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German Pages 250 [252] Year 2010
Staat lind Kultur bei Hegel Herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko
Hegel-Forschungen Herausgegeben von Andreas Arndt Paul Cruysberghs Andrzej Przylebski
Staat und Kultur bei Hegel Herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des Ministeriums fur Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien und der Hermann Gutmann Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004639-6
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: nach einem Entwurf von Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemert, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: BuchConcept, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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Radovan Fuchs Grußwort
9
Walter Jaeschke Machtstaat und Kulturstaat
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Pirmin Stekeler-Weithofer Die Seele der menschlichen Gesellschaft Staat und Kultur als Momente der Idee bei Hegel
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Jure Zovko Kultur im Staat Ein vergessenes Thema in Hegels Denken
45
Heinz Kimmerle Kultur im Staat und den Staat übergreifend Eine dekonstruktive Lektüre von Hegels Staatsphilosophie, Kants Kosmopolitismus und Derridas Bemühen um eine „neue Internationale" . . . .
57
Mirko Wischke Die Bildung des Selbst Über Kultur und Politik bei Hegel
83
Andreas Arndt Kultur, Geist, Natur
93
Johannes Rohbeck Staat und kulturelle Evolution nach Hegel
105
Hans-Georg Bensch Kultur, Arbeit und Sonntag
119
6
INHALTSVERZEICHNIS
Samir Arnautovic Skeptizismus und Kultur in Hegels Philosophie
129
Vladimir Milisavljevic Hegel und die Kulturkritik
141
Paul Cruysberghs Könnte es bei Hegel eine der Religionspolitik ähnliche Kunstpolitik geben? . . .
157
Nives Delija Trescec Staat und Kunst Gehört die Verwirklichung der Ideale in einem Kunstwerk der Vergangenheit an?
171
Vahidin Preljevic „Organ für unsre eigentümliche Cultur" Anmerkungen zum Kulturbegriff der mittleren Romantik
183
Werner Becker Hegels epochale Entdeckung: die Sakralsprache der Person Demonstriert am Beispiel der Herr-Knecht-Dialektik der Phänomenologie des Geistes
197
Davor Rodin Liberalismus und Republikanismus sind weder politische noch demokratische, sondern ideologische Optionen
203
Zvonko Posavec Der moderne Staat, die europäische Kultur und die Europäische Union
213
Leo Seserko Staatsgeschäfte können nicht Privateigentum sein
219
Félix Duque Hegel: Von der gefeierten bis zur gefürchteten Revolution (1789-1830)
227
Zu den Autoren
243
Personen- und Sachregister
247
Vorwort
Staat und Kultur treten erst zu Hegels Lebzeiten in ein Verhältnis, das später mit dem Begriff , Kulturstaat' bezeichnet werden wird. Auch gebraucht Hegel den Terminus ,Kultur', den Herder gerade erst im modernen Sinne geprägt hatte, so gut wie nicht. Dennoch gehört Hegel zweifellos zu denjenigen Denkern, die das Verhältnis von Staat und Kultur der Sache nach verhandelt und neu bestimmt haben. Grundlage hierfür ist sein Begriff des Geistes, der alle Merkmale des modernen Kulturbegriffs in sich schließt: die Umformung der Natur, die Gesellschaftlichkeit und die Geschichtlichkeit. Der Staat ist zentrales Element des geistigen Prozesses und daher selbst Bestandteil von ,Kultur', aber nach Hegel auch deren elementare Voraussetzung. Hierdurch ist das Verhältnis von Staat und Kultur bei Hegel hoch komplex gestaltet und mitunter im einzelnen auch schwer zu bestimmen und spannungsreich. Dieses Verhältnis näher auszuleuchten war das Thema einer internationalen Fachtagung, die an der Universität Zadar (Kroatien) vom 17. bis 19. April 2008 stattgefunden hatte und deren Ergebnisse hier veröffentlicht werden. Die Tagung wurde von der Universität Zadar in Zusammenarbeit mit der Hegel-Gesellschaft Zadar und der Internationalen Hegel-Gesellschaft veranstaltet. Das Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien hat die Tagung und den Druck des vorliegenden Bandes auf Initiative von Dr. Radovan Fuchs unterstützt, der seinerzeit Staatssekretär war und inzwischen das Amt des Ministers übernommen hat. Die Drucklegung wurde auch durch eine großzügige Spende der Hermann Gutmann Stiftung (Nürnberg) mit ermöglicht. Allen Förderern und allen Autoren, die zum Gelingen der Tagung und dieses Bandes beigetragen haben, gilt unser herzlicher Dank. Berlin und Zadar, im März 2010 Andreas Arndt, Jure Zovko
RADOVAN FUCHS
Grußwort
Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung „Staat und Kultur", ich heiße Sie herzlich willkommen an der ältesten und zugleich der jüngsten kroatischen Universität und begrüße Sie in Namen des Ministeriums für Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien. Es ist schön, zu wissen, dass Sie aus ganzem Europa nach Kroatien zum anregenden Thema des Verhältnisses von Staat und Kultur gekommen sind. Die Aufgabe der humaniora in der modernen Gesellschaft besteht in der Förderung und Bewahrung des kulturellen Pluralismus in der Zeit der zunehmenden Globalisierung und Uniformierung des gesellschaftlichen und des geistigen Lebens und in der Aufrechterhaltung des interkulturellen Dialogs. Die kulturelle Tradition umfasst nicht bloß Texte, Kunstwerke und Denkmale, sondern enthält ebenfalls verschiedene Lebensformen, die sich durch Sprache und künstlerische Errungenschaften artikuliert haben. Welche Rolle die Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft haben werden, hängt unter anderem auch von ihrer Positionierung an den gegenwärtigen Universitäten bzw. von der Zusammenarbeit zwischen den Gelehrten aus verschiedenen Ländern ab. Die reichhaltige Fülle des traditionellen Pluralismus lässt sich nur im kritischen Dialog und im gegenseitigen Austausch der Gedanken aufrecht erhalten und auf zukünftige Generationen übertragen. Dadurch kann zweifellos eine Kultivierung des eigenen Selbst und der Gesellschaft, in der man lebt, erreicht werden. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Tagung und einen angenehmen Aufenthalt in Kroatien. Dr. sc. Radovan Fuchs, Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien
WALTER JAESCHKE
Machtstaat und Kulturstaat
„Machtstaat oder Kulturstaat" - dies ist fraglos keine prägnante Disjunktion. Es sind zwei Begriffe, die beide auch gar nicht der Rechtsphilosophie Hegels angehören. Sie begegnen jedoch im Umkreis ihrer Interpretation, weil sie eine gewichtige Bedeutung für das Staatsdenken des 19. Jahrhunderts und seit dem 19. Jahrhundert gewonnen haben. Denn die in diesen Begriffen anvisierten Charakteristika und Aufgaben des Staates sind keineswegs mit diesem Jahrhundert vergangen - im Gegenteil. Die Probleme, die sie bezeichnen, haben sich fraglos verschoben - doch sind sie für die Gegenwart nicht weniger dringlich als vor zwei Jahrhunderten. Deshalb seien sie hier in philosophiegeschichtlicher Perspektive angesprochen.
1.
Der Staat als Machtstaat
(1) „,Macht, Macht und abermals Macht'" - diese Losung steht „über dem Eingang" des Hegeischen „Staatsgebäudes geschrieben", „und vor dem Licht dieser Sonne verschwindet dem geblendeten Blick des Denkers - nämlich Hegel - alle innere Mannigfaltigkeit staatlichen, alle geistige Fülle nationalen Lebens" - so lauten die Eingangsverse eines alten Märchens.1 Nur ein Jahr später sind sie wenig modifiziert - obschon mit anderer Tendenz - wiederholt worden: „Macht, Macht und noch einmal Macht" für den Staat habe Hegel „als erstes und höchstes Gebot der Vernunft und Sittlichkeit, des Rechts und der praktischen Politik aufgestellt".2 Seine Beliebtheit verdankt dieses Märchen einem doppelten Grund: Zum einen lässt es dem Zuhörer oder Leser den Schauder über den Rücken rinnen, der nun einmal zu einem guten Märchen gehört, und zum anderen 1 2
Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, München und Berlin 1920, Bd. 1, S. 109. Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland. Ein Beitrag zur politischen Geistesgeschichte, Leipzig und Berlin 1921, S. VI.
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WALTER JAESCHKE
und vor allem - hat dieses Märchen eine exzellente Ablenkungs- und Verdrängungsfunktion: Es steckt mit wenigen Worten das .Reich des Bösen' ab und lässt dadurch den Gedanken gar nicht mehr aufkommen, dass es solches ,Böses' auch außerhalb der Grenzen dieses Reiches gegeben haben könne - und vielleicht ja immer noch und sogar in wachsendem Maße gibt. Nun ist der Gedanke, dass politische Herrschaft etwas mit ,Macht' zu tun hat, zur Zeit Hegels weder neu noch sonderlich aufregend. Seit es Staaten gibt, hat niemand daran gezweifelt. Und für die neuzeitliche Staatsphilosophie ist nicht schon die Macht dasjenige, was den Staat als den spezifisch modernen Herrschaftsverband auszeichnet, sondern die in einer Hand konzentrierte Macht - und auch nicht allein die Macht, sondern die „absolute Macht". Diese Rede nicht allein von der „potentia", sondern von der „potentia absoluta" hat fraglos eine theologische Konnotation3 - aber doch nur deshalb, weil der theologische Begriff der göttlichen Allmacht eine politische Konnotation hat, weil er nämlich nach dem Begriff der staatlichen Macht modelliert worden ist. Für die Staatstheoretiker der frühen Neuzeit - ich nenne hier nur Jean Bodin oder Thomas Hobbes - ist diese Konzentration der Macht und der absoluten Macht in den Händen des Souveräns aber keineswegs der Selbstzweck des Staates: Die Zuschreibung der potentia absoluta an den Souverän erfolgt ja nicht im Interesse der Rechtfertigung des Absolutismus, sondern der Begründung des friedlichen Zusammenlebens und der Erhaltung derjenigen, die dieser Macht unterworfen sind. Der bürgerliche Zustand', der status civilis, ist gedacht als ein Rechtszustand, aber dieser „Rechtszustand" unterscheidet sich vom sogenannten „Naturzustand" nur durch die etablierte politische Macht. Unter dem „Naturzustand" ist ja nichts anderes gedacht als ein nicht durch eine zentrale Macht und deshalb auch nicht durch Recht geregeltes menschliches Zusammenleben. Ein „bürgerlicher Zustand", ein Rechtszustand, der nicht durch die Macht eines Souveräns gesichert wäre, ist eine Chimäre. Macht und Recht stehen deshalb einander nicht ausschließend entgegen; Recht wird durch Macht zwar nicht als Recht begründet, aber das Recht muss sich stets auf Macht stützen können; und ohne die Macht gibt es kein Recht - ganz im Sinne von Thomas Hobbes' Beobachtung, dass der Mensch allein unter den Bedingungen staatlicher Macht zum Gott für den Menschen werden kann - „homo homini Deus" - , während die Menschen sich im Falle der Abwesenheit staatlicher Macht wie Wölfe zueinander verhalten. Zumindest unter den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens, die wir allein kennen, muss man entweder ein Träumer und Ignorant oder selber ein Wolf sein, wenn man meint oder gar hofft, auf die Macht als die notwendige Bedingung staatlichen Zusammenlebens verzichten zu können. (2) Nun mag man freilich einwenden, dass diese Einsicht in die Notwendigkeit der Begründung der Staatsmacht als des „machthabenden Allgemeinen" trivial sei, dass sie aber nicht schon zur Rechtfertigung eines ,Machtstaates' geeignet sei - und dem möchte ich nicht widersprechen. Doch was ist damit gesagt - was ist eigentlich ein „Machtstaat"? Von der Wortbedeutung her ist unter „Machtstaat" ein Staat zu verstehen, dessen einziger oder zumindest dominierender Zweck in der Ausübung von Macht besteht. Es 3
Carl Schmitt, Politische
Theologie.
Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität,
Berlin 1922.
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dürfte allerdings schwer fallen, hierfür einen historischen Beleg zu finden - selbst wenn man die Staaten mit Augustinus gegenüber der Gottesherrschaft als „große Räuberbanden", als „magna latrocinia", abqualifiziert. Der Begriff des „Machtstaates" ist auch gar kein traditioneller, allgemein verwendeter und verständlicher, vermutlich nicht einmal ein übersetzbarer Begriff, sondern ein ,Kampfbegriff', ein ideenpolitischer Begriff, der in einer spezifischen Situation der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts gebildet worden ist, parallel zu „Rechtsstaat" oder „Polizeistaat". Versteht man den Begriff des „Machtstaates" als Gegenbegriff zu dem des „Rechtsstaates", so ist unter „Machtstaat" ein Staat zu verstehen, der sich nicht auf das Recht, sondern auf die Macht stützt - oder: als ein Staat, in dem das Recht nicht mit Hilfe von Macht durchgesetzt wird, sondern in dem das Recht durch die Macht begründet wird. Und dagegen steht natürlich die alte, immer wieder beschworene und doch immer wieder verleugnete Einsicht: „Die Macht allein, gibt Göttern selbst kein Recht,"4 (3) Der Begriff des „Machtstaates" hat seinen geschichtlichen Ort in der Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Liberalen in der deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch ihren Konflikt - durch den Konflikt zwar nicht von ,Macht und Recht', jedoch von .Macht und Freiheit' - ist sein spezifischer Bedeutungsgehalt geprägt worden. Dies hat allerdings vergessen lassen - und man hat dies auch gern vergessen gemacht! - , dass der programmatische Ruf nach Macht damals im Lager der Liberalen erschollen ist. Dort hat man nach der gescheiterten Revolution von 1848 „die Wahrheit, die in der Macht liegt", entdeckt - oder um das bekannte Wort Friedrich Christoph Dahlmanns, eines der profiliertesten Köpfe der Liberalen aus der deutschen konstituierenden Nationalversammlung in der Paulskirche im Jahr 1849 zu zitieren, oder zunächst seinen ersten Teil: „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gährenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat." 5 Im gleichen Umkreis, aus dem gleichen Interessenzusammenhang, wird damals auch das Wort „Realpolitik" geboren, das man so gern der konservativen Partei zuzuschreiben gewillt ist.6 Es ist auch überaus plausibel - und ich will es auch keineswegs inkriminieren! - , dass diese programmatische Parole der Macht gerade von denen
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Christoph Martin Wieland, Idris und Zenide. - Da aber auch Wieland diese von ihm selbst formulierte Einsicht wenig später vergaß, musste Jacobi ihn daran erinnern; siehe Friedrich Heinrich Jacobi, „Ueber Recht und Gewalt", in: ders., Werke, Gesamtausgabe. Bd. 4, 1, hg. von Catia Goretzki und Walter Jaeschke, Hamburg 2006, S. 268. Friedrich Christoph Dahlmann, 22. Januar 1849, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hg. von Franz Wigard, 9 Bde. Frankfurt/M 1848/49, Bd. 7, S. 4821 (Hervorhebung W. J.). - Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 149. Ludwig August von Rochow, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart 1853. Siehe hierzu zuletzt Christian Jansen, „.Revolution' - .Realismus' - .Realpolitik'. Der nachrevolutionäre Paradigmenwechsel in den 1850er Jahren im deutschen oppositionellen Diskurs und sein historischer Kontext", in: MDI, Bd. 1, Hamburg 2007, S. 223259.
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ausgegeben wird, denen die Macht damals versagt gewesen ist. Die damals tonangebenden Konservativen haben nicht von der Macht geredet - sie haben sie ausgeübt. (4) „Die Wahrheit, die in der Macht liegt" - ich habe soeben in den Kontext der Diskussionen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung ein Wort aus Hegels, ein halbes Jahrhundert zuvor verfassten Schrift Kritik der Verfassung Deutschlands oder kurz: aus seiner Verfassungsschrift - eingeführt. Denn trotz aller Differenzen der Jahre um 1800 und der Jahre um 1850: In einem Punkt stimmt die Situation überraschend überein: „Die Wahrheit, die in der Macht liegt", wird von denen entdeckt, die sie nicht haben. Hegel analysiert in seiner Verfassungsschrift die politische Lage des damaligen Deutschen Reiches - oder genauer: des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dem damals ja auch das heutige Kroatien angehört hat: Das Reich ist ein auf Tradition basierender Herrschaftsverband, dem jedoch unglücklicher Weise ein für die Staatlichkeit konstitutives Moment fehlt: die Macht. Und deshalb wird es für alle zum Gespött - für die Fürsten der deutschen Staaten, die wirkliche, wenn auch nur geringe Macht haben, und für das Ausland, insbesondere natürlich für Frankreich, das sich unter der politisch wirkungsvollen Decke der Verkündung menschheitsfreundlicher und menschheitsrechtlicher Parolen Stück für Stück dieses Reiches einverleibt. In dieser Lage erinnert Hegel beharrlich und nachhaltig daran, dass ein Staat ohne Macht kein Staat sei, sondern eine leere Proklamation und ein Spielball anderer Mächte - auch wenn dieser machtlose Staat die von Hegels Kritiker betonte „innere Mannigfaltigkeit staatlichen" oder „geistige Fülle nationalen Lebens" in noch so hohem Maße sich hat. Mit dieser „geistigen Fülle nationalen Lebens" wird es vielmehr bald vorbei sein, wenn es nicht durch Macht gesichert wird. Und deshalb ist für Hegel damals - wie er stereotyp formuliert - „Deutschland" - das Deutsche Reich - „kein Staat mehr". Die im Namen der Freiheit vorgetragene Kritik des Hegeischen „Machtstaates" verschweigt beharrlich, dass diese Diagnose Hegels nur vier Jahre später durch die Auflösung des Deutschen Reiches bewahrheitet worden ist. Und sie verschweigt ebenfalls, dass Hegel vehement dafür plädiert, die aus dem Gedanken des Staates als der höchsten Macht fließenden Funktionen auf lediglich zwei zu begrenzen: auf die Gewalt zur Verteidigung und auf die Finanzhoheit. Beides gehört ja insofern zusammen, als ohne Finanzhoheit die Verteidigung nicht möglich ist. Was hingegen nicht für die Organisation der höchsten Gewalt zur Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit erforderlich ist, müsse die Regierung „der Freyheit der Bürger überlassen", und Hegel betont mit großer Emphase, dass der Regierung „nichts so heilig seyn müsse, als das freye Thun der Bürger in solchen Dingen gewähren zu lassen und zu schützen, ohne alle Rücksicht auf Nutzen, denn diese Freyheit ist an sich selbst heilig" (GW 5, S. 175).7 Nicht einmal die Einheit des bürgerlichen Rechts gilt ihm als konstitutiv für einen Staat eine Behauptung, die er durch einen Rückblick auf die sehr partikularistische Rechtsverfassung des vorrevolutionären Frankreich und durch das Gedankenexperiment zu erweisen sucht, dass auch eine einheitliche Geltung des römischen Rechts in den eu7
Hegel, Gesammelte Werke, Akademie-Ausgabe, Hamburg 1968ÍF.; im folgenden mit der Sigle GW und Bandzahl in Klammern im Text nachgewiesen.
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ropäischen Staaten diese nicht zu einem Gesamtstaat konstituierte (GW 5, S. 69f.)· Der vielgeschmähte Hegeische ,Machtstaat' umfasst insofern weit weniger Funktionen als irgendein heutiger Staat, und er ist in diesem Sinne erheblich „liberaler".8 (5) Man könnte den Staat der Hegeischen Verfassungsschrift allenfalls insofern einen „Machtstaat" nennen, als er sein Zentrum in der Verteidigung nach außen hat eine Perspektive, die damals, angesichts der französischen Annektionspolitik, nur allzu plausibel ist. Vor allem aber: Gerade solche Kritiker, die die Chimäre des angeblichen Hegeischen ,Machtstaats' im Namen der Freiheit kritisieren, sollten sich nicht darüber hinwegsetzen, dass Hegels Identifikation des Staates mit der Ausübung von Macht eine strikte Reduktion des Staates auf die Macht zur Verteidigung seiner selbst und seiner Bürger, zur Sicherung seines Bestehens ist. Darüber hinaus lässt diese Reduktion des Staates auf den Verteidigungszweck das politische Leben frei. Sie scheidet die Sphären der staatlichen Macht und der „an sich selbst heiligen" „Freyheit der Bürger" von einander ab - und zu dieser Sphäre gehört neben dem wirtschaftlichen fraglos auch das kulturelle Leben der Bürger, das aber als solches eben ein privates und somit kein .staatliches' Leben ist. Es wäre in dieser politischen Konstellation auch völlig widersinnig, wenn diese „Freiheit" nun ihrerseits „Macht" forderte. (6) Ein halbes Jahrhundert später hat sich diese Konstellation verschoben - durch einen Staat, der diese „Freiheit der Bürger" nicht anerkennt, und durch ein selbstbewusstes, politisiertes Bürgertum, das aus gutem Grund die Ausübung der Macht nicht mehr einem von sich streng geschiedenen Staat überlassen will, das aber bei der Machtprobe' mit dem Staat - in der Märzrevolution des Jahres 1848 und den anschließenden Bemühungen um eine nationale Verfassung - erkennen muss, dass es keine Macht hat. Es ist historisch nur zu plausibel, dass das Bürgertum in dieser neuen Konstellation nun seinerseits nach der politischen Macht verlangt, um seine Freiheit zu schützen - und nunmehr nicht, wie zur Zeit Hegels, gegen eine äußere Bedrohung, sondern gegen die innere Bedrohung der Freiheit durch staatliche Bevormundung. Und doch stimmen die Formulierungen bedenklich, in denen sich dieses neu erwachte Verlangen nach politischer Freiheit ausspricht. Ich wiederhole und vervollständige das Zitat aus der Rede Dahlmanns: „Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gährenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat. Denn es ist nicht bloß die Freiheit, die er meint, es ist zur größeren Hälfte die Macht, die ihm bisher versagte, nach der es ihm gelüstet." Der „Freiheitstrieb" also, „der sich bisher selbst nicht erkannt hat", erkennt nun, dass er ebensosehr Machttrieb ist - und nicht nur „ebenso": Er erkennt vielmehr, dass es ihn „zur größeren Hälfte" - also mehr noch als nach Freiheit! - nach der Macht gelüstet, die ihm bisher versagt geblieben ist und die er nun unter der Losung der Freiheit gewinnen will. In dieser Formulierung spricht sich in fast erschreckender Deutlichkeit eine Dialektik aus - und zwar nicht schon eine „Dialektik der Freiheit", sondern die „Dialektik des politischen Liberalismus" - und auch dies nicht schon darin, dass der Liberalismus sich 8
Für eine etwas ausführlichere, obschon dennoch komprimierte Interpretation der Verfassungsschrift siehe Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2003, S. 100-106.
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- reichlich spät! - darauf besinnt, dass er der Macht bedarf, um Freiheit zu verwirklichen, sondern dort, wo er sich eingesteht, dass es ihn nur ,zur kleineren Hälfte' nach der Freiheit und „zur größeren Hälfte" nach der Macht „gelüstet." Und selbst die Rede vom „sich gelüsten" ist verräterisch - sie ist in der deutschen Sprache ja fest an den Mythos vom Sündenfall wie auch an die beiden letzten der Zehn Gebote gebunden: Sie schließt ein klares Unrechtsbewusstsein ein. Darin liegt das Problematische: Der Freiheitstrieb, der sich erkennt, erkennt sich vielmehr als Machttrieb. Diese Diagnose des Verhältnisses von Freiheit und Macht antizipiert einen guten Teil der Geschichte des politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, seine Liaison mit der Macht: Wer nur ,zur kleineren Hälfte' die Freiheit und „zur größeren Hälfte die Macht" begehrt, wird auch dort nach der Macht greifen, wo sie nur auf Kosten der Freiheit zu haben ist. Und der Verwirklichung dieses „Gelüstes" nach Macht dient es auch, den politischen Gegner durch das ideenpolitische Schlagwort „Machtstaat" zu diskreditieren.
2.
Der Staat als Kulturstaat
(1) Während Hegels Manuskript der Verfassungsschrift fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch von niemandem gelesen in seinem Schreibtisch geschlummert hat, hat die ungeheure Dynamik der Entwicklung der Staatlichkeit diejenige politische Konstellation hinweggefegt, deren Begriff Hegel in diesem Manuskript entworfen - und bald auch wieder verworfen hat. Denn der Staat, wie Hegel ihn in der Verfassungsschrift zeichnet, ist lediglich ein „äußeres Band" zum Zwecke der Verteidigung; er ist nicht „objektiver Geist", also auch kein „sittlicher Staat", und noch weniger ist er ein „Kulturstaat". Dass diese äußerst reduzierte Konzeption nicht geeignet ist, die Wirklichkeit des Staates zu begreifen, hat Hegel zu eben der Zeit erkannt, zu der er - aus politischen Gründen die Arbeit an der Verfassungsschrift abgebrochen hat. Die Entwicklung der Realität und des Begriffs des Staates möchte ich nun unter den Gesichtspunkt der Entwicklung zum „Kulturstaat" stellen. Zuvor aber, um ein Missverständnis zu vermeiden, nochmals und zum letzten Mal: Diese Entwicklung ist nicht etwa als Entwicklung vom ,Machtstaat' zum ,Kulturstaat' zu charakterisieren - denn einen solchen ,Machtstaat' hat es weder in der politischen Philosophie noch in der politischen Wirklichkeit gegeben. (2) Die Entwicklung der Staatlichkeit im 19. Jahrhundert ist dadurch geprägt, dass dem Staat kontinuierlich Funktionen zuwachsen - und dies, möchte ich einschieben, ist ein Prozess, den ich hier zwar an der Entwicklung Preußens ablese, der aber keineswegs auf diesen Staat beschränkt, sondern charakteristisch für die Ausformung des Staatsgedankens im allgemeinen ist - auch wenn die Formen ihres Verlaufs sich fraglos erheblich unterscheiden. Sie ist auch nicht schlechthin unter den Titel „Entwicklung zum Kulturstaat" zu stellen; diese macht nur ein Moment, wenn auch ein wichtiges Moment in ihr aus. Zumindest eben so wichtig ist die Entwicklung des Staates zum „sittlichen Staat", und diese ist sogar die historische und begriffliche Voraussetzung. Die Grenzen zwischen dem „sittlichen Staat" und dem „Kulturstaat" lassen sich zwar nicht scharf ziehen, doch hat der Begriff des „sittlichen Staates" fraglos größeren Umfang als
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der des „Kulturstaates". Dennoch bildet er - zumindest auf der begrifflichen Ebene keineswegs eine notwendige Voraussetzung für den des „Kulturstaates" - oder anders: „Kulturstaat" könnte auch ein Staat sein, der sich nicht als „sittlichen Staat" versteht.9 Allerdings ist es wahrscheinlich, dass der Staat im Grade seines Selbstverständnisses als „sittlicher Staat" „kulturelle" Funktionen übernehmen und sich zum „Kulturstaat" erweitern wird. Doch was ist - zunächst - ein „sittlicher Staat"? Zur Vorsicht möchte ich nur ein paar Sätze einfügen, um ein mögliches Missverständnis auszuschließen. Hegels Rede vom Staat als einer Gestalt der „Sittlichkeit" hat nichts damit zu tun, dass es in diesem Staate ,moralisch' zugeht - obschon dagegen natürlich nichts einzuwenden ist. Unter dem Titel „Sittlichkeit" begreift Hegel die Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens, deren höchste eben der Staat ist, und insofern ist jeder Staat an sich ein „sittlicher Staat". Im affirmativen, unterscheidenden Sinne aber liegt die „Sittlichkeit" des Staates in seinem Selbstverständnis, in seinem Fürsichsein - dass er weiß, oder dass für ihn ist, dass er eine solche Gestalt des menschlichen Zusammenlebens ist, die ihren Grund in sich selber hat, und dass er sich weder einem Vertragsschluss verdankt noch ein Zufallsprodukt der geschichtlichen Entwicklung ist, das es ebensogut nicht geben könnte. Ein Staat, der als vertraglich begründete Anstalt im Interesse der physischen Selbstbehauptung verstanden würde, hätte wenig Anlass, sich als „Kulturstaat" zu profilieren; ein Staat hingegen, der als die allgemeine und höchste Organisationsform menschlichen Zusammenlebens verstanden wird, wird alle diejenigen Lebensbereiche in sich zu integrieren bestrebt sein, die konstitutive Bedeutung für dieses Leben haben. (3) Ich möchte die damalige Entwicklung des Staates zum „sittlichen Staat" an zwei Beispielen kurz skizzieren. Das erste hat noch nichts mit seinem Werden zum „Kulturstaat" zu tun - auch wenn es den Beginn einer Entwicklung anzeigt, die im späten 19. Jahrhundert schließlich zum sogenannten „Kulturkampf* führt. Schon wenige Jahre nach Hegels Tod wird in Deutschland - und insbesondere im konfessionell gemischten Preußen - das Problem der „Mischehen", also der Ehen von Partnern unterschiedlicher Konfession, virulent. Bis ins 19. Jahrhundert hat der Staat die Schließung der Ehe der Kirche oder den Kirchen überlassen - oder historisch richtiger: Diese Aufgabe ist seit alters eine Aufgabe der Kirchen gewesen, und der Staat hat keine Anstalten unternommen, sie an sich zu ziehen. Gleiches gilt für die Geburten und Todesfälle: Über sie wird von Seiten der Kirche Buch geführt - und statt einer Geburtsurkunde gibt es lediglich den Taufschein. So lange der Staat sich als Anstalt zum Schutz der Sicherheit und des materiellen Wohlergehens seiner Untertanen versteht, bleibt der Kirche - oder den Kirchen - ein wesentlicher Teil des Bereichs der „Sittlichkeit" überlassen. Erst die Kritik am aufklärerischen Staatsbegriff in Verbindung mit dem sozialen Wandel zu Be9
Es scheint mir deshalb nicht gerechtfertigt, den Begriff des „Kulturstaats" so eng mit dem des „sittlichen Staates" zu verbinden, wie Ernst Rudolf Huber, Zur Problematik des Kulturstaates, Tübingen 1958, mit seiner Formulierung: „Der Kulturstaat ist die Selbstdarstellung der Kultur als Staat. Diese Bedeutung von Kulturstaat drückt sich ethisch in der Hegeischen Formel aus, der Staat sei ,die Wirklichkeit der sittlichen Idee'."
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ginn des 19. Jahrhunderts führt zur Neukonzeption des Staates, die sich in Preußen im Staatskonzept der Reformzeit - also in den Jahren ab 1807 - niederschlägt. Der Staat, der sich als „sittlicher Staat" versteht, ergreift von nun an selbst diese zuvor von den Kirchen wahrgenommenen Funktionen - und er setzt sein Selbstverständnis in einem langen Kampf mit den Kirchen durch, weil sie auf Grund der Konfessionsspaltung gar nicht mehr in der Lage sind, das Interesse des Allgemeinen zu vertreten. Dabei geht es nicht etwa darum, die zuvor von den Kirchen wahrgenommenen Funktionen zu untersagen. Der Taufschein kann weiterhin ausgestellt werden, doch entscheidend ist die staatliche - Geburtsurkunde. Und auch das Sakrament der Ehe wird keineswegs destruiert - doch wird es dem Gedanken der staatlichen Ordnung nachgeordnet, und so kann die kirchliche Eheschließung erst auf der Grundlage der bürgerlichen vollzogen werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Ausbildung dieser staatlichen Funktionen nicht an das Vorliegen der beschriebenen historischen Voraussetzungen - also der verbreiteten Konfessionsverschiedenheit - gebunden ist, sondern dass dem Staat diese Funktionen - wenn auch zeitlich verzögert - auch dort zuwachsen, wo weitgehende konfessionelle Homogenität herrscht. Doch auch wenn diese Auseinandersetzungen, die in Preußen ein halbes Jahrhundert dauern, unter dem Titel „Kulturkampf bekannt sind: Sie haben nichts mit der Entwicklung des Staates zum „Kulturstaat" zu tun. Anders steht es mit einem benachbarten Bereich: Der Staat zieht nicht allein die Regelung von Eheschließung, Geburt und Tod an sich, sondern er unterstellt auch das Bildungswesen seiner Hoheit. Und während die Universitäten und auch ein großer Teil des höheren Schulwesens traditionell in staatlicher Hand gewesen sind: Der elementare Bildungsbereich untersteht bis ins 19. Jahrhundert ebenfalls den Kirchen; er ist „causa ecclesiastica". Es ist eine Entwicklung von großer Tragweite gewesen, dass der „sittliche Staat" seinen Anspruch auf „Kulturhoheit" auch hier gegen den anhaltenden Widerstand der Kirchen durchgesetzt hat und sich auf diesem Wege als „Kulturstaat" profiliert hat. Zu den in diesen beiden Beispielen genannten Problembereichen hat Hegel in seiner Philosophie nicht ausdrücklich Stellung bezogen. Dennoch ist es auf Grund von anderen Ausführungen nicht zweifelhaft, wie sie ausgefallen wäre, wenn er sich geäußert hätte. Hegel spricht dem Staat - als einer Gestalt des „objektiven Geistes" - keine Kompetenz im Bereich des „absoluten Geistes", also im Bereich von Kunst, Religion und Philosophie zu - allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme: Dort, wo die Sphäre des „absoluten Geistes" in die staatliche Wirklichkeit hineinreicht und die „wirkliche Sittlichkeit" betrifft, fällt die Entscheidungskompetenz dem Staat zu. Und dies ist fraglos nicht allein dort der Fall, wo ein religiöser Kultus gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch im Falle der konfessionell-gemischten Ehen oder bei den Auseinandersetzungen um die Regelungskompetenz in den Fragen der Schulbildung. Der Staat, der sich als „sittlicher" und zugleich als „Kulturstaat" versteht, muss diese Bereiche in seine eigene Obhut nehmen. Denn er vertritt das allgemeine Interesse gegenüber dem Partikularinteresse religiöser Gruppierungen. (4) Von der Entwicklung zum „sittlichen Staat" möchte ich hier die Entwicklung zum „Kulturstaat" noch unterscheiden. Diesen Aspekt hat Hegel in seinen Grundlinien
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der Philosophie des Rechts nicht ausführlich entwickelt; er begnügt sich stattdessen mit dem bloßen Hinweis, dass „in einer vollständig konkreten Abhandlung vom Staate" die also über die bloßen „Grundlinien" der Rechts- und Staatsphilosophie hinausgeht auch das Verhältnis von Staat und Kunst thematisch zu sein hätte.10 Die Entwicklung des Staates zum „Kulturstaat" wird jedoch auch noch durch eine Entwicklung befördert, die ursprünglich weder mit dem Begriff des „sittlichen Staates" noch mit dem des „Kulturstaats" verbunden ist, sondern am Begriff der Souveränität verläuft: mit dem Übergang von der „Herrschersouveränität" zur „Staatssouveränität". Dies mag etwas umwegig erscheinen, doch liegt auch hier eine wichtige Wurzel des Selbstverständnisses des Staates als „Kulturstaat". Der Begriff der Souveränität, der „summa potestas" oder der „potestas absoluta", ist ja derjenige Begriff, der die neuzeitliche Staatskonzeption markant vom Herrschaftsgedanken des Mittelalters abhebt. Im Begriff der Souveränität liegt aber noch nicht, wer der Inhaber der souveränen Gewalt ist. Für Hobbes - als einen der wichtigsten Vertreter dieser Konzeption - kann die souveräne Gewalt einer kleineren oder größeren Versammlung zukommen, aber auch einem Einzelnen, und es sind dann nur noch pragmatische Gründe, die für diese oder jene Lösung sprechen; schon zu Hobbes' Zeiten kann die Souveränität aber auch dem Volk zugeschrieben werden - etwas von Althusius.11 Mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert - und fraglos angestoßen von Aufklärung und französischer Revolution! - erfolgt jedoch ein Übergang von den genannten, an der Zahl der Inhaber orientierten Varianten des Souveränitätsbegriffs zum Begriff der einen „Staatssouveränität": Souverän ist nicht der Monarch, aber auch nicht das Volk, sondern der Staat. Doch diese Aussage ist zu modifizieren: Genauer gesagt handelt es sich hier nicht um einen Übergang von der Herrschersouveränität zur Staatssouveränität, sondern um eine Differenzierung im Begriff der Souveränität. So lange der Herrscher der Staat „ist", im Absolutismus, gibt es ja gar keine von der Herrschersouveränität getrennte Staatssouveränität - oder umgekehrt; beide fallen in eins zusammen. Die Herrschersouveränität steht in ungeschiedener Einheit mit den Funktionen des Staats, und deshalb erfolgt auch keine scharfe Trennung zwischen dem Privatvermögen des Herrschers und dem Vermögen des Staates. Zu Hegels Zeit erhebt der Staat noch keinen umfassenden, programmatischen Anspruch auf Gestaltung der Kultur. Dies zeigt sich schon daran, dass es kein „Kultusministerium"12 oder auch nur fixierte Instanzenzüge für die Verwaltung des Bereichs „Kultur" gibt. Doch im Zuge dieses allmählichen, sich etwa ein Jahrhundert hinziehenden Übergangs von der Herrschersouveränität zur Staatssouveränität geht eine Reihe von Kompetenzen, aber auch von Aufgaben, die zuvor dem Herrscher zugefallen sind, an den Staat über - und hierzu gehören auch solche Aufgaben, die den Staat auf den Weg zum „Kulturstaat" führen. Besonders augenfällig wird dieser Übergang an den 10 11
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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270. Otto Friedrich von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien; zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1880. Die korrekte Bezeichnung des Ministeriums des oft als „Kultusminister" bezeichneten Ministers v. Altenstein lautet „Ministerium für Geistliche-, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten".
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Bezeichnungen kultureller Einrichtungen: Aus der „Königlichen Bibliothek" wird die „Staatsbibliothek", aus dem „Königlichen Schauspielhaus" das „Staatstheater" und aus den Königlichen Sammlungen werden die „Staatlichen Museen". Dieser Prozess steckt zur Zeit Hegels aber noch in den Anfängen. Der Übergang von der Herrschersouveränität auf die Staatssouveränität darf jedoch nicht als ein gleichsam „natürlicher" Übergang von der Kunstliebe oder auch vom Mäzenatentum des Herrschers auf den Staat verstanden werden. Der Staat hätte diese Aufgaben auch ablehnen und in den Privatbereich des Herrschers verweisen können - wie etwa beim Ankauf einer bedeutenden Gemäldesammlung, die heute einen wichtigen Bestandteil der „Staatlichen Museen zu Berlin" bildet: Der Plan eines Ankaufs durch den Staat hat sich wegen der hohen Kosten zerschlagen; es ist damals aber auch von einflussreicher Seite das Argument vorgetragen worden: „Der preußische Staat ist nicht zu einer zweckmäßigen Bühne für die höhere Kunst geeignet." So hat der König diese Sammlung damals als Privateigentum und aus seinen Privatmitteln erworben.13 Doch im weiteren Verlauf wird die Entscheidung über den Ankauf von Kunstwerken wie überhaupt über kulturelle Belange zunehmend dem Willen des Herrschers entzogen und auf das Ministerium verlagert. Dann aber erwirbt der Staat Gemälde oder Sammlungen nicht mehr zur Verschönerung der Königsschlösser oder zur Demonstration des Reichtums und Geschmacks des Herrschers gegenüber anderen Fürsten, sondern für die Ausstattung der nun erst eingerichteten öffentlichen Museen. Hierin zeigt sich die sukzessive Anerkennung der Kulturgestaltungsfunktion des Staates in dem umfassenden Sinn, der auch die Ausbildung staatlicher Kompetenzen für den Bereich der Kunst einschließt. Es handelt sich somit bei dem hier beschriebenen Prozess nicht um einen eher zufälligen oder naturwüchsigen Prozess, sondern um eine politische Einsicht und Entscheidung: Vorausgesetzt ist eine Veränderung im Begriff des Staates, die eine Veränderung in der Beschreibung seiner Aufgaben nach sich zieht: die Einsicht nämlich, dass der Kultur ein nennenswerter, wenn auch nicht exakt quantifizierbarer Einfluss auf die Gestalt des Staates, also eine „Staatsgestaltungsmacht" zukommt, dass also der „Staat als Kulturgebilde" aufgefasst wird. Diese Einsicht hat damals vielleicht in keinem Staat näher gelegen als in Preußen, das sich damals, in der Reformzeit und in den von ihr ausgehenden Traditionen, als einen künstlichen, auf Intelligenz gebauten Staat verstanden hat. Zum „Kulturstaat" wird der Staat dort, wo er sich weder durch eine göttliche oder heroische Stiftung noch durch einen primordialen Vertragsschluss legitimiert, sondern wo er sich als ein Gewachsenes verstehen lernt, dessen Wachstum sich natürlich nicht allein, aber doch zu einem beträchtlichen Teil der kulturellen Entwicklung verdankt. Wenn aber der Staat sich als ein „Kulturgebilde" versteht, wird er sich nicht als Produkt einer eindimensionalen Entwicklung verstehen, sondern er wird für sich eine „Kulturgestaltungsmacht" für sich in Anspruch nehmen, wenn er sich seiner eigenen Grundlagen vergewissern will - dies sicherlich nicht in dem Sinne, dass er erst die 13
Die Sammlung Solly; siehe Jaeschke, „Politik, Kultur und Philosophie in Preußen", in: HegelStudien, Beiheft 22, hg. von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert, Bonn 1983, S. 31f.
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Kultur hervorbrächte, die ihn dann gestaltet, sondern in dem Sinne, dass er sich der Sorge für den Bereich annimmt, von dessen , staatsgenerierender, staatsprägender und staatserhaltender Kraft' er sich überzeugt hat. Er versteht sich dann als „Kulturstaat" im doppelten Sinne des Wortes, nämlich als durch Kultur hervorgebrachte und als Kultur gestaltende Macht. (5) Der hier angedeutete Prozess wird jedoch durch eine weitere, von ihm unabhängige Entwicklung zusätzlich kompliziert: durch die Ausbildung einer vom Staat unterschiedenen „bürgerlichen Gesellschaft". Als Mitglied dieser bürgerlichen Gesellschaft handelt selbst der König, wenn er als Privatmann mit seinem Privatvermögen eine Gemäldesammlung erwirbt. Es ist somit nicht der „Staat" allein - der Staat, nun im prägnanten Sinne gefasst - , der als eine kulturgestaltende Macht auftritt, sondern der Staat teilt sich diese Aufgabe mit der „bürgerlichen Gesellschaft" - und zwar ohne dass ein prägnantes und durchgreifendes Prinzip der Aufteilung erkennbar wäre, wie dies zuvor bei der Verteilung der im weiten Sinne kulturellen Aufgaben zwischen Kirche und Staat der Fall gewesen ist. Staat und Gesellschaft lassen sich zwar prägnant unterscheiden, doch lassen sich ihnen kulturelle Bereiche nicht so zuordnen, dass es nicht zu Überschneidungen käme. Und dies ist auch keineswegs zu beklagen: Theater und Museen, Konzertsäle und Opernhäuser können - zumindest - ebensogut vom Staat wie von Vereinen oder Privatpersonen getragen werden, und es unterliegt keinem Zweifel, dass sich diese Dualität förderlich auf das kulturelle Leben auswirkt. Schon Hegel genießt es, den einen Tag in die Königliche Oper und den anderen ins private Königsstädtische Theater zu gehen. Der „Kulturstaat im weiten Sinne" tritt somit stets in zweifacher - aber nicht in entzweiter, sondern in verdoppelter - Gestalt auf: als „Kulturstaat im engen Sinne" und als Kultur der bürgerlichen Gesellschaft - und dies ist übrigens eine Seite - und eine keineswegs unwichtige Seite - der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel bei der Entwicklung ihres Begriffs in seiner Rechtsphilosophie nicht berücksichtigt hat.
3.
Abschied vom Kulturstaat?
(1) Etwas anderes jedoch hat Hegel sehr wohl berücksichtigt: die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft. Zu den besonders eindrucksvollen Partien seiner Rechtsphilosophie zählen für mich die knappen Ausführungen, in denen Hegel das Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft beschreibt: Die „bürgerliche Gesellschaft" habe bereits die Familie als die traditionelle ökonomische Basis in sich aufgesogen. Sie reiße das Individuum aus dem Band der Familie heraus, „entfremdet dessen Glieder einander, und anerkennt sie als selbstständige Personen"; das Individuum sei hierdurch statt zum Sohn seiner Eltern zum „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden" (§ 238). Diese sei „die ungeheure Macht, die ihn [sc. den Menschen] an sich reißt, von ihm fordert für sie zu arbeiten, alles durch sie zu sein, vermittelst ihrer zu thun."14 Inzwischen aller14
Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting. Bd. 3. Stuttgart-Bad Cannstatt. 1974, S. 700.
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dings scheint es, als habe die „bürgerliche Gesellschaft" das ihr von Hegel zugewiesene Unterordnungsverhältnis gegenüber dem Staat umgekehrt und nun auch diesen für die Durchsetzung ihrer Interessen instrumentalisiert - und zumal unter der Vorspiegelung der Befreiung des Individuums von Herrschaftsverhältnissen und natürlich unter Verdeckung des Umstands, dass die Herrschaftsverhältnisse nicht beseitigt, sondern lediglich verändert sind und sich somit letztlich nichts zum Besseren gewendet hat - vielleicht ja gar zum Gegenteil. Unter diesen Bedingungen steht zu erwarten, dass sich die von Anfang an bestehende duale Relation von „staatlicher" und „bürgerlicher Kultur" - wenn ich einmal so abgekürzt formulieren darf - in der Gegenwart verändert habe und auch weiterhin verschieben werde, nämlich zu Lasten des „Kulturstaates" - und dies trifft bekanntlich zu. Gegenbewegungen gegen diese dominierende Tendenz der Verschiebung des Gewichts vom Staat auf die Gesellschaft scheint es allein dort geben, wo ein Bereich, der zunächst das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft geweckt hat, sich für diese als zu aufwendig oder nicht lukrativ genug erweist. Es ist - dies möchte ich ausdrücklich einräumen - es ist auch keineswegs ausgemacht, dass diese sich auch hier abzeichnende Verschiebung vom Staat auf die Gesellschaft negativ zu beurteilen sei. Dass die Kulturgestaltungsmacht des Staates hochproblematisch sein kann, mehr noch als die der „bürgerlichen Gesellschaft", ist aus dem 20. Jahrhundert wohlbekannt. Und wenn es auch richtig ist, dass der Staat ein Kulturgebilde ist und die Kultur also eine staatsprägende Kraft, so ist daraus ja nicht schon abzuleiten, dass die Pflege der Kultur in die Verantwortung des Staates und nicht vielmehr der Gesellschaft fallen müsse - freilich ebensowenig das Gegenteil. (2) Im letzten Abschnitt des Manuskripts zu seinen religionsphilosophischen Vorlesungen spricht Hegel vom Entstehen, Bestehen und schließlich vom „Vergehen der Gemeinde" - und er macht sich selber den Einwand: „Vom Vergehen sprechen hieße mit einem Mißton endigen." Eine Nachschrift führt diesen Gedanken weiter: „Allein, was hilfts? Dieser Mißton ist in der Wirklichkeit vorhanden."15 An diese bekannten Wendungen fühle ich mich durch mein Thema erinnert: Ich habe vom Entstehen und vom Bestehen des Kulturstaats gesprochen, und nun scheint es unausweichlich, auch vom Vergehen des Kulturstaats zu sprechen - und natürlich nicht aus dem Wunsche nach Analogie, sondern weil dieser Misston in der Wirklichkeit vorhanden ist. Die duale Struktur des Kulturstaates, wie sie sich schon zu Hegels Zeit herausgebildet hat, ist - denke ich - diejenige Form gewesen, in der er sich am besten entfalten konnte, weil eben die Kultur sowohl in die Sphäre des objektiven als auch in die des absoluten Geistes fällt; sie unterliegt nicht strikt staatlichen Regelungen, doch sie bedarf staatlicher Regelungen - und dies weniger deshalb, weil ihr eine Staatsgestaltungskraft zukommt, als vielmehr deshalb, weil sie ein Ausdruck von Freiheit ist und die Freiheit unter der Obhut des Allgemeinen zumeist bessere Bedingungen der Entfaltung vorfindet als unter den Bedingungen partikularer Interessen. Dies ist die Situation, die Hegel am Verhältnis 15
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Vorlesungen, Bd. 5). Hamburg 1984, S. 94.
hg. von Walter Jaeschke, Teil 3 (Hegel,
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von Staat und Religion vorgefunden und durchdacht hat. Die Ausbildung des Kulturstaates in der Dualität von Staat und bürgerlicher Gesellschaft als Trägern der Kultur ist zu seiner Zeit noch nicht so ausgeformt gewesen, dass er sie als Spezifikum dieses Bereichs erkannt hätte - zumindest hat er sie nicht zum Thema gemacht. Dennoch scheint es mir nicht fraglich, dass er das heute sichtbare Vergehen des Kulturstaates und die Überantwortung des Geistes in die Verfügungsmacht gesellschaftlicher Gruppierungen als einen schrillen, alarmierenden Misston wahrgenommen hätte - zumindest als ein deutlich hörbares Warnsignal.
P I R M I N STEKELER-WEITHOFER
Die Seele der menschlichen Gesellschaft Staat und Kultur als Momente der Idee bei Hegel
1.
Die wirkliche Form humaner Vernunft
Mein Titel „Die Seele der menschlichen Gesellschaft" enthält in gewissem Sinn schon die Grundthesen meiner Überlegung. Die erste These sagt, dass Hegel, wie schon Piaton, die Verfassung oder politela einer Gesellschaft strukturell oder der Form nach mit der Verfassung oder psyche einer Person vergleicht. Das sagt Hegel selbst, im mündlichen ,Zusatz' zum § 1 der Rechtsphilosophie, und zwar als Kommentar zum allgemeinen Verhältnis von Begriff und Existenz. Der Kommentar betrifft also zunächst nicht etwa bloß den Begriff des Staates und des Rechts. Er besagt, wie ich schon jetzt vorgreifend behaupte, im Grunde das Folgende: Jedes Begriffswort ist immer auch als Titel einer Praxisform aufzufassen. Jede besondere Praxisform ist Teil oder Moment der Idee. Die Idee wiederum ist das System der den Menschen als frei handlungsfähige Person konstituierenden Praxisformen oder Institutionen. Um zu verstehen, was damit gesagt ist, betrachte ich paradigmatisch folgende Beispiele: Der Begriff des Versprechens ist nicht bloß eine Unterscheidung im Verhalten. Jede .Definition' dessen, was es heißt, ein Versprechen zu geben, verweist schon auf die Gesamtpraxis des Versprechen-Gebens, die Normen, die dafür gelten, und damit auf die Kooperationsform des Versprechens. Dasselbe gilt, auf verschiedenen Stufen der Allgemeinheit, für das Recht oder die Anklage, für das Bitten und Fragen, am Ende sogar für das Aussagen und Informieren. Sogar noch ein Begriff wie .Flasche' ist nicht bloß als kriteriale Klassifikation von Dingen zu verstehen, etwa aufgrund ihrer Gestalt, sondern enthält schon ,inferentielle' Normalfolgen der Art, dass das Gerät ein Behälter für Flüssigkeiten ist, der eine relativ kleine, längliche Öffnung zum Ausgießen hat. Als ,Zuhandenes* sind solche Dinge längst schon dingliche Teile von Praxisformen und keineswegs rein natürliche' Dinge.
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In gewissen Sinn ergänze ich hier Robert B. Brandoms inferentialistische Hegellektüre durch Hinzunahme einer Überlegung zur kollektiven und geschichtlichen Existenzweise von Normen in Praxisformen. Die Behauptung, dass Begriffe am Ende Praxisformen nennen, ist absolut zentral, wenn man den Unterschied zwischen Hegels Begriff des Begriffs und der üblichen Auffassung von Begriffen als bloßen Klassifikationen begreifen will. Hegels Begriff führt zu einer Auffassung von Logik, die, wie wir noch etwas genauer sehen werden, neu ist gegenüber der durch Aristoteles, Leibniz und dann auch Freges geprägten Tradition. Meine zweite These betrifft die Kerneinsicht Hegels in das Verhältnis zwischen einer Praxisform als Gegenstand der Reflexion und damit als Objekt, und einer Praxisform als empraktischer Vollzugsform, und damit als Subjekt. Der hilfreiche Ausdruck „empraktisch" stammt von Karl Bühler, dessen phänomenologische Sprachphilosophie immer noch unterschätzt wird. Als Vollzugsform existiert die Idee oder der jeweils relevante Begriff in der Orientierung je meines bzw. unseres Handelns. So existiert die Vollzugsform des Versprechens darin, dass wir uns Versprechen geben. Als Gegenstand der Rede und des Wissens wird sie etwa in einer (philosophischen oder mikrosoziologischen) Anthropologie beschrieben. Ich bzw. wir sind in dem Sinn die Idee, als wir die Praxisformen ausüben. Wenn ich mich daher auf mich als Akteur beziehe, beziehe ich mich nicht einfach auf ein leibliches Objekt, sondern auf ein Subjekt. Ich beziehe mich also nicht bloß auf meinen Körper, oder gar bloß auf mein Gehirn. Ich beziehe mich auf mich als die Person, die ich bin. Und diese bin ich in genau dem Maße und Sinn, wie das System der Rollen, die ich spiele bzw. spielen kann oder spielen könnte, meine Handlungsmöglichkeiten bestimmt. Dabei ist das Wort „Rolle" durchaus nichts anderes als die Übersetzung des Wortes „persona". Dieses Wort artikuliert eine Analogie mit einer Theaterrolle. Die Person hat ja wohl von den durchtönenden Theatermasken ihren Namen erhalten. Hegels Personbegriff gehört daher in die Protosoziologie, samt seiner Beobachtung, dass, wer bloß fremde Rollen spielt, auch kritisiert werden kann. Daher kann das Wort „Person" auch zum Schimpfwort werden. Es ergibt sich, dass eine Person zu sein, erstens bedeutet, ein ,Set' von Rollen spielen zu können, spielen zu dürfen oder wirklich zu spielen. Zweitens bedeutet es, dass wir Personen nur in der sozialen oder gesellschaftlichen Welt sind. Drittens sind wir, wie Hegel als Erster merkt, menschliche Subjekte nur als Personen. Denn wir müssen begrifflich die Subjektivität eines Begierdewesens, wie es ein Tier ist, das auf Wahrnehmungen hin sich selbst bewegt, von der Subjektivität, sprich: Personalität eines Menschen unbedingt unterscheiden. Die Seinsform, Verhaltensform oder Bewegungsform des Tieres ist empraktisch bloß durch die binäre Beziehung des Ich-Es, also TierUmwelt (Ding, Nahrung, Feind) bestimmt. Die Seinsform oder Handlungsform des Menschen dagegen steht immer in einer wirklichen oder möglichen triangulären IchDu-Es-Beziehung, genauer sogar, in einer Ich-Wir-Es-Relation. Meine dritte These besagt: Die charakteristische Grundform der Seinsweise des Menschen besteht in unserem auf Möglichkeiten ausgerichteten Handeln. Und dieses ist nur möglich auf der Basis der Übernahme von Rollen der Teilnahme an einem gemeinsamen
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Rollenspiel. Denn sogar dann, wenn wir ein begrifflich gefasstes Ziel, einen Zweck, auf der Basis unseres instrumentellen Wissens rational verfolgen, aktualisieren wir nur eine Handlungsform. Der Verstand ist dabei das Vermögen, die zugehörigen Denk- und Sprechhandlungsformen hinreichend richtig zu befolgen. Der Verstand ist daher immer tendenziell konservativ. Hume und seine Nachfolger, bis herunter zum mainstream der evolutionären Kognitionstheorien der Gegenwart und zum Teil leider auch noch in der philosophischen Anthropologie von Herder bis ins letzte Jahrhundert (Plessner, Gehlen), reflektieren auf den Menschen so, als sei er ein Tier mit etwas komplexeren Verhaltensmustern. Hegel erkennt dagegen, dass der Begriff, genauer, die Idee, also das System der Praxisformen, die genuine Seinsweise des Menschen bestimmt. Der Mensch ist wesentlich ein gesellschaftliches Wesen. Dies ist die Grundeinsicht jeder begrifflich aufgeklärten Soziologie. Sie erweist sich als Grundeinsicht in die Rolle des Logos oder Begriffs schon bei Heraklit, Piaton, Aristoteles und Hegel. Zentral ist dabei, dass Logos und Begriff nicht bloß als Wort und Klassifikation verstanden wird, wie in einer enggeführten Sprachphilosophie und Logik. Descartes, Kant und Fichte bauen, das ist meine vierte These, in gewissem Sinn die Brücke zu dieser Grundeinsicht Hegels in die Differenz zwischen dem Begriff bzw. der Idee als Objekt der Reflexion und der Rolle, die sie in der Seinsweise des menschlichen Subjekt, der Person, spielen. In charakteristischer Abwandlung der platonischen Methexis, die bei Piaton die Beziehung zwischen einem eidos als Idealform und einem empirischen Gegenstand (einem Ding) vermittelt, macht uns nach Hegel (und Heraklit) das Begriffsvermögen im Sinn des Vermögens des Verstandes, an den zugehörigen Praxisformen teilzunehmen, allererst zu vollwertigen Personen. Allerdings gehören wir allein schon als Menschen, vor aller Realisierung unserer Möglichkeiten, zur Personengemeinschaft. Meine fünfte These ist nun naheliegend: Hegels Verwendung des Ausdrucks die Idee ist als eine Art Hommage an Piaton zu begreifen. Sie ist, sozusagen, die Übersetzung des von Piaton selbst übrigens sehr, sehr selten gebrauchten Wortes idea. Es steht, genauer gesagt, „die Idee" als Singulare Tantum für Piatons idea tou agathou, also für die Idee des Guten. „Begriff' steht für eidos, Form. Hegel deutet dann aber, vielleicht radikaler und konsequenter als Platon, die Idee bzw. die Idee des Guten als System aller Begriffe, Formen oder eide und zwar in ihrem realen, aber gerade als solchem immer schon generischen und eben damit normativen Gebrauch. Eben damit stellt sich die Idee tatsächlich als System aller menschlicher Praxisformen heraus. Genauer gesagt, es nennt der generische Ausdruck „die Idee" nicht etwa ein jenseitiges Summum Bonum oder höchstes Gut, oder gar den (christlichen) Gott. Die Idee ist erst recht nicht als bloß verbal säkularisierte Variante der Rede von Gott aufzufassen, wie bis heute die meisten Hegel-Leser wenigstens manchmal, sozusagen passagenweise, zu glauben scheinen. Der Ausdruck „die Idee" nennt vielmehr, das behaupte ich, die den Menschen und sein besonderes Sein und Wesen definierenden Grundformen, wie sie sich in der allgemeinen Praxis des menschlichen Lebens zeigen, und zwar gerade auch in dem Teil unserer Praxis, in dem von uns einzelnes Tun als ein
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mehr oder minder guter oder mehr oder weniger verfehlter Versuch gewertet wird, die betreffende Form (,der Idee gemäß', wie wir überflüssigerweise hinzuzufügen pflegen) zu realisieren oder zu aktualisieren. Die vielleicht manchen Leser überraschende positive Einschätzung der Mystik eines Jakob Böhmes und der Philosophie Franz von Baaders durch Hegel erklärt sich jetzt, das ist meine sechste These, einfach daraus, dass diese die Rede von Gott als Rede über die genuin menschliche Subjektivität und Personalität verstehen oder jedenfalls ahnend in diese Richtung denken. Damit wird auch klar, dass Hegel selbst ,das Absolute' in dieser Subjektivität und Personalität sehen kann, genauer: in der Realisierung der Seinsweise des Menschen im Leben. Dass dies das Absolute ist, bedeutet einfach, dass hinter das Leben, hinter seinen Vollzug und hinter die Erfahrungen im Leben kein Wissens- oder Wahrheitsanspruch zurück kann. Die Differenz zwischen dem Empirismus und Skeptizismus Humes und der praktischen Erfahrungsphilosophie Hegels besteht also darin, dass Hume, wie auch neuere philosophische Anthropologen, etwa Ernst Tugendhat, die begrifflich-kategoriale Differenz zwischen der Seinsform des Menschen und der des Tieres (als bestia) nicht begreift und aufgrund seiner eingeschränkten Logik der Erfahrung als Wahrnehmung nicht explizit machen kann. Terminologisch ist wichtig, dass zoon oder animal einfach Obertitel sind und sowenig wie „Organismus" eine besondere Seins- oder Lebensform charakterisieren. In diesem Sinn ist, das ist meine siebente These und Hegels Kernthese, die Idee das System aller Normen des Richtigen oder Guten. Es ist dieses System am Ende sogar das, was das Denken und freie Handeln der einzelnen Menschen allererst ermöglicht. Die Idee selbst ist wirklich nur in unserer tätigen Teilnahme. Das heißt, sie ist wirklich in den Tätigkeiten, in denen wir die Normen des Richtigen oder Guten verwirklichen, dies wenigstens mehr oder minder richtig und nachhaltig versuchen, oder uns zumindest den entsprechenden Anschein geben. Damit ist klar, dass in gewissem Sinn die Idee nicht losgelöst vom Tun der Einzelnen existiert; dass sie aber, über die Bildung und Tradition, das Tun und Handeln der Einzelnen bestimmt. Hegels Rede über die Idee ist damit als Rede über die durch unsere Praxisformen bestimmte Kompetenz des verständigen und vernünftigen Denkens und freien Handelns zu verstehen. Dabei erkennt schon Hegel, lange vor dem vielbesprochenen linguistic turn nach Frege, die Bedeutsamkeit sprachlicher, besonders dann auch schriftsprachlicher, Repräsentationen. Aber er reduziert Sprache nicht auf einen bloßen Symbolgebrauch. Hegel sieht vielmehr mit seinem antiken Stichwortgeber Heraklit, dass das Denken etwas den Menschen Gemeinsames ist. Verstand und Vernunft haben wir in der Teilnahme am Denken und nur so. Dafür brauchen wir die Sprache. Diese ist daher nach Hegel wesentlich mehr und Anderes als bloßes Medium der Kommunikation. Sprache ist das Medium des Denkens. Wir denken wesentlich in Sprache. Dabei soll die Kultur des Denkens möglichst eine allgemeine sein. Daher ist es für Hegel wichtig, dass eine Schriftsprache leicht und von allen lernbar ist und die terminologischen bzw. begrifflichen Fixierungen einer verschriftlichten Wissenschaft Rückwirkungen auf einen strengeren Gebrauch der Lautsprache haben (können). Daraus ergibt sich für Hegel, lange vor der postmodernen Debatten zu diesem Thema, die enorme kulturelle Bedeutung
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der Buchstabenschrift, über alle graphematischen Hieroglyphen der Ägypter, Chinesen, Chemiker und Mathematiker hinaus, die schon Leibniz, Hegel zufolge, in ihrer Bedeutung überschätzt.1 Allerdings reicht für eine Analyse des verständigen bzw. des vernünftigen Denkens, das ist meine achte These, eine Betrachtung bloß sprachimmanenter Normen und Regeln nicht aus. Denn das führt bloß in einen linguistischen Idealismus, dem das Verhältnis von Sprache und Welt ebenso verschlossen bleibt wie das Verhältnis zwischen Begriff und Praxisform, Verstehen und institutioneller Kompetenz. Es bedeutet, dem entsprechend, die Rede von einem Gedanken bei Hegel nicht etwa bloß, wie in der Nachfolge Freges, dass formell irgendwie als wahr oder falsch bewertete Sätze bzw. Äußerungen thematisch werden, die als Vergegenwärtigen von Gedanken oder als ihre sprechaktartige Erfassungen schon vorexistenter Gedanken verstanden werden. Ein Gedanke in Hegels Sinn ist immer eine mögliche strukturelle Einsicht in die Idee. Ein Gedanke betrifft also immer eine Form oder Struktur als Teil oder Moment der Idee des Guten. Diese Idee des Guten ist keine leere Utopie oder jenseitiges Ideal. Sie ist die wirkliche menschliche Lebenspraxis selbst in ihren wirksamen Formationen. Zu diesen Formationen zählt immer auch die gemeinsame Entwicklung dieser Formationen. Diese Selbstformung des Menschen in der Entwicklung unserer Praxisformen oder Institutionen erscheint uns zunächst so, als sei sie auf ein vorgegebenes ideales Ziel ausgerichtet. Noch Kant denkt so. Das ist aber nur deswegen so, weil wir in der je gegenwärtigen Entwicklung unserer Lebensform darüber urteilen, was eine bessere oder schlechtere besondere Realisierung der allgemeinen Idee einer vernünftigen Entwicklung ist. Die Vernunft - das ist meine neunte These - unterscheidet sich vom Verstand dadurch, dass letzterer im Vermögen besteht, das bisher allgemein entwickelte Wissen und Können den bisherigen Kriterien des Richtigen gemäß anzuwenden. Die Vernunft besteht in der freien gemeinsamen Entwicklung dieses Wissens und Könnens. Genauer, wir unterscheiden zwischen vernünftigen und unvernünftigen Entwicklungen. Das Grundproblem des gegenwärtigen naturwissenschaftlichen oder evolutionsbiologistischen Weltbildes besteht darin, dass es diese Beurteilungspraxis in ihrer offenen Form nicht erkennt oder anerkennt, und zwar weil das Muster oder Modell der Evolution ein handlungs- und intentionsfreies Geschehen ist. Das ,Natürliche' der Evolution bedeutet ja, dass keine Kultur und keine Absicht involviert sind. Indem in evolutionistischen Geschichten Vernunft infrage gestellt wird, wird sie unbemerkt abgeschafft. Mit anderen Worten, der Evolutionismus betrachtet uns, aufgrund seiner Darstellungsform, als Verhaltenstiere auf hohem Verstandesniveau. Das war schon die verfehlte Betrachtungsweise Humes. Da Hegel das sieht, ist seine 1
Hegels Kritik am Chinesischen ist, wie wir heute sehen, vielleicht nicht ganz gerechtfertigt, aber sie ist prima facie nicht unplausibel: „diese Art von Schriftsprache kann [...] nur der Anteil des geringeren Teils eines Volkes sein, der sich in ausschließendem Besitze geistiger Kultur [sie! PSW] hält". Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Werke, TheorieWerkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 10, S. 274.
