen Akteuren und Medien sowie deren geopolitische Repräsentationen stärker in die Analyse einbeziehen. Diese finden sich jedoch vielfach weniger unter dem Label der Critical Geopolitics, sondern stärker in den konzeptionell etwas anders ausgerichteten Segmenten des Postkolonialismus oder der Politischen Ökologie. Noch grundlegender erscheinen die theoretisch-konzeptionellen Kompatibilitätsprobleme, die sich bei einem solchen subjektorientierten Akteurskonzept ergeben, denn es steht in einem durchaus widersprüchlichen Spannungsverhältnis zu den diskurstheoretisch informierten Ansätzen der Analyse der geopolitischen Repräsentationen an sich. Intentional handelnde und von strategischen Interessen geleitete Akteure stehen einem poststrukturalistischen Verständnis von Gesellschaft deutlich entgegen, und dieses grundlegende Problem wird im Konzept der Critical Geopolitics verwischt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich in vielen Publikationen, dass die akteursorientierte Perspektive das konzeptionelle Fundament bildet, dem die Dekonstruktion geopolitischer Repräsentationen in gewisser Weise aufgepfropft wird. Wie Müller & Reuber (2008: 462f.) an Beispielen aus der diesbezüglichen Literatur herausarbeiten, konzeptualisieren manche Autoren geopolitische Diskurse als strategische Sprachspiele, mit denen sich bestimmte Ziele im Sinne der eigenen Interessen erreichen lassen (so etwa in Browning/Joenniemi 2004: 708; Hollander 2005: 339), andere fassen sie in ähnlicher Form als Sprechakte auf, mit denen politische Eliten z.B. Sicherheitsprobleme konstruieren (z.B. Ackleson 2005: 166). Vor diesem Hintergrund scheint die Sorge berechtigt, dass „empirischer Anschlussfähigkeit (…) der Vorrang vor begriffstechnischer Tiefen-
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schärfe eingeräumt [wird]“ (Redepenning 2006: 95). Dieses Problem werde, so Redepenning, dadurch verschleiert, dass man die im Grunde genommen inkompatiblen Fragmente aus unterschiedlichen Großtheorien in Form einer light version importiert und miteinander verschneidet. Mit der Bezeichnung light version ist gemeint, dass die in einen wissenschaftlichen Ansatz einbezogenen Theorien nur so weit rezipiert werden, wie sie keine Schäden untereinander verursachen und keine Nebenwirkungen zeigen. Daher werden nur die allgemein zustimmungsfähigen Teile von Theorien importiert, während die radikaleren (im ursprünglichen Sinne des Wortes) Teile außen vor bleiben (Redepenning 2007: 96).
Redepenning (ebd.) verdeutlicht dies am Beispiel der Einbindung des Dekonstruktions-Prinzips. Ein letztes, aber nicht minder gravierendes Problem theoretisch-konzeptioneller Art ergibt sich aus diesem Konglomerat von Inkonsistenzen bezogen auf die politische Verortung entsprechender Ansätze. Entsprechend dem Entstehungsund Entwicklungskontext der Critical Geopolitics kann man insbesondere die frühen Arbeiten der breiteren Strömung eines kritischen Sozialkonstruktivismus zuordnen. Entsprechend hatten (und haben) viele Analysen einen Ort der politischen Positionierung, von dem sie ausgehen: Sie fußen auf einem links orientierten gesellschaftskritischen Fundament. Das ist besonders dann nicht unproblematisch, wenn diese Positioniertheit implizit bleibt, kaum reflektiert wird oder vom Autor gar nicht als Problem in Verbindung mit einer vermeintlich dekonstruktiv angelegten Grundhaltung erkannt wird. Tatsächlich müsste stärker reflektiert werden, dass eine Dekonstruktion nie im luftleeren Raum erfolgen kann, sondern immer nur kontextspezifisch vor dem Hintergrund der Bedingungen, unter denen sie vorgenommen wird (z.B. Forschungsschwerpunkte, politische Einstellungen des Forschers, Rahmenbedingungen des Forschungsvorhabens u.v.a.). Jede Dekonstruktion ist bereits eine Re-Konstruktion. Werden solche Aspekte beim Schreiben nicht kritisch reflektiert und offengelegt, setzt man – wie einige Arbeiten im Kontext der Critical Geopolitics zeigen – schlicht selbst neue geopolitische Metaphern in die Welt. Vor diesem Hintergrund müsste man entsprechende Analysen aus diesem Feld angemessener als (interpretative, hermeneutisch angelegte) Rekonstruktionen bezeichnen, die jeweils (und oft nur implizit) aus einer spezifischen Forscherbzw. Betrachterperspektive heraus erfolgen, und die mit ihrem häufigen Ziel der Enttarnung geopolitischer Diskurse und Leitbilder von intellectuals of statecraft einen eingeschränkten und bereits konzeptionell gesehen normativen Punkt der Betrachtung einnehmen. Sie wären damit zwar einerseits eine Kritik der Geopolitik, gleichzeitig aber selbst auch (nur) eine andere Form von Geopolitik.
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5. KONSEQUENZEN DER KRITIK AM ANSATZ DER CRITICAL GEOPOLITICS FÜR DIE DEUTSCHSPRACHIGE POLITISCHE GEOGRAPHIE Die vorliegende Kritik findet sich vor allem im deutschsprachigen Raum, wo das Konzept der Critical Geopolitics zwar mit Enthusiasmus aufgenommen worden ist, dann jedoch im breiteren Umfeld der theoretischen turns in der deutschsprachigen Humangeographie auch auf seine innere Stimmigkeit befragt, gewogen und – wie die oben zusammengefasste Kritik deutlich machen konnte – von vielen als „zu leicht“ befunden wurde. Daraus resultierten in einer darauf folgenden Generation von konzeptionellen und empirischen Arbeiten Entwürfe, die darauf ausgelegt sind, entsprechende Unstimmigkeiten bei der Analyse geopolitischer Repräsentationen durch einen theoretisch strengeren Bezug auf vorhandene Makrotheorien zu überwinden. Dabei lassen sich neben einzelnen Vorstößen Richtung Systemtheorie (Redepenning 2006) vor allem Konzeptionen ausmachen, die sich auf poststrukturalistische Entwürfe beziehen. Als Orientierungspunkte gerieten hier vor allem diejenigen Konzeptionen ins Blickfeld, die auch „das Politische“ selbst grundlegender thematisierten, und die damit Fragen von Hegemonie und Macht im Bereich der „Politik räumlicher Repräsentationen“ (Dzudzek et al. 2011) ebenso zu stellen vermochten wie deren Rolle und Bedeutung für politische Praktiken. Ein solches Potenzial bieten vor dem Hintergrund der derzeit aktuellen Theoriedebatten in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vor allem zwei Denkrichtungen: –
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zum einen die Ansätze im Anschluss an Laclau/Mouffe (1985), die sich mit ihren diskurs- und differenztheoretisch angelegten Vorstellungen von Macht und Hegemonie bis zu Formen einer „radikalen Demokratie“ (Laclau/Mouffe 1985) weiterdenken lassen (Glasze 2009; Husseini de Araújo 2011; Mattissek 2008, 2011; Müller 2008; vgl. auch den Beitrag von Dzudzek, Glasze und Mattissek in diesem Band), zum anderen Arbeiten im Anschluss an die Überlegungen von Foucault zur Gouvernementalität (2004a, b), die insbesondere für die Verbindung der Ebene geopolitischer Repräsentationen mit Aspekten wie Performativität, Materialität und Praktiken fruchtbar gemacht werden (Füller/Marquardt 2009, 2010; Mattissek 2008).
Auch wenn diese strenger poststrukturalistisch argumentierenden Ansätze sich – mit Recht – von Teilen der ursprünglichen Konzepte der Critical Geopolitics absetzen, muss klar sein, dass es sich hier eher um fließende Übergänge handelt. Diesem Umstand trägt auch die Tatsache Rechnung, dass sich Teile der diskurstheoretisch argumentierenden Autoren nach wie vor im Kontext der Critical Geopolitics verorten und damit ihre Arbeiten eher als Weiterentwicklung und theoretische Reinigungsstrategie innerhalb dieser Forschungsrichtung repräsentieren. Bewertet man abschließend die oben angesprochenen Vor- und Nachteile der Critical Geopolitics noch einmal bezogen auf die Rahmenthematik des Bandes,
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das Verhältnis von „Staat und Raum“, so bleibt diese Forschungsrichtung, trotz der ihr innewohnenden konzeptionellen Unausgewogenheiten, für die Politische Geographie eine interessante und wichtige Analyseperspektive. Sie ist in der Lage, den oftmals „realistischen“ Ansätzen im Feld der Internationalen Beziehungen der Politikwissenschaften, eine konstruktivistische Perspektive entgegen zu setzen. Mit diesem Blick vermögen die Critical Geopolitics die „Dauerberieselung“ geopolitischer Risikoszenarien von Politikern, politiknahen Think Tanks und politischem Journalismus als diskursive Formationen zu analysieren und zu kritisieren. Sie vermögen deutlich zu machen, dass diese keine Zustandsbeschreibungen vermeintlich „realer“ Konfliktgefüge im Kontext der internationalen Staatengemeinschaft darstellen, sondern vielmehr und vor allem Teile tiefliegender und subtiler geopolitischer Risikokonstruktionen sind, die das „Eigene“ und das „Fremde“, die „Verbündeten“ und die „Gegner“ auf der internationalen Bühne erst identifizierbar machen. Dabei können Critical Geopolitics als politisch„geographische“ Ansätze noch einmal besonders darauf hinweisen, wie stark in solchen diskursiven Konstruktionen eine „Raum“-Komponente am Werk ist, wie sehr gerade die homogenisierende Verortung der „Freunde“ und „Feinde“ (in Form von Staaten, Staatenblöcken, Staatenallianzen, aus Staaten zusammengesetzte Achsen des Guten oder Bösen etc.), d.h. die „geo“-politischen Leitbilder und Risikodiskurse in Krisen- und Kriegsfällen politische Praktiken anleiten. Sie helfen dabei nicht nur Kriegserklärungen zu legitimieren, sie lenken nicht nur Überwachungsdrohnen und „smart“-bombs in bestimmte Richtungen, sondern schicken auch Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Staatsangehörigkeit als Gegner gegeneinander in den Krieg. Critical Geopolitics ermöglichen durch die Analyse und Dekonstruktion entsprechender geopolitischer Risikoszenarien einen kritischen und emanzipatorischen Blick auf solche Teilelemente des gesellschaftlichen Diskurses. Sie bieten damit auch Ansatzpunkte für die Herausbildung eines entsprechenden kritischen Bewusstseins, z.B. im Zuge entsprechender Formen von politischer Bildung oder Schulunterricht. Und sie ermöglichen und legitimieren letztendlich auch Widerspruch gegen darauf aufbauende politische Praktiken der Exklusion, der Kolonisierung oder der Kriegführung – Widerspruch gegen die homogenisierenden (und damit totalisierenden) Raumkonstruktionen der klassischen staatenorientierten Geopolitik. LITERATUR Ackleson, Jason (2005): Constructing Security on the U.S.-Mexico Border. Political Geography 24(2): 164–84. Albert, Mathias/Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter (2010): Kritische Geopolitk. In: Siegfried Schieder/Spindler, Manuela (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen. 3., überarb. und aktualisierte Aufl. Opladen: 551–578. Anderson, Benedict (1983): Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London. Browning, Christopher/Joenniemi, Pertti (2004): Contending Discourses of Marginality: The Case of Kaliningrad. Geopolitics 9(3): 699–730.
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POLITISCHE GEOGRAPHIE UND POSTKOLONIALE THEORIE – TERRITORIEN, IDENTITÄTEN, VERFLECHTUNGEN Julia Lossau
1. POSTKOLONIALE GEOGRAPHIEN Any mapping of “the postcolonial” is a problematic and contradictory project. This arises from the impulse within postcolonial approaches to invert, expose, transcend or deconstruct knowledges and practices associated with colonialism, of which objectification, classification and the impulse to chart or map have been prominent (Sidaway 2000: 592).
In einem Essay über postkoloniale Geographien schreibt der britische Geograph James Sidaway, postkoloniale Ansätze seien durch den Impuls gekennzeichnet, die objektivierenden und klassifizierenden Gehalte kolonialer Wissensformen und Praktiken einer dekonstruktiven Kritik zu unterziehen. Vor diesem Hintergrund müsse jeder Versuch, das Postkoloniale selbst zu kartieren, als problematisch und widersprüchlich gelten. Da postkoloniale Ansätze unter ihrem Dach eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven sowie disziplin- und gesellschaftspolitischer Einstellungen vereinen, scheint es darüber hinaus angebracht, vom Postkolonialismus nur im Plural zu sprechen (Lossau 2002: 21). Aller Heterogenität zum Trotz – neben stärker materialistisch-strukturalistischen Positionen finden sich im postkolonialen Denken vor allem poststrukturalistische Perspektiven – findet sich aber ein verbindendes Element: Postkoloniale Autor_innen teilen eine ausgeprägte Vorliebe für den Gebrauch räumlicher Metaphern. In der Rede von „Zwischenräumen“, „Grenzverschiebungen“ und „Kontaktzonen“ drückt sich der Versuch aus, jenes identitätslogische Denken herauszufordern, das im Rahmen des Kolonialismus entscheidend zur Unterordnung und Marginalisierung des kolonialen Anderen durch den (vermeintlich) modernen und fortschrittlichen Westen beigetragen hat. In diesem Sinne verwendet die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt den Begriff der „Kontaktzone“ (contact zone), um darauf aufmerksam zu machen, dass die Konstitution des europäischen Selbstbildes nicht von innen heraus erfolgte, sondern durch vielfältige Begegnungen und Wechselwirkungen mit den Subjekten der Peripherie strukturiert wurde (Pratt 1991, 1992). Für den Semiotiker Walter D. Mignolo stellt das Konzept des „Grenzdenkens“ (border thinking) eine Möglichkeit dar, die Weltordnungen des Zentrums in Frage zu stellen und ihnen – aus Sicht subalterner Positionen – alternative Ordnungssze-
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narien entgegenzusetzen (Mignolo 2000). Die Feministin bell hooks wiederum hat den Rand (the margin) als „einen Raum radikaler Offenheit“ konzeptualisiert, von dem aus andere Vorstellungen von der Welt artikuliert werden können (hooks 1990: 149). Auch der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha interessiert sich für Marginalität, die er auch als Liminalität bezeichnet und mit dem Begriff der Hybridität verbindet (Bhabha 1990). Hybridität bezeichnet bei ihm nicht das Vorhandensein zweier Felder, aus denen heraus sich ein drittes ergibt, sondern verweist auf den so genannten Third Space, der anderen Positionen die Möglichkeit zur Entfaltung eröffnet (ebd.: 211): For me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the “third space” which enables other positions to emerge.
Aufgrund der großen Popularität von Bhabhas Arbeiten kann das Third SpaceKonzept emblematisch für die postkolonialen Bestrebungen stehen, die westlichen Technologien der Unterwerfung zu hinterfragen und Differenz mit Hilfe räumlicher Konzepte anders, sprich: nicht-dualistisch, zu konzeptualisieren. Wie das einleitende Zitat von Sidaway andeutet, haben diese Versuche auch in der Geographie Widerhall gefunden (vgl. auch die Beiträge in Blunt/McEwan 2002). Obwohl das Fach in historischer Hinsicht als Kolonialdisziplin par excellence gelten muss, haben die engagierten Beiträge der jüngeren (Politischen) Geographie, insbesondere des anglo-amerikanischen Raums, maßgeblich zur Verbreitung und Weiterentwicklung der ursprünglich literaturwissenschaftlich geprägten postkolonialen Diskussion in den Gesellschaftswissenschaften beigetragen. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die postkoloniale Theorie von Seiten der fachwissenschaftlichen Geographie produktiv gemacht wird und welchen Einfluss umgekehrt Beiträge, insbesondere der Politischen Geographie, auf die Weiterentwicklung postkolonialer Ansätze haben. Aufgrund der großen thematischen Bandbreite, die die postkoloniale Diskussion ebenso charakterisiert wie die (politisch-)geographische Debatte, muss dabei notwendig eine Auswahl getroffen werden; gemäß der Ausrichtung des vorliegenden Bandes wird der Fokus auf Fragen nach den Beziehungen von Raum und Staat liegen. Diese Beziehungen sollen in drei Themenfeldern ausgeleuchtet werden. Dabei handelt es sich erstens um die territorialen Disziplinierungspraktiken des kolonialen Staates sowie die Verwicklungen zwischen fachwissenschaftlicher Geographie und Kolonialpolitik, zweitens um den Zusammenhang zwischen Staaten als territorialen Entitäten einerseits und national-kulturellen Identitäten andererseits sowie drittens um die postkoloniale Kritik am Entwicklungsgedanken und die damit verbundene Analyse von Souveränität und Staatlichkeit in postkolonialen Kontexten. Bevor diese Themenfelder der Reihe nach bearbeitet werden, soll ein kurzer Überblick über diejenigen Inhalte postkolonialer Theorien gegebenen werden, die für die geographische Diskussion von besonderer Bedeutung sind.
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2. POSTKOLONIALE THEORIEN Postkoloniale Theorien gehen davon aus, dass koloniale Denkmuster und Strukturen auch nach dem formalen Ende des Kolonialzeitalters weiterwirken, und zwar sowohl in den ehemaligen Kolonien als auch in den ehemaligen Kolonialstaaten. In diesem Sinne markieren sie einerseits einen Bruch mit dem Kolonialismus, weisen aber andererseits auf eine Kontinuität kolonialer Strukturen hin. Wie Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius (1997: 9) schreiben, befasst sich der Postkolonialismus mit dem Prozess des Heraustretens aus dem Syndrom des Kolonialismus, in dessen Verlauf sich die kolonial geprägten Strukturen fortsetzen, indem sie transformiert und damit etwas anderes werden.
Peter Hulme (1995: 121) hat darüber hinausgehend argumentiert, dass der Vorsilbe „post“ eine zeitliche und eine kritische Dimension innewohnen. Während erstere in historischer Hinsicht auf das formale Ende des Kolonialismus hinweist, bezieht sich letztere auf das Theoriegebäude des Postkolonialismus. Der Postkolonialismus, so Hulme (ebd.), besteht in einer Kritik kolonialer Strukturen und verdankt ihnen gleichzeitig seine Existenz. Diese Ambivalenz spiegelt sich in den erkenntnistheoretischen Bedingungen, identitätstheoretischen Implikationen und raumtheoretischen Konsequenzen postkolonialer Ansätze wider, die im Folgenden in Umrissen skizziert werden. 2.1. Erkenntnistheoretische Bedingungen Ein zentrales Charakteristikum postkolonialer Ansätze besteht darin, dass sie – insbesondere in ihren poststrukturalistischen Varianten – vor dem Hintergrund epistemologischer Kontingenz operieren. Die Kontingenzannahme betrifft auch die gesellschaftliche Wirklichkeit, die aus postkolonialer Sicht nicht unabhängig von ihrer Beobachtung und Beschreibung vorliegen kann. Unter Rückgriff auf sprachwissenschaftliche Überlegungen im Anschluss an de Saussure wird argumentiert, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit erst durch kontinuierliche Bedeutungszuweisungen entsteht – durch Sprechen oder Schreiben, Denken und Fühlen im Rahmen von spezifischen gesellschaftlichen Konventionen. Wenn aber die Bedeutungen nicht in den Dingen wohnen und ihnen auch nicht von einer höheren Instanz (wie Gott oder der Natur) auferlegt worden sind, dann folgt daraus, dass die Konstruktion der Wirklichkeit eine innergesellschaftliche Angelegenheit ist. Als solche ist sie notwendig in Fragen nach Herrschaft und Legitimation eingelassen: „Wer hat das Recht, in wessen Namen ‚Wahrheiten’ zu verbreiten“ und nach „wessen Kriterien werden ‚Wirklichkeiten’ produziert“ (Meier 1998: 107; Herv. i. Orig.) – diese Fragen stellen sich, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle Subjekte über die gleiche Macht verfügen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen als objektiv wahr oder allgemeingültig erscheinen zu lassen. Die postkoloniale Kritik interessiert sich für den damit angesprochenen „Kampf um Repräsentation“ und fragt,
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welchen Einfluss in der Kolonialzeit angelegte Denkstrukturen heute noch auf unsere Wissenssysteme und unsere Vorstellungen von „den Anderen“ haben (vgl. Gandhi 1998). Auf dem Grund der asymmetrischen Machtstrukturen zwischen „uns“ und „den Anderen“ liegt aus postkolonialer Sicht der (konstruierte) Gegensatz zwischen dem rationalen „Westen“ und einem rückständigen, außereuropäischen „Rest“. So hat u.a. Stuart Hall argumentiert, dass „der Westen“ sich nur deshalb als modern und fortschrittlich entwerfen konnte, weil er über den vermeintlich passiven kolonialen „Rest“ verfügte (Hall 1994). Als Objekt europäischer Expansionsbestrebungen wurde die so genannte „Neue Welt“ in westliche Begriffsraster eingebunden, nach westlichen Normen beurteilt und insgesamt westlichen Repräsentationssystemen einverleibt. Mit dem Übergang vom Kolonialismus zum Postkolonialismus wird die Polarität zwischen „dem Westen“ und „dem Rest“ mehr und mehr in Frage gestellt. Durch unzählige kulturelle Hybridisierungen, wie sie prominent von Homi K. Bhabha (1994) beschrieben worden sind, verschiebt sich die einstige Differenz zwischen Kolonisierer_innen und Kolonisierten in Richtung interner Differenzen innerhalb der ehemals kolonialisierten und kolonialisierenden Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund wird der Universalitätsanspruch des „Westens“ untergraben; multiple modernitites treten an die Stelle der einen Moderne. Entsprechend besteht eine Herausforderung des Postkolonialismus darin, das Denken in identitätslogischen Kategorien – „wir“ und „die Anderen“, Kolonisierer_innen und Kolonisierte, Herrscher_innen und Beherrschte – durch ein Denken zu ergänzen, das die Vielfalt und Heterogenität von Weltbildern und Identitätskonstruktionen innerhalb dieser Kategorien anerkennt. 2.2. Identitätstheoretische Implikationen Die Forderung, Differenzen zentral zu stellen, verweist weiter auf die identitätstheoretischen Implikationen postkolonialer Theorien. In ihrem Zentrum steht eine Kritik des machtvollen cartesianischen Subjektes, das auf selbstgenügsame Weise über eine wesenhafte Identität verfügt. An die Stelle der damit verbundenen essentialistischen Identitätskonzepte sind Vorstellungen getreten, die von „zerrütteten“ oder „dezentrierten“ Identitäten ausgehen und ein „schwaches“, fragmentiertes Subjekt als den Normalfall betrachten. Stuart Hall (1994, 1999) nennt einige theoretische Interventionen, die dazu beigetragen haben, das machtvolle Subjekt und seine stabile Identität zu erschüttern. Hierzu zählt zunächst die Rezeption von Marx’ Schriften durch den marxistischen Strukturalismus der 1960er Jahre. Marx hatte darauf hingewiesen, dass die Menschen zwar ihre eigene Geschichte machen, dass sie dies aber „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ tun (Marx 1972[1851–1852]: 115). Vor diesem Hintergrund steht aus marxistischer Sicht fest, dass wir „in uns selbst (…) nicht den Ursprungsort finden können, von dem (…) Geschichte oder Handeln ausgehen“ (Hall 1999: 85).
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Wie Marx wandte sich auch Freud gegen die Vorstellung einer wesenhaften Identität als „Ursprung des Selbst-Seins und als Grund des Handelns“ (Hall 1994: 66). Doch während Marx dies in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen tat, thematisierte Freud das Subjekt mit Blick auf seine psychische Verfasstheit. Er zeigte, dass unsere innenweltlichen Strukturen „auf der Grundlage der psychischen und symbolischen Prozesse des Unbewussten gebildet werden“ (Hall 1994: 194) und unserem Bewusstsein daher nicht vollumfänglich zugänglich sind. Auch auf diese Weise wird die Vorstellung einer machtvollen und unhintergehbaren Identität geschwächt: Wir können nicht über unsere Psyche bestimmen; haben keinen Zugang zu den Strukturen unseres eigenen unbewussten Lebens. Entsprechend schreibt Julia Kristeva (1990), dass wir uns selbst Fremde sind. Folgt man der feministisch-psychoanalytischen oder der (post-)marxistischen Kritik, sind Identitäten notwendigerweise auf Bilder und Vorstellungen von Anderen angewiesen, in deren Spiegel sie sich erschaffen und entwerfen können. Das gilt aus postkolonialer Sicht für die personale Identität jedes Einzelnen ebenso wie für die kollektiven sozialen Identitäten der Rasse, der Klasse, des sozialen Geschlechts und der Nation. Mit dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson (1988) können die mit den kollektiven Identitäten verbundenen Gruppen – die Deutschen, die Schwarzen, die Frauen etc. – daher als imagined communities, als „vorgestellte Gemeinschaften“ bezeichnet werden. 2.3. Raumtheoretische Konsequenzen Die raumtheoretischen Konsequenzen eines auf Differenz beruhenden Identitätskonzepts wurden bereits in den späten 1970er-Jahren diskutiert. Im Buch Orientalism, einem postkolonialen Klassiker, zeigte der Literaturwissenschaftler Edward Said, wie es Europa gelang, sich im Spiegel des Orients selbst zu erschaffen (Said 1978). Im Zuge der kolonialen Aneignung wurde, Said zufolge, nicht nur definiert, was orientalisch ist; im Negativ dieses Bilds erschien auch, was als westlich bzw. europäisch gelten sollte. Aus postkolonialer Sicht stellen der Orient und Europa demnach keine geographischen Gegebenheiten, sondern voraussetzungsvolle Konstruktionen dar. Said selbst hat diese Konstruktionen als „imaginative Geographien“ bezeichnet. Damit meinte er nicht, dass Europa und der Orient Hirngespinste seien, die nur in den Köpfen, nicht aber in Wirklichkeit existieren. Im Gegenteil: Aus einer sozial- und kulturtheoretisch informierten Perspektive wird die geographische Wirklichkeit überhaupt erst real und verständlich, weil sie symbolischer Natur ist, das heißt weil ihr im Rahmen von Bedeutungszuweisungen ein bestimmter Sinn gegeben wird (vgl. Lossau/Flitner 2005; Lossau 2008). Dass Europa und der Orient im Alltag als quasi-natürliche geographische Gegebenheiten betrachtet werden – und nicht als komplexe soziale Konstruktionen –, kann auf das so genannte Prinzip der Verortung zurückgeführt werden (vgl. Lossau 2002). Es besteht darin, Objekte und Identitäten entlang von (vermeintlich) objektiven Unterschieden im Raum festzuschreiben, wodurch die prinzipiell immer auch anders mögliche Welt in eine augenscheinlich objektive Ordnung ge-
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bracht wird. Dabei bleibt jedoch im Dunkeln, dass erst die Verortung nach dem Muster hier/dort die Überzeugung herzustellen vermag, die entstandene Ordnung sei dem Prozess des Verortens vorgängig und die Identitäten seien an sich unterschiedlich. Dieser Effekt sei anhand eines Zitats aus Orientalism verdeutlicht: It is perfectly possible to argue that some distinctive objects are made by the mind, and that these objects, while appearing to exist objectively, have only a fictional reality. A group of people living on a few acres of land will set up boundaries between their land and its immediate surroundings and the territory beyond, which they call “the land of the barbarians”. In other words, this universal practice of designating in one’s mind a familiar space which is “ours” and an unfamiliar space beyond “ours” which is “theirs” is a way of making geographical distinctions that can be entirely arbitrary. I use the world “arbitrary” here because imaginative geography of the “our land-barbarian land” variety does not require that the barbarians acknowledge the distinction. It is enough for “us” to set up these boundaries in our own minds; “they” become “they” accordingly, and both their territory and their mentality are designated as different from “ours”. (Said 1978: 54)
Said argumentiert in diesen Zeilen, dass die Wirklichkeit durch den Einsatz einer bestimmten Unterscheidung erst geschaffen wird. Die vermeintliche Tatsache, dass die Barbaren anders sind als wir, setzt zunächst den Einsatz der Unterscheidung zivilisiert/barbarisch voraus. In diesem Einsatz vollzieht sich, wie im Anschluss an Pierre Bourdieu formuliert werden kann, „eine heimliche Umkehrung von Ursache und Wirkung“ (Bourdieu 1997: 93). Dabei wird die Fremdheit der Barbaren zur ideologischen Grundlage für die Errichtung einer Grenze zwischen „uns“ und „ihnen“ – obwohl es eigentlich die Praxis der Grenzziehung ist, vermittels der die Barbaren als fremde und homogene Entität erst erschaffen werden. 3. TERRITORIALE KONTROLLE UND DISZIPLINIERUNGSPRAKTIKEN Aus einer postkolonialen Sicht, so könnte man die für die geographische Diskussion relevanten Inhalte postkolonialer Theorien zusammenfassen, existieren klar voneinander abgegrenzte geographische Räume ebenso wenig per se wie homogene, essentialistische Identitäten. Anstatt sich „auf diese oder jene Kultur, auf Erste oder Dritte Welt, auf aufklärerischen Universalismus oder (…) partikularen Perspektivismus festlegen“ zu lassen (Nassehi 1999: 159), bieten postkoloniale Theorien einen epistemischen Zwischenraum an, in dem beobachtbar wird, dass es Verortungen sind, die Ordnungen erst hervorbringen. Diese Einsicht stellt gerade für die Geographie eine große Herausforderung dar. Lange Zeit wurde im Fach davon ausgegangen, dass sowohl Räume als auch Kulturen (Staaten und Völker) der Imagination vorgängig sind und einen wesenhaften Charakter haben. So bestand das Ziel der traditionellen Geographie als Landschafts- oder Länderkunde darin, die regional spezifischen Zusammenhänge zwischen den physischmateriellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Erscheinungen in integrativer Weise zu beschreiben. Im Sinne des so genannten länderkundlichen Schemas wurden die untersuchten Raumausschnitte als Ganzheiten beschrieben, in denen,
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wie Benno Werlen (1997: 44) kritisch zusammenfasst, „‚Natur’, ‚Kultur’ und ‚Gesellschaft’ zu einer Einheit zusammenwachsen“. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsprogramms ist die Geographie zu einer bedeutenden Kolonialwissenschaft geworden. Dies zeigt etwa das Beispiel von Friedrich Ratzel (1844–1904), dem Begründer der Anthropogeographie, der als Gründungsmitglied des Deutschen Kolonialvereins und später der Deutschen Kolonialgesellschaft dazu beitrug, das traditionelle geographische Paradigma zu dynamisieren und an den zeitgenössischen Imperialismus anzupassen (vgl. Schultz 1998 und den Beitrag von Hans-Dietrich Schultz in diesem Band). Während das klassische Paradigma von einer territorialen Kongruenz zwischen Staat, Nation und (physisch-materiellem) Boden oder Land ausgegangen war, setzte Ratzel einen ewigen „Kampf um Raum“ als „erste Bedingung“ des Lebens voraus (Ratzel 1903: 5). Damit verabschiedete er die Herdersche Vorstellung einer „brüderlichen Gemeinschaft“, in der die Nationen sich im friedlichen Streben nach Humanität auf ihr jeweiliges Territorium beschränken. Ihr stellt er ein konfrontatives Konzept entgegen, das, Hans-Dietrich Schultz (1998: 140) zufolge, nichts weniger bedeutet als einen Wechsel vom ewigen Frieden hin zum ewigen Krieg. Der praktische Bezug, den diese Ideen im Kontext der deutschen Tagespolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts entfalten konnten, zeigt sich beispielsweise in einer Textstelle, in der sich Ratzel zur Flottenfrage und zu Deutschlands Position als Weltmacht äußert: Es wird immer herrschende und dienende Völker geben. Auch die Völker müssen Amboss oder Hammer sein. Ob sie das eine oder das andere werden, liegt in der rechtzeitigen Erkenntnis der Forderungen der Weltlage an ein emporstrebendes Volk. (…) Deutschland kann nur als Weltmacht hoffen, seinem Volk den Boden zu sichern, den es zu Wachstum nötig hat. Es darf nicht den in allen Erdteilen vor sich gehenden (…) Neuverteilungen fern bleiben, wenn es nicht wieder (…) Gefahr laufen will, für eine Reihe von Generationen in den Hintergrund gedrängt zu werden. Weltmacht sein heißt aber Seemacht sein; und darin liegt nun die entscheidende Bedeutung der Flottenfrage für Deutschland (Ratzel 1906[1898]: 377f.).