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Philosophie bis heute höchst aktuell. Sie, nicht das naturwissenschaftliche Weltbild des vorigen und des 19. Jahrhunderts, mit oder ohne symbolic oder formalistic turn', ist die Vollendung von Kants Aufklärung. Eine wesentliche Aufgabe der Philosophie besteht seither darin, die Vernunft als interne Form der je gegenwärtigen Beurteilung des Richtigen und Guten in freien Entwicklungen menschlicher Institutionen begreifbar zu machen. Damit ist ihre Wirklichkeit gegen jedes utopische Gerede von einer Transzendenz der Vernunft zu verteidigen. Wer nicht am Urteil der Vernunft, also an der freien Debatte über vernünftige Entwicklungen teilnimmt, ist am Ende bloß skeptizistisch, damit latent konservativ, oder bloß überheblich, dogmatisch. In beiden Fällen verzichtet er auf eine selbstbewusste Teilnahme am Projekt der gemeinsamen Entwicklung der condition humaine. Skeptizismus und Dogmatismus sind daher verwandter als es scheint. Kollektiv führen sie zur Regression der Identifikation von Verstand und Vernunft. Das Gerede davon, dass die Vernunft nicht wirklich sei, erweist sich damit am Ende als ähnlich töricht wie die These eines Protagoras oder Hume, nach der es keinen Kreis gäbe, weil jede Realisierung der Kreisform unvollkommen sei. Das ist sie zwar in der Tat. Aber das besagt nichts über die Wirklichkeit der Form des Kreises. Gleiches gilt für die Wirklichkeit des Vernünftigen. Die ideale Form des Kreises ist das wahre Unendliche im Hinblick auf immer bessere Realisierungen von Kreisgestalten. Sie ist nicht, wie nach der Vorstellung von einem bloßen Und-So-Weiter der schlechten Unendlichkeit, als jenseitige Grenze oder transzendentes Ziel einer realen Folge von real gezeichneten Kreisen misszuverstehen. Sie expliziert vielmehr die Form des Kreises und mit ihr den Begriff des Kreisförmigen (bzw. Kreisförmigeren) in der Realität der Gestalten. Auf ganz gleiche Weise artikulieren wir unter dem Titel „die Vernunft" kein Jenseits, sondern die wirkliche Form der Beurteilung, ob etwas vernünftig oder wenigstens vernünftiger ist als etwas anderes. Hegel ist wohl der Erste, der diese tiefe Einsicht der Ideenlehre Piatons in der Neuzeit wiederentdeckt bzw. in ihrer Bedeutung gerade auch im Kontext einer logischen Kritik an jedem Relativismus begriffen hat. Der logisch nachgerade fundamentale Kerngedanke der Ideenlehre ist, dass einstellige Prädikate wie „ist groß", „ist schön", „ist richtig" oder „ist vernünftig" in ihrer Bedeutung sekundär sind zu den Relationen, die artikuliert sind durch die Ausdrücke „ist größer", „ist schöner", „ist richtiger" oder „ist vernünftiger". Das heißt, etwas ist groß, wenn es größer ist als der implizite Standard, dem zufolge wir in der besonderen Situation das Kleine vom Großen trennen. In analoger Weise ist ein reales Gebilde ein Kreis, wenn es kreisförmiger ist als der implizite Standard, der in der relevanten Hinsicht der konkreten Situation das Kreisförmige vom Nichtkreisförmigen trennt. Es ist in eben diesem Sinn nur eine metaphorische bzw. analogische façon de parier zu sagen, dass eine Gestalt ein Kreis ist genau dann, wenn sie in einer angemessenen Teilhabe-Relation zum idealen Kreis, also zum eidos oder der Idee des Kreise, steht bzw. dieser unendlichen Idee in gewissem Sinne hinreichend nahe kommt. Piatons Ideenlehre entsteht aus dem Geist der Geometrie. Und mir scheint es so, als habe Hegel das klar erkannt.
D I E SEELE DER MENSCHLICHEN GESELLSCHAFT
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Im Allgemeinen ist auch der Ausdruck „ist wahr" komparativ zu verstehen. Das mag unerhört erscheinen. Dies ist aber eine weitere Kerneinsicht Hegels. Sie widerspricht einem allgemeinen Ondit einer bloß formalen Logik. Dass etwas wahr ist, bedeutet nämlich gerade, dass es epistemisch richtiger ist als alle relevanten Alternativen. Es ist in dieser Deutung ganz klar, warum es falsch ist, schematisch anzunehmen, ein Satz sei unabhängig von besonderen Situations- und Relevanzbeurteilungen wahr oder falsch, ein Drittes gäbe es nicht. Etwas ist vielmehr wahr, wenn er hinreichend richtig ist für eine gute gemeinsame Orientierung. Gerade so gehen wir im Allgemeinen mit dem Wort „wahr" um, nicht so, wie die formale Wahrheitswertlogik meint, die am Ende nur für Sonderfälle wie triviale Konstatierungen oder mathematische Sätze taugt. Nur dort erzeugen wir zweiwertige Ausdrucks- oder Satzsysteme. Dabei haben schon Piaton und Parmenides mit Heraklit die Grenzen der zweiwertigen Wahrheitslogik erkannt. Der skeptische Relativist wie der dogmatische Absolutist verwechseln das Relationale unserer Urteile mit dem Relativen bloß subjektiver Meinungen. Das ist die zentrale Einsicht Piatons. Und sie verkennen die Form unserer reflektierenden Reden über Formen, Ideen und Ideale in ihrer logischen und sachlichen Konstitution. Das im Einzelnen zu zeigen, dürfte hier allerdings zu weit führen. Immerhin behaupte ich, dass Hegel diese Einsicht aus seiner Lektüre Piatons und des Aristoteles übernimmt. Ein Gedanke, jedenfalls in Hegels Sinn, ist nun eine (möglichst angemessene, richtige, wahre, vernünftige) Einsicht in die Grundform der condition humaine bzw. das System der Grundformen des menschlichen Lebens. Diese Grundformen, das System der wirklichen Praxisformen, machen das substantielle Wesen des Menschen als eines vernünftiges Wesen aus. Dieses Wesen oder diese Substanz ist ganz im Sinn der (zweiten) ousia des Aristoteles zu verstehen. Der oben schon erwähnte Zusatz zum § 1 der Rechtsphilosophie sagt nun im überlieferten Wortlaut: „Der Begriff und seine Existenz sind zwei Seiten, geschieden und einig, wie Seele und Leib. Der Körper ist dasselbe Leben als die Seele, und dennoch können beide als auseinanderliegende genannt werden." Dabei macht die letzte Formulierung klar, dass die Trennung von Körper und Seele, wie die Trennung von Begriffswort und Begriff, Ausdruck und Inhalt, Symbol und Gebrauch, bloß eine verbale Trennung ist. Es werden also in der Reflexion bloß verschiedene Aspekte oder Momente einer Gesamtpraxis genannt und thematisch hervorgehoben, ohne dass es diese Aspekte oder Moment ohne den Gesamtkontext gäbe. Dass das eben so und nicht anders gemeint ist, wird schon dadurch klar, dass Hegel so fortfährt: „Eine Seele ohne Leib wäre nichts Lebendiges, und ebenso umgekehrt. So ist das Daseyn des Begriffs sein Körper, so wie diese der Seele, die ihn hervorgebracht, gehorcht." Ich behaupte, dass das Dasein des Begriffs in der wirklichen Praxisform des Differenzierens besteht, die aber nicht etwa bloß eine verbale ist, weil die Unterscheidungen und Urteile inferentiell zu weiteren Urteilen und diese am Ende zur Orientierung unse-
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rer Handlungen führen. Das Absolute, das Hegel begreifen will, besteht gerade in dieser normativ angeleiteten Praxis selbst. Den Normen gehorchen bedeutet, Begriffe und die Idee zu begreifen. An dieser Stelle fährt Hegel so fort: „Die Einheit des Daseyns und des Begriffs, des Körpers und der Seele, ist die Idee. Sie ist nicht nur Harmonie, sondern vollkommene Durchdringung. Die Idee des Rechts ist die Freiheit". Der enge Bezug zu Piaton zeigt sich in der Abwehr der im Dialog Phaidon diskutierten, dort ebenfalls als zu schwach eingeschätzten, Vorstellung, dass die Seele als Harmonie zu verstehen sei. Meine zehnte These besagt nun, dass der Staat die Seele der bürgerlichen Gesellschaft ist. Genauer sagt sie, dass der Staat gerade aufgrund seiner Rechtsschutzfunktion wesentliches Moment der Verfassung einer Gesellschaft freier Personen ist. Die These, die Hegel freilich in ganz anderen Worten vorträgt, ergibt sich aus dessen Kritik an Kants Zugang zur Moral. Dieser Zugang ist, so Hegel, erstens subjektivistisch. Zweitens ist der axiomatische Ansatz problematisch. Kants .Grundsätze' sind nämlich weder erste Sätze in begründenden Herleitungen weiterer Sätze und Urteile; noch artikulieren sie unmittelbare Verfahren des Begründens. Sie machen nur gewisse zentrale Aspekte oder Momente der je relevanten Praxis bzw. der Idee explizit. Sie legen damit der Praxis keineswegs in der Weise Grundsätze zugrunde, wie Kant meint und seine Anhänger uns bis heute glauben machen. Kants Subjektivismus zeigt sich in einer Position, die dem ethischen Intuitionismus der britischen sentimentalen Moral oder des Rousseau ähnelt. Ihr zufolge können wir angeblich eine Norm wie die, dass wir geliehenes Gut (Depositum) zurückgeben müssen, unmittelbar einsehen. Freilich setzt Kant nicht auf das reine Gefühl, sondern auf das reine moralische Denken, die reine praktischen Vernunft. Das bedeutet, rein analytische und präsuppositionslogische Konsistenzüberlegungen sollen uns nach Kant zu dem reinen praktischen Urteil führen, dass man zum Beispiel nicht Stehlen soll, oder dass Verträge einzuhalten sind. Denn das, was diese Sollenssätze sagen, können wir, so scheint es, widerspruchsfrei als allgemeine Gesetze wollen. Hegels Einsichten verdanken das meiste den Überlegungen Kants. Dennoch weichen sie von Kant ab. Denn Hegel erkennt, im Grunde mit Hobbes, dass es ohne die Sphäre des Rechts und damit des Staates gar keine Praxis des Leihens, ja gar kein Eigentum und keinen Besitz, daher auch keinen Diebstahl geben kann. Das heißt, die Begriffswörter „Leihen", „Eigentum", „Vertrag" und dann auch „Stehlen" hätten gar keinen Inhalt. Ein Vogel kann einem anderen das Futter, die Eier oder das Nest nur in einem übertragenen, metaphorischen Sinn stehlen oder rauben. Es gehört zu einer leider noch kaum entwickelten sprachphilosophischen Aufklärung, dass für ein kritisches Denken in gewissem Sinne die Differenz zwischen bloß metaphorischen Zuschreibungen und inferentiell volleren, .wörtlicheren' Aussagen absolut zentral ist. Ohne die Idee oder Institution des Eigentums könnte es nicht einmal eine moralische Pflicht geben, das Eigentum zu respektieren. Das hängt an den rechtlichen Normen und Gesetzen eines installierten und anerkannten Eigentumsregimes. Analoges gilt für die Praxis des freien
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Vertragsschlusses. Nur auf der Grundlage der entsprechenden Kulturpraxis sind Verträge einzuhalten. In eben diesem Sinn trennt Hegel in der Rechtsphilosophie die Ebene der besonderen Frage, was alles rechtens ist, was also zum besonderen positiven Recht eines Landes gehört, von der allgemeinen Frage, was Recht ist, was sich also aus der Idee oder Praxisform des Rechts überhaupt ergibt. Diese allgemeine Frage führt zu einer neuen, nicht mehr bloß mystisch-dogmatischen oder bloß historischen Begründung dessen, was man früher ,JVaturrecht" genannt hatte. Die historistische Rechtsschule von Savignys begreift in ihrer Hegelkritik eben das nicht, dass Hegel das so genannte Naturrecht aus der faktischen Anerkennung und freien reflektierten Einsicht in die Anerkennungswürdigkeit der Grundnormen einer staatlich verfassten Rechtspraxis entwickelt und gerade nicht etwa aus bloßen Worten, die mit Begriffen verwechselt werden. Mit anderen Worten, der Form nach ist Hegels Analyse eng verwandt mit Kants transzendentaler bzw. präsuppositionslogischer Reflexion auf die Voraussetzungen einer Praxis, die wir als gut anerkennen. Dem Inhalt nach aber begreift Hegel diese Voraussetzungen nicht als bloße Denkformen, sondern als Institutionen. Hegel fragt dabei unter anderem, warum wir insgesamt Staat und Recht als formelle Institutionen brauchen, warum wir sie anerkennen und warum wir sie, wenn wir vernünftig sind, anerkennen sollen.
2.
Der Staat als Garant der freien Person
Die einzelne Seele, unter Einschluss der so genannten Vernunftseele, macht als einzelne psyche die ousia oder das Formwesen des lebendigen Einzelmenschen als Menschen (und nicht etwa bloß als Lebewesen, als möglicherweise bloß noch vegetierendes zoon) aus. Eben so macht die Sittlichkeit, heute sagt man dafür: die Kultur (im allgemeinsten Sinn des Wortes), das Formwesen der vollen bürgerlichen Person als Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft aus. Der Staat und sein Recht stellen sich dabei als wesentlicher Teil eben dieser wirklichen Kultur heraus. Dies zu zeigen, ist die selbstbewusste und selbstbestimmte Aufgabe von Hegels Rechtsphilosophie. Er richtet sich dabei gegen alle bloß historistischen und positivistischen Rechtfertigungen des Staates und des Rechtes einerseits, gegen die traditionelle Vorstellung von einer Dominanz der Religion über den Staat und das Recht andererseits. Er lehnt also die Idee eines Primats des Religiösen oder auch bloß subjektiv Moralischen, des ehrlichen Gewissens, vor dem positiven Recht ab, ohne damit die tiefe Bedeutung der Subjektivität, der freien Anerkennung des Staates und seines Rechts zu verkennen. Kurz, Hegel ist ein entschiedener Gegner jeder .politischen Theologie', bis herunter zu Carl Schmitt, der zufolge der moderne Staat die historische Religion als Grundlage bräuchte. Was der Staat aber in der Tat braucht, ist etwas anderes: Er braucht Erziehung und Bildung. Deren Ziel ist die subjektive Anerkennung, vielleicht sogar die enthu-
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siastische Teilnahme, am Projekt der gemeinsamen Entwicklung menschlicher Kultur. Insofern sie die Aufgabe der Pflege dieses Enthusiasmus übernommen hatte, spielte und spielt die Religion durchaus eine wichtige Rolle im Staat und für Recht und Moral. Sie hilft dabei in einem gewissen Rahmen bei der Entwicklung der freien Subjektivität des Einzelnen, insbesondere aber seines Bewusstseins und Gewissens im Sinne der freien und eigenen Beurteilung des epistemisch Wahren und des ethisch Richtigen. Dies geschieht in bewusster Teilnahme an einer gemeinsamen Entwicklung der Vernunft, genauer, der Idee des Guten. Daher kann die Religion gerade nicht im Gegensatz zur weltlichen Gesellschaft begriffen werden, sondern muss die Form der Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen annehmen. Soweit diese Aufgabe von religiösen Gemeinden übernommen wird, ist es gut. Wenn diese die Aufgabe zum Teil verfehlen, wie etwa die Quäker, weil sie den Staat nicht in seinem Recht samt der zugehörigen Machtfunktionen (hier geht es um die Pflicht des Wehrdienst, in anderen Fällen um den Eid etc.) anerkennen, braucht der Staat oft Toleranz. Die Toleranz gegenüber Gruppen von Dissenters ist Toleranz im echten Sinn, wie Hegel sagt, und zwar weil hier etwas, was im Grunde falsch ist, toleriert wird. In solchen Fällen wäre es aber ebenfalls falsch, ja noch falscher, der subjektiven Ehrlichkeit des falschen Denkens etwa der Quäker oder Zeugen Jehovas einfach einen staatlichen Zwang entgegenzusetzen. Auf schöne und leider nie genügend ernst genommene Weise zeigt sich Hegels Idee der Versöhnung staatlichen Rechts und persönlicher Freiheit in seiner Antwort auf die nationalistischen Gegner der Juden-Emanzipation in Preußen.2 Die Juden unterscheiden sich in Europa von der Umgebung als Nation und in der Religion. Gerade deswegen bedürfen sie des staatlichen Schutzes, obgleich sie sich auch selbst kulturell aussondern. Der moderne Territorialstaat darf nämlich, so Hegel, weder eine besondere Religionsgemeinschaft noch eine besondere Nation auf seinem Territorium besonders befördern. Der Staat hat vielmehr die Freiheit der einzelnen Menschen zu schützen. Im Grunde gibt es nur im Staat eine freie Person. Und der Staat ist der Staat freier individueller Personen. Der Staat hat damit als Aufgabe die Förderung einer entsprechenden Integration des Staatsvolks, und zwar über alle religiösen und nationalen Grenzen hinweg und hinaus.3 2
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Es soll nicht geleugnet werden, dass der frühe Hegel selbst antisemitische Äußerungen tätigt, umso ehrenvoller erscheint mir seine spätere Kritik an dem antisemitischen ,Geschrei' der Patrioten'. Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 7, § 270, besonders die 2. Anmerkung: „So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung der Verleihung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie sich nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volke angehörig ansehen sollten [wohl richtiger: wollten, PSW], so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache, abstrakte Qualität ist (§ 209 Anm.), sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Personen in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten, und aus dieser unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt. Die den Juden vor-
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Besonders vehement richtet sich Hegel dabei gegen neue Strömungen, wie sie im Gefolge der französischen Revolution immer mächtiger werden. Als erstes richtet er sich gegen ein völkisches Sentiment und Gegensentiment oder Ressentiment, besonders gegen Fries und seine sentimentale Unterstützung nationaler Burschenschaften.4 Er sieht, weit über dieses Beispiel hinaus die Gefahr, die von der Subjektivität in der Vorstellung von der Vormacht des Moralischen über das Recht ausgeht. Er erkennt die verheerenden Folgen eines bloß subjektiven Appells an das, was angeblich vernünftig sein soll, als wäre mein Gewissen oder meine Intuition eine unmittelbare Instanz der Vernunft. Eben daher taugt auch Humes Appell an einen common sense wenig, schon gar nicht die sentimentale Moral bei Hutcheson oder Rousseau. Das Problem sehen wir in den Folgen: der subjektiv ehrliche Anarchismus der subjektiven Tugend, einer bloßen sincerity ohne accuracy (Bernard Williams), in der die gemeinsame Anerkennbarkeit einer Norm kontrolliert wird, schlägt nicht nur bei Robespierre in eine Diktatur eitler und leerer Selbstgewissheit um. Es ist daher ein bemerkenswertes, wenn nicht erschreckendes, Zeichen an Ignoranz, wenn man mit Sir Karl Popper Hegel und Piaton als angebliche Feinde einer offenen Gesellschaft ausgibt, statt als hellsichtigste Warner vor den kulturzerstörerischen Folgen einer sentimentalischen Politik und einer bloß erbaulichen und damit immer zugleich sykophantischen Verteidigung des Guten und Schönen. In welchem Sinn der Staat nun die Seele der bürgerlichen Gesellschaft und institutionelle Ermöglichungsbedingung einer freien Person ist, zeigen folgende Beispiele: Ohne entsprechende Schutzgesetze (Sanktionsdrohungen und Sanktionen) gibt es keine Institution des Eigentums.5 Ohne Staat oder staatsähnlichen Gebilde gibt es die mit
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geworfene Trennung hätte sich vielmehr erhalten und wäre dem ausschließenden Staate mit Recht zur Schuld und Vorwurf geworden; denn er hätte damit sein Prinzip, die objektive Institution und deren Macht verkannt (vgl. § 268 Anm. am Ende). Die Behauptung dieser Ausschließung, indem sie aufs höchste recht zu haben vermeinte, hat sich auch in der Erfahrung am törichtsten, die Handlungsart der Regierungen hingegen als das Weise und Würdige erwiesen." Vgl. ebd. die „Vorrede". Hegel polemisiert dort nicht bloß allgemein gegen die Seichtigkeit bzw. Oberflächlichkeit von Fries (und seiner Schule), sondern besonders gegen die Idee eines „Gemeingeistes" „von unten aus dem Volke" und den ebenso erbaulichen wie gefährlichen Vorstellungen von einer „heiligen Kette der Freundschaft" bzw. „den Brei ,des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung'" und erklärt, dass derartige Gefühlsgenossen „den Hass gegen das Gesetz auf der Stime tragen". Hegel übernimmt hier zumindest partiell die Lehre Lockes, nach welcher ich durch Arbeit oder Formierung einen Gegenstand in mein Eigentum überführen kann: „Durch die Formierung erhält die Bestimmung, daß etwas das Meinige ist, eine für sich bestehende Äußerlichkeit und hört auf, auf meine Gegenwart in diesem Raum und in dieser Zeit und auf die Gegenwart meines Wissens und Wollens beschränkt zu sein. Das Formieren ist insofern die der Idee [das heißt: der Lebensform der freien Person, P S W ] angemessenste Besitznahme, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt, übrigens nach der qualitativen Natur der Gegenstände und nach der Verschiedenheit der subjektiven Zwecke unendlich verschieden. - Es gehört hierher auch das Formieren des Organischen, an welchem das, was ich an ihm tue, nicht als ein Äußerliches bleibt, sondern assimiliert wird: Bearbeitung der Erde, Kultur der Pflanzen, Bezähmen, Füttern
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den Begriffen des Eigentums und Besitzes verbundenen Institutionen oder Praxisformen nicht. Geld- und Warenverkehr oder formelle Arbeitsverträge zwischen freien Personen wären unmöglich. Hegel sieht hier, wie später auch Marx, dass die liberalistischen Naturrechtler, besonders auch Adam Smith, die Bedeutung des Staates für die kapitalistische Ökonomie unterschätzen. Darin besteht das Irreführende der Lehre von der unsichtbaren Hand, die sich ja auf Mandevilles Bienenfabel stützt und damit auf die These, dass private Laster wie Geiz und Profitgier sich angeblich unmittelbar, quasi automatisch, in öffentlichen Wohlstand verwandeln. In diesem Glauben meinen Wirtschaftsliberale bis heute, der Staat sei möglichst schwach zu halten und die gesetzlichen Regelungen gerade auch des Eigentums auf ein Minimum zu beschränken. Das meinen sie aber regelmäßig nur solange, wie ihre Klientel, die Besitzenden, vom laisser faire des Staates profitieren. Sofort, wenn es um ihr Interesse und Besitz geht, soll der Staat dann doch mächtig intervenieren, mit Gesetzen, Polizei, und Armee. Dieser offenkundige Widerspruch zeigt, dass der Wirtschaftsliberalismus die methodische Ordnung, das heißt, die Abhängigkeit einer liberalen Ökonomie von der Staatsmacht, entweder aus Unkenntnis, und damit töricht, oder ideologisch, und damit strategisch, leugnet. Dabei hilft ihm, dass im Alltag oder Normalfall die Gesetze und Sanktionsdrohungen des Staates im Hintergrund wirken. Sie sind gerade das Unsichtbare der bloß vermeintlich unsichtbaren Hand. Übersehen wird, dass ihre Funktionsweise gerade auch für den Alltag sichtbar gemacht werden kann und dies im Interesse eines aufgeklärten Selbstbewusstseins auch muss. Das zeigt sich gerade in der Krise oder im Ausnahmezustand. Die Bankenkrise der Gegenwart macht das wieder einmal deutlich. Wie wenig autonom der Bereich des Ökonomischen ist, sieht man besonders schön am modernen Beispiel der Institution der Aktie: Es gäbe keine Aktien, wenn es keine rechtlich fixierten Regeln und Sanktionen gäbe, etwa für den freien Weiterverkauf von Aktien oder für das Verbot des Insiderhandels. Denn sonst wäre der anonyme Aktienkäufer von vornherein bloß der Dumme. Er könnte dann den jeweiligen Firmen (bzw. Aktiengesellschaften) in Gestalt ihre Manager das Geld auch schenken und bloß um allfällige Dividenden im Erfolgsfall bitten und auf die ,Ehrlichkeit' der freien Versprechen der Leiter des Betriebs vertrauensvoll hoffen. Aktienemissionen als Geldbeschaffung etwa für Investitionen wären in einem solchen Fall offenbar kaum mehr möglich. Für diese reicht nämlich der bloße Anteil am sächlichen Eigentum der AG (wie zum Beispiel an ihrem Grundbesitz oder ihrem dinglichen Besitztum) längst nicht mehr aus. Es ist daher ganz absurd zu glauben, die Freiheit der personalen Beziehungen in einer liberalen, freiheitlichen, Gesellschaft könne es ohne Staat geben. Diese Einsicht geht insofern über Hobbes hinaus, als jener nur mit dem Gut des Friedens argumentiert und damit unter anderem das Gut der Freiheit der Person und die Güter des Wohlstandes
und Hegen der Tiere; weiter vermittelnde Veranstaltungen zur Benutzung elementarischer Stoffe oder Kräfte, veranstaltete Einwirkung eines Stoffes auf einen anderen usf." Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), S. 121f.
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unterschätzt, um von der Gerechtigkeit sowohl als (,arithmetischer') Gleichheit, als auch als (,proportionaler') Fairness gar nicht zu reden. Im Unterschied zu Hobbes erkennt Hegel, dass der Staat die institutionelle Voraussetzung nicht bloß von Frieden und Sicherheit der Einzelmenschen oder Familien, sondern auch von Freiheit und Fairness in einer u. a. vertraglich organisierten Arbeitsteilung (bzw. freien Kooperation) ist. Damit ermöglicht er auch erst die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Wohlstand. Dabei gibt es auszugleichende, vernünftig zu versöhnende bzw. aufzuhebende, Spannungen bzw. ,Widersprüche' nicht bloß zwischen den Personen als Rollenträger in der Arbeits- und Machtteilung, sondern auch zwischen verschiedenen Wert- bzw. Bewertungssphären. Hobbes erkennt ja schon: Die höchste Freiheit führt in die höchste Unsicherheit. Handlungsfreiheit setzt, wie Locke sieht, eine gewisse Sicherheit im Umgang mit den Ergebnissen der eigenen Arbeit und damit den staatlichen Schutz des Eigentums voraus. Aber ohne eine basale Absicherung der ökonomischen Grundlagen kann man nicht erwarten, dass ,das Volk' (bzw. ,der Pöbel' wie Hegel das Wort „proles" übersetzt, also das Proletariat) die positiven Gesetze eines Landes anerkennt: Das proletarische Volk kann Gesetze nicht anerkennen, wenn diese es am Überleben hindern, wie Hegel in seiner Arbeit zur englischen Reformbill und in seiner Kritik an der britischen Aristokratie besonders wegen ihrer Politik in Irland und ihrer Vertreibung der Landbevölkerung von ihrem Grund und Boden völlig klar macht. Damit beginnt mit Hegel die philosophisch-strukturelle Begründung dafür, warum ein wahrhaft liberaler Staat gerade wegen seiner Aufgabe des Schutzes der freien Individuen am Ende in einem weiten Sinn sozialliberal verfasst sein muss.6 Freilich nennt Hegel nur das Problem. Die Lösung kennt er nicht. Aber gerade das macht ihn groß. Dabei ist nicht so wichtig, ob die Staatsform monarchisch ist (wie bis heute in England), republikanisch (wie im alten Rom, Venedig, oder dem Frankreich der Revolution) oder demokratisch im modernen Sinn (mit monarchischen und republikanischen Momenten in der Exekutive eines mit zeitlicher Befristung gewählten Präsidenten oder Kanzlers). Hegel erkennt außerdem, dass von der administrativen Form her die bürokratische Entwicklung des Kontinents, vom Absolutismus Spaniens und Frankreichs bis zum Bonapartismus und die preußischen Reformen fortschrittlicher' sind als die englische, aristokratische Staatsform. Hegels Rechtsphilosophie ist wirklich liberal in dem Sinn, als sie den Begriff bzw. die Kulturpraxis des freien Willens des Subjekts ins Zentrum seiner wesens- bzw. präsuppositionslogischen Analysen und Rechtfertigungen staatlicher Macht stellt. Dialektik bedeutet hier die Einsicht, dass es ohne Macht und Gewalt keinen Rechtsstaat gibt. Die Funktionsweise der Analyse und Begründung ist dabei ganz analog zu Kants transzendentaler Analytik. Die Differenz besteht nur darin, dass Kant formale Bedingungen der Möglichkeit einer realen Praxis, der Praxis des erfahrungswissenschaftli6
Es ist daher kein Wunder, dass etwa F. A. Hayek in den von Popper angeführten Chor der HegelKritiker einstimmt, wobei es sich aber nur um eine ideologische Auseinandersetzung eines Wirtschaftsliberalen mit einer modernen Staatsidee handelt, ohne dass das freilich von Popper bemerkt würde.
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chen Urteils in der Theoretischen Philosophie und der Praxis des moralischen Urteils in der Praktischen Philosophie, bloß postuliert. Hegel dagegen zeigt die Seinsweise dieser formalen Bedingungen auf. Und Hegel erkennt, dass wir von einem transzendentalen Schließen auf notwendige Voraussetzungen übergehen müssen zu einer Analyse einer methodisch gestuften Praxis. Die praktische Vernunft und ihre Formen des Urteilens erweisen sich damit als praktisch wirklich. Sie verwandeln sich von bloß idealen oder formalen Denkformen in das, was Hegel in Anlehnung an Piaton, nicht Locke, Idee nennt: die Wirklichkeit des Wahren, Guten und Schönen.
3.
Kultur als Sittlichkeit
Neben dem Staat und seinem formellen Recht gehört dann auch das, was Hegel „Sittlichkeit" nennt, zur Verfassung des Menschen, zur condition humaine. „Sittlichkeit" ist dabei die deutsche Übersetzung von Ethos. Wir Heutigen verwenden dafür, wie schon erwähnt, in der Regel das Wort „Kultur". Wir meinen aber damit im Grunde absolut nichts anderes, es sei denn, wir reduzieren Kultur auf Feierabendgestaltung. Das zeigt sich gerade auch an der folgenden Übersetzung eines der wichtigsten und tiefsten Kernsprüche des Heraklit, Hegels Lieblingsphilosophen der Antike, von dem er explizit sagt, dass er jeden einzelnen von dessen Sätzen in seine Überlegungen eingebaut habe. Der Satz, den ich meine, lautet: „ethos anthropo daimon". Meine Übersetzung ist: Die Kultur ist dem Menschen der Geist. Hegel liest Heraklit in einem ähnlichen Sinn. Eine nach meinem Urteil im Wesentlichen äquivalente Übersetzung lautet: Die Sittlichkeit ist das Geistige am Menschen. Um zu zeigen, dass hier nicht die Sitte im Sinne bloß kontingenter Verhaltensweisen gemeint sind, kann man dasselbe auch so sagen: Das implizit von kulturell gebildeten Menschen faktisch anerkannte und entsprechend anzuerkennende System der Normen des Richtigen macht den Geist der Menschen aus. Kurz: Die Idee ist der Geist. Diese Normen des Richtigen lassen sich in die Sphären des Wahren, des Guten und des Schönen aufgliedern, also in die Praxisform der Wissenschaft, die Praxisformen des staatlichen Rechts und der substaatlichen Moral subjektiv-ethischer Urteilskraft, und schließlich in die Praxisformen einer Kultur des Schönen im engeren Sinn. Diese reicht von allen Formen des Feierns in einer Gemeinschaft oder in Gemeinden über religiöse Zeremonien bis zur modernen Schrumpf-Form von Kunst als Sammlung vitrinisierter Gegenstände in Kunstmuseen oder privaten Sammlungen von Stückgutkunst. Wie dem auch sei, wir können in den relevanten Kontexten fast immer das Wort „Geist" durch das Wort „Kultur" ersetzen, wobei wir freilich, wie bei Übersetzungen generell, auch die Kontexte mit übersetzen müssen. Oft sind dabei auch Aspektdifferenzen angemessen zu übertragen. So sind zum Beispiel die Kultur eines Volkes und der Geist eines Volkes ein und dasselbe. Freilich konnotiert die Rede vom Geist den Aspekt oder die Perspektive eines gemeinsamen Handlungssubjektes. Der Geist ist das generische Wir im Vollzug gemeinsamer Taten. Die Rede von der Kultur ist dagegen eher objektiv: Wir fokussieren in ihr eher auf die Resultate. Das aber heißt, dass wir den
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Prozess des Entstehens, unser Tun, ausklammern. Damit steht uns die Kultur scheinbar als bloßes Objekt gegenüber, als System von Sachen und Sachzwängen. Das aber ist bloßer Schein. Daher ist die folgende Vorstellung von einer Kulturwissenschaft in ihrem Grundselbstverständnis verfehlt: Kulturelle Gegenstände sollen nur noch „als (materielle und symbolische) Praktiken" .wissenschaftlich' untersucht werden, schreibt der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme auf seiner Homepage. Wenn wir die Gegenstände und Praktiken bloß so von außen, am Ende rein material und behaviorial betrachten, begreifen wir sie nicht nur nicht als Kultur. Ohne Riickkoppelung auf unser eigenes empraktisches Selbstverständnis als durch ein humanes Ethos, die Sittlichkeit bzw. die Kultur bestimmte geistige Wesen evaporiert vielmehr jeder Geist und jede Kultur aus dem Betrachteten. Die substantielle Seinsweise des Menschen ist durch seine Kultur bestimmt, wobei diese nicht als eine Ansammlung von Dingen und Praktiken, sondern als Form des aktiven Lebens zu verstehen ist. Es geht hier also offenbar immer auch um ein angemessenes Verständnis von Geisteswissenschaft. In gewissem Sinn wird dabei die Geisteswissenschaft zu einer Kulturwissenschaft, aber eben nicht im bloß deskriptiven oder kontemplativen Sinn. Der objektive Geist wird zur realen Sittlichkeit oder Kultur. Die Geistesgeschichte wird zur Kulturgeschichte. Dass diese Wortersetzungen vorzunehmen sind, weiß man schon lange vor dem letzten Jahrhundert jedenfalls wenn man Heraklit und Hegel kennt und versteht.
4.
Die Idee des Guten
Eine meiner Zentralthesen betrifft, wie gesehen, Hegels Gebrauch des Wortes „Idee". Man muss nicht viele seiner Texte gelesen haben, um zu sehen, dass Hegel dieses Wort „Idee" gerade nicht so wie die britische Philosophie als bloße Vorstellung versteht, sondern, erstens, als Übersetzung von Piatons idea tou agathou und, zweitens, als etwas ganz und gar Wirkliches, und zwar auch in der Gegenwart Reales.7 Selbst auf die 7
„Wenn die Reflexion, das Gefühl oder welche Gestalt das subjektive Bewußtsein habe, die Gegenwart für ein Eitles ansieht, über sie hinaus ist und es besser weiß, so befindet es sich im Eitlen, und weil es Wirklichkeit nur in der Gegenwart hat, ist es so selbst nur Eitelkeit. Wenn umgekehrt die Idee für das gilt, was nur so eine Idee, eine Vorstellung in einem Meinen ist, so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee. Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem un-endlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor und umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Äußerlichkeit, durch das Scheinen des Wesens in sie, bilden, dieses unendliche Material und seine Regulierung ist nicht Gegenstand der Philosophie." Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), S. 25.
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Gefahr hin, als dogmatisch zu erscheinen, hatte ich außerdem gesagt, dass das Wort „Idee" für das reale System unserer Praxisformen steht: Die Idee ist das System aller menschlichen, ja den Menschen prägenden, Institutionen. Hegel selbst spricht explizit von Institutionen im Sinne formell eingerichteter Praxisformen wie der des Rechts, aber auch der Moral, der Institution der Wissenschaft, aber auch der Familie, der Institution der Religionen, aber auch der Kunst. Ich verwende das Wort „Praxisform" als Titel für alle Institutionen, geformten Kooperationsschemata und Handlungsformen, egal ob durch explizite Regeln geformt oder bloß implizit, empraktisch geformt. In gewissem Sinn fallt die Idee mit dem Ethos, der Kultur zusammen. Und dieses ist ein Gesamt von Institutionen in einem weiten Sinn des Wortes, der mit dem Sinn des Wortes „Praxisform" zusammenfällt. Freilich gebrauchen wir die Wörter „Kultur" und „Ethos", „Institution" und „Praxisform" oft auch in einem engeren Sinn, kontrastiv: Es werden dann die Institutionen wie die des Staates oder Rechts zu formellen Einrichtungen mit explizit geregelten Sanktionen, denen freie Praxisformen wie des Versprechens oder Bitte gegenüberstehen. Damit stellen wir dann auch den formellen Staat der freien Kultur oder Sittlichkeit eines Volkes gegenüber. Der Staat ist bei Hegel ganz allgemein als das System der politisch gesetzten und explizit kontrollierten Einrichtungen oder Institution zu verstehen. Die Sittlichkeit ist das Gesamt impliziter oder besser empraktisch tradierter Normen und Regeln des ethisch, ästhetisch und dann auch epistemisch Richtigen. Es sind diese terminologischen Verhältnisse, welche Hegels Texte prägen und für den naiven Leser manchmal schwer verständlich machen. Denn wo Hegel vom Staat spricht, meint er ein zentrales formelles Strukturmoment jeder Gesellschaft, nicht einfach den preußischen Staat seiner Zeit. Er meint die Idee des Staates, also die Institution des Staates, unter Einschluss der zugehörigen Aufgaben und der mit ihnen mitgegebenen Bewertungskriterien dafür, ob sie gut genug erfüllt sind.8
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„So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten sowie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen." „[...] die Form in ihrer konkretesten Bedeutung ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit; die bewußte Identität von beidem ist die philosophische Idee. - Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, - und dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Protestantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.
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Dabei ist, wie gesagt, der Staat selbst ein Teil der Kultur oder Sittlichkeit im weiten Sinn. Es bedarf nämlich einer gewissen Entwicklungsstufe der Kultur, damit es überhaupt einen Staat gibt.9 Andererseits kann man eine freie Kultur im engeren Sinn den formellen Regelungen und positiven Gesetzen eines Staates gegenüberstellen.
5.
Logik und Dialektik
Es ist bekannt, dass Hegel in der Rechtsphilosophie die von ihm unter anderem „spekulativ" genannte Logik voraussetzt.10 Weniger klar ist, was es ist, das er dabei voraussetzt. Denn es ist notorisch unklar, was überhaupt Logik, Dialektik oder Spekulation ist, oder gar, was es heißt, nach dem Absoluten zu fragen. Dabei scheinen mir die folgenden Punkte so wesentlich, dass man wohl immer wieder an sie erinnern muss. Die erste Einsicht Hegels betrifft die Negation und damit den Widerspruch. Im Unterschied zu einer bloßen Aussagenlogik, in welcher das Zeichen der Negation, der Negator, als bloße Wahrheitswertfunktion aus einem wahren Satz einen falschen macht und aus einem falschen einen wahren, liest Hegel die Negation, erstens, als (potentiellen) Urteilsakt und, zweitens, metastufig. Das heißt, es wird ein Inhalt (potentiell oder wirklich) infrage gestellt bzw. verneint. Die Bedeutung der bestimmten Negation liegt dabei darin, dass sie nur dort möglich ist, wo der Inhalt dessen, was verneint ist, schon als hinreichend klar und deutlich bekannt gelten kann. Das wiederum heißt, dass zwischen dem, was inhaltlich negiert wird, und dem, was bloß auf der Oberfläche etwa das Ausdrucks anders klingt, schon unterschieden sein muss. Mit anderen Worten, eine bestimmte Negation als besonderer Ausdifferenzierung von etwas Allgemeinem setzt die
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Wie es ein berühmtes Wort geworden ist, daß eine halbe Philosophie von Gott abführe." Um zum „Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut." Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), S. 27f. „Bei einem nomadischen Volke z.B., überhaupt bei einem solchen, das auf einer niederen Stufe der Kultur [sie! PSW] steht, tritt sogar die Frage ein, inwiefern es als ein Staat betrachtet werden könne. Der religiöse Gesichtspunkt (ehemals bei dem jüdischen Volke, den mohammedanischen Völkern) kann noch eine höhere Entgegensetzung enthalten, welche die allgemeine Identität, die zur Anerkennung gehört, nicht zuläßt." Ebd., S. 498f. Hegel spricht im Bezug auf die formale Logik von einer „vormaligen Logik des Definierens, Einteilens und Schließens, welche die Regeln der Verstandeserkenntnis enthalten", kritisiert dann aber die, welche deren Untauglichkeit „für die spekulative Wissenschaft" zwar „erkannt, oder mehr nur gefühlt als erkannt und dann diese Regeln nur als Fesseln weggeworfen" haben, „um aus dem Herzen, der Phantasie, der zufälligen Anschauung willkürlich zu sprechen; und da denn doch auch Reflexion und Gedankenverhältnisse eintreten müssen, verfährt man bewußtlos in der verachteten Methode des ganz gewöhnlichen Folgerns und Räsonnements. - Die Natur des spekulativen Wissens habe ich in meiner Wissenschaft der Logik ausführlich entwickelt." Ebd., S. 12f.
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Bekanntheit und Anerkennung des Allgemeinen und damit die Urteilsform der Negation der Negation, der Äquivalenzbewertung von verschiedenen, aber im Wesentlichen inhaltsgleichen, Äußerungen desselben Inhalts oder Gedankens voraus. Wer daher statt „Negation der Negation" lieber „Verzicht auf Unterscheidungen" oder lieber „äquivalent" statt „gleichgültig" sagt, hat Hegel hier zum Beispiel ebenso wenig widersprochen wie derjenige, welcher statt „Sittlichkeit" lieber „Kultur" und statt „Geist" lieber „Vernunft" sagt. Diese Überlegung hilft auch, die Auseinandersetzung mit dem Skeptiker besser zu verstehen. Die Fragen der Skepsis sind nämlich als Schritte auf dem Weg zu einer expliziten Reflexion nützlich, gerade so wie eine versuchte Verneinung des bloß Üblichen. Problematisch wird die Skepsis aber sofort, wenn die Begründungslasten falsch verteilt werden: Es muss nämlich zunächst um das Begreifen des Inhalts gehen, und um die Aufhebung der zunächst bloß formellen Verneinung. Der Skeptizismus ist die geistlose Skepsis. Hegels Grundeinsicht ist dabei: Es gibt keine Inhalte oder Begriffe ohne Einbettung in Praxisformen. Sprachanalyse ist am Ende Praxisformanalyse.11 Das liegt daran, dass es keine Bedeutungen ohne materialbegriffliche Normen des Richtigen im Differenzieren (Urteilen) bzw. im theoretischen (verbalen) Schließen und praktisch konsequenten Handeln gibt. Der Ort oder besser die Seinsweise dieser Normen des Richtigen sind die implizit anerkannten Praxisformen. Am Ende ist es die Idee (des Guten). Diese Idee und ihre Institutionen bzw. Praxisformen sind das Thema der Philosophie. Philosophie bringt die impliziten Normen des Richtigen in den drei Sphären des Wahren, Guten und Schönen auf den Begriff. Das heißt, sie macht diese Normen in der Form von verbalen Prinzipien, Kernbenennungen und Kernsätzen oder Regeln explizit. Das Wort „spekulativ" meint dabei nichts anderes, als dass es um eine Explikation von Grundformen in ihrer methodischen Ordnung geht. Diese Grundformen und präsuppositionalen Ordnungen sind logische Grundformen und päsuppositions/og/sc/ze Stufungen. Das gilt nicht bloß für die Stufen im Urteilen und Schließen, sondern auch für die methodischen Ordnungen von Handlungen,12 Die Praxisformen sind dabei als Vollzugsformen zu begreifen. Und der Unterschied zwischen diesen Vollzugsformen und den Gegenständen unseres reflektierenden Redens 11
Hegel sagt, dass man für einen Ausdruck oft eine „Art von Definition fordert und dieselbe sogar häufig auch wieder nach Willkür und Zufall formiert". Dann aber „ändert sich die Benennung, d.i. nur die Zusammensetzung aus Zeichen ihrer Gattungsbestimmung oder anderer charakteristisch sein sollender Eigenschaften, nach der Verschiedenheit der Ansicht, die man von der Gattung oder sonst einer spezifisch sein sollenden Eigenschaft faßt." Hegel, Enzyklopädie, a.a.O. (Anm. 1), S. 274. Mit anderen Worten, Hegel unterscheidet zwischen formalen Verbaldefinitionen und Benennungen von ,schon existierenden Begriffen' im Sinne von impliziten Praxisformen und ihren empraktischen Normen.
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„Daß aber die philosophische Art des Fortschreitens von einer Materie zu einer andern und des wissenschaftlichen Beweisens, diese spekulative Erkenntnisweise überhaupt, wesentlich sich von anderer Erkenntnisweise unterscheidet, wird hier vorausgesetzt." Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), S. 12.
D I E S E E L E DER M E N S C H L I C H E N G E S E L L S C H A F T
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ist nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn nur im Vollzug existiert der Geist und die Vernunft auf eine absolute Weise. Das heißt, hier existiert der Geist unabhängig von jeder bloßen Zuschreibung vermeintlich wahrer Aussagen. Man mag daran zweifeln, dass ein Satz über die Welt oder über uns selbst wahr ist, etwa dass ich gerade in Köln sitze und schreibe. An der .Wahrheit des Vollzugs' dessen, was ich gerade tue, ist nicht zu zweifeln. In der Tat erkennt Hegel mit Aristoteles (und in gewisser Weise auch mit dem Mystiker Jakob Böhme) dass die Seinsweise der absoluten Substanz des menschlichen Daseins oder Lebens die Vollzugsform ist, also die Form, in der wir unser Leben führen. Das geschieht immer im Rahmen einer tätig und nicht bloß verbal anerkannten Sittlichkeit oder Kultur. Das gerade bedeutet es, wenn Hegel verlangt, dass wir den Geist, das Absolute, nicht bloß, wie eine bloß historisch-deskriptive Geistes- oder Kulturwissenschaft, als Objekt des Wissen und der Reflexion begreifen, sondern als das Subjekt: als unser eigenes Selbstbewusstsein. In eben diesem Sinn ist die formelle Seele der Gesellschaft, der Staat, nicht bloß als Objekt einer Wissenschaft zu begreifen, sondern als Subjekt, und zwar als Kollektivsubjekt oder handelnde Institution. Wir begreifen dieses Subjekt nur wenn wir es als in unseren realen Kooperationen empraktisch längst schon anerkannte Macht begreifen.
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Kultur im Staat Ein vergessenes Thema in Hegels Denken
Eines der gravierenden Mankos der gegenwärtigen Philosophy of Mind besteht nach der Ansicht des amerikanischen Philosophen Arthur C. Danto darin, dass ihre prominenten Vertreter die Relevanz der historisch-kulturellen Erbschaft für die Bildung der persönlichen Identität bei der Thematisierung der Fragen des Verhältnisses von Geist (mind) und Körper, bzw. Materie fast völlig ausgeklammert haben. Die philosophischen Explikationen, in denen man Menschen als bloß „repräsentierende Wesen" (entia repraesentantiä) definiert, um sie dadurch von nichtdenkenden Tieren zu unterscheiden, seien, so Danto in seinem 1989 veröffentlichten Buch Connections to the World - The Basic Concepts of Philosophy, durchaus insuffizient und unangemessen, weil Menschen jederzeit in den kulturellen und geschichtlichen Umständen, die sie wesentlich bestimmt haben, d.h. in einer Lebenswelt gelebt haben und weiterhin leben werden. Ein Vergleich, beispielsweise der DNA-Analyse der Renaissancemenschen mit den Menschen des 21 Jahrhunderts weist die bestehende Identität nach, aber vermag als solcher weder die realen historischen Divergenzen hinsichtlich unterschiedlicher Weltanschauungen noch die kulturelle Kontinuität plausibel zu machen. Als menschliche Wesen, so Danto, existieren wir freilich innerhalb des Hegeischen „Reiches des Geistes" und bilden die eigene Identität durch die bestehende Sittlichkeit, Kultur, Religion und Gesetzgebung aus. Jeder Weltbezug des Menschen ist durch die bestehenden Objektivationen des menschlichen Geistes bereits beeinflusst. Sofern der Mensch überhaupt existiert, wird sein Bereich des Verstehbaren als ein vom Geist geschaffenes Reich gedeutet, in welchem sein Existenzvollzug sich ereignet. Die Befindlichkeit in der kulturellen Lebenswelt und das Verstehen dieser Welt sind offensichtlich gleichursprünglich. Die gemeinsame Welt des Verstehbaren, in der wir leben, darf folglich nicht auf eine res extensa reduziert werden, weil der Charakter der Gemeinsamkeit ein Ergebnis der Tätigkeit und der Kreativität des menschlichen Geistes darstellt. Paradoxerweise bleibt dieses Reich des Geistes in seiner kulturellen Vielfalt für die gegenwärtige Philosophy
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of Mind „eine dunkle, verworrene terra incognita", obwohl es vom Standpunkt der Explikation des Verstehens aus freilich „das vertrauteste Territorium" bilden müsste.1 Während ein prominenter amerikanischer Philosoph analytischer Provenienz auf die unentbehrliche Relevanz der Hegeischen Domäne des Geistes für die modernen Geisteswissenschaften verweist und sein Buch mit der signifikanten Feststellung beendet, dass wir als menschliche Wesen „nur innerhalb des Reiches des Geistes existieren", besteht in dem Sprachgebrauch der deutschen Gegenwartphilosophie eine eindeutige Tendenz, „die Philosophie des Geistes" von der traditionellen Belastung zu befreien und den Begriff „Geist" von Standpunkt der kausalen Beziehungen zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen explizit zu machen. Dabei sollte in der neu zu etablierenden „Philosophie des Geistes" das bestehende Ressentiment gegenüber den empirischen und kognitiven Wissenschaften, vor allem der Hirn- und Nervenforschung, aufgehoben bzw. zugunsten der wissenschaftlichen Explikation der mentalen Phänomene angewendet werden. 2 Die Folge einer solchen Tendenz ist, dass die Vielfalt des vertrauten kulturellen Gebildes im globalen Diskussionszusammenhang unter der Wüstensonne der rationalisierenden Globalisierung und Verwissenschaftlichung intensiv schmilzt, eindeutig simplifiziert und zu einer schlichten Uniformierung transformiert wird. Um dem vorzubeugen und dem menschlichen Verstehen das Reich des Geistes in seiner Pluralität zugänglich zu machen und aufgeschlossen zu halten, setzt sich Danto entschlossen für eine Neubestimmung der Geisteswissenschaften ein, wobei nach seinem Ermessen eine klare Distinktion zwischen den Methoden der Human- und der Naturwissenschaften, wie sie bereits Wilhelm Dilthey vor hundert Jahren vollzogen hat, vorzunehmen ist. Damit kommt die beachtliche Rolle und Bedeutung des Begründers der hermeneutischen Philosophie erneut zur Sprache. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Dominanz des Positivismus, hat sich Wilhelm Dilthey nachhaltig bemüht, die Würde der Geisteswissenschaften durch eine philosophische Grundlegung der „Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte" zu verteidigen und dementsprechend nachzuweisen, dass „die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften" sind.3 Der von Auguste Comte nach dem Ausklang des Deutschen Idealismus inaugurierte und proklamierte Positivismus hat sich als endgütiges Ziel aufgestellt, die metaphysisch-theologisch geprägte Philosophie durch die auf empirischen Forschungen gründenden positiven Wissenschaften vollständig zu ersetzen, was nach Diltheys Einschätzung zu einer außerordentlichen Krisis der Geisteswissenschaften und der europäischen Kultur führte, so dass eine universelle Skepsis den Bereich der humaniora
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Arthur C. Danto, Wege zur Welt. Grundbegriffe der Philosophie, München 1999, S. 317. Danto gibt zu, dass er sich zuweilen gern als „wiedergeborenen Hegelianer" bezeichnet; vgl. S. 21. Vgl. Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, hg. von Thomas Metzinger, Paderborn 5 2005, S. 10 ff. Wilhelm Dilthey, „Einleitung in die Geisteswissenschaften", in: Gesammelte Schriften, Leipzig bzw. Stuttgart und Göttingen 1914 ff. (im folgenden zitiert als GS mit der Bandzahl), Bd. 1, S. 3-20; hier: S. 4.
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durchzogen hat.4 Es war nämlich die Zeit, wie Dilthey in der 1911 verfassten Vorrede zu den geplanten Abhandlungen über die Grundlegung der Geisteswissenschaften schrieb, als „der idealistische Monismus Hegels [...] von der Herrschaft der Naturwissenschaft" abgelöst und „der naturwissenschaftliche Geist Philosophie wurde."5 Die grundlegende Frage, die Dilthey zugunsten der Erhaltung und Neuetablierung der bedrohten Geisteswissenschaften aufgeworfen hat, war freilich, wie das „Proteische" des Lebens in seiner Fragilität und Kontingenz zur objektiven Erkenntnis gebracht werden kann, oder, mit Diltheys Worten gesagt, wie die „Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur" zu erfassen sei.6 Die Frage, die Dilthey dauerhaft beschäftigt hat, war, wie ein Übergang von den elementaren Formen des Verstehens zu den höheren Gebilden der Kunst und Kultur zu vollziehen ist, und diese Frage führt uns zur Explikation des Verhältnisses zwischen den individuellen Lebensäußerungen und dem gemeinsamen Geist. Damit tritt das Verstehen aus der Enge der verschlossenen Subjektivität in die Region der Gemeinsamkeit und der Universalität ein, und der menschliche Horizont des Verstehens wird durch neue Bedeutungsgesichtspunkte erweitert. Diltheys ursprüngliche Intention war es, eine Erkenntnis- und Verstehenstheorie auszuarbeiten, die im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Paradigma steht, aber dadurch auch nicht in die Falle des skeptischen Relativismus zu geraten. Dementsprechend beabsichtigte Dilthey eine „Kritik der historischen Vernunft",7 wobei das historische Bewusstsein „von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes" als „der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen" betrachtet wird.8 Diltheys Bemühungen aus der Spätphase decken sich mutatis mutandis mit dem anspruchsvollen Hegeischen Versuch, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen bzw. auf den Begriff zu bringen. Die Objektivationen des menschlichen Lebens bilden freilich eine geistige Welt mit bleibenden Strukturen aus, in denen das Kind heranwächst. Alles, was den Menschen umgibt, beginnend mit der Anordnung der Häuser und der Bepflanzung der Bäume, trägt den Charakter des darin objektivierten Geistes. Man ist, ehe man sprechen lernt, in „das Medium von Gemeinsamkeiten" eingebettet,9 d.h. in eine gemeinsame Welt der sittlichen und kulturellen Ordnung, die dem Menschen in seinem Existenzvollzug verständlich begegnet. Als solche stellt sie eine Grundlage für das Verstehen und das kritische Auslegen zusammen. Wie die Aufklärung „der geistigen Welt im Fortschritte der Geisteswissenschaften" stattfindet, bleibt die Quintessenz der Diltheyschen Philosophie.10 Obwohl Dilthey durchaus bewusst ist, dass im Rahmen der von Kant ausgehenden, abstrakten epistemischen
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Dilthey, Dilthey, Dilthey, Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
GS 8, S. 200. GS 5, S. 3. GS. 7, S. 191. 278. 290. 208. 152.
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Begrifflichkeit die Geschichtlichkeit der geistigen Welt nicht adäquat aufgeschlossen und bewertet werden kann, gerät er selbst in seinen Spätschriften ebenfalls in die Nähe des Objektivitätsideals der Naturwissenschaften und bemüht sich, dieses approximativ auf die Geisteswissenschaften zu übertragen und anzuwenden. Mit der beachtenswerten Distinktion, dass der Mensch die geistige und geschichtliche Welt samt der Objektivationen des Geistes nicht nur von außen betrachtet und analysiert, sondern in diese „verwebt" ist, versucht Dilthey, mit Hilfe der hermeneutischen Reflexion „aus der reinen und feinen Luft der Kantischen Vernunftkritik herauszutreten"11 und neue Bedingungen des Erkennens und Handelns auszuarbeiten. Der menschliche Geist in seiner Endlichkeit ist offensichtlich ein geschichtliches Wesen, der von der Erinnerung und Vergegenwärtigung des ganzen Menschengeschlechts lebt und inspiriert bleibt und seine Zukunft in der kritischen Auseinandersetzung mit seinem kulturellen Gedächtnis bzw. mit dem bestehenden „System der Kultur" macht. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens versuchte Dilthey in seiner fragmentarisch gebliebenen Berliner Akademieabhandlung Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in Anschluss an Hegels Terminologie die Philosophie vor neue Aufgabe zu stellen, die „Menschheit", sofern sie „als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist" zu erfassen und kritisch zu bewerten.12 Der neu zu erforschende Gegenstand der Geisteswissenschaften bildet eine zusammenhängende Trias von Leben, Ausdruck und Verstehen. Die inneren Vorgänge des Menschen, die sich als „die dauernden geistigen Schöpfungen" bzw. als „die beständigen Objektivationen des Geistes in Gesellschaften" artikuliert haben, werden nun zur primären Verpflichtung der hermeneutischen Reflexion. Das geistige Gebilde mit seiner Pluralität und Vielfältigkeit stellt die Ausgangsbasis der hermeneutischen Reflexion dar. Der in dieses Gebilde eingebettete Einzelne versteht sich aus sich selbst heraus und bestimmt seine eigene Identität. Verstehen als Grundtätigkeit des Menschen wird demzufolge nicht mehr als eine abstrakte, introspektive Tätigkeit betrachtet, sondern ereignet sich stets im Medium des objektiven Geistes und wird hinsichtlich seiner integrativen Potenzialität thematisiert. Der Begriff des objektiven Geistes ist nach Diltheys Beurteilung „tiefsinnig und glücklich" von Hegel gebildet und bleibt als solcher eine solide Grundlage für die Ausarbeitung bzw. Neubestimmung der Geisteswissenschaften.13 Die wesentliche Strukturverwandtschaft der hermeneutischen Philosophie Diltheys mit der Hegeischen praktischen Philosophie besteht in der Überzeugung, dass sich der Mensch in seinem Denken und Handeln in eine bestehende sittliche Lebenswelt, Familie, Gesellschaft und Staat als eingeordnet und eingebettet versteht. Unsere hermeneutisch-praktische Reflexion ereignet sich auf dem Hintergrund dieser uns umgreifenden sittlichen und kulturellen Lebenswelt. Im dritten Kapitel seiner Abhandlung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften erklärt Dilthey, weshalb er bei der Ausarbeitung der Geisteswissenschaften auf die praktische Philosophie Hegels 11 12 13
Ebd., S. 278. Ebd., S. 86. Dilthey, GS 7, S. 148.
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rekurriert. Das Verstehen der Geisteswissenschaften bezieht sich in erster Linie auf die geschichtlichen Objektivationen des menschlichen Geistes: „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er". Im Anschluss an diese prägnante Behauptung, dass die Geisteswissenschaften, alles das erforschen, „worin der Geist sich objektiviert hat", würdigt Dilthey Hegels Leistung im Bereich der kritischen Aufschlüsselung und Aufhellung des objektiven Geistes und sieht eine Möglichkeit für die philosophische Neuorientierung im Bereich der philosophischen Aufgabenstellung durch Anknüpfung an Hegels Philosophie des objektiven Geistes: „Ich habe bisher diese Objektivationen des Lebens auch mit dem Namen des objektiven Geistes bezeichnet. Das Wort ist von Hegel tiefsinnig und glücklich gebildet". 14 Obwohl Hegel im Bereich des objektiven Geistes nicht über die Kultur im engeren Sinne redet, sondern diese in die Sphäre der „ideellen Welt" transferiert, 15 thematisieren die Interpreten des „objektiven Geistes" als dessen Errungenschaften nicht nur den Staat als sittliche Organisation samt dem Staatrecht, sondern beziehen auch die Kultur im weiteren Sinne ein. Darunter werden die Ergebnisse der Vervollkommnung des Menschen im Bereich des Wissens und der Gesetzbildung, sämtliche Errungenschaften der Kunst und Wissenschaften, die Moralität und Tradition sowie Sittenverfeinerung und Bildung gefasst, was Dilthey als „System der Kultur" bezeichnet. Hegel und Dilthey sind sich darüber einig, dass man bereits erzogen sein bzw. zur Vernünftigkeit fähig sein muss, um die Normbegriffe vernünftiger Staatverfassung freilich zu erlernen, oder imstande zu sein, über die Normbegriffe menschlichen Verhaltens kompetent zu urteilen. Der Mensch existiert nämlich nicht abstrakt, sondern wächst stets in einer Familie auf, lebt in einer bestimmten kulturellen Gesellschaft, wird durch seine soziale und sittliche Umwelt geprägt. Deshalb bleibt es für ihn nutzlos, abstrakte ethische Normen zu ergründen bzw. über das Gute und Rechte im Allgemeinen zu theoretisieren und sich darauf zu fokussieren. Stattdessen plädieren Hegel und Dilthey dafür, dass das Sittlich-Objektive durch geschichtliche Konkretisierung seine eigentliche Bestimmtheit und Verwirklichung gewinnt. Die gefährlichen Folgen der Negierung und Relativierung der bestehenden Sittlichkeit analysiert Hegel in seiner Rechtsphilosophie namentlich am Beispiel der Kritik der frühromantischen Konzeption der Sittlichkeit, wobei das Selbstbewusstsein als „die höchste Spitze der Subjektivität im moralischen Standpunkte" erscheint und sich zur letzten Instanz hinsichtlich der Fragen über „Wahrheit, Recht und Pflicht" erklärt. Auch Dilthey beendet seinen einflussreichen Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik" (1900) mit der beachtlichen Behauptung, dass die Hauptaufgabe der Hermeneutik darin liege, sie solle „gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht". Die Hermeneutik sollte demzufolge als „ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Philosophie und den geschichtlichen Wissenschaft" fun14 15
Ebd. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie 390.
des Rechts, hg. von Georg Lasson, Leipzig 1930, §
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gieren und somit „ein Hauptbestandteil der Grundlegung der Geisteswissenschaften" werden.16 Eine Lebensform, in welcher geltende moralische Kriterien und Maßstäbe durchaus ignoriert oder abgelehnt werden und der Mensch über sein Handeln völlig beliebig entscheidet, wobei jede Entscheidungsform ebenso gut anders ausfallen könnte, ist für Hegel eine bis auf die Spitze getriebene Entfremdung von der eigenen kulturellen Gesellschaft.17 Hegel behauptet dagegen, dass eine gewisse Stabilität im sittlichen Handeln lediglich im Zusammenhang einer bestimmten Einheit der sittlichen Welt möglich ist. Auch das Kantische deontologische Prinzip des Sollens stellt sich ferner der Wirklichkeit entgegen und nimmt nach Hegels Beurteilung die Form der subjektiven „Eitelkeit" im Sinne des leeren Formalismus als die Forderung der Widerspruchsfreiheit an, die von der Realität abgeschottet bleibt. Demgegenüber vertritt er die Ansicht, dass das Sollen ebenso Sein ist, und zwar im Sinne der „sittlichen Notwendigkeit": die Moralität wird demzufolge in den „an und für sich seienden Gesetze[n] und Einrichtungen" fundiert, wie es in der Rechtsphilosophie heißt,18 und letztendlich durch die „sittliche Substantialität" aufgehoben. Aufgrund des Dargelegten zieht Hegel die Folgerung, dass der menschliche freie Wille seine echte Erfüllung durch die Realisierung des spekulativen Wahrheitsbegriffs erreicht, wie es in der Enzyklopädie (§ 514) heißt: „Die freie sich wissende Substanz, in welcher das absolute Sollen ebensosehr Sein ist, hat als Geist eines Volkes Wirklichkeit [...]. Die Person aber weiß als denkende Intelligenz die Substanz als ihr eigenes Wesen [...]; so vollbringt sie ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiende und hat in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit". Als Fazit der Exposition des freien Willens wird in der Regel die umstrittene Feststellung gezogen, der individuelle Wille solle auf die „wählende Reflexion" verzichten und sich der Notwendigkeit der sittlichen Substantialität anpassen. Auf die Grundfrage der Ethik, was die menschlichen moralischen Verpflichtungen sind, findet man in der Enzyklopädie die äußerst fragwürdige Antwort: „Die wahrhafte sittliche Gesinnung" sei „das Vertrauen" in den Staat und seine Institutionen.19 Dabei regt sich bei dem kritischen Geist der Zweifel, ob ein selbstverantwortliches, kritisches Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen als ein Rückfall in die subjektivistische Vereitelung des Objektiven stigmatisiert wird. Die Freiheit, die Hegel als Grundlage und 16
Dilthey, GS 5, S. 331. - Fast identisch hat Friedrich Schlegel seinen Aufsatz von Wesen der Kritik beendet: „Man denke sich die Kritik als ein Mittelglied der Historie und der Philosophie, das beide verbinden, in dem beide zu einem neuen Dritten vereinigt seyn sollen. Ohne philosophischen Geist kann sie nicht gedeihen; das gibt jeder zu; und eben so wenig ohne historische Kenntniß. Die philosophische Läuterung und Prüfung der Geschichte und Ueberlieferung ist unstreitig Kritik; |aber eben das ist eben so unstreitig auch jede historische Ansicht der Philosophie." (Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie, hg. von Andreas Arndt und Jure Zovko, Hamburg 2007. S. 160f.)
17
GS 5, S. 278f. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 15), § 144. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg 1969, § 515.
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Ausgangspunkt der idealistischen Philosophie proklamiert hat, wird nun durch die Notwendigkeit aufgehoben, „deren substantieller Zusammenhang das System der FreiheitsBestimmungen und der erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewußtsein ist".20 Die Tatsache, dass Hegel die höchste Form der Freiheit der Einzelnen in der Akkommodation an das bestehende Gemeinwesen und die Hauptaufgabe der Philosophie explizit in der servilen Rechtfertigung der bestehenden staatlichen Institutionen sieht, ganz egal wie diese Institutionen beschaffen sein mögen, ist offensichtlich ein Nachweis dafür, dass sich Hegels Philosophie des objektiven Geistes, trotz aller Bemühungen, eine Übereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit in der Geschichtsphilosophie zu erlangen, gegen die Grundzüge der Moderne entwickelt hat. Erst durch eine kritische Emendation des Hegeischen Denkens, wie sie Dilthey unternommen hat, indem er unter den Begriff des objektiven Geistes auch Kunst, Religion und Philosophie, das, was Dilthey „System der Kultur" nennt, subsumiert, und somit die Differenz zwischen dem objektiven und absoluten Geist aufgehoben hat, erhält Hegels praktische Philosophie eine beachtenswerte Aktualität und Möglichkeiten für weitere Wirkungen. Hegels Überzeugung, dass die Kunst als unmittelbare Anschauung zwar zur Gewissheit führt, ohne imstande zu sein, sich ihrer Wahrheit zu vergewissern, lässt sich nicht aufrechterhalten, weil die Kunst wesentlich zur geistigen Bildung der Menschen beigetragen hat. Kunstwerke als Produkte menschlicher Tätigkeit sind für den Menschen gemacht, damit der Geist des Menschen durch sie bereichert wird. Die Aufgabe und der Zweck der Kunst bestehen nach Hegel darin, „alles, was im Menschengeist Platz habe, [...] durchfühlen zu lassen, was das menschliche Gemüt in seinem Innersten und Geheimsten tragen, erfahren und hervorbringen kann, was die Menschen Brust in ihrer Tiefe und ihrem mannigfaltigen Möglichkeiten und Seiten zu bewegen und aufzuregen vermag und was sonst der Geist in seinem Denken in der Idee Wesentliches und Hohes habe, die Herrlichkeit des Edlen, Ewigen und Wahren dem Gefühle und der Anschauung zum Genüsse darzureichen."21 Wenn die Kunst als „aus dem Geist geboren" wiederum vom Geist verstanden, interpretiert und bewertet wird, entsteht die hermeneutische Reflexion als Philosophie des Geistes. Das Leben einer Sprache und Kultur bleibt die umfassende, zugrundeliegende Gegebenheit, durch die das menschliche Individuum kreativ inspiriert bleibt und durch verstehende Teilnahme an ihr seine persönliche Identität mitbestimmt. Nur in einer kulturellen Gemeinschaft sind wir im eigentlichen Sinne menschliche Wesen, die fähig sind, uns vom elementaren zum höheren Verstehen zu erheben. Die Kultur, die in unserer Gesellschaft lebt, formt folglich unser privates Erleben und konstituiert unsere öffentliche Erfahrung, die wiederum mit der privaten Erfahrung in profunder Wechselbeziehung steht. Das unvermeidbare Verhältnis zur Kultur einer Gesellschaft schließt auch die Möglichkeit der kritischen Distanzierung oder sogar der extremsten Entfremdung ein. Solche Vorkommnisse, die zur Ausbildung innovativer Sinn- und Zeithorizonte dienen, bilden ein dialektisches Verhältnis von Traditionserhaltung 20 21
Ebd., § 484. G. W. F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 13, Frankfurt/M 1970, S. 70.
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und Kontinuitätsbruch und werden mit der Zeit ein Bestandteil der kulturellen Vergangenheit, die in unser Bewusstsein tritt. Diese Gedächtniskunst kennzeichnet der späte Dilthey im Anschluss an Hegel als eine Hermeneutik des objektiven Geistes: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen. [...] Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Wort und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung".22 Die Intersubjektivität der Sprache bzw. des sich in ihr ausdrückenden Geistes erweist sich als das eigentliche Medium der Reflexion, in der die Verschlossenheit der inneren Erfahrung des Individuums überwunden wird. Erst in der sprachlichen Auseinandersetzung mit Anderen verstehen wir uns in unserer Einzigartigkeit. Das Verständnis des in der Geschichte artikulierten geistigen Lebens bzw. des objektivierten Geistes wird durch die Tatsache ermöglicht, dass „in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet. Daher hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift erhaltenen Reste menschlichen Daseins."23 Diltheys Aneignung der Hegeischen Konzeption des objektiven Geistes impliziert gleichzeitig die kritische Distanzierung von seiner idealistischen Position. Die triadische Einteilung der Philosophie des Geistes in den „subjektiven", „objektiven" und „absoluten" Geist lässt sich nach Diltheys Urteil wegen ihrer apriorisch-metaphysischen Strukturiertheit nicht aufrechterhalten und bedarf als solche der kritischen Ergänzung und Vervollkommnung. Der subjektive Geist vereinheitlicht die Mannigfaltigkeit der Einzelgeister durch die sinnvolle Objektivierung der Freiheit des Willens in einer sittlichen Welt und realisiert sich als solcher im breiteren Bereich der Kultur, d.h. im Recht, der Moral und der Sittlichkeit. In der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel behauptet Dilthey, dass die geistigen Gebilde und Zusammenhänge von Menschen hervorgebracht wurden und nicht etwa als Ausdruck einer subjektunabhängigen Realität aufzufassen sind. Hegels Begriff des objektiven Geistes lässt sich nach Diltheys Urteil in seiner apriorischen Beschaffenheit nicht mehr festhalten, geschweige denn rechtfertigen. Im Gegensatz zu Hegel, der die geschichtliche Welt „metaphysisch" konstruiere und abstrakt als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" kennzeichne, plädiert Dilthey für die gründliche Analyse und Bewertung des faktisch Gegebenen innerhalb der Geschichtsentwicklung. Eine adäquate Repräsentation geistiger Tätigkeiten impliziert ebenfalls eine gründliche Analyse der Begebenheiten der Geschichte, in der es auch Fehlentwicklungen und Rückschritte gibt, die nicht unbedingt teleologisch im Sinne der Realisierung der Freiheit stattgefunden haben. Eine gründliche „Analyse der menschlichen Existenz", die später bei Heidegger zur Fundamentalontologie und Existenzanalytik wird, erfüllt uns Menschen, so Dilthey, mit „dem Gefühl der Gebrechlichkeit", „der Endlichkeit in allem was Leben ist". Ihre Artikulationen in der Kunst werden wie22 23
Dilthey, GS 5, S. 319. Ebd., S. 319.
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derum zum Bestandteil unserer Kultur: „Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerungen, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte."24 Dies gilt auch, wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen. „So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen". Der objektive Geist, wie ihn Dilthey entfaltet, wird von der einseitigen Begründung in der ideellen Konstruktion der allgemeinen Vernunft, die sich als Weltgeist ausspricht, losgelöst, wodurch freilich ein neues Konzept des objektiven Geistes zustande gebracht wird: „in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft Staat und Recht".25 Nach Diltheys Argumentation gehören zum Bereich des objektiven Geistes auch jene Repräsentationen geistiger Tätigkeit von Menschen, in denen der menschliche Geist, wie Hegel behauptet, „sich selbst anschaut", d.h. „seiner selbst bewußt wird". Es handelt sich nämlich um Künste im weitesten Sinn des Wortes, worunter auch die Religionen und schließlich die Philosophie als Beurteilungstätigkeit einbezogen werden, d.h. alles das, was Hegel als Philosophie des absoluten Geistes charakterisiert. Kunst, Religion und Philosophie erweisen sich nach Hegels Urteil als beachtenswerte Formen des Geistes, in welchen sich das Individuum schlechterdings als Repräsentation von Gemeinsamkeit erfährt und erkennt. Indem in Diltheys Hermeneutik des objektiven Geistes an die Stelle der allgemeinen Vernunft Hegels das Leben in seiner Totalität tritt, erhebt sich die Frage, inwiefern in den Objektivationen des Lebens bzw. des Geistes, die sich in der Form von Kunst, Religion und Philosophie artikuliert haben, auch die „Macht des Irrationalen", des Leidens und der Illusion präsent bleibt, die bei Dilthey einen wesentlichen Bestandteil unseres Lebens ausmacht, welches unerschöpflich und unergründlich bleibt. Die in der Kunst hervorgebrachten Objektivationen des Lebens vergleicht Dilthey metaphorisch mit einer über einen mächtigen Strom gebauten Brücke bzw. mit einem Schiff, das über das unergründliche Meer fährt. Hegels „ideelle Welt", die Kunst, Religion und Philosophie enthält, hat selbst ihre Geschichte aufgehoben und dabei alles Kontingente getilgt. Aus der Geschichte der Religionen lässt sich ergründen, dass diese aus bittereren Kämpfen der Dissidenz, der Häresie und der verbissenen Orthodoxie, der Aufgeschlossenheit für die Toleranz gegenüber den Andersgläubigen und dogmatischer Intoleranz besteht, und nicht bloß eine vernünftige Gestaltung der Welt ausmacht. Auch die Geschichte der abendländischen Philosophie besteht aus unlösbaren Widersprüchen und Paradoxien, bildet aber immerhin eine geschichtliche Welt als geistiges Gebilde, und das Verstehen erweist sich als ein kritischer Rückgang auf dieses geistige Gebilde. Wenn man in beiden Lagern der dominierenden Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, der analytischen und der phänomenologisch-hermeneutischen, eher unüberwindliche Differenzen als Berührungspunkte feststellt, erweist sich die Frage nach einem interkulturellen Dialog im Bereich der Philosophie, nach der Fusion der Horizonte des Verstehens, als unumgänglich. Die Kunst, die in der Nachkriegszeit 24 25
Dilthey, GS 7, S. 147. Ebd., S. 150f.
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die universelle Dimension der Artikulation des Geistes angestrebt hat, konnte ohne die Verankerung in den Geisteswissenschaften ihre beanspruchte Position nicht ausfüllen. Es bleibt auch umstritten, ob die Kunst eine zentrale Stellung in einem sinnvoll gelebten Leben einnimmt, vor allem weil der Bereich der modernen Kunst wesentlich durch Disharmonie, Zersplitterung und Partikularität geprägt ist. Die modernen Künstler sind immer mehr extreme Egozentriker und Außenseiter, die sich nicht mehr einigen können, was Kunst ist und was nicht. Dies ist ein Spezifikum nicht nur der sogenannten bildenden Künste, sondern gilt ebenso für Literatur und die Literaturwissenschaft in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Die geistige Wirklichkeit der geschichtlichen Welt, die Hegel eigentlich als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" 26 bzw. als Objektivierung der Freiheit konzipiert hat, erhält ihre besondere Bestätigung in der Kunst, weil erst durch die Freiheit die schöne Kunst zur „wahrhaften Kunst" werden kann. Dieser Emanzipationsprozess der Kunst erhält mit ihrer Säkularisierung eine neue veritative Dimension, weil nämlich in der Kunst „die Authentizität an die Stelle des Kultwerts" tritt, wie dies Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" formuliert hat. 27 Somit rückt die Kunst in die Nähe der Philosophie und versucht mithin ihre wahre philosophische Quintessenz zu entdecken. Die besondere Charakteristik der Kunst des 20. Jahrhunderts, dass sie sich in einem in Philosophie verwandle, wie A. C. Danto meint, 28 bedeutet freilich, dass sich die Kunst ihrem eidetischen Ideal auf besondere Weise angenähert hat. Zu den „umfassendsten Wahrheiten des Geistes", die sich in der Geschichte entfaltet und manifestiert haben, gehört, wie aus den Ästhetikvorlesungen ersichtlich ist, auch die Kunst mit ihren kulturellen Einflüssen, die eigentlich als „erste Lehrerin der Völker" betrachtet wird. 29 Deshalb sollte man den Interpretationsvorschlägen von Georg Lasson zustimmen, dass sich die in der geschichtlichen Entwicklung realisierte geistige Wirklichkeit keineswegs auf die Staatsordnung als solche einschränken lässt, sondern „die umfassende Gemeinschaft der sittlichen Kultur, die am Staate wohl ihre Form hat, aber an und für sich das Leben des freien Geistes in den höheren Bildungen der künstlerischen, religiösen und wissenschaftlichen Tätigkeit ist." 30 Die Geschichte fällt ausdrücklich innerhalb des absoluten Geistes. Kunst, Religion und Philosophie haben selbst ihre Geschichte und nur, weil sie selbst in geschichtlicher Bestimmtheit auftreten und so das Innere der einzelnen Volksgeister bilden, ist „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfange von Innerlichkeit und Äußerlichkeit" in der Weltgeschichte das Element des Daseins des allgemeinen Geistes. So bestimmt Hegel in der Rechtsphilosophie den Begriff der Geschichte.31 Der geschichtliche Prozess, in dem sich der Geist seiner selbst in seinem absoluten Gegensatz bemächtigt, vollzieht sich ebensosehr 26 27 28 29 30 31
G. W. F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 11, Frankfurt/M 1970, S. 555. Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt/M 1991, S. 480. A. C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 255. G. W. F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 13, Frankfurt/M 1970, S. 76. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 15), S. XXXII. Ebd., § 34Iff.
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zeitlich in einem geschichtlichen Fortschritt, in welchem der Geist seine Wahrheit zu reproduzieren vermag. In seiner Auseinandersetzung mit Dilthey hat Gadamer mit vollem Recht von einer „ungewollten und uneingestandenen Nähe Diltheys zum spekulativen Idealismus" gesprochen und behauptet, dass er sich in seinen späteren Jahren mehr und mehr an Hegel anlehnt und dort „von Geist redet, wo er früher Leben sagte". Er wiederholt damit, so Gadamer, „nur eine begriffliche Entwicklung, die Hegel selbst ebenso genommen hat".32 Wir haben hier eine andere Form der sogenannten Hegelianisierung der Hermeneutik vor uns, die m.E. sinnvoll ist, weil in ihr einige der wesentlichen Mängel der von Gadamer konzipierten philosophischen Hermeneutik behoben werden können. Da die Hermeneutik in den letzten vier Dezennien nach der Ansicht von Gianni Vattimo zu einer Art Koine der philosophischen Bemühungen auf internationaler Ebene oder sogar einer Koine der gegenwärtigen Kultur geworden ist, ist es erforderlich, zu ergründen, ob die hermeneutische Leistung des Verstehens sub ratione veritatis stattfinden kann,33 oder, wie Hegel in der zweiten Vorrede zur Enzyklopädie (1827) formuliert hat, als ein Verstehen, das nicht im Sinne der Rekonstruktion des Gedachten, sondern als „ein Fortschreiten der Wissenschaft selbst" gefasst wird. Seitdem in der philosophischen Hermeneutik nach der sog. „ontologischen" Wende aufgrund des Universalitätsanspruchs vom Verstehen die Thematisierung der traditionellen hermeneutischen Differenz zwischen dem Missverstehen und dem zureichenden Verstehen des Interpretandums völlig ausgeklammert und ipso facto ein Pluralismus der Interpretationen als äquivalent anerkannt wird, wird auch das Erfordernis nach der normativen Disziplinierung des Verstehens in den Geisteswissenschaften immer wieder zum Ausdruck gebracht, damit man die Objektivationen des Geistes gegen beliebige Interpretationen absichern und dem Verstehen zugänglich machen kann. Dies impliziert freilich eine Redefinition der Geistes- und Kulturwissenschaften, wie sie Dilthey im Anschluss an Hegel konzipiert hat.
32
33
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 3 1972, S. 214. Diese Form der Interpretation der klassischen Texte „sub ratione veritatis" hat vornehmlich Wolfgang Wieland in seinen immensen Studien zu den Klassikern der Philosophie mit Erfolg angewendet: „Wer den Wahrheitsanspruch eines Autors ernst nimmt, arbeitet lediglich mit der Hypothese, daß das, was der Text zu sagen hat, möglicherweise wahr ist, mithin den von ihm intendierten Sachverhalt zu treffen fähig ist". (W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, Göttingen 2 1999, S. 332)
HEINZ KIMMERLE
Kultur im Staat und den Staat übergreifend Eine dekonstruktive Lektüre von Hegels Staatsphilosophie, Kants Kosmopolitismus und Derridas Bemühen um eine „neue Internationale"
1.
Einleitung
Es gibt bekanntlich hunderte von Definitionen des Begriffs Kultur. Deshalb ist es ratsam, von Anfang an zu sagen, wie dieser Begriff aufgefasst werden soll. „Wir möchten unter Kultur verstehen: die Bemühungen einer Gruppe von Menschen, eine bestimmte Lebensform so zu gestalten, dass sie inmitten anderer Kulturen und inmitten der Natur auf die Dauer Bestand haben kann." 1 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Kulturen keine von einander abgeschlossenen Entitäten sind, sondern sich in aller Regel in einem Austausch befinden. Für den Austausch in den Kulturen und zwischen den Kulturen gilt als Norm, dass sie dialogisch sein sollen. Da ein Dialog Gleichheit der Partner dem Rang nach voraussetzt, ist auf diese Weise gewährleistet, dass die verschiedenen Partner gleiche Ausgangspositionen haben und ein vorgefasstes hierarchisches Verhältnis zwischen ihnen vermieden wird. Dass der faktische Umgang der Kulturen mit einander oft, zu oft, ganz anders verläuft, als es von dieser Norm her zu fordern ist, sagt nichts über deren Gültigkeit. Das ist bei anderen Normen ja durchaus auch der Fall. Wenn es darum geht, den Begriff der Kultur zu dem des Staates ins Verhältnis zu setzen, erweist sich der erstere als der allgemeinere, weiter ausgreifende, während der zweite eine eingeschränkte Bedeutung hat, da er zu einem Teilbereich der Kultur, den politischen Aspekten einer „bestimmten Lebensform" gehört. Dem Staat kommt indessen innerhalb der politischen und sonstigen Aspekte einer Kultur eine herausgehobene Stellung zu. Diese wird durch den Begriff der Souveränität gekennzeichnet. Die Souveränität des Staates bedeutet für seine inneren Verhältnisse, dass er die Aufgabe und die Machtmittel hat, den einzelnen Aspekten des kulturellen Lebens und auch den einzelnen Menschen ihre Rechte zuzuweisen und zu garantieren. Nach außen bedeutet die Souve1
H. Kimmerle, „Prolegomena", in: ders., Das Multiversum der Kulturen, Amsterdam/Atlanta, GA 1996, S. 9-29, bes. S. 10.
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ränität des Staates, dass er die Gesamtheit der Aspekte des kulturellen und individuellen Lebens anderen Staaten und den darin bestehenden Lebensformen gegenüber vertritt und auch hier auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel die Funktion ihres Schutzes übernimmt. Dass ein Teilbereich der Kultur anderen Bereichen gegenüber nach innen und außen eine solche herausgehobene Stellung einnimmt, macht es erforderlich, dass die Macht des Staates von anderen Bereichen des kulturellen und individuellen Lebens aus kritisch beobachtet und kontrolliert wird. Im Rahmen der Kultur des demokratischen Verfassungsstaates ist die Kontrolle der Macht im Inneren durch die Gewaltenteilung in legislative, exekutive und richterliche Macht organisatorisch geregelt. Die betreffenden Organisationen müssen indessen mit Leben erfüllt sein. Das heißt, sie müssen von der Zustimmung durch die anderen Bereiche des kulturellen und individuellen Lebens getragen werden. Zustimmung heißt in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich und auch nicht primär inhaltliche Übereinstimmung. Neben der organisatorischen Kontrolle der staatlichen Macht durch ihre Verteilung in drei Instanzen ist ihre kritische Beobachtung und Beeinflussung seitens der nicht-staatlichen kulturellen Einrichtungen und der individuellen Personen erforderlich. Bei den ersteren ist zu denken an Familien und private Vereine, religiöse und wirtschaftliche Verbände, künstlerische und wissenschaftliche Institutionen und vor allem auch die verschiedenen Organe der Presse. Kultur ist demgemäß im Staat staatstragend und zugleich auch kritisch. Von Hegels Philosophie aus können die Bedingungen dieses Verhältnisses genauer geklärt werden. Die systematische Grundlage der Hegeischen Philosophie der Familie, der Gesellschaft und des Staates ist der Begriff der Sittlichkeit. Die gelebte Sittlichkeit der Bürger in der Familie und in der Gesellschaft ist ein wesentlicher Aspekt der Ermöglichung und Unterbauung des Staates. Und der Staat als moderner Verfassungsstaat bietet der Sittlichkeit der Bürger eine feste Form und den notwendigen Schutz. Dieses Wechselverhältnis von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat einerseits und der staatlichen Institutionen unter einander andererseits kann über die Bedeutung und die Rolle der Kultur im Staat nähere Auskunft geben. Ein Vergleich mit afrikanischen Verhältnissen zeigt die spezifisch europäischen Bedingungen, die der Konzeption Hegels zugrunde liegen. Das wird im ersten Abschnitt (1.) dieses Textes ausgearbeitet werden. Dann gibt es aber in einem doppelten Sinn den Staat übergreifende Bedeutungen der Kultur. Damit kommen wir zum zweiten Abschnitt der Klärung des Verhältnisses von Kultur und Staat. (2.) Dabei geht es auf der einen Seite um bestimmte Ausformungen der Kultur, denen gegenüber den politischen eine höhere Wertigkeit zukommt. Bei Hegel ist hier an Formen der menschlich-geschichtlichen Welt zu denken, die er in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften als Gestalten des „absoluten Geistes" bezeichnet: Kunst, Religion und Philosophie. Bei dem, was Hegel an dieser Stelle „Philosophie" nennt, ist aus heutiger Sicht in Erweiterung des Hegeischen Begriffs an eine Wissensform zu denken, die ihre Geltungsansprüche aus sich selbst rechtfertigen kann, also neben der Philosophie im engeren Sinn auch an die axiomatischen und empirischen Wissenschaften. Die genannten Lebensformen der menschlich-geschichtlichen Welt haben zwar Anspruch auf den Schutz des Staates, gehen aber in ihren Gestal-
KULTUR IM STAAT UND DEN STAAT ÜBERGREIFEND
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tungsmöglichkeiten über das hinaus, was der Staat regulieren und anordnen kann. Das Übergreifen der Kultur über den Staat im Gebiet eines bestimmten Staates wird uns im ersten Unterabschnitt zu dieser Seite des Verhältnisses von Staat und Kultur beschäftigen. (2a) Andererseits kommen in diesem Zusammenhang zwischenstaatliche Verhältnisse ins Spiel. Dabei handelt es sich zunächst um internationales Recht und internationale Politik. Diese sind im Verhältnis der Staaten zu einander von der in den betreffenden Staaten herrschenden Kultur und von den international eingespielten Formen des Umgangs von Staaten mit einander abhängig. Für die nähere Klärung dieser Verhältnisse sind neben Hegels Erörterungen des „äußeren Staatsrechts" Texte Kants heranzuziehen, in denen er die Tendenz zu einer Ausweitung der innerstaatlich befriedeten Verhältnisse in einem Verfassungsstaat auf zwischenstaatliche Beziehungen zur Diskussion stellt. Die Bedeutung der Kultur in zwischenstaatlichen Beziehungen werden in einem folgenden Unterabschnitt zu der staatsübergreifenden Bedeutung der Kultur erörtert. (2b) Weiterhin ist hier zu erwähnen, dass die Menschen eine Fähigkeit zu Urteilen besitzen, die in ihrer Allgemeinheit die Grenzen souveräner Staatlichkeit überschreiten. Damit sind ästhetische Urteile gemeint, die nach Kant einen Anspruch auf allgemein menschliche Anerkennung erheben, für die staatliche Grenzen kaum relevant sind. Dieser Schritt zu einer universalen Verallgemeinerung wird bei Kant durch eine Eigenschaft des menschlichen Geistes ermöglicht, die er sensus communis nennt. Nun wird sich eine universale Verallgemeinerung unter den Bedingungen des heutigen Denkens nicht halten lassen. Deshalb sind die konkreten grenzen einer möglichen Verallgemeinerung ästhetischer urteile zu bestimmen. Nach der Auslegung von Kants Lehre allgemein gültiger menschlicher Urteile durch Hannah Arendt ist diese Lehre von den ästhetischen auf grundsätzliche politische Urteile zu übertragen. Solche Urteile betreffen eine mehr konservative oder mehr progressive Einstellung, die höhere Bewertung der Freiheitsspielräume des Einzelnen oder der gleichen Beteiligung aller am öffentlichen Leben und die stärkere oder weniger starke Einbindung menschlichen Handelns in die natürlichen Bedingungen und Entwicklungen. Die allgemeinen Gültigkeitsansprüche grundsätzlicher politischer Urteile sind nicht an staatliche Grenzen gebunden, sondern lassen quer zur staatlichen Zugehörigkeit andere Solidaritäten entstehen. Damit beschäftigt sich der folgende Unterabschnitt. (2c) Die Bedeutung der Kultur im Staat und den Staat übergreifend ist heute von Hegel und Kant aus nicht zureichend zu erörtern. Im Gefolge der Erscheinungen, die unter dem Stichwort der „ Globalisierung " zusammengefasst werden, entstehen neue Probleme für die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kultur. Diese Probleme werden im dritten Abschnitt skizziert. (3) Die wirtschaftlichen Mächte lassen sich nicht länger der Ordnungsmacht der Staaten einfügen. Sie operieren weltweit, wobei die Möglichkeiten der Gewinnmaximierung sehr viel mehr eine Rolle spielen als die Einbindung in bestimmte staatliche Verhältnisse. Antiglobalisten wehren sich gegen das Anwachsen wirtschaftlicher Macht durch weltweite Arbeitsteilung, das zugunsten des Gewinnstrebens der Wirtschaft und auf Kosten der schwächeren Teile der jeweiligen Gesellschaften
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stattfindet. Damit ist das Thema des ersten Unterabschnitts von Abschnitt drei bezeichnet. (3a) Die Globalisierung ist indessen nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen. Weltweite politisch-staatliche Interaktion vermag den negativen Aspekten der damit gegebenen wirtschaftlichen Entwicklungen kaum wirkungsvoll Einhalt zu gebieten. Diese Situation muss zunächst einmal intellektuell bewältigt werden. Derrida sieht in der Theorie von Karl Marx heute verdrängte Ansätze, das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im internationalen Rahmen neu zu bestimmen. Dabei spielen die unmittelbar durch das Marasche Theoriepotential zu erfassenden Tendenzen eine paradigmatische Rolle. Darüber hinaus richtet er sich im Allgemeinen auf unbewusste oder unterbewusste bestimmende Kräfte der weltweiten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, um diese am Maßstab einer gerechteren Welt zu messen. Die damit bezeichnete intellektuell-philosophische Aufgabe kann wirkungsmächtig werden, freilich in einem nicht voraussehbaren Ausmaß, wenn diejenigen, die sie erkennen, sich zu einer „neuen Internationale" zusammenschließen. Die „neue Internationale" der Kosmopoliten als kritische Instanz der Globalisierung wird in einem weiteren Unterabschnitt besprochen. (3b) Als Schritte zu einer Formierung dieser „neuen Internationale" können verschiedene Begründungen des Kosmopolitismus angeführt werden. Zunächst wird Appiah herangezogen. Für ihn ist wichtig, dass alle Staaten der Welt, einschließlich der so genannten Entwicklungsländer, gleichberechtigt an „cross-cultural conversations" teilnehmen, die zu einem „rooted cosmopolitanism" führen. Oderà Oruka, Sen und Nussbaum betonen vor allem die moralischen Verpflichtungen, die mit dem Weltbürgertum gegeben sind. Nach den Auffassungen Orukas ist das Ungleichgewicht zwischen heute wirtschaftlich und technologisch hochentwickelten und in diesen Hinsichten weniger entwickelten Ländern in der Welt durch eine am Familienverhältnis orientierte Ethik der Gemeinsamkeit aufzuheben. Sen und Nussbaum richten sich in einem mehr abstrakten Sinn auf alle Menschen, und zwar auch auf diejenigen, die im heutigen Verfassungsstaat nicht voll anerkannt sind wie Behinderte, Immigranten und Staatenlose. Das Ziel ist einerseits die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aller Menschen, andererseits aber auch die Benutzung aller ihrer Fähigkeiten (capabilities). Nussbaum weitet diese Perspektive aus auf Reflexionen über die Rechte der Tiere. Diese Begründungen des Kosmopolitismus bilden den Gegenstand des letzten Unterabschnitts (3c), bevor in einer Schlussbemerkung das Aporetische und zugleich Offene einer Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Staat unter den Bedingungen der Gegenwart herausgestellt wird. Letztendlich kann man von einer Tragik sprechen, die damit für das gegenwärtige geschichtliche Leben gegeben ist.
K U L T U R IM S T A A T U N D DEN S T A A T Ü B E R G R E I F E N D
2.
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Kultur im Staat: Das Wechselverhältnis von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat einerseits und den staatlichen Institutionen unter einander andererseits
Wir beginnen mit der Darstellung dessen, was Hegel „Sittlichkeit" nennt, das heißt derjenigen Lebensformen, die das Gemeinschaftliche, die Zusammengehörigkeit der Menschen ermöglichen und tragen.2 Die erste dieser Lebensformen ist die Familie. Hegel betont das Freiheitsprinzip bei der Partnerwahl für die Ehe, gibt aber in der ehelichen Gemeinschaft dem Mann allein alle Verfügungsrechte über das Eigentum und alle Entscheidungskompetenzen in den Fragen, die das Häusliche übersteigen. Die Frau ist eingeschränkt auf die Sorge für das Haus und die Kinder. Diese Rollenverteilung von Mann und Frau mag in Hegels Zeit der gängigen Auffassung entsprechen, ist aber selbstverständlich heute überholt. Wichtig ist, dass für Hegel die Familie die unmittelbare, auf Naturbedingungen gegründete gemeinschaftliche Lebensform der Menschen ist. Mann und Frau sowie Eltern und Kinder bilden eine unmittelbare Einheit. Der Mann ist zugleich Mitglied der öffentlichen Sphäre außerhalb bzw. oberhalb der Familie, die als bürgerliche Gesellschaft bestimmt wird. Der zum Mann herangewachsene Sohn tritt aus der Familie hinüber in die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, während die erwachsene Tochter in einer neuen Familie die Rolle der Hausfrau und Mutter übernimmt. Der Zusammenhang der Großfamilie, das heißt der extended family und des clans, der in Afrika südlich der Sahara und in vielen anderen Kulturen eine so wichtige Rolle spielt, wird von Hegel nicht erwähnt. In den andersartigen Verhältnissen dieser Kulturen ist umgekehrt die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft nicht anzutreffen. Die bürgerliche Gesellschaft steht in Hegels Darstellung der europäisch-westlichen kulturellen Verhältnisse im Gegensatz zu der angegebenen unmittelbaren Einheit der Familie als Kleinfamilie. Der einzelne Bürger steht für sich allein und befindet sich zu anderen in der Beziehung der Konkurrenz. Auf diese Weise kommt es zum Selbstbewusstsein der Einzelnen, aus deren jeweiligem Gewinn- und Besitzstreben, wenn auch gewissermaßen hinter ihrem Rücken, das „System der Bedürfnisse" hervorgeht. Auf Grund der Voraussetzungen dieses Systems werden für die Menschen die lebensnotwendigen Güter durch Arbeit produziert. Nachdem diese Güter auf einer ersten elementaren Stufe vorhanden sind, werden durch verbesserte Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen jeweils höhere Bedürfnisse erzeugt und befriedigt. Den entscheidenden Schritt bildet hierbei die Teilung der Arbeit. Das gilt besonders für die Bedingungen der industriellkapitalistischen Produktionsweise, wie sie bereits von Adam Smith beschrieben wer-
2
Die folgende Darstellung stützt sich auf G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1967 (Nachdruck der Ausgabe von 1955), S. 142-278 (§§ 142-320). Bei direkten Bezugnahmen auf den Text werden die entsprechenden Paragraphen in Klammern in die Darstellung eingefügt.
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den.3 Hegel macht daraus eine anthropologische Konstante, die das Menschsein als solches kennzeichnet und in der bürgerlichen Gesellschaft eine radikale Zuspitzung erfährt. In anderen Gesellschaften, wie z.B. in den traditionellen Völkern Afrikas südlich der Sahara, kommt es nicht zu einer derartigen Zuspitzung der Arbeitsteilung. Stattdessen wird bei dem Bezug auf die natürlichen Ressourcen ein schonender und respektvoller Umgang mit ihnen gewahrt, der in der industriell-kapitalistischen Produktionsweise verloren geht. Das Verhältnis der Organisationsformen der Arbeit zur Befriedigung stets höherer Bedürfnisse hat nach Hegel bestimmte unvermeidliche Konsequenzen: In der bürgerlichen Gesellschaft entsteht ein Gegensatz zwischen einem „Übermaß des Reichtums" und einem „Übermaß der Armut und der Erzeugung des Pöbels". (§ 245) Da sie diesen Gegensatz in ihrem eigenen Bereich nicht lösen kann, wird die bürgerliche Gesellschaft „durch diese ihre Dialektik [...] über sich hinausgetrieben." (§ 246) Zunächst entsteht ein Drang zum Meer, der „alle großen, in sich strebenden Nationen" zu Seefahrer-Nationen macht. (§ 247) Ferner geschieht die Erweiterung des Handlungsspielraumes der europäischen Nationen, denn nur um diese geht es, durch „das Mittel der Kolonisation". (§ 248) Von den Menschen, die in den Gebieten wohnen, die von Europa aus kolonisiert werden, ihren Rechten auf ihr Land, findet sich in Hegels Text kein einziges Wort. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte leitet er aus den Erfordernissen der Kolonisation auch das Recht dieser Nationen auf Sklavenhandel ab.4 Hier kommt ein Wesenszug der europäischen Nationen zum Ausdruck, der auf die Kultur dieser Nationen einen tiefen Schatten wirft. Außerdem entsteht bei Hegel mit der Rechtfertigung des Kolonialismus und des Sklavenhandels ein äußerst spannungsvolles Verhältnis zur Intention seiner politischen Philosophie, die auf die Sicherung der Freiheit der einzelnen Menschen gerichtet ist Die „ungehinderte Wirksamkeit" der bürgerlichen Gesellschaft wird in Hegels Konzeption abgemildert durch die „Rechtspflege", in der alle Rechtspersonen als „identisch", das heißt als gleichberechtigt betrachtet und behandelt werden. (§ 209) Das Prinzip der Gleichheit ist jedoch entsprechend den Bedingungen der europäischen Kultur in der Zeit Hegels insofern eingeschränkt, als Rechtspersonen nur die erwachsenen männlichen Bürger sind, die Eigentum besitzen. Eine weitere Abmilderung der Verhältnisse entsteht durch die „Korporationen", in denen sich vor allem Menschen, die zum „Stand des Gewerbes" gehören, zur gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen zusammenschließen. (§ 250) Da die Korporationen wie auch die Rechtspflege in erster Linie der Sicherung des Eigentums und des Vermögens der einzelnen Menschen dienen, kann man verstehen, dass Hegel dazu insbesondere auch die „Polizei" rechnet. Daneben spielen „Genossenschaften" als gemeinschaftliche Instanzen des wirtschaftlichen Lebens eine wichtige Rolle. (§§ 231-233 und 249) Ein Verhältnis gegenseitiger 3
4
A. Smith, The Wealth of Nations, hg. von A. Skinner, Harmondsworth u. a. 1974 (Originalausgabe 1776), S. 109-126. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1966 (Nachdruck der Ausgabe von 1955), S. 224-228.
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Hilfe und Sorge für einander besonders in Notsituationen, wie es im Kommunalismus der subsaharsisch-afrikanischen Völker ausgebildet worden ist, lässt sich von den Voraussetzungen der Hegeischen Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft indessen nicht denken. Die Sittlichkeit kann nach Hegel freilich erst als verwirklicht gelten, wenn die unmittelbare Einheit und Zusammengehörigkeit der Familie sowie die Vereinzelung der handelnden Personen und die darauf beruhende innere Gegensätzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft im Staat und durch den Staat mit einander vereinigt werden, indem sie eine ausgeglichene Beziehung zu einander gebracht werden. Auf diese Weise entsteht eine neue vermittelte Einheit zwischen den „Penaten" als den „unteren Götter" der Familie und dem städtischen Wirtschafts- und Handelsgeist, wie ihn in der Antike die Göttin Athene verkörpert hat. (§ 257) Familie und bürgerliche Gesellschaft werden vom Staat in ein Gleichgewicht gebracht, weil er selbst ein bewusstes und geordnetes System des Gleichgewichts ist. Die einzelnen Bürger erblicken im Staat eine Institution, der sie sich bewusst und mit innerer Zustimmung einfügen. Denn in dieser Institution kommt „die Freiheit", die für die Organisation des Arbeitsprozesses und den Handel erforderlich ist, „zu ihrem höchsten Recht". (§ 258) Das innere Gleichgewicht des Staates besteht in dem Zusammenspiel geteilter Gewalten, wie es von Montesquieu konzipiert worden ist.5 Dabei setzt Hegel jedoch bestimmte Akzente, die sich mit den Auffassungen Montesquieus, nach denen jede Willkür der Herrschenden auszuschalten ist, nicht vereinbaren lassen. Die „fürstliche Gewalt" steht nach Hegel an der Spitze des Staates. Sie wird durch den Monarchen als einzelne Person, als selbstbewusstes Subjekt, verkörpert. Der Monarch trifft seine Entscheidungen in „unbeschränkter Willkür", die in der „konstitutionellen Monarchie" lediglich durch die Verfassung begrenzt ist. (§§ 283 und 273) Damit wird in der Sphäre des Staates das Selbstbewusstsein als das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft aufgenommen. Die „Natürlichkeit" menschlicher Gemeinschaft, die das Prinzip der Familie war, kommt in der fürstlichen Gewalt dadurch zum Ausdruck, dass der Monarch „auf natürliche Weise, durch die natürliche Geburt [...] bestimmt" wird. (§ 280) Dass die Freiheit des Einzelnen in einer einzelnen Person an der Spitze des Staates ihren angemessenen Ausdruck findet, ist dabei ein durchaus nachvollziehbarer Gedanke. Dass diese Person ein Monarch sein muss, der durch Geburt dazu bestimmt wird und willkürliche Entscheidungen trifft, ist schon von Marx als ein unangemessener „Naturalismus" kritisiert worden.6 Es ist eine Wiederaufnahme der Natürlichkeit der Familie, bei der gerade das progressive Element der Hegeischen Konzeption der Ehe, nämlich die freie Partnerwahl, vernachlässigt wird. Die „Regierungsgewalt" besteht in der „Ausführung und Anwendung der fürstlichen Entscheidungen". Darunter fallen bei Hegel auch „die richterlichen und polizeilichen Gewalten". Die Regierungsgewalt ist eine Sache des „allgemeinen Standes", der aber 5 6
Ch. Montesquieu, L'esprit des lois, Paris 1748. K. Marx, „Kritik der Hegeischen Staatsphilosophie (1841/42)", in: ders., Die Frühschriften, von S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 20-149, bes. 112 und 124-130.
hg.
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nicht auf Grund natürlicher Bedingungen der Geburt, sondern auf Grund von „Befähigung" zusammengesetzt wird, so dass auch „jedem Bürger" der Zugang offen steht. (§ 291) Die Staatsbeamten als Mitglieder der Regierung werden „von oben herab" berufen und eingesetzt, zugleich aber auf Grund der Bewährung in Korporationen „von unten herauf rekrutiert. (§ 297) Es geht bei den Intentionen von Hegels Staatsphilosophie im Grunde um dieses Gleichgewicht zwischen oben und unten. Bei der „gesetzgebenden Gewalt" sind demnach, unter Berücksichtigung der historischen und kulturellen Bedingungen des damaligen Europa, drei Elemente im Spiel: das monarchische, „dem die höchste Entscheidung" zukommt, das sachkundige der Regierungsbeamten und das ständische, das als in sich strukturierte Volksvertretung funktioniert. Der Adel, der durch sein Vermögen unabhängig ist, repräsentiert das Naturprinzip innerhalb des „in seine besonderen Kreise gegliederten Ganzen" der Volksvertretung. Die nicht an Grundbesitz gebundene und insofern „bewegliche Seite der bürgerlichen Gesellschaft" ist durch „Abgeordnete" vertreten, die vor allem aus „ohnehin konstituierten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen" kommen. Das Prinzip des Wählens spielt bei keinem der beteiligten Stände eine Rolle. Es ist nach Hegels Auffassung, die in diesem Punkt vom heutigen Demokratieverständnis grundsätzlich abweicht, „entweder überhaupt etwas Überflüssiges oder reduziert sich auf eine geringes Spiel der Meinung und der Willkür". (§§ 307, 308 und 311) Im Blick auf die demokratische Intention des Gleichgewichts der politischen Kräfte eines Volkes, wie sie auch in anderen Kulturen verwirklicht wird, ist es bemerkenswert, dass diese Intention bei Hegel in einer Konzeption konkretisiert wird, die nicht primär durch das Prinzip des Wählens im Sinn des Zählens gleicher Stimmen begründet wird. Dieses Prinzip hat sein historisches Recht in der Überwindung ständischer und anderer Privilegien. Es hat aber auch eine spezifische Schwäche. Die Problematik des Prinzips „one man one vote" ist u. a. von dem afrikanischen Philosophen Wamba dia Wamba herausgestellt worden. Es liegt nach seiner Auffassung darin, dass ausschließlich nach dem abstrakten Gesichtspunkt zahlenmäßiger Mehrheit entschieden wird ohne Berücksichtigung der Sachkompetenz der Wählenden.7 Eine Strukturierung der Masse der Wähler durch politische Parteien, die durch bestimmte inhaltliche Programme an der Willensbildung des Volkes mitwirken, hat Hegel noch nicht im Blick. Sie entwickelt sich im Lauf des 19.und 20. Jahrhunderts und tritt an die Stelle ständischer Gliederungen der Volksvertretung, wobei Hegel neben dem Adelsstand auch den Berufsständen eine bestimmte Rolle zuweist. Die Übertragbarkeit des Mehrparteiensystems auf andere Kulturen, die in ihrer Geschichte andersartige Gliederungsprinzipien des Volkes entwickelt haben, wirft indessen ähnliche Probleme auf wie das Mehrheitswahlrecht, das die Machtverteilung durch rein numerische Verhältnisse begründet.
7
E. Wamba dia Wamba, „Beyond Elite Politics of Democracy in Africa", in: Quest. Discussions 6 (1992), S. 2 8 ^ 2 , bes. S. 30-31.
Philosophical
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KULTUR IM STAAT UND DEN STAAT ÜBERGREIFEND
Neben der Volksvertretung als „ständischer Versammlung", deren Verhandlungen nach der Darstellung Hegels öffentlich sind und die Sachwissen an die Öffentlichkeit weitergeben, erhält die auf diesem Weg informierte „öffentliche Meinung" für das „Mitberaten" und „Mitbeschließen" eine beachtenswerte Funktion. Die positiven Möglichkeiten und die Gefahren der öffentlichen Meinung und des besonderen Mittels ihrer Äußerung, der Presse, sind von Hegel in einer Weise analysiert, die bis heute noch nicht in adäquate Formen umgesetzt worden ist. Die öffentliche Meinung ist Ausdruck der subjektiven Freiheit der Einzelnen und der Zusammenfügung ihres „Urteilens, Meinens und Ratens in allgemeinen Angelegenheiten". Insofern ist sie „das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre". Sie kann auf diese Weise der angemessene Ausdruck des Willens der Allgemeinheit in den grundsätzlichen Entscheidungen einer Gemeinschaft sein. Sie kann aber auch allzu leicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, so dass sie nichts anders ist als das Sich-äußern des „für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen". Die „öffentliche Meinung verdient daher ebenso geachtet als verachtet zu werden". Die Sicherung ihrer Freiheit muss mit der Verhinderung ihrer Ausschweifungen zusammen gehen. (§§ 314-319) Die durch ihre Zeit bedingten Merkwürdigkeiten der Darstellung der Sphäre der Sittlichkeit in Hegels System verdunkeln nicht den Grundgedanken des Gleichgewichts einerseits zwischen Familie, bürgerlicher Gesellschaft und dem Staat sowie andererseits im Staat selbst mit seinen verschiedenen Institutionen. Sittlichkeit ist dieses mit Leben erfüllte doppelte Gleichgewicht. Sie ist ein adäquater Ausdruck der Kultur, und zwar der europäisch-westlichen Kultur. Das Gleichgewicht der politischen Kräfte hat in anderen Kulturen zu anderen gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen geführt. Der Maßstab der Beurteilung der politischen Systeme in anderen Kulturen kann nicht die formale Übereinstimmung mit den Verhältnissen und Institutionen in Europa und der westlichen Welt sein, sondern die Frage, inwiefern ein solches Gleichgewicht effektiv und für die Betroffenen erfahrbar gegeben ist. Die politischen Systeme im traditionellen Afrika zeigen, dass ein Gleichgewicht der Machtverhältnisse auf vielfältige Weise ermöglicht und garantiert werden kann. Die Beispiele reichen von streng autokratischen bis zu strikt egalitären Regierungsformen.8
3.
Den Staat übergreifende Bedeutungen der Kultur
Im modernen säkularen Verfassungsstaat gibt es bestimmte Freiräume des kulturellen Lebens, die zwar den Schutz des Staates genießen, aber vom Staat nicht reguliert und kontrolliert werden. Der Staat legt allenfalls bestimmte Rahmenbedingungen fest, um dafür zu sorgen, dass in diesen Bereichen des kulturellen Lebens verfassungsgemäß gehandelt wird. Er greift insbesondere dort in diese Bereiche ein, wo er für künstlerische, religiöse oder wissenschaftliche Aktivitäten finanzielle Förderung anbietet. Umgekehrt kommen von der Seite der Vertreter dieser Kulturbereiche Stellungnahmen zu staatli8
M. Fortes und E. E. Evans Pritchard, African political
systems, Oxford 1940.
66
HEINZ KIMMERLE
chen Entscheidungen, die häufig auch kritisch sind. Mit Bezug auf Kunst, Religion und Philosophie als die Gestalten des „absoluten Geistes" in Hegels System lässt sich die den Staat übergreifende Bedeutung der Kultur auf dem Gebiet eines bestimmten Staates prinzipiell in angemessener Weise erörtern, wenn auch weiterführende Gedanken auf Grund von heute veränderten Bedingungen unvermeidlich sind. Auf die Bedeutung der Kultur in zwischenstaatlichen Beziehungen und auf ästhetische und politische Urteile, die nicht auf das Gebiet eines Staates einzugrenzen sind, wird danach in zwei weiteren Unterabschnitten einzugehen sein.
a.
Das Übergreifen der Kultur über den Staat im Gebiet eines bestimmten Staates
Die Gestalten des „absoluten Geistes": Kunst, Religion und Philosophie werden in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften höher eingestuft als der Staat.9 Der Staat stellt seinerseits die höchste Stufe der „Sittlichkeit" und ferner des gesamten „objektiven Geistes" dar, der ja außer der Sittlichkeit - oder der Sittlichkeit vorhergehend - auch die Gestalten des „abstrakten Rechts" und der „Moralität" umfasst. Wenn nun die Gestalten des „absoluten Geistes" behandelt werden, sucht Hegel über die Einheit des gesamten „objektiven Geistes" hinaus diese auch noch mit den Gestalten des „subjektiven Geistes" zusammen zu denken. Das heißt, die Überlegenheit von Kunst, Religion und Philosophie gegenüber dem Staat als der höchsten Gestalt des „objektiven Geistes" beruht auch auf der erneuten Einbeziehung des „subjektiven Geistes". Der „freie Geist" als die höchste Gestalt des „subjektiven Geistes", der im Staat in der Zustimmung zum Allgemeinwohl der staatlichen Gemeinschaft aufgegangen ist, begründet nun die übergreifende Instanz über den Staat. Umgekehrt ist in der Subjektivität des Künstlers, Religionsanhängers oder Philosophen zugleich die Objektivität der Sittlichkeit enthalten. Und diese Einheit des Subjektiven und Objektiven übergreift den Staat. Die Institutionen auf den Gebieten der Kunst, Religion und Philosophie haben ijn diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben zu übernehmen, die konstruktiv und kritisch auf den Staat und die übrigen Instanzen des objektiven Geistes bezogen sind. Diese Aufgaben können von Gruppen und Vereinigungen von Künstlern, Kirchen und religiösen Gemeinschaften, Universitäten und philosophischen Gesellschaften wahrgenommen werden. Besonders zu dem Verhältnis von Religion und Staat hat sich Hegel ausführlich geäußert. In der aktualisierenden Interpretation, die hier versucht wird, soll der Akzent auf die Subjekte gelegt werden, die als Künstler, religiöse Menschen und Philosophen kritisch zu Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Familie Stellung nehmen. Dies geschieht, indem sie von den jeweiligen Institutionen aus oder auch individuell zum Wort melden und ihre Argumente vortragen. 9
S. zu den folgenden beiden Absätzen: Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg 1959, S. 440-441 (§§ 5 5 3 557).
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Die Künstler bringen auf der Stufe des „absoluten Geistes" in ihrem Werk, das ein Produkt ihrer geistigen Kreativität ist, zugleich die „natürliche Unmittelbarkeit" zur Geltung. In der Kunst als dem „sinnlichen Scheinen der Idee" ist also in wesentlicher Hinsicht die Naturseite des Menschen am Werk. Damit erhält auch die Natur in ihrer „Einheit" mit dem subjektiven und objektiven Geist eine den Staat übergreifende Bedeutung. Im Kunstschaffen eines Subjekts kommt auf unbewusste Weise die in seiner Leiblichkeit wirksame Natur zum Zuge. Aber der Künstler vermag auch die im Geist einer Zeit enthaltenen Tendenzen und Kräfte in besonderer Weise zum Ausdruck zu bringen. Religionsanhänger ist nach Hegel jeder denkende Mensch, da für ihn der religiöse Glauben „ein Wissen ist". Dieses Wissen ist freilich nicht in jeder Person in gleicher Weise ausgeprägt. Im Sinn Schleiermachers wird man von „Virtuosen" auf dem Gebiet der Religion sprechen können,10 das heißt von Menschen, die auf diesem Gebiet besonders befähigt sind. Auch Hegel will es nicht „bei den schlichten Vorstellungen des Glaubens bewenden lassen", sondern fordert besonders die Theologen auf, das im Glauben enthaltene Wissen gründlich zu durchdenken. Von hier aus kann die eigenständige Bedeutung der Religion dem Staat gegenüber artikuliert werden. Die einzige „absolute Religion" ist für Hegel freilich nur die „geoffenbarte Religion" des Christentums, weil in ihr der göttliche „Geist nur Geist ist, sofern er für den Geist" des gläubigen Menschen ist.11 Dem Christentum kommt indessen diese einzigartige Qualifikation nur zu, weil Hegel darin eine mit seiner philosophischen Konzeption übereinstimmende, alle Bereiche des natürlichen und geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens letztlich bestimmende Bedeutung des Geistes zu finden meint. Unter die Gestalt des Philosophen wollen wir aus heutiger Sicht, wie bereits angemerkt, auch die axiomatischen und empirischen Wissenschaftler fassen. Für die Philosophie ist nach Hegel entscheidend, dass sie rein vom Denken ausgeht und sich nur auf das Denken begründet, das sich seiner eigenen Bedingungen und Möglichkeiten versichert hat. Entsprechendes kann man von den axiomatischen und den empirischen Wissenschaften sagen, sofern sie nur der Überzeugungskraft ihrer denkerischen Arbeit verpflichtet sind. Auf diese Weise kann man folgern, dass Hegel den Intellektuellen im Staat eine den Staat und seine Institutionen übergreifende Bedeutung zumisst. Er spricht selbst davon, dass die „an sich freie Intelligenz" eine „notwendige Seite" des „absoluten Geistes" sei.12 Künstler, besonders befähigte religiöse Menschen, Philosophen und rein wissenschaftlich Arbeitende sind in bewusster Weise Vertreter des kulturellen Lebens in einer Gesellschaft und einem Staat. Wenn ihnen eine den Staat übergreifende Bedeutung zugemessen wird, heißt das auch, dass sie eine kritische Funktion und Verantwortung im Blick auf die staatlichen und sonstigen öffentlichen Entscheidungen und Maßnah10
11 12
F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten von A. Arndt, Hamburg 2004, S. 102, 113, 123 u.ö. Hegel, Enzyklopädie, a.a.O. (Anm. 9), S. 446 (§ 564). Ebd., S. 440 (§ 553).
unter ihren Verächtern, hg.
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men haben. Wir werden weiter unten zeigen, dass im Zeitalter der Globalisierung die kritische Verantwortung der Intellektuellen nicht auf das Gebiet des jeweiligen Staates begrenzt ist, in dem sie leben, sondern weltweite, kosmopolitische Dimensionen annimmt. Zunächst ist jedoch zu erörtern, welche Bedeutung der Kultur in zwischenstaatlichen Beziehungen zukommt, die als solche das Gebiet eines bestimmten Staates übergreifen.
b.
Die Bedeutung der Kultur in zwischenstaatlichen Beziehungen
In seiner Darstellung des „äußeren Staatsrechts" betrachtet Hegel den jeweiligen Staat als Ausdruck souveräner Machtausübung. Eine überstaatliche Instanz mit souveränen Funktionen will er nicht gelten lassen. So gesehen hat der von der Zustimmung seiner Bürger getragene einzelne Staat für Hegel „die absolute Macht auf Erden". Zwischen den einzelnen Staaten kommt es, wie zwischen einzelnen Subjekten, zu dem Verhältnis gegenseitiger Anerkennung. Das gehört nach Hegel im zwischenstaatlichen Verhältnis zur Kultur des Staates als eines Staates. Dasselbe ist nach seiner Darstellung bei „einem nomadischen Volke" in Frage zu stellen, das keinen Staat hat und „auf einer niederen Stufe der Kultur steht". (§ 331)13 Darin kommt jedoch Hegels zeitbedingte und aus heutiger Sicht keineswegs mehr zutreffende Auffassung zum Ausdruck. Die westafrikanischen nomadischen Völker der Fulbe und der Haussa sind deutliche Gegenbeispiele, da sie strikt organisierte staatliche Formen kennen. Wenn Staaten unter einander Verträge abschließen, dann sollen diese „gehalten werden". Nach Hegel bleibt es bei einem „Sollen", denn in den zwischenstaatlichen Beziehungen herrschen nicht dieselben rechtlichen Verpflichtungen, die für die Kultur im Staat vorausgesetzt werden können. Da die Souveränität Sache jedes einzelnen Staates ist, befinden sich die zwischenstaatlichen Beziehungen gewissermaßen „im Naturzustande". Zum Verhältnis gegenseitiger Anerkennung zwischen Personen und zwischen Staaten gehört indessen auch der Kampf um Anerkennung, der entsteht, wenn die „Ehre" eines Partners verletzt wird und der zwischen Staaten „nur durch Krieg entschieden werden kann". Wenn das „substantielle Wohl des Staates" gekränkt oder bedroht ist, muss es durch einen Krieg gesichert werden. (§ 337) Das kann man einen Krieg zur Verteidigung des eigenen Staates nennen. Dabei weist Hegel „die Kantische Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund" ausdrücklich ab. Denn es gibt keine überstaatliche Instanz, die den souveränen Staaten Vorschriften machen und sie zu friedlichen Lösungen ihrer Konflikte verpflichten könnte. Ob die souveränen Staaten einer friedlichen Beilegung ihrer Zwistigkeiten zustimmen, bleibt dem Zufall überlassen. (§ 333) Aber „auch im Kriege", wenn zwischen den Staaten Rechtlosigkeit, Gewalt und Zufälligkeit herrschen, bleibt auf Grund der gegenseitigen Anerkennung als Staaten „ein 13
Hier werden wieder die Paragraphen aus Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 2) in den Text eingefügt.
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Band", bleiben kulturell eingespielte Bedingungen des Umgangs mit einander, die von der Sittlichkeit im Staat vorgegeben sind. Dazu gehört, dass „im Krieg selbst der Krieg als ein Vorübergehendes bestimmt ist", dass somit also die „Möglichkeit des Friedens erhalten bleibt", dass ferner „die Gesandten respektiert werden" und dass schließlich nicht gegen „das friedliche Familien- und Privatleben" gekämpft wird. (§§ 338 und 339) Die „Sitten der Nationen", die nach Hegel im Krieg ein kulturelles Band zwischen Staaten bestehen lassen, können unter heutigen Verhältnissen diese Funktion nicht mehr erfüllen. Seitdem Hitler den totalen Krieg hat ausrufen lassen, seitdem zivile Bevölkerungsteile eines Landes ausgemordet worden sind und seitdem Churchill den Befehl gegeben hat, die deutschen Städte systematisch und ohne Vorbehalte zu bombardieren, ist es definitiv vorbei damit, dass „Privatpersonen" nicht in Kampfhandlungen verwickelt werden. Auch die humane Behandlung von „Gefangenen" und andere Verpflichtungen, die Hegel anmahnt und die in der so genannten „Genfer Konvention" festgelegt worden sind, werden immer weniger beachtet. Krieg heißt inzwischen völlige Kulturlosigkeit, reine Barbarei. Es ist keine Frage, dass unter diesen Bedingungen die von Hegel proklamierte Notwendigkeit und sogar Wünschbarkeit von Kriegen im zwischenstaatlichen Verhältnis neu durchdacht werden muss. Es kommt hinzu, dass die Waffentechnik und das damit gegebene Vernichtungspotential inzwischen ins Unermessliche gesteigert worden sind. In einer Reihe von Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hat die europäisch-westliche Friedensforschung wieder bei Kant anknüpfen wollen. Der Kantische Gedanke erschien wieder annehmbar, dass die innerstaatlich befriedeten Verhältnisse, wie sie in den europäisch-westlichen Verfassungsstaaten bestehen, dauerhaft auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen werden können.14 Die Staaten schienen bereit, sich von sich aus zu einer friedlichen Kultur des Umgangs mit einander und zu einer rechtlich geregelten Schlichtung von Konflikten zu verpflichten. Diese Verpflichtung sollte ganz im Sinne Kants von einer überstaatlichen gemeinsamen Instanz aus kontrollierbar sein. Die Gründung der Vereinten Nationen auf der Grundlage eines Manifests der Menschenrechte galt - zumindest in Ansätzen - als Verwirklichung einer solchen Instanz. Die Idee einer „Weltinnenpolitik" hatte viele Anhänger. Diese Auffassungen sind indessen aus zwei Gründen nicht haltbar. Es ist das Modell europäisch-westlicher staatlich-politischer Verhältnisse, das weltweit verpflichtend gemacht werden sollte. Kant hat das so formuliert, dass die „Staatsverfassung in unserem (aufgeklärten europäischen) Welttheile" im Fortgang der Geschichte „allen anderen" Teilen der Welt auferlegt werden wird.15 Das eurozentrische, den Kolonialismus rechtfertigende Motiv dieser Formulierung lässt sich bis heute nur schrittweise durch eine entschiedene Kritik am Kolonialismus und eine darauf aufbauende interkulturel14
15
I. Kant, „Zum ewigen Frieden" (1795), in: Werke, Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 8, S. 341-386. Kant, „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784), in: Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 8, S. 15-32, hier S. 29 (Einfügung in Klammern im Zitat von mir, HK).