Die Verwicklungen zwischen Geographie und Kolonialpolitik kommen aber nicht nur im Werk prominenter Fachvertreter zum Ausdruck. Vielmehr trug das geographische Wissen auf sehr vielfältige Wiese dazu bei, koloniales Land zu „entdecken“ und zu unterwerfen. Dazu trugen die Praktiken des Kartierens und Kartographierens ebenso bei wie territoriale Restrukturierungen durch die koloniale Raum- und Stadtplanung; mehr oder weniger willkürliche Grenzziehungen ebenso wie Um- und Neubenennungen geographischer Gegebenheiten, die damit der Deutungsmacht der Kolonialherren unterworfen wurden. Das koloniale Projekt beruhte auf einer ganzen Reihe von Akten „geographischer Gewalt“ (Said 1994: 305), deren Ziel darin bestand, den annektierten Raum auf eine bestimmte Art und Weise zu ordnen und seine Bevölkerung durch verwaltungstechnische Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen (vgl. ebd.; Ó Tuathail 1996: 70–110). Viele dieser Akte sind vor allem von englischsprachigen Vertreter_innen der geographischen Disziplingeschichte mittlerweile aufgearbeitet worden. Hervorzuheben sind hier die Arbeiten von Derek Gregory, dessen Schlüsselwerk Geographical Imaginations eine historische Analyse des klassischen geographischen
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Blicks enthält, der eine panoptische Position für sich reklamiert und die vermeintlich natürliche Welt mittels Beschreibung, Klassifikation und Vergleich wie in einer Ausstellung vor sich ausbreitet (the world-as-exibition; Gregory 1994: 15– 69). Auch Felix Driver (1992) hat sich bereits in den frühen 1990er Jahren bemüht, die Möglichkeiten für eine kritische, postkoloniale Perspektive auf die geographische Fachgeschichte auszuloten. In seiner Kartierung des Zusammenspiels zwischen kolonialer Macht und modernem geographischen Wissen warnt er vor einem essentialisierenden Umgang mit der imperialistischen Geographie und betont die Vielfalt von (lokal spezifischen) Wissensformen, die es historisch immer gab: Geography’s history, like historical writing of all kinds, presents us with various choices, both in its execution and in its interpretation. The choice between these various routes through geography’s past cannot be an absolute one, and it would be wrong to see them as mutually exclusive in all circumstances. (ebd.: 37)
Im Anschluss an diese frühen Bemühungen um eine „Dekolonisation“ geographischen Wissens (vgl. auch Crush 1994) ist eine Reihe weiterer Arbeiten entstanden, die sich kritisch mit dem spezifisch geographischen Beitrag zu Imperialismus und Kolonialismus auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund hält Catherine Nash in einem Überblickaufsatz aus dem Jahr 2002 fest, dass sich der Einfluss postkolonialer Theorien auf die Geographie am offensichtlichsten auf dem Feld der Disziplingeschichte zeige (Nash 2002: 221). 4. TERRITORIALE ENTITÄTEN UND KULTURELLE IDENTITÄTEN Ein weiterer Schwerpunkt der postkolonial inspirierten Politischen Geographie liegt auf der kritischen Auseinandersetzung mit der Verbindung von Kultur und Raum, die bis heute vielfach als selbstverständlich und der Beobachtung vorgängig erscheint. Vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt wird ein Bild von der Welt als einem kulturräumlichen Mosaik gezeichnet, in dem verschiedene Kulturen – und ebenso oft: Nationen und Staaten – klar voneinander getrennt über die Erdoberfläche verteilt sind. So wenig voraussetzungsvoll dieses Mosaik aus einer Alltagsperspektive erscheinen mag, so vehement ist die damit verbundene Raumvorstellung aus postkolonialer Sicht kritisiert worden. Die britische Geographin Doreen Massey etwa wendet sich radikal gegen die gängige Vorstellung, in der die Welt als ein von kulturellen bzw. nationalstaatlichen Grenzen durchzogener Flickenteppich erscheint – „an imagination of spaces which are already divided up, of places which are already separated and bounded“ (Massey 1999: 11). Ihr zufolge stellt diese Vorstellung keine unumstößliche Wahrheit dar, sondern das Resultat einer bestimmten Art und Weise, Raum zu konzeptualisieren und damit zu kontrollieren: “What is at issue here (…) is both a way of organising space and of controlling it and a manner of conceptualising it” (ebd.). Diese Einsicht steht in Zusammenhang mit einem Perspektivenwechsel, dessen Effekte alle humangeographischen Teildisziplinen gleichermaßen betreffen.
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Unter postkolonialen Vorzeichen geht es nicht länger darum, Kulturräume als quasi-natürliche territoriale Entitäten der Forschung vorauszusetzen. Der Fokus der Auseinandersetzung liegt vielmehr auf der Frage, wie solche Räume als imaginative Geographien im Sinne Saids inner- und vor allem außerwissenschaftlich konstituiert werden. Dabei wird insbesondere im angloamerikanischen Kontext heuristisch zwischen einer diskursiv-repräsentativen und einer praktisch-performativen Ebene der Raumkonstitution unterschieden (vgl. z.B. Philo 2000). Während die erstgenannte die symbolischen Landkarten und Raumordnungen beinhaltet, die von unterschiedlich machtvollen Institutionen – wie z.B. Staaten, internationalen Organisationen, regionalen Verbänden oder auch der Kommunalpolitik – medial platziert und im Diskurs mit mehr oder weniger großem Erfolg durchgesetzt werden, geht es im zweiten Fall um jene Orts- und Weltbezüge, die in der alltäglichen Praxis von individuellen Akteuren und/oder Gruppen produziert und reproduziert werden. Im Vordergrund stehen im zweiten Fall also nicht Narrative oder Diskurse, sondern die körperbezogenen Erfahrungen und habituellen Praktiken, mit denen Subjekte in unterschiedlichen Kontexten „alltägliche Geographien“ (Werlen 2000: 336–351) produzieren und reproduzieren. Auf beiden Ebenen wird untersucht, welche Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf das Eigene und das Fremde jeweils transportiert werden und wie die Verfestigung bestimmter Repräsentationen dazu beiträgt, imaginative Geographien als vermeintlich natürliche territoriale Entitäten erscheinen zu lassen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Schaffung nationalstaatlicher Entitäten: Da gesellschaftliche Ordnung bis heute kaum anders gedacht wird als nach dem Modell des Nationalstaats, kann die Welt bis heute auch kaum anders gesehen werden als zerfallen in nationalstaatliche „Raumblöcke“ (blocks of space; Massey 1999). Um einen Ausweg aus der „territorialen Falle“ (Agnew 1994) des methodologischen Nationalismus zu finden (Smith 1979), bemüht sich beispielsweise der Ansatz der Critical Geopolitics um eine Dekonstruktion der national je spezifischen geopolitischen Welt-Bilder und -Deutungen, die vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt (re-)produziert werden und in unzählige Topographien von Macht und Wissen eingelassen sind (vgl. Lossau 2000 sowie den Beitrag von Paul Reuber in diesem Band). Unter stärker kulturgeographischen Vorzeichen sind dagegen die nationalen Erinnerungs- und Gedenkorte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Unter der Überschrift spaces of memory wird etwa untersucht, wie offizielle Erinnerungsorte (Museen oder Mahnmale) dazu beitragen, die soziale Stabilität und institutionelle Kontinuität im Staat aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig geht es aber auch um die Frage, wie die symbolischen Orte des Gedenkens – ebenso wie die damit verbundenen Gedenkpraktiken – immer wieder herausgefordert und durch alternative Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit in Frage gestellt werden (Taylor 2000; Till 2003). Die Erweiterung der (politisch-)geographischen Forschung um die Untersuchung von imaginativen Geographien ist auch insofern gewinnbringend, als sie der Gefahr einer Reifizierung von Räumen vorbeugt. Diese Gefahr ist innerwissenschaftlich insbesondere bei Regionalstudien gegeben; außerwissenschaftlich wird sie auch in politischen Diskussionen virulent, in denen es auf den ersten
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Blick nicht um Räume und Räumliches geht. Steht beispielsweise die Frage zur Verhandlung, ob die Türkei zu Europa gehört oder nicht, lohnt es sich zu reflektieren, welche imaginativen Geographien rund um dieses Thema zum Tragen kommen; wie die Türkei einerseits und Europa andererseits durch Diskurse und Praktiken konstruiert werden und, umgekehrt, welche Bedeutungen „die Türkei“ und „Europa“ in unterschiedlichen Kontexten erlangen (vgl. Lossau 2002). Setzt man Europa und die Türkei dagegen unhinterfragt als Analyseeinheiten voraus, werden die damit angesprochenen Subjekte in semantische Container gesteckt, deren vermeintliche Abgeschlossenheit in globalisierten Zeiten auch empirisch immer weniger Sinn hat. 5. „ENTWICKLUNG“ UND NORD-SÜD-VERFLECHTUNGEN Folgt man der Geographin Sarah A. Radcliffe (2005: 291), so lebt das materielle und diskursive Erbe von Kolonialismus und Imperialismus bis heute ganz unmittelbar in der Entwicklungszusammenarbeit weiter. Tatsächlich betreffen postkoloniale Fragen nach Macht, Repräsentation und Ordnungsanspruch das ebenso komplexe wie umstrittene Feld der Beziehungen zwischen Nord und Süd in besonderer Weise. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass seit einiger Zeit auch eine postkoloniale Geographische Entwicklungsforschung von sich reden macht (vgl. Radcliffe 2005). Diese Forschungsrichtung hinterfragt die epistemischen Rahmungen und Vorannahmen traditioneller Entwicklungsforschung und -praxis. Im Zentrum der Kritik steht dabei die Fokussierung auf Entwicklung, die traditionell sowohl den Gegenstand als auch das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit bildet. Zentral für die postkoloniale Kritik ist die Einsicht, dass das Entwicklungsparadigma mit Wissens- und Repräsentationssystemen korrespondiert, in denen „die westliche Welt“ als Standard und Vorbild erscheint. In der Forderung, die damit verbundene Asymmetrie in ihren verschiedenen Facetten zu reflektieren, trifft sich die postkoloniale Theorie mit dem Ansatz des so genannten Post-Development (vgl. Escobar 1995; Rahnema 1997; Sachs 1992). Vertreter_innen des – keineswegs einheitlichen – Post-Development-Ansatzes begreifen das Projekt „Entwicklung“ als westliches Herrschaftsinstrument, mit dessen Hilfe auch Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte nach der formalen Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien noch Eingriffe in den „Rest der Welt“ legitimiert werden. Sie schlagen daher vor, vom Entwicklungsgedanken selbst Abstand zu nehmen und stattdessen das Funktionieren seiner Ökonomie aufzuzeigen. Obwohl (oder gerade weil) dieser Vorschlag quer zum „developmentalistischen“ Paradigma liegt, wurde er für die geographische Entwicklungsforschung produktiv gemacht, und zwar vor allem mit Blick auf eine Kritik der paradigmatischen Setzungen der eigenen Forschungsarbeit. Gleichzeitig ist der Post-Development-Ansatz innerhalb der postkolonialen (Entwicklungs-)Geographie auch kritisiert worden. Moniert wurden eine generalisierende Haltung bezüglich der Geschichte des Entwicklungsgedankens, eine Romantisierung von indigenen Gruppen und Graswurzelorganisationen sowie ei-
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ne theoriebautechnisch bedingte Unfähigkeit, Entwicklungsalternativen zu formulieren (vgl. Radcliffe 2005). Diese (ihrerseits generalisierende) Kritik hat zu einer Debatte geführt, die das Feld der Geographischen Entwicklungsforschung dynamisiert hat und in deren Folge sich verschiedene Forschungsschwerpunkte etabliert haben (ebd.). Einer dieser Schwerpunkte beschäftigt sich mit Fragen nach Souveränitäten und Machtbeziehungen in postkolonialen Staaten. So untersucht Michael Watts (2003) in einer von Michel Foucaults GouvernementalitätsKonzept inspirierten Studie den Zusammenhang zwischen Öl und Gewalt in Afrika. Am Beispiel von Nigeria kartiert er drei unterschiedliche Regierungsräume (governable spaces): den „Raum der lokalen ‚Stammesfürsten’“, den „Raum der Indigenität“ und „den Raum des Nationalstaates“. Obwohl in diesen drei Räumen je eigene, zum Teil gegenläufige Dynamiken und Formen der Führung herrschen, existieren sie neben- bzw. übereinander und machen die politische Realität des postkolonialen Nigerias aus. Die Gleichzeitigkeit von teilweise konträren Verhaltensregeln und Identifikationsformen wird von Watts als Ergebnis des Zusammenwirkens von autoritärer Gouvernementalität und Petro-Kapitalismus interpretiert. Auch James Sidaway (2002, 2003) beschäftigt sich mit den politischen Landkarten postkolonialer Staaten. In seiner Analyse der Räumlichkeit unterschiedlicher Souveränitäten (sovereigntyscapes) in Afrika untersucht Sidaway, wie „schwache Staatlichkeiten“ der so genannten Dritten Welt im Diskurs repräsentiert werden, wobei er sowohl das Konzept des „gescheiterten“ oder „schwachen Staats“ (failed or weak state) als auch essentialistische Vorstellungen von Souveränität kritisch hinterfragt (Sidaway 2003). Dabei vertritt er wie Watts die Auffassung, dass die gegenwärtig zu beobachtende Gewalt in als schwach bezeichneten Staaten im Zusammenhang mit deren historischen Verbindungen zum „Westen“ zu sehen ist (ebd.). Die darin anklingende Bedeutung globaler Vernetzungen und historischer Verflechtungen wird auch von anderen Vertreter_innen postkolonialer Theorien hervorgehoben. Die Entstehung der modernen Welt, so die Argumentation, müsse als „gemeinsame“ bzw. „geteilte“ Geschichte gedeutet werden, in der verschiedene Kulturen und Gesellschaften eine Reihe zentraler Erfahrungen teilten und durch ihre Interaktion und Interdependenz die moderne Welt gemeinsam konstituierten (Eckert/Randeria 2009: 11; vgl. auch Randeria 1999).
Die raumtheoretischen Parameter dieser Interdependenzen, die innerhalb der Geographie unter dem Stichwort entanglements diskutiert werden (vgl. z.B. Sharp et al. 2000), wurden in den 1990er-Jahren prominent von Doreen Massey diskutiert (Massey 1997, 1999). Massey konzeptualisiert das Räumliche als „Sphäre des Nebeneinanders“ unterschiedlicher Narrative, wobei sie sowohl die soziale Konstruiertheit von Räumen als auch deren notwendige Eingebundenheit in Machtbeziehungen betont. Mit dieser epistemischen Position begegnet sie der Gefahr, in die oben skizzierte „territoriale Falle“ zu tappen und Verflechtung schlicht im Sinne einer Intensivierung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen „Raumblöcken“ – etwa im Sinne der Ersten und der Dritten Welt – zu denken.
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6. FAZIT Die postkoloniale Theorie interessiert sich für die asymmetrischen Machformationen im Verhältnis zwischen Metropole und Kolonie ebenso wie für die gegenwärtigen Konsequenzen des historischen Kolonialismus. Mit diesem Interesse ist das Verhältnis von Raum und Staat in mehrfacher Hinsicht angesprochen. Der vorliegende Beitrag stellte drei Themenfelder zentral: die territorialen Disziplinierungspraktiken des kolonialen Staates, den Zusammenhang zwischen Staaten als territorialen Entitäten einerseits und national-kulturellen Identitäten andererseits sowie die Analyse von Souveränität und Staatlichkeit in postkolonialen Kontexten. Ausgehend von diesen Feldern lassen sich mit den theoretischen Mitteln postkolonialer Theorie eine Reihe weiterer Aspekte untersuchen, die von der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bis hin zur Restrukturierung von Eigentumsverhältnissen im Kontext (post-)kolonialer Herrschaft reichen (vgl. z.B. Eckert 2006). Diese Aspekte sind nicht zuletzt für eine postkolonial interessierte (Politische) Geographie von Relevanz: Im Versuch, die Beziehungen von Raum und Staat aus einer postkolonialen Perspektive auszuleuchten, sind Bezüge zwischen der fachwissenschaftlichen (Politischen) Geographie einerseits und der postkolonialen Theorie andererseits thematisiert worden. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass beide Felder in den vergangenen Jahrzehnten von der Entwicklung des jeweils anderen profitiert haben. Während politisch-geographische Konzepte und Raumvorstellungen (bzw. deren Kritik) zu einer wichtigen Quelle postkolonialer Theoriearbeit geworden sind, hat die Bezugnahme auf postkoloniale Theorien innerhalb der (Politischen) Geographie zu einer Politisierung des Faches geführt, in deren Folge die Grenzen zwischen unterschiedlichen Subdisziplinen in Frage gestellt worden sind. Durch die Reflexion der eigenen kolonialen Gehalte wird die Politische Geographie zu einer politischen Geographie, die Differenz als Ursprung von Identität anerkennt und darauf aufmerksam macht, dass allen Raumordnungen auf spezifischen Ausschlüssen beruhen (vgl. Lossau 2002: 150). LITERATUR Agnew, John (1994): The territorial trap: the geographical assumptions of international relations theory. Review of International Political Economy 1: 53–80. Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/Main/New York. Bhabha, Homi K. (1990): The Third Space. In: Rutherford, Jonathan (Hrsg.): Identity, Community, Culture, Difference. London: 207–221. Bhabha, Homi K. (1994): The postcolonial and the postmodern: The question of agency. In: Bhabha, Homi K. (Hrsg.): The location of culture. London/New York: 171–197. Blunt, Alison/McEwan, Cheryl (Hrsg.) (2002): Postcolonial Geographies. London/New York. Bourdieu, Pierre (1997): Männliche Herrschaft revisited. Feministische Studien 15: 88–99. Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin (1997): Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese
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FOUCAULT, MACHT, TERRITORIUM Matthew Hannah Michel Foucault (1926–1984) war Historiker und Philosoph und von 1971 bis zu seinem Tod Inhaber des speziell für ihn geschaffenen Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme am ruhmreichen Collège de France in Paris. Im Laufe seiner Karriere hat er eine ganze Reihe von einflussreichen historisch-philosophischen Studien vorgelegt, die das herkömmliche Bild von der Entstehung sowie von der Bedeutung der Moderne in vielerlei Hinsicht revidiert haben (vgl. Bröckling et al. 2000; Ewald/Waldenfels 1991; Honneth/Saar 2003; Lemke 1997 für Überblicke über die Arbeit Foucaults sowie über deren Rezeption in Deutschland). Für das Thema „Staat und Raum“ ist dabei am relevantesten, dass Foucault besonders in den mittleren und späten 1970er Jahren eine neue Perspektive auf Fragen von sozialer und politischer Macht eröffnet hat, die ohne Übertreibung neben den Machtanalysen der feministischen Theorie als die wichtigste der letzten 50 Jahren eingestuft werden kann. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Art und Weise in der Humangeographen und -geographinnen die Machtanalyse von Foucault im Rahmen von Untersuchungen über die Bedeutung von „Territorium“ in der Gestaltung moderner Machtformen verwendet bzw. adaptiert oder weiterentwickelt haben. Zuerst wird einen kurzen Überblick über die Foucault’sche Machtanalytik geboten und den Begriffen „Staat“ und „Territorium“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Den Kern dieses Kapitels stellt eine anschließende Revue einschlägiger Studien aus der englischsprachigen Humangeographie dar, wo bereits umfangreich zu diesem Thema veröffentlicht wurde. Diese Studien werden mit Bezug auf das gegliedert, was ich anderswo „kalkulierbares Territorium“ genannt habe (vgl. Hannah 2009: 67–69; Crampton 2010: 4). Darunter können mindestens die folgende Ebene unterschieden werden: (1) Ordnende Visionen für moderne euro-amerikanische und koloniale Städte; (2) Raster (Crampton 2010: 4; „griddings“) der geographischen Zugänglichkeit und Lesbarkeit des Territoriums; (3) raumbezogene Erfassungen von Bevölkerungen oder Aktivitäten; (4) geographische Elementen territorialer Sicherung. Die Art und Weise, wie diese Ebenen untersucht wurden, macht deutlich, was ein geographisch sensibilisierter Foucault’scher Blick zum wissenschaftlichen Verständnis der Beziehung Staat-Territorium beitragen kann.
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1. FOUCAULT UND MACHT Als Analytiker von Machtbeziehung richtet Foucault seinen Blick vor allem auf Rationalitäten und Technologien, das heißt auf Praxen sowie Praxis leitende Vorstellungen, die seit rund 200 Jahren in einer ganzen Reihe spezifischer Situationen darauf abzielten, konkrete soziale Probleme oder Missstände zu lindern, zu beseitigen usw. Während Marx und seine Nachfolger eine historische Diagnose der Entwicklung des Kapitalismus geliefert haben, in deren Zentrum der Klassenkampf, und an dessen Ende möglicherweise eine Revolution, steht, hat Foucault eine sehr heterogene Serie von Kämpfen, Projekte, Widerstände und Verschiebungen aufgedeckt, die zusammengenommen eine kritische Geschichte der Reformbestrebungen oder der Problematik des Regierens bildet. „Das Politische“ besteht demgemäß für Foucault nicht aus großen, welthistorischen Konfrontationen sondern eher aus den kleinen Kämpfen und miteinander konkurrierenden Rationalitäten oder Projekten, die das gesellschaftliche Leben überall prägen. Diese kleinen Kämpfe um die Gestaltung gesellschaftlicher Ordnungen seien am besten mit einer „genealogischen“ Methode zu erforschen, die typische moderne Annahmen über die Richtung der Geschichte, die Bedeutung von Politik und die wichtigsten Akteure ausklammert. Obwohl Foucault in seinen späteren Studien zur Gouvernementalität die Betonung weniger auf Kämpfe und mehr auf „Führung“ legt, gibt es einen roten Faden, der sich durch seine Arbeiten aus den 1970er Jahren hindurch zieht, und den Lemke, Krasmann und Bröckling (2000) (sowie Balibar 1991 und Hacking 2004) seinen „Nominalismus“ nennen. Dieser Terminus hat eine lange philosophische Geschichte, steht im Grunde aber für eine ontologische Position, wonach universelle Kategorien oder Namen (wie „Katze“) höchstens konzeptionelle Konstruktionen seien, während nur die einzelne Gegebenheiten, die unter solchen Kategorien eingestuft sind, real in einem volleren Sinn seien. Foucault selber nimmt den Begriff auf: Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt (Foucault 1997: 114).
Die Analyseform, die er in Verbindung mit diesem Nominalismus entwickelt, hat eine negative und eine positive Komponente. Die negative verweist auf eine Denaturalisierungsstrategie, die den reifizierenden Gebrauch von Kategorien aufzeigt. Ziel dieser Operation ist es, vertraute Denkschemata und epistemologischpolitische Positivitäten in Frage zu stellen. Der zweite – positive – Analyseschritt zeigt das historisch-spezifische Netz von Kräfteverhältnissen, Interessen, und Strategien auf, das jene Evidenzen ermöglicht und stabilisiert hat (Lemke et al. 2000: 21). Besonders wichtige Säulen von Foucaults nominalistischen Machtanalysen sind drei Begriffe: die disziplinäre Macht, die Biomacht, und schließlich die Gouvernmentalität. Diese drei Termini deuten für Foucault auf Formen der Macht, die vor dem 18. Jahrhundert nicht in den heute erkennbaren Gestalten existierten und die sich von dem staats-zentrierten, „juridisch-politischen“ Verständnis von
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Macht als Souveränität wesentlich unterscheiden. Souveränität als Machtform ist für Foucault mit einer Reihe von Eigenschaften verbunden: sie ist eine Sache des Staates, der als Zentralinstanz ein Territorium herrscht, worin er (nach Weber’scher Formulierung) über ein Monopol zur legitimen Ausübung von Gewalt verfügt; die Mittel dieser Herrschaft sind nicht nur Gewalt, sondern auch Recht, Gesetze, Erlässe usw., die notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden können; ferner wird diese Macht oft als „Ressource“ oder Vermögen verstanden, als etwas, was ein Staat „besitzt“ und anwenden kann oder eben nicht. Die Subjekte der souveränen Herrschaft mögen je nach dem, wie „totalitär“ bzw. „demokratisch“ das politische System ist, verschiedene Freiheiten genießen, so lange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen oder das Gewaltmonopol in Frage stellen. In moderneren, liberaleren Systemen können sie als „Staatsbürger/innen“ an der Souveränität sogar zumindest indirekt teilhaben. Das Charakteristische für Foucault an alledem ist, dass die Souveränität im Grunde eine negative Macht sei, eine Macht des Verbots. Souveränität wird von Foucault als eine Machtform bezeichnet, die im Grunde eine „Macht, zu töten, oder leben zu lassen“ sei, während Biomacht umgekehrt als eine „Macht, leben zu machen, oder sterben zu lassen“ verstanden werden könne (Foucault 1999: 278). Mit „Disziplin“ bezeichnet Foucault eine Form der Machtausübung, die vor allem auf die Reglementierung des menschlichen Körpers zielt (Foucault 1976). Im späten 18. Jahrhundert erkennt er in Großbritannien, Frankreich und anderswo exemplarisch Bestrebungen, die alten Strafordnungen und Strafsysteme zu reformieren, die er als Geburt einer wichtigen Familie von Techniken interpretiert, die existierende Methoden von körperlicher „Dressur“ (wie zum Beispiel bei militärischer Übung) nun im Rahmen der neuen Gefängnissen umsetzen. Zu dieser Zeit sollte in Europa und Nordamerika nicht nur konsequenter gegen Kriminalität vorgegangen werden, sondern es sollten auch und vor allem die „Kriminellen“ möglichst resozialisiert werden. In den zunehmend kapitalistischen, urbanen und beweglichen Gesellschaften der sich industrialisierenden Länder würde es von Reformern als immer weniger möglich betrachtet, entweder die Kriminalität ausschließlich lokal zu behandeln oder Kriminelle als permanent nutzlosen Teil der Gesellschaft einfach abzuschreiben. Vielmehr waren trainierte Körper zunehmend als Arbeitskräfte gefragt. Noch wichtiger für vielen Reformer war die Überzeugung, dass eine sorgfältig ausgedachte körperliche Dressur in den Gefängnissen, die auf ständige visuelle Überwachung und ein kalkuliertes System von Strafen für jede Art von Regelverstoß basierte, innerliche, moralische Reform bewirken konnte. Den Kern der disziplinarischen Macht bilde ein Vorgang, wobei die unaufhörliche Erfahrung von ständiger und anonymer Überwachung seitens der Gefangenen allmählich eine Verinnerlichung des „Blickes“ der anfangs äußerlichen Autoritätsinstanz verursache. Zuchthäuser und mit der Zeit auch andere Institutionen, die architektonisch für solche Rehabilitierungstechniken geeignet wären, seien in dieser Sicht als zunehmend schlüssige Institutionen zu betrachten, die eine immer stärker produktionsorientierte Gesellschaft unterstützen. Laut Foucault wurden im Laufe der 19. Jahrhundert etliche Varianten der disziplinarischen Logik entwickelt und in vielen anderen Einrichtungen wie Schulen und Irrenanstal-
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ten umgesetzt, freilich nie mit restlosem und perfektem Erfolg, aber trotzdem mit großer Wirksamkeit. Damit zusammenhängend konstruierten Reformer neue Arten von Wissen, die darauf zielten, „Normalität“ (in Bezug auf körperliche Haltungen, aber auch auf äußerliches Verhalten insgesamt, auf „Charaktertypen“ u.v.m.) zu definieren und von „Anormalität“ zu unterscheiden. Die Analyse von disziplinärer Macht in Überwachen und Strafen wurde in Foucaults nächstem Buch, Sexualität und Wahrheit, Band I: der Wille zum Wissen, dadurch ergänzt, dass er die körperbezogenen Techniken in einem größeren Machtkomplex einordnet, den er „Biomacht“ nennt (Foucault 1977). Zur Biomacht gehörten nicht nur diejenigen Praktiken, die die Einzelnen zur „Normalität“ (um)erziehen, was Foucault nun als die „Anatomo-Politik des Körpers“ kennzeichnet, sondern auch die (ebenfalls historisch neuen) Praktiken, wobei moderne „Bevölkerungen“ erfasst, als wichtige Gegenstände für das Regieren identifiziert, untersucht und auch reglementiert worden sind. Diese zweite Form von Biomacht nennt Foucault die „Biopolitik der Bevölkerungen“ (ebd.: 166). Mittel hierzu sind Praktiken wie das Sammeln und die diagnostische Auswertung von offizielle Bevölkerungsstatistiken sowie Maßnahmen, die auf die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit, die Vorbeugung von Epidemien, die Planung für demographischen Wandel u.v.a.m. abzielen. Im Jahr 1979 erschien in der Zeitschrift Ideology and Conscousness der Aufsatz On governmentality, der ursprünglich im Frühjahr 1978 als Vortrag im Rahmen von Foucaults Vorlesung am Collège de France gehalten wurde (Foucault 2000). Dieser Aufsatz erntete lange Zeit keine breite Aufmerksamkeit, weder in der englischsprachigen oder in der deutschsprachigen Wissenschaft, bis 1991 das Buch The Foucault Effect: Studies on Governmentality erschien (Burchell et al. 1991). In diesem wurde der gleichnamige Aufsatz wieder veröffentlicht und daneben eine ganze Reihe von Studien, meist von den engeren Mitarbeiter_innen Foucaults verfasst, die den Begriff der „Gouvernementalität“ ausführlicher erörterten und anhand verschiedener empirischer Forschungen illustrierten. Der Aufsatz, der zusammen mit verschiedenen Kommentaren erst 2000 auf Deutsch erschien (Foucault 2000), ist deswegen so wichtig, weil er zeigt, dass Foucault eine bedeutsame Wendung in seinem Gedankengang zum Thema Macht unternommen hatte (Lemke 1997; Rose/Miller 1992). Foucault hat hier eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vollzogen, wobei er die Frage der modernen Regierung von Bevölkerungen nicht mehr primär über Begriffe wie „Sicherheit“ und „Biomacht“ angehen wollte, sondern eben über jenen der „Gouvernementalität“. Dieser vielschichtige Terminus sollte unter anderem den analytischen Blick weg von der inhaltlichen Rationalität der Biomacht lenken, d.h. vom Leben der Bevölkerung als zu unterstützendem Gegenstand sowie der Unterstützung als Ziel, und ihn stattdessen auf die Kunst des Regierens verlagern, auf die Überlegungen sowie die Techniken, womit das Problem der Regierung einer Bevölkerung als eine Frage der geeignetsten Mittel angegangen worden sollte. „Biomacht“ und „Gouvernmentalität“ ließen sich demnach zu einem gewissen Grad als „Inhalt“ und „Form“ des modernen Regierens verstehen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich unter frühmodernen Denkern allmählich die Idee verbreitet, dass eine nationale Bevöl-
Foucault, Macht, Territorium
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kerung ihre eigenen internen Gesetze hat, und dass eine Regierung, die sich zu stark in die Angelegenheiten der Bevölkerung einmischt, Gefahr läuft, ihre Fähigkeiten, Reichtum zu produzieren oder das Gemeinwohl zu bewahren, zu beeinträchtigen oder sogar zu zerstören. Diese Idee bildet den Kern des modernen Liberalismus, und mit dem Begriff „Gouvernementalität“ wollte Foucault signalisieren, dass sich Biomacht von der älteren Souveränität nicht nur darin unterscheidet, dass sie auf „Leben“ statt auf „Tod“ hin orientiert ist, sondern auch darin, dass sich die geeignete Mittel der Biomacht in einem wichtigen Sinne von den herkömmlichen Arten souveräner Eingriffe und Interventionen abweichen. „Freiheit“ gelte in diesem Sinne nicht als selbstverständliches Ziel der Regierung, sondern als konstruiertes Ziel und darüber hinaus als konstruiertes Mittel. Eine erfolgreiche Regierungskunst besteht nach liberalen Leitlinien darin, gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen möglichst ohne direkte Einmischung der Regierung zu steuern. Im Grunde sollte diese Regierungskunst eine indirekte, effiziente sein. Ein Beispiel für eine Regierungstechnik, die die Logik von liberaler Gouvernementalität gut illustriert, ist die der modernen Versicherung, die eine gewisse Sicherheit bietet, ohne die Aktivitäten des Einzelnen direkt zu regulieren. Ein Charakteristikum, das Versicherung mit andere „gouvernementalen“ Techniken, wie zum Beispiel „Selbsthilfe“Programme, aber auch mit Disziplin oder der biopolitischen Regulierung teilt, ist die Tatsache, dass sie zentral auf Experten-Wissen beruht (Ewald 1991). Ein zweites Charakteristikum von liberalen, gouvernementalen Maßnahme ist ihre oft von Staat unabhängige Entstehungsgeschichte. Solche Maßnahmen werden dann vielleicht (aber nicht immer) vom Staat aufgenommen, „offiziell“ gemacht und standardisiert. Foucault nennt diesen Aufnahmeprozess die „Gouvernementalisierung des Staates“ (Foucault 2000: 65). Dabei geht es aber nicht um das Überbordwerfen souveräner Machtmittel, wie Gewalt oder Gesetze, sondern um ihr Umfunktionieren. Daher spricht Foucault von einem modernen „Dreieck“, von einer Konstellation „Souveränität – Disziplin – gouvernementale Verwaltung“, wobei Macht in modernen Gesellschaften aus dem Zusammenspiel dieser drei verschiedenen Formen besteht (ebd.: 64). Er behauptet ferner, dass das, was die westliche Moderne im politischen Sinne ausmacht, am besten als die Entstehung und Befestigung der letztgenannten zwei Machtformen zu beschreiben sei, und darüber hinaus als die allmählich zunehmende Hegemonie besonders der dritten Form, der Gouvernementalität. Wenn, wie oben ausgeführt, der Staat als mehr oder weniger autonomer Akteur mit dem Begriff Souveränität verbunden ist, und diese wiederum den Rahmen für die Bedeutung von Territorium bildet, scheint eine Foucault’sche Herangehensweise für das Territorium in Sachen Macht bestenfalls eine Nebenrolle vorzusehen. Foucault bekräftigt diesen Eindruck dadurch, dass er in seiner Gouvernementalitätsvorlesung von Februar 1978 die biopolitische Problematik der Bevölkerung explizit als historische Ablösung und als den Nachfolger der früheren Problematik des Territoriums beschreibt (ebd.: 66). Mein Hauptargument lautet hierzu, dass dieser Eindruck täuscht, und zwar aus zwei Gründen: (1) Der Vielfalt von räumlichen Ordnungen, Strategien, Arrangements usw., die jeweils mit Dis-
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ziplin, Biomacht und Gouvernementalität verbunden sind, stehen nicht in einem rein äußerlichen Verhältnis zum Souveränitäts-bezogenen Territorium. Sie können genauso gut als dessen „Gewebe“ betrachtet werden, dessen konkrete Gestalt. (2) Diese Vielfalt von räumlichen Beziehungen ist ferner dadurch mit dem souveränen Territorium verknüpft, dass sie alle insgeheim abhängig von Souveränität als ein Recht auf Intervention bleiben. Ohne das Moment von Intervention, notfalls gegen Widerstand durchgesetzt, blieben disziplinäre oder biopolitische Logiken und Rationalitäten kaum mehr als Wunschvorstellungen. 2. HUMANGEOGRAPHISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN MIT DER FOUCAULT’SCHEN MACHTANALYTIK Humangeograph_innen fingen erst in den 1980er und frühen 1990er Jahren an mit den räumlichen Zügen der Foucault’schen Machtanalytik zu arbeiten. Dabei ging es vor allem darum, die offensichtlich räumlichen Aspekte der Macht in geschlossenen Institutionen wie Gefängnissen, Armenhäusern oder Irrenanstalten zu durchdenken und an ihnen weiterzudenken. Frühe geographische Studien gingen in zwei Richtungen: einerseits haben Felix Driver (1993) und Chris Philo (1992) versucht, die Mikrowelten von disziplinären Institutionen in größere historische und geographische Kontexte einzubetten und dadurch zu zeigen, wie variierbar und lokalitätsbezogen diese angeblich einheitlichen Machtbeziehungen eigentlich waren und sind. Andererseits konzentrierten sich Matthew Hannah (1993, 1997a, 1997b) und Edward Soja (1989) auf geographische Implikationen der Logik der Sichtbarkeit, die eine zentrale Rolle in Foucaults Genealogie der Modernisierung von Strafordnungen in Überwachung und Strafen gespielt hat. In den letzten 15–20 Jahren sind eine Reihe humangeographischer Studien erschienen, die die Problematik von Territorium vor allem mit Biomacht und Gouvernementalität verbinden, und die davon ausgehen, dass verschiedene territoriale Ordnungen den von Foucault skizzierten Machtformen inhärent seien. In einem viel zitierten Artikel aus dem Jahr 2007 stellt Stuart Elden (2007a) fest, dass die oben erwähnte vermeintliche Distanzierung von der Kategorie „Territorium“ hinter die der „Bevölkerung“, die mit der neuen Dominanz von „Gouvernementalität“ über Souveränität einher geht, auf einer unzureichend subtilen Interpretation von Foucaults Argument basiert (vgl. Elden 2007b). Die moderne gouvernementale Fokussierung auf „eine Art Komplex, gebildet aus den Menschen und den Dingen“ (Foucault 2000: 51) als Regierungsgegenstände, verlässt sich zwar nicht mehr direkt auf souveräne, territoriale Herrschaft als einziges Fundament der Machtausübung. Aber mit der Regierung von Menschen, Aktivitäten und Dingen geht nach wie vor unvermeidlich eine Gestaltung oder Neugestaltung von territorialen Ausschnitten oder Beziehungen einher. Ferner gelte, so Elden: Foucault is not simply proposing a linear narrative from a society of sovereignty to a disciplinary society to a society of government (…). Conceiving of these three “societies” not on a linear model, but rather as a space of political action allows us to inject historical and geographical specificity into Foucault’s narrative (Elden 2007b: 29).