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le Denkweise erkennen und durchbrechen. Nicht die in der europäisch-westlichen Welt entwickelten äußeren Formen befriedeter interstaatlicher Verhältnisse müssen anderen Weltteilen auferlegt werden. Sondern die in diesen Verhältnissen wirksame Intention einer optimalen Beteiligung des Volkes an den Staatsgeschäften innerhalb eines Gleichgewichts der politischen Kräfte, die in anderen Kulturen auch durch andere konkrete Formen gestaltet werden kann, bildet die Voraussetzung friedlicher zwischenstaatlicher Umgangsformen. Der zweite Grund, warum der europäisch-westliche Verfassungsstaat nicht länger als Garant des Friedens oder wenigstens als Weg zum Frieden gelten kann, liegt darin, dass unser aufgeklärter Weltteil selbst die Tendenz verleugnet hat, die innerstaatlich befriedeten Verhältnisse auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zu übertragen und sich dabei der Kontrolle durch die Vereinten Nationen zu unterwerfen. Der Krieg, den die Vereinigten Staaten von Amerika zusammen mit Großbritannien gegen den Irak begonnen haben, kann keinesfalls als ein Verteidigungskrieg gerechtfertigt werden. Dabei sind wirtschaftliche Interessen zweifellos stark im Spiel und vermutlich ausschlaggebend. Dass lügenhafte Argumente zur Begründung des Krieges gedient haben (der Irak sei im Besitz von Massenvernichtungswaffen), dass keine Zustimmung der Vereinten Nationen eingeholt worden ist und dass barbarische Formen der Kriegführung besonders im Umgang mit Gefangenen an der Tagesordnung waren oder sind, passt zur Verleugnung der friedensstiftenden Rolle aufgeklärter Verfassungsstaaten. Die Präponderanz wirtschaftlicher Interessen bei diesem historisch einschneidenden Geschehen weist auf eine Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Staat und Wirtschaft und eine Schwächung des Souveränitätsprinzips der Staaten, die uns im Zusammenhang mit Erscheinungen der Globalisierung im Fortgang noch weiter beschäftigen werden.
c.
Die staatsübergreifenden allgemeinen Gültigkeitsansprüche grundsätzlicher politischer Urteile
Bisher hat sich gezeigt: Kultur ist Kultur im Staat, aber sie übergreift auch den Staat. Im Gebiet eines Staates sind bestimmte Kulturbereiche wie Kunst, Religion und Philosophie dem Staat übergeordnet und dabei konstruktiv und kritisch auf ihn bezogen. Ferner soll die innerstaatliche Kultur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen werden. Dabei geht es nicht ausschließlich um den europäisch-westlichen Verfassungsstaat. Auf Grund einer interkulturellen Perspektive ist die Bindung an einen bestimmten Staat oder einen mit einer bestimmten Kultur verbundenen Typ von Staat deutlich zu relativieren. Von hier aus ist es nur ein weiterer Schritt, die allgemeine Gültigkeit grundsätzlicher politischer Urteile nicht auf den Bereich eines Staates oder einer Kultur zu begrenzen. In seiner Kritik der Urteilskraft hat Kant zu zeigen gesucht, dass ästhetische Urteile eine universale Gültigkeit besitzen. Wenn ein Subjekt etwas schön findet, hält es dies nicht für ein Urteil, das nur für es als einzelnes Subjekt gilt. Es gehe davon aus, dass andere Subjekte dasselbe Objekt ebenfalls schön finden. Mehr noch, es setzt
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voraus, dass grundsätzlich alle Menschen sein ästhetisches Urteil mit ihm teilen. Diese Voraussetzung macht es auf Grund eines „constitutiven Principe" des menschlichen Geistes, das Kant „Gemeinsinn" oder sensus communis nennt. Das Besondere dieses Prinzips des menschlichen Geistes liegt darin, dass es nicht für logische Bestimmungen oder verstandesmäßige Operationen universale Gültigkeit beansprucht, sondern für Urteile, die im Bereich der Kunst und das heißt wesentlich der Sinnlichkeit des Menschen getroffen werden.16 Die so begründete Bedingung der Möglichkeit universaler Gültigkeit ästhetischer Urteile macht nicht Halt bei den Grenzen eines Staates oder einer Kultur. Umgekehrt ist universale Gültigkeit im absoluten, transzendentalen Sinn, wie Kant sie behauptet, aus einer Sicht, die auch die tief greifende Verschiedenheit von Menschen und Kulturen berücksichtigt, nicht aufrecht zu erhalten. Deshalb ist die Frage zu stellen, wie weit reicht die allgemeine Gültigkeit ästhetischer Urteile konkret. Offensichtlich gibt es Gruppen von Menschen, die bestimmte ästhetische Vorlieben teilen, indem sie bestimmte Stile oder auch bestimmte Werke musikalischer oder malerischer Darstellung, bestimmte Baustile oder bestimmte architektonische Kunstwerke, bestimmte literarische Stile oder Werke usw. schön finden oder auch als hässlich aus dem Gebiet der Kunst ausschließen. Diese Art von ästhetischen Urteilen steht häufig quer zu staatlichen und kulturellen Gebietsabgrenzungen. Liebhaber klassischer Musik finden sich in Europa und Nordamerika, aber ebenso auch in China, Japan oder Südafrika. Jazz und Reggae sind Musikstile, die von Menschen afrikanischer Herkunft in Amerika oder in der Karibik entwickelt worden sind, deren Wertschätzung sich indessen über weite Teile der gesamten Bevölkerung, vielleicht am ehesten bei jüngeren Menschen, in Amerika, Europa und anderswo ausgebreitet hat. Das Lächeln der Mona Lisa auf dem Gemälde des Italieners Michelangelo, das in Paris im Louvre hängt, begeistert täglich viele Menschen aus allen Teilen der Welt, während zu Werken der konzeptuellen Kunst nur Wenige einen verständnismäßigen Zugang finden. Ähnliches ließe sich von anderen Stilen und Werken der musikalischen und malerischen Darstellung, der Architektur, der Literatur usw. sagen. Kurzum, ästhetische Urteile sind nicht rein subjektiv oder willkürlich, ihre allgemeine Gültigkeit ist auch nicht universal, sondern sie hat eine jeweils konkret zu bestimmende Reichweite, die quer zu staatlichen und kulturellen Gebieten stehen kann.17 Auf einer Konferenz zu diesen Fragen an der Erasmus Universität Rotterdam, bei der die konkrete Reichweite der allgemeinen Gültigkeit ästhetischer Urteile diskutiert worden ist, sind die Teilnehmer ferner der Kant-Auslegung von Hannah Arendt gefolgt, die eine allgemeine Gültigkeit auf Grund des sensus communis nicht nur für
16
17
Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 5, S. 2 3 7 240 (§§ 19-22). Sensus communis in Multi- and Intercultural Perspective. On the Possibility of Common Judgments in Arts and Politics, hg. von H. Kimmerle und H. Oosterling, Würzburg 2000, bes. S. 11-16; vgl. auch zum Folgenden.
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ästhetische, sondern auch für grundsätzliche politische Urteile annimmt. 18 Konservatives und progressives politisches Denken mit allerlei Zwischenstufen finden sich in vielen verschiedenen Kulturen. Das politische Leben in einem Land wird häufig durch die wechselnde Vorherrschaft des einen oder anderen Denktypus bestimmt. Sozialisten aus verschiedenen Ländern verstehen sich unter einander oft besser als Sozialisten und Traditionalisten in einem bestimmten Land. Auch das Umgekehrte, eine internationale Solidarität der Traditionalisten, lässt sich oft genug beobachten. Umweltbewusste Bewegungen haben allermeist einen internationalen Charakter. Sie finden ihre Anhänger ebenso in der westlichen Welt wie in Entwicklungsländern. Die spektakulären Aktionen von Greenpeace stützen sich auf Kräfte aus dem Westen, während Wangari Maathai als die „Mutter der Bäume" in Ostafrika wirkt. Gerechtigkeit im Weltmaßstab kann von europäisch-westlichen Theorien aus eingefordert werden oder auch von der Übertragung der afrikanischen Familienethik auf die internationalen Verhältnisse. Solche allgemein gültigen grundsätzlichen politischen Urteile spielen im Zeitalter der Globalisierung eine wichtige Rolle. Sie liegen der Forderung Derridas nach einer „neuen Internationale" ebenso zugrunde wie Orukas Gedanken einer Parental Earth Ethics oder Nussbaums Idee einer moralischen Weltbürgerschaft. Die konkreten Ausarbeitungen dieser Gedanken sollen in dem hier folgenden 3. Abschnitt diskutiert werden, nachdem zuvor die Machtverschiebung von den Staaten auf wirtschaftliche Instanzen herausgestellt worden ist.
4.
Staat und Kultur im Zeitalter der Globalisierung
Dass die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so sehr zusammengewachsen ist, dass man von einem global village sprechen kann, hängt vor allem damit zusammen, dass nach dem kolonialen Zeitalter alle Teile der Welt an der Weltpolitik und an der Weltwirtschaft, wenn auch nicht gleichberechtigt so doch mit eigenem Beitrag mitwirken können. Andere wichtige Faktoren sind die außerordentlich verbesserten Informations- und Kommunikationsmittel sowie der zugenommene Reiseverkehr. Politische und vor allem auch wirtschaftliche Entscheidungen haben im Zeitalter der Globalisierung in allen Teilen der Welt weit reichende Folgen. Auch die Wissenschaft arbeitet im Weltmaßstab, und bestimmte kulturelle Ereignisse spielen sich auf der gesamten Weltbühne ab. Entscheidend ist die soeben erwähnte Machtverschiebung von den Staaten auf wirtschaftliche Instanzen.
18
H. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Originalausgabe Chicago 1982).
Philosophie,
München 1985 (Amerikanische
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a.
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Das Anwachsen wirtschaftlicher Macht durch weltweite Arbeitsteilung
Große wirtschaftliche Konzerne, die international aufgestellt sind, gibt es schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung der Dampfmaschine oder die Entdeckung der Glühbirne, ganz zu schweigen von der Erfindung des Automobils oder des Flugzeugs haben seitdem weltweite Wirkungen hervorgerufen. Insbesondere die verbesserte Waffentechnik, die im Gefolge der industriellen Produktion möglich wird, steht im Dienst der staatlichen Machtpolitik. Das Machtmonopol der nationalen Staaten wird dadurch zunächst nicht ins Wanken gebracht. Im Zuge der Globalisierung, nicht zuletzt durch den Gebrauch digitaler Kommunikationsmittel, entsteht die Möglichkeit weltweiter Arbeitsteilung, die zu enormen Gewinn- und Machsteigerungen der großen wirtschaftlichen Unternehmen führen. Wenn die Herstellung vieler Produkte aus den modernen Industriestaaten, wo Arbeitskräfte teuer sind, in so genannte Billiglohnländer verlagert wird, entstehen bemerkenswerte Effekte. Die billig produzierten Güter werden in den Industrieländern zu relativ hohen Preisen verkauft, so dass die Gewinnmarge außerordentlich vergrößert wird. In den Industrieländern können sehr viele Arbeiter entlassen werden. Diese fallen aber nicht der Verelendung anheim, sondern bleiben Käufer und Konsumenten der in anderen Ländern hergestellten Produkte. Der Staat kann diese Entwicklung nicht aufhalten. Er finanziert sie zum großen Teil mit, indem er den entlassenen Arbeitern Unterstützung bezahlt und auf Grund bestehender Sozialgesetze auch bezahlen muss. Im Ergebnis hat schon ein mittleres, aber sicher jedes größere wirtschaftliche Unternehmen ein höheres Budget als der Staat, und ein Industriemanager verdient hundert oder tausend Mal mehr als ein Ministerpräsident, ein(e) Bundeskanzler(in) oder ein Staatsoberhaupt. Die bekannte These von Karl Marx, dass der Staat ein Erfüllungsgehilfe des Großkapitals ist, wird durch die Entwicklungen im Zuge der Globalisierung ein gutes Stück weiter in die Realität umgesetzt. Aber auch auf staatlichem Gebiet entstehen im Zeitalter der Globalisierung großräumige Konstellationen. Die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen oder die Europäische Union mit eigenen Regierungsbefugnissen bringen politische Intentionen auf überstaatlicher Ebene ins Spiel. Die Gründung dieser Organisationen führt indessen nicht zu einer Konzentration staatlicher Macht. Die Nationalstaaten geben zwar Teile ihrer Souveränität an solche überstaatlichen Organisationen ab und werden dadurch selbst schwächer. Aber die Souveränitätsrechte und die Entscheidungsbefugnisse der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union bleiben doch sehr begrenzt. In anderen Teilen der Welt, außerhalb Europas und Nordamerikas, ist die Effizienz überstaatlicher Instanzen noch sehr viel geringer: etwa in der Assoziation asiatischer Staaten, der Liga arabischer Staaten, der Organisation afrikanischer Staaten oder in den Bemühungen lateinamerikanischer Staaten, um eine selbständige Position gegenüber Nordamerika, insbesondere den USA, zu erlangen. Dem Anwachsen wirtschaftlicher Macht durch weltweite Arbeitsteilung und die weitere Anhäufung großen Reichtums steht eine Schwächung der staatlichen Macht ge-
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genüber. Dabei ist die Kultur der großen Unternehmen nicht wie die der Staaten zur Aufrechterhaltung des Gemeinwohls verpflichtet, sondern richtet sich ausschließlich auf Gewinnmaximierung. Die Globalisierung nützt auf diese Weise den Reichen und schadet den Armen. Und es kommt immer weniger dazu, wie in der Konzeption Hegels, dass das Gewinnstreben einzelner Subjekte in der bürgerlichen Gesellschaft auf höherer Ebene in die allgemeinen Belange des Staates integriert wird. Im Gegenteil, die Staaten wenden die ihnen verbliebene Macht an, um die Vertreter der wirtschaftlichen Globalisierung gegen die Proteste von Antiglobalisten in Schutz zu nehmen. Eine Gegeninstanz zu den beschriebenen Tendenzen der Globalisierung in der Wirtschaft und in der staatlichen Politik kündigt sich in der Haltung von Intellektuellen an, die erkennen, dass die Globalisierung nicht aufzuhalten ist, dass ihr aber eine andere Wendung gegeben werden soll. Man kann in diesem Zusammenhang von Andersglobalisten sprechen. Sie denken und handeln aus einer weltbürgerlichen Perspektive. Dabei haben sie sicher nicht die Möglichkeit, eine relevante Machtposition aufzubauen, aber sie können eine Veränderung des Denkens und der Kultur in Gang setzen. Was Weltbürger ohne einen Weltstaat schließlich bewirken können, wird vorerst offen bleiben müssen. Ich kann mich der These von Dieter Henrich anschließen, dass von der Philosophie in der Wechselwirkung mit anderen Kulturprozessen ein „Impuls" ausgehen kann, der das Denken und die „Verstehensart" insgesamt und damit auch das „soziale Verhalten" grundlegend verändert. 19 Dafür muss indessen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit gefordert werden, dass die „kulturellen Bedingungen" wesentlich verbessert werden, unter denen Philosophie und kritisches Nachdenken geschehen können.
b.
Die „neue Internationale" der Kosmopoliten als kritische Instanz der Globalisierung
Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des marxistischen Sozialismus in Osteuropa, der 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer besiegelt wird, als Marx und der Marxismus aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden, schreibt Derrida ein Buch über deren weitere gespenstische Anwesenheit. Dieses Buch handelt auch von Marx' eigenem Umgang mit Gespenstern und von der gespenstischen Dimension der Wirklichkeit im Allgemeinen. Im Untertitel des Buches Marx' Gespenster wird eine „neue Internationale" erwähnt, die wohl die Aufgabe und die Rolle der marxistisch-sozialistischen Internationale im Zeitalter der Globalisierung übernehmen soll.20 Der Marxismus enthält nach der Darstellung Derridas eine nicht eingelöste prophetische Potenz, ja geradezu das messianische Versprechen, dass es der Mühe wert ist, für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Diese Aufgabe will Derrida der neuen Internationale übertra-
19 20
D. Henrich, Die Philosophie im Prozess der Kultur, Frankfurt/M 2006, S. 37. J. Derrida, Marx' Gespenster. Die Situation der Schuld, die Trauerarbeit und die neue tionale, Frankfurt/M 2004 (Französische Originalausgabe Paris 1993).
Interna-
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gen, die freilich mit anderen Mitteln und in anderer personaler Zusammensetzung an der Verwirklichung dieses Ziels arbeiten soll. Bei der neuen Internationale denkt Derrida an eine Zusammenarbeit der Weltbürger oder Kosmopoliten. Das ergibt sich aus dem Titel seiner 1997 erschienenen kleinen Schrift, in dem er die Losung der sozialistischen Internationale: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!" wieder aufnimmt und in charakteristischer Weise verändert. Der Titel dieser Schrift lautet in deutscher Übersetzung: „Weltbürger aller Länder, noch ein Versuch!"21 An die Stelle der Proletarier treten also die Weltbürger, und statt: „vereinigt euch!" heißt es: „noch ein Versuch!" Mit der letzteren Formulierung greift er auf einen kurz vorher in demselben Jahr veröffentlichten Text zurück, der aber schon 1991 bei einer Tagung der UNESCO vorgetragen worden ist: „Das Recht auf Philosophie aus weltbürgerlicher Perspektive".22 In diesem Text mach er deutlich, dass Weltbürgertum und Weltbürger sein in allen Ländern etwas mit dem Recht auf Philosophie zu tun hat. „Zum Recht auf Philosophie", das allen Menschen zukommt, das also ein Menschenrecht ist und das unmittelbar mit Demokratie zusammenhängt, hat sich Derrida schon in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Kampf um die Erhaltung des Philosophie-Unterrichts an den französischen Gymnasien geäußert.23 In dem Text von 1997/91 wird die weltweite Arbeit der UNESCO auf zentralen Gebieten der Kultur als „eine Politik des Rechts auf Philosophie für alle" charakterisiert, wodurch dieses Recht eine weltbürgerliche Dimension bekommt.24 Wenn Derrida 1997 dann „noch einen Versuch (effort)" unternimmt, den Weltbürgern ihre gemeinsame philosophische Aufgabe vor Augen zu führen, ist der Zusammenhang mit den Menschenrechten und der Demokratie vorausgesetzt. Dabei wird den Städten, verglichen mit der staatlichen Politik in Frankreich und in der westlichen Welt, auf Grund ihrer größeren Offenheit und Gastfreundschaft gegenüber Migranten, eine überlegene weltbürgerliche Kompetenz zugestanden, die in der Tradition der Städte seit dem Mittelalter ihre Wurzeln hat.25 Demokratie in weltbürgerlicher Perspektive ist also nicht ausschließlich und auch nicht primär eine Sache der Staaten, die sich selbst demokratisch nennen. Das „Internationale Parlament der Schriftsteller", zu deren Vizepräsidenten Derrida damals gehört, wendet sich 1995 und 1996 in wiederholten Appellen an die europäischen und US-amerikanischen Städte, um insbesondere für „verfolgte Schriftsteller" zu „Zufluchts-Städten (villes-refuges)" zu werden.26 Gastfreundschaft ist für Derrida identisch mit Ethik. Im Anschluss an Kant fordert er eine „unbedingte Gastfreundschaft". Diese ist im Sinne Kants im Verkehr der Staaten
21 22 23
24 25 26
Derrida, Cosmopolites de tous les pays, encore un effort! Paris 1997. Derrida, Le droit à la philosophie du point de vue cosmopolitique, Paris 1997. Derrida, Du droit à la philosophie, Paris 1990. - Die Texte zum Erhalt des Philosophie-Unterrichts an den französischen Gymnasien, die in diesen Band aufgenommen sind, stammen aus den Jahren 1975ff. Derrida, Le droit, a.a.O. (Anm. 22), S. 39. Derrida, Cosmopolites, a.a.O. (Anm. 21), S. 11-19. Ebd., S. 9f.
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mit republikanischer Verfassung unter einander als ein „Besuchsrecht" zu konkretisieren, das jedem, er in friedlicher Absicht kommt, für eine gewisse Zeit zugestanden werden muss, und als ein „Bleiberecht", an dessen Gewährung der gastgebende Staat bestimmte Bedingungen knüpfen kann.27 Bei Demokratie denkt Derrida nicht an die bestehende europäisch-westliche Form der staatlichen Demokratie, die gewiss ihre Verdienste und ihre Vorteile hat, aber auf Grund „auto-immunisierender" Tendenzen selber die Gestalt eines „Schurkenstaates" annehmen kann. Das zeigt vor allem die US-amerikanische Politik gegen so genannte Schurkenstaaten im Mittleren Osten. Es führt dazu, dass die „Diskurse über Menschenrechte und Demokratie zum obszönen Alibi verkommen". Demgegenüber ist an der ,Jdee der Demokratie" festzuhalten, die auch die „kommende Demokratie" genannt wird, das heißt eine Demokratie, die „im Kommen" ist und „im Kommen" bleibt, ein Ausdruck, der „für eine kämpferische und schrankenlose politische Kritik" steht.28 Die neue Internationale der Kosmopoliten oder Weltbürger ist als kritische Instanz gegenüber der Globalisierung gemeint, die primär aus der Machtverschiebung von den souveränen Staaten zu den internationalen Wirtschaftskonzernen hervorgeht. Ihre Strategie ist „ein Ruf' nach einem neuen Denken, das sich „dem Kommenden" aussetzt, um darin der „einzigartigen Ankunft des anderen" den Weg zu bereiten, mit dem eine gerechtere Welt herbeigeführt werden soll. Dieser Ruf ist keine Machtinstanz, sondern eine „verletzliche, kraftlose Kraft", auf der zwar „alle Hoffnungen" liegen, die indessen als solche „ohne Hoffnung" bleibt, aber auch ohne Verzweiflung.29
c.
Verschiedene Begründungen des Kosmopolitismus als Schritte zur Formierung einer „neuen Internationale"
Derrida ist nicht der einzige, der gegen die Globalisierung im oben beschriebenen Sinn einen Kosmopolitismus ins Feld führt, in dem die Philosophie sich als politisch und im Blick auf die gesamte Kultur als relevant erweist. Durch die Beiträge anderer Philosophen wird diese Haltung gestärkt, auch wenn sie eine „kraftlose Kraft" bleibt, deren Wirksamkeit nicht abzuschätzen ist. Als erster Mitstreiter für den Kosmopolitismus dieser Art soll hier Kwame Anthony Appiah herangezogen werden. Er ist ein Philosoph aus Ghana, der an die Harvard Universität in den USA berufen worden war und heute an der University of Princeton im Staat New Jersey lehrt. Er ist in drei Kontinenten zuhause: in Afrika (in Kumasi, seiner Geburtsstadt im Asante-Gebiet und in Legon bei Accra, wo er an der Universität gelehrt hat), in Europa (im ländlichen Süden Englands, der Heimat seiner Mutter, sowie in den Städten London und Cambridge, an deren Universitäten
27
28
29
Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001 (Französische Originalausgabe 1997), S. 59-69; vgl. Kant, „Zum ewigen Frieden", a.a.O. (Anm. 14), S. 357-358. Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M 2006 (Französische Originalausgabe Paris 2003), S. 136, 123 u.ö. Ebd., S. 218f.
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er studiert hat) und in Nordamerika (in Cambridge, MA bei Boston und in Princeton, seinem heutigen beruflichen Betätigungsfeld). Er betrachtet auf der Ebene völliger Gleichheit Verhältnisse in Afrika, Europa und Amerika, ferner auch in Asien sowie in anderen Teilen der Welt, die er großenteils aus eigener Anschauung kennt. Allenthalben findet er, dass Kulturen im Wandel sind und waren. Die bestehenden Kontinuitäten sind inmitten dieses Wandels auszumachen. Schlagwortartig fasst er Kosmopolitismus zusammen als „Universalität plus Differenz". Die Universalität gibt es nicht unabhängig von den Differenzen, und in allen Differenzen bleibt die Universalität des Menschseins und der menschlichen Kultur spürbar.30 Durch seine Auffassungen über Kunst und Religion wird sein kosmopolitsches Denken konkret. Kunst betrachtet er als ein ebenso universales wie kulturell differenziertes Phänomen. Appiah bewundert in gleicher Weise Skulpturen in indischen HinduTempeln, Freskos von Raffael oder Michelangelo im Vatikan, das Haupt der Nofretete aus Ägypten oder die Bronze-Statuen aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria. Wichtig ist seine Haltung in der Frage der Repatriierung der Kunst, die im Zuge des Kolonialismus und Neokolonialismus geraubt und in andere Teile der Welt verbracht worden ist. Seiner Auffassung nach gibt es Kunst, die mit einem bestimmten Gebiet, einem bestimmten Land oder Kontinent in einer Weise verbunden ist, dass sie dorthin gehört, und wenn sie weggeholt worden ist, zurückgebracht werden muss. Zugleich ist Kunst der stärkste Ausdruck der Universalität des Menschseins in allen Kulturen. Denn „wir können (auch) Kunst .genießen und anerkennen' (respond to art), die nicht von uns ist; in der Tat können wir .unsere' Kunst nur im vollen Sinn genießen und anerkennen, wenn wir den Gedanken, dass sie von uns ist, hinter uns lassen, und anfangen, sie (rein) als Kunst zu genießen und anzuerkennen".31 Die Religionen sind nach Appiah nicht in gleicher Weise offen für weltweiten Austausch und gegenseitige Bereicherung. Der Lehre des Christentums, dass alle Menschen gleich sind vor Gott, kann er ohne weiteres zustimmen. Aber dasselbe Christentum hat auch Kreuzzüge organisiert und aktiv an der Kolonisierung großer Teile der Welt teilgenommen. Und der Islam zeigt heute das intolerante Gesicht der Religionen, sofern aus seiner Umgebung eine Vielzahl terroristischer Handlungen hervorgeht. Aber auch die Anti-Terror-Politik der Vereinigten Staaten von Amerika hat fundamentalistische Züge. Appiah entscheidet sich selbst für eine religiöse Grundhaltung, ohne sich einer bestimmten Religion anzuschließen. Und er will die traditionellen Religionen Afrikas, die als Animismus charakterisiert werden können, nicht länger geringer eingeschätzt wissen, als die „Buchreligionen" (Judentum, Christentum, Islam) oder die sogenannten großen Weltreligionen (als solche gelten meistens neben den genannten Religionen Hinduismus und Buddhismus). Ich nehme seine Konzeption als eine Unterstützung meiner
30
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Kwame Anthony Appiah, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, New York und London 2006, S. 151. Ebd., S. 124-135, bes. S. 135. (Hinzufügungen in Klammern im Zitat von mir, HK.)
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These, dass der Animismus mit seiner Ehrfurcht vor dem Leben und dem Respekt vor der Natur in den Kreis der großen Weltreligionen aufzunehmen ist.32 Für Appiah ist Ethik wichtiger als Religion. Toleranz ist eine notwendige ethische Tugend. Sie hat ihre Grenze gegenüber intoleranten religiösen und politischen Strömungen. Die Anerkennung kultureller Unterschiede ist mit der Auffassung zu kombinieren, dass alle Kulturen dem Rang nach gleich sind. Das zentrale Motiv einer kosmopolitischen Ethik ist, dass „jeder mitzählt (everybody matters)" und dass jeder Mensch gegenüber anderen und besonders gegenüber Fremden Verpflichtungen hat. Diese Verpflichtungen beziehen sich auf Anerkennung und Hilfeleistung. Sie werden weit gefasst und sogar auf Tiere ausgedehnt. Dass die Reichen den Armen etwas geben, ist ein selbstverständlicher Aspekt der Verpflichtungen gegenüber anderen. Das Ausmaß und die Art des Gebens sind durch rationale Argumente zu bestimmen.33 Angesichts einer heutzutage allenthalben vorzufindenden Wechseldurchdringung des Denkens und Fühlens verschiedener Kulturen fühlt Appiah sich überall zu Hause und auch nirgends. Ein ganzes Kapitel seines Buches ist dem „Lob" dieser Wechseldurchdringung gewidmet: In Praise of Contamination. Die Welt ist auf diese Weise eine „Welt von Fremden". In ihr gilt oder muss die „Ethik" der Gastfreundschaft gelten, in der die „Verpflichtung Fremden gegenüber" spezifiziert wird. Da es nicht nur Freunde und Freundschaft gibt in dieser Welt, sondern auch Fundamentalisten und „AntiKosmopoliten" auf allen Seiten, ist die grundlegende ethische Maxime der Kosmopoliten (die an der „neuen Internationale" im Sinne Derridas teilhaben) nach Appiah eher bescheiden, jedenfalls aber äußerst pragmatisch. Er fordert zu interkulturellen Gesprächen (cross-cultural conversations) auf, in denen Gemeinsames und Trennendes erörtert werden kann und in denen jeder für seinen Standpunkt Gründe darzulegen hat. Bei diesen Gesprächen wird es nicht immer zur Übereinstimmung kommen. Desto wichtiger ist es, an der Praxis des Führens dieser Gespräche festzuhalten. Appiahs pragmatische „Ethik in einer Welt der Fremden" findet ihren komprimierten Ausdruck in der Formulierung: „Praktische Verhaltensweisen, nicht Prinzipien sind es, die es uns ermöglichen, in Frieden zusammen zu leben."34 Henry Oderà Oruka, der Sohn eines philosophischen Weisheitslehrers (sage) der Luo in West-Kenia, nach einem Studium der Philosophie in Schweden und den USA Professor an der Philosophie-Abteilung der Universität Nairobi, arbeitet ebenfalls an einer Ethik im globalen Maßstab. In der Frage der Hilfeleistung von reichen Ländern für arme Teile der Welt, fordert er - anders als Appiah - mit großer Entschiedenheit, dass Europa und der Westen sehr viel mehr tun müssen, um die ehemaligen Kolonien, auch 32
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Kimmerle, „The world of spirits and the respect for nature: towards a new appreciation of animism", in: The Journal for Transdisciplinary Research in Southern Africa 2 (2006), S. 249-263; s. auch M. Hofmeyr, „From hauntology to a new animism? Nature and culture in Heinz Kimmerle's intercultural philosophy", in: Journal for Transdisciplinary Research in Southern Africa 3 (2007), S. 1-38 Appiah, Cosmopolitanism, a.a.O. (Anm. 30), S. 144f. Ebd., S. 84f„ 97, 111-113, 151, 153.
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als Kompensation für Jahrhunderte der Ausbeutung, wirtschaftlich zu unterstützen. Er sieht darin auch eine Investition in die eigene Zukunft der westlichen Welt, die ihre Hegemonie nicht ewig behalten wird. Der größere Rahmen seiner Forderung ist die Gewährleistung eines menschlichen Minimums in allen Teilen der Welt.35 Die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens auf der Erde macht indessen auch große Anstrengungen auf dem Gebiet der Umweltpolitik notwendig. Das afrikanische Familienprinzip, das die Vorsorge der Eltern für die Kinder und darüber hinaus gegenseitige Hilfe aller Familienmitglieder für einander verlangt, sollte das Verhältnis der Menschen zu einander weltweit bestimmen. Darüber hinaus können der Respekt und die Ehrfurcht vor der „Mutter Erde", die im afrikanischen Denken eine zentrale Rolle spielen, auch in anderen Kulturen für den Umgang mit der Natur als Maßstab dienen. Das Projekt einer Parental Earth Ethics verbindet die Forderungen gegenseitiger Hilfe und respektvollen Umgangs mit der Natur zu einer kosmopolitischen ethischen Konzeption.36 Der aus Indien (Dhaka) stammende Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, der in Cambridge in England studiert hat und gegenwärtig an der Harvard Universität in den USA lehrt, tritt entschieden für eine „weltbürgerliche Identität (global identity)" ein, die erworben werden kann, ohne andere Loyalitäten aufzugeben. Er stimmt Samuel Huntington zu, dass „Kulturen zählen (cultures count)", obwohl er dessen berühmter These vom „Zusammenprall der Kulturen" (clash of civilisations) ausdrücklich widerspricht. Er sieht vielmehr im Multikulturalismus eine Chance, um die Fähigkeit gegenseitigen Verstehens zu verbessern. Zu dieser These gelangt er auf Grund seiner Methode, Menschen nach ihren Fähigkeiten zu beurteilen und bestimmte grundlegende Fähigkeiten für alle Menschen zu fordern (capability approach)?1 Damit wendet er sich gegen John Rawls, der in seiner Theory of Justice (Cambridge, MA 1971) Einkommen (income) und Vermögen (wealth) zu den einzig relevanten Kriterien für die gesellschaftliche Stellung der Menschen gemacht hat, weil über sie vertragliche Abmachungen möglich sind.38 Sen verlangt mit den grundlegenden Fähigkeiten, zu denen vor allem Ausbildung und kritischer Gebrauch des Verstandes gehören und ferner alles, was in den allgemeinen Menschenrechten zugesichert wird, deutlich mehr als Oderà Orukas „menschliches Minimum". In einer Situation, in der Menschen vielfach auf eine bestimmte Identität festgelegt werden oder sich selbst festlegen, etwa die Zugehörigkeit zum Islam oder zur europäisch-westlichen Kultur, hält Sen es für wichtig zu betonen, dass Identität in sich vielfältig ist. Auf diese Weise kann man vermeiden, dass die vermeintlich einzige oder einzig wichtige Identität zur Quelle von Gewalttaten wird. „Dieselbe Person kann ohne 35
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38
H. Oderà Oruka, „Philosophy and Foreign Aid", in: Sagacious Reasoning. Henry Oderà Oruka in memoriam, hg. von A. Graness und K. Kresse, Frankfurt/M u. a. 1997, S. 4 7 - 5 9 . Oderà Oruka, „Ecophilosophy and the Parental Earth Ethics", in: ebd., S. 119-131. A. Sen, Identity and Violence. The Illusion of Destiny, New York und London 2006, S. 185, 149-169, 106-109. Sen, Commodities and Capabilities, Amsterdam 1985.
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irgendeinen Widerspruch ein amerikanischer Bürger sein, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, ein Christ, ein Liberaler, [...] ein Vegetarier, ein Marathonläufer, ein Historiker, ein Schullehrer, ein Romanschreiber, ein Feminist, ein Heterosexueller, ein Anhänger von Rechten für Homosexuelle und Lesbische, ein Theaterliebhaber, ein Umweltaktivist, ein Tennis-Fan, ein Jazz-Musiker und jemand, der entschieden die Auffassung vertritt, dass es intelligente Wesen im Weltall gibt, mit denen zu sprechen (vorzugsweise auf Englisch) äußerst dringend ist." Die in diesem Sinn „plurale Identität" ist sehr viel weniger auf Konfrontation ausgerichtet als die auf eine hauptsächliche Zugehörigkeit festgelegte. Sie bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Kontakte und Kommunikation. Und sie stellt mögliche Veränderungen in Rechnung. Diese beruhen auf der grundlegenden Fähigkeit, Prioritäten frei zu wählen, so dass die Illusion eines unwiderruflichen Schicksals vermieden wird.39 Martha C. Nussbaum, Philosophin mit dem Schwerpunkt auf Rechtsphilosophie und Ethik an der Universität von Chicago, teilt die Kritik von Sen an Rawls und entscheidet sich ebenfalls für den capability approach. Auf der Grundlage ihrer Anknüpfung an die Theorie der Gefühle in der antiken stoischen Philosophie betont sie in der Aufzählung der „zentralen menschlichen Fähigkeiten" neben Gesundheit, körperlicher Integrität und Selbstachtung vor allem Phantasie, kreatives Denken und die Emotionen, die den Menschen dazu befähigen, „zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigten Zorn zu erfahren".40 Mit der Feministin Eva Feder Kittay will sie die Grenzen dessen, was als gerecht gilt, über die vertraglich festzulegenden Rechte zwischen gleichen Partnern hinaus, noch weiter verlegen, als Sen es bereits tut. Die „Sorge" für Abhängige: Kinder, Schwache, Behinderte ist ein wichtiges Anliegen ihres Strebens nach gerechteren Verhältnissen. Behinderungen (disabilities) an Stelle von Fähigkeiten (·capabilities) machen besondere Fürsorge notwendig.41 In diesem Punkt besteht eine Verwandtschaft mit Oderà Orukas weltweiter Familienethik. Für die Konkretisierung des Weltbürgertums ist besonders wichtig, dass sie mit der Zuerkennung und Verteidigung menschlicher Fähigkeiten nicht Halt macht bei den Mitgliedern der eigenen Nation. Auch und gerade gegenüber Migranten, Fremden, Staatenlosen gibt es bestimmte Verpflichtungen. Insofern ist es berechtigt, von einem moralisch begründeten Weltbürgertum zu sprechen. In dieser Hinsicht sind die verschiedenen Begründungen des Weltbürgertums sich einig. Derrida erhebt im Anschluss an Kant die Forderung einer „unbedingten Gastfreundschaft". Appiah und Oderà Oruka sprechen von den besonderen Verpflichtungen Fremden gegenüber. Und Sen betont die spezifischen Fähigkeiten, die der Multikulturalismus in einer Gesellschaft vermittelt. Schließlich gehört nach der Darstellung Nussbaums zur Sorge für Abhängige auch ein gerechter oder jedenfalls angemessener Umgang mit den Tieren. Das ist ein Schritt, den auch Derrida vollzieht, nachdem er den Zusammenhang zwischen Weltbürgertum 39 40
41
Sen, Identity and Violence, a.a.O. (Anm. 37), S. xiif., xvi, u.ö. M. C. Nussbaum, Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership, MA 2006, S. 76f. Ebd., S. 140-145 und 168-171; vgl. zum Folgenden Kapitel 4 - 6 .
Cambridge,
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und der Begründung einer neuen Internationale aufgezeigt hat. In dem posthum erschienenen Buch: L'animal que je donc suis (Das Tier, das ich doch bin/ dem ich doch folge, Paris 2005) mahnt er nicht nur eine geschwisterliche Verbundenheit mit den Tieren an, sondern vor allem auch eine differenzierte Sicht auf die Welt der Tiere. Es ist nicht dasselbe, ob man von einem Schimpansen oder von einem Wurm spricht und sich ihnen gegenüber verhält. Die verschiedenen Arten von Tieren haben ihnen zugehörige Rechte. Im Umgang mit ihnen sind den Menschen entsprechende Verpflichtungen auferlegt.
5.
Schlussbemerkung
Das Verhältnis von Kultur und Staat ist vielfältig. Um es angemessen zu entfalten, sind die Bedeutung der Kultur im Staat und den Staat übergreifend zu berücksichtigen. Im Staat gilt es, zwischen den verschiedenen Instanzen des gesellschaftlich-staatlichen Lebens und den staatlichen Institutionen als solchen ein Gleichgewicht zu gewährleisten und eine optimale Beteiligung aller Menschen an den staatlichen Entscheidungen zu ermöglichen. Dafür ist nicht die europäisch-westliche Form der Demokratie maßgebend, sondern eine darin wirksame Vorstellung von Demokratie, die „im Kommen" ist und bleibt. In früheren Veröffentlichungen habe ich auch von der „demokratischen Intention" gesprochen.42 Diese kann sich in anderen Kulturen auch in ganz anderen institutionellen Formen darstellen. Im Staat haben die Intellektuellen oder die selbständig und uneigennützig Denkenden eine den Staat übergreifende kritische Aufgabe, die der Wahrung des genannten Gleichgewichts und der Aufrechterhaltung der optimalen Beteiligung der Menschen an den Staatsgeschäften dient. Die zwischenstaatlichen Beziehungen bilden den nächsten Schritt in der Entfaltung der den Staat übergreifenden Bedeutung der Kultur. Dabei können innerstaatlich befriedete und im Gleichgewicht befindliche Verhältnisse durchaus als Maßstab dienen. Die Möglichkeit einer über den einzelnen Staaten stehenden souveränen Instanz im Sinn der „kommenden Demokratie" ist indessen höchst ungewiss. Es ist eher wahrscheinlich, dass Hegel Recht hat, dass Kriege unvermeidlich sind. Dann liegt eine wichtige Aufgabe der Intellektuellen darin, den Verlust der „Sitten" im Krieg seit den Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts und in den lokalen Kriegen danach anzuprangern und ihm auf diese Weise entgegen zu treten. Es geht nicht an, die innerstaatlichen Verhältnisse der europäisch-westlichen Staaten mit ihren bestehenden Institutionen zur Norm 42
H. Kimmerle, „Demokratische Intention und praktische Demokratie. Ansätze zur Analyse und Kritik der gegenwärtigen Demokratisierungsbewegung", in: Hegel-Jahrbuch 1993/94, Berlin 1995, S. 326-332, sowie ders., „Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde Bedeutung bei Kant, Hegel, Derrida und in der afrikanischen Philosophie", in: Kimmerle, Rückkehr ins Eigene. Die interkulturelle Dimension in der Philosophie, Nordhausen 2006, S. 5 3 - 8 3 und in: Zwischen Konfrontation und Integration. Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant, hg. von A. Arndt und J. Zovko, Berlin 2007, S. 165-176.
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für die übrigen Staaten der Welt zu erheben, wie Kant es empfohlen hat. Eine solche Norm kann nur die „demokratische Intention" sein, wie sie im ersten Abschnitt dieser Schlussbemerkung angesprochen worden ist. Dass grundsätzliche politische Urteile - wie die ästhetischen Urteile - in ihrer Gültigkeit grenzüberschreitend sind, bedeutet für die Intellektuellen in allen Ländern, dass es möglich ist, für eine internationale Kultur der Demokratie und des Friedens einzutreten. Ein so zu verstehender moralischer Kosmopolitismus, wenn er von Vielen mit guten Gründen vertreten wird, ist im Zeitalter der Globalisierung nicht wirkungslos. Er ist freilich keine Instanz, die selber mächtig genug ist, um zur Machtverschiebung von den souveränen Staaten auf die großen international aufgestellten wirtschaftlichen Mächte mit ihren negativen Folgen für die demokratische Politik in einzelnen Ländern und zwischen ihnen - ein Gegengewicht bilden zu können. Die Auswirkungen der „kraftlosen Kraft" einer solchen neuen Internationale, von der Derrida spricht, sind nicht vorhersehbar. Womöglich enthalten sie eine Sprengkraft, die irgendwann potentiell anschwillt. Vorerst ist diese Art von Kosmopolitismus die einzige Hoffnung in einer tragischen Kultur, die keinen anderen Ausweg aus fatalen Entwicklungen erkennen lässt, gewissermaßen eine Hoffnung gegen alle Hoffnungslosigkeit.
MIRKO WISCHKE
Die Bildung des Selbst Über Kultur und Politik bei Hegel
1.
Was versteht Hegel unter Kultur?1
Sucht man in Hegels Werken nach dem Begriff der Kultur, so ist das erste Ergebnis dürftig. Hegel verwendet diesen Begriff zuweilen, um geschichtliche Epochen (Ägypten, Griechenland, Mittelalter) zu unterscheiden.2 In diesem Kontext betont Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die „lebendige Innerlichkeit" einer jeden wirklichen Kultur und die Spannungen entgegengesetzter Tendenzen, die zu versöhnen großen Kulturepochen eigentümlich gewesen sei.3 Diese Art von Kultur findet jedoch ihren Maßstab in der Bildung. Bildung steht für eine geistige Kultur, für die die Formung und Pflege der intellektuellen Fähigkeiten und Talente des Menschen unabdingbar sind. Kultur im Sinne der Bildung des Individuums misst sich an einem Ideal, dem eine Normativität eigen ist, die sich einem Gegensatz zur Natur verdankt. Bildung ist die Erhebung des Menschen über den Naturzustand mittels der Ausbildung und Pflege seiner geistigen und sittlichen Kräfte. Zu diesem Verständnis von Kultur als Bildung steht der Begriff der Zivilisation in einem Verhältnis des Kontrastes und der Ergänzung. Als Inbegriff einer kulturellen Ganzheit von historisch gewachsenen Lebensformen schließt Zivilisation Bildung ein, ist jedoch nicht normativ, sondern deskriptiv von Hegel gebraucht: nämlich als Be1
2
3
In meinen folgenden Betrachtungen habe ich den Aspekt der Arbeit bei Hegel ausgeklammert, der ohne Frage relevant für Hegels kulturtheoretische Überlegungen ist, jedoch den systematischen Schwerpunkt meiner Darlegungen entgrenzen würde. Den kritischen Hinweis verdanke ich Jakub Kloc-Konkolowicz. Eine Ausnahmen bilden die „Frühen Schriften" und die „Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie", wo der Terminus Kultur deskriptiv gebraucht wird. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Geschichte der Philosophie ΙΠ, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1986, Bd. 19, S. 405.
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Zeichnung eines vorläufigen Stadiums in der kulturgeschichtlichen Entwicklung eines Volkes.4 Dieser knappe Überblick wirft die Frage auf, ob Hegel Kultur normativ versteht, d.h. im Sinne eines Sollens, oder deskriptiv, als Beschreibung eines geschichtlichen Entwicklungszustandes. Ersteres legt Hegels Prämisse nahe, dass Bildung und Barbarei in einer unbestimmbaren Nähe zueinander liegen. Letzteres geht aus Hegels Auffassung von der Geschichtlichkeit der Zivilisation hervor. Ist das Moment der Historizität für Hegels Begriff der Zivilisation von Bedeutung, so ist ein bestimmtes Maß an Normativität seinem Bildungsbegriff eigentümlich. Diese Konstellation bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, denen die These zugrunde liegt, dass Hegels Bildungs- und Zivilisationsbegriff in ein Verständnis von Kultur zusammenlaufen, in dem Historizität und Normativität ein ungelöstes und spannungsvolles Verhältnis bilden. Um die Frage zu klären, wodurch Historizität und Normativität in ein solches Verhältnis geraten, wende ich mich zunächst (1.) dem vermeintlichen Gegensatz von Barbarei und Zivilisation zu, und zwar mit dem Ziel, einen Zugang zu Hegels Bildungsbegriff freizulegen. Hegels Prämisse, dass „im Staatsleben als solchem [...] die Notwendigkeit der formellen Bildung" begründet ist,5 soll im (2.) Abschnitt untersucht werden. Daran anschließend ist (3.) mit Hilfe von Hegels Kritik an der negativen Freiheit seine Annahme genauer zu betrachten, dass ein „zivilisiertes Zusammenleben der Menschen" nur im Zustand eines zu einem „rechtlichen Leben vereinten Volkes" existiert.6 Und schließlich ist abschließend (4.) nach dem Folgerungen zu fragen, die sich aus diesen Abschnitten meiner Ausführungen im Hinblick auf Hegels Verständnis von Kultur ergeben.
2.
Barbarei und Bildung: Die Defizienz bloßen Lebens
Hegel verwendet die Formulierung .Barbarei der Sitten' und ,rohe Willkür' oft zur Beschreibung von defizienten Kulturen.7 Doch inwiefern sind Sitten, d. h. Gebräuche und Lebensformen barbarisch zu nennen? Und was ist unter ,roher Willkür' zu verstehen? Mit der Barbarei der Sitten charakterisiert Hegel die Entwicklungsstufe einer Lebensform, die dürftig ausgebildet ist, d.h. ungeformt, ungebändigt und unentwickelt. Was an Gewohnheiten in der Barbarei der Sitten bislang hervorgebracht worden ist, sind ro4
5
6 7
Das bedeutet nicht, dass jede Zivilisation eine nur ihr eigentümliche Kultur besitzt. Am Anfang einer Zivilisation kann auch eine fremde Kultur stehen. So betont Hegel (wie später Nietzsche), dass die Griechen, nachdem sie anfangs unter dem Einfluss ägyptischer und kleinasiatischer Kulte und Kulturen standen, in dem Maße, wie sie diese kulturellen Einflüsse umbildeten, eine eigene Kultur bzw. Zivilisation hervorbrachten. Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/ M 1970, Bd. 12, S. 93. Ebd., S. 93. Ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Π, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1986, Bd. 19, S. 536.
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he Sitten, nämlich unentwickelte, ungeformte Lebensformen, die man auch als , bloßes Leben' (Hannah Arendt) bezeichnen könnte. Ebenso wenig wie Zivilisation die Unmöglichkeit eines Rückfalls in barbarisch zu nennende Sitten und Gebräuche zu garantieren vermag, so wenig schließt Zivilisation rohe Lebensformen aus: Zivilisation ist weder ein Dauerzustand noch ein Aggregat; Zivilisation ist eine zerbrechliche Errungenschaft, und sie steht nicht im starren Gegensatz zur Barbarei. Wie Hegel bereits in seinen frühen Schriften betont, setzt das zerbrechliche Gewebe der Zivilisation einen Staat voraus, ohne den die Barbarei früherer Zeiten unüberwindbar bleibt.8 Im Prozess des „Herausarbeiten(s) aus der Rohheit zur Kultur"9 spielt der Staat eine maßgebliche Rolle, fällt ihm doch als Aufgabe zu, wozu weder Religion noch Moral allein fähig sind: die „Rohheit des Volks zu bessern oder wenigstens zu bändigen".10 Dennoch ist es nicht der Staat, der laut Hegel den mühsamen Pfad aus die Barbarei bahnt. Denn auch der Staat muss in seiner Entwicklung den Zustand der Gewalttätigkeit und Willkür geschichtlich hinter sich gelassen haben.11 Dabei fällt der Bildung eine nicht unerhebliche Rolle zu: ohne sie kann weder ein Staat sich ausbilden noch eine feste Grundlage für die Zivilisation geschaffen werden. Einen Zugang zum Verständnis dessen, was der Bildung als Aufgabe zufällt, bildet Hegels These, dass ein Kind lediglich an sich Mensch ist. Diese These besagt, dass erst die Formung, Gestaltung und Bildung der inneren menschlichen Natur den Menschen zum Menschen macht: „Der Mensch [...] muss sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus, aber ebenso sehr durch das Hineinbilden in sich, dass er es auch für sich werde."12 Der Mensch ist das Wesen, was sich selber produziert, d.h. erschafft, und zwar im Hinausgehen aus seinen rein naturhaften Zustand, wie es für ein Kind charakteristisch ist, und einem Hineinbilden-in-sich. Letzteres besagt, dass Bildung für Hegel nicht allein eine Unterstützung der Entwicklung natürlicher Anlagen, Talente und Vermögen ist; vielmehr ist deren Ausbildung und -formung durch Erziehung auch eine Steigerung, Potenzierung individueller Veranlagungen. Bildung ist auf die Förderung der natürlicher Veranlagungen eines jeden Menschen bezogen, und zwar mit dem Ziel, die dem Individuum eigenen Naturanlagen sich ausprägen, herausbilden zu lassen, um in dieser Ausprägung sich zu steigern. Der in seinen rohen, ungeformten, ungebildeten Lebensvollzug befangene Mensch bedarf bei der Entdeckung
8 9 10 11
12
Ders., Frühe Schriften, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1971, Bd. 1, S. 59. Ebd., S. 57. Ebd., S. 60. So verweist Hegel darauf, dass der Zustand von Barbarei dann gegeben ist, wenn der Staat ein weltliches Regiment der Gewalttätigkeit ist und die Gesellschaft allein durch Willkür zusammen hält; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), Berlin 1981, S. 386, § 357. Ebd., S. 49, § 10.
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und Entwicklung der ihm eigenen Talente der helfenden Unterstützung durch Bildung, und zwar nicht zuletzt auch, um seine „eigenen [...] Schwächen" zu erkennen.13 Auch wenn Hegel Rousseaus Zweifel, ob Bildung die uns angeborenen Fähigkeiten und Anlagen letztlich fragmentiert und möglicherweise deformiert anstatt sie zu entfalten und auszuprägen, fremd ist, geht er nicht soweit, in der Bildung eine ethische Norm oder die Garantie eines besseren Menschen zu sehen. Bildung bedeutet für das Kind, dass lediglich dem „Begriff nach frei" ist,14 frei zu werden, statt allein der Möglichkeit nach frei zu sein. Frei wird es in dem Maße, wie es lernt, von der ihm gegebenen Möglichkeit, frei zu sein, Gebrauch zu machen. Bildung ist eine Aufgabe, die immer wieder neu ansteht, aufgrund der Unabgeschlossenheit des Lernprozesses sowie der Unfertigkeit angeeigneten Wissens und erworbener Kenntnisse.
3.
Bildung und die Diskontinuität der bürgerlichen Existenz
Einerseits zielt Hegels Verständnis von Bildung darauf, ein Wechselverhältnis von Erziehung und Pflege natürlicher Veranlagungen herauszuarbeiten. In diesen gedanklichem Kontext gestellt, erinnert seine These, dass das Zusammenleben in einem Staat eine formellen Bildung notwendig macht, an einen Begriff der Bildung des Einzelnen, wie er für das römische Verständnis von Kultur vorherrschend gewesen war: nämlich als geduldige Pflege der Tatkraft eines Menschen, für die es einer gewissen Vertrautheit mit Kunst und Wissenschaft, insbesondere aber - wie Hegel hinzufügt - der Kenntnis alter Sprachen bedarf. Letzteres begründet Hegel damit, dass die alten Sprachen bereits „jenseits der Zivilisation eine hohe Verstandesbildung erreicht" hatten,15 wodurch sie für die Bildung eine einzigartige Bedeutung erlangen, verliert doch die Sprache „mit fortschreitender Zivilisation der Gesellschaft und des Staats" das einstige Niveau.16 Andererseits scheint Hegel der Bildung eine über den engen Rahmen der Pflege hinausgehende Bedeutung zuzuschreiben. Diesen Eindruck erwecken jene Darlegungen, in denen Hegel auf die unablässig und unberechenbar sich verändernden Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft zu sprechen kommt, denen die Existenz jedes einzelnen Individuums ausgesetzt ist. In diesen Betrachtungen rückt Hegel einen normative Aspekt von Bildung in den Vordergrund, der im Kontext der Erziehung und Pflege natürlicher Veranlagungen kaum ins Gewicht fiel. 13
14 15
16
Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ΠΙ, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1986, Bd. 10, S. 9, § 377. Ders., Grundlinien, a.a.O. (Anm. 11), S. 49, § 10. Ders., Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/ M 1970, Bd. 12, S. 93. Die Sprache ist laut Hegel das Werk der Intelligenz, stellt sie doch die äußerliche Äußerung derselben dar. Ohne die Sprache wären die Tätigkeiten der Erinnerung und der Phantasie lediglich .innerliche Äußerungen'; Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 15), S. 85f.
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In seiner bürgerlichen Existenz verhält sich der Mensch zur Tradition der Bildung und ihren aus verflossenen Zeitaltern stammenden „Kenntnissen und Wahrheiten, an welchem alle verflossenen Zeitalter gearbeitet haben",17 diskontinuierlich. Durch ihre konstitutive Beschränkung auf den Austausch von Bedürfnissen und Bedürfnisbefriedigung - Ritter nennt es treffend ein Naturverhältnis - emanzipiert sich die bürgerliche Gesellschaft von allen für dieses Austauschverhältnis nicht erforderlichen sittlichen, religiösen, geistigen Ordnungen und Institutionen:18 In der bürgerlichen Gesellschaft führt der Menschen eine „Existenz, für die alles, was er aus den Substanzen seiner geschichtlichen Herkunft in sich und für sich ist, keine Bedeutung hat".19 Außer der auf Warentausch beruhenden Bedürfnisvermittlung und -befriedigung kennt die bürgerliche Gesellschaft keine Kontinuität. Die Bedeutung von Kultur im Sinne der verehrende Pflege für Traditionen - ein Motiv, das von der Stoa sich ins Mittealter fortschreibt verliert sich in der bürgerlichen Gesellschaft. Ein diskontinuierliches Verhalten zur Tradition der Bildung und die schrittweise Emanzipation von ihr (z.B. durch eine Ablösung des Studiums der alten durch die neuen Sprachen) sind nicht die einzige Ursache für die Gefahr, die Hegel darin heraufziehen sieht, dass die bürgerliche Gesellschaft „sich zum ganzen und einzigen Sein des Menschen" setzen könnte.20 Wie zu sehen war, bilden die Entfaltung natürlicher Begabungen und die Bändigung die der menschlichen Natur eigentümlichen Rohheit zwei Aspekte in Hegels Bildungsbegriff, die zueinander in einem prekären Gleichgewicht stehen. Daraus ergibt sich die Frage, auf die im Folgenden einzugehen ist: Die Frage, warum Hegel fordert, einerseits mittels Bildung die Formung eigener Veranlagungen und möglicher Talente zu forcieren, um andererseits darauf zu bestehen, dass der natürlichen Willkür Grenzen zu setzen sind, um die der Natur des Menschen eigene Rohheit zu bändigen. In der Rechtsphilosophie ist der erste Aspekt in die Sphäre der Moralität abgedrängt: das Individuum arbeitet die Subjektivität gleichsam aus sich heraus, setzt sich frei, und zwar im Umgang mit seiner Freiheit. Der zweite Aspekt
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Hegel., „Rede auf den Amtsvorgänger Rektor Schenk am 10. Juli 1809", in: ders., Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1986, Bd. 4, S. 307. Scheler greift diesen Gedanken später auf, wenn er es aufgrund dieses Typus von Menschen für ausgeschlossen hält, „von einer irgendwie erfolgenden Abänderung der bestehenden Eigentums-, Produktions- und Verteilungsordnung der Wirtschaftsgüter [...] Verschwinden des Kapitalismus zu erwarten". Max Scheler, „Die Zukunft des Kapitalismus", in: ders., Vom Umsturz der Werte, Leipzig 1919, Bd. 2, S. 321-344, hier: S. 321. Joachim Ritter, „Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität", in: ders., Subjektivität, Frankfurt/M 1980, S. 11-35, hier S. 26. Ebd., S. 33. Des weiteren meint Ritter: „Die Subjektivität hat für Hegel in der Verschlossenheit gegen ihre mit der Gesellschaft gesetzte Wirklichkeit es ebenso politisch unternommen, aus dem Gefühl der Begeisterung einen Staat, wie er sein soll, zu entwerfen. Sie war bereit, den in Jahrhunderten von der Geschichte gebildeten politischen Bau in den ,Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung zusammen fließen zu lassen. Das nennt Hegel eine .unermessliche Verwirrung'". (Ebd., S. 34)
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hingegen obliegt einer Erziehung, die in der Sphäre der Sittlichkeit sich auf Zucht beschränkt: eine „Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde".21 Eine Bändigung der Rohheit leistet die auf erzieherische Zucht eingeschränkte Bildung nur im Ansatz, die Hauptlast fällt dem Recht zu. Damit die geschichtlich entwickelte Gestalt der Zivilisation, von der die bürgerliche Existenz einerseits abhängig ist und zu der sie sich andererseits in ein Verhältnis der Diskontinuität und Emanzipation setzt, nicht auseinander bricht, bedarf es der Kraft der politisch-öffentlichen Gewalt der Rechtspflege. Vor diesem gedanklichen Hintergrund ist Hegels Prämisse zu verstehen, dass ein .zivilisiertes Zusammenleben der Menschen' nur im Zustand eines zu einem „rechtlichen Leben vereinten Volkes" möglich ist.22 Wo „das Recht fehlt", herrschen laut Hegel der „Eigensinn, die Laune und die Willkür der Individuen",23 die ein „Moment der Barbarei" enthalten.24 Gegenüber der Willkür der Freiheit ist Bildung machtlos. Ohne das Recht zerreißt das zivilisierte Zusammenleben' der bürgerlichen Gesellschaft ein negatives Verständnis von Freiheit - eine Gefahr, die Bildung zwar nicht auslöschen, wohl aber eindämmen kann. Vorausgesetzt, sie ist mehr als nur Pflege und Erziehung natürlicher Veranlagungen und deren Zucht in Form eines eng gefassten Erziehungsverständnisses. Wie Hegels Kritik an einer rein negativ verstandenen Freiheit verdeutlicht, ergänzen sich Bildung und Recht gegenseitig, wenn es darum geht, jenseits der Erziehung des Kindes die Krisenanfälligkeit des Individuums in seiner bürgerlichen Existenz zu meistern.
4.
Bildung und Recht: die Krisenanfálligkeit der bürgerlichen Existenz
Hegel grenzt sich mit seiner Ablehnung des negativen FreiheitsbegrifFs von der in seinen Augen naiven Auffassung von Freiheit als Abwesenheit äußerer Behinderungen ab, mit der Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts" (1796/97) sympathisiert, wenn er fordert, dass „jede Person [...] schlechthin frei seyn" soll.25 Indem Fichte (wie Kant)26 das Recht auf die ,Beschränkung' durch die Willkür der anderen begründet, exponiert 21 22 23 24
25
26
Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 11), S. 211, § 174. Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 3), S. 93 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften ΙΠ, a.a.O. (Anm. 13), S. 10, § 377. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Π, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1971, Bd. 19, S. 598. Johann Gottlieb Fichte, System der Rechtslehre 1812, 2. Theil. 2. Kap. Über das persönliche Recht (formaliter und ohne Beschränkung), § 10. Definition des Urrechts. In: Fichte, Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. 10, S. 525. Mit dem er darin überein stimmt, dass „Freyheit [...] nicht in der Befugnis bestehen [kann] alles zu thun was den rechten eines dritten [...] nicht zuwider ist". Immanuel Kant, Aus dem Nachlaß: Zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1955, Bd. 23, S. 293.