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Innerhalb dieses Raums gilt es die verschiedene Artikulationen zwischen souveränen, disziplinaren und gouvernementalen Machtformen in ihrer räumlichen Gestaltungen zu untersuchen und dabei die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Artikulationen nicht aus den Augen zu verlieren. Die wichtigste Gemeinsamkeit, die Geograph_innen erforscht haben, ist eng mit territorialer Kalkulierbarkeit verbunden. Kalkulierbarkeit in Bezug auf Menschen, Aktivitäten oder Gegenstände heißt in diesem Zusammenhang, dass sie (1) auf manipulierbare Zeichen wie Ziffern, Texte usw. reduziert werden, die eine präzise Repräsentation verschiedener Aspekte der Welt in quantitativer Hinsicht erlauben; und (2) dadurch in vielen Dimensionen vergleichbar miteinander gemacht werden. Dem Argument von Elden folgend, entwickelt Matthew Hannah ein heuristisches Modell, wonach man von „kalkulierbarem Territorium“ sprechen kann (Hannah 2009). Kalkulierbares Territorium besteht demnach aus verschiedenen Ebenen oder Schichten, die durch verschiedene Systemen von Einschreibungen [im Original: inscriptions] eine Reihe von Verbindungen herstellen, die Orte, Regionen, menschliche Gruppen und Individuen, ihre Aktivitäten sowie natürliche Ereignisse für Staaten und andere regierende Instanzen lesbar und (zu einem gewissen Grad) voraussehbar oder manipulierbar, d.h. regierbar machen. Diese wortwörtlich grundlegende Kalkulierbarkeit ermöglicht, gestaltet, und wird gestaltet von souveränen, disziplinären und gouvernementalen bzw. biopolitischen Prozessen. Obwohl kalkulierbares Territorium in diesem Sinne verschiedentlich gegliedert werden könnte, reicht es für das hier vertretene Argument, vier Ebene zu unterscheiden: (1) ordnende Visionen für moderne und koloniale Städte; (2) Raster der geographischen Zugänglichkeit und Lesbarkeit; (3) raumbezogene Erfassungen von Bevölkerungen oder Aktivitäten; (4) geographische Elemente zur territorialen Sicherung. Der Rest des Kapitels besteht aus kurzen Schilderungen von exemplarischen Forschungen zu diesen vier Ebenen, die abschließend zusammengefasst werden. Es ist leider unvermeidlich, dass dabei andere wichtige humangeographische Themen und Arbeiten unerwähnt bleiben. 2.1. Visionen und Pläne Foucault selber widmet die erste Sitzung seiner Vorlesung im Frühjahr 1978 großenteils einem Trias von stadtbezogenen Projekten bzw. Visionen, die im 17. und 18. Jahrhundert konzipiert oder realisiert worden sind, oder schon existierten (Foucault 2004a: 28–44). Dabei wollte er die drei wichtigsten Machtrationalitäten – Souveränität, Disziplin und Biomacht (zu dieser Zeit hatte er noch nicht begonnen, von Gouvernementalität zu sprechen) – etwas vereinfacht illustrieren. Für die räumliche Logik der Souveränität lässt er ein Werk von Alexandre Le Maître, Generalingenieur für den Kurfürsten von Brandenburg, aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stehen. In diesem Buch versucht Le Maître Prinzipien festzustellen, wonach eine ideale Hauptstadt gebaut werden sollte. Diese hypothetische Hauptstadt wurde von Le Maître explizit in Verbindung mit einer Vorstellung von dem ganzen staatlichen Territorium konzipiert. Dies erfolgte entlang einer Gliederung der
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Stände: der Bauern, der Handwerker und des Souveräns mitsamt seinen ausführenden Beamten. Territorium wird in dieser Konzeption als eine materialisierte Verteilung von sozio-ökonomischen und politischen Funktionen organisiert: Im Verhältnis zu diesen drei Elementen muß der Staat wie ein Gebäude sein. Das Fundament dieses Gebäudes, das in der Erde (...) sind gewiß die Bauern. Die gemeinschaftlichen Teile, die Diensttrakte des Gebäudes, sind selbstverständlich die Handwerker. Was die edlen Teile, die Wohn- und Empfangstrakte anbelangt, dies sind die Beamten des Souveräns und der Souverän selbst. Von dieser architektonischen Metapher ausgehend soll auch das Territorium sein Fundament, seine gemeinschaftlichen Teil und seine edlen Teile umfassen. Das Fundament ist das Land, und auf dem Land sollen (...) all die Bauern und nur die Bauern wohnen. Zweitens, in den Kleinstädten sollen all die Handwerker und nur die Handwerker wohnen. Und in der Hauptstadt schließlich, dem edlen Trakt des Staatsgebäudes, sollen der Souverän, seine Beamten und diejenigen Handwerker und Händler wohnen, die unentbehrlich sind für den Betrieb des Hofes selbst und das Gefolge des Souveräns (ebd.: 30).
Die Beziehung zwischen Hauptstadt und Territorium müsse zuerst ein geometrisches Verhältnis in dem Sinne sein, dass ein ordentliches Land im Grunde ein Land ist, das die Form eines Kreises hat und dessen Hauptstadt sich schon im Zentrum dieses Kreises befinden muss (ebd.: 30).
Ferner solle die Hauptstadt das ästhetische Zentrum des Landes bilden, mit einer entsprechend schönen Architektur sowie den Ort der politischen „Verwurzelung“ von Erlassen und Gesetzen. Moralisch soll sie ein Beispiel für gute Sitten setzen, sie soll der Sitz der Akademien sein und ein Ort des Luxus, um die Waren aus dem Ausland zu „verlocken“ und dadurch ein Umschlagplatz des Handels zu werden. „Im Grunde“, so Foucault, „geht es bei Le Maître darum, den Staat der Souveränität, den territorialen Staat, und den Handelsstaat übereinanderzulegen“ (ebd.: 32). Als Beispielsstadt für Disziplin nimmt Foucault die französische Stadt Richelieu, die mit anderen „künstlichen Städten“ im 17. Jahrhundert im protestantischen Nordeuropa gebaut worden ist. Die Form all dieser Städte war die des römischen Feldlagers. In Richelieu, wie in anderen Fällen, ging man von einer geometrischen Figur aus, einer Art architektonischem Modul, nämlich dem Karree oder dem Rechteck, die selbst durch Kreuze in weitere Karrees oder Rechtecke unterteilt sind (ebd.: 34).
Dieses Muster war aber nicht einfach symmetrisch: es gab in Richelieu eine Hierarchie von Stadtteilen, je nach Größe und Breite der Karrees und Strassen, die für verschiedene soziale Schichten oder offizielle Funktionen gedacht waren. Foucault glaubt: dass man in diesem einfachen Schema genau die Disziplinarbehandlung der Multiplizitäten im Raum wiederfindet, das heißt die Konstituierung eines leeren und geschlossenen Raumes, in dessen Innerem künstliche Multiplizitäten errichtet werden, die nach dem dreifachen Prinzip der Hierarchisierung, der exakten Verbindung des Machtverhältnisse und der für diese Verteilung spezifischen funktionalen Einflüsse organisiert sind, zum Beispiel Sicherstellung des Handels, Sicherstellung des Wohnens, usw. (ebd.: 35).
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Als drittes und letztes Beispiel verwendet Foucault die schon lang existierende Stadt Nantes, für die im 18. Jahrhundert eine Reihe von (Neu-)Gestaltungspläne und -vorschlägen erarbeitet wurden. Diese Pläne sollten, so Foucault, die Stadt so verändern, dass sie den neuen ökonomischen und politischen Bedingungen der „merkantilistischen“ Phase des europäischen Kapitalismus gerecht werden konnte. Als sich in im 18. Jahrhundert eine neue Mentalität der Regierung allmählich durchsetzte, wurde ein neues Interesse an „Sicherheit“ seitens vieler Regierungen erkennbar. „Sicherheit“ wurde aber nicht in herkömmlicher Weise als eine rein defensive, schutzorientierte Angelegenheit verstanden, sondern in einem biopolitischen Sinne als die Aufgabe, die materiale, legale sowie regulative Umgebungen von Bevölkerungen so zu gestalten, dass deren Gesundheit sich verbesserte, dass sie genug zu essen hatten, dass der Handel blühte usw.. Foucault lässt einen der Reformer von Nantes, Vigné de Vigny, als Paradebeispiel für diese neue Mentalität auftreten. De Vignys Pläne für Nantes beinhalteten eine Reihe sehr präziser Punkte: Erstens, Achsen schlagen, die die Stadt durchdringen und Straßen, die weiträumig genug sind, um vier Funktionen sicherzustellen. Erstens, die Hygiene, das Durchlüften, all diese Eitersäcke aus den beengten Vierteln hervorholen, in denen sich morbide Miasmen ansammelten und die Bewohner zu sehr eingepfercht waren. (...) Zweitens den Binnenhandel in der Stadt sicherstellen. Drittens, dieses Straßennetz derart mit den Landstraßen der Umgebung verbinden, dass die Waren von außen hereinkommen oder befördert werden können, dies jedoch ohne Vernachlässigung der Zollkontrolle. Und schließlich eines der wichtigsten Probleme für die Städte im 18. Jahrhundert, nämlich die Überwachung zuzulassen, da ja der durch die ökonomische Entwicklung notwendig gewordene Wegfall der Festungsmauer bewirkte, dass man die Städte abends nicht mehr schließen oder tagsüber das Kommen und Gehen nicht mehr überwachen konnte (...). Anders gesagt, es handelte sich darum, die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu maximieren (ebd.: 36f.).
Durch solche Maßnahmen wollte de Vigny Nantes besser ausstatten für eine nicht genau kontrollierte oder kontrollierbare, nicht genau bemessene oder meßbare Zukunft. (...) Es ist die Verwaltung dieser offenen Serien, die folglich nur durch eine Schätzung der Wahrscheinlichkeiten kontrolliert werden können, es ist dies, glaube ich, was die Sicherheitsmechanik ganz wesentlich charakterisiert (ebd.: 39).
Diese Mechanik versucht „ein Milieu im Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen oder möglichen Elementen zu gestalten“ (ebd.: 40). Im Sinne der Argumentation Eldens (s.o.) gilt es diese drei geographischen Ausdrücke der jeweiligen Machtformen nicht als gegenseitig ausschließend, sondern als verschiedene idealtypische Eckpunkte eines Feldes zu verstehen, in dem viele Mischformen möglich sind und in der Tat existierten. Was darüber hinaus in dieser historischen Erzählung von Foucault sichtbar wird, ist die Möglichkeit, dass territoriale Züge einer Stadt nicht nur ästhetische oder symbolische Ausdrücke sondern auch sehr wichtige aktive Gestaltungskräfte und -mittel von Machtverhältnissen sein können. Ferner können solche Mittel ihre Wirkungen nicht nur dadurch entfalten, dass sie die Aufenthaltsorte, Bewegungen
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und Aktivitäten von Menschen direkt regulieren oder einengen, sondern auch dadurch, dass sie sie freisetzen und ihnen erlauben, sie effizienter oder fruchtbarer zu machen. Unter den geographischen Arbeiten, die diese grundlegenden Einsichten weiterverfolgen, zählen die Forschungen Stephen Leggs über koloniale Stadtregierungstechniken sowie über das Design und den Bau der Stadt New Delhi im frühen 20. Jahrhundert (Legg 2006, 2007). Die Tatsache, dass die europäische Kolonisierung von anderen Erdteilen ein integraler Bestandteil der europäischen Moderne gewesen ist, ist mittlerweile unbestritten (Said 1986). Obwohl Foucault selbst relativ wenig über den Kolonialismus zu sagen hatte, haben eine Reihe von Studien die Fruchtbarkeit einer sensiblen Anwendung seiner machtanalytischen Begriffe gut belegt (z.B. Rabinow 1989; Prakash 1999; Kalpagam 2002). Was Legg besonders effektiv zu Tage bringt, ist die komplexe Überlagerung von souveränen, disziplinären und gouvernementalen Machttechniken, mittels derer die Briten versuchten, die alte Stadt unter Kontrolle zu halten und deren neue Nachbarstadt zu bauen. Die Regierung dieser Städten war ein Gesamtresultat von immer innerhalb der Kolonialregierung umstrittenen Strategien, die auf verschiedene Funktionen abzielten (soziale Hygiene, Rassen- sowie Kastentrennung und soziale Sortierung des indischen Volkes, militärische Kontrollierbarkeit der neuen kolonialen Hauptstadt, symbolische Repräsentation britischer Souveränität, „Erziehung“ der Einheimischen zur „Zivilisation“, Förderung des Handels). Die Strategien zur Sicherstellung jeder Funktion hatten immer ihre räumlichen Dimensionen, die die zwei Städte ein einziges, hochkomplexes Gebilde von Einmauerungen, Bewegungskorridoren, Pufferzonen, geometrischen Ordnungen sowie undurchsichtigen Un- bzw. Alternativordnungen werden ließen. Letzteres weist auf die ununterdrückbare Rolle der kolonisierten Inder_innen hin, die ihre eigenen Ziele verfolgten und auf verschiedene Weise die Ordnungspläne der Briten immer wieder herausforderten oder durchkreuzten. Räumlichen Visionen, wie die von Foucault oder Legg erforschten, basieren auf einer Grundannahme, wonach bestimmte räumliche Elemente, Techniken oder Konstellationen dazu geeignet sind, entsprechende Verhaltensmuster, Hemmungen oder Reize in den adressierten Menschen hervorzurufen. Margo Huxley weist darauf hin, dass these connections are relatively underdeveloped in terms of analysing how aims and rationales of government draw on notions of spatial and environmental causality (Huxley 2006: 772).
Huxley nennt drei Arten von umweltbezogenen, verhaltensändernden räumlichen Strategien: „dispositional“, „generative“ und „vitalist“. Sie belegt die angebliche Wirkungsweise jeder dieser Strategien mit Beispielen aus sozialen oder städtischen Reformbestrebungen des späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhunderts. Der „dispositional“ Regierungsansatz „aims at drawing boundaries and producing order that will foster correct comportments“; er zielt auf spaces of debauchery, drunkenness, idleness that produce poverty, disease and death. (…) bodies and behaviours out of control in unruly places, threatening to expand and spread throughout the whole city or society (ebd.: 774).
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Dispositional Rationalitäten gehen davon aus, dass räumliche Ordnungen auf das Verhalten von Individuen dadurch einwirken, dass diese sich in vertrauter disziplinärer Weise ihrer Sichtbarkeit bewusst sind, aber auch dadurch, dass eine sichtbare äußerliche Ordnung mit der Zeit eine entsprechende innere Ordnung hervorbringen soll. Generative Rationalitäten operieren auf einer anderen Ebene, die der „medico-biological conceptions of the environmental generation of disease and decay“. Diese Rationalitäten verweisen auf: [h]ippocratic medical practices drawing on notions of the influences of “airs, waters, places” on human health and dispositions. That is, the qualities of environments are held to be catalysts in generating disease or health, immorality or virtue (ebd.: 777).
Das heißt, dass je nachdem wie die physische Umwelt gestaltet wird, diese entweder positive oder negative Einflüsse auf Individuen ausüben kann. Wie bei dem Vigny-Plan für Nantes gingen viele andere Reformer davon aus, dass eine ausreichende Belüftung sowie gepflasterte Straßen und die Kanalisierung von Abwässern eine gesündere Bevölkerung hervorbringen würde, weil solche Maßnahmen die Austauschprozesse zwischen Menschen und ihren unmittelbaren Umwelten (wie das Atmen, das Gehen, das Trinken) säubern würden. Schließlich identifiziert Huxley eine „vitalist“ Strategie, die die Annahmen der generative sowie der dispositional Rationalitäten auch auf die geistige oder seelische Ebene erstreckt. Vitalistische räumliche Strategien gegen Ende des 19. Jahrhunderts aimed not so much at restoring a lost state of order or a desirable equilibrium of health, but at giving progressive direction to dynamic, open-ended, bio-social, intellectual-spiritual evolutionary processes (ebd.: 782).
Diese verschiedenen Ansätze überlagerten sich teilweise, kamen manchmal als Leitlinien für städtische Reformen in Konflikt miteinander, und wurden oft nicht realisiert. Trotzdem erhellen sie noch weiter, wie Visionen für die (Re-)Organisation von Territorium (besonders in Städten) oft eine zentrale Rolle in der anhaltenden Problematisierung von modernen Regierungsrationalitäten und -techniken spielten. 2.2. Geographische Raster Die Vorstellungen, die zu dieser ersten Schicht von kalkulierbarem Territorium gehören, sind oft auf metaphorisches, spekulatives Wissen gebaut. Dieses Wissen erlaubt im wortwörtlichen Sinne noch keine „Kalkulationen“, stellt aber eine Ebene von Rahmenerzählungen dar, die von Werten durchdrungenen sind und die den anderen Ebenen von praxisbezogenen territorialen Einschreibungen ihren Sinn und ihre Gestalt verleihen. Wie die diskutierte Vorlesung von Foucault zeigt, handelte es sich bei diesen Erzählungen im Grunde um verschiedene Interpretationen davon, durch welche Art von Zusammenhang (ein biologischer oder ein geometrischer) ein städtisches bzw. nationales Territorium seine Einheit erhält und seine ordnenden Wirkungen entfaltet. Kehren wir nun zu diesen anderen Ebenen, stoßen
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wir immer noch auf „Rationalitäten“, aber vor allem auf „Technologien“, d.h. auf praktische Lösungen für spezifische Regierungsprobleme bzw. -aufgaben. Eine charakteristische moderne Regierungsaufgabe ist es, das Land, die Bevölkerung, den Handel und vieles mehr zu kartieren. Obwohl eine Foucault’sche Sichtweise dazu ermahnt, das Kartieren des Territoriums nicht einfach als den souveränen Überblick zu verstehen, was auf schönem Englisch „surveying the realm“ heißt, verbindet die staatliche Kartographie oft „souveräne“ Zwecke mit „gouvernementalen“ oder „biopolitischen“ Elementen. In seinem Überblick über neuere Studien zum allgemeinen Thema „Cartographic Calculations of Territory“ verweist Jeremy Crampton (2010) darauf, dass dieses Themenfeld von historischen Studien bis hin zur heutigen Debatte über politische Dimensionen von GIS reicht. Wegweisend in diesem Zusammenhang waren und sind immer noch ein Artikel von J. Bryan Harley aus dem Jahr 1989 und das Buch The Power of Maps von Dennis Wood aus dem Jahr 1992. In seinem Artikel legt Harley die Grundlage für ein breitgefächertes kritisches Programm, in dem er die Kartographie aus den Annahmen des altbewährten wissenschaftlichen Positivismus hebt und andeutet, wie man Karten einerseits in dem Sinne „dekonstruieren“ kann, dass man eine Karte als einen Text liest, dem eine bestimmte Rhetorik innewohnt, und andererseits, wie Karten mit verschiedenen Formen von Macht extern artikuliert sowie intern durchdrungen sind. Insbesondere wo Harley diese interne Macht von Karten erklärt, bezieht er sich vor allem auf Foucaults Ideen von der Verflochtenheit von Macht und Experten-Wissen. Die inhärente Macht der Kartographie sei mindestens teilweise disziplinär, und Harley behauptet: “Cartographers manufacture power: they create a spatial Panopticon” (Harley 1989: 13). Dies geschehe durch die Art und Weise, in der kartographische Kategorien are generalized, a set of rules for the abstraction of the landscape; the way the elements in the landscape are formed into hierarchies; and the way various rhetorical styles that also reproduce power are employed to represent the landscape. To catalogue the world is to appropriate it, so that all these technical processes represent acts of control over its image which extend beyond the professed uses of cartography. The world is disciplined. The world is normalized. We are prisoners in its spatial matrix. For cartography as much as other forms of knowledge, “All social action flows through boundaries determined by classification schemes.” An analogy is to what happens to data in the cartographer’s workshop and what happens to people in the disciplinary institutions – prisons, schools, armies, factories – described by Foucault: in both cases a process of normalization occurs (ebd.: 13, das Zitat stammt aus Darnton 1984: 192f.).
Neuere Forschungen zum Thema Kartographie und Macht knüpfen weniger an den Begriff der Disziplin an – als vielmehr an jene von Biomacht, Gouvernementalität und Sicherheit. Zum Beispiel zeigt Jeremy Crampton (2007), wie sich die derzeitige Prominenz von Geosurveillance nur im Rahmen der längeren Genealogie von Biomacht verstehen lässt. In einem anderen Zusammenhang untersuchen Michael Brown und Larry Knopp (2006) die Art und Weise, in der der 2004 in den USA erschienene Gay and Lesbian Atlas durch anscheinend nur „technische“ kartographische Vorgänge bestimmte geographische Gruppierungen von Schwulen und Lesben in Seattle sichtbar oder unsichtbar machen, je nachdem, auf wel-
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che geographische Maßstäbe sich die Kalkulationen beziehen. Die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit sozialer Gruppen ist von großer Bedeutung in einem biopolitischen Sinn: Sozialpolitik, Umverteilungen der Ressourcen, das Überwachen von Diskriminierungserscheinungen und andere Regierungstechniken basieren alle auf zugänglichem Wissen. Daher ist das soziale Wissen selbst, egal wie „objektiv“ hergestellt, von vornherein politisch. Kartographie ist unvermeidlich politisch, indem sie die Welt lesbar macht, aber immer in eine bestimmte Weise, die andere, mögliche Weltbilder ausschließt. Auf derselben Ebene von kalkulierbarem Territorium gehören auch andere Einschreibungen, die der Lesbarkeit der Welt dienen. Hier sind die Untersuchungen von Reuben Rose-Redwood zur Genealogie von Systemen der Straßennummerierung sowie City Directories sehr aufschlussreich (Rose-Redwood 2006, 2008). Karten werden oft nicht nur gebraucht, um sich ein Gesamtbild einer Region anzueignen oder zu einer allgemeinen Lageeinschätzung zu gelangen, d.h. aus der Welt zu „abstrahieren“. Vielmehr sind sie auch sehr praktisch, um den Weg irgendwohin zu finden oder den genauen Ort einer Einrichtung oder einer Person festzustellen, d.h. um „Anordnungen“ und „Fixierungen“ innerhalb einer abstrahierten Gegend zu machen (vgl. Hannah 2000: Kapitel 5). Die Lesbarkeit dient auch oft der Auffindbarkeit, dem Zugang, und darin steckt eine andere Dimension der Politik: Wer möchte zu welchem Zweck etwas oder jemanden finden, lokalisieren oder erreichen können? Wie Rose-Redwood zeigt, wurden die frühen City Directories, periodisch veröffentlichte Auflistungen von Informationen und Ortsangaben über lokale Geschäfte, in den USA erst nicht von staatlichen Stellen angeregt und organisiert, sondern von privaten Geschäftsleuten, die den Lieferant_innen oder Kund_innen, die von außerhalb der jeweiligen Stadt angereist sind, den Zugang zur gesuchten Adresse erleichtern wollten. Als die Praxis von Haus- und Gebäudenummerierung im Laufe der 19. Jahrhundert aber allmählich ausgeweitet und standardisiert wurde, wurde es auch staatlichen Behörden immer klarer, dass solche Einschreibungen auch für die Regierung große Vorteile hatten. Die Möglichkeit alltäglicher „Herrschaft aus der Ferne“ („rule from a distance“), die viele moderne Regierungspraktiken (wie das Steuerwesen) voraussetzen, besteht erst dann, wenn individuelle Staatsbürger_innen und ihr Vermögen ohne große Mühe über einen Anschrift erreichbar sind (vgl. Hannah 1993). Rose-Redwood (2008: 289) bemerkt, dass die Reformer_innen, die diese Nummerierungssysteme erfunden haben, sie ausdrücklich als eine Weise verstanden, ihre Städte als Texte zu gestalten. Für ländliche Gebiete haben Jonathan Murdoch und Kevin Ward (1997) gezeigt, wie diese durch Sammlungen neuer Informationen lesbar gemacht werden können. Sie verfolgen den Prozess, durch den sich die britische Regierung im frühen 20. Jahrhundert zum ersten Mal ein Bild vom „nationalen Bauernhof“ geschafft hat. Durch systematische Aufforderungen an Bauern, Daten zu den verschiedenen Formen und Größen ihrer Besitztümer, die jeweilige Widmung von Flächen verschiedener Aktivitäten, Zahl der Tiere in Viehherden usw. abzugeben, hat die Regierung nicht nur einen einheitlichen, wenn auch nur abstrakten, „nationalen Bauernhof“ ins Leben gerufen, sondern auch neue Praktiken auf den tatsächlichen Bauernhöfe forciert, wo die Flächen sowie die Aktivitäten
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zu einem gewissen Grad deutlicher voneinander getrennt werden mussten, um es den Bauern überhaupt zu ermöglichen, auf die geforderten Daten kommen zu können. Wie in anderen gouvernementalen Regierungstechniken (wie zum Beispiel die moderne, statistisch-gestützte Forstwirtschaft, vgl. Demeritt 2001), wurde das alles gemacht, um die Landwirtschaft durch eine gut informierte Politik besser fördern zu können. Dies ist ein sehr direktes Beispiel dafür, wie eng „Kalkulation“ mit „Territorium“ verwickelt sein kann. Ohne die Entstehung solcher „Wahrheitsregime“ wie Karten und Hausnummerierungssystemen wäre das Regieren nationaler oder städtischer Territorien, aber auch die unaufhörliche Entwicklung immer größerer räumliche Arbeitsteilungen, im Laufe der Geschichte des modernen Kapitalismus viel schwieriger gewesen. 2.3. Erfassungen Wie die Beispiele von Brown und Knopp oder Murdoch und Ward besonders deutlich hervorheben, ist die Grenze zwischen dieser Abstraktions- bzw. Anordnungsebene der Karten und Hausnummerierungssystemen einerseits und der nächsten, der Ebene der Ansammlungen von Daten über die soziale Phänomene, die sich über das kartierte Territorium verteilen andererseits, eher flüssig. Volkszählungen sowie andere geographisch organisierte Datensammlungen sind oft das Rohmaterial für die staatliche Kartographie sowie für nationale biopolitische Programme. Sie verknüpfen geographisch zerstreuten Einwohner_innen mit bestimmten Orten oder Adressen und haben daher eine wichtige Scharnierstelle zwischen physischen und sozialen Dimensionen von Territorium inne. Weil sie personenbezogene Daten von Einzelnen und von Haushalten verlangen, stellen Volkszählungen auch besonders geeignete Möglichkeiten dar, die Wechselwirkung zwischen Biomacht oder Gouvernementalität einerseits und Souveränität andererseits zu verdeutlichen. In diese Richtung gehen die Forschungen von Matthew Hannah oder von Sarah Starkweather (2009). Zuerst mit Bezug auf Versuche seitens der US-Regierung in den 1870er Jahren die nomadischen Oglala Lakota („Sioux“) unter administrative Kontrolle zu bringen (Hannah 1993), dann im Rahmen von zwei Studien über die US-Volkszählung im späten 19. Jahrhundert und in der Gegenwart (Hannah 2000, 2001), und schließlich in einem Forschungsprojekt über die Volkszählungsboykottbewegungen während der 1980er Jahre in der BRD (Hannah 2009, 2010) geht es Hannah darum zu zeigen, wie „biopolitische“ Wissensinstrumenten wie Volkszählungen souveräne Eingriffe des Staates sowohl voraussetzen als auch ermöglichen. Das Lesbar-machen von Territorium stelle unter anderem einen Anspruch staatlicherseits dar, „epistemische Souveränität“ zu besitzen, ein Recht auf Wissen darüber, wer oder was sich innerhalb eines Territoriums befindet (Hannah 2010). Dieser Anspruch auf Wissen, diese epistemische Souveränität, kann Widerstand seitens der Bevölkerung hervorrufen, entweder weil dieser Anspruch historisch neu ist (Hannah 1993), oder weil mindestens Teile der Bevölkerung den angeblich harmlosen biopolitischen Absichten einer Regierung kein Glauben schenken (Hannah 2010). In der Bundesrepublik der 1980er
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Jahren sowie in vielen Ländern nach dem 11. September 2001 mangelt es an Vertrauen in den Staat, weil so viele Staaten so stark auf „Sicherheit“ orientiert sind (Hannah 2008). Diese Sicherheitsdiskurse und -praktiken konstruieren die Menschen weniger als vertrauenswürdige Staatsbürger und mehr als Sicherheitsrisiko. 2.4. Territoriale Sicherung Damit kommen wir zu einem sehr aktiven Feld für die Entwicklung neuer Foucault-bezogener geographischer Forschungen zum Thema Staat und Raum. In seinen Arbeiten über Gouvernementalität hatte Foucault besonders die Rolle von Freiheit betont, sowohl als konstruiertes Ziel als auch als Mittel der Regierung (Foucault 2004a, 2004b). Die Sicherheit einer Bevölkerung sei am effizientesten dadurch zu erzielen, dass staatliche und nicht-staatliche Autoritäten die Menschen nicht direkt steuern, sondern nur indem sie die Randbedingungen schaffen, die eine verantwortliche, ordnungsgemäße Selbststeuerung befördern. Wie oben ausgeführt, ist die moderne Technologie der Versicherung ein Musterbeispiel für diese Logik. Seit dem 11. September 2001 aber hat sich im öffentlichen Diskurs die Bedeutung von „Sicherheit“ als einer Regierungsaufgabe verändert. Sicherheit wurde in den letzten zehn Jahren immer weniger als etwas betrachtet, das im Rahmen des normalen Alltagslebens und mit unauffälligen Alltagsmittel garantiert werden muss, sondern immer mehr als etwas todernstes, was mit der Vermeidung oder Unterbindung von punktuellen katastrophalen Ereignissen, wie terroristischen Angriffen zu tun hat. Um diesen seit jüngstem stärker betonten Bedrohungen für die Sicherheit vorbeugen zu können, sollen viel härtere Mittel vonnöten sein. Diese allgemeine Verschiebung in der Bedeutung von Sicherheit lässt sich grob gesagt als eine Annäherung zwischen gouvernementalen und souveränen Zielsetzungen beschreiben. Dementsprechend gibt es ein gesteigertes Interesse unter Sozialwissenschaftler_innen an politischen Theorien, die in der Lage sind, Artikulationen zwischen Foucault’schen Analysen von Macht-Wissen und anderen kritischen Analyse von staatlicher Souveränität verständlich zu machen. Vor diesem Hintergrund wurden die Arbeiten von Giorgio Agamben (2002, 2004) und Michael Hardt und Antonio Negri (2002, 2004) sehr einflussreich. Sowohl Agamben als auch Hardt und Negri versuchen, das Konzept von Biomacht in verschiedener Weise mit dem Begriff von staatlicher Gewalt in Verbindung zu bringen. Beiden geht es insbesondere darum, die gegenwärtige (geo-)politische Konstellation zu erklären. Hier werde ein angeblich durchaus positiv zu bewertendes biopolitisches Ziel, der Schutz von Bevölkerungen vor Tod und Verletzung, mindestens von manchen Ländern, wie den USA, mit Methoden verfolgt, die nicht nur von gesetzlich geregelter souveräner Gewalt, sondern darüber hinaus von zutiefst verwerflichen Mitteln, einschließlich Foltermethoden, Gebrauch machen, die gegen internationales Recht sowie allgemein anerkannte Menschenrechte verstoßen. Geographische Abhandlungen zu diesen Themen, die sich auf Foucault beziehen, richten den Blick in der Regel und gemäß der Foucault’schen Hinweise etwa
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auf die neue Art und Weise, wie diese „gemischten“ Machtformen die verschiedenen Akteure oder Gruppen („Terroristen“, „enemy combatants“, „Muslime“, „Einwanderer“, „Opfer“, „Sicherheitskräfte“ usw.) diskursiv und praktisch konstruieren. Dabei legen Geograph_innen den Schwerpunkt auf die neue Rollen, die spezifische Orte, Gebiete oder räumliche Praxen wie militärische Standorten, Flüchtlingslager, zwischenstaatliche Grenzen oder städtische „securitizations“ in der Konstruktion bzw. Aussonderung von Gruppen und Individuen spielen. Grenzen zwischen Staatsgebieten sind besonders geeignet, um als Aussonderungstechnologien analysiert zu werden. Sie haben schon immer diese Funktion gehabt. Seit dem 11. September 2001 aber verändert sich die Art und Weise, wie diese Funktion sich darstellt und Staatsgrenzen als Beziehungen konstruiert werden, also wie genau sie die Bewegungen von Menschen und Gegenständen sieben und wie sie die verschiedene Zwecke des Siebens gewichten. Es ist ein deutliches Zeichen für die Annäherung zwischen Souveränität und Gouvernementalität, dass ein Foucault’sches Analyseraster eingesetzt wird, um eine der klassischen Säulen der Souveränität zu erforschen. Stellvertretend für diese Richtung können Analyse von Matthew Sparke (2006) sowie Louise Amoore und Alexandra Hall (2009) herangezogen werden. Sparke erörtert am Fall des nordamerikanischen NEXUS-Programms neue Grenzkontrolltechnologien, die zwischen der neuerdings betonten Notwendigkeit von Grenzen als Hindernissen für gefährliche Leute und Materialien einerseits und dem erhöhten Zwang unter Bedingungen neoliberaler Globalisierung, Grenzen für wirtschaftlich wichtige Güter und Geschäftsleute abzubauen bzw. immer leichter überschreitbar zu machen andererseits. NEXUS ist der Name für ein Programm, mittels dessen Geschäftsleute, die häufig die Grenze zwischen Kanada und den USA überqueren, sich für eine biometrische Karte bewerben können, die ihnen erlaubt, als „low-risk travellers“ ohne Verzögerung durchgelassen zu werden. NEXUS setzt ein sorgfältiges „pre-screening“, basierend auf etlichen persönlichen Daten, voraus und muss regelmäßig erneut werden. Sparke hebt den Kontrast zwischen solchen erleichterten Mobilitätsförderungen für die „kinetic elite“ und den erschwerten Bedingungen für die „kinetic underclass“ (ärmere Migrant_innen, Flüchtlinge und Asylbewerber_innen usw.) hervor, die ihrerseits eher als Risiko eingestuft werden, und nur dann plötzlich „mobil“ gemacht werden, wenn es um „extraordinary rendition“ geht. Katharyne Mitchell (2009) zeigt zudem, wie neue, sicherheitsmotivierte Techniken der räumlichen Verbannung von kriminalisierten Bevölkerungsgruppen innerhalb des Territoriums (zum Beispiel durch städtisches „trespass zoning“) eine Art kinetic underclass im Inland produzieren. Amoore und Hall (2009) setzen sich sehr detailliert mit den neuen biometrischen Grenztechnologien auseinander, um zu zeigen, wie sehr ihre historische Genealogie und ihre Funktionsweise als neue Art von ritualisierter „Sezierung“ auf bestimmten ideologischen Assoziationen basieren, die „den Körper“ als einen Ort auffindbarer Geheimnisse konstruieren. Die „securitized visualizations“, die sich dann durch Technologien wie den „full body scanner“ ergeben, entpolitisieren die Frage nach erlaubtem oder unerlaubtem Einreisen in ein Territorium:
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[I]t is the process of mapping of the territory of the body itself – the classification of bodies or silhouettes into categories of risk, normality and deviance, the identification of a threatening presence at the border from abstracted aspects, the capacity to project a facsimile of a body forward in time – which characterises contemporary digitised dissections and which drives their prominence in the public rituals of security (Amoore/Hall 2009: 460).