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er die Bedingungen für die Möglichkeit,positiver' Freiheit in der Stabilisierung wechselseitiger Erwartungen im Hinblick auf das Handeln und Tun, - was Hegel als unzureichend empfindet. Die Unverletzlichkeit des Rechts - pacta sunt servanda 27 - gewinnt angesichts der Instabilität der bürgerlichen Gesellschaft für Hegel nicht an Glaubwürdigkeit, wenn das Recht in der Doppelgestalt eines im Vertrag fixierten schriftlichen Versprechens und einer staatlichen Befugnis zum Zwang, Recht und Gesetz einzuhalten, reformuliert wird. Hegels Kritik an der ,geläufig' gewordenen „Vorstellung, daß jeder seine Freiheit in Beziehung auf die Freiheit der anderen beschränken müsse", beruft sich darauf, dass Freiheit in „solchen Vorstellungen [...] nur als zufälliges Beheben [...] aufgefasst" wird (§ 539). Um von der Freiheit sinnvoll Gebrauch machen zu können, reiche es nicht, darauf zu achten, was den Verboten einer rechtlichen Ordnung gemäß sei; es bedürfe auch einer Zielsetzung, die Bedingung wie Resultat des prüfenden Abwägens sein müsse, wie zu handeln sei; erst wo Freiheit eine spezifische Form des Selbstverhältnisses angenommen hat, in der Subjekte ihr Handeln reflexiv prüfen, ist laut Hegel Freiheit mehr als nur negative Freiheit.28 Um die bloßen Möglichkeiten, die der negative Freiheitsbegriff darstellt, zu konkreten Möglichkeiten werden zu lassen, sind die durch das Recht eröffneten Handlungsräumen unabkömmlich: jene Räume individuellen Handelns, in denen sich - in der Begrifflichkeit Hegels - der unmittelbare, natürliche Wille zum freien übersetzt. 29 Hegel vertritt die Auffassung, dass die durch das Recht gesetzten Verpflichtungen gegenüber den sie verwaltenden Institutionen nicht Freiheit einschränken, sondern die Möglichkeit des Gewinns an Freiheit überhaupt erst eröffnet. 30 Das abstrakte Recht selbst stellt - wie die Moralität - eine unvollständige Form von Freiheit dar. Freiheit besagt in der Sphäre der Moralität, dass das Recht bereits als etwas nicht Beschränkendes, sondern ein allgemeines, wenn auch unkonkretes Gutes ist, ohne jedoch derart im praktischen Lebensvollzug eingegangen zu sein, dass es zu einer kanonisierten Gewohnheit geworden ist. Das ist erst der Fall bei dem, was Hegel als „sittliche Substantialität" charakterisiert. 31 Freiheit im Bereich der Sittlichkeit hat alle Momente des Einschrän27 28
29
30 31
Hannah Arendt, Vita activa, München 1994, S. 239. In der Konsequenz dieses Gedankenganges, mit dem ich im negativen Freiheitsbegriff den grundsätzlichen Einwand Hegels gegen das Freiheitsverständnis des Vertrags- bzw. tauschtheoretischen Rechtsmodells rekonstruiere, stimme ich dem Vorschlag von Axel Honneth zu, dass in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" gegen die Verabsolutierung von jeweils zwei „unvollständigen Freiheitsmodellen" (in der Fassung als Rechtsanspruch bzw. in der Gleichsetzung mit moralischer Autonomie) indirekt argumentiert wird, und zwar im Nachweis der sozialen Schäden und pathologischen Verwerfungen im Selbstverständnis der Subjekte. Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegeischen Rechtsphilosophie, Stuttgart 2001, S. 41. Vgl. Mirko Wischke, „Die Institutionen der Freiheit und die Sprache der Politik. Über mögliche Reaktualisierungspotentiale von Hegels Rechtsphilosophie", in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch fir Philosophie 30 (2004), S. 367-387. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 11), S. 191, § 148 sowie S. 192, § 149. Ebd., S. 195, § 152.
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kens willkürlicher Interessen und des Beharrens auf die ungeschmälerte Möglichkeit von Freiheit hinter sich gelassen, um im Rahmen konkret sich darbietender Chancen gemäß den eigenen Talenten und Geschicklichkeiten sich selbst zu formen und bilden. Gleichwohl ist Hegel nicht frei vom Zweifel, ob allein die politische Gewährung des Rechts „Bedingungen der individuellen Selbstverwirklichung" umfasst.32 Anlass des Zweifels ist weniger die Sorge, ob die Inanspruchnahme staatlicher Institutionen zum Zwecke individueller Selbstverwirklichung nicht genau das fördert, worin Hegel ein Missverständnis seiner Zeit erblickt: Das Recht als ein Recht auf besondere Interessen zu verstehen. Die Grenzen zwischen der Ermöglichung von Selbstbestimmung und dem Streben nach der Optimierung ökonomischer Grundlagen im Interesse der Selbstverwirklichung beginnen nicht erst ihre Konturen zu verlieren, wenn Politik der Forderung nach einem Recht auf besondere Interessen nachkommt, sondern durch die Angewiesenheit individueller Selbstverwirklichung auf Eigentum. Das Recht schützt Eigentum, ohne eine Garantie für den Besitz vom Eigentum bieten zu können. Armut stellt ein Konfliktpotential für die bürgerliche Gesellschaft dar, welche das Recht in seiner ordnenden und regulierenden Aufgabenpraxis vor ein unlösbares Problem stellt.33 Armut bedeutet den Verlust der Bildung, „Rechtspflege, Gesundheitssorge, selbst oft des Trostes der Religion", nicht jedoch den Verlust der „Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft" - ein schier unentrinnbares Dilemma.34 Recht und bürgerliche Gesellschaft befinden sich in einem instabilen Gleichgewicht: als Steuerungsinstrument disfunktionaler Prozesse der bürgerlichen Gesellschaft ist das Recht nur bedingt leistungsfähig, auch wenn Gesetzgebung und Rechtssprechung expandieren.35 Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Hegel nicht frei vom Zweifel, ob die politische Gewährung des Rechts allein die Bedingungen individueller Selbstverwirklichung bereitstellen kann. Gegen Armut, fehlende Anerkennung und gescheiterter Selbstverwirklichung sind die Rechtsinstitute des bürgerlichen Rechts machtlos. Deutlich wird an diesem Aspekt, warum Hegel nicht dem Staat und der ihm unterstellten öffentlichen Gewalt des Rechts allein die Kraft zuspricht, der Barbarei Herr zu werden, sondern die Bildung zur Seite stellt.
5.
Schlussbetrachtung
Auf die Ausgangsfrage nach Hegels Verständnis von Kultur sind verschiedene Antworten möglich. Eine erste Antwort ist dem Aspekt der Formung und Pflege, den Hegel der Bildung zuschreibt, zu entnehmen. Begriffsgeschichtlich hat dieser Aspekt seinen 32 33 34 35
Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, a.a.O. (Anm. 28), S. 16. Shlorno Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt/M 1976, S. 165. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 11), S. 267, § 241. Hegels Skepsis hinsichtlich der Regelungsfähigkeit und -bereitschaft wird deutlich an seinen Bedenken, dass die Expansion von Gesetzgebung und Rechtssprechung den „Staat zu einem bloßen Exekutor der ökonomischen Interessen seiner Bürger" werden lassen könnte; Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, a.a.O. (Anm. 33), S. 106.
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Ursprung im lateinischen cultura: der auf dem Ackerbau bezogenen Kultur. Cicero spricht beispielsweise von cultura animi: der Pflege und Beackerung des intellektuellen Vermögens.36 Eine solche Pflege steht für den Übergang von der Natur zur Kultur. Das macht die unbestimmbare Nähe von Bildung und Barbarei aus. Denn bleibt die Pflege aus oder lässt ihre Intensität nach, kann auch Bildung die Formen von Barbarei annehmen. Nicht zuletzt aus diesem Grund entfaltet der Begriff der Bildung in der Sphäre der Moralität eine untergründige normative Spannkraft - auch wenn er nicht ausdrücklich thematisiert ist. Bildung erstreckt sich auf alle Bereiche der Subjektivität: Moralität stellt „im ganzen die reale Seite der Freiheit dar, und der Prozeß dieser Sphäre ist [...] die Bearbeitung des Bodens der Freiheit, der Subjektivität".37 Bildung depotentziert die der bürgerlichen Gesellschaft inhärente Tendenz zur Willkür der Freiheit (und somit der Barbarei), und das Recht depotentziert die der bürgerlichen Gesellschaft inhärente Tendenz zur Desorganisation, ohne den Nährboden der Anarchie der Desorganisation und Barbarei auszutrocknen. Eine zweite Antwort ist Hegels Begriff der Zivilisation zu entnehmen, den er deskriptiv gebraucht: zur Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung des gesamten geistigen Lebens, der Bestrebungen in Kunst und Wissenschaft, der Sitten und Gebräuche eines Volkes.38 Das Verständnis von Kultur im Sinne einer entwickelten Zivilisation hat seinen Ursprung in Herders Kulturbegriff und den ihm eigentümlichen Aspekt der Historizität: Kultur und kultiviert werden als Kriterium für historisch sich wandelnde, vollendende und auflösende Lebensgestaltungen und -formen von Gemeinschaften (Nationen, Völkern) gebraucht. Angesichts der Problemkonstellation, wie sie sich mit der bürgerlichen Gesellschaft stellt, mag Hegel ein deskriptiver Kulturbegriff, der einen geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungszustand beschreibt, theoretisch wenig attraktiv erschienen sein. Nicht aber der für die Kultur eigentümliche Historizität, die erklärt, warum in der Sphäre der Sittlichkeit der Begriff der Bildung in einer eigentümlichen Engführung wiederkehrt, nachdem sein Gegenstandsbereich doch in der Sphäre der Moralität ausgeschöpft zu sein schien.39 Diese Konstellation beleuchtet noch einmal die Implikationen von Hegels Kulturbegriff: eine Konstellation, die ich eingangs in der These von einem eigentümlich ungeklärten Verhältnis von Historizität und Normativität zusammenfassen suchte.
36 37 38
39
Darauf verweist auch Andreas Arndt in seinem Beitrag im vorliegenden Band. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 11), S. 135, § 106. Wobei die Entgegensetzung von Bildung und Zivilisation sich relativiert, wenn man Entwicklung'" im Sinne des lateinischen Ursprungs als „evolutio" versteht, d.h. als ein „Entrollen", Ausfalten dessen, was bereits vorhanden ist. Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M 1982, S. 19. Das für Hegels Kulturbegriff eigentümlich ungeklärte Verhältnis von Historizität und Normativität mündet in die Konzeption der Geschichte als einen zweckmäßigen Prozess der Verwirklichung des Rechts.
ANDREAS ARNDT
Kultur, Geist, Natur
Hegel verwendet den Begriff , Kultur' eher beiläufig und nicht in einem prägnanten Sinne. Gleichwohl kommt er bei ihm nicht nur auch vor, sondern es ist für Hegel ausgemacht, dass ohne Kultur kein Staat zu machen ist, wie gleich zu zeigen sein wird. Wie aber auch Geschichte für Hegel nicht Kulturgeschichte ist - dieser Begriff war von Johann Christoph Adelung bereits 1782 eingeführt worden1 - , sondern Weltgeschichte des Geistes, so ist das, was im modernen Sinne unter .Kultur' verstanden wird, bei ihm unter den Begriff des Geistes befasst. Im ersten Teil meiner Ausführungen möchte ich diesem Zusammenhang näher nachgehen (1), um dann zu fragen, welches spezifische Profil und welche spezifischen Probleme sich aus der Verwendung des Geist-Konzepts ergeben (2). Indem Hegel die geschichtliche Dimension der Kultur als Geschichte des Geistes fasst, tritt sein Konzept in Konkurrenz zu demjenigen Herders, der dem Kulturbegriff zuerst diese Dimension hinzugefügt hatte. Im Unterschied zu Hegel jedoch fasst Herder die Entwicklung der Kultur als naturgeschichtlichen Prozess auf. Ein vergleichender Blick auf Herder (3) soll daher die abschließende Frage danach vorbereiten, in welchem Verhältnis .Kultur' zur Natur steht und welche Folgen dies für das Verhältnis von Staat und Kultur hat (4).
1. Staat und Kultur gehören für Hegel zusammen; Staat setzt Kultur voraus, und wo Kultur bis zu einem bestimmten Maß entwickelt ist, dort ist auch Staat. Diese Position ergibt sich indessen nicht etwa aus der Bestimmung der Grundlagen oder der Aufgaben des Staates, sondern aus Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts. „Das Volk als Staat", so 1
Jahann Christoph Adelung, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Leipzig 1782.
Geschlechts,
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ANDREAS ARNDT
heißt es im § 331 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, „ist der Geist in seiner substantiellen Vernünftigkeit und unmittelbaren Wirklichkeit", woraus die souveräne Selbständigkeit der Staaten gegeneinander folgt, die sich in der wechselseitigen Anerkennung der Staaten als Staaten niederschlägt. Aus dieser Bestimmung geht aber auch bereits hervor, dass die bloß faktische Selbständigkeit eines Volkes, seine Unabhängigkeit von anderen Völkern, zur souveränen Selbständigkeit noch nicht hinreicht. Insofern ist die wechselseitige Anerkennung der Staaten als Staaten davon abhängig, dass ein Volk in seinem Inneren tatsächlich als Staat verfasst ist. „Bei einem nomadischen Volke z. B.", so erläutert Hegel den zitierten Paragraphen, „überhaupt bei einem solchen, daß auf einer niedern Stufe der Kultur steht, tritt sogar die Frage ein, inwiefern es als ein Staat betrachtet werden könne." ,Staat' setzt demnach neben der Unabhängigkeit des Volkes - welche ja gerade ein Nomadenvolk in hohem Maße haben kann - ein Territorium und einen gewissen Stand der Kultur voraus. Was aber heißt hier , Kultur' und wie ist das Minimum an Kultur definiert, durch das ein Volk sich als Staat konstituiert? Eine Antwort auf die letzte Frage gibt der § 349 der Grundlinien. Es heißt dort, der Übergang eines Volkes in den Staat sei „die formelle Realisierung der Idee überhaupt in ihm"; ohne diese ermangele „es" - also das Volk - „der Objektivität, in Gesetzen, als gedachten Bestimmungen, ein allgemeines und allgemeingültiges Dasein für sich und für die anderen zu haben, und wird daher nicht anerkannt". Bloße „Selbständigkeit", so präzisiert Hegel abschließend, „ohne objektive Gesetzlichkeit [...] ist nicht Souveränität". Das Minimum an Kultur, das ein Volk zum souveränen Staat macht, ist demnach Gesetzlichkeit, also /tec/tfskultur. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Hegel Kultur auf Recht reduziert; wohl aber bedeutet es, dass für den Staat Gesetzlichkeit im Sinne eines - wie ja ausdrücklich betont wird - allgemeinen Rechts (und nicht etwa eines willkürlichen .Rechts') basal ist. Mit dieser heute vielleicht nicht mehr ganz selbstverständlichen Semantik des Kulturbegriffs bezieht sich Hegel auf eine lange Tradition. Volker Steenblock hat daran erinnert, dass eines der ältesten Zeugnisse unserer eigenen Kultur dazu, was unter Kultur verstanden werden kann, sich im 9. Gesang der Odyssee findet.2 Dort wird berichtet, wie Odysseus und seine Gefährten „zum Lande der wilden, gesetzelosen Kyklopen" kommen, „der Riesen, die im Vertraun auf die Götter / Nimmer pflanzen noch sä'n und nimmer die Erde beackern. / Ohne Samen und Pfleg entkeimen alle Gewächse, / Weizen und Gerste dem Boden und edle Reben, die tragen / Wein in geschwollenen Trauben, und Gottes Regen ernährt ihn. / Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Versammlung, / Sondern sie wohnen all auf den Häuptern hoher Gebirge / In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkür /Seine Kinder und Weiber und kümmert sich nicht um den andern. / [...] Nirgends weidet ein Hirt und nirgends ackert ein Pflüger; / Unbesäet liegt und unbeackert das Eiland, / Ewig menschenleer, und nähret nur meckernde Ziegen. 2
Volker Steenblock, Kultur oder Die Abenteuer der Vernunft im Zeitalter des Pop, Leipzig 2004, S. 7f. - Steenblock hat allerdings die zentrale Bedeutung der Gesetzlichkeit als Unterscheidungsmerkmal zu dem status naturalis der Kyklopen nicht herausgestellt. - Vgl. Homer: Odyssee IX, 105-130; im folgenden nach der Übersetzung von Voß.
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/ Denn es gebricht den Kyklopen an rotgeschnäbelten Schiffen, / Auch ist unter dem Schwärm kein Meister, kundig des Schiffbaus, / Schöngebordete Schiffe zu zimmern, daß sie mit Botschaft / Zu den Völkern der Welt hinwandelten [...] / Welche die Wildnis bald zu blühenden Auen sich schüfen." Das unterscheidende Merkmal, das gleich anfangs die im status naturalis lebenden Kyklopen von den Griechen aus Ithaka unterscheidet, ist ihre Gesetzlosigkeit. Sie haben kein politisch-rechtliches Gemeinwesen - „weder Gesetz noch öffentliche Versammlung" - , leben vereinzelt in Höhlen und „jeder richtet nach Willkür". Im Griechischen heißt es „Κυκλώπων [...] άθεμίστων ", welche ,,οΰτ' άγοραί βουληψόροι οΰτε θέμιστες" haben; die Rede ist also von Thémis, Recht, Brauch, Sitte, ein Wort, das auf die Göttin Thémis verweist, eine Titanin, Tochter des Ouranos und der Gaia, die von Zeus zur Frau genommen wurde und ihm die Hören gebar: Eunomia, Dike und Eirene, also die guten Gesetze, die Ausübung der Gerechtigkeit und den Frieden.3 Thémis selbst ist das personifizierte göttliche Gesetz, wobei es bezeichnend ist, dass sich bei Homer nicht der später vorherrschende Rechtsbegriff Nómos findet, der sehr viel stärker auf die menschliche Satzung im Recht verweist. Wie auch immer dieser terminologische Unterschied zu bewerten sein mag: die zitierte Passage der Odyssee scheint Hegels Auffassung perfekt zu illustrieren. Wo nicht die Allgemeinheit des Rechts, sondern Willkür herrscht, fehlt es nicht nur an einem sittlichen Gemeinwesen als verbindendem Band zwischen den Troglodyten (von Oikoi mag man hier nicht sprechen), sondern es fehlt auch der Verkehr mit anderen Völkern und damit die Möglichkeit der Anerkennung, die eben politisch-rechtlich verfasste Gemeinwesen voraussetzt. Wie wenig Kultur ohne diese rechtlich-politische Sphäre bedeutet, hat Hegel an anderer Stelle auch in seiner Übernahme des Prometheus-Mythos deutlich gemacht. In den Vorlesungen über die Philosophie der Religion steht Prometheus für „die Anfänge des menschlichen Bewußtseins und der Bildung", mit der die Menschen sich aus dem „Naturzustand" befreiten, indem sie den Gebrauch des Feuers und die Arbeit lernten; für Hegel wurde Prometheus deswegen zurecht bestraft, weil sich die „Geschicklichkeiten, die er lehrte" nur auf die „Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse" bezogen, während er - wie es bei Piaton (Protagoras 321c-d) heißt - die Politik den Menschen nicht gebracht habe.4 Hier gilt: erst durch die Konstitution einer politisch-rechtlichen Gemeinschaft, des Staates, wird der status naturalis verlassen. Auch in dieser Hinsicht ist der Bericht über die Kyklopen von Interesse, denn diese leben bei Homer offenkundig in einem status naturalis, vereinzelt zwar, aber nicht in einem Kampf Aller gegen Alle, und nicht in einer feindlichen Natur, sondern die Natur, wie sie hier beschrieben wird, trägt alle Züge eines Schlaraffenlandes bzw. goldenen Zeitalters, in dem die Früchte ohne Arbeit zur Verfügung stehen. Dass der status naturalis, so erstrebenswert er auch scheinen möge, dennoch vor allem deshalb negativ 3
4
Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon (Leipzig 1770), Reprint Darmstadt 1996, s.v. Hören und Themis. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2. Die bestimmte Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 636f.
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zu bewerten sei, weil er die politisch-rechtliche Gemeinschaft ausschließt, in der allein die Menschen Glück finden könnten, hat Samuel Pufendorf zuerst herausgestellt, indem er einen status culturae dem status naturalis entgegensetzte:5 Kultur ist für Pufendorf vor allem durch socialitas charakterisiert, worunter er ebenso gegenseitigen Beistand (auch in der Arbeit und der Verteilung ihrer Produkte) wie auch politische und nicht zuletzt rechtliche Institutionen versteht. Hegel hat diese Auffassung Pufendorfs - allerdings ohne den Kulturbegriff zu erwähnen - in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gewürdigt: „Im Kampfe, die rechtlichen Verhältnisse im Staate für sich festzumachen, die Organisation der Staatsverhältnisse zu gründen, hat sich die Reflexion des Gedankens hervorgetan und wesentlich darin eingemischt. Und wie bei Hugo Grotius, so ist es auch bei den Engländern und bei Pufendorf geschehen, daß der menschliche Kunsttrieb, Instinkt, Geselligkeitstrieb usf., das immanent Menschliche, zu Prinzipien gemacht worden ist."6 Hierbei gehen Kunsttrieb und Geselligkeitstrieb aber nicht nur für Hegel, sondern bereits für Pufendorf darin zusammen, dass sich die Gemeinschaft politisch-rechtlich formiert. Pufendorf gilt vielfach als der Urheber eines absoluten Kulturbegriffs, also eines Begriffs, der sich nicht mehr auf einen bestimmten Bereich bezieht, wie z.B. das Ciceronische cultura animi? Auch Hegel übernimmt den Begriff in dieser ihm geläufigen Form. Anders als bei Pufendorf wird der status culturae aber nicht mehr von einem konstruierten status naturalis abgesetzt, sondern mit dem Begriff der Natur vermittelt. Das semantische Spektrum des Kulturbegriffs bei Hegel umfasst ebenso die ursprüngliche Bedeutung der Kultur des Bodens wie auch die übertragenen Bedeutungen einer inneren oder geistigen Kultur. Beides gehört für Hegel offenbar zusammen, denn jedes Heraustreten aus der Naturunmittelbarkeit, dem status naturalis, ist Kultivierung, die sich aber immer im Naturverhältnis vollzieht, denn der Geist ist seine Identität mit sich, wie es im § 381 der Enzyklopädie heißt, „zugleich nur als Zurückkommen aus 5
Samuel Pufendorf, Eris Scandica, Frankfurt/M 1686, S. 219: „Altero modo statum hominis naturalem consideravimus, prout opponitur Uli culturae, quae vitae humanae ex auxilio, industria, et inventis aliorum hominum propria meditatione et ope, aut divino monitu accessit." Wir haben „den Naturzustand des Menschen betrachtet, insofern er jener Kultur gegenübergestellt wird, die zu dem menschlichen Leben aus dem Beistand, der Rührigkeit und den Erfindungen der anderen Menschen durch eigenes Nachdenken und Vermögen oder durch göttliche Anleitung hinzugekommen ist"; Übers, nach Franz Rauhut, „Die Herkunft der Worte und Begriffe ,Kultur', Zivilisation' und ,Bildung'", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34 (1953), S. 83. - Vgl. Emanuel Hirsch, „Der Kulturbegriff', in: Deutsche Vierteljahrsschrift 3, 1925, S. 398ff.; Joseph Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Fierenze 1941; Wilhelm Perpeet, „Kulturphilosophie", in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42-99; ders., „Zur Wortbedeutung von .Kultur'", in: Naturplan und Verfallskritik: Zu Begriff und Geschichte der Kultur, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer, Frankfurt/ M 1984, S. 21-28.
6
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. von Pierre Garniron und Walter Jaeschke, Hamburg 1986, S. 127. Tusculanae disputationes Π, 5.
7
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der Natur"; und deshalb ist auch und gerade das Rechtssystem, wie Hegel im § 4 der Grundlinien der Philosophie des Rechts präzisiert, „eine zweite Natur". Die Herausbildung dieser zweiten Natur, in der sich der Geist Objektivität gibt, fällt in die Geschichte als Geschichte des Geistes. Was als Kultur anzusprechen ist, hat demnach für Hegel immer eine historische Dimension. Hierin kommt Hegel mit Johann Gottfried Herder überein, der dem Begriff der Kultur diese Dimension zuerst hinzugefügt hatte. Für Herder handelt es sich dabei freilich nicht um die Geschichte des Geistes, sondern um die „Naturgeschichte des Menschen":8 Kultur ist Fortsetzung der Naturgeschichte, sofern der Mensch, nach Herder, bereits durch seine körperliche Organisation, den aufrechten Gang, zur Vernunfttätigkeit und Freiheit organisiert ist.9 Für Herder ist die Kulturgeschichte Fortsetzung einer Entwicklung in der Natur und selbst Naturgeschichte, weil sie nicht nur aus der Natur herkommt, sondern fortdauernd unter natürlichen Bedingungen steht und mit Natur vermittelt ist. „Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen" - gemeint ist das Menschengeschlecht - „die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. [...] Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise."10 In dieser Gradation der Kultur liegt ihre Geschichtlichkeit. Auch Hegel kennt eine solche Gradation, aber Geschichte, die für ihn Weltgeschichte der Völker ist, beginnt für ihn erst mit der Konstituierung der Völker als Staaten, d.h. mit der Ausbildung der politisch-rechtlichen Kultur. Zu fragen ist, wie beide Konzepte zueinander stehen, ob der Begriff des Geistes den der Kultur so aufzuheben vermag, wie es nach Hegel der Fall ist.
2. Hegel löst den Begriff der Kultur insgesamt in seine Konzeption des Geistes auf; dies ergibt sich notwendig aus dem Verhältnis von Kultur einerseits und Natur andererseits, wie es in dem Begriff der Kultur selbst angelegt ist. Wenn Kultur eine ,zweite' Natur bezeichnet - ein Ausdruck, den übrigens auch Herder beiläufig gebraucht11 - , dann ist sie gerade im Unterschied zur .ersten' Natur definiert. ,Geist' aber ist für Hegel der „Komplementärbegriff" zur Natur, sofern beide realphilosophische Daseinsweisen der Idee bezeichnen.12 Wenn Hegel gleichwohl auch den Begriff .Kultur' in vielerlei Zu8
9 10 11
12
Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bodenheim 1995, S. 227. Vgl. ebd., S. 98ff. Ebd., S. 227. Ebd., S. 121; Herder spricht hier davon, dass die „Kunst" (im Sinne technischer Künste) dem Menschen „zweite Natur" sei. Vgl. Lu de Vos, „Geist", in: Hegel-Lexikon, hg. von P. Cobben, P. Cruysberghs, P. Jonkers und L. de Vos, Darmstadt 2006, S. 222-227; hier S. 222.
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sammenhängen weiter gebraucht, so dürfte dies damit zusammenhängen, dass , Geist' selbst in vielfältigen, spezifischen Bedeutungen auftritt, die ihre Wahrheit als Begriff erst im absoluten Geist qua Philosophie - und das heißt letztlich: in der absoluten Idee finden. Wohl deshalb kann Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion (unter dem Vorbehalt, das der Nachschreiber das tatsächlich Gesprochene wiedergibt) auch sagen: „Geist selbst ist eine Vorstellung".13 Das meint: Geist selbst ist als Daseinsweise der Idee noch mit der Natürlichkeit der Vorstellung behaftet, und dies gilt zweifellos auch für den terminus ,Kultur', der ein bestimmtes Verhältnis des objektiven Geistes zur ersten Natur signalisiert. Das Spezifische dieses Verhältnisses deutet sich in dem allgemeinen Begriff des Geistes an, wie ihn Hegel am Beginn der Geistesphilosophie in der Enzyklopädie formuliert.14 Der Geist, so heißt es dort im § 381, ist die Wahrheit der Natur, aber in „dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden". Diese Formulierungen haben es, um Friedrich Fulda zu zitieren, „in sich"15 und müssen daher in ihrem Kontext genauer betrachtet werden. Zunächst einmal bedeutet dies nicht, dass die Natur hierbei, wie Kritiker vielfach argwöhnen, wegeskamotiert werde. Hegel vertritt mit seinem Geistbegriff bekanntlich keinen Spiritualismus, d.h. einen substantialistischen Monismus des Geistes, und auch unter den Titel des .Idealismus' wird sich seine Position entgegen verbreiteten Zuschreibungen schwerlich fassen lassen, erklärt er doch rundheraus, dass der „Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie [...] ohne Bedeutung" sei.16 Zwar sei jede Philosophie „wesentlich Idealismus oder hat denselben zu ihrem Prinzip"; dieses bestehe aber nur darin, „das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen".17 Gerade deshalb aber kann Hegel - wie in den Zusätzen zum § 389 der Enzyklopädie überliefert - „in dem Materialismus das begeisterungsvolle Streben anerkennen, über den zweierlei Welten als gleich substantiell und wahr annehmenden Dualismus hinauszugehen, diese Zerreißung des ursprünglich Einen aufzuheben."18 Festzuhalten ist daher vorläufig: das „Verschwinden der Natur" ist nicht im Sinne ei-
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung. der Begriff der Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1983, S. 296 (Begriff der Religion, 1827). Im folfenden mit den Paragraphen der dritten Auflage im Text zitiert. - Vgl. dazu - neben Lu de Vos, „Geist", a.a.O. (Anm. 12) - auch Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart und Weimar 2003, S. 350-353; Hans Friedrich Fulda, G. W. F. Hegel, München 2003, S. 162-182. Ebd., S. 164. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 21, Wissenschaft der Logik, Die Lehre vom Sein (1832), hg. v. Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 142. Ebd. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 10, S. 49. - Ähnlich argumentiert Hegel bereits in der Differenzschrift, wenn er Holbach attestiert, „das aus der Erscheinung des Lebens entflohene Absolute sich als Wahrheit mit ächt philosophischem Bedürfniß und wahrer Spekulation in einer Wissenschaft zu konstruiren, deren Form in dem lokalen Princip des Objektiven erscheint" (Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, Jenaer kritische Schriften, hg. v. Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1968, S. 80).
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nes monistischen Spiritualismus zu interpretieren, zugleich aber besteht für Hegel die Alternative weder in einem monistischen Materialismus noch in irgendeiner Art von Dualismus.19 Hegels Lösung ist die eines Monismus der Idee oder des Begriffs, genauer: des sich als Begriff begreifenden Begriffs. Die Idee, und zwar die absolute Idee der Wissenschaft der Logik, die sich letztlich als absolute Methode bestimmt, ist das .ursprünglich Eine'. Dass die Natur .verschwunden' sei, bedeutet, dass ihr Gegenüber - der Geist, der aus der Natur herkommt - „sich als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben" habe (§ 381). Hierin ist er nicht mehr Geist als Gegenüber zur Natur, sondern als rein selbstbezüglich und insofern absolut. Diese Idealität ist die geforderte Überwindung des Endlichen. Die Selbstbezüglichkeit der Idee - in Hegels Worten: „die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich" (§ 382) - ist jedoch formell (genauer gesagt: sie ist Freiheit als formell), d.h. die Möglichkeit des Geistes, „von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst [zu] abstrahieren". Nun sollte bekannt sein, dass eine abstrakte Allgemeinheit bei Hegel nicht sehr hoch im Kurs steht; die Abstraktion ist ja Abstraktion von der Besonderheit, in der die Allgemeinheit als in sich konkrete erst ihr Dasein hat. Während der Begriff, der sich in der Idee selbst erfasst hat, „in der Natur [...] seine vollkommene äußerliche Objektivität hat", ist der Geist die subjektive Existenz der Idee (§ 241). In beiden - Natur und Geist - manifestiert sich daher der Begriff qua Idee auf unterschiedliche Weise: in der Natur als seine eigene Negativität oder Äußerlichkeit, im Geist als Subjektivität oder Selbstbezüglichkeit, die sich in dieser Negativität erhält. Der Geist manifestiert oder offenbart sich nach Hegel in seinem Dasein, aber so - und hierauf kommt es entscheidend an - , dass er nicht etwas offenbart, das von ihm unterschieden wäre wie ζ. B. die Form vom Inhalt, „sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst" (§ 383). Das Offenbaren des Geistes ist demnach für Hegel Retzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist". Anders gesagt: als sich offenbarender oder manifestierender Geist steht er in einem Verhältnis zur vorausgesetzten Natur, die darin keineswegs verschwunden ist. Mit diesen wenigen Bemerkungen habe ich die Problematik des Geistbegriffs natürlich nicht erschöpfen können und überdies noch gar nichts dazu gesagt, was denn der Status des Begriffs sei, der ja als real existierend und nicht nur im Sinne eines Begreifens von etwas, einer gedanklichen Reproduktion der Wirklichkeit durch einen in diesem Gegenüber dann endlichen Geist gedacht wird. Es ist jetzt aber abzusehen, welche fundamentalen Konsequenzen Hegels Einlagerung des Kulturbegriffs - auch in seiner seit Herder mit ihm verbundenen geschichtlichen Dimension - in den Geistbegriff hat. Um zunächst mit einer negativen Feststellung zu beginnen: Hegel leugnet weder, dass der Prozess der kulturellen Entwicklung die Auseinandersetzung und Vermittlung mit der Natur einschließt, noch leugnet er die damit zusammenhängende Materialität 19
Vgl. Andreas Arndt, „Ontologischer Monismus und Dualismus. Zur Vorgeschichte des Problems", in: Materialismus und Spiritualismus zwischen Philosophie und Wissenschaften nach 1848, hg. v. Andreas Arndt und Walter Jaeschke, Hamburg 2000, S. 1-21.
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ANDREAS ARNDT
der Kultur.20 Zur Erinnerung sei darauf verwiesen, dass sich eine entsprechende Reminiszenz sogar in der Wissenschaft der Logik findet, und zwar an prominenter Stelle, nämlich im Teleologie-Kapitel, das ja den Übergang zur Idee bildet: „Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äusserliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist."21 Entscheidender jedoch für das Spezifische der Hegeischen Konzeption ist, dass über den Geist-Begriff Kultur mit dem Freiheitsbegriff verknüpft und die geschichtliche Dimension der Kultur im Rahmen einer Freiheitsgeschichte reformuliert wird. Freiheit, nämlich das Bewusstsein des Geistes von sich als Freiheit, wird dabei zum telos von Geschichte. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb Hegel den Staat mit einem bestimmten Niveau der kulturellen Entwicklung in Verbindung bringt. Die allein negative Befreiung von der Unmittelbarkeit der Natur, wie sie in der Kultur im ursprünglichen Sinne als Kultivierung der ersten Natur vollzogen wird, ist - obwohl sie für Hegel bereits Allgemeinheit und insofern Vernünftigkeit in dem Gebrauch von Werkzeugen konstituiert - defizitär im Blick auf die Reflexivität des sich als Freiheit erfassenden Geistes. Diese und damit die Freiheitsgeschichte beginnt für Hegel erst dort, wo sich der Staat über die Allgemeinheit des Rechts konstituiert. Nicht Staatsgläubigkeit, sondern die Freiheitsperspektive definiert die politisch-rechtliche Vergesellschaftung als das entscheidende Kulturniveau. Die Vermittlung mit der Natur, in der der Geist die Natur als seine Welt setzt und sie zugleich als selbständig voraussetzt, ist indessen ein asymmetrisches Verhältnis.22 Bereits im Naturrechtsaufsatz (1802/03) heißt es, dass der Geist „höher als die Natur" sei, denn er greife über die „auseinandergeworfene Totalität" der „Vielheit" der Natur über.23 Und in dem Fragment Das Wesen des Geistes (1803) heißt es entsprechend, es sei „diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt. Der Geist ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn; ein aus dem vernichten herkommen und so in diesem idealen Elemente, dem Nichts, das er sich bereitet hat, sich frey zu bewegen und zu gemessen."24 In der Einheit des Setzens und Voraussetzens ist der Geist, wenn er sich vollständig erkannt und seinen Begriff als logische Idee realisiert hat, zugleich dasjenige, was in Wahrheit ist, er ist Totalität und Moment zugleich. Wenn Hegel in der Konzeption einer absoluten Idee die Möglichkeit einer Einheit oder Vermittlung 20 21
22
23 24
Vgl. zur Bedeutung der materiellen Kultur Richard Sennet, Handwerk, Berlin 2008. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 12, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), hg. v. Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1981, S. 166. Zur Entwicklung des Verhältnisses von Natur und Geist bei Hegel als schrittweiser Depotenzierung der Natur vgl. Andreas Arndt, „Natur und Geist. Hegels Naturphilosophie im Zusammenhang seiner systematischen Konzeptionen", in: Hegel: Natur und Geist, Beiträge von A. Arndt u.a., Bochum 1988, S. 11-34. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, a.a.O. (Anm. 18), S. 464. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 5, Schriften und Entwürfe (1799-1808), unter Mitarbeit von Theodor Ebert hg. v. Manfred Baum und Kurt Rainer Meist, Hamburg 1998, S. 370.
K U L T U R , GEIST, N A T U R
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von Geist und Natur denkt, dann denkt er die Wirklichkeit dieser Vermittlung - den kulturellen Prozess oder, in Hegels Terminologie, die Geschichte des Geistes - als fortschreitende Vernichtung dessen, womit er sich vermittelt. Dabei setzt er voraus, dass in der Selbsterkenntnis des Geistes, den die Entwicklung des menschlichen Geistes vollzogen habe, das ganze Universum sich selbst durchsichtig geworden sei. Ich möchte diese starke These vorerst auf sich beruhen lassen und nur darauf verweisen, dass sie auf einer starken Annahme über die Teleologie natürlicher und geschichtlicher Entwicklungen beruht, die zu rechtfertigen meines Erachtens Schwierigkeiten bereitet. Eine alternative, nichtteleologische Konzeption der kulturellen Entwicklung als Naturgeschichte zeichnet sich bei Herder ab, dem ich mich jetzt zuwende.
3. Herder steht für eine Auffassung kultureller Identität, die diese als ständig im Wandel begriffen (und insofern auch - im Hegeischen Sinne - als nichtidentisch) auffasst. Dieser Wandel lässt sich mit dem Stichwort einer Aufklärung in Permanenz bezeichnen, womit Aufklärung nicht als Zustand des Aufgeklärtseins, sondern als Prozess der permanenten Infragestellung erreichter Kulturniveaus vorgestellt ist. Hierbei gibt es für Herder auch auf der Ebene der Kultur kein Zentrum, in dem sich der ganze Prozess selbst sammeln und durchsichtig werden könnte, wie aus seiner Kritik des Eurozentrismus hervorgeht. „Legen wir den Begriff der europäischen Kultur zum Grunde, so findet sich diese allerdings nur in Europa; setzen wir gar noch willkürliche Unterschiede zwischen Kultur und Aufklärung fest, deren keine doch, wenn sie rechter Art ist, ohne die andre sein kann, so entfernen wir uns noch weiter ins Land der Wolken."25 Das Land der Wolken beginnt für Herder dort, wo Kultur und Aufklärung nach eurozentristischen Maßstäben definiert werden und die europäische Aufklärung nicht als spezifische Form eines universellen Prozesses betrachtet wird. Die Wendung zur Menschheitsgeschichte ist für Herder gleichbedeutend mit einer Depotenzierung der europäischen Geschichte zum Moment, zur Partialgeschichte innerhalb der Weltgeschichte. Erst diese Depotenzierung erlaubt es dann aber nach Herder, eine eigentümliche europäische „Kultur der Vernunft" in den Blick zu bekommen, welche die Fähigkeit hat, Humanität und Vernunft auf dem ganzen Erdball zu kultivieren.26 Entscheidend hierbei ist, dass Herder die Menschheitsgeschichte letztlich nicht universell-teleologisch, sondern - wie er selbst es nennt - als „Naturgeschichte" denkt; dass die „Kultur der Vernunft" also nicht immanentes telos und Gipfel der Geschichte überhaupt, sondern Mittel für weitere Bildungsprozesse ist, deren Ziel offen bleibt. Um dies zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die „Logik" der Geschichte bei Herder werfen. Diese wird, in Herders Worten, durch zwei Prinzipien bestimmt, nämlich 25
26
Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt/M 1989, S. 340. Ebd., S. 890f.
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„Tradition und organische Kräfte".21 Das Überlieferte wird von dem, der es empfängt, aufgenommen und dabei nach seinen Kräften modifiziert; die Rezeption bzw. Konsumtion des Tradierten ist mithin immer auch produktiv, fort-bildend: „Der Nachahmende [...] muß Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also, was und wieviel er aufnehme, wie er's sich zueigne, nutze und anwende: das kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die Erziehung unsres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten." Aus diesen Prinzipien folgt zweierlei. Erstens ist der Mensch kein fertiges Wesen, von dem sich abschließend sagen ließe, was er sei, sondern der Mensch ist noch im Werden; was er sein kann, ist geschichtlich erst noch herauszubringen. Und dieses Herausbringen folgt der Bildung gemäß dem Verhältnis von Tradition und organischen Kräften. Zweitens: die Kette der Tradition, die sich durch diesen offenen Bildungsprozess hindurchzieht - Herder spricht auch von der „Goldenen Kette der Bildung" - ist das, was eigentlich die Menschheitsgeschichte ausmacht: das Identische im Wandel, die Kontinuität in den Diskontinuitäten. Diese Kette reiht aber menschliche Bildungen aneinander, die für die Menschen selbst als die Akteure der Geschichte nicht teleologisch miteinander verknüpft sein können. Der subjektive Zweck, der einem Bildungsprozess zugrunde lag, wird in der Tradition zu einem objektiv-Allgemeinen. Derjenige, der das Tradierte aufnimmt, kann es - im Rahmen der Möglichkeiten, die es zulässt - als Mittel zu anderen Zwecken gebrauchen und andere Zwecke am ihm entdecken, die ursprünglich gar nicht intendiert waren. Anders gesagt: die Kette der Tradition wird durch vom Menschen gebildete Mittel konstituiert, die nicht nur Mittel zu einem Zweck sind, sondern selbst neue Zwecke freilegen und damit auch als Mittel sich verändern können. Die Logik der Geschichte ist, metaphorisch umschrieben als Bildung, die des Werkzeuggebrauchs oder der Arbeit. Immanent, vom Standpunkt der Menschheitsgeschichte selbst aus, ist für Herder kein universeller Sinn und kein universelles telos zu gewinnen. „Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde - was ist Mittel? was ist Zweck? nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? nicht alles Zweck von Millionen Mitteln? [...] jedes Glied in der Kette an seinem Orte Glied - hängt an Kette und sieht nicht, wo endlich die Kette hange. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt",28 Ein Sinn und ein telos der Geschichte ließen sich nur von außerhalb der Menschengeschichte ausmachen, gewissermaßen von einem spinozistischen Standpunkt sub specie aeternitatis, den wir als Menschen jedoch nicht vollziehen können. Zwar erwägt Herder, dass die Menschheitsgeschichte und Menschwerdung nur Mittel einer über die Menschheit hinausgehenden Entwicklung sein könnten, jedoch läßt sich dieser spekulative Gedanke für uns nicht einholen.
27 28
Ebd., S. 339; auch das Folgende. Johann Gottfried Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", in: Werke, hg. v. Wolfgang Pross, Bd. 1, München 1984, S. 659.
KULTUR, GEIST, NATUR
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Die Geschichte erscheint den Menschen daher zunächst als „blindes Schicksal", „Zufalle", „Zufall, Schicksal, Gottheit".29 Der Geschichtsphilosoph jedoch sieht, auch ohne zu einem Standpunkt außerhalb der Menschheitsgeschichte selbst Zuflucht nehmen zu müssen, in diesen Zufälligkeiten die Logik der Bildung durch Tradition und organische Kräfte. Zufälligkeiten nämlich sind „Begebenheiten [...], wo niemand die Folge, als überlegten Plan, träumte; [...] kleine Zufälle, mehr Funde, als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt, und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte oder gar nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgriff, Handwerk, das die Welt änderte".30 Hiermit ist wiederum jene Dialektik von Mittel und Zwecken bezeichnet, von der ich schon sprach. Die Veränderung der Werkzeuge, so sagt Herder - eine spätere These Marx' vorwegnehmend - bewirkt die Revolutionen in der Geschichte: Rad, Geschütz, Buchdruckerei, Kompass konstituieren jeweils andere Bildungsstufen der Menschheit Das aber heißt: Bildung und Fortschritt gehen nicht aus einer bewussten, vernünftig bestimmten und legitimierten Zweckbestimmung hervor, die dann nur noch umgesetzt zu werden brauchte. Dies ist für Herder der Grundirrtum der europäischen Aufklärung. Vielmehr sind ,ßildung und Fortbildung einer Nation [...] Resultat tausend mitwiirkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elementes, in dem sie leben",31 Fluchtpunkt der Kultur der Vernunft ist das, was Herder als Humanität bezeichnet und was nicht mit den gewöhnlichen Vorstellungen von Humanismus gleichgesetzt werden darf. Für Herder ist Humanität das Menschsein im Werden, in dem die Naturinstinkte durch künstliche, vernunftgeleitete Instinkte ersetzt werden. Humanität in diesem Sinne zielt auf ein reflektiertes Selbst- und Weltverhältnis, das nicht zuletzt die Einsicht vermitteln könnte, daß wir mit unseren Identitätsansprüchen nur Momente eines Multiversums sind, das durch die Kette der Traditionen konstituiert wird.
4. Herders Ausführungen sind sicherlich in Vielem wenig präzise und daher keine begriffliche Alternative zu Hegel; zudem verstrickt er sich des öfteren in substantialistische Vorstellungen und erklärt - quer zu seiner nichtteleologischen Grundtendenz - Entwicklungen vielfach aus Vermögen. Und der Begriff der Naturgeschichte - der übrigens offenbar bei Herder überhaupt zum erstenmal belegt ist32 - bezeichnet, im Unterschied zur Naturbeschreibung, eine systematische Entwicklungsgeschichte, die Herder in dieser Systematizität sicherlich nicht durchzuführen vermag. Entscheidend sind m.E. aber zwei Punkte dieser Konzeption: (a) die nicht in eine universelle Teleologie mündende .Dialektik' von Zweck und Mittel und (b) der in dem Konzept der Naturgeschichte zum Ausdruck kommende Gedanke einer fortwährenden Vermittlung der ,zweiten' 29 30 31 32
Ebd., S. 635f. Ebd., S. 635. Ebd., S. 643. Vgl. Grimm; Deutsches
Wörterbuch s.v.
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mit der ,ersten' Natur. Beides steht im Gegensatz zu Hegels Begriff des Geistes. Dem gegenüber könnte Hegel geltend machen, dass Herder mit seinem Konzept der Naturgeschichte entweder in einen naturalistischen Monismus abzugleiten in Gefahr sei, der den Freiheitsgedanken unterminiere, oder aber in einen systematisch unbefriedigenden Dualismus von Natur und Vernunft. Vielleicht ist dies aber gar nicht notwendig die Alternative. Hegel vertritt ja keinen Monismus des Geistes, sondern der (logischen) Idee; diese bezeichnet als absolute Methode die onto-logischen Bedingungen der Möglichkeit einer realen Vermittlung von Natur und Geist. Dass diese Vermittlung sich, wie Hegel es annimmt, in eine totale Selbstbezüglichkeit als neue Unmittelbarkeit notwendig transformieren müsse (und welthistorisch schon transformiert habe) scheint mir kein zwingender Gedanke zu sein.33 Herder - und auf der von ihm eröffneten Linie des Geschichtsdenkens auch Andere, wie nicht zuletzt Karl Marx - haben dagegen Vermittlung von einer konstitutiven Äußerlichkeit der Momente her als gegenständliche gedacht. Die Methode, welche Hegel als logische Idee fasst, muss dann die Äußerlichkeit in ihren eigenen Begriff aufnehmen, d.h.: sich als „suchendes Erkennen" neu bestimmen, ohne sich nur äußerlich zu ihrem Inhalt zu verhalten, denn diese Äußerlichkeit ist ja zugleich Form ihres Inhalts. Die Methode wird darin zu einem Mittel, welches das Allgemeine unserer Erkenntnisarbeit repräsentiert, nämlich das kategoriale Netz, in dem die „Welt" unserem tätigen Begreifen zugänglich wird.
33
Vgl. Andreas Arndt, Unmittelbarkeit,
Bielefeld 2004.
JOHANNES ROHBECK
Staat und kulturelle Evolution nach Hegel
Wenn wir heute das Thema Natur und Kultur und damit Natur- und Geisteswissenschaft neu überdenken, spielt die moderne Theorie der Evolution eine nicht unwichtige Rolle. Sie baut eine Brücke zwischen verschiedenen Gegenstandsbereichen und Disziplinen, erlaubt sie doch, die Natur auf historische Weise und die Geschichte nach dem Vorbild der Natur zu betrachten. Auch die Methode der Evolutionstheorie ist auf beide Gebiete anwendbar im Sinne einer natürlichen und kulturellen Evolution. Dieser Zusammenhang lässt sich auf zwei Ebenen behandeln. Erstens berühren sich Evolution und Kultur auf der Sachebene, wenn die Evolution der biologischen Natur und die Kulturgeschichte der Menschheit in einem Entwicklungszusammenhang gesehen werden. Die Menschheitsgeschichte geht aus der Naturgeschichte hervor, so dass Natur und Kultur getrennt nacheinander folgen. Doch wenn die Menschen im Laufe der Geschichte ihre äußere und auch ihre eigene Natur verändern, sind Evolution und Geschichte inhaltlich miteinander verschränkt. Zweitens verweist das Thema Evolution und Kultur auf eine Modellebene. Damit ist gemeint, dass die Kultur nach bestimmten Deutungsmustern der Natur betrachtet wird. Die Natur hat hier also eine modellhafte oder metaphorische Bedeutung. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Staat als Organismus, die Gesellschaft als Mechanismus und die Geschichte nach dem Vorbild der biologischen Evolution gedeutet werden. Doch gleichzeitig werden auch Einwände formuliert, die im Jubiläumsjahr von Charles Darwin besonders intensiv zur Diskussion stehen. Die Evolutionslehre scheint zur Universaltheorie aufzusteigen, die den vermessenen Anspruch erhebt, alle Phänomene in Natur, Staat und Gesellschaft erklären zu können. Politisch relevant ist die Warnung vor Sozialdarwinismus und Rassismus, die im 19. und 20. Jahrhundert eine unheilvolle Rolle gespielt haben. Vom Standpunkt der Philosophie erhebt sich der Vorwurf des Naturalismus und Biologismus mit der Konsequenz eines Determinismus, der die menschliche Freiheit und damit auch die ethische Verantwortung zu negieren droht.
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JOHANNES R O H B E C K
Diese Einwände dürfen nicht leichtfertig übergangen werden.1 Um ihnen gerecht zu werden, halte ich die Unterscheidung zwischen der Sach- und Modellebene für wesentlich. Auf der sachlichen Ebene lässt sich der Einwand des Naturalismus entkräften, indem eine Grenze zwischen Natur und Kultur gezogen wird. Auf der modelltheoretischen Ebene kann die Gefahr des Biologismus gebannt werden, indem der Modellcharakter der Evolution deutlich wird. Die Gefahr des Naturalismus und Biologismus lässt sich umgehen, indem man die Evolution als ein Modell betrachtet, das nicht etwa aus der Natur auf Staat und Gesellschaft übertragen wird, sondern auf verschiedene Bereiche angewendet werden kann. Vor diesem aktuellen Hintergrund lautet meine These, dass insbesondere die Philosophie Hegels zur Lösung des soeben skizzierten Problemzusammenhangs etwas beizutragen imstande ist. Der Grund dafür liegt darin, dass Hegel zwischen der sachlichen und modelltheoretischen Ebene strikt unterscheidet. Inhaltlich schließt er die Kontinuität von Natur und Kultur aus, während er die organische Natur als Modell für die Darstellung von Staat und Geschichte verwendet. Dabei vertritt Hegel eine originelle und zugleich paradoxe Position. Er nutzt zwar das naturförmige Modell der Entwicklung in extensiver Weise, spricht aber der Natur selbst jede Entwicklung ab. Während sich die Natur mit ihren Kreisläufen immer wiederholt, können kulturelle Veränderungen, die etwas Neues hervorbringen, nach seiner Überzeugung nur auf geistigem Boden entstehen. Ähnlich wie Kant charakterisiert er die Entwicklung des Geistes nach dem Naturbild des organischen Wachstums. Doch weil er das Modell der Entwicklung dem Geist vorbehält, schreibt er die Möglichkeit einer Entfaltung des schon Impliziten allein dem „Begriff' zu. In unserem Zusammenhang ist diese Denkfigur wichtig, weil sie demonstriert, wie das Modell der Evolution auch dann angewandt werden kann, wenn es ausdrücklich nicht aus der Natur übertragen wird. Eine solche Option, die Evolution als ein allgemeines Modell zu begreifen, verweist auf die anfangs erwähnte Diskussion der Gegenwart. Denn auch im entwicklungstheoretischen Denken der letzten Jahrzehnte zeigt sich der Modellcharakter der Evolution, indem sowohl ein biologisches Schema auf die Gesellschaft als auch soziale Strukturen auf die Natur übertragen werden. Angesichts dieser wechselseitigen Übertragungsverhältnisse radikalisiert sich jedoch die Frage nach der Herkunft solcher Deutungsmuster, weil die Evolution nun als ein Grandmodell gilt, das nicht mehr wechselseitig übertragen, sondern auf unterschiedliche Bereiche angewandt wird. Die Rechtfertigung der Evolutionstheorie besteht also darin, auf das Prinzip der Übertragung zu verzichten und stattdessen ein allgemeines Entwicklungsschema zu Grunde zu legen. Dieser neueste Diskussionsstand verleiht der hegelschen Position eine ungeahnte Aktualität.
1
Einige der genannten Einwände sind versammelt bei Walter Garry Runciman, „Culture does evolve", in: History and Theory 44 (2005), S. 1-13; Herbert Schnädelbach, „Geschichte als kulturelle Evolution", in: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, hg. von Johannes Rohbeck und Herta Nagl-Docekal, Darmstadt 2003, S. 329-351.
STAAT UND KULTURELLE EVOLUTION NACH HEGEL
1.
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Trennung zwischen Natur und Kultur
Die Begriffe Evolution und Geschichte haben zunächst so viel gemeinsam, dass sie als Synonyme gelten können. Bezieht sich die Evolution ursprünglich auf die Natur, so lässt sich auch die Geschichte der Menschheit als Entwicklung verstehen. Ist doch der Mensch ein natürliches Lebewesen, das sich aus dem tierischen Dasein herausgearbeitet hat, indem es den aufrechten Gang, die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen sowie das Sprechen und Denken lernte. Darüber hinaus kann die menschliche Kultur, die sich von der Natur abhebt, als ein Prozess beschrieben werden, der sich nach dem Modell der Evolution vollzieht. Dabei wirken die natürliche und kulturelle Entwicklung wechselseitig aufeinander. Die Evolutionstheorie behandelt also einen übergreifenden Zusammenhang, der von der Entstehung des Lebens bis zur modernen Zivilisation reicht. Doch besteht die Gefahr, dass sich der Unterschied zwischen Natur und Kultur verwischt. Das hat zur Folge, dass die kulturelle Entwicklung wie ein Naturprozess erscheint, ohne die spezifischen Kulturleistungen der Menschen zu würdigen.2 Ein derartiges Konzept der kulturellen Evolution droht die Kultur auf biologische Vorgänge zu reduzieren. Nicht zuletzt stellt sich damit das Problem der Wahlfreiheit der historischen Akteure und damit der moralischen Verantwortung. Hegels Philosophie kann hier als eine kritische Instanz fungieren, weil er auf der Sachebene keinen evolutionären Übergang zwischen Natur und Kultur zulässt. Darin unterscheidet er sich von den naturgeschichtlichen Traditionen des 18. Jahrhunderts. Während Kant hier eine ambivalente Stellung einnimmt, zieht Hegel eine radikale Trennungslinie zwischen Natur und Geist. Das Konzept der Entwicklung der Kultur aus der Natur war konstitutiv für die Geschichtsphilosophie der Aufklärung. Dort berührten sich Evolution und Geschichte, da die Evolution der biologischen Natur und die Kulturgeschichte der Menschheit in einem übergreifenden Zusammenhang gesehen wurden. Demnach geht die Menschheitsgeschichte aus der Naturgeschichte hervor, so dass Natur und Kultur nacheinander folgen. Seien es nun Turgot, Rousseau oder Condorcet in Frankreich, James Burnett (Lord Monboddo), Henry Home (Lord Kames) oder Adam Ferguson in England bzw. Schottland, schließlich Herder in Deutschland, viele dieser Geschichtsphilosophien beginnen wie selbstverständlich mit einer Geschichte der Tiere, die dann von der Menschheitsgeschichte abgelöst wird. Häufig werden sogar noch kosmologische und geologische Überlegungen zur Erdgeschichte vorangestellt. Umgekehrt integriert Buffon die Ent-
2
Pirmin Stekeler-Weithofer, „Evolution und Entwicklung. Zum Biologismus in den Sozialwissenschaften", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 571ff.
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stehungsgeschichte der Menschen in seine Histoire naturelle,3 Die Verschränkung von Natur- und Menschheitsgeschichte ist also wechselseitig.4 Auch Kant betrachtet die Menschen zunächst als Naturwesen, die wie die Tiere dazu bestimmt seien, ihre natürlichen Anlagen zu entfalten, betont jedoch zugleich den wesentlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Beim Tier sind es körperliche Organe, die am Ende ihre Zwecke erfüllen sollen; beim Menschen ist es die Vernunft, die sich für einen zweckmäßigen Gebrauch entwickeln soll. Dass Kant mit der Analogie zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte keine naturalistische Reduktion beabsichtigt, zeigen die daran anschließenden Ausführungen über die Vernunftentwicklung.5 Während der Mensch von Natur aus sparsam ausgestattet sei, befreie er sich durch die „Erfindung" seiner Nahrungsmittel bis hin zu den Annehmlichkeiten des Lebens aus den inneren und äußeren Abhängigkeiten von der Natur. Kant schließt die Geschichte der Menschheit zwar an die Naturgeschichte an, besteht aber zugleich auf der Trennung, indem er die Geschichte wesentlich als kulturelle Entwicklung auffasst. Mit seiner strikten Trennung zwischen Natur und Kultur knüpft Hegel an Kant an und verstärkt zugleich die Differenz zwischen natürlicher und kultureller Evolution. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts bestimmt Hegel seinen Gegenstand als das Reich des Geistes: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige".6 Und er macht unmissverständlich klar, dass er die „Welt des Geistes" im Unterschied zur physischen Natur begreift. Diejenige Tätigkeit, durch welche der Menschengeist seine Kultur und Geschichte und damit sich selber „macht", ist nach Hegel die menschliche Arbeit, mit er jedoch weniger die wirkliche Arbeit der Agrikultur, des Handwerks und der Industrie meint, die ja für die ökonomisch orientierte Aufklärung so wichtig war. Hegels „Arbeit des Geistes" ist vielmehr als Metapher zu verstehen: „Die Entwicklung ist [...] die harte 3
Bernard Le Bovier de Fontenelle, „Exkurs über die Alten und die Modernen", in: ders., Philosophische Neuigkeiten fur Leute von Welt und für Gelehrte, Leipzig 1971, S. 243ÍF.; Georges Louis Ledere Comte de Buffon, Histoire naturelle, hg. von J. Pivetau, Paris 1954, Bd. 2; Anne Robert Jacques Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Johannes Rohbeck und Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt/M 1990, S. 140 f.; Jean-Jacques Rousseau, Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 170 und 1755, übers, und hg. von Kurt Weigand, Hamburg 1978, S. 83fF.; Marie-Jean-Antoine-Nicolas Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. von Wilhelm Alff, Frankfurt/M 1976, S. 40ff.; Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. von Zwi Batscha und Hand Medick, Frankfurt/M 1986, S. 97ff.; Henry Home, Sketches of the History of Man, Repr. Hildesheim 1968; James Burnett, The History of Man, Repr. New York und London 1977; Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herders Werke in ßnf Bänden, Berlin 1978, Bd. 4, S. 17ff.
4
Stephen Toulmin und June Goodfield, Entdeckung der Zeit, München 1970, S. 104ff.; Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt/M 1978, S. 41ff. Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", in: Werke in 12 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M 1965, Bd. 11, S. 36f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, TheorieWerkausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M 1979, § 4.
5
6
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unwillige Arbeit gegen sich selbst".7 Infolgedessen wird der „Geist" der Geschichte so vorgestellt, als ob er einen Zweck setze und diesen mit Hilfe bestimmter Mittel realisiere. Hegel zieht also die Grenzlinie zwischen Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit wesentlich schärfer als Kant. Die hier genannten historischen Positionen finden sich auch in der neueren Evolutionstheorie. Die Bandbreite reicht vom nahtlosen Übergang der Kultur aus der Natur nach dem Vorbild der Aufklärung über die Zwischenstellung von Kant bis hin zur absoluten Trennung zwischen Natur und Kultur nach Hegel. Dabei werden Nähe und Abstand je nach Disziplin unterschiedlich bestimmt. Besonders eng ist das Verhältnis von natürlicher und kultureller Evolution in der Soziobiologie, in der die Entstehung und Entwicklung menschlicher Gesellschaften aus tierischen Verhaltensmustern abgeleitet werden, etwa auf den Feldern Gruppenwahl und Wahl des Sexualpartners, Kooperation und Altruismus sowie Disziplinierung.8 Daran schließt die evolutionäre Ethik an: Der Mensch als biologisches Naturwesen folgt einem evolutionären Verhaltensmuster. So wird beispielsweise das altruistische Verhalten im Tierreich aufgespürt und analysiert, so dass sich der Altruismus in menschlichen Gesellschaften als Ergebnis einer biologischen Evolution darstellt. Obwohl sich das einzelne Individuum einem höheren Risiko aussetzt, ist unter bestimmten Umständen ein altruistisches Verhalten für die Gruppe effektiv. Biologisch ist diese Entwicklung insofern, als nicht etwa das Individuum seinen natürlichen Egoismus überwinden muss, sondern weil altruistisches Verhalten eines Individuums der Arterhaltung einer Population zugute kommt. An die Stelle des Egoismus des Individuums tritt der Egoismus der Gene oder der genotypische Egoismus.9 Nach dieser Argumentation ist der Altruismus biologisch notwendig. Stellt man das philosophische Problem der Grenze zwischen Natur und Kultur, lassen sich drei Positionen unterscheiden:10 Erstens besteht eine schwache Position in der Auffassung, dass moralische Normen im Kontext von natürlichen Randbedingungen 7
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9
10
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/ M 1970, Bd. 12, S. 76, ebenso S. 29f.; vgl. Andreas Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, S. 105ff. Claudia Sanides-Kohlrausch, „Zur Reichweite des von der Soziobiologie vertretenen Evolutionsmodells für die Sozialwissenschaften", in: Evolution. Modell - Methode - Paradigma, hg. von Christoph Asmuth und Hans Poser, Würzburg 2007, S. 182; Martin Stuart-Fox, „Evolutionary Theory of history", in: History and Theory 38 (1999), S. 33-35; Stephen C. Levinson, „The Evolution of Culture in a Microcosm", in: Evolution and Culture, hg. von Stephen C. Levinson und Pierre Jaisson, Cambridge und London 2006, S. 1-15; Dan Sperber, „Conceptual Tools for a Naturalistic Approach to Cultural Evolution", in: ebd., S. 147-165. Kurt Bayertz, „Der evolutionäre Naturalismus in der Ethik", in: Evolutionäre Ethik zwischen Naturalismus und Idealismus. Beiträge zu einer modernen Theorie der Moral, hg. von Wilhelm Lütterfelds, Darmstadt 1993, S. 141-165; Thomas Möhrs, „Evolutionäre Ethik als biologische Theorie", in: ebd., S. 19-31; Werner Leinfelder, „Ein Plädoyer für die Evolutionäre und die Sozialethik", in: ebd., S. 32-64. Kurt Bayertz, „Evolution und Ethik: Größe und Grenzen eines philosophischen Forschungsprograms", in: Evolution und Ethik, hg. von Kurt Bayertz, Stuttgart 1993, S. 7 - 3 6 .