Die Forschung von Peter Adey (2009) über die neue Fähigkeit von Sicherheitstechnologien in Flughäfen, das „affect“ in menschlichen Gesichtern teilweise zu lesen, geht in dieselbe Richtung. Grenzen sind in den, in diesem Absatz vorgestellten, Untersuchungen „consequential condensation points where wider changes in state-making and the nature of citizenship are worked out on the ground“ (Sparke 2006: 152). 3. ZUSAMMENFASSUNG Obwohl die Begriffe „Staat“ und „Territorium“ lange Zeit innerhalb an Foucault orientierten Forschungsprojekten nur eine sehr marginale Rolle gespielt haben, sieht die Lage inzwischen anders aus. Die hier diskutierten humangeographischen Studien machen insgesamt klar, dass die historische und politische Konstruktion von modernem staatlichem Territorium, sowohl in Europa und Nordamerika als auch in den Kolonien, keinesfalls nur eine Angelegenheit der Souveränität war oder ist. Das Territorium eines modernen Staates ist, abgesehen von allen variierbaren Einzelheiten, auch in einem zentralen Sinne ein Konstrukt von, und auch wiederum ein Anker für, Kalkulationen. Das, was ich „kalkulierbares Territorium“ genannt habe, wird durch die verschiedenen Einschreibungsebenen wie Kartographie, Anschriftensysteme, Volkszählungen oder die Sortierung von Menschenströmen an der Außengrenze lesbar und zugänglich gemacht. Diese Lesbarkeit und Zugänglichkeit dienen der Ausübung sowohl der gouvernementalen und biopolitischen als auch der souveränen Macht. Aber es gilt ebenso sehr in die umgekehrte Richtung, dass solche Einschreibungen selber historisch immer durch Artikulationen von souveräner und gouvernementaler Macht durchgesetzt oder zustande gebracht worden sind. Daher ist es keine Übertreibung zu behaupten, dass modernes staatliches Territorium der zentrale Ort ist, an und in dem sich die wichtigsten Machtformen der Moderne in Verbindung miteinander realisieren. LITERATUR Adey, Peter (2009): Facing airport security: affect, biopolitics, and the preemptive securitisation of the mobile body. Environment and Planning D: Society and Space 27: 274–295. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/Main. Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand: Homo sacer II.1. Frankfurt/Main. Amoore, Louise/Hall, Alexandra (2009): Taking people apart: digitised dissection and the body at the border. Environment and Planning D: Society and Space 27: 444–464.
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NATIONALSTAAT UND IDENTITÄT MIT LACLAU UND MOUFFE GEDACHT Ein Beitrag zur Politischen Geographie aus diskursund hegemonietheoretischer Perspektive Iris Dzudzek, Annika Mattissek und Georg Glasze
1. IDENTITÄT UND STAAT AUS DISKURSUND HEGEMONIETHEORETISCHER PERSPEKTIVE Die Diskurs- und Hegemonietheorie der Politikwissenschaftler_innen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer wichtigen Referenz der poststrukturalistischen Theoriediskussion in den Sozialwissenschaften entwickelt (Laclau/Mouffe 2006[1985]; Laclau 1990, 2005; Mouffe 2000, 2005[1993]; zum Überblick über die Rezeption s. Howarth et al. 2000; Marchart 1998; Nonhoff 2007). Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Impulsen, die Laclau und Mouffe für Fragen rund um Staat, Identität und Raum für die Politische Geographie liefern. Zahlreiche neuere Arbeiten aus dem Kontext der Politischen Geographie greifen diese Impulse der Diskurs- und Hegemonietheorie auf (s. Dzudzek 2011; Glasze 2009; Glasze 2012; Glasze/Mattissek 2009; Husseini de Araújo 2011; Mattissek 2008; Schirmel 2011). Es mag zunächst verwundern, warum die Diskurs- und Hegemonietheorie einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Identität, Raum und Staat liefern soll, denn Laclau und Mouffe dekonstruieren das Konzept „Staat“ in ihren Überlegungen. Gerade hier aber liegt – so unsere These – das Potenzial ihres Ansatzes für die Politische Geographie: indem sie Staat als hegemonialen, aber immer nur temporär fixierten und veränderbaren Diskurs denken, wird es möglich, den Nationalstaat als eine spezifische Form, als „Sedimentierung“ von hegemonialen Diskursen zu interpretieren. Mit Sedimentierung bezeichnet Laclau (1990: 34) erfolgreiche Akte der Instituierung einer spezifischen sozialen Wirklichkeit, welche damit einhergehen, dass das Bewusstsein für diese Instituierung, die möglichen Alternativen und damit die Kontingenz dieser spezifischen sozialen Wirklichkeit verblasst. Der Staat kann damit als eine kontingente Verknüpfung von Konzepten einer spezifischen Gemeinschaft (z.B. „Volk“) mit der Vorstellung eines spezifischen Raumes dieser Gemeinschaft („Territorium“) und einer spezifischen Organisationsform dieser Gemeinschaft („Staat“) gefasst werden. Anhand dessen kann erstens die Prozessierung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Antagonismen
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– auch jenseits von Klassengegensätzen – durch den Staat analysiert werden. Zweitens ist es auf diese Weise möglich, den Staat als ein in seiner geographisch und historisch spezifischen Ausformung umkämpftes Konstrukt zu denken, das durch die Artikulation neuer (politischer) Identitäten stetig verändert und wieder neu fixiert wird. In ihrem Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ (2006[1985]) setzen sich Laclau und Mouffe mit der Artikulation, d.h. Herstellung politischer Identitäten auseinander. Sie brechen dabei die Vorstellung auf, dass Identitäten in erster Linie durch die Ökonomie und damit in der Konsequenz durch die Klassenzugehörigkeit bestimmt und durch den Staat prozessiert werden. So ermöglichen sie, auch andere Formen politischer Identitäten zu konzeptualisieren, die sich entlang unterschiedlichster Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen etablieren können (Sprache, Religion, Glaube an eine gemeinsame Herkunft, politische Überzeugung, Geschlecht, sexuelle Orientierung usw.). In diesem Beitrag werden wir zunächst die Dekonstruktion der Gramscianischen Hegemonietheorie durch Laclau und Mouffe vorstellen, um die wichtigsten Kritikpunkte am Konzept des „integralen Staates“ bei Gramsci herauszuarbeiten und so das Staatsverständnis von Laclau und Mouffe zu veranschaulichen. Anschließend skizzieren wir die zentralen Aussagen der Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe und diskutieren die heuristische Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes für Themen und Fragestellungen der Politischen Geographie. 2. DEKONSTRUKTION DER GRAMSCIANISCHEN HEGEMONIETHEORIE Laclau und Mouffe dekonstruieren in ihrem Hauptwerk „Hegemonie und radikale Demokratie“ (2006[1985]) die Hegemonietheorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1991ff.). Für Gramsci ist Hegemonie die Herrschaftsform des „integralen Staates“. Der integrale Staat umfasst außer den Staats- und Verwaltungsinstitutionen auch die Zivilgesellschaft. Neben Recht, Zwang und Repression, so Gramscis Argument, ist die Etablierung von gesellschaftlichem Konsens eine Form der Machtausübung des integralen Staates (Gramsci 1991: 783ff.). Auf diese Weise kommt er zu seiner berühmten Formel „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“ (ebd.: 783). Gramsci bezeichnet Hegemonie als die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Gesellschaft moralisch und intellektuell zu führen, indem es ihr gelingt, ihre Überzeugungen als „kollektiven Willen“ zu etablieren (ebd.; Demirović 2007; Torfing 1999: 27ff.). Mit dem Begriff der Hegemonie löst sich Gramsci von der Vorstellung einer mechanistischen Determinierung des Überbaus durch die Ökonomie und entwirft ein Konzept, das die politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Überbaus zu fassen vermag. Damit macht Gramsci klar, dass staatliche Herrschaft nicht nur durch repressive Maßnahmen durchgesetzt wird, sondern auch auf Zustimmung der Beherrschten beruht. Laclau und Mouffe übernehmen von Gramsci die Idee, dass es keine Determinierung des gesellschaftlichen „Überbaus“ durch die ökonomischen Verhältnis-
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se gibt. Allerdings kritisieren sie die Überlegungen Gramscis dahingehend, dass er der Idee gegebener Klassen („Klassismus“) verpflichtet bleibe und damit indirekt wieder eine ökonomistische Perspektive (d.h. eine Determinierung der Gesellschaft durch ökonomische Verhältnisse) einführe. In Gramscis Perspektive bringen die ökonomischen Verhältnisse Klassen hervor und diese Klassen haben „wahre“, durch ihre Klassenzugehörigkeit bestimmte Interessen. Der daraus resultierende Determinismus untergrabe damit aber letztlich die Konzeption des Politischen. Solange von einem durch die Ökonomie determinierten Überbau ausgegangen werde, bleibe kein Raum für Politik, oder, wie Torfing schreibt: “The political theory of Marxism invokes the disappearance of politics” (1999: 19). Laclau und Mouffe entwickeln diese Kritik in den 1970er und 1980er Jahren vor dem Hintergrund der Entstehung neuer sozialer Bewegungen, die deutlich machen, dass sich politische Auseinandersetzungen nicht ausschließlich entlang ökonomischer Konfliktlinien entfalten: Der „Hauptwiderspruch“, den manche [marxistische] Orthodoxie auf ewig im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital zu identifizieren können glaubte, war in den realen Kämpfen als solcher kaum noch zu erkennen; feministische, ökologische, antirassistische oder „identitätspolitische“ Bewegungen waren mit Selbstbewusstsein und durchaus in Abgrenzung zur „Arbeiterbewegung“ auf die politische Szenerie getreten (Opratko 2012).
Ziel der theoretischen Intervention von Laclau und Mouffe ist es also, den in Gramscis Theorie zumindest impliziten Klassenreduktionismus zu überwinden und das Feld der Analyse damit für eine Vielzahl anderer politischer Identitäten zu öffnen. Dies tun sie, indem sie 1.) das Konzept des Antagonismus nicht auf den Klassengegensatz beschränken, 2.) ein politisches Konzept von Identität entwerfen, 3.) Diskurs als strukturierendes Prinzip von Gesellschaft anerkennen und 4.) eine poststrukturalistische Definition von Hegemonie entwerfen. Im Folgenden werden wir kurz in die genannten vier Punkte einführen. 3. ANTAGONISMUS UND IDENTITÄT Laclau und Mouffe setzen anstelle des Klassengegensatzes den Begriff des Antagonismus ins Zentrum ihrer Konzeption von Gesellschaft. Klasse fassen sie damit als eine Achse von Differenz und ungleichen Machtverhältnissen. Damit öffnen sie das Feld der Analyse für andere gesellschaftliche Differenz- und Ausschlussachsen wie Geschlecht, Ethnizität, Alter, Gesundheit etc. Die Bedeutung des Konzepts des Antagonismus ist bei Laclau und Mouffe eng mit der Konzeption von Identität verbunden. In der Entwicklung ihres Identitätskonzepts greifen Laclau und Mouffe zunächst das Konzept der Subjektpositionen von Louis Althusser auf (Laclau/Mouffe 2006[1985]: 114ff.). Der marxistische Philosoph hatte das Konzept der „Anrufung“ als Alternative zur Idee des autonomen Subjekts entworfen. In dieser Perspektive werden Individuen durch Ideologien „angerufen“, d.h. in bestimmten Subjektpositionen platziert. Institutionen, die Althusser als „ideologi-
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sche Staatsapparate“ bezeichnet – wie die Medien, das Bildungssystem oder die Familie – konstituieren die Überzeugung, dass Individuen autonom seien, indem sie Subjekten eine Position als Arbeiter, als Fabrikbesitzerin, als Schülerin etc. zuweisen und sie gleichzeitig als vernunftbegabte und aufgeklärte Wesen anrufen, die in der Lage sind, diese Position selbstbestimmt zu füllen (vgl. Althusser 1977[1970]: 140ff.; Scharmacher 2004). Diesen Mechanismus bezeichnet Althusser als die „Anrufung des Subjekts“, den er u.a. an folgendem Beispiel illustriert: In dem Moment, in dem ein Individuum von einem Polizisten auf der Straße mit den Worten „He, Sie da!...“ angerufen wird und sich umdreht, wird es zum Subjekt, „[w]eil es damit anerkennt, dass der Anruf ‚genau’ ihm galt“ (Althusser 1977[1970]: 140). Das Resultat zahlloser Anrufungen sind Subjekte, die als solche also Effekte staatlicher Praktiken sind. Laclau und Mouffe dezentrieren dieses Verständnis von Subjektpositionen. Sie gehen zwar auch davon aus, dass ein Individuum von verschiedenen Diskursen, beispielsweise als Umweltschützerin, Mann, Christ, Französin, Schwarzer, Fußballfan etc., angerufen wird, letztlich scheitert aber jede Identifikation, weil keine Subjektposition eine vollkommene, ganze und endgültig fixierte Identität bieten kann. Die Idee des ganzen, autonomen und stabilen Subjekts interpretieren Laclau und Mouffe, genauso wie die Idee einer determinierten und feststehenden Gesellschaftsstruktur, als Wunsch nach einer letztlich unmöglichen Ganzheit (Laclau/Mouffe 2006[1985]: 121). Für politisch-geographische Fragestellungen ist diese Überlegung v.a. deswegen relevant, weil damit beispielsweise auch eine Erklärung von Interessen oder Handlungsweisen als durch nationale Zugehörigkeit bestimmt problematisiert, in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit hinterfragt und mit Blick auf ihre Machtwirkungen analysiert werden kann (vgl. Fallbeispiel 1). Anders als bei Althusser oder Gramsci liegt hier der Fokus nicht allein auf der Anrufung durch den Staat und die ökonomischen Verhältnisse. Vielmehr bewirkt die Anrufung durch unterschiedliche Diskurse Laclau und Mouffe zufolge, dass stets eine durch die konkrete Anrufung nicht erfasste Überdeterminierung bleibt. Diese kann, in gegenhegemonialen Akten, als neue politische Identität artikuliert werden. Damit überwinden Laclau und Mouffe die Fokussierung auf den Staat und denken die Möglichkeit der Veränderung staatlicher Anrufungen durch artikulatorische Praktiken entlang weiterer Achsen gesellschaftlicher Differenz mit. Während Gramsci Hegemonie allein als „die Transformation einer Klasse in den Staat“ (Wullweber 2012) konzipiert, dekonstruieren Laclau und Mouffe dieses Verständnis von Hegemonie, indem sie den Hegemoniebegriff auf alle möglichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausweiten. In ihrer Definition von Hegemonie geht es nicht mehr darum, dass eine herrschende Klasse Zustimmung zu ihren Interessen erzeugt, sondern darum, dass jedwede differentielle, partikulare Forderung, ein bestimmtes Partikulares, indem es seine eigene Partikularität zum signifizierenden Körper einer universalen Repräsentation erhebt, innerhalb des ganzen Differenzsystems eine hegemonielle Rolle einnehmen wird (Laclau 2002: 87f.).
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Auf diese Weise wird es möglich, Hegemonie dezentriert als eine gemeinsame Artikulation bestimmter Forderungen zu denken, die nicht auf den Klassenantagonismus reduziert werden müssen, sondern auch andere Differenzierungen umfassen (bspw. Geschlecht, Ethnie, Religion). An die Stelle des Staates als Modus der Prozessierung von Klassenwidersprüchen tritt bei Laclau und Mouffe das Konzept der Hegemonie als Modus der Prozessierung vielfältiger, verwobener Differenzen, die umkämpft sind. Hegemonie definieren Laclau und Mouffe damit als die Expansion eines Diskurses zu einem dominanten Horizont sozialer Orientierung. Die Entwicklung von diskursiven Auseinandersetzungen zur sozialen Wirklichkeit wird in hegemonialen Interventionen realisiert, wobei alternative Perspektiven unterdrückt werden und auf diese Weise eine spezifische soziale Wirklichkeit naturalisiert wird (Jørgensen/Phillips 2002: 36). Aufgrund der Instabilität der immer wieder neu strukturierten gesellschaftlichen Sinnstrukturen und der sich immer wieder neu etablierenden und wieder zerbrechenden Gemeinschaften scheitert letztlich jeder Versuch, eine permanente und universelle soziale Wirklichkeit zu etablieren, weil jegliche Form von Fixierung immer nur temporär bestehende Widersprüche und Heterogenitäten überdecken kann. Artikulatorische Praktiken, die nicht in einer bestehenden Struktur verarbeitet werden können, unterminieren immer wieder die jeweils bestehenden Symbolisierungen und Verknüpfungen – Laclau und Mouffe sprechen hier von „Dislokationen“ (Laclau/Mouffe 2006[1985]: 142; Laclau 1990: 39ff.). Dies bedeutet nicht, dass jederzeit alles möglich wäre, denn jeder politische Akt und jede diskursive Intervention findet vor dem Hintergrund einer bestimmten sozialen Wirklichkeit statt, d.h. vor dem Hintergrund bestimmter sedimentierter Diskurse. Für den Erfolg eines spezifischen Diskurses ist nach Laclau entscheidend, dass er in einer gegebenen historischen Situation überhaupt zur Verfügung steht (availability) und in dieser eine glaubwürdige Lösung (credibility) zur Überwindung einer Krise bietet. Je tiefgreifender die Dislokation einer Struktur ist, umso größer und tiefgreifender werden die Möglichkeiten für Reartikulationen, d.h. für neue diskursive Verknüpfungen (Laclau 1990: 39, 66). Vor dem Hintergrund diskursiver Auseinandersetzungen ist dann die Herstellung einer (neuen und letztlich wieder instabilen, weil nie alle Widersprüche vereinenden) sozialen Wirklichkeit durch einen partikularen Diskurs ein hegemonialer Akt. Genau hier liegt der Machteffekt diskursiver Auseinandersetzungen: denn mit der Durchsetzung eines spezifischen hegemonialen Diskurses ist immer die Unterdrückung und Marginalisierung von alternativen sozialen Wirklichkeiten verbunden. Die Dislokation hegemonialer diskursiver Strukturen geht regelmäßig mit der Artikulation neuer Identitäten einher. Die Diskurstheorie befähigt, die Idee der „vorgestellten Gemeinschaften“ (Anderson 2005[1983]) der Nation aber auch von Gemeinschaften, die sich auf eine gemeinsame Herkunft, Abstammung, „Rasse“, Sprache oder Religion berufen, konzeptionell zu schärfen: Die Erinnerung historischer Konflikte, die Idee einer gemeinsamen Hautfarbe oder Sprache funktionieren als Knotenpunkte, welche eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Elementen definieren, diese gegenüber einem Außen abgrenzen und so eine Gemein-
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schaft herstellen (genauer dazu beispielsweise Keohane 1997; Norval 1996; Sarasin 2003). Gleichzeitig können mit der Diskurstheorie Vorstellungen einer konsistenten, geradlinigen Geschichte und teleologischen Entwicklung von Gemeinschaften und „ihrem Territorium“ überwunden und so der Blick auf Brüche und Veränderungen gerichtet werden. Auch wenn wir handeln, als ob Identitäten wie Nationen, Ethnien, Sprachgemeinschaften etc. objektiv gegebene Fakten seien, so muss diese soziale Wirklichkeit als das historische Ergebnis von politischen Prozessen gelesen werden, d.h. als ein „sedimentierter Diskurs“ (Laclau 1990: 34). Laclau und seine Schüler_innen sprechen daher nicht länger von sozialer, sondern von politischer Identität (beispielsweise Stavrakakis 2001). Laclau und Mouffe brechen die „primacy of the social“ auf, die von gegebenen gesellschaftlichen Strukturen (bspw. Klassen, Schichten, Ethnien etc.) ausgeht und auch den Staat als gegeben konzipiert. Dem setzen sie eine „primacy of the political“ (Laclau 1990: 33) entgegen. Gesellschaft, d.h. Identitäten, Gemeinschaften, Institutionen etc. und damit auch der Staat, ist immer im Werden, veränderlich und veränderbar und in diesem Sinne politisch. Damit wird der Blick frei für die vielfältigen gesellschaftlichen Antagonismen, von denen Klasse eine ist. Staat wird damit nicht als gegeben und statisch, sondern als durch Prozesse der Artikulation dislozierbar verstanden. Unterschiedliche Formen von Staatlichkeit prozessieren damit unterschiedliche Formen von Differenz, die stets umkämpft sind. 4. POTENZIALE DER DISKURS- UND HEGEMONIETHEORIE FÜR DIE POLITISCHE GEOGRAPHIE Für die Politische Geographie hat diese veränderte Konzeption von Nationalstaaten und nationaler Identität eine Reihe von Konsequenzen, die sich sowohl auf die untersuchten empirischen Gegenstände, als auch auf die adressierten Fragestellungen beziehen. Nationalstaaten und „staatliches Handeln“ stellen nach wie vor einen wichtigen empirischen Bezugspunkt der Politischen Geographie dar. Standen dabei bis in die 1980er Jahre hinein v.a. staatliche Grenzen, staatliche Politik und „raumwirksame Staatstätigkeit“ im Zentrum von Analysen (s. bspw. Boesler 1983), so hat sich die Perspektive auf Nationalstaaten in Analysen der Politischen Geographie seit Ende der 1990er Jahre grundlegend gewandelt. Im Zuge der Rezeption konstruktivistischer Ansätze v.a. aus der englischsprachigen Humangeographie, werden Staaten zunehmend nicht länger als gegebene, handelnde Einheiten verstanden, sondern in Bezug auf ihre Konstruktion untersucht, d.h. in Bezug auf ihre historisch-kontingente Gewordenheit und die Machteffekte ihrer jeweils spezifischen Verfasstheit (vgl. die Beiträge von Hannah und Lossau in die-sem Band). Damit verlieren allerdings weder nationale Identitäten noch der Nationalstaat an Relevanz für empirische Analysen. Diese werden aber nicht (länger) als gegebene Ausgangspunkte gefasst, sondern als Ergebnisse bzw. Produkte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und Bedeutungskonstruktionen. In diese neueren Ansätze reihen sich auch die von Laclau und Mouffe inspirierten Arbeiten der Politischen Geographie ein. Auch sie denken Staat nicht als
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vordiskursiv gegebene Einheit, sondern als historisch kontingente Sedimentierung hegemonialer Strukturen. Der Begriff der Sedimentierung (Laclau 1990: 34) verweist dabei auf die vielfältigen Fixierungen einer bestimmten sozialen Wirklichkeit in institutionellen Rahmenbedingungen und materiellen Praktiken, mit denen Nationalstaatlichkeit verknüpft ist. Dazu gehören nationalstaatliche Grenzen, die einen selektiven Zugriff auf unterschiedliche Personen gemäß spezifischer Praktiken erlauben, Institutionen und Praktiken der Vergabe und Verteilung ökonomischer Ressourcen sowie die Vergabe oder Verweigerung von Pässen und anderen nationalstaatlichen Dokumenten, die über Möglichkeiten des Arbeitens, der Wohnungswahl und der Mobilität entscheiden etc. Nationalstaatliche Identitäten und die damit verknüpften Fragen der Inklusion und Exklusion sind also nicht alleine auf einer ideellen Ebene angesiedelt, sondern haben handfeste materielle Konsequenzen. Vor dem Hintergrund dieser konstruktivistischen Perspektive auf Nationalstaaten in der Politischen Geographie im Allgemeinen und den bereits ausgeführten Grundzügen der spezifischen diskurs- und hegemonietheoretischen Positionierung von Laclau und Mouffe im Besonderen, lassen sich einige Punkte festhalten, an denen diese Theorie es vermag, konstruktivistische Perspektiven der Politischen Geographie theoretisch auszudifferenzieren: 1. Da Nationalstaaten in der Theorie von Laclau und Mouffe nicht über eine essentielle, objektiv und vordiskursiv gegebene Identität verfügen, müssen nationalstaatliche Diskurse permanent durch Abgrenzungen gegenüber einem Außen reproduziert werden (Sarasin 2003: 170) und werden immer wieder durch das Hervortreten interner, bislang zum Schweigen gebrachter Differenzen verändert. Je nachdem, wie und in Abgrenzung von welchem Außen dabei die Identitätsbildung stattfindet und wie interne Differenzen zur Dislokation führen, wird die eigene, nationalstaatliche Identität auf immer wieder neue und widersprüchliche Art und Weise (re-)etabliert. Aus geographischer Sicht ist dabei besonders der Umstand interessant, dass die Differenzierung von „Eigenem“ und „Anderem“ vielfach mit Prozessen der Verräumlichung einhergeht: grundlegend sind immer Verschneidungen von „wir/hier“ mit „ihr/dort“, d.h. sowohl Eigenes als auch Fremdes wird jeweils auf ein bestimmtes (nationalstaatliches) Territorium projiziert, wodurch Eindeutigkeit und „Natürlichkeit“ der Identitätskonstruktionen suggeriert werden (Glasze 2009; Miggelbrink 2002; Schlottmann 2005). (Identitäts-)Bezüge auf Nationalstaatlichkeit können damit als temporäre Schließungen des Diskurses verstanden werden, die Unterschiede und Konflikte innerhalb der Nationalstaaten durch die gemeinsame Abgrenzung von einem – oft als bedrohlich dargestellten – „Außen“ verdecken. Im Gegensatz etwa zu dem historisch ausgerichteten Foucault‘schen Ansatz, der v.a. die genealogische Gewordenheit von Nationalstaatlichkeit und deren diskursive Existenzbedingungen hervorhebt (vgl. den Beitrag von Hannah), betont die politikwissenschaftliche Theorie von Laclau und Mouffe stärker die Analyse politischer Kämpfe und Auseinandersetzungen. Entsprechend können mit Laclau und Mouffe vor allem Fragen der
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Hegemonie und der Durchsetzung nationalstaatlicher Perspektiven sowie die Umkämpftheit, Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit von Staatlichkeit analysiert werden. Im Kern der Untersuchungen zu Nationalstaatlichkeit steht dann die Frage, welche gesellschaftlichen Konfliktlinien, Gegensätze und Differenzen durch den gemeinsamen Bezug auf einen Nationalstaat (temporär) verdeckt und prozessiert werden. Entsprechend dieser Positionierung kann dann gefragt werden: – Welche Aushandlungsprozesse finden um die Durchsetzung bestimmter Positionen statt? – Welche Machteffekte hat die Durchsetzung nationaler Identitäten als hegemonial und welche alternativen Möglichkeiten der Artikulation werden dadurch marginalisiert? 2. Dieser Fokus auf Auseinandersetzungen um politische Positionierungen und Machtverhältnisse lässt auch die permanenten Deutungskämpfe stärker in den Vordergrund treten, die zur Artikulation neuer politischer Identitäten und zu einer Dislokation hegemonialer Formen von Staatlichkeit führen können. In dieser Perspektive wird die Prozesshaftigkeit und Veränderlichkeit von Staatlichkeit und ihrer Verräumlichung im Nationalstaat über die Verknüpfung von Volk, Staat und Territorium sichtbar. Es zeigt sich, an welchen Stellen diese temporäre Schließung des Diskurses wieder brüchig wird und wo es zu (gegen-)hegemonialen Interventionen kommt. Die empirischen Fragen im Anschluss an diese Überlegungen lauten: – Welche politischen Auseinandersetzungen finden um die konkreten Inhalte nationaler Identitäten statt? Welche neuen politischen Identitäten werden artikuliert? – In Folge welcher Dislokationen und inneren Brüche verschieben sich diese konkreten Bedeutungsgehalte von Nationalstaatlichkeit? – Welche hegemonialen Interventionen können beobachtet werden? Welche Partikularismen werden hier als universell etabliert? 3. Eng verknüpft mit den beiden erstgenannten Punkten ist die Frage nach den Inklusions- und Exklusionseffekten, die mit der Artikulation spezifischer Formen gesellschaftlicher Differenz und deren Etablierung als hegemoniale Achsen der Strukturierung verknüpft sind. In Abgrenzung beispielsweise zu marxistischen Ansätzen oder auch postkolonialen Theorien ist der inhaltliche Fokus in der Theorie von Laclau und Mouffe nicht auf spezifische Formen der Ausgrenzung beschränkt (etwa entlang ökonomischer oder postkolonialer Machtlinien). Vielmehr wird Staat als kontingente Institution verstanden, die in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Formen von gesellschaftlicher Strukturierung hervorbringt, die beispielsweise geschlechtliche, ethnische oder ökonomische Unterschiede in unterschiedlicher Weise prozessieren. Die Fragen, die sich hieran anschließen, lauten: – Wie sind die Konstitution von Nationalstaatlichkeit und spezifischer politischer Identitäten miteinander verknüpft? – Welche Effekte der Inklusion und Exklusion ergeben sich daraus?
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Die empirische Umsetzung dieser drei Fragenkomplexe soll im Folgenden anhand von drei Fallbeispielen aus der Politischen Geographie erläutert werden. 4.1. Hegemonialität nationalstaatlicher Organisationsformen in der globalen Politik: Beispiel Klimapolitik Globale Klimapolitik ist in starkem Maße von den Darstellungen und Wirklichkeitskonstruktionen geprägt, die (geo-)politischen Entscheidungen zugrunde liegen. Ob der Klimawandel beispielsweise in erster Linie als eine Bedrohung für die Ernährungssicherheit im globalen Süden dargestellt wird, als Gefahr für sensible Ökosysteme oder Risiko für die nationale Sicherheit, entscheidet maßgeblich über Strategien und Zuständigkeiten in der Klimapolitik. Aus der Perspektive der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe ist dabei zentral, dass viele politische Forderungen untrennbar mit der Konstitution spezifischer, oft raumbezogener politischer Identitäten verknüpft sind. Wie diese Identitäten hergestellt werden und welche daraus resultierenden Bedürfnisse und Risiken jeweils in ihrem Namen artikuliert werden, ist dabei eine Frage der Macht und kann verschiedene Formen annehmen. Im Sinne Laclaus und Mouffes stellt sich hier insbesondere die Frage, welche räumlichen Entitäten als universelle Vertreter der unter ihnen subsumierten Partikularitäten in Anschlag gebracht werden und damit als „legitime“ politische Vertreter vermeintlich universeller politischer Interessen hegemonial werden. Für die konkreten politischen Auswirkungen der dadurch legitimierten Forderungen macht es dabei in vielen Fällen einen erheblichen Unterschied, ob diese beispielsweise mit Blick auf ein „globales Allgemeinwohl“, welches regional unterschiedliche Verwundbarkeiten und Betroffenheiten ausblendet, oder mit Blick auf lokal spezifische Bedürfnisse und Anforderungen formuliert werden. Die internationalen politischen Verhandlungen um die globale Klimapolitik sind – entsprechend der hegemonial etablierten geopolitischen Spielregeln der inter-„nationalen“ Gemeinschaft – weitgehend durch eine Rahmung des Klimawandels als nationalstaatliches Problem gekennzeichnet. Staaten (oder staatliche Wirtschaftssysteme) als sedimentierte und mit vielfältigen Institutionen verknüpfte Formen der Organisation von Politik werden oftmals als diejenigen Entitäten angesehen, die vom Klimawandel bedroht sind, von ihm profitieren oder ihn verursachen. Entsprechend werden Aushandlungsprozesse über politische Maßnahmen in der Regel zwischen Vertreter_innen von Nationalstaaten geführt, beispielsweise im Rahmen der Verhandlungen der UNFCCC, oder zwischen Zusammenschlüssen einzelner Nationalstaaten zu größeren Allianzen (Alliance of Small Island States/AOSIS, EU-Länder, G77+ etc.). In dieser Sichtweise sind es dann auch in erster Linie Staaten, denen Rechte, Verantwortung und Handlungskompetenz gegenüber dem Rest der Welt zugeschrieben werden (Paterson/Stripple 2007). Durch diese „Nationalisierung“ der Debatte werden auch Fragen der Betroffenheit in der Regel auf nationalstaatlicher Ebene verhandelt und hier oftmals als
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Bedrohungen des Nationalstaats artikuliert. Diese diskursive Rahmung des Klimawandels als Sicherheitsrisiko für den Nationalstaat blendet dabei nicht nur die vielfältigen Erkenntnisse der Verwundbarkeitsforschung aus, die gezeigt haben, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen – je nach sozialem Status, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Bildung, Einkommen und anderen sozialen Merkmalen – in sehr unterschiedlichem Maße vom Klimawandel bedroht sind. Sie führt darüber hinaus dazu, dass die (Überlebens-)Sicherheit einzelner Individuen („human security“) zugunsten der Sicherheit und Integrität des Nationalstaates („national security“) ausgeblendet wird (Dalby 2009). Konkrete Auswirkungen dieser hegemonialen nationalstaatlichen Identitätskonstruktionen ergeben sich v.a. dann, wenn unterschiedliche Rahmungen von Sicherheit und „bedrohten“ Identitäten zueinander in Konkurrenz stehen. Dies ist beispielsweise in politischen Aushandlungsprozessen um so genannte „Klimaflüchtlinge“ bzw. „Klimamigration“ der Fall. Bei den rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen um den Status von „Klimaflüchtlingen“ und die dadurch legitimierten Maßnahmen spielt es eine entscheidende Rolle, ob es gelingt, politische Allianzen zwischen Bewohner_innen der „westlichen Welt“ und (Klima-)Migrant_innen aus den „Ländern des Südens“ zu artikulieren (etwa unter Berufung auf allgemeine humanitäre Prinzipien), oder ob die Ausbildung solcher Allianzen durch die Hegemonie nationalstaatlicher Identitäten unterbunden wird, die Flucht und Migration aufgrund von Umweltveränderungen als Bedrohungen für die Sicherheit von Nationalstaaten erscheinen lassen. 4.2. Dislokation postkolonialer Staatlichkeit – am Beispiel der Repräsentationspolitik der UNESCO Wie Staaten nationale Identitäten konstituieren, ist ebenso umkämpft wie die Konstitution von Staatlichkeit selbst. Im Folgenden soll die Rolle von Artikulationen für die Dislokation hegemonialer Vorstellungen von Staatlichkeit an einem Fallbeispiel erläutert werden. Am Beispiel kultur-räumlicher Repräsentationen der UNESCO lässt sich zeigen, wie sich der Nexus von nationaler Identität und Staat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verändert hat und welche hegemonialen Interventionen und Artikulationen neuer politischer Identitäten zu einer Dislokation hegemonialer Kultur-Raum-Vorstellungen geführt haben. Anhand einer Analyse der UNESCO-Resolutionen, die seit Gründung der UN-Sonderorganisation im Jahr 1945 verabschiedet wurden, lassen sich drei Phasen identifizieren, die sich durch jeweils unterschiedliche diskursive Regeln und Wahrheitsregime kennzeichnen. In der ersten Phase, die etwa von 1946–1968 reicht, wird Kultur als Hochkultur verstanden. Kulturelle Grenzen stimmen hier mit den nationalstaatlichen Grenzen überein.
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We aim at preserving the widest variety of art, while at the same time helping its international exchange, so that nation can speak to nation through its music, its literature and its painting (UNESCO 1946: 25).
Auch die Repräsentation von Kulturen erfolgt stets entlang geographischer Grenzen. Unesco should encourage the development of national culture (…) it is only in this way that we shall achieve the natural harmony of a culture common for all mankind (UNESCO 1946: 40).
In der ersten Formation und Phase wird Kultur räumlich als Nationalkultur gedacht. Im Übergang von der ersten zur zweiten Phase findet eine Dislokation im Diskurs statt. Der zuvor im internationalen Staatensystem noch akzeptierte Kolonialismus wird nun abgelehnt und seine Abschaffung von der UNESCO unterstützt. In dieser Zeit ist die Vorstellung in der UNESCO hegemonial, wonach die postkolonialen „newly independant states“ nach der Befreiung von der gewaltsamen kulturellen Überprägung des Kolonialismus ihre „ursprünglichen“ und „natürlichen“ Nationalkulturen wiederentdecken würden. Daher betont die UNESCO: the need to reassert indigenous cultural identity and to eliminate the harmful consequences of the colonial era, (…) call[s] for the preservation of national culture and traditions (UNESCO 1974: 60).
In dieser Zeit unterstützt die UNESCO die „national liberation movements“ und ermutigt sie zur „rediscovery of their own authentic cultural identity“ (UNESCO 1974: 96). In dieser Zeit wird zwar der Kolonialismus in Frage gestellt, nicht aber die Idee, dass der aufgeklärte Nationalstaat die natürliche Einheit von Kulturen ist. Die Dislokation von der zweiten zur dritten Phase zeigt sich dadurch, dass Kultur nicht länger als kulturräumlich gekammert konzipiert wird und dass Nationalkulturen damit nicht länger als gegeben akzeptiert werden. In dieser Zeit zeigen die vielen Kriege in den „newly independent countries“, dass die postkolonialen Nationen keine homogenen kulturellen Einheiten sind, sondern von tiefen kulturellen Antagonismen durchzogen sind. Eine zentrale Erkenntnis dieser Epoche ist, dass kulturelle Unterschiede immer auch Bestandteil einzelner Gesellschaften sind und nicht sinnvoll als Unterschiede zwischen feststehenden „Nationalkulturen“ gedacht werden können. In dieser Zeit spielen Begriffe wie kulturelle Vielfalt, Interkulturalität, kulturelle Hybridität und kultureller Pluralismus eine große Rolle: “Interculturality” refers to the existence and equitable interaction of diverse cultures and the possibility of generating shared cultural expressions through dialogue and mutual respect (UNESCO 2005: 87, Art. 4).
Der Nationalstaat wird in dieser Phase nicht länger als die Hauptbezugsebene kultureller Identitäten konzipiert, sondern die globale und subregionale Ebene von Kultur rücken ins Blickfeld. Kultur wird zunehmend als kulturelle Vielfalt verstanden. Es findet also eine Dislokation von einem Diskurs, der „Raum als Fixie-
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rung kultureller Identität“ versteht, hin zu einem Verständnis, das Raum als „Ort der Differenz“ begreift, statt. Das Eintreten postkolonialer Stimmen in den Diskurs führt zu einer Revision von Staatlichkeit, beispielsweise in Form der rechtlichen Anerkennung indigener Kulturen oder kultureller Vielfalt innerhalb von Staaten. Das Fallbeispiel zeigt, dass der Zusammenhang zwischen kulturellen Identitäten und Staatlichkeit historisch kontingent ist und dass die jeweils hegemoniale Form dieses Zusammenhangs die jeweils „angemessenen“ politischen Forderungen und Praktiken maßgeblich prägen. Darüber hinaus macht es deutlich, dass Staaten zwar (derzeit) machtvolle diskursive Formationen darstellen, dass die jeweils an Staatlichkeit gebundenen Forderungen und Identitäten jedoch nicht natürlich oder überzeitlich sind. Mit Hilfe des Konzepts der Artikulation und Dislokation von Laclau und Mouffe wird es möglich, das Eintreten postkolonialer Stimmen in einen nationalstaatlichen Diskurs und die damit einhergehende Dislokation nationalkultureller Staatlichkeit zu erfassen, in der postkoloniale Identitäten vormals nicht repräsentierbar waren. Darüber hinaus ermöglicht die Laclau und Mouffe’sche Perspektive mit dem Konzept der Dislokation Staaten als umkämpftes Konstrukt zu fassen, in dem unterschiedliche politische Identitäten um Anerkennung und Repräsentation streiten. Im Sinne einer „primacy of the political“ (Laclau 1990: 33) kann in dem Fallbeispiel gezeigt werden, wie Nationalstaaten und internationale Organisationen unterschiedlich konzipiert und organisiert sind. Es zeigt sich, dass die Achsen von Differenz, die durch den Staat prozessiert werden, umkämpft sind und die Artikulation neuer politischer Identitäten zu einer Dislokation von Staatlichkeit führen kann. 4.3. Inklusion und Exklusion: Ethnische Minderheiten, Staatszugehörigkeit und Konflikte um Landnutzung in Thailand Effekte der Inklusion und Exklusion durch nationalstaatliche Identitätskonstruktionen zeigen sich besonders deutlich an solchen Stellen, wo diese brüchig, unklar und umkämpft sind. Das komplexe Verhältnis zwischen ethnischen Minderheiten (insbesondere den sogenannten „hill tribes“), ihrem nationalstaatlichen Status und dem Staat in Thailand stellt hierfür ein Beispiel dar. Auch wenn Thailand in der Außenwahrnehmung häufig als „ethnisch homogen“ wahrgenommen wird, unterscheiden verschiedene Studien bis zu 75 „ethno-linguistische Gruppen“1.
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Damit soll nicht gesagt werden, dass die „ethnischen Identitäten“ im Gegensatz zur nationalstaatlichen Identität „essentiell“ oder „natürlich“ seien. Vielmehr ist natürlich auch die Einteilung „ethno-linguistischer Gruppen“ mit distinkten (aber sicherlich teilweise verwandten oder ineinander übergehenden) Sprachen und „Kulturen“ ebenso wenig als essentiell zu verstehen wie nationale Identitäten. Gleichwohl stellt sie ein Beispiel für eine machtvolle alternative Form der Repräsentation (politischer) Identitäten in Thailand dar, die mit nationalstaatlichen Identifikationsmustern konkurriert.
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Contrary to the popular perception of Thailand as a monolingual country, it has some eighty spoken languages. Of a population of more than 60 million, only one in six people speaks “Standard Thai” as a first language (Usher 2009: 1; s. Toyota 2005).
Wie in vielen anderen Kontexten, ist auch in Thailand die Herausbildung des modernen Territorialstaates eng mit der staatlich gesteuerten Konstruktion einer gemeinsamen nationalen Identität verknüpft (Anderson 2005[1983], s. oben). Auch im Falle Thailands lässt sich die Konstitution formaler, territorialer Grenzen und einer damit verbundenen Ausweitung der innenpolitischen und territorialen Kontrolle Siams als untrennbar verbunden mit der Abgrenzung von einem als antagonistisch und bedrohlich repräsentierten „Außen“ erklären. Dieses „Außen“ stellte in den ersten Jahren formaler, territorialer Grenzziehungen Ende des 19. Jahrhunderts die umliegenden Kolonialmächte dar, in den 1970er Jahren – einer zweiten Hochphase thailändischen nation buildings – waren es hingegen stärker die kommunistischen Einflüsse, die u.a. an den politischen Systemen der Nachbarstaaten festgemacht wurden. Zentral für die Ausgestaltung der „eigenen“ nationalen Identität Thailands war dabei, dass diese im Spannungsfeld hegemonialer Bewertungsmuster entlang der Achsen zivilisiert/unzivilisiert, bzw. modern/vormodern stattfand, die den Bestrebungen nach Eindeutigkeit und Homogenität Vorschub leisteten und sich auf der institutionellen Ebene, beispielsweise in der landesweiten Durchsetzung von Thai als Pflichtsprache in Schulen, zeigte (Numnonda 1978: 234). Zu den Effekten dieses nation building-Prozesses gehörte es, dass das Verhältnis zwischen Zentral-Thais, deren Sprache und vielfach auch Gebräuche als „allgemeingültig“ definiert wurden, und anderen Ethnien durch spannungsgeladene Formen der Zugehörigkeit und Abgrenzung gekennzeichnet war und ist. Wenngleich das Verhältnis zwischen Ethnien auch in anderen Fällen zumindest zeitweise konfliktbehaftet war oder noch ist, wie u.a. im Falle der laotischen Bevölkerungsgruppen im Nordosten oder der muslimischen Minderheiten im Süden, ist im Kontext dieses Kapitels aus zwei Gründen v.a. das Verhältnis zu den sogenannten „hill tribes“ aufschlussreich: Erstens, weil die „hill tribes“ durch ein besonders antagonistisches und konfliktbeladenes Verhältnis zur thailändischen Mehrheitsgesellschaft gekennzeichnet sind. Zweitens, weil sich dieses insbesondere auch in Fragen der (Nicht-)Staatsangehörigkeit und daraus resultierenden Konflikten äußert. Die Abgrenzung gegenüber den „hill tribes“ stellt innerhalb des hegemonialen Diskurses um nationale Identitäten in Thailand einen wichtigen Baustein dar: Die Thai-Identität konstituiert sich in Abgrenzung von den „hill tribes“ als ihrem antagonistischen Anderen, welches als unzivilisiert gilt: In the case of Thailand what marginalizes the hill tribes-people is the idea that hill tribes are different from “us”, civilized Thai, and the prejudices associated with that. (…) The peripherality of the upland community is vital to the legitimacy and power of the center (Toyota 2005: 132).
Als unmittelbar sichtbarer Ausdruck dieser „Unzivilisiertheit“ wird u.a. das Praktizieren von shifting cultivation angesehen, welches – entgegen einer weitaus dif-
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ferenzierteren Lehrmeinung in der Wissenschaft (Mertz et al. 2009) – vor allem von staatlichen Institutionen als ökologisch unverträglich und zerstörerisch dargestellt wird. Mit Bezug auf die Beziehung zum Staat spiegeln sich diese antagonistischen Identitätskonstruktionen besonders eklatant in der Frage der Staatsangehörigkeit wider: Im Gegensatz zu anderen „Ethnien“ hat eine Vielzahl der Angehörigen der „hill tribes“ keine thailändische Staatsangehörigkeit. Die Regel, die im thailändischen Recht über Staatsangehörigkeit befindet, lautet, dass Angehörige der „hill tribes“ nachweisen müssen, dass sie bereits vor dem Jahr 1976 in Thailand lebten: The year 1976 became a fixing point for determining whether a person is classified as “illegal immigrant” or as hill tribe population. Those who could afford to prove that they entered Thai territory before 1976 would be entitled to Thai citizenship. Those who could not manage to so prove would not be entitled to legal status either as “refugees” or as hill tribe, and hence would not be eligible for Thai citizenship. (Toyota 2005: 132).
Dieses Recht führte in vielen Fällen nicht nur zu unterschiedlichen legalen Status innerhalb von Familien einer Region, die nach wie vor durch erhebliche Migrationsströme gekennzeichnet ist, sondern machte die Staatsbürgerschaft, vor dem Hintergrund, dass verlässliche Nachweise über die Siedlungsdauer für die lokale Bevölkerung aufgrund fehlender Melderegister o.ä. kaum zu erbringen waren, de facto schwer zugänglich. Das Resultat sind heute eine mehr oder weniger willkürliche Verteilung von Staatsangehörigkeit innerhalb der „hill tribes“ und weit verbreitete Staatenlosigkeit. Diese fehlende Staatsangehörigkeit führt zu vielfältigen Marginalisierungen und Verwundbarkeiten (beispielsweise kein Zugang zum staatlichen Schul- oder Gesundheitssystem etc.). Insbesondere – und wiederum eng verbunden mit der Ausübung staatlicher Kontrolle über das nationalstaatliche Territorium – ist es Nicht-Staatsbürger_innen verboten, Land zu besitzen. Angehörige ethnischer Minderheiten, die keine Staatsangehörigkeit besitzen, haben also keine Möglichkeit, offizielle Landtitel für die von ihnen genutzten Flächen zu erhalten. Im Ergebnis macht dies die staatenlose „hill tribe“-Bevölkerung in vielfältigen Konflikten um Landnutzung zu einem Spielball staatlicher Interessen und Maßnahmen, denen sie innerhalb des hegemonialen staatlichen Diskurses oft nur wenig entgegensetzen können (Laungaramsri 2002).2 Die staatenlosen „hill tribe peoples“ sind somit von zwei miteinander verschränkten und sich gegenseitig verstärkenden Formen der Marginalisierung durch die diskursive Konstitution von nationalstaatlicher Zugehörigkeit betroffen: Erstens gelten sie als das kulturell „Andere“ der thailändischen Mehrheitsgesellschaft und es bestehen große Vorbehalte und Vorurteile gegenüber einem „rationalen“ Umgang dieser vermeintlich „wilden“ Bevölkerungsgruppen mit natürli2
Konflikte um Landnutzung sind in Thailand auch in anderen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet. Dies liegt daran, dass im Zuge der Formation des Nationalstaates ein Großteil der Landesfläche (insbesondere die damals bestehenden Waldflächen) zu Staatseigentum erklärt wurden, ungeachtet der Tatsache, dass diese staatlichen Flächen oft seit Generationen von der lokalen Bevölkerung besiedelt und bewirtschaftet wurden (Usher 2009).
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chen Ressourcen – dabei wird selbst ihre Duldung in bestehenden Siedlungsgebieten in Frage gestellt. Zweitens haben Angehörige der „hill tribes“ – aufgrund der nicht bestehenden Staatsangehörigkeit – auch keine Möglichkeit, die de facto bestehende Landnutzung zu legalisieren oder über den Mechanismus politischer Wahlen und politischer Repräsentation bestehende Gesetze zu verändern. 5. FAZIT Die poststrukturalistische Hegemonie- und Diskurstheorie, wie sie Laclau und Mouffe entwerfen, eröffnet neue Perspektiven zur wissenschaftlichen Bearbeitung zahlreicher Themen und Fragestellungen der Politischen Geographie. Die Dekonstruktion des „Klassismus“ ermöglicht es, nicht nur Klasse, sondern tendenziell alle Achsen gesellschaftlicher Differenz in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie Geschlecht, Ethnizität, postkoloniale Differenzen etc. durch den Staat prozessiert werden. Mit der Dezentrierung des Staates und der Einführung des Diskurskonzepts als gesellschaftlichem Strukturprinzip wird der Staat als historisch kontingentes, sedimentiertes Konstrukt konzipiert. Damit geraten die Umkämpftheit und Dislokation von Staatlichkeit selbst in den Blick. Auf diese Weise wird verständlich, dass es „den Staat“ als feststehende universelle Form nicht gibt, sondern immer nur historisch konkrete Formen von Staatlichkeit, die beispielsweise Geschlechterverhältnisse, kulturelle Zugehörigkeiten und ökonomische Differenzen jeweils unterschiedlich prozessieren und dabei stets umkämpft sind. Identitäten denken Laclau und Mouffe weder als vordiskursiv gegeben, noch als durch Anrufungen eindeutig bestimmt. Sie zeigen, dass Identität stets in Abgrenzung zu einem antagonistischen „Anderen“ entsteht. Die Idee einer abgrenzbaren Einheit von Gesellschaft, Territorium und Staat wird aus dieser Perspektive zu einem in der Neuzeit hegemonialen aber eben doch kontingenten Diskurs. Mit der Diskurs- und Hegemonietheorie können damit spezifische Grenzziehungen und Territorialisierungen als Elemente von Staatlichkeit in ihrer Umkämpftheit, in ihrer Sedimentierung, aber auch in ihrer Instabilität und Brüchigkeit in den Blick genommen werden. Eine solche Perspektive lässt sich für eine Vielzahl von Themen in der Politischen Geographie anwenden, die sich mit der Frage von Staatlichkeit auseinandersetzen. Staatlichkeit wird damit nicht länger als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse gefasst. Wir haben exemplarisch drei Beiträge genannt, die die Analyse von Staatlichkeit aus einer diskurs- und hegemonietheoretischen Perspektive für die Politische Geographie leisten kann. Erstens gerät mit einer solchen Perspektive die Umkämpftheit von Staatlichkeit und der durch sie angerufenen und konstituierten Subjekte in den Blick. Im Kern der Untersuchungen zu Nationalstaatlichkeit steht dann die Frage, welche gesellschaftlichen Konfliktlinien, Gegensätze und Differenzen durch den gemeinsamen Bezug auf einen Nationalstaat (temporär) verdeckt und prozessiert werden. Zweitens eröffnet eine solche Perspektive den Blick auf die Artikulation neuer politischer Identitäten und die Prozesshaftigkeit von Staatlichkeit (Dislokation). Hier
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zeigt sich, an welchen Stellen diese temporäre Schließung des Diskurses wieder brüchig wird, an welchen Stellen es zu (gegen-)hegemonialen Interventionen kommt. Drittens legt der Fokus auf die prozesshafte Veränderung von Staatlichkeit auch den Blick auf neu entstehende Formen von In- und Exklusion durch die staatliche Form und der durch den Staat konstituierten Identitäten frei. Insgesamt kann Nationalstaat damit als immer hergestellte und immer umstrittene Verknüpfung von Konzepten einer spezifischen Gemeinschaft mit einem spezifischen Raum und einer spezifischen Organisationsform gefasst werden. Geographien sind dabei nicht Konsequenz einer bestimmten sozialen Organisation, sondern ein Element der immer umstrittenen Herstellung von Gesellschaft, und damit politisch. LITERATUR Althusser, Louis (1977[1970]): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin. Anderson, Benedict (2005[1983]): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/Main/New York. Boesler, Klaus-Achim (1983): Politische Geographie. Stuttgart. Dalby, Simon (2009): Security and Environmental Change. Cambridge. Demirović, Alex (2007): Politische Gesellschaft - zivile Gesellschaft. Zur Theorie des integralen Staates bei Antonio Gramsci. In: Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas (Hrsg.): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis. Baden-Baden. Dzudzek, Iris (2011): Umkämpfte Weltbilder – eine Genealogie kultur-räumlicher Repräsentationen in der Unesco. Forum Politische Geographie, Bd. 5. Münster: 21–41. Glasze, Georg (2009): Der Raumbegriff bei Laclau – auf dem Weg zu einem politischen Konzept von Räumen. In: Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Bielefeld: 213–218. Glasze, Georg (2012): Politische Räume. Die diskursive Konstitution eines „geokulturellen Raums“ – die Frankophonie. Bielefeld. Glasze, Georg/Mattissek, Annika (Hrsg.) (2009): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung. Bielefeld. Gramsci, Antonio (1991ff.): Gefängnishefte. Hamburg. Howarth, David/Norval, Aletta/Stavrakakis, Yannis (2000) (Hrsg.): Discourse theory and political analysis. Identities, hegemonies and social change. Manchester: 1–24. Husseini de Araújo, Shadia (2011): Jenseits vom „Kampf der Kulturen“. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien. Bielefeld. Jørgensen, Marianne/Phillips, Louise (2002): Discourse analysis as theory and method. London. Keohane, Kieran (1997): Symptoms of Canada: an essay on the Canadian identity. Toronto. Laclau, Ernesto (1990): New reflections on the revolution of our time. London. Laclau, Ernesto (2005): On Populist Reason. London. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (2006[1985]): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien. Laungaramsri, Pinkaew (2002): Redefining Nature: Karen Ecological Knowledge and the Challenge to the Modern Conservation Paradigm. Chennai.
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STAAT UND RAUM BEI DELEUZE UND GUATTARI Ulrich Best
Was sind deine Linien? Welche Karte machst oder veränderst du gerade? Welche abstrakte Linie zeichnest du, und zu welchem Preis für dich oder andere? Deine Fluchtlinie? (Deleuze/Guattari 1997: 278)
1. EINLEITUNG: „KARTEN MACHEN“ RAUMBEGRIFFE BEI DELEUZE UND GUATTARI Die Konzepte von Gilles Deleuze und Felix Guattari erfreuen sich in der Geographie und den Sozialwissenschaften nach wie vor einer gewissen Beliebtheit. Einer der Gründe dafür ist die vielfache Verwendung räumlicher Begriffe in ihren Werken. Das Begriffspaar Territorialisierung/Deterritorialisierung ist inzwischen in der Geographie – vor allem in der Globalisierungsdiskussion – zu einem Standard geworden. Auch der Begriff der Karte und des Kartierens, der Kartographie, das Verhältnis von glattem und gekerbtem Raum und geometrische Begriffe wie Fluchtlinien sind immer wieder attraktiv für die Geographie und im Zuge der Konjunktur von Raumbegriffen auch in den Sozialwissenschaften. So schreibt zum Beispiel Arnaud Villani in einer Untersuchung mit dem Titel „Physische Geographie von Tausend Plateaus“: „Rhizom ist die erste philosophische Untersuchung, die ausschließlich geographisch und kartographisch verfährt.“ (Villani 1993: 36) Nun bietet dieser Text von Villani keine physische Geographie, die ein physischer Geograph (oder auch ein Humangeograph) als solche erkennen würde. Vielmehr entwickelt Villani darin aus Deleuze/Guattaris Begriffen („Plateau, Immanenzebene, Überraum“; ebd.: 39, Fußnote 43) ein philosophisches Konzept der Oberfläche. Es geht also nicht um die Abbildung der Erdoberfläche, sondern um eine philosophische Arbeit an Begriffen, die dann wiederum möglicherweise geographische Praxis informieren kann. Villanis Konkretisierung, was er mit Geographie meint, hilft interessierten Einsteigern kaum weiter: Aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass die Geographie hier zu einer Physik wird, den Ausdruck im Sinn der (Meta)Physik Bergsons, oder besser: einer Geographie der physis verstanden. Bekanntlich hat Deleuze sich in seinem gesamten Werk um den Begriff des Lebens, um den Umschlag oder den élan des Lebens, um die Geburt bemüht. Die Geschichte wird in den Untergrund hineingetrieben und verschmilzt mit dem unmerklichen, grasüberwachsenen Sockel, mit der unbestimmten, wüstenartigen Erstreckung, in der sich das Wesentliche abspielt: Kopplungen und Konnexionen, welche die Vermögen der Körper und ihrer Gefüge steigern und zuletzt ihrerseits Wurzel und Ursprung werden (ebd.: 37).
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Der Aufgabe, Geographie und Deleuze/Guattari zusammen zu bringen, stellen sich auch Bonta und Protevi in ihrem Buch „Deleuze and Geophilosophy“. Sie fragen: Once we have accepted Deleuzean geophilosophy as a viable ontological and epistemological framework for geography, how do we go about putting it to work in the discipline? (Bonta/Protevi 2004: 38)
Wenig hilfreich, aber wohl korrekt antworten sie, dass man einfach ihr 200seitiges Glossar zu Begriffen von Deleuze und Guattari lesen soll, dann könnte man sich das ja überlegen (ebd.: 39). Auch der Begriff der Karte ist nicht ganz so offenkundig geographisch, wie er scheint. Deleuze und Guattari diskutieren ihn gleich zu Beginn von Tausend Plateaus, bzw. im eigenständigen Text „Rhizom“, in dem sie das „Prinzip der Kartographie und des Abziehbilds“ definieren. Die gesamte Logik des Baumes ist eine Logik der Kopie und der Reproduktion. (...) Der Baum verbindet die Kopien und ordnet sie hierarchisch, die Kopien sind sozusagen die Blätter des Baumes. Ganz anders das Rhizom, das eine Karte und keine Kopie ist. Karten, nicht Kopien machen. (...) Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie konstruiert es. Sie unterstützt die Verbindung von Feldern, die Freisetzung organloser Körper und ihre maximale Ausbreitung auf einer Konsistenzebene. Sie ist selber ein Teil des Rhizoms. Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion oder Meditationsübung begreifen. Es ist vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften des Rhizoms, immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten zu bieten. (...) Eine Karte hat viele Zugangsmöglichkeiten, im Gegensatz zur Kopie, die immer nur „auf das Gleiche“ hinausläuft. Bei einer Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche „Kompetenz“ verweist (Deleuze/Guattari 1997: 23f.).
In diesem Zitat wird deutlich, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen Karte und Kopie um unterschiedliche Praxen und Umgangsweisen mit etwas handelt. Eine geographische Karte kann sehr wohl immer auf das Gleiche hinauslaufen, Kompetenz und Expertenwissen legitimieren, eingebettet sein in eine hierarchische Ordnung, und mit vielfältigen weiteren hierarchischen Ordnungen verbunden sein. Dann wäre sie aber eine Kopie oder ein Abziehbild im Sinne von Deleuze und Guattari. Eine Karte in ihrem Sinne ist sie dann, wenn sie als solche funktioniert, so gebraucht wird – also offen ist, ständig veränderbar, immer neue Anschlüsse zulässt. Eine geographische Karte bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen diesen Polen, abhängig davon, wie sie verwendet wird. Diese Unterscheidung verschiedener Handlungen oder Geschehnisse findet sich in verwandter Form in vielen der grundlegenden Konzepte wieder. Deleuze und Guattari variieren sie mit Begriffen aus den verschiedensten Feldern, so der Musik, wo sie über Refrains schreiben, der Literatur, der Pflanzenwelt (das Rhizom – die Wurzel/der Baum), auch mathematische Raumkonzepte, Schach gegenüber dem Go-Spiel, etc. Räumliche Begriffe stehen oft im Vordergrund, sie ergeben aber kein Raumkonzept an sich, das einfach als Geographie gelesen werden
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kann. Vielmehr ist es so, dass die räumliche Sprache Deleuze und Guattari dazu dient, Möglichkeiten der Vielfalt darzustellen – wie Buchanan und Lambert in Bezug auf Deleuzes Buch über Leibniz betonen: [T]here is no general logic of space in the same way that Deleuze has proposed a logic of sense and sensation. This is because the logic of space would be that of the multiplicity itself (Buchanan/Lambert 2005: 7).
Es kann also bei einer Anwendung der Konzepte von Deleuze und Guattari in der Geographie nicht darum gehen, allgemein „über Raum“ zu schreiben oder ein allgemeines „Raumkonzept“ aufzustellen. Auch in der Geographie und für das hier zur Debatte stehende Verhältnis von Staat und Raum hat sich seit einiger Zeit die Perspektive durchgesetzt, dass nicht Raum an sich im Zentrum des Interesses der Disziplin steht, sondern die Gesellschaft, Machtverhältnisse, soziale Praxis. Für Fragestellungen aus diesen Feldern kann es aber attraktiv sein, Konzepte von Deleuze und Guattari weiter zu entwickeln und auf ihren Grundlagen aufzubauen. Wie andere Konzepte gesellschaftlicher Praxis muss man sie dann aber selbst in eine Analyse gesellschaftlicher Raumproduktion überführen. Die räumlichen Konzepte von Deleuze und Guattari bieten dafür zahlreiche Inspirationen und ein produktives Spannungsverhältnis. In den folgenden Abschnitten werden zunächst einige weitere wichtige räumliche Begriffe von Deleuze und Guattari sowie anschließend ihre Verständnisse von Staat diskutiert. Anschließend werden anhand einiger aktueller Arbeiten Beispiele vorgestellt, wie mit diesen Konzepten das Verhältnis von Staat und Raum untersucht werden kann. Eine weitere Anmerkung zur Begrifflichkeit soll vorab erfolgen. Deleuze und Guattari haben zahlreiche gemeinsame Veröffentlichungen vorgelegt, aber auch als Alleinautoren oder in anderen Autorenteams (Guattari zum Beispiel auch mit Antonio Negri 1990). In der Literatur werden sowohl ihre Einzelarbeiten als auch das gemeinsame Werk rezipiert. Für eine genaue Ideengeschichte und Rekonstruktion ist es einerseits unerlässlich, genau zu unterscheiden, wer welche Beiträge geliefert hat (so könnten z.B. die Begriffe des Territoriums und der Karte auf Guattari zurückgeführt werden). Andererseits sind aber gerade die Raumbegriffe ein spezifisches Produkt ihrer Zusammenarbeit, so dass in diesem Text in der Regel vom Autorenduo gesprochen wird. 2. DELEUZE UND GUATTARI IN DER GEOGRAPHIE UND IM SPATIAL TURN In den letzten Jahren ist im Zuge einer „zweiten Welle“ von Deleuzo-GuattarianerInnen eine Reihe von Studien erschienen, die explizit in der Geographie verortet sind und sich auf Deleuze und Guattari berufen, oder zumindest sehr stark räumliche Begriffe verwenden. Zu nennen sind z.B. die schon oben zitierten Bonta/Protevi (2004), der Sammelband „Deleuze and Space“ von Buchanan und Lambert (2005) oder „Space in Theory“ von Russel West-Pavlov (2009). In der Geographie gibt es Beiträge von Doel (1993, 1996, 2000), Thrift und Dewsbury
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(2000), aus jüngerer Zeit einige Beiträge von Woodward (gesammelt in Woodward 2007). Die Zeitschrift Society and Space hatte 1996 ein Themenheft zu Deleuze und Guattari und in Area erschien mit Heft 1/2011 einen Schwerpunkt zu dem Begriff des Assemblage/Gefüges, der von Foucault, Deleuze und Guattari geprägt wurde. In diesen Arbeiten sind drei Tendenzen zu verzeichnen. Erstens werden vor allem in den früheren Arbeiten immer wieder dieselben Begriffe definiert und erklärt, dass die Konzepte von Deleuze und Guattari „offen“ sein sollen, dass es um Rhizome geht, etc. Zweitens werden – auch in der Geographie – die Konzepte meistens in theoretischen Arbeiten (z.B. Massey 1999) oder in Beiträgen zur Geographie der Kunst eingeführt (z.B. Dewsbury/Thrift 2005). Drittens werden in einer neueren Entwicklung die Konzepte von Deleuze und Guattari auch als empirisch umsetzbare Gesellschaftstheorie verwendet und an Fallbeispielen diskutiert – z.B. Genosko und Brix (2005), die sich mit der staatlichen Kontrolle der Inuit in Kanada befassen, Watson (2009b), die die Ethnopolitik in der EU analysiert oder Arbeiten des Autors über Grenzen (Best 2003a, b, 2007). Diese letztgenannten Arbeiten sollen aber erst im nächsten Abschnitt dieses Beitrags besprochen werden. Hier sollen zunächst die Grundbegriffe weiter geklärt werden. In der Geographie populär geworden ist vor allem der Begriff der Deterritorialisierung/Reterritorialisung, der oft direkt auf die Staatenwelt übertragen wird. Territorium (wie auch Karte) ist ein Begriff, den Guattari in seiner psychoanalytischen Arbeit entwickelt hat, und der ursprünglich die Verkoppelung von Wünschen bedeutet, die dann entweder in neue Verknüpfungen münden können (deterritorialisiert), oder ihre eigene Verknüpfung wiederholen (reterritorialisiert). Wie auch der Begriff der Karte hat dieser Begriff nicht direkt ein geographisches Äquivalent. Wenn man es direkt übertragen möchte, müsste man die Frage stellen, was denn der Zusammenhang von Wünschen (oder auch Begehren, „desir“ im Original) mit räumlicher Praxis oder politischer Geographie oder der Staatenwelt ist. Diese Frage wird aber selten gestellt, obwohl Deleuze und Guattari sie selbst vor allem im ersten Band des Anti-Ödipus anstoßen. In einem allgemeineren Sinn definieren sie den Begriff analog zu „intensiven Mannigfaltigkeiten“, die unaufhörlich entstehen und sich auflösen, indem sie diesseits, jenseits oder durch eine Schwelle ineinander übergehen und miteinander kommunizieren (Deleuze/Guattari 1997: 52).