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des Handelns stehen. Demnach ist der Mensch nicht völlig autonom, sondern hängt in gewissem Maße immer von seinen Genen ab. Im Laufe der kulturellen Entwicklung koppelt er sich von seinen biologischen Wurzeln ab. - Demgegenüber besagt die mittlere Position, dass der Mensch letztlich durch seine Gene biologisch determiniert ist. Wenn das zutrifft, bleibt ihm keine Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, wodurch Begriffe wie „moralisches Handeln" obsolet sein würden. Unter dieser Voraussetzung gibt es nur noch eine „Moral der Gene". - Davon hebt sich eine starke Position ab, der zufolge die Evolutionstheorie einen normativen Charakter besitzt und damit moralische Verhaltensnormen zu rechtfertigen vermag. Das hätte wiederum zur Folge, dass wir unsere normativen Orientierungen aus der Biologie gewönnen. Während diese letzte These, der man einen naturalistischen Fehlschluss vorwerfen kann, kaum Anhänger findet, erlaubt die mittlere These durchaus die Vorstellung von menschlicher Freiheit und moralischer Verantwortung. Das gilt natürlich auch für die schwache These, die jedoch so trivial ist, dass sie keine neuen Erkenntnisse liefert. Während die schwache These zwar die Idee der Freiheit einräumt, aber theoretisch banal ist, verspricht die starke These eine interessante Theorie, die allerdings die menschliche Freiheit negiert. Hegels Position ist, wie gezeigt, eindeutig der schwachen These zuzuordnen. Denn Hegel hat überhaupt nicht im Sinn, irgendeine Art Übergang von natürlichen Verhaltensweisen zur rein geistigen Sittlichkeit nachzuweisen. Doch wie Gehlen gezeigt hat, ist die natürliche Ausstattung des Menschen gerade die Möglichkeitsbedingung für kulturelle Errungenschaften.11 Weil der Mensch eine mangelhafte Natur hat, schafft er sich Kultur. Unter dieser Voraussetzung ist die biologische Mutation sogar eine Folge der kulturellen Entwicklung; aus der biologisch veränderten Natur des Menschen folgt eine neue Kultur. Natur und Kultur stehen hier in einer Wechselbeziehung, die man als kulturelle Evolution kennzeichnen kann. Wenn man die grundsätzliche Frage nach dem Unterschied zwischen Natur und Kultur stellt, fängt die Kultur dort an, wo das rein instinktiv gesteuerte Verhalten aufhört. Die Grenze zwischen Natur und Kultur fällt dabei nicht einfach mit dem Übergang vom Tier zum Menschen zusammen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Verhalten nicht mehr bloß den ererbten instinktiven Mustern folgt, sondern dass es ihnen gegenüber an Autonomie gewinnt und eigene Regeln entwickelt.12 Durch kritische Distanz entsteht ein Sichverhalten zum Verhalten, dessen Reflexivität die Grundbedingung aller Kultur ist. Wo sie erfüllt ist, kann kulturelle Evolution beginnen.
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Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1987, S. 9ff. Schnädelbach, „Geschichte als kulturelle Evolution", a.a.O. (Anm. 1), S. 329-351, 343f.
STAAT UND KULTURELLE EVOLUTION NACH HEGEL
2.
111
Der Staat als Organismus
Nachdem der sachliche Entwicklungszusammenhang von Natur und Kultur thematisiert wurde, geht es im Folgenden um die Ebene der Modellbildung. Mit der Modellebene ist gemeint, dass Staat und Gesellschaft sowie die Geschichte der Menschheit nach bestimmten Modellen der Natur gedeutet werden. Wie wir sahen, ist dies die einzige Ebene, auf der Hegel die Bestimmungen der Natur auf dem Gebiet des Geistes gelten lässt. Dabei wendet er unterschiedliche Modelle an, indem er zunächst den Staat wie einen Organismus betrachtet und dann die Entwicklung des Staates wie überhaupt den Prozess der Geschichte nach dem Modell des organischen Wachstums charakterisiert. Bekanntlich betrachtet Hegel den Staat als Organismus mit der Absicht, die politische von der ökonomischen Sphäre abzuheben: „Die politische Verfassung ist fürs erste: die Organisation des Staates und der Prozeß seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst"Ρ Zwar ist für Hegel die bürgerliche Gesellschaft ein Ort moderner Freiheit, die sowohl das Prinzip des Einzelnen als „negativer Selbständigkeit" wie auch das Prinzips der Allgemeinheit des abstrakten Rechts, d.h. der formalen Gleichheit der Rechtspersonen umfasst. Aber andererseits erkennt Hegel auf diesem gesellschaftlichen Gebiet nur eine äußere und entzweite Einheit und damit negative Allgemeinheit an. Um diese Negativität zum Ausdruck zu bringen, kennzeichnet er die Ökonomie - in Abgrenzung vom Staat - als die Sphäre des Unorganischen. Er beschreibt sie nicht als ein organisches, sondern als ein mechanisches System, in dem die Gesetze des Marktes wie physikalische Naturgesetze walten.14 Diesem Feld der Mechanik wird nun der Staat als Sphäre des Organischen übergeordnet. Wurde der Staat im Altesten Systementwurf des deutschen Idealismus noch als etwas Mechanisches kritisiert, dem der „äußerliche" Gesellschaftsvertrag entsprach, bildete Hegel bald darauf die Idee eines „organischen" Staates heraus, die für alle weiteren Entwürfe paradigmatisch blieb. Seitdem gilt der Staat als ein lebendiger Organismus, in der freie Bürger als „Organe" des Staates vorgestellt werden. Die Organizität des Ganzen soll garantieren, dass der Staat in der Lage ist, das Unorganische der bürgerlichen Gesellschaft zu integrieren. Obwohl Hegel eine vollständige Aufhebung des Unorganischen ins Organische ausschließt, hält er jedoch eine Integration des Ökonomischen in das politische Ganze für denkbar, das der Staat als vollendeter sittlicher Organismus darstellt. Auf diese Weise bildet das Organische den übergreifenden Zusammenhang. Festzuhalten ist, dass sich Hegel auf die modellhafte Verwendung des Organischen beschränkt, indem er lediglich ein biologisches Modell auf die Sphäre des Staates überträgt. Ebenso verfährt er, wenn er die Entwicklung von Staaten und damit die Geschichte der Menschheit mit Hilfe des Wachstumsmodells charakterisiert. 13
14
Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 6), § 271; vgl. Wolfgang Neuser, „Der Staat als sich auf sich beziehender Organismus. Bemerkungen zu Hegels Verwendung von Naturkonzepten in seiner Staatstheorie", in: Hegel-Jahrbuch 1993/1994, Berlin 1995, S. 344-349. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 6), § 187; siehe auch den Vergleich mit dem „Planetensystem" im Zusatz zu § 189.
112
3.
JOHANNES R O H B E C K
Modell des Wachstums
Auch für diese modelltheoretische Verwendung der organischen Natur gibt es in der Epoche der Aufklärung zahlreiche Vorbilder. So betrachtete Kant die Menschen als Naturwesen, die ihre natürlichen Anlagen aus einem „Keime" gleichsam ,,aus[zu]wickeln".15 Ähnlich wie Kant charakterisiert Hegel die Entwicklung des Geistes mit dem Modell des Wachstums, dem zufolge die Gestalt eines Lebewesens bereits im „Keim" angelegt sei: „ebenso ist der Geist nur das, zu was er sich selbst macht, und er macht sich zu dem, was er an sich ist."16 Dabei übernimmt Hegel den Begriff „Bildungstrieb" von Blumenbach.17 Dieser Begriff bezeichnete ein Prinzip, das dem allgemeinen Leben und Schaffen der Natur zu Grunde gelegt wurde. Dieses Prinzip der Stoff- und Formbildung umfasste die Formen der Erzeugung, Ernährung und Reproduktion. Darunter verstand Blumenbach eine innere Gerichtetheit der organisierten Materie, die sich in der Gestaltung und Ausbildung des Organismus und seiner Organe äußerte. Hegel formuliert diese Tendenz als „ein Sich-selbst-sich-äußerlich-machen, aber als Einbildung der Form des Organismus in die Außenwelt".18 In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte kennzeichnet er den „Fortgang als ein Fortschreiten von dem Unvollkommenen zum Vollkommenen, [...] das sogenannte Vollkommene, als Keim, als Trieb in sich".19 Außerdem orientiert sich Hegel an Robinet, den er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie namentlich erwähnt.20 Ähnlich wie Buffon ging Robinet von unzerstörbaren winzigen organischen Körpern aus, die sich irgendwo zwischen Buffons organischen Molekülen und inneren Gussformen ansiedeln.21 Aber ungleich Buffon und darin eher Maupertuis folgend, sah er letztlich, um die Prinzipien der Einheit und der kontinuierlichen Gradation der Natur zu gewährleisten, die gesamte Materie von Empfindungsvermögen durchdrungen. Allerdings ist bei solchen Bezügen Vorsicht geboten, handelt es sich doch bei Robinet eher um Spekulationen im Anschluss an Leibniz. Das entsprechende Modell heißt „Kette der Lebewesen", die in einer kontinuierlichen Folge oder besser Stufenleiter besteht, innerhalb deren die einzelnen Lebewesen 15 16 17
18
19 20
21
Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte", a.a.O. (Anm. 5), S. 35. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 7), S. 75. Johann Friedrich Blumenbach, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1791. Hegel, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von Rolf Peter Horstmann, Hamburg 1976, S. 635. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 7), S. 78. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ΙΠ, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 20, S. 301f. Jean-Baptiste-René Robinet, De la nature, 4 Bde., Amsterdam 1761-1766; ders., Considérations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l'être, ou les essais de la nature qui apprend à faire l'homme, Paris 1768; vgl. Peter McLaughlin und Hans-Jörg Rheinberger, „Naturgeschichte", in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, 18. Jahrhundert, Bd. 2, hg. von Johannes Rohbeck und Helmut Holzhey, Basel 2008, S. 380-414.
STAAT UND KULTURELLE EVOLUTION NACH H E G E L
113
nach dem Maßstab ihrer „Vollkommenheit" eingeordnet werden.22 Was unter Vollkommenheit, die ja zu den Schlüsselbegriffen der antiken bis neuzeitlichen Philosophie gehört, jeweils verstanden wird, kann variieren: Bonnet legte den Grad von Komplexität und Zweckmäßigkeit der Organismen zugrunde; Buffon setzte hingegen den Grad der Ähnlichkeit und später den Grad der Nützlichkeit als Maßstab fest. Unterstellt wurde dabei in jedem Fall, dass diese „Kette" nicht von Lücken oder Sprüngen unterbrochen wird, sondern aus unendlich kleinen Zwischenstufen besteht, deren Glieder allenfalls verborgen sind. In diesen Anleihen bei Blumenbach und Robinet zeigt sich, dass Hegel an einer Evolutionstheorie grundsätzlich nicht interessiert ist. Er lehnt den Gedanken einer Evolution in der Natur sogar explizit ab.23 Doch ist diese Ablehnung des Evolutionsgedankens auf dem Gebiet des Natürlichen nur schwer nachvollziehbar, zumal sich viele Passagen der Naturphilosophie im Sinne einer Evolution lesen lassen, so als ob auch die Natur selbst eine Entwicklung offenbare. Es gibt kein zwingendes Argument dafür, dass der Aufbau der Natur nicht auch als ein zeitlicher Prozess vorgestellt werden kann. Ein Motiv könnte darin liegen, dass die damalige Evolutionstheorie noch in den Anfängen steckte und daher zu ungesichert schien.24 Plausibler ist jedoch der erwähnte theorie-systematische Grund, dass Hegel die begrifflich-logische Entfaltung des Geistes vom realen Naturgeschehen zu trennen beabsichtigt. Damit entsteht die paradoxe Position, dass Hegel das Modell der Evolution aus der Naturgeschichte überträgt, obwohl er der Natur jede Evolution abspricht. Er zeigt damit, dass er nur ein Modell überträgt, ohne damit einen sachlichen Zusammenhang zu behaupten.
4.
Wechselseitige Modellübertragungen
Angesichts dieser Problemlage stellt sich die Frage nach der Reichweite derartiger Modellübertragungen. Nach der bisherigen Darstellung bieten sich drei Varianten an. Erstens lassen sich Modelle aus der Biologie auf die Bereiche Staat, Gesellschaft und Geschichte übertragen. So verfährt Kant, indem er den historischen Prozess nach dem Vorbild der natürlichen Entwicklung beschreibt. Zweitens ist auch die umgekehrte Transformation möglich, die darin besteht, dass Modelle aus sozialen, politischen und historischen Erfahrungen auf die Natur übertragen werden. Dieses Verfahren ist im Geschichtsdenken der frühen Aufklärung nachweisbar. Die dritte Variante besteht darin, dass überhaupt keine Übertragung stattfindet, weder von der Natur auf die 22
23
24
Arthur Oncken Lovejoy, The great chain of being. A study of the history of an idea, New York 1936, S. lOff. Dieter Wandschneider, „Hegel und die Evolution", in: Hegel und die Lebenswissenschaften, hg. von Olaf Breidbach und Dietrich von Engelhardt, Berlin 2000, S. 240-255; Christian Spahn, Lebendiger Begriff - begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G. W. F. Hegel, Würzburg 2007, S. 268. Ein entsprechender Hinweis findet sich bei Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 9, S. 494.
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J O H A N N E S ROHBECK
Gesellschaft, noch von der Gesellschaft auf die Natur, nicht einmal eine wechselseitige Modellübertragung; vielmehr gilt die Evolution von vornherein als ein Modell, das ganz unabhängig konzipiert wird und lediglich auf verschiedene Gegenstandbereiche angewandt wird. Diesen Weg scheint Hegel zu gehen, wodurch er für die moderne Evolutionstheorie attraktiv ist. Die erste und zweite Variante lassen sich, wie gesagt, bereits in der Epoche der Aufklärung beobachten, während der nicht nur die im Entstehen begriffene Biologie die moderne Geschichtsphilosophie beeinflusste, sondern auch umgekehrt das historische Denken Einfluss auf die Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts ausübte, namentlich auf die Kosmologie, Geologie und Zoologie. Als Fontenelle in seinen Entretiens sur pluralité des mondes zum ersten Mal das Sonnensystem Veränderungen unterworfen sah, hatte bereits die geschichtsphilosophische Querelle des anciens et des modernes begonnen; und Fontenelle hat ja dann selbst den erwähnten Anstoß zur Fortschrittsidee geliefert. Auch Boulanger war Geologe und Geschichtsphilosoph zugleich.25 So liegt die Vermutung nahe, dass die neue Geschichtsphilosophie das Interesse für geologische und biologische Veränderungen geweckt hat. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass eine säkulare Geschichtsphilosophie immer noch die Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition zu führen hatte, zu der eben auch Fragen der Schöpfungsgeschichte wie Kosmologie, Erdgeschichte oder Sintflut und deren Chronologien gehörten. Auf dem Feld der Biologie gibt es noch mehr Anzeichen für eine umgekehrte Modellübertragung, weil die Idee der Vervollkommnung sowohl in der Geschichtsphilosophie als auch in der Naturgeschichte Strukturähnlichkeiten aufweist. Berücksichtigt man dabei die Umformulierungen im 18. Jahrhundert vor allem bei Buffon, so fällt der technomorphe Charakter der graduell unterschiedenen Zweckmäßigkeit bzw. Nützlichkeit der Lebewesen auf. In Kants Kritik der Urteilskraft wird dieser Zusammenhang später explizit: Dort wird der Natur eine geradezu technische Verfahrensweise zugeschrieben, indem ihr unterstellt wird, sie suche für ihre Zwecke nach geeigneten Mitteln, wie umgekehrt vorhandene Mittel neue Zwecke generieren.26 Sofern diese Zweck-MittelRelation als kontinuierliche Steigerung von Komplexität und Funktionalität vorgestellt wird, kann behauptet werden, das Modell des Fortschritts sei auf die Naturgeschichte übertragen worden. Wechselseitig ist diese Modellübertragung, weil sowohl aus der Naturgeschichte als auch aus der Geschichtstheorie Strukturmerkmale eingegangen sind, die eine neue Ähnlichkeit erzeugt haben. Aus der Geschichtsphilosophie stammt das Modell des Fortschritts, das eine kontinuierliche Akkumulation von theoretischem Wissen, technischem Können und wirtschaftlichem Reichtum bedeutet. Dieses Modell wird nun in die Natur des Menschen verlegt und dort als naturgegebene Anlage stilisiert. Aber das Modell dieser Naturanlage stammt aus der zeitgenössischen Biologie. Es besitzt die Struktur von Keim und Pflanze bzw. von Samentierchen und Tier. Nach der Präformationstheorie 25
26
Fontenelle, „Exkurs über die Alten und die Modernen", a.a.O. (Anm. 3), S. 12ff.; Nicolas-Antoine Boulanger, Œuvres de Blulanger, Paris 1792. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke, a.a.O. (Anm. 5), Bd. 9, S. 32.
STAAT UND KULTURELLE EVOLUTION NACH HEGEL
115
bedeutet dies, dass schon alle späteren Formen und Funktionen en miniature im Keim enthalten sind. Nach der Theorie der Epigenese sind es „interne Gussformen", die das Lebewesen in seiner Entfaltung steuern.27 In jedem Fall ist damit die künftige Entwicklung vorherbestimmt; es kann sich nur herausbilden, was im Keim schon angelegt ist. Kant hat diesen Vorgang so treffend als „Auswickelung" bezeichnet. Wird nun dieses Keimmodell wiederum in die Fortschrittstheorie rückübertragen, so stellt sich auch die Menschheitsgeschichte als ein Prozess der bloßen Entfaltung dar. Die Geschichte vermag demnach nur dasjenige hervorzubringen, was in den Menschennaturen bereits vorhanden ist. Im Grunde kann auf diese Weise nichts wirklich Neues entstehen. Diese Beschränkung des Historischen korrespondiert wiederum einem reformistischen Grundzug der aufklärerischen Geschichtsphilosophie. Ob diese Gründe noch einmal für die biologische Restriktion selbst verantwortlich gemacht werden können, ist eine Frage, die sich wohl kaum mehr eindeutig beantworten lässt. Wie dem auch sei, hier zeigt sich, in welchem Maße auch der Kontext, in den übertragen wird, das Übertragene zu selektieren vermag. Diese Serie von Übertragungen und Rückübertragungen demonstrieren, wie das daraus resultierende Modell eine Art Synthese der daran beteiligten Diskurse bildet. In ihm verschmelzen die unterschiedlichen Leitvorstellungen. Anders formuliert: Durch die wechselseitigen Übertragungen reichern sich die Vorbilder und Nachbilder gegenseitig an. Indem sie sich wechselseitig aufladen, entsteht so etwas wie ein Übertragungsgewinn, d.h. ein Modell-Ensemble, das wesentlich komplexer ist als die daran beteiligten Einzelmodelle. Das Resultat besteht in einem verallgemeinerten Schema oder in einer formalen Struktur, die von den besonderen Wissensbereichen abgezogen worden ist. Da etwa von den naturgeschichtlichen Details abstrahiert und die Entfaltung des Lebendigen stilisiert wird, könnte man hier von einer Biologisierung der Biologie sprechen. Und weil umgekehrt die Folge der Geschichtsepochen auf eine einheitliche Verlaufsform und auf ein gemeinsames Entwicklungsprinzip festgelegt wird, wäre analog dazu eine so definierte Historisierung des Historischen zu konstatieren. Derartige Modelle, wie anschaulich sie auch erscheinen mögen, dienen nicht etwa nur der nachträglichen Illustration von bereits Gedachtem, sondern üben selbst eine theoriebildende Funktion aus. Hegel wählt schließlich die dritte Variante, indem er gar keine Übertragung mehr vornimmt, sondern die Entwicklung allein für das Reich des Geistigen reserviert. Auf diese Weise führt er vor Augen, dass die Anwendung des Modells der Evolution selbst dann möglich ist, wenn eine Entwicklung der Natur ausgeschlossen wird. Dieser extreme und wohl auch einmalige Fall in der Philosophiegeschichte demonstriert, dass das evolutionäre Modell auch ganz unabhängig konzipiert werden kann, um es dann zur Erläuterung eines beliebigen diskursiven Feldes zu benutzen. Auf diese Konstruktion könnte sich auch die moderne Evolutionstheorie berufen, die neuerdings zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt.
27
Buffon, Histoire
naturelle,
Bd. 2., a.a.O. (Anm. 3).
116
5.
JOHANNES R O H B E C K
Der Modellcharakter der Evolution
Nach neuesten Forschungen bezeichnet der Begriff der Evolution ein Modell, das zwar in der Biologie entwickelt worden ist, aber ebenso gut auch auf andere Gegenstandsbereiche angewendet werden kann. Dabei ist zwischen Metapher und Modell zu unterscheiden.28 Die Evolution ist keine Metapher, weil sie kein sprachliches Bild ist; sie ist vielmehr ein Modell, das ein komplexes und theoretisch reflektiertes Schema darstellt. In der Soziobiologie werden bestimmte Verhaltensmuster, die sich im Tierreich herausgebildet haben, auf die Gesellschaft von Menschen übertragen. Das führt zum Beispiel zur Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen tierischem und menschlichem Altruismus. Oder es wird der Mechanismus der Evolution aus der Biologie auf soziale Vorgänge transformiert. Wie neue Verhaltensmuster durch Anpassung eines Organismus an seine natürliche Umgebung entstehen, so durchläuft auch in Gesellschaften die Veränderung einer Lebensweise den Prozess von Variation, Selektion und Retention. Doch auch die Analogie zwischen Natur und Kultur setzt sich dem Vorwurf aus, dass das Leben der Menschen nach dem Vorbild biologischer Vorgänge interpretiert wird. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zum Sozialdarwinismus, der in unterschiedlichen Variationen aufgetreten ist. Bereits Büchner und Haeckel haben im 19. Jahrhundert eine Parallele von der Biologie zu Politik und Gesellschaft gezogen.29 Die politische Wirkung des Darwinismus kann ein Vergleich zwischen Darwin und Haeckel verdeutlichen. Während Darwin bei allen Unterschieden letztlich die Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Rassen der Menschen betonte, setzte Haeckel auf die Unterschiede, indem er behauptete, einige Rassen stünden den Tieren näher als den zivilisierten Menschen. Nach dem Motto „Kampf ums Dasein", der hier Kampf zwischen den Rassen bedeutet, wurde die Gesellschaft der biologischen Evolution unterworfen: sowohl im ökonomischen Liberalismus, wo das Recht des Stärkeren gelten sollte, als auch in der eugenischen Ideologie der Zuchtwahl. Doch ist zu berücksichtigen, dass schon Darwin den Evolutionsprozess, was seine theoriefähigen Aspekte betrifft, nach Mustern deutete, die ihm aus der kulturellen Lebenswelt bekannt waren. Dabei handelte es sich um die Praxis der Züchtung von Tierrassen im Dienste menschlicher Zwecke. Die Züchter wählen minimale Variationen von Eigenschaften der Nutztiere aus, die sie in der weiteren Fortpflanzung entweder
28
29
Häufig ist von der Evolution als „Metapher" die Rede: Martin Stuart-Fox, „Evolutionary Theory of history", in: History and Theory 38 (1999), S. 34; Runciman, „Culture does evolve", a.a.O. (Anm. 1), S. 6; Robert Boyd und Peter J. Richerson, „Solving the Puzzle of Human Cooperation", in: Evolution and Culture, hg. von Stephen C. Levinson und Pierre Jaisson, Cambridge und London 2006, S. 105. Ludwig Büchner, Der Mensch und seine Stellung in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1872; Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungs-Geschichte, Berlin und Leipzig 1920; siehe Hans-Jörg Rheinberger, „Die Politik der Evolution. Darwins Gedanken in der Geschichte", in: Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens, hg. von Ernst Peter Fischer, Frankfurt/M 2003, S. 178-197.
STAAT UND KULTURELLE EVOLUTION NACH HEGEL
117
bevorzugen oder ausschließen. Was also Darwin aus einer Kulturtechnik in die Natur übertragen hat, wurde später wieder auf das Gebiet der Geschichte transformiert. Dieser Prozess der wechselseitigen Modellübertragung lässt sich noch verallgemeinern, indem das Verhältnis von Biologie und Gesellschaftstheorie betrachtet wird. Dann stellt sich nämlich heraus, dass die Evolutionstheorie von Darwin nicht ,rein' naturwissenschaftlich ist, sondern in einem gesellschaftlichen und politischen Kontext steht.30 So wie die Biologie Vorstellungen über die Gesellschaft prägte, gingen bereits soziale Vorstellungen in die Biologie ein. Schließt man sich dieser Rekonstruktion an, stammt die Erfahrung „Kampf ums Dasein" ursprünglich aus dem beginnenden Kapitalismus, namentlich aus der Bevölkerungstheorie von Malthus, wie dem Darwinismus überhaupt das Bild des homo oeconomicus zu Grunde liegt. Demnach folgt das Modell der Evolution dem Kosten-Nutzen-Kalkül des Markt-Mechanismus. Das Übertragungsverhältnis kehrt sich in der Weise um, dass die Biologen des 19. Jahrhunderts letztlich ein ökonomisches Modell benutzten. Was sich bei Kants Idee der Entwicklung zeigte, gilt auch für die moderne Evolutionstheorie, insofern ein Modell aus der Biologie auf das Gebiet der Kultur übertragen wird. Im Grunde vollzieht sich eine Rückübertragung, indem ein Modell, das aus der praktischen Erfahrung stammt, in die Natur und dann wieder in die Lebenspraxis transformiert wird. Auf ähnliche Weise stammt das evolutionäre Modell aus der menschlichen Praxis nach dem Muster zweckrationalen Handelns, das eine Steigerung oder Verbesserung bewirken sollen. Dieses Modell wird auf kulturelle Prozesse übertragen, die allerdings ohne planendes Subjekt nach dem Vorbild eines „Züchters" gedacht wird. Diese Rekonstruktion von Übertragung und Rückübertragung widerlegt die Behauptung, das Modell der Evolution werde allein von der biologischen Natur auf die Gesellschaft der Menschen übertragen. Damit lässt sich die Analogie auch von der Soziologie auf die Biologie umkehren. Doch wenn die Ähnlichkeit wechselseitig ist, stellt sich die grundsätzliche Frage, wo das Modell der Evolution letztlich seinen Ursprung haben soll. Zur Beantwortung bietet es sich an, auf das analogische Denken ganz zu verzichten und das Problem noch radikaler zu lösen. Eine solche Lösung ließ sich bei Hegel aufspüren, der eine Übertragung des Entwicklungsmodells aus der Natur ausschloss und damit zugleich andeutete, dass es sich um ein Grundmodell von Entwicklung überhaupt handle. Auf die moderne Evolutionstheorie übertragen besteht diese Lesart darin, eine inhaltliche Identität zwischen Biologie und Soziologie zu behaupten in dem Sinne, dass beide Bereiche im Grunde aus demselben >Stoff< gemacht sind, nämlich aus Informationen.31 Wie in den Organismen genetische Informationen verarbeitet werden, so in der Gesellschaft symbolische und kommunikative Informationen. In beiden Fällen beschreibt die Evolutionstheorie selbst regulierte Lernprozesse. Wenn es sich also letztlich
30
31
Daniel Dennet, „From Typo to Thinko: When Evolution Graduated to Semantic Norms", in: Evolution and Culture, hg. von Stephen C. Levinson und Pierre Jaisson, Cambridge und London 2006, S. 133; Hans-Jörg Rheinberger, „Die Politik der Evolution", a.a.O. (Anm. 29), S. 36. Runciman, „Culture does evolve", a.a.O. (Anm. 1), S. 6.
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um dieselbe Sache handelt, findet nicht einmal Übertragung statt. Die Evolution ist kein Modell der Übertragung, sondern der Anwendung. Nach einer anderen Lesart hält man zwar am Unterschied der Bereiche fest, ohne jedoch in das analogische Denken zurückzufallen. Demnach handelt es sich bei der Evolution um ein allgemeines Modell, das nur zufällig in der Biologie zuerst formuliert worden ist. Es ist ein Grundmodell, das auf beliebige Bereiche anwendbar und in diesem Sinn bereichsneutral ist. Im Grunde ist es ein Funktionsmodell, das ein Muster für Effizienz darstellt.32 Das Kriterium ist der Erfolg oder Misserfolg einer Aktion. Die formale Grundlage scheinen mathematische Kalküle zu sein, während inhaltlich wohl eher der ökonomische Handlungstyp eine Rolle spielt. Im Folgenden wird sich zeigen, dass dieses Modell sehr viel flexibler ist und auch alternative Deutungsmöglichkeiten enthält. Legt man dieses Modell zu Grunde, stellen die Bereiche von der Natur bis zur Kultur Schichten dar, die vom Natürlichen zum Kulturellen aufsteigen; sie reichen von der biologischen Determination bis zur Freiheit der menschlichen Handlung.33 Die unterste Schicht bildet die Tiefenstruktur, die das genetisch verankerte Repertoire des Wahrnehmens und Verarbeitens von Informationen, des Empfindens und Verhaltens enthält. Die zweite Schicht repräsentiert die kulturspezifischen Wissensbestände wie Deutungsmuster, Normen und Praxen, die im Laufe von Sozialisationsprozessen entstanden sind; sie ist das Medium, in das die biologischen Voraussetzungen transformiert werden. Zur dritten Schicht gehört das Handeln von Einzelmenschen, wie es in der Mikrosoziologie untersucht wird. Umfasst die vierte Schicht die sozialen Rollen und Gruppenstrukturen, ist die fünfte Schicht die Sphäre der Organisationen und Institutionen. Folgt man dieser Lesart, erübrigt sich auch der Vorwurf des Naturalismus oder Biologismus, weil das Modell der Evolution nicht primär aus der Biologie stammt und auch nicht aus der Biologie auf die Gesellschaft übertragen wurde. Die Gesellschaft wird damit weder naturalisiert noch auf ein naturwissenschaftliches Schema reduziert. Wenn diese Interpretation zutrifft, kann man Hegel das Verdienst zuschreiben, zu dieser Kritik beigetragen zu haben, ohne dass diese Verbindungslinie bisher wahrgenommen worden ist. Seine erklärte Absicht war es, den ihm aus dem 18. Jahrhundert bekannten Tendenzen einer Naturalisierung von Staat, Kultur und Geschichte entgegenzutreten. Unbeabsichtigt war jedoch, durch sein philosophisches System ein Muster für das Selbstverständnis der Evolutionstheorie im 21. Jahrhundert geliefert zu haben.
32
33
Claudia Sanides-Kohlrausch, „Zur Reichweite des von der Soziobiologie vertretenen Evolutionsmodells für die Sozialwissenschaften", in: Evolution. Modell - Methode - Paradigma, hg. von Christoph Asmuth und Hans Poser, Würzburg 2007, S. 199. Niklas Luhmann, „Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution", in: ders., Soziologische Aufklärung 3 - Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1993; Guido Bünstorf, „Perspektiven des Wandels und Perspektiven Evolutorischer Ökonomik", in: Perspektiven Evolutorische Ökonomik, hg. von Marco Lehmann-WafFenschmidt, Dresden 2001, S. 22; Werner Josef Patzelt, Evolutorischer Institutionalismus, Würzburg 2007, S. 225fF.
HANS-GEORG BENSCH
Kultur, Arbeit und Sonntag
Obwohl es den Begriff der Kultur bei Hegel nicht gibt - allein das Wort „Kultur" wird an einigen wenigen Stellen und dann nach heutigem Sprachgebrauch im Sinne von „Bildung"1 gebraucht - , soll hier die heute übliche Unterscheidung von Natur und Kultur benutzt, um anhand ihrer, eine Hegeische Formulierung auseinander zulegen, die sich auf ein schlichtes, ja selbstverständliches Faktum bezieht, das aber nicht anders als ein Faktum der Kultur zu fassen ist; es geht um den Sonntag. Der Sonntag wird - soweit mir bekannt - an zwei Stellen von Hegel erwähnt; in der Religionsphilosophie und in der Berliner Antrittsvorlesung, die den Anfang seiner Vorlesung zur Enzyklopädie abgibt. In der Antrittsvorlesung heißt es: „So ist die Philosophie [noch] vielmehr die Region, in der der Mensch sein Belieben und seine besonderen Zwecke aufzugeben hat, nicht mehr sich, das Seine sucht, sondern sich dadurch ehrt, dessen teilhaftig zu sein, als eines von ihm Selbst Bestehenden. Verkehr mit der Philosophie ist als der Sonntag des Lebens anzusehen; es ist eine der größten Institutionen, daß im gewöhnlichen bürgerlichen Leben die Zeit verteilt zwischen Geschäften des Werktags, der Interessen der Not, des äußerlichen Lebens, Mensch versenkt in die endliche Wirklichkeit, und einem Sonntag, wo der Mensch sich diese Geschäfte abtut, sein Auge von der Erde zum Himmel erhebt, seiner Göttlichkeit, Ewigkeit, seines Wesens sich bewusst wird - der Mensch arbeitet die Woche durch um des Sonntags willen, hat nicht den Sonntag um der Wochenarbeit willen. - So ist die Philosophie Bewusstsein, - Zweck für sich selbst - Staatsveranstaltung - und alles Zweck für sie."2 Hegel macht keinen Versuch den Sonntag und damit die kalendarische Einheit Woche aus dem Geist zu entwickeln, dafür sind beide Erwähnungen in seinem Werk wohl auch zu marginal. Man mag vielleicht sogar einwenden, dass „Sonntag" in den genann1
2
Vgl. G. W. F. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd.l, Frankfurt/M 1970, S. 199; Bd. 4, S. 79; Bd. 11, S. 33. G. W. F. Hegel, Berliner Schriften, Hamburg 1997, S. 56.
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HANS-GEORG BENSCH
ten Zusammenhängen auch eher im Sinne einer Metapher gebraucht wird, und dennoch möchte ich den Sonntag soweit erläutern, dass sowohl eine Bestimmung der Kultur als Verschränkung von Freiheit und Herrschaft deutlich als auch ein weiteres Mal ein Licht auf Hegels Begriff von Philosophie geworfen wird, so dass damit im Ergebnis die Spannung zwischen einem Kulturbegriff und dem Hegeischen Begriff des Geistes erkennbar wird. Der Sonntag steht für einen Siebener-Rhythmus der Zählung der Tage - uns bekannt als Woche. Schon mit der Woche ist eine kalendarische Einheit genannt, die quer zur bloß natürlichen Voraussetzung aller Zeitmessung steht: Für eine Zeitmessung müssen zwei daseiende periodische Bewegungen verknüpft werden. In unserem Falle die Erddrehung um sich selbst und die Bewegung der Erde um die Sonne. „Natürlich" wären also allein die Einheiten Tag und Jahr, nicht aber Monat und Woche. In der Geschichte der Entwicklung von Kalendern sind lunarische mit solarischen Elementen verknüpft; und ich darf mich auf die Geschichte des ägyptischen, babylonischen, jüdischen, julianischen, gregorianischen Kalenders beschränken, weil eben diese Kalendertradition im sog. bürgerlichen Kalender spätestens seit 1873 weltweit anerkannt ist. Unser Monat spielt zwar (auch sprachlich) noch auf die Mondumläufe an, da aber die Mondumläufe sich nicht ganzzahlig mit dem Erdumlauf um die Sonne decken, ist das Jahr nicht die Summe von zwölf Mondumläufen - ein Jahr als Zähleinheit bestehend aus zwölf Mondumläufen würde nach recht kurzer Zeit (also schon nach einer Menschengeneration) mit den in unseren Breiten bekannten vier Jahreszeiten kollidieren - , sondern umgekehrt: Der Monat ergibt sich aus der Teilung des Jahres in zwölf nur ungefähr gleiche Teile. Dass darüber hinaus die (siebentägige Woche) eine Einheit ist, der ein Naturprozess entspricht, könnte höchstes von den vier Mondphasen entlehnt sein, deren jeweilige Phase aber auch nur in etwa sieben Tagen entspricht. Denn der Mondumlauf dauert 27 Tage (und 7 h 43 min). Kurz, es sind natürliche (objektive) Bestimmungen und willkürliche, konventionelle, tradierte, kulturelle, die sich in den kalendarischen Einheiten mischen. Die, ich nenne es „kulturelle Festigkeit" der kalendarischen Einheit „Woche" wird schlagend am Scheitern neuzeitlicher Kalenderexperimente3 wie dem Revolutionskalender der ersten französischen Republik, der das dekadische System etablieren wollte, deutlich: „Eine Woche" sollte aus zehn Tagen bestehen, neun Arbeitstagen und einem Ruhetag, was (verständlicherweise) keine Akzeptanz fand; oder, als weiteres gescheitertes Kalenderexperiment, die so genannte „rollenden Woche" mit der die junge Sowjetunion eine Sechstagewoche mit einem Ruhetag durchsetzen wollte; nicht beachtend, dass die intendierte durchgehende Kontinuität der Maschinenlaufzeiten in den Arbeitsprozessen bei unterschiedlichen freien Tagen der Einzelnen den arbeitsteilig kooperativen Arbeitstag unmöglich machte. Hegel macht keine Versuche, den Kalender oder die Kalendereinheiten als Manifestationen des Geistes zu interpretieren und doch dürfte schon jetzt klar sein, dass weder Kalender noch kalendarische Einheiten bloß „Natur" zugrunde liegen haben. Es wäre 3
R. Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr, Eine Kulturgeschichte 1993, S. 187ÍT.
des Kalenders,
Opladen
KULTUR, ARBEIT UND SONNTAG
121
ein Indiz, dass zwischen Geist und Natur etwas anzunehmen ist, was weder in die eine noch in die andere Richtung aufzulösen ist. Etwas, das vage genug: Kultur zu nennen wäre!
1.
Die Setzung der Siebentagewoche im Alten Testament
Mit dem Sabbat, dem Tag des Freitagsgebets und dem Sonntag als arbeitsfreiem Tag praktizieren die drei großen monotheistischen Religionen den Siebener-Rhythmus der Tage als Woche. Zugrunde liegt, wenn auch im Islam und im Christentum modifiziert, letztendlich die in den Zehn Geboten geforderte Rückbesinnung auf die Schöpfung. Du sollst den Sabbat heiligen, am siebten Tage sollst Du ruhen. In diesem Sabbatgebot bzw. Sonntagsgebot drückt sich eine Organisation der gesellschaftlichen Arbeit aus, die im Zusammenhang mit dem KulturbegrifF bedeutsam ist; man vergleiche Hegels Worte aus der zitierten Passage: „die Zeit [ist] verteilt zwischen Geschäften des Werktags, [...] wo der Mensch versenkt ist in die endliche Wirklichkeit und einem Sonntag."4 Auch wenn die kulturhistorische Forschung heute davon ausgeht, dass der SiebenerRhythmus mit einem arbeitsfreien Tag babylonischen Ursprungs ist,5 ist doch die Besonderheit des Sabbatgebots festzuhalten. In der Religion des Erhabenen - so Hegel zur jüdischen Religion - ist die Abwesenheit von Arbeit gefordert, und zwar die Abwesenheit von Arbeit eines jeden; Herren wie Knechte, ja sogar Tiere sollen an diesem siebten Tag von Arbeit frei sein. Thomas Mann formuliert es in der literarischen Bearbeitung des Stoffs der biblischen Gesetzgebung in seiner Erzählung Das Gesetz so: „So sollst Du meine Feiertage heiligen, den Tag, da ich dich aus Ägypten führte, den Tag der ungesäuerten Brote, und immer den Tag, da ich von der Schöpfung ruhte. Meinen Tag, den Sabbat, sollst du nicht mit Arbeitsschweiß verunreinigen, ich verbiete es dir! Denn ich habe dich aus dem Ägyptischen Diensthaus geführt, mit mächtiger Hand und mit ausgestrecktem Arm, wo du ein Knecht warst und ein Arbeitstier, und mein Tag soll der Tag deiner Freiheit sein, die sollst du feiern. Sechs Tage lang sollst du ein Ackerer sein oder ein Pflugmacher, oder ein Topfdreher, oder ein Kupferschmied, oder ein Schreiner, aber an meinem Tag sollst du ein rein Gewand anlegen und gar nichts sein, außer ein Mensch und deine Augen aufschlagen zum Unsichtbaren."6 Thomas Mann verknüpft die beiden unterschiedlichen göttlichen Erklärungen für das Sabbatgebot zu einer. Während es im Exodus7 den Hinweis auf den siebten Tag, den Ruhetag des Herrn, gibt, der geheiligt werden soll, ist es im Deuteronomium8 zusätzlich 4 5 6 7 8
G. W. F. Hegel, Berliner Schriften, a.a.O. (Anm. 2), S. 56. R. Wendorff, Tag und Woche, a.a.O. (Anm. 3), S. 23ff„ 117f. Thomas Mann, Die Erzählungen, Bd. 12, Frankfurt/M 1983, S. 655. 3. Buch Mose, 20, 8-10. 5. Buch Mose, 15.
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der Hinweis auf die Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft, der am Sabbat zu gedenken ist.9 Im Alten Testament ist - unabhängig von der babylonischen Tradition - der arbeitsfreie siebte Tag, ja der Siebener-Rhythmus selbst, gesetzt, gesetzt von einer Macht, die allein aus sich und ihrer Vollkommenheit ohne Hinweis auf Naturphänomene wie den vier Mondphasen zu etwa sieben Tagen oder den damals sieben bekannten besonderen Himmelskörpern als Namensgebern solcher sieben Tage auskommt. Es genügt einzig der Hinweis auf unterscheidbare Schöpfungsakte, die in Analogie zu Arbeitsprozessen gedacht werden. Warum es sechs Schöpfungseinheiten sind und nicht mehr oder weniger, wird nicht erklärt. Der Hinweis: „und er sah, dass es gut war"10 ist hinreichend. Es ist die Arbeit, die Auseinandersetzung mit der Natur, der Stoffwechsel mit der äußeren Natur, die trotz der sich wandelnden Bewertung von Arbeit entweder als Fluch nach der Vertreibung aus dem Paradies oder neuzeitlich als die Tätigkeit, die adelt, oder pessimistisch die Tätigkeit, die zunehmend den Menschen einem idealischen Naturzustand entfremdet, oder gar als eine Tätigkeit gefasst wird, die überwunden werden soll, so dass alle Dinge sich wie in einem Feenpalast11 aufs bloße Geheiß hin den Wünschen entsprechend verhalten; es ist die Arbeit als Tätigkeit der materiellen Reproduktion, auf die mit der Einheit Woche und ihrem Rhythmus von Arbeit und Nicht-Arbeit verweisen wird. Das Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit, das hier göttlichen Ursprungs ist, ist zunächst nur als ein quantitatives Verhältnis von Arbeit und Nicht-Arbeit, das sich einer absoluten Macht verdankt, gefasst. Dass es aber nicht allein ein quantitatives Verhältnis ist, zeigt sich in der Bestimmung der Nicht-Arbeit. Denn diese Nichtarbeit ist nicht leer, denn in dieser Nichtarbeitszeit ist eine bestimmte Tätigkeit geboten: „Gedenkt meiner." Wäre sie allein leer, würde sie in dieser abstrakten Negation ihrem Gegenteil verhaftet bleiben, sie könnte als bloße Regenerationszeit wieder allein, wie zum Beispiel die Schlafenszeit, um der Arbeitszeit willen da seiend gedacht werden.12 Diese Nichtarbeitszeit kann also nicht leer sein, sie kann der Arbeitszeit nicht allein abstrakt entgegengesetzt sein, sie muss der Arbeitszeit bestimmt entgegengesetzt sein, sie, die Nichtarbeitszeit muss an ihr selbst eine Bestimmung haben, die sie von der Arbeitszeit unterschiedet. Die Nichtarbeitszeit ist auch gefüllte Zeit, gefüllt mit der Tätigkeit, die aufs Unbedingte geht, deren Gegenstand das Nicht-Empirische, Nicht-Endliche, das nicht durch die Not Bestimmte ist - so auch Hegel.
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Vgl. P. Bulthaup, Das Gesetz der Befreiung , Lüneburg 1998, S. 16. 1. Buch Mose. Allein Kant gibt - in ganz anderem Zusammenhang - der Ruhe, dem Siebten Tag, eine Erklärung: „Der einzige Sinnengenuss, der ohne allen Beigeschmack von Ekel ist, ist die Ruhe nach der Arbeit." Vgl. I. Kant, Werke, Bd. 12, Anthropologie, Frankfurt/M 1988, S. 613, § 84. Vgl. F. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Berlin und New York 1980ff., Bd. 1/2, S. 290 zitiert nach A. Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, S. 84f. Darauf spielt Hegel im Geist des Christentums an, vgl. unten Anm. 23.
KULTUR, ARBEIT UND SONNTAG
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Etwas materialistischer formuliert: Ein Gemeinwesen, dass sechs Tage arbeitet und sich an einem Tag der tätigen Auseinandersetzung mit der Natur enthält, muss an sechs Tagen soviel produzieren können, wie es für sieben Tage zum Leben benötigt; ein solches Gemeinwesen arbeitet mehr als nur zur einfachen Reproduktion. Ein Wesen (hier Gemeinwesen), das sich mehr als einfach reproduziert, ist kein bloßes Naturwesen, dessen Wesen sich darin erschöpft, allein sich wieder hervorzubringen. Mehr arbeiten zu können als zur eigenen Reproduktion nötig, ist einerseits die Bedingung der Herrschaft, denn diese lebt davon, dass andere das für sie Lebensnotwendige herbeischaffen, sie selbst aber vom Naturzwang, arbeiten zu müssen, freigestellt ist bzw. sich davon freigemacht hat. Andrerseits ist die Fähigkeit, mehr arbeiten zu können als zur einfachen Reproduktion nötig, Indiz dafür, dass die Abhängigkeit von Natur, wenn schon nicht aufgehoben, so doch gebrochen werden kann. Schon das ist ein erster Hinweis darauf, dass auch in der Arbeitszeit ein Unterschied von bloß notwendiger Reproduktionsarbeitszeit und etwas, das mehr ist als bloß notwendig, steckt. Aber: Hätte die Mehrarbeit allein den Zweck, eine nicht-arbeitende Herrschaft am Leben - gut am Leben - zu halten, so wäre auch dann die einfache Reproduktion als Naturnotwendigkeit nicht transzendiert, denn es würde dann nur ein herrschaftlich organisiertes Gemeinwesen erhalten bei der Zufälligkeit, wer gerade zur Herrschaft und wer zu den zur Mehrarbeit gezwungenen Knechten gehört. Diese Zufälligkeit hätte ihren Grund immer noch in der Natur, und zwar in der Naturbestimmung „Gewalt", die selbst vergänglich ist; genau wie im Tierreich, in dem das jeweilige Alphatier ersetzt wird durch ein nächstes. Erst mit dem Gesetz zur Tradierung der Herrschaft kommt ein Moment in das sich „einfach reproduzierende" herrschaftliche Gemeinwesen hinein, das die zufällige Gewalt in beständige Macht überführt. Mit dem Gesetz (der Tradierung der Herrschaft) ist ein Moment des Unbedingten, des NichtNatürlichen, des Überempirischen in der Welt, das selbst nicht bedingten Ursprungs sein kann. Und dieses Unbedingten soll wiederum mittels eines Gesetzes (hier also des Sabbatgebots) gedacht werden: das Sabbatgebot der Israeliten entbindet alle, Herren wie Knechte, von der Arbeit und verpflichtet alle, Seiner zu gedenken,13 und das unter Beibehaltung der empirischen Herrschaft (von Menschen-Herren und Knechten). Auch wenn vermutlich die Babylonier den Siebener-Rhythmus mit einem arbeitsfreien Tag kannten, ist damit die Besonderheit des Sabbatgebots, die Realität der NichtArbeitszeit als nicht-leerer Zeit für alle (die Angehörigen des auserwählten Volks) bezeichnet. Nicht-leer ist die Nichtarbeitszeit also durch das Gebot, das Unbedingte zu denken. Die Allgemeinheit des Gesetzes für Knechte und Herren lässt die empirische
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Und das gegen Hegels Interpretation, dass am Sabbat die Knechte nur arbeitsfrei wären, während die Herren allein in „untätiger Einheit des Geistes [sich] zu halten" hätten. Vgl. Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 1, S. 286.
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Herrschaft als aufhebbar erscheinen, als eine, die selbst vergänglich oder zumindest modifizierbar sein könnte. 14
2.
Muße und wissenschaftliche Tätigkeit
Während die Babylonier den Siebener-Rhythmus mit einem allgemeinen Nichtarbeitstag kennen, wissen die Griechen (hier: Aristoteles) ohne solchen Wochenrhythmus, dass das Nichtarbeiten-Müssen, die Muße, Bedingung für eine Tätigkeit ist, die keine materielle Arbeit ist, sondern darin besteht, das Unbedingte zu denken - wissenschaftliche Tätigkeit! „Als daher schon alles Derartige geordnet war, da wurden die Wissenschaften gefunden, die sich weder auf die notwendigen Bedürfnisse noch auf das Angenehme des Lebens beziehen, und zwar zuerst in den Gegenden, wo man Muße hatte." 15 Und: „Wenn sie daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen. Das bestätigt auch der Verlauf der Sache; denn als so ziemlich alles zur Annehmlichkeit und (höheren) Lebensführung Nötige vorhanden war, da begann man diese Art der Einsicht zu suchen." 16 Diese Muße, die für einzelne nur entstehen kann, wenn andere nicht nur für sich, sondern darüber hinaus für sie zu arbeiten haben, hat die Einheit der Gattung zerrissen. Der Widerspruch des platonisch-aristotelischen Wissenschaftsbegriffs besteht dann aber in der beanspruchten allgemeinen Geltung („für sich wie für andere" 17 zu reden) der wissenschaftlichen Resultate bei gleichzeitigem Ausschluss derer, die zu arbeiten gezwungen sind. Wer genau hinsieht, entdeckt, dass bei Piaton und Aristoteles dieser Widerspruch sogar schon thematisiert, 18 wenngleich nicht gelöst wird. So ist auch bei Aristoteles auf die freie Tätigkeit verwiesen (als gefüllte Zeit, wenngleich nicht Zeit der Arbeit), die möglich (!) ist, aber den Preis hat, dass die Banausen kreatürlich existieren, obwohl das Produkt ihrer (Mehr-) Arbeit Freiheit ermöglicht, wenngleich nicht für sich! Was aber ist dafür die materielle Voraussetzung? Ein Niveau der Naturbearbeitung, das sich weder allein der Arbeit (denn sonst hätte die Arbeit die „okkulte Qualität", 19 aus sich heraus mehr zu leisten; immer wenn gearbeitet würde, käme mehr heraus! Moderner formuliert: die Arbeit wäre tatsächlich die Quelle alles Reichtums, wie die damalige deutsche Sozialdemokratie 1875 im Gothaer Programm, ganz mit den 14
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Nach Hegel Interpretation in seiner Frühschrift Der Geist des Christentum bezieht sich die Allgemeinheit nur auf die Abstinenz von Arbeit, nicht auf die Tätigkeit am arbeitsfreien Tag des Absoluten zu gedenken. Vgl. unten Anm. 23. Aristoteles, Metaphysik, [Met.], Hamburg 1982, 981 b; S. 9. Aristoteles, Met. 982 b; S. 13. Aristoteles, Met. 1006 a, S. 139. Vgl. Platon, Phaidros, Merton und Aristoteles, Politik. K. Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 538.
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KULTUR, ARBEIT UND SONNTAG
Bürgern einig, glaubte20), noch eines, das sich allein der Natur verdankt. „Die Gunst der Naturbedingungen liefert immer nur die Möglichkeit, niemals die Wirklichkeit der Mehrarbeit."21 Wenn ein gewisses Niveau der Naturbearbeitung erreicht worden ist und dieses Niveau sich weder allein der Natur verdankt noch einer okkulten Qualität der Arbeit, dann ist es immer ein wenig mehr gewesen als die Arbeit für die einfache Reproduktion, immer etwas mehr als die bloße Naturnotwendigkeit, und diese „Arbeit", die immer wieder - zunächst zufällig und unsystematisch - ein einmal gegebenes Niveau der Naturbearbeitung überschreitet, auf höherer Stufe erhält, ist keine Arbeit des Geistes, denn der „bearbeitet" immer nur eine Gestalt des Absoluten, die sein Produkt ist, sondern es ist Leistung der Kultur, die der Natur abgetrotzt ist auf der Grundlage von Herrschaft. Und damit aber auch immer ein wenig Realisation von Freiheit. Marx formuliert vorsichtig und strikt negativ: „So kann von einer Naturbasis des Mehrwerts gesprochen werden, aber nur in einem ganz allgemeinen Sinn, dass kein absolutes Naturhindernis den einen abhält, die zu seiner eigenen Existenz nötige Arbeit von sich selbst ab- und einem andern aufzuwälzen."22 Diesem „Mehr" liegt historisch Herrschaft zugrunde. Herrschaft, empirische Herrschaft, von Menschen über Menschen, die gebrochen werden kann, empirische Herrschaft, die überwunden worden ist mittels freier Tätigkeit; unbedingter Tätigkeit. - Moses überbringt die Gesetze nach erfolgreicher Flucht aus der ägyptischen Knechtschaft, die ohne göttlichen Beistand nicht hat gelingen können. Dieser Gedanke der Überwindung der Herrschaft, der Überwindung der Abhängigkeit von äußeren Zwängen (seien es persönliche, subjektive oder natürliche) ist seitdem in der Welt. Allein der Makel bleibt, Herrschaft als zumindest partiell (zu einem Siebtel, am siebten Tag, dem Sabbat) aufgehobene setzt diese als aufzuhebende voraus. Konsequenterweise gibt es im Alten Testament eine zweite Erklärung des Sabbatgebots, das ist die, die Thomas Mann in seine Erzählung eingearbeitet hat: Gedenkt mit dem Sabbat, dass der Herr euch aus der ägyptischen Gefangenschaft ins gelobte Land geführt hat, dessen Häuser ihr nicht gebaut habt, dessen Äcker ihr nicht bestellt habt. Anders formuliert: dass ihr euch der Bedingungen der Reproduktion auf einem Niveau bedient, die nicht Resultat eurer Arbeit sind, die nicht Resultat eurer notwendigen Arbeit, nicht Resultat eurer Empirie, eurer Endlichkeit sind, sondern etwas darüber Hinausgehendes; die euch als unbedingt erscheinen muss. Die im Alten Testament befindliche doppelte Erklärung für das Sabbatgebot, die in ihrer Unterschiedlichkeit noch auf Herrschaft (empirischer und göttlicher), Macht und Gewalt verweist, ist im Christentum in den Hintergrund getreten. Im Christentum ist das Sonntagsgebot „begründet" durch die zweite Schöpfung - die Erlösung durch Tod und Auferstehung des Herrn. Mit dem Gedenktag der „zweiten Schöpfung" beginnt für Christen die Woche. Für den Arbeitsrhythmus - ein jeder siebte Tag ist arbeitsfrei - ist es gleichgültig, ob der arbeitsfreie Tag nun als siebter oder als erster Tag der Woche 20 21 22
Vgl. Marx, Kritik des Gothaer Programms, Marx, Kapital I, S. 535. Marx, Kapital I, S. 534.
MEW 19, S. 15.
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interpretiert wird, und doch ist der Zusammenhang von Arbeitszeit und (nicht-leerer) Nichtarbeitszeit anders gefasst, wenn der Sonntag als Ruhetag der erste Tag der Woche ist. Damit ist zwar die Verknüpfung mit der Herrschaft unkenntlich gemacht, was damit aber betont ist, ist, dass die Arbeit, die mehr ist als Arbeit zur bloßen einfachen Reproduktion, eine Voraussetzung in der „freien Tätigkeit" hat.23 Das kann am Modell einer missverständlichen Marx-Formulierung verdeutlicht werden: „Die Notwendigkeit, die Perioden der Nilbewegung zu berechnen, schuf die ägyptische Astronomie und mit ihr die Herrschaft der Priesterkaste als Leiterin der Agrikultur." Es wäre falsch, die ägyptische Astronomie als Resultat von anderem zu interpretieren, nein: Astronomie zu betreiben, hat als wissenschaftliche Tätigkeit das Moment des Unbedingten, sonst könnten ihre Ergebnisse nicht notwendig und allgemein gelten. Gehen diese Kenntnisse dann aber in den materiellen Reproduktionsprozess ein, kann also die Ernte nur auf einem gewissen Niveau gehalten werden, wenn die Nilschwemme astronomisch fundiert vorausgesagt werden kann, dann erst wird die Astronomie notwendig; notwendig für anderes - hier die Agrikultur. Was aber an der für die Agrikultur notwendige Astronomie nun notwendig geworden ist, ist das Lernbare, das als Lernbares geronnen ist und von jeder Schülergeneration erneut angeeignet werden muss. Eine jede weitere Vervollkommnung des Wissens aber, die (neue) Kombination, die Schlussfolgerung von schon Bekanntem / bloß Lernbarem ist dagegen nicht notwendig, sondern darüber hinausgehend und kann, wenn sie wahr ist und insofern notwendig gilt, wieder in das Corpus des Lernbaren eingehen. D.h. die ursprüngliche Luxustätigkeit, wissenschaftliche Tätigkeit, kann Arbeit werden, die notwendig und damit zum Gegenteil des Luxus wird. Die freie Tätigkeit, die keine materielle Arbeit ist, ist die Tätigkeit, die das Unbedingte denken soll, es ist die theoria, und diese theoria kann durchaus zu Resultaten führen, die selbst wieder Wirkungen auf die materielle Arbeit haben. Sie kann solche Resultate haben - siehe das soeben erwähnte Beispiel - , muss aber nicht solche Resultate haben und wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein auch nicht um solcher Zwecke willen betrieben. Die erwähnte Differenz von Sonntag und Sabbat wird von Hegel ignoriert, zumindest aber nicht entwickelt. Die erwähnten Stellen zum Sonntag betonen allein die Teilung der Woche, ohne dass die Tätigkeit des einen Teils Auswirkungen auf die des anderen hätte.
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Dieser Wechsel mag - ohne dass es ausgeführt ist - der Grund für Hegel Polemik gegen das Sabbatg'ebot sein. Im Geist des Christentums heißt es: „Aber sehr charakteristisch ist die Feier jedes siebten Tages; Sklaven muß dies Ausruhen von der Arbeit willkommen sein, ein Tag des Nichtstun nach sechs mühevollen Tagen; aber für sonst freie, lebendige Menschen sich einen Tag in einer bloßen Leerheit, in einer untätigen Einheit des Geistes zu halten und die Zeit, die sie Gott weihten, zu einer leeren Zeit zu machen und diese Leerheit sooft wiederkehren zu lassen, konnte nur dem Gesetzgeber eines Volkes einfallen, dem die traurige, ungefühlte Einheit das Höchste [ist], das das sechstägige Leben seines Gottes im neuen Leben einer Welt seinem Gotte entgegensetzt, es als ein fremdes Herausgehen aus sich betrachtet und ihn darauf ausruhen lässt." Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 1, S. 286.
K U L T U R , A R B E I T UND SONNTAG
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Würde aber - und soweit hat Hegel recht - die freie Tätigkeit, die unbedingte Tätigkeit, ja die wissenschaftliche Tätigkeit, um der werktätigen Zeit willen genommen, wäre der Sonntag in der jüdisch christlichen Bedeutung dahin, Hegel: „Der Mensch arbeitet die Woche durch um des Sonntags willen, hat nicht den Sonntag um der Wochenarbeit willen." Dass die wissenschaftliche Tätigkeit als um der werktätigen Zeit willen gefordert und gefordert wird, ist spätestens seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Fall; dass wissenschaftliche Tätigkeit allgemeine Arbeit geworden ist, die heute, wie es im Jargon heißt, Innovationen notwendig macht, um „unser" Bestehen im (endlosen) Konkurrenzkampf der Globalisierung zu ermöglichen, darf nicht dazu verführen, „Philosophie als Sonntag des Lebens" (soweit diese überhaupt noch geduldet wird) rückwärtsgewandt einzuklagen, sondern Philosophie hat die - paradox ausgedrückt - einfache Reproduktion des „Immer mehr" auf den Begriff zu bringen und insofern die Voraussetzungen und Gestehungskosten der Teilung von Werktag und Sonntag zu thematisieren, in der untrennbar Herrschaft mit Freiheit als Kultur verknüpft sind. Das kann nur - gegen Hegel - der Geist, der das Arbeitwesen, den Werktag, die prometheische Technik nicht allein der Endlichkeit zuschlägt; sondern in ihnen Freiheit in verkehrter Gestalt erblickt.
3.
Nachtrag
In der zitierten Hegel-Formulierung wird mittels einer Metapher („Verkehr mit der Philosophie ist der Sonntag des Lebens") der Übergang zu einer Analogie gemacht. Denn: Der Sonntag, diese „größte Institution [nach der] im gewöhnlichen bürgerlichen Leben die Zeit verteilt ist [...] [und] der Mensch die Woche durch um des Sonntags willen arbeitet und nicht den Sonntag um der Wochenarbeit willen", würde doch analog bedeuten, dass er sich zum Werktag verhält wie die Philosophie zu den Einzelwissenschaften, die die Verbindung zur „Endlichkeit", „zu den Geschäften des Werktags" haben. Wenn das mit dieser Analogie in der zitierten Passage ausgedrückt sein soll, dann wären nach Hegelscher Behauptung die anwendbaren, nützlichen, instrumentalisierbaren Einzelwissenschaften um der Philosophie willen da, um entweder Zeit für den Verkehr mit der Philosophie zu ermöglichen oder aber um in Gestalt ihrer Erkenntnisse der Philosophie das Material vorzulegen, damit diese es als Ausdruck des Absoluten ordnend begreifen kann. Beide möglichen Konsequenzen missachten aber die gesellschaftliche Funktion der Naturwissenschaften. Die durch die instrumentalisierbaren Naturwissenschaften mögliche Arbeitszeitverkürzung schafft unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen nämlich keine freie zu erfüllende Zeit, sondern dient Subjekten, die keine natürliche Personen sind, im endlosen Konkurrenzkampf zu überleben und wird so zu einem den Menschen äußerlichen Selbstzweck. Während die andere Konsequenz entweder die Philosophie ganz gegen Hegels Absicht doch erbaulich sein ließ, oder aber
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sie, die Philosophie, zwingt das besondere denkende Wesen dazu, die Notwendigkeit als Freiheit einzusehen und mag es - wie Hegel schreibt - noch so „herb"24 sein. Weil letzteres aber nicht aufgeht25, muss das Verhältnis von Sonntag und Werktag genau wie das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaft - in der Folge von Hegel anders gefasst werden.