Deterritorialisierung bedeutet die Suche nach neuen Anschlüssen, Reterritorialisierung die Wiederholung oder Stärkung bestehender Kopplungen. Die direkte Übertragung dieses Konzepts auf die Staatenwelt, Grenzen oder „Globalisierung“ ist schwierig – hier müsste zuerst gefragt werden, was denn die Territorien sind, aus welcher Kopplung von Wünschen sie bestehen, und wie ihr Verhältnis zu anderen Wünschen, Territorien etc. ist. Ähnlich verbreitet ist auch das Begriffspaar des glatten und des gekerbten Raums. Glatter Raum ist hierbei ein Konzept, in dem autonome Akteure sich bewegen können, über Richtungsänderung, Geschwindigkeit entscheiden können. Das Meer, aber auch das Land (im Gegensatz zur Stadt) wird von Deleuze und Guattari als ein solcher „glatter Raum par excellence“ diskutiert (Deleuze/Guattari 1997: 664). Die Stadt dagegen ist das Ergebnis vielfältiger Ordnungen und Rege-
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lungen von Bewegung, sie ist ein Raum, der abgezählt und nummeriert ist. Dennoch gilt auch hier wieder, dass es auf die Verwendung dieser Orte ankommt: „Ein Stadtraum wie auch eine Ortschaft können sowohl in der Weise des Sesshaften als auch nach Art des Nomaden genutzt werden.“ (Günzel 2005: 107) Nomaden stellen in diesem Kontext die Bewegung ohne „Kerbungen“, in einem offenen Raum dar (auch wenn das den Erfahrungen der meisten tatsächlichen Nomaden wohl widersprechen wird), während Sesshafte über eine feste Position in einer klaren Ordnung verfügen, in der auch die Bewegung nur entlang vorgegebener (d.h. dauernd wiederholter) Linien erfolgt. Auch hier müssten für eine Übertragung wieder bestimmte Fragen gestellt werden, nämlich: Erfolgen räumliche Handlungen entlang von Regeln, Mustern, folgen sie Wiederholungen? Ein drittes Begriffspaar, das weite Verbreitung gefunden hat, ist das der Minderheit und Mehrheit, ursprünglich der kleinen (bzw. minderen) und großen Literatur, das Deleuze und Guattari am Beispiel Kafkas entwerfen (1976). In der Geographie wurde es z.B. von Cindi Katz (1996) in ihrem Plädoyer für eine „minor theory“ aufgenommen. Kleine Literatur muss versuchen, ihren Ausdruck in einer fremden Sprache zu finden, deren Regeln sie nicht bestimmen kann, in der sie sich aber zurechtfinden und dabei eine besondere Ausdrucksform entwickeln kann. Auch in diesem Konzept erfolgt die Unterscheidung in der Art der Nutzung von etwas, das bereits besteht. „Minor theory“ ist dann in der Entsprechung eine Theoriearbeit, die sich nicht aus der Macht des Bestehenden definiert, sondern neue Anschlüsse sucht, ohne selbst zur „großen“ Theorie zu werden, die dann wieder Regeln aufstellt und zum Wiederholen immer gleicher Handlungen verführt. Zu Grunde liegt allen diesen Konzepten eine Ontologie, ein metaphysischer Entwurf, der in einem sogenannten transzendentalen Empirismus immer ein Verhältnis vom Aktuellen und dem Virtuellen sieht. Das Virtuelle ist dabei die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten und Veränderungen, der Richtungen, die eine Situation einschlagen kann, während das Aktuelle das ist, was die Grundlage für diese weiteren Entwicklungen ist. Mit dem Konzept des Aktuellen und des Virtuellen unterscheiden Deleuze und Guattari nicht, was „real“ und was „irreal“ ist, sondern versuchen, diese Trennung zu vermeiden. Das Werden verbindet dabei die beiden Ebenen (vgl. Marston et al. 2005, in Woodward 2007: 97). Negri (1993: 63) deutet diese Ontologie als „offene Ontologie der Geschichtlichkeit“ und sieht in Deleuze und Guattari eine Fortschreibung der marxistischen Geschichtsphilosophie ohne Determinismus. Seine gesellschaftstheoretische Interpretation dieser Ontologie fasst diese als Resonanzboden gesellschaftlicher Arbeit auf. Die materiellen Bestimmungen und ihre Akkumulation, der undurchdringliche Untergrund der Vergangenheit bilden ein totes Ensemble, das nur durch lebendige Arbeit wiederbelebt wird, das von den neuen Maschinen der Subjektivität stets von neuem wieder erfunden werden muss. Geschieht das nicht, ist das Vergangene nicht nur tot, sondern wahrhaftig ein Gefängnis. TP [Tausend Plateaus, UB] entwirft so eine materialistische Theorie der gesellschaftlichen Arbeit und versteht diese als das schöpferische Ereignis der tausend Subjekte, das sich auf die Gegenwart öffnet (ebd.).
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Wesentlich an dieser Interpretation ist, dass sie das Grundprinzip von Deleuze und Guattari aufnimmt, dass es kein „vorher“ gab, sondern die Gegenwart (das Aktuelle) immer eine Aktualisierung von etwas ist, das virtuell war – und die Grundlage für eine neue Aktualisierung weiterer Potenzialität. Watson vergleicht diese Ontologie sogar mit Lenins Konzepten und versucht, mit Deleuze und Guattari einen Revolutionsbegriff zu entwickeln – Revolution als „militante Kartographie“, ein Begriff Guattaris: There can never be a formula or program for bringing about events which can only arise out of fluctuating, uncertain, unpredictable, far-from-equilibrium situations, which by nature are multiply determined. This is why Leninism calls for multiple analyses, and why revolution is itself a militant cartography mapping multiple machinic phyla (Watson 2009a: 181).
Deleuze und Guattari selbst distanzieren sich vom Begriff der Revolution an sich, sondern gehen davon aus, dass Deterritorialisierung ein ständiger revolutionärer Prozess ist, und nicht eine abschließbare Umwälzung. 3. STAATSKONZEPTE BEI DELEUZE UND GUATTARI Die oben diskutierten Konzeptpaare (Karte/Kopie, Territorialisierung/Deterritorialisierung, glatter/gekerbter Raum) scheinen also trotz ihrer relativ verbreiteten Verwendung wenig mit Geographie zu tun zu haben. Die Beispiele, die Deleuze und Guattari verwenden, entstammen auch meist aus der Literatur, der Musik oder der (Anti-)Psychologie. Dennoch gibt es ein Feld, in dem sie ihre Konzepte anwenden, das auch in der klassischen Geographie behandelt wird, und das ist die Analyse des Staates. Noch 1991 schrieb Surin, Deleuze und Guattaris Analyse des Staates sei „bisher von Staatstheoretikern völlig ignoriert worden“ (Surin 1991: 102, Übersetzung UB). Das ist wohl weiterhin der Fall, aber es hat sich innerhalb der Diskussion über Deleuze und Guattari ein eigenes Feld herausgebildet, das sich mit dem Konzept des Staates und jenem des Politischen bei ihnen auseinandersetzt. Im Folgenden sollen drei verwandte Ansätze betrachtet werden: der Faschismusbegriff von Deleuze und Guattari, ihre Staatsdefinition, und ihr Konzept des Gefüges. Wie bei vielen ihrer Konzepte bringen Deleuze und Guattari auch zahlreiche unterschiedliche Ansätze in der Analyse des Staates bzw. der Staatsform ins Spiel. Im ersten Band des Anti-Ödipus entwerfen sie in diesem Bereich vor allem eine Theorie des Faschismus, so dass Foucault im Vorwort zu Anti-Ödipus das Buch sogar als ein antifaschistisches Werk bezeichnet, die erste antifaschistische Theorie der Subjekte. Der Hauptfeind, der strategische Gegner ist nicht zuletzt der Faschismus (...). Und nicht nur der historische Faschismus, der Faschismus Hitlers und Mussolinis – der fähig war, den Wunsch der Massen so wirksam zu mobilisieren und in seinen Dienst zu stellen –, sondern auch der Faschismus in uns allen, in unseren Köpfen und in unserem alltäglichen Verhalten, der Faschismus, der uns die Macht lieben lässt, der uns genau das begehren lässt, was uns beherrscht und ausbeutet (Foucault 1978: 227f.).
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Wünsche, schreibt Foucault, werden im Faschismus in den Dienst des Staates gestellt. Was meinen nun Deleuze und Guattari, wenn sie von Faschismus sprechen? Ihre gesamte Theorie baut darauf auf, zu untersuchen, wie durch ständige Rückkopplung von Wünschen stabilere Gesamteinheiten entstehen, die dann selbst wieder versuchen Wünsche auf sich zu territorialisieren. Nur durch Wiederholung und Territorialisierung können größere Einheiten bestehen. Wenn diese ständige Wiederholung aufbricht, dann löst sie sich auf oder geht neue Verbindungen ein. Ihre zentrale Fragestellung gegenüber dem Faschismus ist daher, wie die Teilnahme der Bevölkerung (bzw. ihrer Wünsche) es dem Faschismus ermöglicht, weiter zu bestehen. Sie schreiben dazu mit Bezug auf Reich, dass „die Massen (…) den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht [haben]“ (Deleuze/Guattari 1974: 39). Faschismus wird in diesem Konzept als eine Vereinnahmung der Wünsche definiert. Vereinnahmung heißt, durch einen Köder ein Element, das dem Organismus äußerlich ist, so umfunktionieren, dass es als Organ des Organismus selbst fungiert (Villani 1993: 31).
Der Köder, der diese Vereinnahmung ermöglicht, bezieht sich auf eine Nostalgie – die Nostalgie für den „Urstaat“, in dem Territorien ohne ständige deterritorialisierende Prozesse bestehen (Deleuze/Guattari 1974: 335). Die Wünsche richten sich auf etwas, das „früher“ war, als das Leben noch in Wiederholungen verlief, eingebunden in eine klare Ordnung und Gemeinschaft. Der Faschismus verspricht die Erfüllung dieser Wünsche. In einem weiteren Schritt begründen sie diese Nostalgie mit dem Aufstieg des Kapitalismus. Kapitalismus wird bei Deleuze und Guattari als ein deterritorialisierender Prozess erklärt, in dem es nur um Bewegung, Austausch, Wachstum, Innovation, Mobilität etc. geht. Der Staat als etwas Ordnung Suchendes, Territorialisierendes wird daher vom Kapitalismus in Frage gestellt. In Deterritorialisierungsprozessen entstehen aber auch neue Territorialitäten – „Neoterritorialitäten“, „zumeist artifiziell, residual, archaisch“ (Deleuze/Guattari 1974: 332). Diese können dann vom Staat vereinnahmt werden und im Ergebnis – wenn sie die Wünsche an sich binden können – zu Faschismus führen. Ihre Schlussfolgerung lautet dann: Innerhalb des Kapitalismus stellt zweifellos der faschistische Staat den phantastischsten Versuch ökonomischer und politischer Reterritorialisierung dar (Deleuze/Guattari 1974: 332).
Während Deleuze und Guattari also in Anti-Ödipus ein Faschismuskonzept entwerfen, das die Teilnahme der Bevölkerung zu erklären versucht – indem ihre Wünsche auf den Staat projiziert wurden –, kann man Tausend Plateaus als einen ausführlichen Versuch einer Staatstheorie lesen. Deleuze und Guattari zeigen darin auf, wie aus ihren Grundelementen – Territorien, Deterritorialisierung, Reterritorialisierung – auch größere gesellschaftliche Gebilde eine gewisse Kohärenz erlangen und behaupten können. Auch im Anti-Ödipus gibt es schon entsprechende Ansätze, die eher klassisch sind und eine gewisse Verwandtschaft auch mit marxistischen Ansätzen aufweisen. Der Staat wird hier erklärt als eine immer abs-
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trakter werdende Einheit, die ursprünglich eine Gemeinschaft war, von all ihren Mitgliedern geschaffen, aber nach und nach als Apparat eine größere Autonomie erlangt hat. Dem gegenüber steht der Kapitalismus, der die zentrifugalen Kräfte auf sich vereint und bindet, und dadurch ebenfalls eine gewisse Autonomie erlangt. Der Staat als organisierende Einheit wird dann von seinem Verhältnis mit den deterritorialisierenden Kräften des Kapitalismus geprägt – und gegenüber anderen deterritorialisierenden Kräften, die im Verhältnis mit dem Staat als Kriegsmaschine bezeichnet werden. Die Kriegsmaschine existiert in einer industriellen Erneuerung, in einer technologischen Erfindung, in einem Handelskreislauf, in einer religiösen Schöpfung, in all diesen Strömen und Strömungen, die sich nur sekundär von Staat aneignen lassen (Deleuze/Guattari 1997: 494).
Diese deterritorialisierenden Kräfte bestehen grundsätzlich auf derselben Ebene wie der Staat, die Frage hier ist nicht die nach Scale, Maßstabsebene oder Hierarchie, sondern von gleichzeitigem Bestehen. Dennoch wird von Deleuze und Guattari den deterritorialisierenden Kräften tendenziell eine größere Rolle zugeschrieben, und da der Kapitalismus diese erfolgreich auf sich vereint, ist der Staat – also der wiederholte Versuch, Deterritorialisierung einzuschränken – angewiesen auf die Koexistenz mit Deterritorialisierung, die er zu koordinieren versucht und durch diese Koordination gleichzeitig ausdrückt. Der Staat war zunächst diese abstrakte Einheit, die isoliert funktionierende Untereinheiten integrierte; er ist heute einem Kräftefeld untergeordnet, dessen Ströme er koordiniert und dessen Herrschaftsverhältnisse er ausdrückt (Deleuze/Guattari 1974: 283).
In dieser Formulierung kann man fast eine Staatsableitungstheorie finden, in der der Staat die Machtverhältnisse des Kapitalismus ausdrückt. In Tausend Plateaus arbeiten Deleuze und Guattari weiter an ihrem Staatskonzept. Nun definieren sie den Staat genauer als ein Gefüge, als das Ergebnis der Abstimmung und Überlagerung verschiedener Territorien, denen er Konsistenz verleiht, sie zentralisiert und aufeinander bezieht. Der Staat (…) ist ein Phänomen der Intra-Konsistenz. Er versetzt Punkte in eine gemeinsame Schwingung, die (...) ganz unterschiedliche Ordnungspunkte sind, technologische, ökonomische, moralische, sprachliche, ethnische und geographische Besonderheiten. (...) Er wirkt durch Stratifizierung, das heißt, er bildet ein hierarchisiertes und vertikales Ganzes, das quer zu den horizontalen Linien in seinem Innern verläuft (Deleuze/Guattari 1997: 600).
Tausend Plateaus widmet sich ausführlicher dem Begriff des Gefüges, also der Koordination verschiedener Territorialisierungen und Deterritorialisierungen. Hier beziehen sich Deleuze und Guattari stark auf Foucault und eine Unterscheidung von Körpern (Maschinen) auf der einen und Codes und Diskursen (Aussagen) auf der anderen Seite (ebd.: 56f.). Gefüge organisieren Territorien (ebd.: 562). Deleuze und Guattari unterscheiden dabei zwei Achsen von Gefügen, die Achse der Territorialisierung/Deterritorialisierung und die Achse, die zwischen Maschinenund Aussagegefügen verläuft. Zusammengenommen ergeben diese eine übergeordnete, „molare“ Struktur. Dem gegenüber steht eine „molekulare“ Struktur des
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Wandels. Auch das Konzept der Minderheit ist dem des Staates gegenübergesetzt, wie Watson betont: “Minority” designates not a mathematically smaller set, but rather a set of strategies and logics antithetical to the State axiomatic. The State is understood as an apparatus of organization, capture and exclusion, which stratifies, polices, codes/decodes, territorialises/deterritorialises, interiorises, counts, occupies, controls and regulates; it produces laws, feelings, identities, tools, workers and theorems (…) (Watson 2009b: 199).
Negri weist vor allem auf die deterritorialisierenden Kräfte hin, die Gefüge aufschließen und verändern. Für ihn ergeben diese Bewegungen der Deterritorialisierung die Gesellschaft – ständiger Wandel gegenüber dem Staat, der diesen im Rahmen der in ihm koordinierten Gefüge zu ordnen versucht. Die molekulare Ordnung, die vor dem Staat und insbesondere vor dem Staat des reifen Kapitalismus gesetzt ist, organisiert spontan ein molares Dispositiv und entwickelt notwendig eine Gegenmacht: eine Gesellschaft wider den Staat, oder anders und besser gesagt, das Ensemble der Subjektivitäten des Wunsches mit seinen unendlichen Differenzierungen, die sich im nomadischen Rhythmus ihrer Emergenz gegen alle festen, zentralisierenden und kastrierenden Maschinen wenden. (...) Politik wird so zum Entwurf von Mikroordnungen, zur Konstruktion von molekularen Netzen, die den Wunsch verlängern und ihn immer wieder von neuem zur Materie der Pragmatik machen (Negri 1993: 54).
Was genau ist jetzt mit diesen Gefügen gemeint? Deleuze und Guattari geben einige Anhaltspunkte, wie man eine Staatstheorie aus ihren Konzepten aufbauen kann. Der Staat wäre ein Gefüge, das wieder andere Gefüge und Territorien in sich vereint und koordiniert. Diese Gefüge/Territorien sind, wie oben aufgeführt, die Sprache (sprachliche Muster, Regeln und Veränderungen), Ethnizität und Gefühle der Zugehörigkeit (und damit Minderheiten/Mehrheiten), Moral (und damit Regeln und Abweichungen), Örtlichkeit und Bewegung (Begrenzung und Mobilität) und viele andere. Innerhalb all dieser Gefüge existieren dann sowohl Tendenzen der Deterritorialisierung und der Reterritorialisierung. Man kann auch versuchen, in jedem dieser Gefüge Regimes von Körpern und Aussagen zu unterscheiden und ihre Beziehungen aufzuzeigen. Auf diese Weise können die Konzepte von Deleuze und Guattari auch recht konkret auf gesellschaftliche Fragestellungen angewendet werden. Allerdings kann der Versuch, ein klar geordnetes Staatskonzept zu erstellen, in letzter Konsequenz von den Ambitionen Deleuze und Guattaris wegführen, eben gerade keine klar geordnete Theorie vorzulegen, sondern einen Entwurf, der im Sinne kleiner Theorie veränderbar ist und selbst Veränderungen anstößt – also z. B. in der Begegnung mit neuen Fragestellungen im Werden begriffen ist. 4. MIT DELEUZE UND GUATTARI STAAT UND RAUM DENKEN Dies versuchen z.B. Genosko und Brix (2005) am Beispiel der Kontrolle der kanadischen Inuit durch den Staat in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren. Sie beschreiben, wie der kanadische Staat jeden Inuit im Zuge der Kolonisierung des kanadischen Nordens mit einer Nummer versah. Die Inuit trugen keine für den
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Staat eindeutigen Namen, was sie damit zu schwer verortbar machte. Die Nummerierung diente dann zum einen dazu, die Inuit in das Aussage- und Codegeflecht des Staates einzuarbeiten (sie „berechenbar“ zu machen), also in das Aussagesystem zu integrieren. Zum anderen diente sie aber auch zur Kennzeichnung der Körper der Inuit als abweichend, da sie die Nummern auf Scheiben um den Hals tragen mussten, und um damit eine Kontrolle ihrer Verortung und Bewegung zu ermöglichen, also sie einzugliedern in das Regime der Körper des kanadischen Staates. Damit war auch ihr Körper gekennzeichnet und unterscheidbar von anderen Körpern, die keine solchen Kennzeichen tragen mussten, zum Beispiel jene europäisch-stämmiger Siedler. Nach der Abschaffung dieses Systems durch den Staat wurden die Nummern von manchen Inuit für ihre eigenen Zwecke verwendet – sei es als ironischer Schmuck, in Hip-Hop Songs, oder auch nur als nun selbst angebrachtes Kennzeichen ihrer Wohnung. Für Genosko und Brix ist dabei zum einen der „Urzustand“ der Inuit ein nomadischer, der dann vom Kanadischen Staat territorialisiert und in die Gefüge des Staates eingeordnet wurde, zum anderen interpretieren sie auch den spätere Umgang der Inuit mit diesen Nummern, die sie – nachdem sie offiziell abgeschafft wurden – weiter kreativ verwendeten, als deterritorialisierend. Ein anderes Thema, auf dem die Konzepte von Deleuze und Guattari wiederholt angewendet wurden, ist die EU. Deleuze selbst hat gelegentlich Entwicklungen in der EU interpretiert, wie zum Beispiel im folgenden Interview mit Negri, in dem er auch sich und Guattari als Marxisten bezeichnet. [We] think any society is defined not so much by its contradictions as by its lines of flight, it flees all over the place, and it’s very interesting to try and follow the lines of flight taking shape at some particular moment or other. Look at Europe now, for instance: western politicians have spent a great deal of effort setting it all up, the technocrats have spent a lot of effort getting uniform administration and rules, but then on the one hand there may be surprises in store in the form of upsurges of young people, of women, that become possible simply because certain restrictions are removed (with “untechnocratizable” consequences); and on the other hand it’s rather comic when one considers that this Europe has already been completely superseded before being inaugurated, superseded by movements coming from the East. These are major lines of flight (Deleuze 1990, ohne Seitenangabe).
Deleuze interpretiert also die EU als einen Versuch, ein molares Gefüge zu errichten, das selbst aber wieder Potenzialitäten und Deterritorialisierungen erzeugt, die es herausfordern. Braidotti hingegen interpretiert die EU als eine ehemals molare Einheit, die auf dem Weg ist zu einer Gemeinschaft der Minderheiten zu werden, zu einer „kleinen“ EU: “[T]he European Union marks a process of becomingminor of the masterful European subject” (Braidotti 2006: 69f). Sie begründet das damit, dass es in der EU kein eindeutiges den Standard setzendes Subjekt gibt, dass es zahlreiche Unterwanderungen der Staaten durch Minderheiten und Regionalismen gibt, und dass diese Minderheiten zusammen die EU stärker definieren als ihre molaren Merkmale. Watson (2009b), in einem Text, der sich ebenfalls mit der Minderheitenpolitik der EU befasst, sieht das skeptischer – sie unterscheidet zum einen Minderheiten, die die Rolle von Mehrheiten angenommen haben, d.h. eigene Regeln, Ordnungen und Hierarchien schaffen, und dadurch als Subgefüge
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in eine molare Einheit integrierbar werden, und zum anderen Minderheiten, die tatsächlich als Minderheiten agieren und die Ordnung der Gefüge herausfordern – seien es Jugendliche in den französischen Banlieues oder das sicherlich diskutierbare Beispiel des Kopftuchstreits in Frankreich, den sie ebenfalls als Beispiel „kleiner Politik“ interpretiert. Der Frage, wie Grenzen mit Deleuze und Guattari untersucht werden können, widme ich mich in früheren Arbeiten (2003a, 2007). Speziell geht es darum, wie die Handlungen von Akteuren grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen sich im Laufe des EU-Beitritts Polens veränderten. Dabei gehe ich davon aus, dass die jeweiligen Nationalstaaten Gefüge bilden, die durch Grenzüberschreitung in einem ersten Schritt herausgefordert werden. Im Zuge der zunehmenden Rolle der EU und der Institutionalisierung grenzüberschreitender Zusammenarbeit in den späten 1990ern und im Vorlauf des Beitritts, wurden diese grenzüberschreitenden Handlungen dann in einem zweiten Schritt integriert in ein neues übergeordnetes Gefüge. Dieses neue Gefüge besteht aus Nationalstaaten, Handlungen, die diese überschreiten, und den Mechanismen, diese zu koordinieren. Akteure in grenzüberschreitenden Initiativen bekommen dann Muster und die Möglichkeit zur Wiederholung und zur Regularisierung ihrer Tätigkeit. Nur die Negierung der Einbindung in feste Strukturen mit EU- oder nationalstaatlicher Bindung oder deren radikale Überschreitung jenseits der Regeln und Grenzen der EU kann dann noch als Deterritorialisierung betrachtet werden. Eine weitere Fortentwicklung der Konzepte von Deleuze und Guattari stellt der Entwurf von Empire (Hardt/Negri 2002, 2004) dar. Sie beziehen sich explizit auf das Wechselspiel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, das Deleuze und Guattari entwickeln, und entwerfen darauf basierend ein Konzept globaler sozialer Bewegungen. Ein wichtiger Orientierungspunkt für diesen Beitrag ist auch der Text zur Kontrollgesellschaft von Deleuze (1993). In diesem beschreibt Deleuze eine Entwicklung des Staates, in dem immer mehr deterritorialisierende Prozesse in den Staat und die Herrschaft integriert werden. Zeichnet sich der Staat im klassischen Modell des molaren Gefüges (der Disziplinargesellschaft) durch Abschließung nach außen und Einschließungsmilieus (wie Schulen oder Gefängnisse) innerhalb des Staates aus, so sieht Deleuze Kontrollgesellschaften gekennzeichnet durch „Verhältnisse permanenter Metastabilität“ und „kontinuierlicher Variation“. Der Markt, der bisher deterritorialisierende Kräfte auf sich gebunden hatte und dem Staat gegenüber stand, überträgt nun seine Mechanismen auf den Staat, der sie integriert. Grenzüberschreitung wird damit zur Pflicht, nicht mehr zur Ausnahme, Flexibilität wird zum Gebot nicht nur des Marktes, sondern auch des Staates. Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, „motiviert“ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung (Deleuze 1993: 262).
Dies stellt die Einbindung eines eigentlich deterritorialisierenden Wunsches (etwas Neues zu erlernen) in eine ordnende Struktur dar: den neoliberalen Staat, für Deleuze die Kontrollgesellschaft. Während Deleuze in diesem Text noch die Frage stellt, welche Widerstände der Kontrollgesellschaft entgegengesetzt werden
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können, versuchen Hardt/Negri, diese Frage in ihren Werken über Empire und die Multitude zu beantworten. Es ist nämlich genau diese Multitude, die durch die Kontrollgesellschaft bzw. das Empire erzeugt wurde, und die Hardt/Negri als neues revolutionäres Subjekt ausmachen. Ziel ist die „radikalste Demokratie aller Subjekte“ (Negri 1993: 62). 5. SCHLUSS Tausend Plateaus lesen, heißt sich in ein Labyrinth begeben und unbekannten Meridianen folgen (Villani 1993: 15). Man könnte sogar behaupten, dass Deleuze und Guattari sich so wenig um die Macht scheren, dass sie versucht haben, die Effekte der Macht, die mit ihrem eigenen Diskurs verbunden sind, zu neutralisieren (Foucault 1978: 230).
Ich habe versucht in diesem Text einige Anschlussfelder an die Theorien Deleuze und Guattaris darzustellen. Der Schwerpunkt der meisten Arbeiten, die Deleuze und Guattaris Theorien umsetzen, liegt bisher auch in der Geographie in der Untersuchung von Kunst, Literatur und Theorie selbst. Gerade aber in Feldern, die traditionell der Politischen Geographie zugeordnet würden, sahen Deleuze und Guattari die Möglichkeiten ihrer Konzepte. Anti-Ödipus ist der Analyse des Faschismus gewidmet und Tausend Plateaus der Untersuchung der Staatsform, also zentralen Feldern der Politischen Geographie. Wenn man die Konzepte von Deleuze und Guattari verwendet, dann verbleiben diese Themen aber nicht im Rahmen klassischer Politischer Geographie, sondern müssen aus einer Perspektive betrachtet werden, die Disziplingrenzen überschreitet. Faschismus hat dann mit Wunschproduktion zu tun, der Staat mit Aussagen und Körpern, Wiederholungen und Kopplungen. Auch die Politische Geographie selbst ist ein Gefüge, Produkt solcher dauernder Wiederholungen, und es wäre im Sinne von Deleuze und Guattari, wenn der Bezug auf ihre Werke dazu beitragen könnte, die Wiederholungen zu deterritorialisieren. LITERATUR Best, Ulrich (2003a): Deleuze and Guattari and border studies. In: Berg, Eiki/van Houtum, Henk (Hrsg.): Routing Borders Between Territories, Discourses and Practices. Aldershot: 177–190. Best, Ulrich (2003b) Die Konstitution des Sozialen bei Deleuze and Guattari. In: Gertel, Holger/ Werlen, Benno (Hrsg.): Texte zur Theorie der Sozialgeographie II. Jena: 67–77. Best, Ulrich (2007) Transgression as a Rule. German-Polish Cross-border Cooperation, Border Discourse and EU-enlargement (= Forum Politische Geographie, Bd. 3). Münster. Bonta, Mark/Protevi, John (2004) Deleuze and Geophilosophy: A Guide and Glossary. Edinburgh/New York. Braidotti, Rosi (2006) Transpositions: On Nomadic Ethics. Cambridge. Buchanan, Ian/Lambert, Gregg (2005) Introduction. In: Ebd. (Hrsg.) Deleuze and Space. Edinburgh: 1–15.
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STAAT UND RAUM IM ANSCHLUSS AN MARX Positionen in Radical Geography und Materialistischer Staatstheorie Bernd Belina
1. EINLEITUNG: DIE MATERIALITÄTEN VON STAAT UND RAUM In diesem Kapitel wird das Verhältnis von Staat und Raum im Anschluss an das Werk von Karl Marx, den von ihm und Friedrich Engels begründeten historischen Materialismus sowie dessen von David Harvey begründeter Erweiterung zum historisch-geographischen Materialismus bestimmt. Ein solches Vorhaben bedeutet, sich in mehrfacher Hinsicht in Opposition zu anderen Varianten zu positionieren, wie sie in diesem Band vorgestellt und anderswo vertreten werden. Dieser Umstand wird in diesem Kapitel insofern zugespitzt, als Anschlüsse an und Gemeinsamkeiten mit anderen Diskussionszusammenhägen nur en passant erwähnt und ansonsten aus didaktischen Gründen und zum Zweck der Konturierung die Differenzen betont werden. Die zentrale Differenz zu den allermeisten Ansätzen, die im Feld der Politischen Geographie aktuell debattiert werden, ist die Betonung der Relevanz der Materialitäten von Staat und Raum. Dabei bedeutet „Materialität“ unterschiedliches. Erstens wird in der materialistischen Staatstheorie dem Staat eine eigene Materialität zugesprochen, und zwar in dem Sinne, dass er als soziales Verhältnis und als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses“ (Poulantzas 2002[1978]: 159; Herv. i Orig.) eine eigenständige Existenz und eine gewisse organisatorische Festigkeit hat, die im steten Fluss sozialer Praxis produziert und reproduziert werden und immer nur im Verhältnis zur sozialen Praxis existieren. Diese soziale Praxis ist in etablierten Staaten selbst „materiell“, weil sie – wie Louis Althusser (1977: 137) für „die Ideologie“ formuliert hat – „immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen [existiert]. Diese Existenz ist materiell“. Diese „Materialitäten“ beziehen sich nicht auf physisch-materielle Dinglichkeit, sondern auf Institutionalisierungen, Routinisierungen, auf das in Formen gießen von individuellen und sozialen Praxen. Diese Formen werden nicht als „Struktur“ getrennt von individueller Praxis, sondern als deren wesentliches Moment verstanden, die nur in den und durch die Praxen Einzelner entstehen (vgl. Demirović 2010; Hirsch 1994).
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Zweitens bezieht sich „Materialität“ auf die physisch-materielle Dinglichkeit der res extensa. Soziale Praxis hat auch in dieser Bedeutung einen Bezug zur „Materialität“, insofern in konkreter Arbeit die physisch-materiellen Artefakte und die „Lebensmittel“ (in einem weiten Sinn) produziert werden, die stets „durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff“ (Marx 1971[1867]: 195) bleiben. Diese Materie ist im historischen Materialismus „nicht als solche in Betracht zu ziehen, sondern als gesellschaftlich und historisch für die Produktion organisierte“ (Gramsci 1991ff.: 1435). Sie ist nur relevant in ihrer in sozialer Praxis organisierten Aneignung, in der der „Natur“ Bedeutungen zugeschrieben (Smith 2006; Swyngedouw 2009) und in der „Natur“ in zunehmendem Maße auch selbst produziert wird (ebd.; Smith 1984). In eben dieser Art und Weise wird in der Radical Geography „Raum“ thematisiert, als in sozialer Praxis angeeigneter und produzierter, der zugleich physischmateriell und Träger von Bedeutungen ist. Dass der Begriff „Raum“ in der Rede über Raum notwendig nicht physisch-materiell, sondern rein ideell ist, weil die theoretische Aneignung der Welt mittels des „denkenden Kopfes“ (Marx 1969b[1859]: 633) stets nur Begriffe produziert und nie die Sache selbst, und dass „Raum“ bzw. bestimmte Räume deshalb in Diskursen unterschiedliche Bedeutungen annehmen können, gilt für alle anderen Begriffe ebenso, mithin auch für Natur, Kultur, Gesellschaft, Diskurs, den Monte Blanc und das Bluten 1 – und ganz ebenso für die weiter unten diskutierten Raumformen „Territorium“ und „Scale“, bei denen es sich um Begriffe handelt, mit denen bestimmte Typen von in sozialer Praxis produzierten physisch-materiellen und diskursiven Räumen gefasst werden. Gemeinsam ist den beiden Bedeutungen von „Materialität“, dass mit dem Begriff jeweils auf eine gewisse Dauerhaftigkeit und Stabilität des beschriebenen Verhältnisses verwiesen ist. Solche „Permanenzen“2, so David Harvey (1996), entstehen in der auf abstraktester Ebene durch wechselseitige Beziehungen konstituierten und sich stetig wandelnden Welt mit Notwendigkeit, und sie sind allesamt durch jeweils mehr oder weniger aufwändige theoretische Kritik zu „begreifen“ (also auf einen Begriff zu bringen) und durch soziale Praxis zu verändern und gegebenenfalls zu revolutionieren. Im Folgenden wird der Fokus auf der theoretischen und empirischen Be/Fassung von und mit der Relevanz dieser Materialitäten im Verhältnis von Staat und Raum liegen. Wie angedeutet, wird dabei die Rolle von Diskursen und Bedeutungszuschreibungen, die in den allermeisten in diesem Kapitel diskutierten Ansätzen und Arbeiten ihren Platz haben, eher en passant stattfinden – und das nicht weil Diskurse und Bedeutungszuschreibungen unwichtig wären. Vielmehr kommt es mir darauf an, die Differenz und den Erkenntnisgewinn zu betonen zwischen, auf der einen Seite, Radical Geography und, auf der anderen Seite, Ansät1
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Die beiden letztgenannten Beispiele verwendet Terry Eagleton (2000: 92), um dasselbe Argument zu machen: “It is not clear what it means that, say, bleeding or Mont Blanc are cultural. It is true that the concepts of bleeding and Mont Blanc, with all their rich freight of implications, are cultural; but this is a mere tautology, since what else could a concept be?” Übersetzungen fremdsprachigen Zitate: B.B.
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zen, die sich nur oder doch weitgehend auf Diskurse und Bedeutungszuschreibungen beschränken. Während in der (materialistischen) Staatstheorie die explizite Befassung mit „Raum“ und seiner Theoretisierung noch relativ jungen Datums ist – und auch keine Subdisziplin konstituiert –, liegt der Fall in der Geographie mit der Politischen Geographie deutlich anders. Zum einen wird sich hier seit dem 19. Jahrhundert explizit mit dem Verhältnis von Staat und Raum befasst (vgl. Schultz und Reuber in diesem Band), zum anderen materialisiert sich diese Praxis in einer eigenen Subdisziplin mit Fachzeitschriften, Lehrbüchern und Diskussionszusammenhängen – die allerdings stets „verdächtig konservativ“ (Taylor 2003: 47) war und „die Mächtigen mit Rezepten versorgt“ (ebd.) hat. Wie Peter Taylor vor 30 Jahren formuliert hat, ist die Konstituierung einer Subdisziplin von der Sache her kein Ziel der hier vertretenen Position: Aus der hier vertretenen materialistischen Perspektive kann es keine eigenständige politischgeographische Theorie geben, sondern nur eine politisch-geographische Perspektive innerhalb des weiteren Kontextes der politischen Ökonomie: es gibt keine Subdisziplin der Politischen Geographie (Taylor 1982: 16).
Eben hierauf verweist auch der Umstand, dass im Folgenden viele Geograph_innen zitiert werden, die gemeinhin eher mit Stadt-, Wirtschafts- oder Entwicklungsländergeographie oder mit Theoriedebatten um die Begriffe Raum, Territorium und Scale in Verbindung gebracht werden; sowie viele Politikwissenschaftler_innen, die mit „Politischer Geographie“ nichts am Hut haben. Dass der Schwerpunkt dabei gleichwohl tendenziell auf geographischen Arbeiten liegt, resultiert zum einen daraus, dass hier das Verhältnis „Staat und Raum“ häufiger explizit thematisiert wird, und zum anderen auch an meiner disziplinären Sozialisation und der damit einhergehenden Lesepraxis. Das Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: In Abschnitt 2. fasse ich zentrale Aspekte materialistischer Staatstheorie zusammen. In Abschnitt 3. entwickle ich, wie in der Debatte um die „Produktion des Raums“ die Rolle des Staates thematisiert wird und welche Relevanz die Raumformen Territorium und Scale hierbei haben. In Abschnitt 4. diskutiere ich ausgewählte Ansätze und Arbeiten, die an diese Debatten anschließen aus drei Bereichen: „Staatliche Grenzen“ (4.1.), „Reskalierungen des Staates“ (4.2.) und „Globalisierung, Neuer Imperialismus, Geoökonomie“ (4.3.). In Abschnitt 5. folgt ein Fazit. 2. STAAT: MATERIALISTISCHE STAATSTHEORIE Marx hat sein geplantes Buch zum Staat (Marx 1969b[1859]: 7) nicht mehr schreiben können, es liegen aus seiner Feder nur einzelne Texte und Textfragmente zu Staat und Politik vor. Zugleich ist seine ganze Theoriearbeit eine, die zu politischer Praxis drängt, für die eine Theorie und eine Kritik des Staates nötig sind. Denn nur wer Staat und Politik im Kapitalismus versteht, kann den Kapitalismus selbst verstehen – und ggf. überwinden. Henri Lefebvre (2009a[1964]: 54) etwa,
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zu diesem Zeitpunkt als strikter Gegner des Stalinismus bereits aus der Kommunistischen Partei ausgetreten und ein steter Kritiker ihrer Politik, fordert von Politiker_innen in der Tradition von Marx, sie sollten: „von der wissenschaftlichen Untersuchung der Realität, des Lebens und der sozialen Praxis ausgehen, um das Problem des Staates aufzuwerfen, das die Kritik des existierenden Typus des Staates beinhaltet“. Aus theoretischen ebenso wie aus politisch-praktischen Gründen begann schon kurz nach Marx’ Ableben in der von ihm begründeten Tradition des historischen Materialismus eine intensive Debatte um ein adäquates Verständnis des Staates. Für das vorliegende Kapitel muss es genügen, aus dieser reichhaltigen Literatur einleitend einige Aspekte materialistischer Staatstheorie zur Bestimmung des kapitalistischen Nationalstaates anzuführen, die von vielen, teilweise von allen an der Debatte Beteiligten, geteilte werden (vgl. als Überblick: Barrow 1993; Gerstenberger 2007; Hirsch et al. 2008; Jessop 1990). Der kapitalistische Staat ist „ein komplexes soziales Verhältnis“ (Hirsch 2005: 15; Herv. B.B.; vgl. Poulantzas 2002[1978]), das in seiner heutigen Form durch Konflikte, Kämpfe und Kriege entstanden ist. In ihm ist politische Herrschaft in einer Weise organisiert, die es ermöglicht, die widersprüchlichen, machtdurchzogenen und konfliktträchtigen gesellschaftlichen Verhältnissen zu prozessieren, die aus kapitalistischen Produktionsverhältnissen, aber auch aus rassistischen Ideologien und Praxen und hierarchisierten Verhältnissen der Geschlechter und Sexualitäten, erwachsen. Eine Voraussetzung hierfür ist die relative Trennung der Sphären kapitalistischer Akkumulation und politischer Herrschaft, die Besonderung oder relative Autonomie des Staates (Flatow/Huisken 1973; Gerstenberger 2007; Hirsch 2005). Nur so ist sichergestellt, dass politische Herrschaft nicht im Interesse Einzelner in der kapitalistischen Konkurrenz ausgeübt wird, sondern im Interesse der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Akkumulation selbst – inklusive des fundamentalen Klassengegensatzes, der zwischen den Eigentümer_innen an Produktionsmitteln und jenen, die nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, notwendig besteht. Anders als etwa der mittelalterliche oder der merkantilistische Staat beteiligt sich der kapitalistische Staat nicht selbst an der Produktion von Gütern u. dgl., um sich gesellschaftliches Mehrprodukt anzueignen, sondern überlässt dieses dem Kapital – von Marx begriffen als „bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis“ (Marx 1988[1984]: 882) – und behält Teile des so erwirtschafteten Mehrprodukts in Form von Steuern und Abgaben ein. Um diesen Aufgaben nachkommen zu können, strebt der Staat die Durchsetzung dessen an, was seit Max Weber (2005: 39) das „Monopol legitimen physischen Zwangs“ (Herv. im Orig.) oder das Gewaltmonopol genannt wird (vgl. Hirsch 2005). Zur Durchsetzung seiner Position soll es nur dem Staat erlaubt sein, Gewalt auszuüben, alle anderen Streitigkeiten werden in der Form des Rechts geregelt und damit prozessierbar gemacht (Buckel 2008; Paschukanis 1929). Dabei übernimmt der Staat die Setzung des Rechts und garantiert seine Durchsetzung. Im Recht werden alle Menschen als Rechtssubjekte individualisiert und ab-
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strakt gleich behandelt, womit von ihren unterschiedlichen sozialen Positionen abgesehen ist. Es ist tatsächlich den Reichen wie den Armen verboten unter Brücken zu schlafen, in den Straßen zu betteln, und Brot zu stehlen. So werden die bestehenden Verhältnisse auf Dauer gestellt. Wegen dieser abstrakten Gleichheit erscheint der Staat zugleich als neutral und ist doch Klassenstaat und erhält soziale Gegensätze aufrecht. All die genannten und viele weitere Dinge tut „der Staat“ nicht als abstrakter Begriff, sondern mittels der Apparate, die ihn konstituieren. Einige von ihnen – Militär, Polizei – funktionieren auf „Grundlage der Gewalt“ (Althusser 1977: 119), während andere in der Sphäre der Ideologie aktiv sind. Schulen, Wissenschaft, Medien, Kirchen u.v.a.m., die teils zum Staat i.e.S., teils zum „erweiterten Staat“ der Zivilgesellschaft gehören (vgl. Gramsci 1991ff.), sind daran beteiligt, eine kulturelle Hegemonie herzustellen. Ziel ist also die Zustimmung möglichst aller Gruppen und Individuen zu den eingerichteten Verhältnissen, auch und obschon diese von diesen Verhältnissen gerade nicht profitieren. Dass alle relevanten sozialen Kräfte die eingerichteten Verhältnisse für im Grunde sinnvoll und richtig erachten, wird in westlichen Staaten u.a. dadurch erreicht, dass sie in der einen oder anderen Weise an den Apparaten des Staates beteiligt sind. 3 Diese Einbindung bleibt aufgrund der unterschiedlichen Machtpositionen immer selektiv. Insbesondere sorgt die Abhängigkeit des Staates von Steuern und damit von erfolgreicher Kapitalakkumulation unter seiner Aufsicht zur strukturellen Bevorzugung von Kapital- über Arbeiter_inneninteressen (Demirović 1987; Jessop 1990; Poulantzas 2002[1978]). Auf den skizzierten Zusammenhang von Einbindung, Zustimmung und Gewalt zielt Antonio Gramscis (1991ff.: 783) vielzitiertes Diktum ab: „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Eine für den modernen Staat zentrale Ideologie, mit der die individualisierten, zu staatlichen und Rechtssubjekten gemachten Menschen wieder in einen – mit Produktions- und Herrschaftsverhältnissen kompatiblen – Zusammenhang gebracht werden, ist jene der Nation. Zugrunde liegt dieser „vorgestellten Gemeinschaft“ (Anderson 1988[1983]) die Annahme, dass alle ihr Angehörigen qua Geburt und/oder Bekenntnis aufgrund geteilter Geschichte, Sprache, Traditionen, Werte o. dgl. zusammengehören, dass sie mithin ein „Volk“ sind, das zusammenstehen muss. In etablierten Nationen erscheinen die Unterschiede untereinander irrelevant, weshalb „schließlich der symbolische Unterschied zwischen ‚uns’ und ‚den Fremden’ obsiegt“ (Balibar 1990: 116). Um die geteilten Annahmen und Ziele zu bezeichnen, um die herum aus diversen Apparaten, Ideologemen und Interessen ein soziales Verhältnis „Staat“ mit „einer gewissen organisatorischen Einheit und einheitlichen Zielsetzung“ (Jessop 3
Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zwischen den Staaten Westeuropas und Nordamerikas im Vergleich zu jenen z.B. Afrikas, wo die Trennung von Ökonomie und Politik nicht durchgesetzt ist, politische Macht den Schlüssel zum Reichtum darstellt und die jeweils Regierenden sich möglichst alle Apparate des Staates zu eigen machen und die im Machtkampf unterlegenen sozialen Gruppen aus dem Staat ausschließen (Gerstenberger 2013).
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1990: 353) und relativ autonom von der Sphäre der Ökonomie entsteht, hat Bob Jessop den Begriff des Staatsprojektes geprägt. Damit bezeichnet er den Zusammenhang von diskursiver Begründung und apparativer Materialisierung des Staates unter geteilten, hegemonialen Annahmen und betont die Relevanz von Diskursen zur Materialisierung des Staates. Doch nur Diskurse genügen hierfür nicht; die herrschenden Gruppen müssen den selektiv eingebundenen beherrschten Gruppen auch „materielle Zugeständnisse“ (Poulantzas 2002[1978]) machen. Viele der genannten Aspekte sind in ihrem historischen Werden ebenso wie in ihrer Gegenwart nur im Zusammenhang mit dem internationalen Staatensystem zu verstehen, in dem Staaten um Reichtum und Macht konkurrieren (Harvey 2005[2003]; ten Brink 2008, 2011), und in dem sich in prä-kapitalistischer Zeit auch die Territorialität des Staates als seine Raumform ausgebildet hat (Gerstenberger 2013). Aus den genannten Aspekten folgt die eingangs betonte „Materialität“ des Staates, also seine relative organisatorische Stabilität – die stets relativ ist im Verhältnis zu den sozialen Praxen, in denen und durch die sie produziert und reproduziert wird. Im Verhältnis „Staat und Raum“ stellt diese Materialität den „Beitrag“ der materialistischen Staatstheorie dar. Wie in der Politikwissenschaft insgesamt (Agnew 1994) wurde dabei aber eine andere „Materialität“ des Nationalstaates, seine territoriale Form, lange Zeit als gegeben angenommen und für nicht erklärungswürdig gehalten (vgl. die Einleitung dieses Bandes). Dies hat sich erst in der jüngeren Vergangenheit, insbesondere in Folge der Debatten um Globalisierung und Neuen Imperialismus, und häufig mit Bezug auf Arbeiten aus der Radical Geography, geändert (vgl. Gerstenberger 2007; Hirsch 1998, 2005; Hirsch/Kannankulam 2011; Wissel 2007; Wissen 2011). 3. RAUM: SOZIALES PRODUKT, TERRITORIUM, SCALE Angestoßen vor allem von den Arbeiten Henri Lefebvres (1972[1970], 1974) und David Harveys (1973) wird in der Radical Geography seit den 1970er Jahren unter dem Label „Produktion des Raums“ diskutiert, dass und wie Raum in physisch-materieller und in symbolischer Hinsicht in gesellschaftlichen Praxen und Prozessen und durch diese hergestellt wird (vgl. Belina/Michel 2007). Auch die gängige Vorstellung von Raum als abstraktem Raum, als leer, fix, mess- und aufteilbar ist nicht ohne Bezug zu hegemonialen sozialen Verhältnissen zu verstehen (Harvey 2007[1990]; Lefebvre 1974). Verschiedene Autor_innen haben diesbezüglich unterschiedliche Aspekte betont: David Harvey (1989a, 1989b), Henri Lefebvre (1974), Nicos Poulantzas (2002[1978]) und Neil Smith (1984) insbesondere die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, Doreen Massey (1994) die Geschlechterverhältnisse und Gearóid Ó Tuathail (1996) den Kolonialismus. Dabei sind sich alle dahingehend einig, dass für die praktische Durchsetzung des abstrakten Raums der Staat zentral ist. Einen Bezugspunkt liefert die Thematisierung des Raums bei Lefebvre. Lefebvre hat sich in aufeinander aufbauenden Phasen mit „Raum“ befasst, zunächst im Zusammenhang mit Stadt und
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Urbanisierung (1972[1970]), dann als „Produktion des Raums“ (1974), schließlich in Bezug auf den (kapitalistischen) Staat (2009[1978]). Im Folgenden skizziere ich einige Aspekte von Lefebvres Ausführungen zu (abstraktem) Raum, Kapitalismus und Staat, die, nicht zuletzt wegen der Offenheit (und mitunter Ungenauigkeit) Lefebvres, für viele an Marx orientierte Autor_innen anschlussfähig sind. Lefebvre schreibt, dass der Kapitalismus den abstrakten Raum produziert [hat], der weltweit die „Welt der Ware“, ihre „Logik“ und ihre Strategien enthält und zugleich die Macht des Geldes und die des Staates (1974: 65),
dass der abstrakte Raum also Produkt des Zusammenspiels von Kapitalismus und Staat ist. Denn „der Raum des Eigentums kann nicht errichtet werden ohne sein Korrelat: Staatsraum, der mit ihm zusammenhängt und ihn unterstützt“ (Lefebvre 2009c[1978]: 249). Innerhalb dieses Zusammenhangs fallen dem „Staatsraum“ vor allem zwei Aufgaben zu: Gewalt und Koordination. Erstens heißt es zur Entstehung des für den Kapitalismus grundlegenden abstrakten Raums: „Produkt der Gewalt und des Krieges, ist er politisch und wird von einem Staat eingeführt, also institutionell“ (Lefebvre 1974: 328). An anderer Stelle schreibt Lefebvre zum „politischen Raum“, offensichtlich mit Bezug auf das in Abschnitt 2. angesprochene Verhältnis von Individualisierung und Nationalisierung der Menschen auf Basis der Gewalt im und durch den Staat: Gewalt ist dem politischen Raum inhärent, nicht nur als Ausdruck des (politischen) Willens zur Macht, sondern wegen eines permanenten Regimes des Terrors, das trennt, was sich vereinen will (von den Geschlechtern bis zu den Völkern), und verschmilzt, was differenziert ist (Lefebvre 2009b[1973]: 203).
Auf dieser Basis übernehmen staatliche Apparate zweitens die Aufgabe der Koordinierung der Partikularinteressen, erneut mittels Raum: Staatliches Handeln ist damit nicht auf das Management des sozialen und „privaten“ Lebens von Millionen von Menschen (die „Bürger“, die politischen „Subjekte“) mit institutionellen und administrativen Mitteln beschränkt. Es schreitet in indirekterer aber nicht weniger effektiver Weise fort, indem es sich dieses privilegierten Instrument zu Nutzen macht – Raum (Lefebvre 2009c[1978]: 240).
Zu der Art des Raums, die auf Basis des abstrakten Raums im Kapitalismus herrscht, formuliert er schließlich in seiner unnachahmlichen, vielleicht tiefgründig dialektischen, vielleicht aber auch einfach nur wirren Art: Also kommt aus der Erde der soziale Raum hervor, erstellt nach einer eigensinnig verfolgten „Intellektualisierung“, bis hin zum abstrakter Raum (geometrisch, visuell, phallisch), der über die Räumlichkeit hinausgeht, indem er zur Produktion eines politischen „Milieus“ wird, das homogen und pathogen ist, aberwitzig und normiert, das Zwang und Rationalität beinhaltet: das „Milieu“ des Staates, der Macht, der Strategie4 (Lefebvre 1974: 434). 4
Im Original lautet der Satz: «Ainsi émergea de la terre l’espace social, érigé selon une «intellectualisation» obstinément poursuivie, jusqu’à la construction de l’espace abstrait (géométrique, visuel, phallique) qui outrepasse la spatialité en devenant production d’un «milieu» politique homogène et pathogène, aberrant et normé, coercitif et rationalisé: le «milieu» de l’État, du pouvoir, de la stratégie».
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In immer neuen Formulierungen beschreibt er diesen Raum als zugleich homogen, gebrochen und hierarchisch (vgl. Lefebvre 2009c[1978]: 243), woraus seine Tauglichkeit als Herrschaftsmittel ebenso folgt wie jene als Ort und Mittel der Revolte (vgl. ebd.: 247–251). Stuart Elden (2009, 2010) argumentiert, dass die praktische Durchsetzung des abstrakten Raums, also dieser in (staatlicher) Praxis geschaffenen Denkweise, die Voraussetzung des Territoriums ist. Dieses bestimmt er als: „politische[n] und juristische[n] Begriff, der die Beziehung zwischen Souveränität, Land und Menschen bezeichnet“ (2009: xxvi); sowie als „politische Technologie“, mittels derer Macht über den Inhalt eines begrenzten Raums ausgeübt wird: Territorium (…) ist das Übersetzen eines [mit der Moderne; B.B.] aufkommenden Konzeptes von „Raum“ in eine politische Strategie, in der er in Besitz genommen, verteilt, kartiert, berechnet, begrenzt und beherrscht wird (Elden 2010: 810).
Damit ergänzt Elden m.E. die Literatur zu „Territorium“ einerseits in entscheidender Weise um den Aspekt des „Wie“ seiner Herstellung und Funktionsweise, beschneidet andererseits aber unnötig die in der Geographie weit verbreitete Bestimmungen von Territorialität und Territorium, wie sie von Robert Sack (1983) vorgeschlagen wurde. Sack (ebd.: 56) bestimmt Territorialität als: den Versuch eines Individuums oder einer Gruppe (x) durch Abgrenzung eines geographischen Raums sowie die Inanspruchnahme der Kontrolle über ihn, Objekte, Personen und Beziehungen (y) zu beeinflussen, auf sie einzuwirken oder sie zu kontrollieren.
Zentral ist bei dieser Definition, dass Territorialität als Prozess und als Strategie zum Zweck der Kontrolle von (y) mittels Abgrenzung eines Gebietes verstanden wird, des Territoriums. Letzteres ist als räumliche Form das Resultat des Territorialisierungsprozesses. Nach Sack gibt es Territorialität und Territorien auf allen räumlichen Maßstabsebenen, „vom Zimmer bis zum Nationalstaat“ (ebd.). Sacks abstrakte und von der Raumform „Territorium“ ausgehende Bestimmung muss um den wesentlichen Hinweis ergänzt werden, dass Territorialisierung nie ohne konkreten (gesellschaftlichen) Inhalt stattfindet und deshalb als Begriff nur im Kontext von Gesellschaftstheorie relevant wird. Während diese bei Sack zu seiner Theorie der Territorialität additiv hinzukommen – er schlägt die „Machttheorien“ von Weber und Marx vor –, geht etwa Kevin Cox (2002) von der Marx’schen Theorie oder John Agnew von einem „geo-soziologischem Ansatz“ (2009: 101) aus, der der hier vertretenen materialistischen (Staats-)Theorie nahe steht. Alle zu „Territorium“ genannten und in Abschnitt 4. zu nennenden Autor_innen eint, dass sie diese Raumform als eine Möglichkeit der Raumproduktion verstehen, die im Territorialstaat seinen wichtigsten Ausdruck findet, dass aber sowohl der Staat als auch andere Akteuren immer auch andere Formen der Raumproduktion nutzen (vgl. ausführlicher Belina 2011a). Während Sack (1983) diese als „nicht-territorial“ zusammenfasst, nennt Agnew (2009) drei „räumliche Modalitäten“: Territorium, räumliche Interaktion und Place. Das skizzierte Verständnis von Territorium liegt auch dem Vorschlag von Bob Jessop, Neil Brenner und Martin Jones (2008) und dessen Weiterentwicklung bei Martin, Jones und Jessop (2010) zugrunde. Auch sie verstehen Territorium als
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„Produkte von Abgrenzungsstrategien“ (Jessop et al. 2008: 396) sowie Territorialisierung als eine von vier zentralen Dimensionen sozialräumlicher Relationen, die sie als strukturierende Prinzipien von Gesellschaft identifizieren. Als weitere Dimensionen nennen sie Scale, Place und Netzwerk. Die vier Dimensionen kommen in sozialen Praxen häufig gemeinsam und in Überschneidungen vor, was zu Inkompatibilitätsproblemen führen kann (Jones/Jessop 2010). Dabei betonen auch sie, dass: die Dimensionen so zu behandeln, als existierten sie außerhalb ihrer Produktion in und durch gesellschaftliches Handeln, das Risiko bedeutet, in neue Formen des Strukturalismus, Funktionalismus oder sozialräumlichen Fetischismus zu verfallen (Jessop et al. 2008: 396).
Territorien sind nicht einfach so, könnte man dies reformulieren, sondern Territorien werden gemacht. Das Begriffspaar Territorialisierung und Territorium ist für ein Verständnis des Verhältnisses von Staat und Raum zentral. Arbeiten zur Bedeutung territorialer Grenzen werden in Abschnitt 4.1. diskutiert, zu neuen Grenzziehungen auf subnationaler Ebene in Abschnitt 4.2. und zum Verhältnis von Territorialstaat und globaler Machtausübung ohne Territorialisierungsstrategien in Abschnitt 4.3. Ebenfalls eine zentrale Rolle in materialistischen Debatten um Staat und Raum spielt die bei Jessop, Brenner und Jones (2008) bereits genannte Raumform der räumlichen Maßstabsebene bzw. Scale. Die Debatte um Scales beginnt, unter Bezugnahme auf frühere Vorarbeiten (Smith 1984¸ Taylor 1982), in den 1990er Jahren, um die Phänomene „Globalisierung“ und „Regionalisierung“ (verstanden als subnationale Territorialisierung in Ökonomie und Politik) zusammenzubringen (Swyngedouw 1992). Seither werden auch Scales als sozial produziert verstanden. Sie sind gleichermaßen diskursiv – im Sinne der Rede von bestimmten Scales wie dem „Globalen“ oder der „Globalisierung“ – und praktisch-sozial – im Sinne ihrer praktischen Realisierung, wenn etwa ökonomische Prozesse in der Praxis tatsächlich auf globaler Ebene stattfinden und diese damit schaffen. Scales existieren in diesem Sinn materiell, weil und insofern in ihnen und mittels ihrer soziale Prozesse stattfinden. Sie existieren also nicht als „das Globale“ oder „die Region“, sondern immer nur in Abhängigkeit und als Resultat von konkreten Prozessen, die dann in einem „globalen Finanzmarkt“ oder einer „regionalen Strukturpolitik“ münden können. Deshalb kann Scale – wie auch Raum und Territorium – „niemals der Ausgangspunkt sozialräumlicher Theorie sein“ (Swyngedouw 1997: 141). Scale ist vielmehr „immer ein Resultat und Ergebnis des sich ständig in Bewegung befindlichen Flusses sozialräumlicher Dynamik“ (ebd.: 140f.). Zwischen den auf diese Weise geschaffenen Scales bestehen organisatorische, strategische, diskursive und symbolische Beziehungen. Scales sind deshalb nicht in Isolation, sondern in skalaren Verhältnissen zu betrachten (Brenner 2001: 600; vgl. bereits Taylor 1982). Zwei Leistungen der Raumform Scale werden in der Literatur besonders betont. Erstens materialisieren sich in Scales und skalaren Arrangements Kompromisse, weshalb sie als
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Bernd Belina räumliche Lösung sich widerstrebender Kräfte gedacht werden; insbesondere zwischen den widerstreitenden Kräften von Konkurrenz und Kooperation (Smith 1995: 61; vgl. Swyngedouw 1997).
Zweitens können sie – gerade weil sie das Ergebnis vorheriger Auseinandersetzungen und Kämpfe sind – als Mittel in ebensolchen eingesetzt werden. Akteure können Politics of Scale bzw. Scale Jumping (Smith 1990; Swyngedouw 1997) betreiben, indem sie versuchen, Praxen auf einer anderen räumlichen Maßstabsebene stattfinden zu lassen als bisher, weil sie sich dort bessere Chancen auf Durchsetzung ihrer Interessen versprechen. So plädiert z.B. das Kapital regelmäßig für Lohnaushandlungen auf möglichst kleinräumiger Scale, am besten auf Ebene des Einzelbetriebs, während Arbeiter_innen nur davon profitieren können, wenn sie auf großflächigerer Scale stattfinden (Heeg 2008; Herod 2007[1997]). Die in diesem Abschnitt skizzierten Begriffe von Raum als sozialem Produkt, abstraktem Raum als Produkt von Kapitalismus und modernem Staat sowie jene von Territorium und Scale als Strategien sind zwar nicht die einzigen, die bei der Untersuchung von Praxis, Organisation und Veränderung des Staates und seiner Apparate zur Anwendung kommen, aber sie können doch als zentral bezeichnet werden. Der „Beitrag“ der Radical Geography im materialistisch gefassten Verhältnis von „Staat und Raum“ besteht also darin, herausgearbeitet zu haben, dass „Raum“ in seinen verschiedenen Formen keine Konstante und schon gar keine Determinante von Staat und Politik ist, sondern dass umgekehrt diese Vorstellungen selbst Aspekte seiner sozialen Produktion sind; und dass der produzierte Raum auch als physisch-materieller zu begreifen ist, dessen Materialität immer nur als Produkt, Mittel und Terrain sozialer Praxis relevant ist. 4. STAAT UND RAUM: ANSÄTZE, THEMEN, ARBEITEN Im Folgenden diskutiere ich verschiedene aktuelle Ansätze, Themen und Arbeiten, in denen das Verhältnis von „Staat und Raum“ zentral ist und die auf unterschiedlichen Aspekten der in den Abschnitten 2. und 3. skizzierten Theoretisierung von „Staat“ in der materialistischen Staatstheorie und „Raum“ in der Radical Geography aufbauen. Die Auswahl erfolgte zum einen entlang dreier Themen, in denen m.E. die Verbindung der in den Abschnitten 2. und 3. diskutierten Positionen besonders produktiv ist (was sich u.a. in zahlreichen Arbeiten aus Geographie und Politikwissenschaft gleichermaßen niederschlägt). Zum anderen spielt bei der Auswahl auch meine notwendig selektive Lektürepraxis eine Rolle. Dasselbe gilt für die Auswahl diskutierter Arbeiten innerhalb der drei Themenfelder, die zugleich auch jeweils einer Argumentation folgt, die die Relevanz der eingangs diskutierten „Materialitäten“ untermauern soll.
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4.1. Staatliche Grenzen – Territorialisierungen und Reskalierungen Territoriale Grenzen5 sind das Mittel, um Territorien herzustellen und mittels Territorialisierung Macht auszuüben. Aufgrund der langen Geschichte der Grenzforschung in der Politischen Geographie und der Untiefen, in die diese sich immer wieder begeben hat (vgl. Schultz in diesem Band), wurden hier seit den 1990er Jahren Ansätze und Theorieangebote relevant, die vor allem auf Diskurse über und Bedeutungen von Grenzen abzielen. Die Materialität territorialer Grenzen geriet dabei zunehmend aus dem Fokus. Erst in jüngerer Zeit ist ein Revival der Beforschung territorialer Grenze festzustellen, jetzt begriffen als soziales Produkt, Mittel und Strategie und unter Einbeziehung ihrer diskursiven Aspekte. Anssi Paasi (2005: 669), seit vielen Jahren einer der bedeutendsten Grenzforscher, erinnert hieran, wenn er schreibt: Grenzen sind einfach ein Teil der materiellen und diskursiven Praktiken/Prozesse, mittels derer die Territorialitäten von „Gesellschaften“ produziert und reproduziert werden, und hierbei ist der Staat nach wie vor in einer entscheidenden Position.
In dieser re-materialisierten Grenzforschung sind wichtige Themen im Bereich „Staat und Raum“ die anhaltende und sich verändernde Bedeutung territorialer Staatsgrenzen und das Verhältnis territorialer und ex-territorialer staatlicher Praxis in Bezug auf Migrationsregime, illegalisierte Grenzübertritte und „Sicherheit“. Neben verschiedenen Varianten materialistischer Staatstheorie stellt dabei insbesondere auch die Securitization-Literatur einen wichtigen Bezugspunkt dar. Hier wird argumentiert, dass Phänomene, indem sie als „Sicherheitsproblem“ dargestellt, mithin „versicherheitlicht“ werden, als rein technische Probleme verhandelbar, entpolitisiert und tendenziell außerhalb geltenden Rechts abgewickelt werden (vgl. Neocleous 2008). Peter Andreas (2003) kommt bezüglich Grenzkontrollen in den USA und der EU zu dem Ergebnis, dass territoriale Kontrolle rekonfiguriert wird, wobei sie in einigen Politikfeldern an Bedeutung verliert (z.B. Abschreckung militärischer Invasion anderer Staaten oder Handelsbesteuerung), während sie in anderen an solcher gewinnt (z.B. dem Polizieren 6 von klandestinen transnationalen Akteuren) (ebd.: 108).
Unter letzteren fasst er illegalisierte Migrant_innen, Schmuggler_innen und andere Gruppen, die unbemerkt von staatlicher Kontrolle die Grenze überqueren wollen. Das Ziel, ihren Zutritt zum Territorium zu verhindern, wird dabei an der Grenze ebenso wie vor ihr verfolgt. Zugleich stellt er an den untersuchten Gren-
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Die klassische Aussage des Soziologen Georg Simmel, nach der die territoriale Grenze „nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen [ist], sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 2006[1908]: 23), erinnert daran, dass es nie um die Grenze als räumliches Phänomen geht, sondern immer um ihre Funktion/en. Mit „polizieren“ wird in der Kriminologie und anderswo zunehmend der englische Begriff „policing“ übersetzt, mit dem üblicherweise jede Form des Ausübens von Kontrolle sowohl durch die staatliche Polizei als auch durch andere Kontrollinstitutionen bezeichnet wird.
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zen fest, dass ihre Kontrolle selektiver wird und „erwünschte“ Grenzüberquerungen mit rechtlichen und technischen Mitteln erleichtert werden. Mit dem Konflikt zwischen solchen Erleichterungen und den im Namen der Sicherheit betriebenen Kontrollverschärfungen befasst sich Matthew Coleman (2005) am Fall der Grenze USA-Mexiko. Konkret am Widerspruch von Freihandel und Post 9/11-„Sicherheit“ arbeitet er heraus, dass die Grenze einen „Nexus von Sicherheit/Ökonomie bestehend aus relativ inkohärenten Praktiken“ (ebd.: 189) darstellt, der bestimmt wird durch „ungleiche Sicherheits- und neoliberale Ansätze [und] US-amerikanische geopolitische und geoökonomische Praktiken“7 (ebd.: 200). Die Grenze sei im Sinne Jessops (1990) „im Wortsinn ein strategisches Terrain, auf dem entgegengesetzte Staatsprojekte aufeinanderstoßen“ (Coleman 2005: 200). Auch Deborah Cowen und Neil Smith (2009) thematisieren die „in vielerlei Hinsicht konfligierenden Projekte von nationaler Sicherheit und globalem Handel“ (ebd.: 32), die sich nirgendwo deutlicher zeigen als in Containerhäfen. Anhand dieses und anderer Beispiele betonen sie, dass Handelsströme „auf Geheiß nationaler territorialer Macht kanalisiert und überformt werden“ (ebd.: 35) und schließen, dass „eine komplexe Rekonfiguration des nationalen Territoriums [zu] erkennen“ (ebd.) ist, in der der materielle Raum der nationalen Grenze verlagert [z.B. in Containerhäfen anderer Staaten, die Kontrollen nach US-Vorschriften durchführen müssen, damit dort ablegende Schiffe in den USA anlegen dürfen; B.B.] und durch Sicherheitspolitiken überarbeitet [werden] (ebd.). Dass bei solchen Aushandlungen auf Basis materialistischer Theorie auch Akteure untersucht werden können, die auf den ersten Blick weniger relevant erscheinen, zeigen Mark Purcell und Joseph Nevins (2005) anhand der Rolle von Anti-Immigrationsgruppen sowie der lokalen und einzelstaatlichen Scale bei der Herausbildung des Grenzregimes im Süden der USA. Dabei legen sie den Fokus auf Fragen der Legitimität und des Bürger_innen-Staat-Verhältnisses. Die tatsächliche Praxis der territorialen Grenze lasse sich erst verstehen auf Basis der komplexen Interaktionen zwischen staatlichen Akteuren und BürgerInnen-Gruppen, die ein Set an tiefliegenden Sorgen bezüglich der ethnisch-kulturellen, sozio-ökonomischen und biopolitischen Sicherheit der Nation produzieren, die alle aufgrund ihrer unmittelbaren Beziehung zu einem bestimmten Territorium an sich geographisch sind (ebd.: 213).
Mit Bezug auf Abschnitt 2. kann man formulieren, dass es hier darum geht, dass und wie die Vorstellungen, die „normale Leute“ von „Nation“ und „Sicherheit“ haben, in die Materialität der Grenze selektiv (Pro-Immigrationsgruppen haben weniger Einfluss) eingehen. Sonja Buckel und Jens Wissel (2009) befassen sich, ausgehend von materialistischer Staatstheorie, mit der Reskalierung von Staatlichkeit in Europa durch die Europäisierung der Migrationskontrolle. Sie argumentieren, dass die EU erst durch die Vereinheitlichung der Migrationskontrolle und die Konstruktion eines 7
Vgl. zur Begrifflichkeit „geoökonomisch“ und „geopolitisch“ Smith (2005) sowie Abschnitt 4.3.