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Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970, Bd. 7 S. 434: „Man muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren und einsehen, dass wenn es schwer ist die Natur zu begreifen, es noch unendlich herber ist, den Staat zu fassen." (§ 272, Zusatz). Vgl. H.-G. Bensch, „Affirmation und Kritik", in: Zwischen Konfrontation und Integration, hg. von A. Arndt u. J. Zovko, Berlin 2007, S. 99-110; ders., „Staat und Philosophie. Kants Streit der Fakultäten bei Hegel", in: Hegel-Jahrbuch 2009, Berlin 2009, S. 133-138.
SAMIR ARNAUTOVIC
Skeptizismus und Kultur in Hegels Philosophie
1.
Skeptizismus und Negation
Die Behandlung des Problems der Negation in Hegels Philosophie im Kontext des Verständnisses der Hegeischen Philosophie als dem Ende Metaphysik und im Kontext der zeitgenössischen Diskussion als dem Ende der Moderne bedeutet, sich an die wesentlichen Anstrengungen des Hegeischen Denkens anzunähern und dieses aus der Perspektive von dessen Zeitlichkeit anzugehen. Es versteht sich von selbst, dass diese anspruchvolle Aufgabenstellung keine direkte Herangehensweise oder eine völlige Transparenz des Untersuchungsgegenstandes zulässt. Selbst wenn man von Heideggers Interpretation der Hegeischen Philosophie im Kontext der Auslegung des Seinsganzen ausgeht, bleiben die Forderungen der modernen Deutung unerfüllt, und zwar dort, wo sich die Frage nach dem Aufbau seines monumentalen Gedankensystems stellt. Hegels philosophisches System muss von der Auslegung der Philosophiegeschichte als der Voraussetzung der Möglichkeit des modernen Denkens her verstanden werden. Gerade das Verhältnis zur Tradition ist die wichtigste Voraussetzung der Perspektive auf die Moderne und der Lösung der Probleme in der modernen Zeit. Auf diese Weise ist in Hegels Metaphysik das Schicksal der modernen abendländischen Philosophie eingeschrieben und ihre Voraussetzungen sind nicht lesbar als Teil einer Eschatologie des Selbstbewusstseins oder als Produkt des westlichen Denkens, sondern als Horizont der vielfältigen Möglichkeiten der Bedeutung. Daher bedeutet die Rede über Hegel immer auch die Rede über die Philosophiegeschichte, über ihr Ende und die Perspektiven einer kritischen Überwindung des traditionellen Sinns der Metaphysik. Das Denken des Seins bei Hegel bedeutet das Denken der Negation, und zwar der Negation im Sinne der reinen Form. Das bedeutet, jede Gewissheit und jeden als Wahrheit postulierten Sinn direkt in Frage zu stellen. Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Hegel dies für die Hauptbestimmung der ganzen Philosophiegeschichte hält, so dass sein Denken deswegen im Widerspruch zur Tradition steht, weil es die endgülti-
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Samir Arnautovic
ge und vollständige Negation jedes bisher gewissen Sinns darstellt. In letzter Instanz erscheint seine Philosophie als die Vollendung des Nihilismus, als Nihilismus par excellence, und die äußerste Negation jeder bisher postulierten Wahrheit. Die absolute Wahrheit wird damit zum absoluten Endpunkt des Nihilismus, in dem man, wie Heidegger sagt, das Nichts will. Hegels absoluter Geist ist in diesem Sinne die absolute und endgültige Instanz der nihilistischen Perspektive der Weltauslegung, in der die absolute Selbstgenügsamkeit und die Selbstangewiesenheit die Negation jedes Werts der objektiven Welt bedeutet. Die Wahrheit ist Hegel das Wesen, das sich im Laufe seiner Entwicklung erschöpft; sie ist das Ergebnis einer absoluten Negation des Wesens, und erst am Ende wird sie zu dem, was sie wirklich ist. Als das Ergebnis ist sie nichts wert, nur als Negation hat sie eine Chance, alles zu werden. Das Wesen der Wahrheit in ihrer absoluten Bedeutung besteht in der Negation allen Bestehenden; alles was ist, bekommt eine Bestätigung durch seine eigene Negation und einen gewissen Ausgang aus sich selbst. Erst wenn es sich durch Negation von sich selbst entfernt, wenn es nicht mehr das ist, was es am Anfang war, kommt das Wesen zu seiner Wahrheit. Seine Wahrheit wird daher lesbar als die Wahrheit der absoluten Negation, und das Absolute ist auf keine andere Art und Weise möglich als durch eine vollständige und unersetzliche Negation.1 Hegels System erscheint auf dieser Ebene als eine Form der Negation, die an ihr Ende gekommen ist, und deren Wahrheit schon auf der ersten Ebene der Erkenntnis des Absoluten durch unmittelbare Einsicht enthalten ist. In diesem Sinne ist Hegels Begriff vom Tod der Kunst eine prophetische Ankündigung der Entwicklung, die sich, wovor später Vattimo warnen wird, im Fortschritt der modernen Gesellschaft bewahrheitet, und zwar auf eine verkehrte Art und Weise der „Verwirklichung". Hier ist es möglich, im weiteren Kontext von der Auflösung des Werts der Klassik und der Metaphysik zu sprechen. Es bleibt die Frage, ob Hegel damit auch an das Ende der Metaphysik denkt, bzw. ob dieses Ende in ihrer Verwirklichung zu suchen ist. Es scheint, dass wir auf diese Frage eine positive Antwort geben können. Wenn man in diesem Zusammenhang vom Skeptizismus als dem Ausgangspunkt oder der ersten Ebene der Hegeischen Philosophie (Fulda) sprechen kann, dann muss man im Auge behalten, dass dieses Anfängliche in seinem System in einem höchsten Punkt endet; es findet nämlich seine Bestätigung und endgültige Anerkennung in der Instanz der Vollendung und Selbstbestätigung des Systems im Absoluten. Skeptizismus ist daher kein Ausdruck der Unreife des Denkens, sondern eine unumgängliche Instanz in der Bewegung des Denkens auf die Wahrheit hin, welche sich wiederum als die skeptische Negation des Seins herausstellt. ,Jiegel nimmt den antiken Skeptizismus als ein Verfahren (sowie eine dementsprechende Einstellung) des Denkens, und zwar so, daß das Verfahren bzw. die Einstellung gegen Denkbestimmungen des Endlichen und die 1
Nur in diesem Zusammenhang ist der Geist möglich als das Wissen über sich selbst in seiner Entfremdung (Phänomenologie des Geistes), ein Wissen also, dessen Wesen in der Bewegung besteht und sich darin ausdrückt, dass es Kraft hat, in seinem Anderssein die Einheit mit sich selbst zu bewahren.
SKEPTIZISMUS UND KULTUR IN HEGELS PHILOSOPHIE
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Verabsolutierung des Denkens in ihnen gerichtet ist."2 Der Skeptizismus erscheint in einer gewissen Weise als ein mächtiger Kampf gegen die Irrungen der Erscheinungswelt. Für Hegel bedeutet dies den Weg zum absoluten Wissen im Sinne eines Beginns der Entwicklung des Selbstbewusstseins als der „einzigen Philosophie" (Schelling). Die Erfüllung des skeptischen Ideals vollzieht sich hier in zwei Richtungen: in der Negation von allem, was als endgültig und in sich unvollständig erscheint und als geschlossene Wahrheit der Welt nur in jenem Sinne den Skeptizismus überflüssig macht, in dem diese als absolute Negation zugleich die absolute Synthese des Seins in der Welt darstellt. In diesem Sinne wird Fulda den Skeptizismus in Hegels Philosophie vor allem als die grundlegende Versuchung des Denkens, das eine Vollendung der Metaphysik anstrebt, verstehen. Aber den Skeptizismus sollte man andererseits nicht als eine theoretische Voraussetzung verstehen. Der Skeptizismus ist vielmehr in der Realität der Kultur verankert als ein Ort, von dem aus sich die kulturellen Voraussetzungen des Abendlandes entfalten. Daher hat Kultur für Hegel keinen besonderen Ort als Phänomen; von ihr ist immer die Rede, wenn vom westlichen Denken, der Metaphysik, der Wissenschaft und dem Skeptizismus als ihrem Ausgangspunkt die Rede ist. In diesem Sinne unterscheidet Hegel den antiken und modernen Skeptizismus; er unterscheidet sie als Kapitel einer Kultur, die durch Negation vom Fortschritt geprägt ist.3 Ebenso wie die Frage des griechischen Skeptizismus für Hegel mit der Frage nach dem Verstehen der griechischen Kultur insgesamt gleichgesetzt ist, verweist das Verstehen des modernen Skeptizismus auf das Verstehen der modernen Philosophie und der Kultur überhaupt. Diese Anstrengungen zeigen sich hier in einem vorbegrifflichen Charakter, in welchem sie nicht endgültig definiert sind, oder noch gar nicht dabei sind, bestimmt zu werden. Eine solche Anstrengung kann man schon bei Aristoteles in dem Ausgangspunkt seiner Metaphysik finden.4 Forster besteht in seiner Interpretation darauf, Hegels Auffassung der Kultur durch den Skeptizismus zu verstehen. Er zeigt die antiskeptische Seite von Hegels epistemologischer Strategie, die in der Überwindung des Skeptizismus in der absoluten Wahrheit ihren Endpunkt findet. Der Skeptizismus ist der Ausdruck der inneren Widersprüche; er existiert mit Grund, und zwar mit einem Grund, der aus den Sachen selbst kommt.5 Der Skeptizismus ist in einem gewissen Sinne eine vorwissenschaftliche, in der Lebenswelt implizierte Ebene, welche eine transzendentale Quelle des abendländischen Denkens darstellt. Etwas zugespitzt gesagt erscheint sie als die Quelle der Kultur insgesamt. Die Position des Skeptizismus ist von einer paradoxalen Struktur gekennzeichnet;
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Hans Friedrich Fulda, „Einleitung", in: Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, hg. von H. F. Fulda und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1996, S. 23. Siehe dazu Michael N. Forster, Hegel and Skepticism, Cambridge (MA) und London 1989, S. 11. In diesem Sinne sollten vor allem Heideggers Bemerkungen in seinen Aristoteles-Interpretationen berücksichtigt werden. Siehe Forster, Hegel and Scepticism, a.a.O. (Anm. 3), S. 55.115.
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Samir Arnautovic
er fördert und entwickelt das Verstehen, er regt zur Wissenschaft an und steht gleichzeitig als ihre innere Negation im Widerspruch zu ihr. Franco Chiereghin unterstreicht diesbezüglich: „Der negative Weg der Skepsis ist schon an und für sich eine Befreiung und hat als positives Gegenstück eine Freiheitshandlung."6 Natürlich sollten eschatologischen Konnotationen, die bei Hegel hier wiedererkannt werden können, zuerst beiseite gelassen werden; trotzdem ist sein Versuch der Begründung einer globalen Hermeneutik des Denkens unschätzbar wichtig.7 Chiereghins Bemerkungen zur Bedeutung des Skeptizismus in Hegels Philosophie sind annehmbar, weil sie die Bedeutung der Hegeischen Philosophiegeschichte für das moderne Verständnis der Tradition betonen. Man sollte nicht aus den Augen verlieren, was Chiereghin, wenn er vom Skeptizismus bei Hegel spricht, in den Vordergrund rückt: „Das erste und offenkundigste Merkmal, das ihn zu einem Dokument des Skeptizismus werden läßt, ist seine Fähigkeit, die Bestimmungen des endlichen Denkens zu zerstören, ,die negative Seite der Erkentniß des Absoluten' zu sein und .unmittelbar die Vernunft als die positive Seite' vorauszusetzen. Das zweite Merkmal ist, daß er nicht ,ein besonderes Ding' von einem System ausmacht, sondern selbst ein vollendetes und für sich stehendes System ist."8 Wenn man all dies berücksichtigt, kann der Skeptizismus für Hegel nichts anderes sein als die Erfahrung dessen, was die Freiheit des Gedankens ist.9 Für Hegel ist der Skeptizismus nicht nur irgendeine notwendige Instanz des Denkanfangs, sondern ein grundlegender Umriss des gesamten Diskurses der abendländischen Metaphysik. Martin Gessmann hat dies im Sinn, wenn er, ähnlich wie Forster,10 bei der Betrachtung der Hegeischen Interpretation von Piatons Parmenides hervorhebt: „Der Parmenides führt ,die Bewegung des Logischen' ,in reinen Begriffen' aus und stelle so das systematische Pedant zur eigenen Logik dar."11 Gessmann zeigt, dass für Hegel im Parmenides die offene Frage des Einen bleibt, wo sich zeigt, dass These und Antithese Eins bilden, was die Skepsis zu einem notwendigen Teil der Erkenntnis und der Bedingung für die Öffnung des Diskurses im Denken der Totalität macht. „Die Wahrheit, die hier in der Methode liegt, zeigt sich demnach vor allem darin, welche Haltung man ihr ge6
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Franco Chiereghin, „Platonische Skepsis und spekulatives Denken bei Hegel", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S. 48. Hier scheint mir Hegels Bestehen auf der Phänomenologie als dem Ausgangspunkt einer solchen Hermeneutik und dem entscheidenden Ort des gesamten ontologischen Diskurses seiner Philosophie bemerkenswert zu sein. Chiereghin, „Platonische Skepsis", a.a.O. (Anm. 6), S. 29. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt/M 1970, S. 159. Forster wird in Hegel and Skepticism konsequent den Ansatz weiter verfolgen und die These aufstellen, dass Piatons Parmenides in der Interpretation Hegels ein Beispiel für die Struktur des Skeptizismus ist. In diesem Sinne wird noch einmal der Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles dargestellt, wo Aristoteles in einer deutlich antiskeptischen Bestimmung gelesen wird. Martin Gessmann, „Skepsis und Dialektik. Hegel und der Platonische Parmenides", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S. 50.
SKEPTIZISMUS UND KULTUR IN H E G E L S PHILOSOPHIE
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genüber einnimmt, oder, anders gewendet, wie ernst man es mit ihr wirklich meint."12 Das, was der Skeptizismus bei Hegel beseitigt, ist die Differenz, die ständig und unveränderbar zu sein scheint. Der Skeptizismus beseitigt die gleichgewichtige Gewissheit der Unveränderbarkeit. Damit wird das Gebiet der Kultur gebildet, welches sich durch die Abschaffung der Differenzen und der Konstituierung der Identität im Äußeren ausdrückt. Auf diese Weise wird die Negation als das grundlegende Prinzip des Hegeischen Denkens erkannt, aber auch als die innere Logik des Gesamtgeschehens, dem dieses Denken entspricht, und das sich durch Kultur äußert.13 In diesem Sinne wird die nihilistische Anstrengung der absoluten Negation alles Bestehenden zum Versuch der Lösung konkreter Lebensprobleme, des Sinns der konkreten Gegenständlichkeiten, welche unmittelbar in die determinierenden Umstände der Existenz in der Welt eingeschlossen sind. Hegels Streben danach, bereit zu sein für die logische Versöhnung der Gegensätze, die für die Realität bestimmend sind, stellt sich hier als der Versuch der Lösung der praktischen Fragen der modernen Welt heraus. Die Aufhebung des Nihilismus und die Überwindung der unversöhnlichen Gegensätze erscheint hier als Anstrengung für eine Rückkehr zur Welt und zur Versöhnung mit ihr, in welcher der Mensch seine wahre Natur wiederfindet. Der christlich intonierte Diskurs der Hegeischen Philosophie ist in diesem Sinne verständlich als Zugehörigkeit zur Tradition und als Folge des Einflusses, den jene auf seine philosphischen Ansichten ausübt. Aber gerade der Ausruf Gott ist tot, der antireligiöse Ausdruck par excellence, der nur für eine oberflächliche Lektüre überraschend ist, gehört bei Hegel konsequenterweise zu seiner Logik des dialektischen Geschehens. In dem Diskurs der Metaphysik beheimatet zu sein bedeutet, unumgänglich auch dessen kritische Überprüfung immer wieder vorzunehmen. Bei ihm zeigt sich zum ersten Mal, dass das Verstehen der westlichen kulturellen Bestimmungen vor allem das Verstehen der westlichen Metaphysik bedeutet. Das kommt daher, weil die Philosophie für Hegel, so widersprüchlich das klingen mag, in einer letzten Konsequenz ein Denken der Realität und der praktischen Probleme ist. Der Geist ist jenes, was es in seinem Phänomen ist, genauso wie das Denken in letzter Instanz das ist, was es in der kritischen Eröffnung durch den Skeptizismus ist. Daher ist die Philosophie nicht anders möglich denn als Nihilismus, als die Negation von allem Bestehenden, das seine Wahrheit nur in der Negation haben kann.14 Forster zeigt deutlich, dass jenes, wofür sich Hegels Idealismus interessiert, nicht der Glaube, 12 13
14
Ebd., S. 55 Das metaphysische Konzept der Logik, seine Bedeutung für die Philosophie überhaupt, woraus sich die Möglichkeit für die Erkenntnis des Ortes Hegels in den geschichtsphilosophischen Bedeutungen im Hinblick auf die Fragen der Logik ergibt, erörtert Nijaz Ibrulj sehr gut in seinem Buch Filozofija logike (Philosophie der Logik), Sarajevo 1999. Für uns ist hier vor allem der erste Teil des Buchs, das Kapitel mit dem Titel Metafizicki koncept filozofije logike (Das metaphysische Konzept der Philosophie der Logik) interessant. Vgl. Michael Forster, „Hegel on the Superiority of Ancient over Modern Skepticism", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S. 65.
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sondern das Wissen ist, und dass andererseits seine Philosophie durch die mit der Negation einhergehenden nihilistischen Konnotationen als „eliminatorischer Idealismus" fassbar wird. Die Bedeutung, die hier der Skeptizismus als Bewusstsein des Widerspruchs hat, besteht in Hegels Aufdeckung der Metaphysik als eines wesentlich nihilistischen Denkens. Die innere Widersprüchlichkeit suggeriert eine Unhaltbarkeit in der Gewissheit und die Notwendigkeit des Verfalls. Hegel konnte aber nicht sehen, dass das Ende des Nihilismus als letzte Instanz der Geschichte der Metaphysik nicht möglich ist in seiner vollständigen Nivellierung und Selbst-Einschließung in die Architektonik des einen Sinns, sondern nur in der Offenheit der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Daher konnte er auch nicht den Diskurs der Umwertung aller Werte eröffnen, sondern war dem endgültigen Aufbau der Werte als einem Sein verpflichtet, das in seiner höchsten Ausformung eben - das Nichts ist. Aber Hegels Metaphysik erscheint auf dieser Ebene als schicksalhaft unumgänglich, als eine notwendige Versuchung des Denkens in Richtung einer Wahrheit als Ganzheit Vittorio Hösle wird in diesem Sinne die Konzeption der Hegeischen Philosophie als eine Synthese von Realismus und subjektivem Idealismus verstehen, in welchem der Unterschied zwischen Subjektivem und Objektivem dadurch überwunden wird, dass der Diskurs der (subjektiven) Betrachtung der Welt mit der objektiven Realität der Welt, welche der Gegenstand der Betrachtung ist, gleichgesetzt wird. Kants Einfluss ist hier evident, aber bei Hegel gibt es noch eine besonders betonte Intention des Denkens. Sie ist in der Anstrengung ausgedrückt, objektive Probleme des Seins zu lösen. Erst auf dieser Ebene kann man Hegel als den Denker der Objektivität verstehen, welcher in der Negation jedes objektiven Wertes und jeder Konstanz diese Objektivität auf eine höhere Potenz bringt. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass auf diese Weise Hegel zum ersten Mal die objektive Wirklichkeit auf die Ebene eines wahrhaften Wertes bringt und sie damit affirmiert und gegen die rationalistischen Tendenzen der Neuzeit in Schutz nimmt. Sie wird als solche in den Bedeutungen der Kultur denkbar und ist damit ein Gegenstand des Interesses der Phänomenologie des Geistes. Diese selbst ist in einem gewissen Sinne die Wissenschaft von der Intelligenz und ihren existenten Formen, die in der Realität der Wirklichkeit erkennbar sind. Wenn man ihn aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint der Skeptizismus als Ausdruck der inneren Struktur des Weltgeschehens. Er gehört zur ontologischen Struktur des Seins, von der her dann das Denken in der Bedeutung des Seins lesbar wird - wie in der Phänomenologie des Geistes- , aber nicht als Form des Denkens, sondern als eine nihilistische Tendenz. Der Skeptizismus ist für Hegel dann relevant, wenn er auf der Ebene des Nihilistischen erscheint, wenn er aber als Bewusstsein für sich, das abgetrennt ist von seiner nihilistischen Totalität ist, erscheint, verliert er diese Relevanz und wird zum Dogmatismus: „Im Begriff des Skeptizismus selber liegt es also, daß die bestimmte Negation, die ihn zum sich vollbringenden Skeptizismus qualifiziert, nicht allein und ohne weiteres für die Reihenfolge der Gestalten innerhalb der Phänomenolo-
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gie des Geistes aufkommen kann."15 Claesges wird am Ende den Schluss ziehen, dass: 1. der Skeptizismus die Methode der Phänomenologie des Geistes ist und dass er als solcher in dem Augenblick, wo er sich von der Negation als seiner Grundlage entfernt, gegen die Philosophie selbst antritt, sowie dass 2. der Skeptizismus die Methode des Anfangs ist, der als solcher ein Teil der Methode des Ganzen ist. Außerhalb der nihilistischen Grundlage seines Erscheinens wird der Skeptizismus systemisch kontraproduktiv und er verlässt den Diskurs der Philosophie als Selbstbewusstsein der bzw. Wissen über die Welt als das Seinsganze. Aber gerade im Hinblick auf die spezifische Position des Skeptizismus und dessen Sonderstellung in den Anfängen des Denkens ist „für Hegel ist der gesamte Gang der Moderne - nicht jedoch einzelne philosophische Positionen innerhalb seiner - in dem Umkreis des Skeptizismus eingeschrieben".16 Den Skeptizismus verstehen, so kann man schlussfolgern, heißt heideggerianisch, das metaphysische Wesen der Moderne zu verstehen und die Philosophie in ihrer nihilistischen Orientierung des traditionellen Denkens zu sehen. Andererseits wird auf einer zweiten Ebene die Frage nach dem Skeptizismus eine Frage nach der Kultur und ihren Lebensformen. Hier liegen die Ausgangspunkte für die interpretativen Anstrengungen, in denen Hegels Philosophie als ein epistemologischer Realismus zu lesen ist, in dem die These aufgestellt wird, dass die Identität der Sache auf quantitative Begriffe der „Einheit" und „Mannigfaltigkeit" (im Sinne der Ganzheit und des Teils) zurückzuführen ist. Daher wird es möglich, das Ganze der menschlichen Erkenntniskraft auf die BegrifFswahrnehmung zu reduzieren. Hier können Parallelen nicht nur zu Kant, sondern auch zu Hume gezogen werden, woraus hervorgeht, welchem Einfluss Hegel ausgesetzt wurde, als er sich mit dem Empirismus als einer Sonderrichtung in der Philosophie als Geschichte des Selbstbewusstseins auseinandersetzte.17
2.
Kultur des Idealismus
Der Begriff Negativität als Instanz der Überwindung und des Fortschreitens ist bei Hegel nicht endgültig durch den Widerspruch bestimmt, sondern seine wesentliche Bestimmung besteht gerade in der Möglichkeit der Versöhnung aller Gegensätze. In diesem Sinne wird beispielsweise die negative Tätigkeit des Geistes gegen die Natur als das Werden der absoluten Instanz erfüllt; in dieser wird und ist diese Substanz gleichzeitig. Damit wird die grundlegende Richtung des Denkens der Hegeischen Metaphysik der Objektivität eingeschlagen, in welcher alles Gedankliche als Sein auslegbar erscheint. Die Idee wird auf diese Weise als objektive Realität aufgefasst. 15
16
17
Ulrich Claesges: „Das Doppelgesicht des Skeptizismus in Hegels Phänomenologie des Geistes", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S.126. Felix Duque, „Die Selbstverleugnung des Endlichen als Realisierung des Begriffs", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S.142. Siehe: Keneth R. Westphal, Hegel's EpistemologicaI Realism, Doordrecht 1989.
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Der objektive Realismus, der auf diese Weise konstituiert wird, stellt sich im Bereich der Kultur, aus der abstrakte Wesenheiten verstehbar werden, als Diskurs einer Universalwissenschaft dar. Kultur konstituiert sich so aus dem Denken selbst. Reale Lebensverhältnisse können hier als Realitäten des Geistes interpretiert werden und der Geist selbst als die bestimmende Instanz der Wirklichkeit. Dadurch wird auch die kritische Lektüre der Phänomenologie in drei Richtungen verlaufen: 1. als Auslegung der allgemeinen Probleme der Hegeischen Philosophie, im Sinne einer umfassenden Einsicht in das philosophische System; 2. als Erörterung der Entwicklung der Philosophie; 3. als Auslegung des Hegeischen Systems im Kontext der Geschichte der Metaphysik und des Verstehens dessen, was als das Wesen des metaphysischen Diskurses charakterisiert sein wird. In dieser dritten Richtung wird die wahre Rolle Hegels und seine Stellung in der Geschichte der Philosophie aufgedeckt, wodurch er auch seine Bedeutung im zeitgenössischen philosophischen Diskurs hat. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Philosophiegeschichte nicht, zumindest nicht auf eine relevante Art und Weise, linear verstanden werden kann. Diese Richtung ermöglicht die Erkenntnis des Ziels der phänomenologischen Entwicklung in der Interaktion des Selbstbewusstseins und der inneren Erfahrung des Bewusstseins durch die Aufstellung dieser Polaritäten in der Reflexion der Totalität der Verhältnisse bzw. des Geschehens des Seins in der Welt. Erst dadurch kann man den Sinn sehen, in welchem das Leben und Selbstbewusstsein als Einheit des Fürsichseins und Andersseins durch Kategorien der Unendlichkeit erscheinen, welche eigentlich die letzte Möglichkeit der Realisierung dieser Beziehung als Objektivität des Seins in der Welt sind. Darin liegt die Grundlage jener Sichtweise, wo die Dialektik von Herr und Knecht als Grundlage des gesamten Geschehens der Geschichte gesehen wurde, und in welcher als unmittelbarer Sinn der Realität Kultur und kulturelle Bedeutungen erscheinen. Hier wird der Skeptizismus als Ausgangserfahrung des Denkens und Anfangsinstanz der Bewusstseinsbildung erkennbar. Daher zeigt sich die Positivität des Skeptizismus als ambivalent für die Möglichkeit der weiteren Entwicklung des Denkens, und die Metaphysik selbst äußert sich, in Heideggers Sinne, durch den Diskurs der Negation in ihrer schicksalhaften Bedeutung für die Geschichte des Abendlandes. Natürlich kann diese Negation nur durch die Konstitution der Identität festgestellt werden, welche bei Hegel als Einheit von Wesen und Gedanke erscheint. Daher ist in der Endbedeutung dieser Idee Identität die Identität mit sich selbst, und das Ich selbst erscheint hier mit dem eigenen Nichts der Totalität des Geschehens. Durch diese Identität wird Kultur als Phänomen des Geistes denkbar, in welcher sich die konstante Tendenz der Selbsterkenntnis, aber auch die Entwicklungsstufe des Geistes und seines Fortschreitens äußert. Aufgrund der Negation bedeutet für Hegel „Sein" soviel wie „von Gedanken erfasst sein", und das Denken des Seins im Ganzen ist die Totalität der weltgeschichtlichen Bedeutungen Die endgültige Instanz der Bestätigung des Denkens ist die vollständige Indifferenz gegen das Gesamtgeschehen und die eigene Existenz darin. Daher wird für Hegel in der Phänomenologie die Einheit und Differenz von Ich und Natur sowie von
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Ich und Geschichte wesensgleich.18 Eine so konstituierte Einheit von Denken und Sein führt unausweichlich zum Tod Gottes, zur Aufhebung der abstrakten Idee Gottes, in welcher die Einheit des Subjektiven und Objektiven im ganzen verlorengegangen ist. Die Aufhebung der vorherrschenden abstrakten Negativität erscheint als eine grundlegende Herausforderung des Geschehens des Nihilismus als der Erfahrung des Nichts, welche mitbestimmend für die Gegenwart ist, in welcher gerade sie als eine Grundlage neuer Möglichkeiten erscheint. Der Tod Gottes ist der Ausdruck der Vollendung des philosophischen Systems, dessen Erfüllung und der Schließung der Lücke, die in der Ohnmacht des Denkens vor der Frage nach der Totalität des Seins klaffte. In einem gewissen Sinne zeigt sich hier die Bestätigung der erfüllten Negation, es wird der Beweis der vollständigen Erfassung des Seins durch das Denken geliefert, was der Definition der Wahrheit entsprechen würde. Mit anderen Worten: die Metapysik der Identität, welche Hegel konstituiert, zeigt, dass die Wahrheit kein leeres Nichts sein kann, sondern eine durch die Negation gebildete Einheit von Denken und Sein, Subjekt und Objekt ist, welche in dieser Einheit eine produktive nihilistische Situation bilden. Der Nihilismus stellt sich hier als die Philosophie des Realen par excellence dar, aber erst nachdem die negative Einheit des Seins als Vernünftigkeit etabliert ist, was das Denken des Realen in diesem Zusammenhang scheinbar in den Hintergrund rückt. Hierin zeigt sich die Besonderheit des hegelschen Nihilismus, den der skeptisch-subjektive Rückzug in die innere Freiheit charakterisiert.19 Er wird als solcher als ein harter Weg zur positiven Wahrheit verstanden bzw. als Bewegung des Denkens, das auf die Erklärung der eigenen Position in der Welt hinarbeitet. Es ist der Weg der Selbstaufhebung, wo als Bestehendes nur die Totalität verbleibt.
3.
Nihilismus als Ausgangspunkt
Wenn man Hegels Philosophie im ganzen betrachtet, wird es möglich, den Übergang vom unglücklichen Bewusstsein zur Vernunft als das innere Programm eines aktiven und wahrhaftigen Nihilismus zu verstehen, welcher schließlich das Ende des Nihilismus sein will. Der Nihilismus seiner Philosophie ist eine Synthese des Wirklichen und Vernünftigen, dessen Unendlichkeit in dem Geist ausgedrückt ist, und zwar vor allem im endlichen Geist. Als Synthese ist sein Nihilismus eine sinnhafte geschichtliche und theoretische Figuration, die an sich eigentlich eine dialektische, selbstkritische vernünftige Idee ist. Er ist die Frage der Sinnhaftigkeit als jene Frage, welche das Denken des 18
19
Siehe Wolfgang Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Bonn 1977, S. 175. Bonsiepen wird durch den Modus der Negation die Möglichkeit der diesbezüglichen Lektüre der Philosophie Hegels aufzeigen, indem er sie als Philosophie des Realen und der lebensbestimmten Anstrengung des spekulativen Idealismus versteht. Siehe Michael O. Hardmon, „Skepticism, Spekulation, and Guidance: Hegel on the Pyrrhonian Guide to Action", in: Skeptizismus und spekulatives Denken, a.a.O. (Anm. 2), S. 269.
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folgenden Jahrhunderts bestimmen wird. Er selbst stellt diese Frage als ein radikaler Nihilist. Daher stellt sich die Frage der Negation, von welcher bei Hegel erst aus der Perspektive des Ganzen des Systems die Rede sein kann, als eine der zentralen Fragen bei ihm heraus, und zwar im Hinblick auf die Erörterung der Ganzheit der Möglichkeiten, die er selbst vor allem in der Jenaer Periode ins Auge fasste. Wenn man die Geschichte der Philosophie im Blick hat, vor allem die Auffassung ihrer grundlegenden Aufgabe, kann man sagen, dass bei Hegel die Metaphysik als Geschichte des Nihilismus erscheint. Dort, wo er die Negation als Grundlage des Denkens nicht vorfindet, verzichtet Hegel auf diese Philosophie und Tradition. Jede Einbeziehung eines anderen Diskurses würde die Auflösung der inneren Logik des ganzen Systems bedeuten, weshalb es unmöglich wäre, die Wahrheit als Ganzheit und die dialektische Prozessualität des Geschehens für die Fortschreitung des Bewusstseins zu postulieren. Hier zeigt sich die Erkenntnis der Wirklichkeit in einer relativierten Bedeutung, wo sie durch Negation eigentlich als Argument der Logik aufgestellt ist, nicht aber als deren Auftraggeber Die moderne Kultur kann in diesem Sinne in ihrer Bestimmung durch den Nihilismus betrachtet werden. Sie erweist sich in letzter Instanz als eine nihilistische Kultur, in welcher das Denken der Negation als ihre grundlegende Bestimmung erscheint. Diese Negativität hat ihre Konsequenzen in der virtuellen Wirklichkeit, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts als vollständige Negation der Realität herausstellt. Das ist gleichzeitig der Weg, auf dem der Geist sich selbst in seiner eigenen Negation überwindet. Bernhard Dinkel liest Hegels subjektiven Idealismus als den nihilistischen Grundzug seiner Metaphysik, der schon in seinen frühen Schriften die Richtung und den sinnhaften Rahmen des Systems, an welcher er später arbeiten wird, bestimmt. Der subjektive Idealismus ist hier der Name des nihilistischen Diskurses der Hegeischen Philosophie, mit welchem diese der geschichtlichen Entwicklung des abendländischen Denkens folgt und das aufdeckt, was Heidegger dessen Schicksal nennen wird. Das ist der Weg, auf welchem die Geschichte der Philosophie jenes, „was nicht geschrieben ist", in der Philosophie aber einen entscheidenden Anteil hat, liest.20 Hier zeigt sich: „Die »Metaphysik der Zeit' ist die Metaphysik der Entwicklung in einer Zeit, die nicht mehr Vergänglichkeit ist und als Leerlauf einer unbeweglichen Ewigkeit gegenüber steht."21 Die Bedeutung, die man hier der Hegeischen Philosophie zuschreiben kann, übersteigt das, was die Folgen seines philosophischen Systems im ganzen sind, als Wahrheit, die ein Ganzes ist, obwohl solches Verstehen der Zeit gerade aus dem Kontext dieses Ganzen hervorgeht. „So könnte man das Argument der Phänomenologie heranziehen, daß nicht schon die Momente, sondern erst die Gestalten des
20
21
Bernhard Dinkel: Der junge Hegel und die Aufhebung des subjektiven Idealismus. Bonn 1980, S.429. Remo Bodei, „Die ,Metaphysik der Zeit' in Hegels Geschichte der Philosophie", in: Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes, hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1984, S. 97.
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ganzen Geistes in der Zeit seien."22 Erst auf diese Weise kann man die Bedeutungen, die Hegels Philosophie für das zeitgenössische Denken hat, und die Möglichkeiten der Herangehensweise an diese, entdecken. Folgerichtig wird heute seine Bestimmung der Religion eher als Geographie statt als Geschichte der Religion gelesen. Die Gesamtheit der diesbezüglichen Anstrengungen Hegels sollte nicht als beiläufige Begleiterscheinung oder als bloße Folgerichtigkeit des Versuchs, detailliert die Phänomenalität des Weltgeistes auszulegen, verstanden werden. Sie sind vielmehr Ausdruck des Ausharrens in dem vorbegrifflichen Verstehen der Philosophie, wo diese aus dem Wesen der Sache selbst hervorgeht und der letzteren konsequent folgt. In diesem Sinne kann der Begriff bei Hegel nur als „Innerlichkeit" definiert werden, wobei betont werden muss, dass dieses Innerliche Ausdruck dessen ist, was eigentlich das Geschäft der Philosophie ausmacht, während sich das Geschäft der Wissenschaft in der Erörterung des Seienden erschöpft. Die Aufgabe der Philosophie und ihre Verbindung zum wissenschaftlichen Denken liegt in der Erkenntnis der Idee des Seienden selbst, welche im wesentlichen negativ ist. Damit erweist sich die wirkliche Realität des philosophischen Denkens als ein in der Abwesenheit Präsentes, wo diese sich immer als eine Art Selbstnegation zeigt, welche mit dem möglicherweise veränderten Sinn der Sicht auf den geschichtlichen Kontext, in dem sie erscheint, rechnet. Der subjektive Idealismus kommt damit bis zum höchsten Punkt der Bestätigung; seine Bestätigung in der natürlichen Objektivität ist gleichzeitig die Öffnung des Raums für eine nihilistische Herangehensweise, in welcher diese Negation von allem objektiv Bestehenden in dessen wirklicher Unmittelbarkeit der notwendige und der einzig mögliche Weg zur Wahrheit und einer deutlichen Erkenntnis eben dieser Wahrheit ist. Der subjektive Idealismus bei Hegel stellt in der genannten Interpretationsrichtung die Spitze des Nihilismus und die endgültige, absolut sinnhafte Bestimmung dar, in welcher das Sein die Erkenntnis affiziert, während das wissenschaftliche Denken der Ort der Interpretation oder der Anwendung des deutlichen Verstehens der als Wesen des Seins erkannten und im Begriff ausgedrückten, logisch begründeten Idee ist. Zugespitzt gesagt, im Hinblick darauf, was Hegel tut, wenn er die Kunst in sein System integriert, kann man behaupten, dass seine Philosophie auch nicht anders zu verstehen ist, als aus intentionalen Grundlagen, die gegeben sind in dem, was man, mit Einschränkungen, den Vorbegriff seiner Philosophie nennen kann. In diesem erfasst und bezeichnet er die Gesamtheit der Merkmale, welche die Metaphysik als Geschichte des Nihilismus hat. Die endgültige Synthese erschöpft sich daher nicht in der Konstituierung des absoluten Geistes als letzter und erster Instanz des Seins. Mit diesem System ist sie nicht vollendet, da sie in diesem Fall logisch voll und inhaltlich leer wäre. Sie wird vollendet und erfüllt erst in einer Selbsterfassung der Philosophie, die sich als die nihilistische Errungenschaft par excellence ausweisen und bestätigen lassen will. Anders gesagt: das letzte Wort des hegelschen Nihilismus besteht darin, dass die Wahrheit als eine reale und endliche nur möglich ist, wenn die Philosophie an ihr endgültiges Ende kommt. In der letzten Bedeutung zeigt Hegels Nihilismus, dass die Wahrheit vom 22
Walter Jaeschke, „Zur Logik der Bestimmten Religion", in: ebd., S. 185.
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Standpunkt der neuzeitlichen Metaphysik aus nur möglich ist, wenn das Leben in allen seinen wesentlichen Elementen aufgehoben wird. In diesem Sinne möchte Hegel seine Philosophie als eine Philosophie des Realen ausweisen, indem er endgültig das nihilistische Wesen der Metaphysik aufdeckt und darin auch die Schicksalhaftigkeit ihrer Geschichte.
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Hegel und die Kulturkritik
Für die Wissenschaften, die sich mit dem ausgedehnten, schwer zu übersehenden Bereich der Kultur beschäftigen - wie Kulturanthropologie, Soziologie der Kultur oder Ethnologie - ist eine „kritische" Einstellung zu ihrem Gegenstand geradezu definierend. Diese Einstellung ist schon aus begrifflichen und methodologischen Gründen unentbehrlich, weil die Unbestimmtheit des geläufigen Kulturbegriffs vom Theoretiker die Festlegung seiner Grenzen fordert. Darüber hinaus ist die kritische Ausrichtung der Kulturwissenschaften auch eine Sache des praktischen Interesses. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine „Kulturwissenschaft", die die von ihr erforschten Kulturen nicht zugleich zu bewerten und das Wissen von anderen Kulturen als Alternativen zur eigenen anzuwenden suchte, ein sinnloses Unternehmen wäre. So sind z.B. die kulturkritische Dimension, sogar ein gewisser „Kulturpessimismus", wesentlich für die Anthropologie eines Lévi-Strauss.1 Neuerdings erwies sich diese kritische Ausrichtung der Kulturwissenschaften im Konzept der Anthropologie als cultural critique, die bestrebt ist, die Resultate ihrer Untersuchung fremder Kulturwelten für eine Kritik der eigenen Kultur, vor allem des westlichen Eurozentrismus oder Kolonialismus, nutzbar zu machen.2 Der Zusammengang zwischen Kulturforschung und Kulturkritik lässt sich schon an den historischen Anfängen der Wissenschaften von der Kultur feststellen. Auch für die klassischen Denker, die als Wegbereiter dieser Disziplinen gelten und von denen sich diese noch heute inspirieren lassen - für Rousseau oder Herder - war, wie bekannt, die kulturkritische Perspektive in einem kaum zu überschätzenden Maße bedeutsam gewesen. Die von diesen Autoren initiierte Kritik der Moderne und ihre Auseinandersetzung 1
2
Claude Lévi-Strauss, Tristes Tropiques, Paris 1955. Zur Kritik dieses Pessimismus vgl. Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 164-171, 174-177, 193-202. George E. Marcus/Michael M. J. Fischer, Anthropology as Cultural Critique. An Experimental Moment in the Human Sciences, Chicago/London 1999, insbesondere S. xv-xxiii, 3ff., 11 Iff.
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mit dem okzidentalen Rationalismus bleibt auch in der Gegenwart eine Konstante der Kulturwissenschaften. Dies bedeutet, dass die „Kulturkritik" für diese Wissenschaften sowohl auf der geschichtlichen als auch auf der systematischen Ebene grundlegend ist. Nach einer allgemeinen und nicht ganz unbegründeten Überzeugung ist Hegels Philosophie dieser kritischen Tendenz schlechthin entgegengesetzt. Hegel gilt als der Philosoph, der den gängigen Vorstellungen von der Überlegenheit Europas eine bedenkliche wissenschaftliche Basis zu liefern versuchte und dabei allem unbefangenen Umgang mit den anderen, nichtwestlichen Kulturen den Boden unter den Füßen entzog. In Unterschied zu Kant, dessen strittige Urteile über Frauen, Juden oder „Neger" oft als bedauerliche Ausschweifungen eines musterhaften liberalen politischen Denkers angesehen werden, wird für Hegels Ethnozentrismus und seine geschichtsphilosophische Apotheose der modernen westlichen Welt das Prinzip seiner Philosophie verantwortlich gemacht. Hegels Geistbegriff, der doch als Grundlage einer möglichen Auffassung der menschlichen Kultur angesehen werden dürfte, scheint für die pluralistische Grundausrichtung der gegenwärtigen Kulturforschung so gut wie keinen Anhaltspunkt zu bieten. In diesem Text wird der Versuch gemacht, das genannte Bild von Hegels Philosophie in der Perspektive ihrer Entwicklungsgeschichte zu nuancieren. Hegel hat nämlich in seinen ersten Schriften von einer Position Ausgang genommen, die eben im Sinne eines „kulturkritischen" Konzepts gedeutet werden kann. Im Rahmen dieses Konzepts, der viel Gemeinsames mit Herders Kulturauffassung und Kulturkritik hat, formulierte Hegel auf der Folie des griechichen Kulturmodells seine erste Kritik der gegenwärtigen okzidentalen Kultur (I). Danach wird nachgewiesen, dass dieses ursprüngliche Konzept in der weiteren Entwicklung der Hegeischen Philosophie zu einem Ansatz verschärft wird, der eine grundsätzliche Kritik der Kultur im allgemeinen - zumal aber der modernen - einschließt. Dabei liegt das Eigentümliche der Entwicklung des Hegeischen Denkens darin, dass es ihm die Radikalisierung des kulturkritischen Motivs selbst gestattet hat, einen philosophischen Standpunkt zu erarbeiten, der eine Reinterpretation und positive Bewertung der modernen Kultur zur Folge haben wird (II). Schließlich soll die beabsichtigte Rekonstruktion ein neues Licht auf die „definitive" Gestalt des Hegelschen Denkens werfen. Sie kann erweisen, dass Hegels Glaube an die Realisierung der Vernunft in der Geschichte und sein Universalismus auch Raum für eine kritische Beurteilung der Defizite der für ihn zeitgenössischen Kultur lassen (III).
1. In Hegels Frühschriften kommt der Begriff der Kultur selten vor. Wenn dies aber der Fall ist, wird er zumeist im klassischen, etwa an Ciceros Kulturbegriff anknüpfenden Sinne bestimmt.3 In dieser Bedeutung, auf die auch die Begriffe von „Bildung", „Aufklärung" oder „Gelehrsamkeit" verweisen, wird die Kultur als der Prozess der Ver3
G. W. F. Hegel, Frühe Schriften, in: Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M 1986, S. 199.
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edelung oder Vervollkommnung der natürlichen Anlagen des Menschen bzw. als der aus diesem Prozess resultierende Zustand, der der „Barbarei" entgegengesetzt ist, aufgefasst.4 Das Wort „Kultur" verwendet Hegel noch nicht in seinem neueren, für das moderne Zeitalter spezifischen Sinn, in dem es die Totalität der Lebensgestaltungen einer geschichtlichen Epoche oder eines Volkes bezeichnet. Trotzdem wird der moderne Begriff der Kultur zum Thema des jungen Hegels, nur wird er nicht unter dem Termin der „Kultur" sondern dem des „Geistes" oder „Genius" eines Volkes gedacht. Die letzteren Termini erlauben es Hegel, auch als ein Kritiker des Geistes der Gegenwart, d.h. der Kultur des aufgeklärten Europas, die sich zu Unrecht als höher im Vergleich zu Kulturen der anderen Völker oder geschichtlichen Epochen betrachtet, aufzutreten. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Hegel schon in seinen Jugendschriften einen Standpunkt ausgearbeitet hat, der auch als „kulturkritisch" gelten darf, und dessen Probleme in der weiteren Entwicklung seines Denkens zu verfolgen sind. Die Kritik der Gegenwart taucht beim jungen Hegel in der Gestalt einer Auseinandersetzung mit der „Aufklärung" auf.5 Allerdings hat dieser Terminus für ihn einen engeren und präziseren Sinn. Er bezeichnet nicht nur eine geschichtliche Epoche oder Tendenz, sondern einen ganzen Komplex von mit einander verbundenen Vorstellungen von Moral, Religion, Politik und Kunst, die insgesamt für das moderne Zeitalter typisch sind. Wenn man bedenkt, dass Hegel diese Vorstellungen in Hinsicht auf die Rolle untersucht, die sie im Leben eines Volkes haben, so wird klar, dass seine Polemik gegen die Aufklärung die Züge einer Kritik der Kultur aufweist. Hegels Kritik der Aufklärung gilt vor allem den zeitgenössischen rationalistischen Konzepten in der Theorie der Moral und Religion. In seinen Jugendschriften reagiert Hegel auf die Lehren der natürlichen Theologie, zu denen auch Kants Religionsphilosophie gehört, nach denen der Inhalt der Religion auf rationale und allgemeingültige Vorschriften der Moral reduziert werden kann.6 Diese Religionsauffassung entspricht nach Hegel nur der „objektiven" Religion, die bloß „in Büchern existiert", d.h. der Schultheologie.7 Diese führt moralische Gebote, die objektiv gelten, dogmatisch aus, ohne sie in Verbindung mit der menschlichen Sinnlichkeit als dem einzigen Prinzip der Ausführung der ethischen Imperative zu bringen. So stellt Hegel den ethischen Kognitivismus der aufklärerischen Theorien der Moral in Frage. Er wendet sich gegen den Irrtum, dass die moralische Besserung des Menschen durch bloßes Wirken auf seinen Verstand erzielt werden kann, so wie gegen die anthropologische Voraussetzung, die dieser falschen Auffassung zu Grunde liegt, dass der Mensch ein aus verschiedenen Kräften, Verstand und Sinnlichkeit, zusammengesetztes Wesen sei. Dieser Vorstellung vom Menschen entspricht nach Hegel die ebenfalls für das moderne Zeitalter charakte4
5 6 7
Vgl. W. Perpeet, „Kultur, Kulturphilosophie", in: Historisches 4, Basel 1976, Sp. 1309. Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 21-37. Ebd., S. 1 Iff. Ebd., S. 70.
Wörterbuch der Philosophie,
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ristische rechtliche und politische Unterscheidung zwischen einem privaten und einem öffentlichen Bereich des menschlichen Lebens. Dem analytischen Verstand der Aufklärung setzt Hegel einen einheitlichen Begriff des Menschen und das Konzept einer „subjektiven" Volksreligion entgegen. Diese sollte durch ihr Wirken auf die Phantasie und Sinnlichkeit die „Triebfedern" für die Exekution der Moralgebote sichern: „Jede Religion, die eine Volksreligion sein soll, muss notwendig so beschaffen sein, dass sie Herz und Phantasie beschäftigt".8 In seiner Kritik der Aufklärung bedient sich Hegel auch der kulturkritischen Argumentation. So vergleicht er die ihm gegenwärtige Kultur mit den alternativen Kulturmodellen, vor allem aber mit dem griechischen „Volksgeist". Aufgrund der Rolle, die im griechischen Volksleben beseelte Sinnlichkeit und ästhetische Phantasie spielten, misst Hegel der griechischen Kultur den höchsten Wert bei. Wie jede Kultur sei auch der griechische „Genius" - so heißt es in einer Allegorie vom Ende des „TübingenFragments" - von seinen materiellen Voraussetzungen abhängig; diese Voraussetzungen habe er aber so bearbeitet und verschönert, „dass er sich in diesen Fesseln als in seinem Werke, als einem Teil seiner selbst gefällt".9 So bietet uns die griechische Kultur den Anblick der vollkommenen Selbstgenügsamkeit und höchstmöglichen irdischen Befriedigung des Menschen. In dieser Bewertung des griechischen Volksgeistes folgt Hegel Herder, dem Denker, der einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des modernen Kulturbegriffs geleistet hat. Herders Einfluss auf die Entwicklung der Hegeischen Philosophie ist wenig dokumentiert und ist nicht hinreichend untersucht worden. Jedoch kommt er in Hegels Jugendschriften deutlich zur Sprache.10 So hat der Grundbegriff der frühen Philosophie Hegels, der des „Volksgeistes", seinen historischen Vorgänger in Herders Begriff des „Geistes des Volkes" sowie in dessen Äquivalenten wie „Charakter des Volkes", „National-Charakter", „Seele" oder „Genius eines Volkes".11 Des weiteren ist Herder, obwohl er noch der Aufklärungsepoche angehört, einer der ersten deutschen Kritiker der aufklärerischen Auffassungen gewesen. So wendet sich auch Herder gegen die analytische Scheidung der Seelenkräfte und setzt sich für einen einheitlichen Begriff des Menschen ein.12 Vor allem in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit bekämpft Herder die „kalte Philosophie" des 18. Jahrhunderts und ihren Glauben an die Macht des Verstandes.13 Das geschichtliche Selbstbewusstsein der Aufklärung gründet nach ihm auf einer Fortschrittsideologie, die „nach der
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Ebd., S. 37, vgl. S. 13-21. Ebd., S. 43. Vgl. H. S. Harris, Hegel's Development. Toward the Sunlight: 1770-1801, Oxford 1972, S. 188, 237, 27If. Α. Grossmann, „Volksgeist; Volksseele", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 1102. - Vgl. Harris, Hegel's Development, a.a.O. (Anm. 10), S. 271. Vgl. Isaiah Berlin, Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas, London 1976, S. 174f. Vgl. Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften, hg. Von Peter Müller, Bd. 1, Berlin/Weimar 1978, S. 299.
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einen Form ihrer Zeit [...] alle Jahrhunderte modeln" will.14 Dagegen versucht Herder einen Standpunkt zur Geltung zu bringen, nach welchem jede Kultur der Menschheit eigenartig ist, ihren eigenen „Mittelpunkt" hat, und nur nach ihren eigenen Kriterien bewertet werden soll.15 In der letzten Sammlung seiner späteren Briefe zur Beförderung der Humanität polemisierte Herder scharf gegen den okzidentalen Ethnozentrismus und Kolonialismus. Deswegen wird er oft als Vorläufer der gegenwärtigen „pluralistischen" Kulturauffassung verstanden, manchmal auch als Vertreter eines kulturellen „Relativismus". Allerdings vernachlässigen die Interpretationen, die in dieser Richtung gehen, andere wichtige Aspekte von Herders Philosophie, die für die Aufklärung charakteristisch sind. Es handelt sich dabei um seinen Glauben an ein universales oder „transkulturelles" Humanitätsideal, der in Ideen zur Philosophie der Geschichte in den Vordergrund tritt, um seine Überzeugung, dass die Geschichte durch einen Plan der Vorsehung gelenkt wird, und um sein Festhalten an der Auffassung von vorbildlichen Kulturen oder Geschichtsepochen, wie die des antiken Griechenlands oder des alten Judentums, die seiner These von der Unvergleichbarkeit der verschiedenen Kulturgestalten zu widersprechen scheinen.16 In Herders Geschichtsphilosophie lässt sich eine Spannung zwischen ihren partikularistischen und universalistischen Tendenzen erkennen, die auch im Denken des jungen Hegel festgestellt werden kann. In Übereinstimmung mit Herders Beschreibung der griechischen Kultur als „Urbild und Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt"17 deutet Hegel ästhetisch die Überlegenheit des griechischen Volksgeistes. Hegel bewegt sich auch in Herders Fußstapfen, wenn er behauptet, dass der griechische Geist „von der Erde entflohen" und dass der modernen Menschheit eine Rückkehr zu den Griechen unmöglich geworden ist.18 Schließlich lässt sich Herders Einfluss auf den jungen Hegel in seiner systematischen Bevorzugung des „Volksgeistes" bzw. der „Kultur" vor dem Staat erkennen, z.B. in seiner Gleichsetzung des letzteren mit einer „Maschine" - ein Motiv, das sich bis zum „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus" (vorausgesetzt, dass dieses Manuskript von Hegel stammt) verfolgen lässt. Das genannte Spannungsverhältnis zwischen einer universalen Perspektive, die die letzte Wahrheit über das Humanitätsideal als dem Ziel der Geschichte des Menschengeschlechts aussagt, einerseits, und einem Standpunkt, der sich auf die Betrachtung der besonderen Kulturen und ihrer spezifischen Werte beschränkt, andererseits, darf als die Quelle der weiteren Problematisierung von Hegels ursprünglichen Auffassungen gelten.
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Ebd., S. 318. Ebd., S. 318 f., 321. Vgl. Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der „Ideen", „Humanitätsbriefe" und „Adrastea", Würzburg 2005, bes. S. 14-17, 22-26. J. G. Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", in: Sturm und Drang, a.a.O. (Anm. 13), S. 310. Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 44. - Vgl. J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 2, Berlin und Weimar 1965, S. 242.
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Bei Herder konnte Hegel nicht die Antworten auf alle die Fragen finden, mit denen er sich konfrontiert sah. Insbesondere konnte er sich nicht mit Herders „poetischen" Interpretation der alttestamentlichen Tradition in der Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie zufriedengeben. Als Theologe nimmt Hegel das Problem von der Wahrheit dieser Überlieferung ernst, und zwar im Punkt der Wundergeschichten, der das Hauptthema der rationalistischen Bibelkritik ausmachte. In den Zusätzen zu Hegels Schrift über die Positivität der christlichen Religion - die einzige von Hegels Jugendschriften, in der Herder namentlich erwähnt wird - gibt Hegel eine Übersicht von verschiedenen Lesarten des Alten Testaments: Erstens sei die Einstellung des gewöhnlichen christlichen Lesers möglich, der alles, was in der Bibel steht, „mit heiliger Einfalt" als Wahrheit im Sinne des Verstandes und der allgemeinen Erfahrung nimmt. Es gebe aber auch eine andere Klasse von Lesern, „der diese Frage über Wahrheit und Unwahrheit für den Verstand [...] gar nicht einfällt, sondern die bloß an subjektive, an Wahrheit für die Phantasie dabei denkt, so wie wir sie an der Hand Herders lesen".19 Wie aus einer Fußnote zum zitierten Text ersichtlich ist, unterscheidet sich nach Hegel die letztgennante Lesart der Bibel streng von der aufklärerischen Bibelinterpretation ζ. B. im Sinne Lessings, die etwa in der Geschichte von der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch einen subjektiven Irrtum des Moses sieht, dem, auf einer anderen Ebene, doch die objektive Wahrheit der Existenz Gottes entspricht. Im Gegensatz dazu handele es sich bei Herder um eine subjektive Wahrheit „für die Phantasie", wobei die Frage nach der Wahrheit im emphatischen Sinne des Wortes ganz außer Betracht bleibe. So lassen sich die angegebenen Sätze Hegels auch als eine implizite Herder-Kritik lesen. Sie kündigen das der späteren Philosophie Hegels eigentümlichen Pathos der Wahrheit an, dessen Wurzeln vielleicht theologisch sind. In jedem Fall glaubt Hegel, dass der rein „ästhetische" oder „poetische" Umgang mit dem Alten Testament, den er bei Herder zu erkennen glaubt, den Wahrheitsgehalt der Heiligen Schrift nicht erschöpft. Herders Interpretation weist eben die Unzulänglichkeit der späteren pluralistischen, wenn auch nicht „relativistischen", kulturtheoretischen Methoden auf.20 Hegels Beschäftigung mit dem Christentum als der Religion, von der die Problemlage der Gegenwart am tiefsten bestimmt ist, scheint aus der genannten, auch von Herder geteilten Überzeugung von der Unmöglichkeit einer Rückkehr zu den Griechen hervorgegangen zu sein. Allerdings setzt das Unternehmen des jungen Hegel, aus dem Christentum eine „Volksreligion" zu schaffen, die Inanspruchnahme des griechischen Paradigmas als des Maßstabs, an welchem man die eigene Kultur misst, voraus. Deshalb musste dieses Unternehmen scheitern. Übrigens war sich Hegel der Schwierigkeiten, denen sich ein solches Projekt aussetzt, durchaus bewusst. Der skizzenhaften Darstellung der Interpretationsweisen der Bibel gehen Betrachtungen voraus, in denen er behauptet, dass sich die Gehalte des Alten Testaments eigentlich nicht mehr als Material 19 20
Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 201f.; vgl. ebd., S. 215. Herders Schrift ist natürlich auch für andere Interpretationen offen; vgl. Daniel Weidner, „Secularization, Scripture and the Theory of Reading: J. G. Herder and the Old Testament", in: New German Critique 94, S. 184f.
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für die Volksphantasie benützen lassen, weil sie „unseren Sitten, unserer Verfassung, der Kultur unserer körperlichen und Seelenkräfte so fremd" geworden sind, „dass es fast keinen Punkt gibt, wo wir damit zusammentreffen".21 Für das Misslingen dieses Unternehmens gibt es auch einen anderen Grund von prinzipieller Bedeutung. Ursprünglich war Hegels Projekt der Volksreligion als eine Lösung der Aufgabe gemeint, für die Ausführung der Moralvorschriften effektiv wirkende, subjektive „Triebfedern" zu schaffen. Dabei verstand der junge Hegel die Vorschriften der Moral, deren Exekution gesichert werden sollte, noch ganz im Sinne der Kantischen Ethik eines „objektiven" Moralgesetzes. Allerdings lässt diese Ethik keine Motive zu, die aus dem Bereich der Sinnlichkeit oder Phantasie stammen. Damit erklärt sich, warum dieses Projekt in eine Sackgasse geraten musste. Schließlich bietet die Positivitätsschrift nichts anderes und nichts mehr als eine Darstellung der Gründe, aus welchen das Christentum, das sich ursprünglich die Überwindung der Moralität im Sinne der bloß äußeren Übereinstimmung der Handlungen mit den Gesetzen einer fremder Autorität zur Aufgabe stellte, sich wieder zu einer positiven, „statutarischen" Religion herabsetzen musste. Jedoch gibt diese Schrift keine Antwort auf die Frage, wie eine christliche Phantasie- und Volksreligion, die zugleich den strengen Forderungen der Kantischen Moralauffassung entsprechen würde, aussehen könnte. Auch daraus scheint zu folgen, dass die griechische Kultur keine Antwort auf die gegenwärtigen Probleme bietet; deren Lösung kann nur von den Voraussetzungen des modernen Zeitalters her bestimmt werden.
2. Die Wirksamkeit der kulturkritischen Motive in Hegels Philosophie ist mit dem Gesagten bei weitem nicht erschöpft. Es lässt sich sogar behaupten, dass diese Motive in Hegels späteren Schriften eine Weiterentwicklung und Radikalisierung erleben. Unter „Kulturkritik" kann zweierlei verstanden werden. Einerseits bezeichnet dieses Wort die Kritik aller und jeder Kultur; in diesem Sinn spricht Freud vom „Unbehagen in der Kultur" im allgemeinen. In diesem Typ der Kritik wird etwa der Not des zivilisierten Menschen ein paradiesischer vorgeschichtlicher „Naturzustand" des homme primitif gegenüberstellt (was allerdings bei Freud nicht der Fall ist). Andererseits kann „Kulturkritik" auf eine Polemik gegen den gegenwärtigen Zustand der Kultur verweisen, der als ein Resultat der Entartung der wahrhaften Kultur erlebt wird. Es gibt zwar keine scharfe Trennung zwischen den beiden Bedeutungen des Terminus. So ist z. B. Rousseaus Kritik der Kultur im allgemeinen nur im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der Kultur seiner Zeit verständlich. Wie dem auch sei, man kann dem Ansatz, der in den ersten Schriften Hegels entwickelt ist, nur die Kulturkritik im letzteren Sinne des Wortes zuschreiben. 21
Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 201.
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Nun lässt sich sagen, dass Hegel in seinen unmittelbar folgenden Schriften den Weg von einer begrenzten Kulturkritik bis zu einem Standpunkt, der den Spielraum für eine Kritik der Kultur im allgemeinen eröffnet, gegangen ist. Diese Veränderung in Hegels Denken lässt sich als eine Radikalisierung kulturkritischer Motive verstehen. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass es eben diese Radikalisierung Hegel ermöglicht hat, die Grundlage für ein neues, affirmatives Verstehen der gegenwärtigen Kultur zu erarbeiten. Somit ist die genannte „Radikalisierung" eigentlich nur eine Etappe im Prozess der Umwandlung des kulturkritischen Ansatzes. Unter dem Einfluss Hölderlins machte sich der junge Hegel in Frankfurt eine Variante der so genannten „Vereinigungsphilosophie" zu eigen.22 Bekanntlich formulierte Hölderlin seinen philosophischen Standpunkt durch eine Auseinandersetzung mit dem Fichteschen Prinzip des Selbstbewusstseins. Laut Hölderlin ist Selbstbewusstsein von der Reflexion abhängig, die ihrerseits eine Trennung des Ich in Subjekt und Objekt voraussetzt; deswegen kann es nicht der höchste Punkt der Philosophie sein. Dem Selbstbewusstsein ist ein anderes Prinzip überlegen, das Hölderlin als das Sein schlechthin oder als das absolute Sein bezeichnet.23 Dieses Konzept erlaubte es Hegel, seine Kritik der Gegenwart und der „Aufklärung" auf eine neue philosophische Basis zu stellen. Für ihn ist das moderne Zeitalter wesentlich eine Epoche der Trennung, Entzweiung und Reflexion. Diese Begriffe haben von nun an eine nicht nur anthropologische, sondern auch metaphysische Bedeutung. Allerdings lassen sie sich ohne weiteres auch auf einer kulturkritischen Ebene, insbesondere in bezug auf die gegenwärtige Kultur, verwenden. Hegel nimmt die späteren kulturkritischen Gedanken Nietzsches oder Adornos vorweg, wenn er behauptet, dass sich die Tätigkeit des Begreifens auf die Beherrschung des Objekts gründet, die doch nicht den Gegensatz von Subjekt und Objekt zu versöhnen vermag.24 Am unversöhnten Gegensatz von Gesetz und Individualität, Vernunft und Sinnlichkeit, leide auch die Kantische Moralphilosophie. Das Wirken Christi und der neutestamentliche Begriff der Liebe gehen nach Hegel eben auf die Aufhebung dieser Gegensätze. Hölderlin setzte seinen Begriff der höchsten Einheit - „das Sein, im einzigen Sinne des Worts" - mit der Schönheit gleich. Für Hegel ist dagegen diese Einheit dem Menschen nur im Akte des Glaubens zugänglich.25 Die Vereinigungsphilosophie ist durchaus geeignet, eine Kritik der Kultur zu begründen. Sie besagt, dass der Zustand, der der Trennung vorausgeht, in einem gewissen Sinne vollkommener als der ist, der dieser folgt. Wenn aber dieser ursprüngliche Zu-
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Dieter Henrich, „Hegel und Hölderlin", in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M 1981, S. 9 ^ 0 . Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 4, Stuttgart 1962, S. 226f. - Vgl. Dieter Henrich, Konstellationen, Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie, Stuttgart 1991, S. 47-80; ders., Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (17941795), Stuttgart 1992, S. 92-113. Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 242. Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 3, Stuttgart 1958, S. 249. - Vgl. Hegel, Frühe Schriften, a.a.O. (Anm. 3), S. 251.