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„genuin europäische[n] Einschluss-Ausschlussverhältnisses“ (ebd.: 390) eine eigene Territorialität entwickelt. Zudem zeigen sie, wie im Recht die Staatsangehörigkeit von Migrant_innen als erster „Risikofaktor“ fungiert, aufgrund dessen Bürger_innen von Staaten, die sich auf der „Negativliste“ finden, bei der Gewährung stratifizierter Rechtspositionen besonders schlecht abschneiden (ebd.: 381f.). In ähnlicher Weise diskutiere ich gemeinsam mit Judith Miggelbrink (2010) die EU als Territorialisierung- und Reskalierungsstrategie, mittels derer Weltmarkterfolge erzielt werden sollen und wegen derer Homogenisierungen im Inneren und Verstärkungen der Differenzen zu den Nachbarn im Osten vorangetrieben werden. Wir argumentieren, dass sich dies in einer Reorganisierung der territorialen Staatsgrenzen, aus denen EU-Außengrenzen wurden, niederschlägt, wodurch existierende nationale und lokale Grenzregime verschärft werden. An anderer Stelle diskutiere ich im selben Zusammenhang, dass und wie durch diese selektiven Grenzregime neue „Räume des Risikos“ produziert und die östlichen Nachbarn in eine Hierarchie der Vertrauenswürdigkeit gebracht werden (Belina 2010). Während in den genannten Arbeiten die top-down Vereinheitlichung territorialer Grenzen im Sinne des Ausgleichs v.a. zwischen Freihandel und „Sicherheit“ im Zentrum steht, befasst sich die Transit Migration Forschungsgruppe (2007) mit dem Einfluss der Praxen der Migration auf das Grenzregime der EU. Auf der Basis des Begriffes der „Autonomie der Migration“ stellen diese Arbeiten eine wichtige theoretische und politische Intervention aus der Kritischen Migrationsforschung dar. Mit „Autonomie der Migration“ ist gemeint, dass Migration ein Moment der Selbstständigkeit gegenüber politischen Maßnahmen besitzt, die sie zu kontrollieren beabsichtigen (Andrijasevic et al. 2005: 347).
Zu ihrer Untersuchung wird der Blick auf die Praxen von Migrant_innen gerichtet, und Grenze wird verstanden „als Praxis sowie als in der und durch die Praxis gerinnende Realität“ (Hess/Tsianos 2010: 255) und deshalb als dynamisches Konflikt- und Aushandlungsverhältnis unterschiedlichster lokaler, regionaler, nationaler und über- bzw. transnationaler Akteure (ebd.: 248).
Dabei sei die Realität der Grenze „immer nur ‚konkret’, in ihren verschiedenen Lokalisierungen und Schauplätzen (…) zu ergründen“ (ebd.: 255). Gezeigt wird, wie eine Geographie von Migrationsrouten bereits eine beachtliche Definitionskraft über das Grenzregime etabliert hat. Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet, ist die Regierung der Migration selbst ein Effekt der Bewegungen und Widerstände der Migration (Andrijasevic et al. 2005: 360).
D.h. nicht (nur) Staaten und ihre Apparate auf verschiedenen Scales formen die Migration, sondern Migration formt (auch) die Praxis und Realität von Staaten und Staatsapparaten. Dies wiederum schlägt sich nieder in der Territorialität und der Skalarität der Staaten und der EU. Mit Bezug zur Scale-Debatte stellt Sabine Hess (2010: 194) fest, dass das europäische Grenzregime in Reaktion auf die Praktiken der Migration eine massive Fragmentierung und Zonierung des einst im rechtspolitischen Sinne homogenen nationalen Territoriums forciert. Es produziert hierzu quer liegende Gebilde und Rechts-Subjekte sowie
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Bernd Belina höchst prekarisierte Zonen verminderter Souveränität, in denen postliberale, quasi refeudale Zustände und Ausbeutungsverhältnisse herrschen.
Hier wird also eine Reskalierung der EU als Reaktion auf (die räumliche Praxis der) Migration konstatiert, die zu Verschiebungen in der Materialität des sozialen Verhältnisses Staat führt.8 Die in diesem Abschnitt diskutierten Arbeiten betonen bei unterschiedlichen Schwerpunkten und Herangehensweisen alle, dass die territorialen Grenzen des Staates bzw. der EU relevant bleiben. Sie betonen aber auch, dass sich ihre Herstellung und Kontrolle, mithin die Art und Weise der Territorialisierung, als Reaktion auf ökonomische Anforderungen (nach selektivem Zugang zum Territorium), auf Sicherheits- bzw. Versicherheitlichungsdiskurse, auf kulturelle Hegemonien und schließlich auf die Autonomie der Migration verändern. Dies schlägt sich nieder in Reskalierungen und Ex-Territorialisierungen, die die mittels Grenze bzw. Territorialisierung verfolgten Ziele in unterschiedlicher Weise ergänzen, verstärken oder auch konterkarieren. Dieses komplexe Geflecht von Strategien und Praxen lässt sich, so die hier vertretene Position, am besten verstehen unter Berücksichtigung der Materialitäten sowohl des Staates als sozialem Verhältnis als auch des Staatsterritoriums als relativ stabilem Ergebnis, Mittel und Terrain von Strategien, denn nur so werden die tatsächlichen Kämpfe und Kräfteverhältnisse erfasst, die bei einer ausschließlichen Betrachtung von Diskursen über Grenze nur in partieller und verzerrter Form aufscheinen. 4.2. Reskalierungen des Staates Der Begriff Scale wurde im Zuge von Debatten um Globalisierung und subnationale Regionalisierungen prominent. Während „Globalisierung“ in Abschnitt 4.3. thematisiert wird, diskutiere ich hier Arbeiten, die sich mit der Re-Skalierung des Staates befasst haben, zu denen auch politische Regionalisierungen zählen. In seinem Vorschlag einer politisch-geographischen Perspektive innerhalb des weiteren Kontextes der politischen Ökonomie bestimmt Peter J. Taylor (1982) zunächst, dass „das Politische“ in Form des besonderten Staates des Kapitalismus ihr Gegenstand sei. Darauf aufbauend schlägt er vor, die Bedeutung der globalen, nationalen und lokalen Scale aus der Art und Weise zu erklären, in der sie in kapitalistischer Produktion unter Aufsicht dieses relativ autonomen Staates tatsächlich relevant werden: als Weltmarkt, als „Nation“ und als Ort des alltäglichen Lebens. Die Existenz der zu diesem Zeitpunkt in westlichen Industrienationen noch recht stabilen Scales des Staates wird hier also als Resultat sozialer Praxen erklärt. Damit war die theoretische Grundlage geschaffen, um ihre Veränderung in den folgenden Jahrzehnten unter Bezug auf die Materialität des Staates und jene seines Territoriums als Mittel und Resultat sozialer Praxen zu untersuchen, ohne dabei vorschnell das Ende des Nationalstaates auszurufen, nur weil im Kontext der Glo8
Die Entdemokratisierung mittels Reskalierung betont auch Erik Swyngedouw (1996, 2000) in anderen Kontexten.
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balisierung der Ökonomie Staat und Politik nicht mehr primär auf der Scale des nationalen Territorium stattfinden. So argumentiert Taylor etwa in einem späteren Aufsatz, dass die historisch gewordene Territorialität des Staates, dessen „Container“ sukzessive mit politischer Herrschaft, kapitalistischer Reichtumsproduktion, nationaler Kultur und schließlich dem Sozialen i.S. des Wohlfahrtsstaates „gefüllt“ wurde, entgegen anderslautender Einwürfe bis auf Weiteres bestehen bleiben wird – einfach weil die Effektivität von Territorialität zu offensichtlich ist und der Container zu voll ist, um den Niedergang des Staates nicht zu einer langfristigen Angelegenheit zu machen (Taylor 1994: 157).
Eine Antwort auf die Herausforderungen an den Territorialstaat sieht er in seiner Reskalierung, etwa im Zusammenschluss zu transnationalen Wirtschaftsblöcken oder in dem Zugeständnis regionaler Autonomie an separatistische Bewegungen. Um zu beschreiben, wie ökonomische Globalisierung und die neue Bedeutung der lokalen bzw. regionalen Ebene zusammenhängen, hat Erik Swyngedouw (1992) in der geographischen Debatte den Begriff der Glocalisation geprägt. Angesichts eines zunehmend als räumlich mobil wahrgenommenen Kapitals sehen sich Städte und Regionen zueinander in einer Konkurrenz um Investitionen, die sie ihre jeweiligen Besonderheiten als Standorte hervorkehren lässt. Diese Entfesselung interurbaner und -regionaler Konkurrenz und die daraus resultierenden unternehmerischen bzw. neoliberalen (Standort-)Politiken auf lokaler und regionaler Ebene werden allgemein als ein zentrales Merkmal des Verhältnisses von Staat und Raum nach dem Ende des Fordismus und seit den 1980er und 90er Jahren begriffen (vgl. Harvey 1989a; Heeg/Rosol 2007; Schipper 2013; Smith 1996). Wie diese Veränderung als Reaktion auf krisenhafte Entwicklungen in westeuropäischen Staaten zwischen 1960 und 2000 aktiv herbeigeführt wurde, untersucht Neil Brenner (2004a, 2004b). Er begreift die sich wandelnde Geographie staatlicher Räumlichkeit als „Annahme, Arena und Resultat sich kontinuierlich wandelnder sozialer Verhältnisse“ (2004b: 451), die durch Territorialisierungsund Skalierungsprozesse gekennzeichnet ist. In Erweiterung von Jessops (1990) Begriff des Staatsprojektes rekonstruiert er Staatsraumprojekte, also Diskurse und Institutionalisierungen mit Bezug auf die territoriale und skalare Struktur des Staates, sowie Staatsraumstrategien, womit er materielle Praktiken und konkrete Politiken mit Auswirkungen auf die räumliche Struktur des Staates bezeichnet. Staatliche Politik produziert dabei sowohl im engeren Sinn – in Rechtssetzung, Staatsaufbau und Raumpolitiken – als auch in einem integralen, d.h. indirekten Sinn, räumliche Ungleichheiten, Territorialisierungen und Skalierungen.9 Aus einer Untersuchung solcher Politiken in westeuropäischen Staaten rekonstruiert Brenner vier Phasen unterschiedlicher Staatsraumprojekte. In Anlehnung an Swyngedouw (1992) bezeichnet er die letzte, in den 1990er Jahren beginnende, 9
So ist etwa Agrarpolitik immer auch Politik des ländlichen Raums oder Sozialpolitik immer auch eine, die Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen prosperierenden und strukturschwachen Gegenden hat.
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als eine der Glocalisation Strategies, während der ein Bedeutungsgewinn der regionalen Ebene als Planungs- und politischer Einheit festzustellen ist. Detaillierter befassen sich mit Debatten und Politiken in Bezug auf die räumliche Struktur der BRD Susanne Heeg (2001) sowie Wolfgang Müller und Detlev Sträter (2008). Beide Arbeiten sind in Bezug auf den Bedeutungsgewinn der regionalen Ebene vorsichtiger und sehen keine so weitgehende Abkehr vom „Ausgleichsziel“ wie Brenner. So betont Heeg (2001: 323), die selektive Abgabe von politischen Kompetenzen an sub- und supranationale Ebenen; teilweise kommt es zur Ausformung neuer Aufgaben des Bundes. Möglicherweise spielt Brenner (2004a, 2004b) hier ungewollt der New Regionalism-Debatte in die Hände, die in affirmativer, Politik beratender Literatur herausstellt, dass die Region als Wettbewerbseinheit in globaler Konkurrenz ökonomische Realität sei und deshalb als Scale des Staates ausgebaut werden müsse. So heißt es etwa über Global City Regions, dass diese zunehmend als essentielle räumliche Knoten der Weltwirtschaft und als unverwechselbare politische Akteure auf der Weltbühne fungieren (Scott et al. 2001: 11).
Um ihren Erfolg auf eben dieser Bühne zu sichern, täten neue und reaktionsfähige Strukturen regionaler Governance [not], die es leisten können ökonomisches Wachstum aufrechtzuerhalten, einen Sinn für kooperative regionale Identität zu initiieren und innovative Wege hin zu regionaler Demokratie und ökonomischem Fairplay zu fördern (ebd.: 21).
Diese Hoffnungen ignorieren, dass gerade in Bezug auf Regional Governance darauf hingewiesen wird, dass hier häufig unter der Hand „die Interessen von Wirtschaft und Entwicklung synonym mit dem Allgemeininteresse der Region werden“ (Keating 2001: 387). Der New Regionalism-Literatur wird auf Basis theoretischer Kritik und empirischer Überprüfungen vorgeworfen, Theoriebildung im Schlepptau der Politikberatung (Lovering 1999) zu betreiben und als „Steigbügelhalter bei der neoliberalen Wettbewerbsformierung“ (Kröcher 2007: 283) zu fungieren. Im Kern, so Uwe Kröcher (2007, 2008), wird im New Regionalism räumliche Nähe verabsolutiert und es werden damit räumliche Bezüge auf Kosten gesellschaftlicher Verhältnisse ins Zentrum gestellt. Reskalierungen würde gerade nicht als umkämpfte Restrukturierungen verstanden, sondern aus vermeintlichen Notwendigkeiten „der Globalisierung“ abgeleitet. Auf der Basis dieser Kritiken liest sich die New Regionalism-Literatur als Beitrag zu einem Staatsraumprojekt, das einen Bedeutungsgewinn von Regionen vorantreibt, um Wettbewerb und undemokratische Governance zu stärken. Die Theoriedebatte um Scale war von Anfang an eine, die ihre Begriffe am Gegenstand entwickelte. Nachdem zwischenzeitig – vermutlich aus Modegründen – auch viele Phänomene als Scale-Phänomene diskutiert wurden, bei denen dies keine zusätzliche Erklärung leitete (vgl. zur Kritik: Brenner 2001) und sich die Protagonist_innen der Debatte mit grundsätzlicher Kritik (Marston et al. 2005) auseinandersetzen mussten, können die Begriffe nunmehr als ausreichend bestimmt gelten, um zu Erkenntnisgewinnen in Bezug auf Phänomene im Verhältnis „Staat und Raum“ beizutragen. Dies ist insbesondere regelmäßig dann der Fall,
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wenn auf die jeweils interessierende soziale Praxis und ihre Materialisierungen im Staat fokussiert wird und die Relevanz der Materialität der Scales für diese Praxis zunächst als offen und zu belegen verstanden wird. So wird in (z.T. auch bereits genannten) Arbeiten sowohl aus der Geographie als auch, seit einigen Jahren, der materialistischen Staatstheorie verfahren, in denen unter Rückgriff auf die ScaleTerminologie Phänomene wie die EU (Brand et al. 2007; Heeg/Oßenbrügge 2002; Jones/Jessop 2010; Wolff 2012), globale Umweltschutzabkommen und Ressourcenpolitik (Brand et al. 2011; Wissen 2011), städtisches Regieren (Schipper 2013) oder städtische Polizeiarbeit (Belina 2006) untersucht werden, in denen die „Materialitäten“ von Staat in der Form von Scales relevant sind. 4.3. Globalisierung, Neuer Imperialismus und Geoökonomie Ein weiteres Beispiel für dieses Vorgehen liefern die Debatten um Neuen Imperialismus und Geoökonomie. Nachdem Kritiker_innen in den 1990er Jahren zu genüge aufgezeigt haben, dass der Verweis auf „Globalisierung“ als Sachzwang diese naturalisiert und von den sozialen Praxen in Ökonomie und Politik gerade absieht, die zu den mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomenen geführt haben (Harvey 1989a; Hirsch 1998; Massey 1994; mit Bezug auf Scale: Swyngedouw 1997, 2000), wird der Begriff kaum noch verwendet und stattdessen mit anderen Begriffen nach dem Warum und dem Wie der Produktion dieser globalen Scale gefragt. Dabei betonen unterschiedliche Autor_innen, dass es auch und gerade das globale System territorialer Nationalstaaten selbst ist, das dazu führt, dass der Zusammenhang von Nationalstaat und Territorium aufrechterhalten bleibt. An – nicht immer untereinander kompatiblen – Gründen hierfür wird genannt, dass sich Staaten gegenseitige als Souveräne mit territorialer Integrität anerkennen (Agnew 2009; Gerstenberger 2013); dass Kapital nur auf der Basis staatlicher, territorial organisierter Macht agieren kann (Harvey 2005[2003]); dass konkurrierende Staaten dem Kapital am besten „Bedingungen bereitstellen, die kongenial zur Akkumulation passen“ (Wood 2006: 24); dass nur in konkurrierenden Nationalstaaten die gesellschaftlichen Widersprüche im Inneren hinter die Konkurrenz mit anderen Nationen zurücktreten (Hirsch 2005); und dass der Kern des Staates, sein Gewaltmonopol, bislang unangetastet geblieben ist (Hirsch/Kannankulam 2011). In der Radical Geography wird in diesen Debatten seit rund einem Jahrzehnt die Herstellung der Scale des globalen Kapitalismus als Resultat und Mittel staatlicher Machtausübung ohne Territorialisierungen diskutiert. Das Kernargument lautet, dass seit dem Zweiten Weltkrieg die Herstellung des kapitalistischen Weltmarktes durch neoliberale Prozesse der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ökonomisch genau jenen diente, die sie auch politisch durchsetzten, allen voran den Eliten der USA und anderer Staaten der kapitalistischen Zentren. Im Gegensatz zum Imperialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren dafür kaum Kriege um und keine gewaltsame Unterwerfung von Territorien wie im Ko-
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lonialismus vonnöten. Die Vergrößerung politischer und ökonomischer Macht kam ohne die Vergrößerung des staatlichen Territoriums aus. In Der Neue Imperialismus übernimmt David Harvey (2005[2003]) die von Giovanne Arrighi getätigte Unterscheidung von „‚Kapitalismus’ und ‚Territorialismus’ als gegensätzliche Arten der Herrschaft bzw. Machtlogiken“ (Arrighi 1994: 33) und verwendet sie zur Bestimmung des kapitalistischen Imperialismus als „widersprüchliche Verschmelzung von der ‚Politik von Staaten und Imperien’ (...) mit den ‚molekularen Prozessen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit’“ (Harvey 2005[2003]: 33). In Bezug auf Politik werden die politischen, diplomatischen und militärischen Strategien beton[t], die ein Staat (oder eine Ansammlung von Staaten) ins Feld führt und anwendet in dem Bemühen, in der ganzen Welt seine Interessen durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen (ebd.).
Bei letzterem geht es um Folgendes: Die Weisen, in der wirtschaftliche Macht – durch die alltägliche Praxis von Produktion, Handel, Gewerbe, Kapitalflüssen, Geldtransfers, Arbeitsmigration, Technologietransfers, Währungsspekulation, Informationsflüsse, kulturelle Impulse und ähnliches – durch das Raumkontinuum strömt, in territorialen Einheiten (wie Staaten oder regionale Machtblöcke) hinein oder aus ihnen hinaus“ (ebd.).
Die jeweiligen Akteure unterscheiden sich bezüglich ihrer Motivationen (politische Macht vs. Profit) sowie ihrer Raum-Zeitlichkeiten: „im Raum-Zeit-Kontinuum“ (ebd.) einerseits, „innerhalb der Grenzen eines Hoheitsgebiets“ (ebd.) und in Demokratien „in einer vom Wahlzyklus diktieren Zeitlichkeit“ (ebd.) andererseits. Kapitalistischer Imperialismus ist die „Schnittstelle“ (ebd.: 37) beider Logiken, mithin die Art und Weise, in der sie sich mit ihren jeweiligen Raumproduktionen in oft widersprüchlicher Weise artikulieren. Im Gegensatz zu früheren Typen des Imperialismus dominiert heute die kapitalistische Logik, „auch wenn (…) zeitweise die territoriale Logik in den Vordergrund tritt“ (ebd.: 39). Die Raumproduktionen der Kapitalakkumulation in Raum und Zeit hat Harvey (1982) als Widerspruch „zwischen Fixiertheit und Bewegung“ (ebd.: 422) konzeptualisiert, weil Kapital und Werte einerseits andauernd im Raum fixiert werden müssen (Produktionsanlagen, Verkehrsnetze, Infrastrukturen), anderseits aber immer auf der Suche nach neuen Verwertungsmöglichkeiten sind und deshalb mobil. Um die Entwertung des im Boden fixierten Werts durch Kapitalflucht zu verhindern, tun sich Akteure auf räumliche Basis zum Schutz dieser Investitionen zusammen (vgl. ausführlich Belina 2011b). Aus solchen räumlich gebundenen politischen Koalitionen entsteht, so Harvey, der Territorialstaat: Die territoriale Organisation des Staates – und die Grenzen des Nationalstaates sind dabei bei weitem das Wichtigste – wird so zu der geographischen Konfiguration (Harvey 1982: 404; Herv. i. Orig.).
Auf dieser theoretischen Basis zeigt Harvey, dass die Macht der USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stetig anwuchs, weil es ihr, ausgestattet mit der größten und konkurrenzfähigsten kapitalistischen Ökonomie, gelang durch Öff-
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nung von Märkten und ohne Territorialisierungsstrategien zur einzigen und unumstrittenen Weltmacht aufzusteigen. Dasselbe Phänomen beschreibt Neil Smith (2005) bei leicht anderer Terminologie. Er zeigt, wie die USA im 20. Jahrhundert eine „primär geo-ökonomische und weniger geopolitische Strategie“ (ebd.: 181) verfolgt haben. An die Stelle des klassischen Imperialismus ist die Schaffung eines freien und rechtssicheren Zugangs zu fremden Territorien für das international agierende Kapital getreten. Auf direkte Gewaltanwendung sollte nur in Krisensituationen oder in Einzelfällen zurückgegriffen werden. Auf diese Strategie verfielen US-amerikanische Eliten angesichts eines Ende des 19. Jahrhunderts „aufgeteilten“ Globus, auf dem es für ihre Expansionspolitik keinen Platz mehr gab. Von Erfolg gekrönt war die Strategie, wie Smith nachzeichnet, erst Ende des 20. Jahrhunderts: Die Blüte kapitalistischer Globalisierung in den 1980er Jahren stand für (...) die Durchsetzung geo-ökonomischer Macht, die über geopolitische Macht hinausgeht (ebd.: 181).
Dieser dritte, erfolgreichste Versuch ist ideologisch und praktisch durch den Neoliberalismus der Chicagoer Schule geprägt. Den Irakkrieg interpretiert Smith als (Titel gebendes) Endgame of Globalization, als Versuch der endgültigen Durchsetzung der geo-ökonomischen Strategie der USA – wenn auch diesmal mit geopolitischen Mitteln. Richard Peet (2007) schließlich fokussiert die auch bei Harvey und Smith zentrale Frage nach Inhalt und Hegemoniewerdung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die die nicht-territoriale Machtausübung zugleich verschleiert und in ihrer Durchsetzung ermöglicht. Er richtet sein Augenmerk auf die beteiligten Akteure, ihre Verflechtungen und darauf, wie die neoliberale Ideologie zunächst in den USA und dann mittels globaler Institutionen weltweit hegemonial (gemacht) wurde. Dies alles fasst er polemisch und, wie ich finde, gerade wegen der gelungenen Polemik in Gänze wiedergebenswert zusammen: In den vergangenen Jahrzehnten ist also Folgendes passiert: Die dominante, überwiegend von den Republikanern gestellte politische und ökonomische Klasse [der USA], also die Leute, die die PolitikerInnen aussuchen, die Leute, die die Thinktanks finanzieren, die Leute, die ihr Geld in Investmentbanken angelegt haben, die Patrioten, die junge Väter als Soldaten kaufen, um sie für sich kämpfen und sterben zu lassen, die Leute, die wirtschaftswissenschaftliche Forschung finanzieren, die Leute, die in Harvard, Yale, Princeton und Stanford fraternisieren, die Leute, die die Armen philanthropisieren, die Leute, die alles besitzen und überall das Sagen haben, haben ein neoliberales Regime verwirklicht, das ihre Herrschaft, ihre Hegemonie und ihre diskursive und Geldmacht noch in den letzten Winkel einer schrumpfenden Welt hinein ausgedehnt hat (ebd.: 192).
Diese sehr personalisierend daherkommende Formulierung kann im Kontext der materialistischen Argumentation Peets als Erinnerung verstanden werden, dass die „Materialisierungen“ im Fluss sozialer Praxis aus dieser selbst zu erklären sind, und dass auch die neoliberale Globalisierung von konkreten Subjekten und Gruppen gemacht werden musste. Wie sie funktioniert, warum sie den Interessen der im Zitat genannten (und weiterer) Akteure entspricht und woher diese Interessen
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überhaupt kommen, lässt sich nur mit Blick auf die tätigen Subjekte aber nicht verstehen. Wichtige Intermediäre, die dafür gesorgt haben, dass aus den Interessen von Klassen und Staaten global gültige Regeln im Sinne von Neuem Imperialismus, Neoliberalismus und geoökonomischer Strategie wurden, sind globale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (nach ihrem englischen Namen abgekürzt als WTO), die Weltbank und die G 7/8. Mit der Frage der eigenen Materialität solcher Gebilde hat sich aus staatstheoretischer Perspektive am Beispiel der WTO Jens Wissel (2007) befasst. Er versteht Globalisierungsprozesse als umkämpfte Reterritorialisierungen auf der Suche nach einer neuen, einigermaßen stabilen, globalen Raumstruktur, die immer über nationalstaatlich organisierte Gewaltmonopole und damit über nationale Territorialität vermittelt bleibt. Für die WTO stellt er fest, dass sie sich als Forum der Konfliktregulierung zwischen Staaten soweit institutionell verselbständigt hat, dass man von einer eigenen Materialität sprechen kann, und dass gerade deshalb für den Inhalt ihrer Politik die jeweilige Machtposition der einzelnen Staaten zur Durchsetzung der Interessen ihres heimischen Kapitals zentral bleibt. In diesem Zusammenhang zeichnet Hans-Dieter von Frieling (2008) nach, wie die ökonomisch starken Staaten mittels der WTO über Jahrzehnte eine spezifisch-selektive Mischung von Freihandel und Protektionismus durchgesetzt haben, die stets ihren nationalen Kapitalen zu Gute kam. Seitdem sich auch aufstrebende Schwellenländer sowie zu Abstimmungsblöcken zusammengeschlossene Staaten der „Dritten Welt“ an diesem Spiel beteiligen und ihre Zustimmung zu einseitigen weiteren Marktöffnungen verweigern, steckt die WTO in der Krise. Die in diesem Abschnitt vorgestellten Arbeiten sind fast alle vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise erschienen. Aus zeitdiagnostischen Gründen soll die Aktualität ihrer Argumente und Einschätzungen anhand von zwei Aspekten aufgezeigt werden. Erstens ist in Harveys (1982) Theorie der Raumökonomie des Kapitalismus bereits beschrieben, dass und warum die Strategie, mittels globaler Märkte das nationale Kapital zu stärken, mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung neuer, konkurrierender ökonomischer und politischer Machtzentren führen wird. Denn auch dort, wo etwa US-amerikanisches Kapital neue Produktionsstandorte und/oder Absatzmärkte findet, müssen Werte im Boden fixiert werden und es werden politische Koalitionen zu deren Schutz entstehen (vgl. Belina 2011b). Genau diese Entwicklung ist heute mit dem Aufstieg der BRIC-Staaten und anderer „Schwellenländer“ zu beobachten, die teilweise besser aus der Krise kommen als die kapitalistischen Kernstaaten. Zweitens, und damit zusammenhängend, sind die Versuche der globalen Krise mit Politik auf derselben Scale zu begegnen auf eben die globalen Organisationen angewiesen, die die Krise mit zu verantworten haben. Die Bearbeitung der aktuellen Krise wird von „Materialitäten“ i.S.v. Einzelstaaten und Staatenbündnissen betrieben, die in diesen Organisationen und mittels ihrer um neue globale Materialisierungen – i.S.v. Organisationsformen – ringen. Dabei geht es immer zugleich um das „Ankurbeln der Weltwirtschaft“ als Ganzer und um die Konkurrenz der Einzelstaaten untereinander.
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5. FAZIT UND AUSBLICK Ziel dieses Kapitels war es, anhand einer (notwendig selektiven) Bestandsaufnahme von Forschungsergebnissen aus materialistischer Staatstheorie und Radical Geography zu skizzieren, wie eine an Marx und den historischen bzw. historischgeographischen Materialismus anschließende Thematisierung von Phänomenen im Kontext des Verhältnisses von Staat und Raum vorgeht. Dazu wurden in den ersten drei Abschnitten theoretische Aspekte und in Abschnitt 4. Forschungsergebnisse aus drei zentralen Themenfeldern präsentiert. Der Schwerpunkt lag darauf zu zeigen, in welcher Weise hier die unterschiedlichen „Materialitäten“ des Staates und des Raums begriffen werden und was ein solches Verständnis dazu beiträgt, konkrete Phänomene und Entwicklungen zu erklären. In den vergangen Jahren hat die materialistische Staatstheorie den Raum und die Radical Geography den Staat (neu) entdeckt, und es sind erste Arbeiten entstanden, die beide Literaturen produktiv aufeinander beziehen. Diese wurden hier weder vollständig dargestellt, noch wurde auf Unterschiede zwischen verschiedenen Positionen innerhalb materialistischer Staatstheorie und Radical Geography sowie zwischen diesen trotz allem noch relativ getrennten Debatten eingegangen. Hier besteht noch Bedarf an weiterer theoretischer und auch Übersetzungsarbeit – etwa bezüglich der diversen Bedeutungen von „Materialität“ –, um die eingangs mit Bezug auf Taylor vertretene theoretische Position praktisch wahr zu machen, nach der disziplinäre Trennungen im Kontext der (Kritik der) Politischen Ökonomie nichts zu suchen haben. Marx spricht davon, dass die Menschen ihre eigene Geschichte [machen], aber (…) nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“(Marx 1969a[1852]: 115).
In diesem Kapitel standen Form und Inhalt dieser Umstände im Zentrum. Der Staat, seine Apparate, produzierter Raum als Resultat, Mittel und Terrain von Territorialisierungs- und Skalierungsstrategien haben ihre spezifischen Materialitäten. Sie auf Diskurse oder Bedeutungen zu reduzieren, wäre ein theoretischer Fehler, sie in ihren derzeitigen Ausprägungen nicht zu kritisieren ein politischer. LITERATUR Agnew, John (1994): The territorial trap: the geographical assumptions of international relations theory. Review of International Political Economy 1(1): 53–80. Agnew, John (2009): Globalization & Sovereignty. Lanham et al. Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg/Berlin. Anderson, Benedict (1988[1983]): Die Erfindung der Nation. Frankfurt/Main/New York. Andreas, Peter (2003): Redrawing the Line. Borders and Security in the Twenty-first Century. International Security 28(2): 78–111. Andrijasevic, Rutvica/Bojadnijev, Manuela/Hess, Sabine/Karakayalb, Serhat/Panagiotidis, Efthimia/Tsianos, Vassilis (2005): Turbulente Ränder. Prokla 35(3): 345–362. Arrighi, Giovanni (1994): The long twentieth century. London.
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AUTOR_INNEN Belina, Bernd, Jg. 1972; Professor für Humangeographie an der GoetheUniversität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte: historisch-geographischer Materialismus, Stadtgeographie, Politische Geographie, Kritische Kriminologie. Best, Ulrich, Jg. 1972; DAAD Visiting Professor, Dept. of Geography and Canadian Centre for German and European Studies, York University Toronto; Forschungsschwerpunkte: Politische Geographie, Stadtgeographie, Grenzen, Osteuropa. Dzudzek, Iris, Jg. 1982; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie Frankfurt; Forschungsschwerpunkte: Kulturgeographie, Politische Geographie und Stadtforschung. Glasze, Georg, Jg. 1969; Lehrstuhl für Kulturgeographie an der FA-Universität Erlangen-Nürnberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Geographie, Sozialgeographie, Stadtforschung. Hannah, Matthew, Jg. 1963; Professor für Humangeographie an der Aberystwyth University, Aberystwyth, Wales; Forschungsschwerpunkte: kritische humangeographische Theorie, historische Geographie, politische Geographie. Hans-Dietrich Schultz, Jg. 1947; Professor für Didaktik der Geographie (i.R.) an der Humboldt-Universität zu Berlin; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Geographie und Schulgeographie, Geschichte geographische Raumkonstrukte (u.a. Europa, Mitteleuropa). Lossau, Julia; Professorin für Humangeographie mit Schwerpunkt Stadtgeographie an der Universität Bremen; Forschungsschwerpunkte: Stadt- und Regionalforschung, Geographie und Kulturtheorie, Politische Geographie, postkoloniale Theorien. Mattissek, Annika, Jg. 1975; Vertretungsprofessorin für Allgemeine Wirtschaftsund Sozialgeographie an der Technischen Universität Dresden; Forschungsschwerpunkte: Stadtgeographie, Politische Geographie, Gesellschaft-Umwelt-Forschung, Südostasien.
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Autor_innen
Reuber, Paul, Jg. 1958; Professor für Anthropogeographie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Forschungsschwerpunkte: Politische Geographie, Sozialgeographie. Schlottmann, Antje, Jg. 1970; Juniorprofessorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte: Sozialgeographische Theoriebildung, gesellschaftliche Naturverhältnisse, visuelle Geographien. Strüver, Anke, Jg. 1970; Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der Universität Hamburg; Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische Sozialgeographien, Subjekt- und Identitätstheorien, Grenz- und Migrationsforschung, Stadtgeographie.
In den Beiträgen des Bandes wird das Verhältnis von Staat und Raum in unterschiedlichen Ansätzen zeitgenössischer Politischer Geographie skizziert. In deutlicher Abgrenzung zu traditioneller Geographie – die kritisch reflektiert wird –, wird „Raum“ aus poststrukturalistischer, sprachpragmatischer und historischmaterialistischer Perspektive bestimmt und seine Relevanz für „Staat“ diskutiert. „Raum“ ist dabei nicht mehr nur der Container, in dem „Staat“ stattfindet, sondern
Raumbezüge in Sprechakten, Diskursen und Praktiken und Raum als Technologie und soziales Produkt sind dynamische und produktive Momente des Staates. Solche Zugänge zur Räumlichkeiten von Staat erlaubt ein besseres Verständnis aktueller Phänomene. Im Band werden unter anderem thematisiert: Migration, Transnationalismus, Globalisierung, Regionalisierung, die EU, die Ubiquität von Grenzen, geopolitische Weltbilder und neuer Imperialismus.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10346-6