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stand als der der „Natur" gedeutet wird, scheint daraus hervorzugehen, dass er auch jeder „Kultur", welche die Unterscheidung oder Trennung des Prinzips voraussetzt, überlegen sein muss. Dennoch hat Hegel diese Konsequenz aus den Prämissen der Vereinigungsphilosophie nie gezogen. Er ist vielmehr bald dazu veranlasst worden, Bedenken gegen den Begriff einer präreflexiven, ursprünglichen Einheit zu formulieren. Diese Bedenken gelten auch dem christlichen Liebesbegriff, dessen Beschränktheit nach Hegel auch darin liegt, dass er den Rückzug des Menschen aus den vielfältigen gesellschaftlichen Beziehungen fordert. So ordnet Hegel diesen Begriff einem anderen Prinzip unter, dem des „Lebens", das sich nicht als unmittelbare Einheit verstehen lässt, weil es auch Reflexion oder Trennung in sich schließt.26 Hegels Eingriff in das Konzept der Vereinigungsphilosophie gründet sich auf einer metaphysischen Forderung, die sich aufdrängt, wenn die Einheit des Prinzips als die der Gegensätze selbst verstanden wird. Eine vollständige Einheit muss nämlich nicht den entgegengesetzten Faktoren, die sie aussöhnen soll, selbst entgegengesetzt bleiben; somit muss ihr der Gegensatz „immanent" sein. Auf dieses Moment der Immanenz der Reflexion oder Trennung im Prinzip der Vereinigung zielt die Bestimmung des Lebens als „Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung", als „Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung" und schließlich als „Identität der Identität und Nichtidentität".27 Die entsprechenden Modifikationen in Hegels Standpunkt kommen eindrucksvoll zur Sprache, wenn man die beiden Fassungen des Manuskripts über die Liebe miteinander vergleicht. Die spätere Version enthält eine Reihe von kritischen Bemerkungen über den Begriff der „unentwickelten Einigkeit", die notwendigerweise unvollständig bleibt. Hier betont Hegel die Wichtigkeit der Entwicklung, die sich in den drei Momenten der „unmittelbaren Einheit", der „Entzweiung" und der „Versöhnung" vollzieht.28 Es ist bedeutsam, dass Hegels erste ökonomische Studien und sein neues Interesse für die bürgerliche Gesellschaft eben in die Frankfurter Zeit fallen. In dieser neuen Ausrichtung seines Denkens drückt sich eine Umwertung des Bereichs der Entzweiung und des Bedürfnisses aus. Die weitere Entwicklung dieser Position, die für das Problem der Kulturkritik von besonderer Wichtigkeit ist, lässt sich in Hegels Jenaer Schriften, vor allem in der Differenzschrift verfolgen. Hier steht Hegel dem von Schelling formulierten Konzept der „Identitätsphilosophie" nahe. Es gibt aber auch bedeutsame Unterschiede zwischen den beiden Autoren, die sich auch hinsichtlich des Begriffs der „Kultur" aufzeigen lassen. Die betreffenden Betrachtungen stehen im Zusammenhang mit der vielerörterten Hegeischen Analyse des „Bedürfnisses der Philosophie". Nach Hegel entsteht dieses Bedürfnis in den Zeitperioden, in denen die integrierende Kraft (die „Macht der Vereinigung") unter dem Einfluss der „Bildung" - also der Kultur in einem subjektiven
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Hegel, ebd., S. 370. Ebd., S. 422; G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Frankfurt/M 1996, S. 96. Christoph Jamme, „Hegels Frankfurter Fragment .welchem Zwekke denn'", in: Hegel-Studien (1982), S. 9 - 2 3 .
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Sinne genommen - aus dem Leben der Menschen verschwunden ist.29 Diese Beschreibung lässt sich vornehmlich auf die westlichen Kulturen anwenden, die hochentwickelt und differenziert sind, die aber zugleich an einem „Mangel an Einheit" leiden. Es muss also hervorgehoben werden, dass der Begriff der Bildung bzw. der Kultur hier zuerst mit einem negativen Vorzeichen versehen ist. Den Ausgangpunkt seiner Überlegungen hat Hegel offensichtlich bei Schelling gefunden. In seinen Ideen zu einer Philosophie de Natur (1797) übernimmt dieser, vielleicht über Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, die Unterscheidung von Natur- und Kulturzustand und einige andere kulturkritische Motive, die von Rousseau stammen.30 In der Einleitung zu dieser Schrift behauptet Schelling, dass die Voraussetzung des Bedürfnisses, zu philosophieren, im Herausgehen aus dem „philosophischen Naturzustand" besteht - also in der Trennung zwischen dem Menschen und seiner Welt, d.h. in der Aufhebung einer „natürlichen", ursprünglichen Harmonie zwischen ihnen. Erst nach dieser Trennung sind laut Schelling die für die neuere Bewusstseins- und Reflexionsphilosophie charakteristische Fragen möglich geworden - etwa die Kantische Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung, oder die Cartesische Frage nach der Existenz einer Welt außer uns. Jedoch gehören alle diese Probleme dem Standpunkt der „bloßen Spekulation" an. In diesem Begriff erkennt Schelling ein Übel und sogar ein Symptom der Geisteskrankheit des Menschen, dessen Leben „nur aus der Identität" hervorgeht. Im Gegenteil, die bloß spekulative Philosophie gehe „nur auf Trennung" aus. Wenn aber diese Trennung einmal geschehen ist, wird nach Schelling die Spekulation unentbehrlich. Sie soll nämlich durch Freiheit die ursprüngliche, natürliche Identität wiederherstellen. Allerdings müsse der Standpunkt der spekulativen Philosophie in eine wahre oder „gesunde" Philosophie integriert werden. Innerhalb der letzteren sei die Spekulation ein bloßes therapeutisches Mittel; sie habe somit nur einen negativen Wert und solle die Voraussetzung ihrer selbst aufheben. Also sei das Schicksal der Spekulation, sich selbst zu zerstören: Sie „arbeitet [...] zu ihrer eigenen Vernichtung".31 Diese Selbstaufhebung des endlichen Denkens, die bei Schelling nur andeutungsweise beschrieben ist, gewinnt bei Hegel eine geradezu fundamentale Bedeutung. Zuerst ersetzt Hegel den Begriff der „Spekulation" durch den der „Reflexion". So heißt es bei ihm: Mit der Identität der Identität und der Nichtidentität konfrontiert, muss sich die Reflexion „das Gesetz der Selbstzerstörung" geben. Danach verschärft Hegel die Pointe des Schellingschen Gedankenganges: Der Übergang zum Standpunkt des Absoluten ist schon durch die Selbstaufhebung der Reflexion selbst geleistet,32 obwohl nach der Differenzschrift für die positive Erkenntnis des Absoluten die transzendentale Anschauung erforderlich ist. Auch kennt diese Schrift Hegels neben dem „negativen" Begriff der 29 30 31
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Hegel, Jenaer Schriften, a.a.O. (Anm. 27), S. 22. Vgl. Klaus Düsing, „Spekulation und Reflexion", in: Hegel-Studien 5 (1969), S. 102ff. F. W. J. Schelling, Werke, hg. von M. Schröter, Erster Hauptband: Jugendschriften 1793-1798, München 1927, S. 662-664, 697; vgl. K. Düsing, „Spekulation und Reflexion", a.a.O. (Anm. 30), S. 102-108. Hegel, Jenaer Schriften, a.a.O. (Anm. 27), S. 20-30.
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Reflexion einen „affirmativen" Begriff der Spekulation. Allerdings wird bei Hegel der innere Zusammenhang zwischen Spekulation und Reflexion wichtiger als deren Unterscheidung. Es handelt sich hier um eine Tendenz, die sich in der weiteren Entwicklung der Hegeischen Philosophie, vor allem seiner Logik, noch stärker ausprägen wird. Daraus ergeben sich Folgerungen, die auch für die „Kulturkritik" von Belang sind: Eine schlichte Rückkehr in die Harmonie eines Naturzustandes, welcher der Reflexion vorausgeht, ist nicht möglich. Diese „Rückkehr" ist nur durch die Aufhebung, somit durch die Negation der Disharmonie und der „Entgegensetzung", zu erreichen. Allerdings versteht Hegel die Entgegensetzung selbst als eine Form der Negation; somit hat die „Rückkehr" zur Unmittelbarkeit die Struktur der Negation der Negation. Diese ist aber nur als eine Potenzierung der Negation selbst zu denken.33 Demnach ist auch der Ausweg aus den Aporien der gegenwärtigen Kultur nur durch die Steigerung ihres Prinzips der Negativität zu erreichen. Hegels Behandlung des Kantischen und Fichteschen Idealismus liefert ein Beispiel für diese Strategie. Dieser Idealismus ist von Jacobi als ein „Nihilismus" beschrieben und kritisiert worden. Es ist bemerkenswert, dass Hegel dieses Urteil nicht ablehnt. Laut Hegel besteht der Mangel des Idealismus nicht darin, dass er nihilistisch, sondern darin, dass er nicht nihilistisch genug ist, d.h. dass er nicht das Prinzip der Negativität konsequent bis zur „Negation der Negation" verschärft, die sich dann als das wahrhaft Affirmative und Absolute erweisen würde.34 Dies gilt vor allem in bezug auf den Kantischen und Fichteschen Freiheitsbegriff, den Hegel im Sinne seines Begriffs der Negativität interpretiert. Damit nimmt die Hegeische Kritik der Gegenwart, z. B. im Blick auf die für das moderne Zeitalter charakteristische „formale" Bildung, eine neue Richtung. Mit den geschichtlichen Perioden der Herrschaft des Verstandes und der Reflexion konfrontiert, müsse das Denken „in seinem eigenen Elemente die Wiederherstellung aus dem Verderben [...] versuchen, zu dem es gebracht worden ist".35
3. So verabschiedete Hegel schon in seinen Jenaer Jahren die Kulturkritik in ihrer früheren Gestalt und näherte sich zugleich einer „affirmativen" Interpretation des gegenwärtigen Zeitalters, seiner Kultur und Staates an. Der Begriff der Freiheit als Autonomie, der sich im modernen Staat realisiert, hat nach der Einleitung zu Hegels Rechtsphilosophie die Struktur der doppelten Negation oder der „absoluten Negativität"; daher ist es nicht verwunderlich, dass einige der bedeutendsten negationstheoretischen Sätze Hegels in diesem Buch formuliert sind.36 Insbesondere geben die Ausführungen der Rechtsphilosophie einen konkreteren Sinn der metaphysischen Thesis, wonach die Negation der 33
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Vgl. Dieter Henrich, „Formen der Negation in Hegels Logik", in: Hegel-Jahrbuch 1974, S. 2 4 5 256. Hegel, Jenaer Schriften, a.a.O. (Anm. 27), S. 410. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M 1986, S. 93f. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M 1986, S. 49-56.
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Negation ein affirmatives Resultat hat: Die Freiheit als Negation der Negation ist die Grundlage aller positiven oder „substantiellen" Bestimmungen des objektiven Geistes. Obwohl die Strukturen der Rechtsphilosophie - wie Familie, bürgerliche Gesellschaft oder Staat - nichts anderes ausmachen, als den Zusammenhang, in welchem die individuelle Freiheit bestehen kann, haben sie im Unterschied zu den Kategorien der Philosophie des subjektiven Geistes zugleich einen überindividuellen, sogar institutionellen Charakter. Deswegen ist der Begriff des objektiven Geistes mit dem späteren Begriff der „Kultur" verwandt, der auch auf den Gedanken der Priorität eines objektiven, das individuelle Handeln bestimmenden Zusammenhangs hinweist. Nur bis dahin scheint die genannte Verwandtschaft auch zu reichen. Verschiedene und a priori gleichwertige Lebensgestaltungen lassen sich nicht so unter den Begriff des objektiven Geistes wie unter die „wahrheitsneutrale" Kategorie der Kultur subsumieren. Weil das System der Bestimmungen des objektiven Geistes, das sich in der Staatslehre und Theorie der Weltgeschichte vollendet, der Wirklichkeit des modernen Staats entspricht, erhebt sich dieser Staat über alle andere, plurale Formen der Kultur. Hegel hat sich nie ausdrücklich mit dem Vergleich zwischen den verschiedenen Kulturen als solchen befasst. Deswegen stellt sich die Frage nach der Fähigkeit seines philosophischen Standpunkts, der Pluralität der Kulturen Rechnung zu tragen, vor allem in bezug auf sein Konzept einer Weltgeschichte, die auf die Wirklichkeit des modernen Staates als auf ihr Ziel gerichtet ist. Eine vollständige Antwort auf diese Frage würde erst nach einer vielseitigen Analyse der Hegeischen Ausarbeitung aller geschichtlichen Gestalten des Geistes möglich sein; sie liegt außerhalb der Grenzen dieses Textes. Jedoch kann im voraus behauptet werden, dass die Hegeische Interpretation jeder einzelnen Gestalt der Kultur in eben dem Maße gelingt, in welchem sie mit jener übereinstimmt, die wir erreichen können, wenn wir die betreffende Gestalt aus ihr selbst verstehen. Damit erweist sich, dass dieses Problem demjenigen entspricht, das sich schon bei Herder stellte: Es handelt sich darum, die philosophische Einsicht in den Plan der Vorsehung, die auf die Verwirklichung eines idealen Zweckes geht, mit dem Verstehen jeder einzelnen Kultur aus deren eigenen „Mittelpunkt" zu versöhnen. Wenn wir dieses Kriterium anwenden, wird klar, dass die Antwort auf die genannte Frage kaum günstig für Hegel ausfallen kann. Erstens ist es offensichtlich, dass der Standpunkt der Weltgeschichte die Anzahl der Kulturen, die als solche anerkannt werden können, außerordentlich vermindert. Laut Hegel ist „das Allgemeine" des Staates die Voraussetzung der „Bildung" einer Nation.37 Damit werden aus dem Bereich der Kultur alle die Völker ausgeschlossen, die, wie die afrikanischen, keine staatliche Organisation haben.38 Des weiteren ist klar, dass unsere Verstehensmöglichkeiten einzelner Kulturen - wie z. B. der „asiatischen", aber auch der Kultur des mittelalterlichen Europas - die Interpretation im Sinne des Hegeischen Konzepts der Weltgeschichte
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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 35), S. 69. Vgl. Heinz Kimmerle, „Hegel und Afrika: Das Glas zerspringt", in: Hegel-Studien, 28 (1993), S. 303-325.
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beträchtlich übertreffen. Auch steht außer Zweifel, dass Hegels Werturteile über diese Kulturen korrekturbedürftig sind. Auf der anderen Seite lässt sich nicht bestreiten, dass das von Hegel entwickelte Modell der Weltgeschichte in einer ganzen Reihe von Fällen das authentische Verstehen und wesentliche Einsichten in die Eigenart anderer Kulturen ermöglicht. Das letztere kommt insbesondere im Blick auf die griechiche Kultur zur Geltung, beschränkt sich aber keineswegs auf sie. So ist Hegels Urteil über China, das nach seiner Interpretation der erste wahrhafte Staat in der Weltgeschichte ist, im Grunde positiver als die Herdersche Bewertung dieser Kultur.39 Noch wichtiger ist, dass Hegels Philosophie des Geistes die Perspektive einer möglichen „kulturellen Anthropologie" andeutet, indem sie die konstituierende Rolle der kulturellen Phänomene wie Familie, Ackerbau oder - dem Bereich der Religion näher - Begräbnissitten, systematisch erschließt; darüber hinaus hat Hegel im Zusammenhang mit der Analyse der griechischen Kultur auch eine Theorie der Tragödie ausgearbeitet, die für die Interpretation der Konflikte zwischen Kulturen aufschlußreich zu sein scheint. Obwohl Hegel die genannten Phänomene von einem „okzidentalen" Gesichtspunkt aus auffasst und - im Unterschied zur neueren Kulturanthropologie - nach dem Modell des Geistes als der Negation der natürlichen Existenz des Menschen deutet, haben sie offensichtlich eine mehr als nur partikulare Bedeutung. Die relative und immer fragwürdige „Offenheit" der Hegeischen Philosophie gegenüber anderen geschichtlichen und kulturellen Welten lässt sich vielleicht damit erklären, dass auch die Erfahrung der kulturellen Verschiedenheit bei der Ausformung seiner Theorie der Weltgeschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat. Zweifellos betrachtet diese Theorie jede einzelne Kultur nur als eine Etappe im Entwicklungsprozess der Weltgeschichte. Zugleich aber lässt Hegels Entwicklungsgedanke grundverschiedene Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Kulturen zu. Hegels Philosophie der Weltgeschichte lässt sich eben als ein Versuch verstehen, diese Verschiedenheit auf ein universales Einheitsprinzip zurückzuführen. Dieses Problem ist keineswegs obsolet; es entspricht einer Frage, die sich dem anthropologischen Denken auch heute aufdrängt, wovon z.B. auch das Bemühen von Lévi-Strauss Zeugnis ablegt, hinter den Diskontinuitäten der mannigfaltigen Kulturen die einheitliche Menschennatur zu erkennen. Bei alledem ist es jedoch fraglich, ob diese Einheit von Hegel umfassend genug gedacht wird, insbesondere ob die von ihm angenommene Distanz des Begriffs des Geistes zu dem der Natur gestattet, die Kultur in die Vollständigkeit ihrer Voraussetzungen zu integrieren.40 Hegels manifester „Eurozentrismus" erklärt sich durch seinen Versuch, die Aporien der modernen Kultur aufzuheben, ohne auf den Gedanken zu verzichten, der ihr Prinzip ausmacht. Weil aber nach Hegel dieser Gedanke der der „Negativität" ist, hat sein Verzicht auf die radikale Kulturkritik nicht einen unbeschränkten Kulturoptimismus zur Folge. Es lässt sich sogar sagen, dass Hegels Auffassung der Weltgeschichte durch einen „Kulturpessimismus" spezifischer Art bestimmt ist. Davon zeugt nicht nur die Besorg39
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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O. (Anm. 35), S. 147-174; vgl. Herder, Ideen, Bd. 2, a.a.O. (Anm. 18), S. 8-21. Vgl. Claude Lévi-Strauss, La Pensée sauvage, Paris 1962, S. 327.
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nis des alten Hegel wegen der revolutionären Ereignisse von 1830, die das Reich der verwirklichten und institutionalisierten Freiheit zu zerstören drohten, sondern schon die bekannte Metapher von der „ihr Grau in Grau" malenden Philosophie aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie, die dieses Reich auf seinen Begriff bringen sollte.41 Jedoch kommt Hegels kritische Einstellung zur modernen Kultur nirgends ausdrücklicher zur Sprache als in seinen Vorlesungen zur Ästhetik. Dort behauptet Hegel, wie bekannt, dass die Kunst nicht mehr die höchsten geistigen Interessen des Menschen befriedigen kann.42 Dennoch haben die Betrachtungen, in denen das unwiederbringliche Vergangensein früherer, sich auf verschwundene Kultur- oder Geistesstrukturen gründender Kunstformen - wie, um nur einige Beispiele zu nennen, das Homersche Epos, die spätere griechische Tragödie oder auch die mittelalterliche religiöse Kunst - festgelegt wird, auch ihre andere, nostalgische Seite. Sie lassen einen breiten Raum für die kritische Beurteilung der gegenwärtigen Kultur, in der die Unmittelbarkeit und Selbständigkeit des individuellen menschlichen Daseins verloren gegangen sind. Dies lässt sich deutlich aus Hegels Ausführungen über die „Prosa der Welt" entnehmen. Diesen Ausdruck verwendet Hegel zuerst, um den unauflöslichen Widerspruch zu bezeichnen, der jedem einzelnen Lebewesen, das für sich selbst „dieses abgeschlossene Eins" ist, das aber in seinem Dasein ebensosehr „von anderem" abhängt, eigen ist. Es lässt sich jedoch nicht übersehen, dass dieses Wort am ehesten dazu geeignet ist, den Widerspruch des in modernen Gesellschaften und Staaten lebenden Menschen zu nennen. Die „Prosa der Welt" ist ein Zustand, in dem die „unmittelbare" Individualität zu einem Schnittpunkt vielfältiger ökonomischer, sozialer und politischer Beziehungslinien, d.h. zu einem Epiphänomen der Vermittlungsverhältnisse herabgesetzt worden ist.43 So drängt sich noch immer die Frage auf, ob die „vergangenen" Kulturen, die sich durch Ursprünglichkeit oder Unmittelbarkeit auszeichnen, nicht etwa der modernen Kultur, die sich laut Hegel auf die absolute Negativität und Vermittlung gründet, überlegen sind. Hegels Theorie des absoluten Geistes, die auch als eine Theorie der Formen der „Hochkultur" verstanden werden darf, gibt zwar eine Erklärung des Vergangenheitscharakters der „Kunst" und „Religion". Nach dieser Erklärung, sind die letztgenannten Formen in der Philosophie als dem „geistigen Kultus [...], der sich durch systematisches Denken dasjenige aneignet und das begreift, was sonst nur Inhalt subjektiver Empfindung oder Vorstellung ist", aufgehoben.44 Doch soll man nicht für ausgemacht halten, dass diese Aufhebung restlos geschieht. In der Theorie des absoluten Geistes gibt es keinen Punkt, von dem aus sich die Nostalgie des durch die klassische Kunst gebildeten modernen Menschen „aufheben" oder auch nur erklären könnte.
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Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, München und Berlin 1920, Bd. 2, S. 218-226; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 36), S. 28, 46. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik /, Frankfurt/M 1986, S. 23-26. Ebd., S. 197-199, vgl. S. 253-255. Ebd., S. 143.
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Hegels Diagnose der Defizite des modernen Reflexionszeitalters nimmt nicht nur die Leitgedanken der späteren Kulturkritik, sondern auch wichtige Punkte von Webers Analyse des okzidentalen Rationalismus vorweg. Beiden Autoren ist die Überzeugung gemeinsam, dass sich die Schwierigkeiten der westlichen Kultur nicht durch die Übernahme anderer Kulturmodelle oder durch die Rückkehr zur Unmittelbarkeit eines „Naturzustandes" beheben lassen. Nach Hegel wäre ein solches Unternehmen schon deshalb aussichtslos, weil es die reflexive Einstellung, die es vermeiden will, schon voraussetzt. Hegels Bearbeitung und Beurteilung einzelner Kulturen wirft viele Fragen auf. Doch lässt sich ein echter Dialog über das Thema Kultur mit seiner Philosophie nur dann führen, wenn wir ihrem systematischen Anspruch gerecht werden.
PAUL CRUYSBERGHS
Könnte es bei Hegel eine der Religionspolitik ähnliche Kunstpolitik geben?
Am 26. Juni 1784 hielt Friedrich Schiller in Mannheim eine Vorlesung mit dem Titel: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?" 1 Den Text der Rede hat er ein Jahr später im ersten Heft der Rheinischen Thalia veröffentlicht. Im Jahr 1802 hat Schiller den Text - unter einem anderen Titel und unter Weglassung der Einleitung - in den 4. Teil seiner Kleineren prosaischen Schriften aufgenommen. Der Titel lautete jetzt: „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet" - es handelt sich dabei um einen Eingriff, der jedenfalls zu mannigfachen Spekulationen Anlass gegeben hat. Die Vorlesung stammt aus einer Periode, als Schiller noch nicht mit Kant bekannt war, und sie wird meistens als ein noch typisch aufklärerischer Text gelesen. Schiller habe noch nicht eingesehen, dass Kunst im Allgemeinen und insbesondere die Schaubühne autonom seien. Das habe Kant ihn lehren müssen. Obwohl ich glaube, dass man mit dieser Behauptung dem damals kaum fünfundzwanzigjährigen Schiller Unrecht tut, ist trotzdem auffällig, dass für Schiller - weil er vor allem die moralische Wirkung der Schaubühne (deshalb nennt er sie später auch eine moralische Anstalt!), nicht aber ihr Wesen vor Augen hat - die Schaubühne tatsächlich, zusammen mit der Religion, eine der „festen Säulen" des Staates darstellt.2 Ohne Übertreibung könnte man mit Louis Althusser behaupten, der junge vorkantische Schiller interpretiere die Schaubühne als einen typischen ideologischen Staatsapparat.3 Ein festes Theater in jeder größeren Stadt, das fordert der junge Schiller vom Fürsten von Mannheim. Seine Motive, so suggeriert er zumindest, haben nichts mit dem We1
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F. Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?", in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Darmstadt 9 1993, S. 8 1 8 - 8 3 1 . Vgl. ebd., S. 822. L. Althusser, „Idéologie et appareils idéologiques d'état (Notes pour une recherche)", in: Positions (1964-1975), Paris 1976, S. 6 7 - 1 2 5 .
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sen des Theaters zu tun, sondern nur mit der möglichen Wirkung desselben. Das ist es, was Schiller hervorhebt, wenn er das Theater mit der Religion vergleicht. Beider Wesen (die göttliche Seite der Religion nennt er ausdrücklich) lässt er unbesprochen; nur ihre moralisch-politischen Effekte, ihre Wirkung, interessieren Schiller in seinem Vortrag. Er behauptet dabei, dass beide Instanzen zur „Menschen- und Volksbildung" und damit zur Glückseligkeit beizutragen haben.4 Diesen Glückseligkeitsanspruch haben sie, so argumentiert Schiller in guter Aufklärungstradition, mit dem Staat gemeinsam. Die Notwendigkeit der Schaubühne und der Religion hat jedoch ihren Grund in der Unzulänglichkeit der staatlichen Gesetze. „Gesetze [...] drehen sich nur um verneinende Pflichte - Religion [und Theater - das ist der Sinn der Schillerschen Argumentation, P. C.] dehnt ihre Foderungen auf wirkliches Handeln aus".5 Religion und Theater verneinen nicht: Sie motivieren positiv zum tatsächlichen Handeln. Deshalb soll der Staat die beiden Säulen, die ihn stützen, selbst unterstützen und fördern; nicht nur die Religion also, sondern auch die Schaubühne, denn die Religion hat auch ihre Beschränkungen, welche gerade von der Schaubühne überwunden werden können. Obwohl Religion auf eine übersinnliche Welt verweist, verbindet Schiller ihre Wirksamkeit mit ihrem sinnlichen Charakter: „Religion wirkt im ganzen mehr auf den sinnlichen Teil des Volks - sie wirkt vielleicht durch das Sinnliche allein so unfehlbar".6 Nimmt man die Bilder von Himmel und Hölle weg, dann verliert die Religion ihre Wirkung - und das ist es, was Schiller in seiner Zeit, zumindest bei den Gebildeten, geschehen sah. Die Schaubühne dagegen scheint nicht diesem Verfall erlegen zu sein. Dadurch, dass „das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft" 7 ihr zu Gebote stehen, ist sie, nach Schiller, lebendiger als je. Schiller erschöpft sich deshalb in Argumenten zugunsten der Schaubühne. Am Ende seines Beitrags, wenn er besonders die politische Bedeutung der Schaubühne ins Licht stellt, macht er die Bühne ausdrücklich zum Instrument politischer Beeinflussung. Die Oberhäupter und Vormünder des Staates sollten sich (1) bewusst sein, dass sich „von der Schaubühne aus, die Meinungen der Nation über Regierung und Regenten zurechtweisen" lassen; (2) schöpfe die Bühne die Möglichkeit aus, für die gesetzgebende Macht „durch fremde Symbole" zu ihren Untertanen zu sprechen und sich gegenüber ihren Klagen zu verantworten, „noch ehe sie laut werden".8 Bedingung dafür sei jedoch, dass einerseits die Dichter Patrioten sind und andererseits der Staat sich herablasse, „sie zu hören".9 Das sind die Motive, mit denen Schiller dem Fürsten von Mannheim zu schmeicheln versucht. „Weil sie [die Schaubühne, P. C.] das ganze Gebiet des menschlichen Wissens durchwandert, alle Situationen des Lebens erschöpft und in alle Winkel des Herzens 4 5 6 7 8 9
Vgl. F. Schiller, a.a.O. (Anm. 1), S. 819. Ebd., S. 822. Ebd. Ebd., S. 823. Ebd., S. 829. Ebd.
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hinunterleuchtet; weil sie alle Stände und Klassen in sich vereint und den gebahntesten Weg zum Verstand und zum Herzen hat" 10 , sollte sie imstande sein, aus Deutschland eine richtige Nation zu machen - und, stärker noch, die ganze Menschheit zu vereinen, da es gerade die Schaubühne ist, welche uns lehren kann, was es heißt, „ein Mensch zu sein".11 Schillers Rede ist ein merkwürdiges Plädoyer für eine aufklärerische Kulturpolitik, welche die ideologische Funktion der Schaubühne, und der Künste im Allgemeinen ohne Zurückhaltung anerkennt. Unerwähnt bleibt dabei das mögliche Recht auf Zensur und Kontrolle, welches damit dem Staat gegeben wird, falls die staats- und gesetzdienende Funktion der Künste nicht erfüllt wird.12 Man kann sich fragen, wie Hegel über die Wirkung einer guten, stehenden Schaubühne urteilen würde. Auf den ersten Blick gibt es nicht viele Hinweise. Weder in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst noch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts oder der Enzyklopädie habe ich irgendwelche Anweisungen für eine richtige Kulturpolitik gefunden. Deshalb möchte ich den Versuch machen, Hegels recht ausführliche Bemerkungen über das Verhältnis von Staat und Religion als Paradigma für das hegelsche Verhältnis von Staat und Künsten zu nehmen. Ungeachtet der Unterschiede, welche die Künste, und vor allem die modernen Künste, von der Religion scheiden, gibt es doch genügend Vergleichsmöglichkeiten, um, zwar nur versuchsweise, Hegels recht interessante und immer noch aktuelle Gedanken über das Verhältnis von Religion und Staat auf die Künste zu übertragen. Wie Hegel gehe ich davon aus, dass (1) in einer modernen Kultur weder die Religion noch die Kunst gegeneinander noch im Verhältnis zum Staat so aufgefasst werden dürfen, dass die Künste einfach der Religion oder die Religion und die Künste beide als bruchlose Teile eines Ganzen dem Staat untergeordnet werden dürfen. Möglicherweise sind während einer bestimmten Zeitspanne in der Geschichte Religion und Kunst quasi eins gewesen und die Volksreligion hat als integraler Teil eines Staates gegolten,13 aber in einem modernen Staat hat die Religion jedenfalls teilweise einen privaten, autonomen Status, und dies gilt auch für die Künste. (2) Weiter übernehme ich die typisch hegelianische Architektonik, wobei Kunst, Religion und Philosophie als Exponenten des absoluten Geistes dem Staat vielmehr über- als untergeordnet sind. Trotzdem stehen sie als solche zueinander in einem solchen Verhältnis, dass Konflikte und Friktionen zwischen den verschiedenen Gebieten nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern unvermeidlich sind. Dies hat Hegel am Fall der Religionen klar gezeigt; versuchen wir also, Hegels Urteil über das Verhältnis von Religion und Staat auf die Künste zu übertragen. 10 11 12
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Ebd., S. 830. Ebd., S. 831. Schiller selbst hatte anlässlich seines ersten Dramas (Die Räuber, 1781; Uraufführung 1782) die repressive Rolle der Zensur schon erfahren müssen, scheint jedoch in seiner Rede für die kurfürstliche deutsche Gesellschaft nichts darüber zu sagen zu haben. Siehe zum Beispiel G. W. F. Hegel, „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts", in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg 1968, S. 462.
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Unseren Anhaltspunkt finden wir in der bekannten Anmerkung zu § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, in welchem Hegel das Verhältnis von Religion und Staat ausführlich darlegt. Die daran anschließende Anmerkung zu § 552 der Berliner Enzyklopädie lasse ich hier beiseite. Der theoretische Ausgangspunkt der Diskussion in den Grundlinien ist doppelt. (1) Die Religion ist etwas Höheres als der Staat und (2) die Religion fungiert als Grundlage des Staates. Diese zweifache Voraussetzung ist nicht nur eine von vielen religiösen Menschen geteilte Meinung, sondern sie ist auch Ausdruck von Hegels eigener Überzeugung.14 Unsere Aufgabe wäre es also nun, zu untersuchen, ob dies auch von der Kunst behauptet werden kann, d.h. ob Hegel sich auch so lesen lässt, dass auch die Kunst (1) als etwas Höheres als der Staat und (2) auch als Grundlage des Staates angesehen werden kann. Schon die Architektonik des Hegeischen Systems kann uns dabei auf die richtige Spur bringen, sofern Kunst und Religion, zusammen mit der Philosophie, die Sphäre des absoluten Geistes bilden und als solche über den Staat erhoben sind. Ob sie dabei auch als Grundlagen fungieren, sei dann noch eine weitere Frage. Bestimmend ist die These Hegels, dass jedenfalls die Religion „die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt" habe, gegenüber welcher der Staat nur „ein Bestimmtes" sei.15 Insofern die absolute Wahrheit alles Bestimmte integriert, fungiert sie auch als Grundlage des Bestimmten, und also auch des Staates. Können wir Ähnliches von der Kunst und ihrem Verhältnis zum Staat behaupten? Wie gesagt, gehört auch sie der höheren Sphäre des absoluten Geistes an; in der ersten Ausgabe der Enzyklopädie (E1), welche als Hintergrund für die „Anmerkung" in den Grundlinien fungiert, wird die Kunst noch als „Religion der Kunst" eingeführt, ein Titel, der die Kunst, oder zumindest eine besondere Kunstform, ausdrücklich unter die Religion subsumiert. Die Religion der Kunst gilt für den Hegel der E 1 als die unmittelbare Gestalt des Wissens von sich des absoluten Geistes, d.h. als „die der Anschauung und Vorstellung des absoluten Geistes als des Ideals"}6 Konkret wird dieses Ideal im folgenden Paragraphen schon mit dem identifiziert, was man Gott zu nennen pflegt. Damit ist der religiöse Gehalt des hegelschen Kunstbegriffs im Jahr 1817 zumindest angedeutet. Aber schließlich wird auch in E 2 und E 3 die Kunst, übrigens ebenso wie die Philosophie, als Religion (im allgemeinen Sinn) gefasst.17 Man braucht dabei nicht gleich an religiöse Kunst als solche zu denken, da Hegel, auch schon im Jahr 1817, zugibt, dass „der Inhalt des Gedankens, [der im Kunstwerk das Bild durchdringt, P. C.] 14
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In der Anmerkung zu § 270 der Grundlinien der Philosophie des Rechts (weiterhin GPhR), hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 4 1955, S. 220, fängt Hegel die Diskussion über das Verhältnis des Staates zur Religion mit der Behauptung an, dass „in neueren Zeiten so oft wiederholt worden ist, dass die Religion die Grundlage des Staats sei". Er lässt dabei noch unausgesprochen, ob er selbst dieselbe These verteidigt. Weiter (S. 222) wird jedoch klar, dass auch er die Religion als Grundlage, sei es auch nur als Grundlage, betrachtet. In der zweiten (E 2 ) und dritten Ausgabe (E 3 ) der Enzyklopädie (§ 552 Anmerkung) wird dies nochmals extra betont. Vgl. GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 221, § 270, Anmerkung. E1 § 456. Vgl. E 2 ; E 3 § 554.
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eben so wie der Stoff, den er zu seiner Einbildung gebraucht, [...] zunächst von der verschiedensten Art" sein kann.18 Schließlich kann man dies so interpretieren, dass ein jedes Kunstwerk - auch das Kunstwerk mit dem gemeinsten Inhalt (ζ. B. „der Wein im Glas"19) - als Ausdruck der Idee von dieser Durchdringung des Stoffs im Bild Zeugnis ablegt und insofern tatsächlich, ebenso wie die Religion, „die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt" hat.20 Dass an ihrer spezifischen Form (der der Unmittelbarkeit der Anschauung) bestimmte Beschränkungen kleben, kann man mit demselben Recht auch von der Religion sagen (die Beschränktheit der Form der Vorstellung), wenn man sie mit der vollkommeneren Form der Wissenschaft vergleicht. Ob es uns dies auch erlaubt, die Kunst als Grundlage des Staates zu interpretieren, ist eine weitere Frage. Dies scheinen wir doch nur sinnvoll behaupten zu können, insofern Kunst tatsächlich als Kunst religion gefasst wird. Wenn Hegel von der Religion als Grundlage spricht, hebt er hervor, dass diese sich mit Gott „als der uneingeschränkten Grundlage und Ursache, an der alles hängt",21 beschäftigt, und dass die Religion auch die Forderung enthält, dass „alles auch in dieser Beziehung gefaßt werde und in ihr seine Bestätigung, Rechfertigung, Vergewisserung erlange".22 Ob Kunst dies auch ohne die Vorstellung eines Gottes fordern könne, ist zumindest nicht evident. Wenn man jedoch Kunst als Ideal und deshalb als Schönheit fasst, unabhängig vom konkreten Inhalt der Kunstwerke, wie Hegel dies, zwar nicht immer, aber doch wenigstens in E1 § 460 zu tun scheint, könnte man, mit einigem Wohlwollen, erklären, man solle das Leben, auch das gesellschaftliche Leben im Staat, diesem Ideal der Schönheit entsprechend einrichten, jedoch ohne sich utopische Hoffnungen auf eine direkte Applikation dieses Ideals zu machen. Schönheit funktionierte dann, auch in einer modernen Welt, irgendwie auf dieselbe Weise, wie Schiller in seinen späteren theoretischen Schriften eine „ästhetische Erziehung des Menschen" vor Augen hatte, egal welchen Stoff das Kunstideal inkarniert. Dann könnte auch die Kunst, als Ausdruck der absoluten Wahrheit in der Form der Anschauung, gleich wie die Religion, den Menschen über die Endlichkeiten des Lebens erheben und „in dem Verlust wirklicher Zwecke, Interessen und Besitztümer das Bewußtsein des Unwandelbaren und der höchsten Freiheit und Befriedigung" gewähren.23 Zwar nötigt Hegels berühmte These vom Ende der Kunst zur Vorsicht, aber trotzdem wage ich es, zu suggerieren, dass für Hegel auch in einem modernen Kontext der Kunst eine zwar nicht länger dominante, aber doch bescheidene grundlegende Rolle zuzuweisen sei. 18 19
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Vgl. E1 § 460. G. W. F. Hegel, Philosophie der Kunst oder Aesthetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826, hg. von A. Gethmann-Siefert und B. Collenberg-Plotnikov, München 2004, S. 152. Vgl. GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 221, § 270, Anmerkung. - Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823, Hamburg 1998, S. 4: „Die höchste Bestimmung hat die Kunst [...] gemein mit der Religion und Philosophie, [sie] ist wie diese beiden eine Art und Weise, das Göttliche, die höchsten Forderungen des Geistes auszusprechen und zum Bewußtsein zu bringen". GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 221, § 270, Anmerkung. Ebd. Vgl. ebd., S. 222.
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Auch von der Religion behauptet Hegel schließlich, dass sie zwar Grundlage, aber auch nur Grundlage ist. Diese Überlegung erlaubt es ihm, zugleich die relative Selbstständigkeit des Staates gegenüber der Religion zu behaupten. Die Religion kann betonen, der Mensch habe den Willen Gottes zu vollbringen, aber „der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist".24 Hegel stellt hier die Wirklichkeit des Staates der Idealität der Religion entgegen. Der Wille Gottes, das Gute, wird im Staat nicht nur abstrakt repräsentiert, er erhält hier einen konkreten Gehalt und eine konkrete Gestalt. Viel Einbildungskraft brauchen wir nicht, um dies auch auf die Kunst anzuwenden. Auch die Schönheit als Kunstideal bleibt eine zwar anschauliche, aber doch wesentlich abstrakte Repräsentation des schönen und guten Lebens. Nur im Staat wird diese Repräsentation Wirklichkeit. Dieser Unterschied zwischen Grundlage und konkreter Wirklichkeit hat bei Hegel weitgehende Konsequenzen. Da die Religion „das Verhältnis zum Absoluten in Form des Gefühls, der Vorstellung, des Glaubens"25 ist, kann sie den Staat nicht zu konkreten Gesetzen, Einrichtungen oder Pflichten bringen. Im Gegenteil, eine solche Verbindung würde den Staat „dem Schwanken, der Unsicherheit und Zerrüttung"26 aussetzen. Vielleicht ist es überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die Kunst als Form, allein schon des Anteils der Einbildungskraft wegen, noch weniger dafür taugt, den Staat zu einer konkreten Gesetzgebung oder Rechten- und Pflichtenlehre zu bringen. Anders als die Religion tun die Künste dies meistens auch nicht. Nur selten werden aus den Künsten direkt politische oder allgemeinsittliche Vorschriften abgeleitet. Trotzdem gab und gibt es bestimmte Formen von engagierter politischer Kunst - ich denke z.B. an das Theater der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - , welche jedenfalls eine sehr direkte, allzu direkte Verbindung mit der Politik aufweisen. Auch auf der Biennale 2008 in Venedig - und auf der Documenta 12 in Kassel war es nicht anders - konnte man ab und zu das Gefühl haben, das politische Engagement sei allzu nachdrücklich anwesend. Meistens wirken Künstler jedoch indirekt, „als geheime Verführer (cf. Vance Packards .hidden persuaders'), durch fremde Symbole",27 wie Schiller es suggerierte, nur selten als fanatische Weltverbesserer. Nicht zufällig hatte Schiller, einige Jahre nachdem er sein Plädoyer für eine feste Schaubühne gehalten hatte, in kantischer Art argumentiert, dass Kunst zuerst eine Sache des freien Vergnügens sei und dass nur indirekt, „beiläufig", eine sittliche Wirkung von ihr zu erwarten sei.28 Nicht unberechtigterweise klagt Schiller darüber, dass „die wohlgemeinte Absicht, das Moralischgute überall als höchsten Zweck zu verfolgen, [...] in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte
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Ebd. Ebd. Ebd. F. Schiller, „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? ", a.a.O. (Anm. 1), S. 829. Vgl. F. Schiller, „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen", in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Darmstadt 9 1993, S. 359.
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und in Schutz nahm".29 Schlimmer wäre es vielleicht noch, wenn man unmittelbar eine politische Ordnung aus den Künsten abzuleiten versuchen würde. In diesem Fall würde man, wie vom religiösem, auch von künstlerischem Fanatismus reden können. In beiden Fällen könnte man mit Hegel sagen, dass man dann, nach außen hin im Namen der absoluten Wahrheit, tatsächlich jedoch „aus der subjektiven Vorstellung, d.i. dem Meinen und dem Belieben der Willkür",30 zu politischen Entscheidungen kommen würde. Diesem „in die Subjektivität des Fühlens und Vorstellens sich einhüllende[n] Wahrefn]"31 setzt Hegel eine Wahrheit entgegen, welche die mühsame Arbeit „der Einbildung der Vernunft in die Realität"32 beinhaltet - eine weltgeschichtliche Arbeit an Staatseinrichtungen und Gesetzen, welche politischer, nicht religiöser oder künstlerischer Art ist. Obwohl die politische Arbeit nicht nur Räsonnement, sondern ebenso Einbildungskraft erfordert, gibt es trotzdem keinen unmittelbaren Übergang vom Kunstwerk ins Politische. Die fanatische Illusion dieser Art von Unmittelbarkeit bedeutete gerade das Fiasko der 68er Jahre, welche von einer „imagination au pouvoir" träumten. Fanatismus ist jedoch nicht die einzig mögliche Haltung einer religiösen oder künstlerischen Gesinnung, welche die Autonomie des Politischen im Konkreten der Staatseinrichtungen und der Gesetzgebung nicht anerkennt. Eine andere mögliche, vor allem religiöse Position wäre diejenige, welche sich dem Übergang zur Verwirklichung verweigern würde, um „sich [einerseits] den Einrichtungen und Gesetzen [zu] fügen und es [andererseits] bei der Ergebung und dem Seufzen oder dem Verachten und Wünschen bewenden" ließe.33 Dieser „polemischen Art von Frömmigkeit", bei der Hegel unentschieden lässt, ob sie „mit einem wahren Bedürfnis oder auch bloß mit nicht befriedigter Eitelkeit" zusammenhänge, sei es dann gegeben, „auf eine unfehlbare und unantastbare Weise" über Gesetze und Staatseinrichtungen zu urteilen, wie sie sind und „wie sie beschaffen sein sollten und müßten".34 Dadurch, dass solche fromme Seelen sich nur auf das Innere ihres frommen Herzens berufen, wähnen sie sich auch über alle Kritik erhaben und können unantastbar, von der Höhe ihres Eigendünkels aus, die Welt be- und verurteilen. Auch diese Haltung ist, mutatis mutandis, einer bestimmten Art von Künstlern nicht fremd. Ich würde sie nicht als fromme Seelen umschreiben, aber es gibt ja doch solche, welche, da sie Politik als korrupt und eitel ansehen, im Kontrast zur vorherigen Kategorie auf jedes konkrete politische Engagement verzichten. Wer kennt sie nicht, diese immer mit der Welt Unzufriedenen, nur in sich selbst verliebten Künstler, welche sich im Namen der Kunst nur negativ gegen die Welt verhalten, sich aber faktisch einfach dem Bestehenden anpassen?
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Ebd. GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 223, § 270, Anmerkung. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 224. Vgl. ebd.
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Wenn wir einen Augenblick zurückschauen, dann können wir feststellen, dass Hegel, obwohl er im Prinzip mit der hierarchischen Superiorität der Religion einverstanden ist, bisher, vom politischen Standpunkt aus, nur negativ über die negativen und polemischen Formen, welche die Religion gegenüber der Politik möglicherweise einnehmen kann, geurteilt hat. Unsere eigene Zutat war nur, dass wir versucht haben, dieselben Gedanken auch in Auseinandersetzung mit den Künsten anzuwenden. Was aber, wenn die Religion nicht fanatisch oder polemisch, sondern „wahrhafter Art" ist und das gute und eigene Recht des Staates „anerkennt und bestätigt"?35 Das ist Hegels weitere Frage. Was, wenn die Kunst „wahrhafter Art" ist, wie steht es dann mit ihrem Verhältnis zum Staat? Das wäre unsere Frage. Zuerst macht Hegel darauf aufmerksam, dass Religion nicht nur Sache des Herzens ist, sondern auch Institutionen braucht: Eine Religion hat „ihren Zustand und ihre Äußerung",36 sie braucht Besitztümer und Diener, welche sich dem Kult widmen, was ein Verhältnis von Staat und Kirchengemeinde impliziert. Die nähere Bestimmung dieses auch heute noch delikaten Verhältnisses wird von Hegel, übrigens zu Unrecht, als „einfach" eingeschätzt. Hier anerkennt Hegel ausdrücklich, dass die Religion „das ihn [den Staat, P. C.] für das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment ist", und dass deshalb der Staat die Pflicht hat, der religiösen Gemeinde „allen Vorschub zu tun und Schutz zu gewähren".37 Auch hier können wir fragen, ob Hegel erstens den Künsten eine der Religion ähnliche integrierende Funktion zuschreiben würde und ob er zweitens auf Grund derselben für den Staat spezifische Pflichten gegenüber den Künsten vorschreiben würde. Ich glaube, gute Gründe zu haben, um anzunehmen, dass für Hegel auch die Kunst als ein integrierendes Moment des Staates gilt, obwohl sie vielleicht nicht gleich tief wie die Religion die Gesinnung bestimmt. Vielleicht können wir zuerst noch einmal an Schillers „feste Schaubühne" und Althussers These von den ideologischen Staatsapparaten erinnern. Der junge Schiller war deutlich davon überzeugt, dass feste Schaubühnen die Menschen vereinigen würden (vgl. seinen Traum von Deutschland als Nation) und dass der Staat deshalb die festen Schaubühnen zu unterstützen, vielleicht auch erst einzurichten habe. Mit Althusser können wir behaupten, dass (1) Ideologien nicht nur in den Köpfen der Menschen hausen, sondern wirklich als Apparate, d.h. als Institutionen fungieren, welche außerdem eine, wenn auch indirekte, Verbindung mit dem Staat haben. Anders als die repressiven Staatsapparate sind die ideologischen nicht streng und zentralistisch organisiert; aber auf eine indirekte und plurale Weise dienen sie trotzdem der Reproduktion des Staates. Aus Hegels Polemiken, vor allem gegen Fichte, wissen wir zwar, dass Hegel mit Althussers Qualifizierung des Beamtentums, der Polizei und der Armee als repressiven Apparaten nicht einverstanden sein und dass er sich auch 35 36 37
Ebd. Ebd. Ebd., S. 225. - Wie man weiß, geht Hegel noch weiter und suggeriert sogar, dass der Staat die Pflicht habe, von allen seinen Angehörigen zu fordern, dass sie irgendeiner, egal welcher Kirchengemeinde angehören, etwa wie es heute in den USA noch immer der Fall ist.
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gegen die mechanistische Vorstellung eines Staats apparats überhaupt sträuben würde; aber dass auf eine indirekte Weise nicht nur die Religionen, sondern auch die Künste der Reproduktion des Staates dienen, dies würde auch Hegel ruhig annehmen. Es könnte dies als eine rein utilitaristische Haltung erscheinen, aber sie ist es vielleicht doch nicht, jedenfalls nicht für Hegel. Religion und Kunst sind für ihn keine äußeren Instrumente, sondern Momente des Staates selbst: Hegel konzipiert sie als Momente oder auch als organische Teile, welche das Leben und die Bewegung des Staates selbst ausmachen. Die Pflege dieser Momente durch den Staat ist deshalb Selbstpflege: Sie unterstützen nicht nur den Staat, sie sind auch, wenigstens teilweise, dasjenige, worum es dem Staat selbst zu tun ist. Deshalb, so schließen wir, soll er auch den Künsten „allen Vorschub [...] tun und Schutz [...] gewähren".38 Zugleich enthalten Hegels Überlegungen auch eine Art Warnung. Kulturpolitik bedeutet nicht, dass der Staat den Inhalt der Religionen - und, fügen wir hinzu, der Künste - bestimmen solle oder dürfe. Wenn es dem Staat egal ist, welcher bestimmten Religion seine Mitglieder angehören - weil dies ja Sache des Inneren der Vorstellung ist - , kann dies auch für die Künste gelten. Zwar bewegen die letzteren sich eher auf der Ebene der Anschauung als auf der der Vorstellung (und scheinen deshalb eher äußerlich als innerlich zu sein), aber der Inhalt der Künste scheint doch nicht weniger dem Inneren des Künstlers zu gehören als dies bei den Religionen der Fall ist. Und auch die Religionen haben, was ihren Inhalt betrifft, wie die Künste auch eine äußere Seite (die Sprache, die Rituale, die Lebensregeln u.s.w.). Zumindest können wir behaupten, dass inhaltliche Präferenzen den Künsten selbst überlassen werden müssen. Für die Religionen geht Hegel so weit, zu stipulieren, dass mindestens der „in seiner Organisation ausgebildete und darum starke Staat" sich gegenüber dem religiösen Inhalt ganz liberal verhalten kann, auch wenn es um Aspekte geht, die den Staat selbst berühren.39 Auch wenn Religionen bestimmte, direkte Pflichten gegenüber den Staat nicht anerkennen, will er diese mit Toleranz behandelt sehen, wenigstens solange ihre Anzahl nicht zu groß wird, weil sie sonst die Organisation und das Weiterbestehen des Staates selbst bedrohen würden. Ich kann mir denken, dass Hegel ebenso viel, vielleicht noch mehr Toleranz gegenüber den Künsten aufbringen würde, sofern Künste, mehr noch als Religionen, als eine Privatangelegenheit gelten können und die Kunstinstitutionen meistens nicht so zentral und zwingend organisiert sind, wie dies bei den Religionen der Fall ist. Obwohl man Künstler nie als isolierte Individuen sehen darf, sind sie trotzdem Individuen, übrigens manchmal ziemlich eigensinnige. Ein starker Staat braucht deshalb keine künstlerische Kritik oder Widerstand zu fürchten, so scheint es. Nur schwache, ihrer selbst unsichere Staaten greifen schnell, allzu schnell nach Zensur und Repression rebellischer Kunstäußerungen. Genau so wie Hegel staatsunfreundlichen Gemeinden ihre Rechte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verbürgt sehen wollte, so würde er auch Künstlern ihre Freiheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft lassen.
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Ebd. Vgl. ebd.
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Ich glaube nicht, dass Hegel die Diener einer bestimmten Kirche als Staatsbeamte ansehen würde. Wenn dies der Fall wäre, könnte der Staat von den Priestern Obrigkeitstreue fordern, was bei einer Staatskirche ohne Zweifel der Fall sein würde. Gerade die Vielheit von Konfessionen garantiert deren Unabhängigkeit gegenüber dem Staat. Dieselbe Vielheit von Künstlern und Kunstauffassungen garantiert, dass der Staat keine bestimmten Künstler, Kunstformen oder Kunstauffassungen bevorzugen oder bevormunden darf oder kann. Zwar können Regierungen oder Könige bestimmte Künstler mit einem oder mehreren Aufträgen beehren, so etwa wie es „königliche Hoflieferanten" gibt, wenn es um Kleidung, Pralinen oder Kaffee geht. In England kennt man einen „poet laureate", einen vom Premierminister vorgeschlagenen und von der Königin ernannten Hofdichter, „dessen Aufgabe es ist, Gedichte für offizielle Anlässe und nationale Ereignisse zu verfassen".40 Im Jahr 2006 bin ich während eines Aufenthalts auf Sardinien tatsächlich dem damaligen englischen „poet laureate" Andrew Motion begegnet. Er ist ein interessanter Fall für uns, weil er als Nationaldichter regelmäßig Aufträge vom Staat bekam, aber zugleich darauf bestand, als Dichter seine Freiheit zu behalten. Damals hatte es bereits einen Konflikt gegeben, da Motion im Jahr 2003 als „UK poet laureate" ein Gedicht gegen den Krieg im Irak geschrieben hatte. Der Dichter sah sich seinerzeit gefordert, öffentlich zu erklären, dass das betreffende Gedicht überhaupt nicht unpatriotisch sei und dass er, obwohl sein Gedicht „sehr heftig" sei, den britischen Truppen nichts als Gutes wünsche. Zugleich hatte er ausdrücklich für sich das Recht beansprucht, auch als „poet laureate" eigene politische Auffassungen äußern zu können. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass die britische Regierung sich damals zum ersten Mal entschieden hat, den „poet laureate" nicht lebenslang, sondern nur für 10 Jahre zu ernennen. Irgendwie klingt das Problem wie Kants kluger, scheinbar eleganter Vorschlag in „Was ist Aufklärung", dass Geistliche obrigkeitstreu sprechen sollten, wenn sie ihre Dinge von der Kanzel herab verkündigen, aber sonst, als Gelehrte, das Recht haben, unzensiert und frei sprechen zu können. Mir scheint es jedenfalls sinnvoll zu sein, weder Priester noch Dichter zu vom Staat beauftragten Beamten zu machen, sondern sie vielmehr der bürgerlichen Gesellschaft zu überlassen. Ich nehme jedoch an, dass Andrew Motion in seinen Gedichten zum Tod der Queen Mother und der Prinzessin Margaret nicht so vehement gewesen sein wird, wie in seinem Gedicht über den Irak. Auf jeden Fall würde Hegel nichts dagegen haben, wenn Künstler die Regierung kritisieren jedenfalls wenn wir es mit einem starken Staat zu tun haben... Bleibt noch die schwierige Frage, wie man mit Hegels Restriktion umgehen muss, welche diese Toleranz nur so weit reichen lässt, wie der Ungehorsam gegenüber dem Staat nur die innere Seite der Gesinnung und der Vorstellung betrifft. Es klingt wie die Anerkennung der Denkfreiheit, jedoch ohne die Freiheit anzuerkennen, sein Denken auch tatsächlich äußern zu können. Die Gedanken sind frei, auch im Gefängnis, aber dies ist und bleibt eine traurige Freiheit.
40
http://de.wikipedia.org/wiki/Poet_Laureate (01.05.2010).
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Hegel würde jedoch nicht Hegel sein, wenn er beim Inneren stehen bleiben würde. Was die Religionen betrifft, macht er deshalb gleich den Übergang in die Äußerlichkeit. „Insofern [...] die kirchliche Gemeinde Eigentum besitzt, sonstige Handlungen des Kultus ausübt und Individuen dafür in Dienst hat, tritt sie aus dem Innern in das Weltliche und damit in das Gebiet des Staats herüber und stellt sich unmittelbar unter seine Gesetze", so heißt es kategorisch.41 Wenn das Sittliche mehr als innere Vorstellung oder Gesinnung ist, wenn es auf das Handeln ankommt - und das ist doch der Fall mit allem, was das Sittliche betrifft - , befinden wir uns auf dem Gebiet der „wirklichen Vernünftigkeit'', und dann sind es die Rechte des Staates, welche „zuerst" zu behaupten sind. Wenn es damit endet, dass die Rechte des Staates sowieso „zuerst" kommen, sobald man in die Äußerlichkeit tritt, dann bleibt für Religionen oder Künstler letztendlich doch nicht viel Freiheit übrig. „Was wäre das für eine Freiheit", würde Hegel vielleicht entgegnen, „eine Freiheit, welche sich gegen die Prinzipien des Staates polemisch verhalten würde, wäre dies eine richtige Freiheit?" Trotzdem scheint Hegel darauf zu insistieren, dass es einen bestimmten Spielraum gibt, innerhalb dessen der Staat eine bestimmte Toleranz ausüben kann, ohne dass Religionen oder Künstler dies als ein Recht beanspruchen könnten. Der Staat scheint, vor allem wenn polizeiliche Angelegenheiten zur Diskussion stehen, dazu geneigt zu sein, mehr Freiheit zuzugestehen, weil im Allgemeinen schon die polizeiliche Seite weniger bestimmt ist und deshalb mehr Toleranz erlaubt. Aber dass religiöse oder künstlerische Handlungen oder auch Organisationen sich der staatlichen Rechtsordnung oder der polizeilichen Oberaufsicht entziehen könnten, dies ist für Hegel - und nicht nur für ihn - undenkbar.42 Es ist klar, dass Angelegenheiten, welche die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sittlichkeit betreffen, im Prinzip der polizeilichen Oberaufsicht unterworfen sind. Inwiefern die Polizei dann beim geringsten Protest eingreifen soll, ist meistens vielmehr eine Sache der Weisheit als der Prinzipien. Es wäre nicht schwierig, ebenso viele Skandale als typische Kompromisse aufzuführen. 43 Man kann sich, entwe-
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Vgl. GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 225f„ § 270, Anmerkung. Ich verweise, was die Religion betrifft, einfach auf die Scientology Church, welche kürzlich in Belgien als eine verbrecherische Organisation angeklagt worden ist, oder, was die Künste betrifft, auf eine Ausstellung über Erotik in einem Wohnwagen, der in der Nähe eines populären Spazierwegs geparkt war - wobei die Polizei auf Befehl des Bürgermeisters die Brustwarzen der nackten Playboy-Damen keusch mit Klebeband bedeckt hat. Ein typischer Kompromiss, an den ich mich erinnere, war anlässlich einer Ausstellung von Robert Mapplethorpe in Cincinnati, ein Jahr nach seinem Tod, wo anfänglich die Ausstellung ihres pornographischen Charakters wegen abgesetzt wurde. Dies wurde so begründet, dass die Ausstellung nicht in einem öffentlichen Gebäude der Stadt stattfinden dürfe, weil die Obrigkeit sie dann mit Steuergeldern von Bürgern organisieren würde, welche sich gerade von Mapplethorpes hartem BDSM-Sex höchst gekränkt fühlten. Einige Jahre später habe ich in New York eine Ausstellung besucht, diesmal in einer privaten Galerie, wo die härteren Homo- und SM-Bilder in den Keller verwiesen waren, und wobei am Eingang des Kellers ausdrücklich mit einem Schild gewarnt wurde, dass bestimmte Bilder von bestimmten Erwachsenen vielleicht als kränkend empfunden werden könnten und Kinder hier sowieso nicht zugelassen seien.
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PAUL CRUYSBERGHS
der im Namen der künstlerischen Freiheit oder im Namen der öffentlichen Sittlichkeit, über solche Kompromisse ärgern. Jedenfalls gibt es in diesem Bereich Friktionen, wobei überhaupt nicht eindeutig klar ist, inwiefern künstlerische Freiheit oder öffentliche Sittlichkeit überwiegen soll. Hegel bestätigt ausdrücklich, dass die Lehren der Religionen als solche dem Gewissen angehören, und mit ruhigem Gewissen können wir dies auch von den künstlerischen oder auch von den gesellschaftlichen, religiösen oder philosophischen Auffassungen der Künstler behaupten. Das Gewissen sei Sache der subjektiven Freiheit und gehöre nicht dem Staat, behauptet Hegel kategorisch. Aber zugleich erinnert er daran, dass nicht nur Religionen (und Künstler, würden wir hinzufügen) eine Lehre haben, sondern auch der Staat, weil die Verfassung, die Einrichtungen und das Recht wesentlich als Gesetze bestehen, das heißt in der Form des Gedankens gesetzt sind. Und da das Ganze der Gesetze von Hegel nicht als Mechanismus (wie bei Fichte), sondern als „das vernünftige Leben der selbstbewussten Freiheit" aufgefasst wird, trifft man auch im Staat eine eigene Gesinnung und auch Grundsätze an, welche als Ausdruck dieser Gesinnung gelten. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass religiöse, künstlerische und politische Gesinnungen miteinander in Konflikt geraten. Solange diese Konflikte sich ausschließlich im Herzen der Bürger abspielen, ist dies keine Sache, welche den Staat als solchen angeht; dies ist erst dann der Fall, wenn sich die Bürger äußern. Dann wird der innere Konflikt ein äußerer und es erhebt sich auch die Frage, ob die Religionen ζ. B. das Recht haben, zu fordern, dass der Staat ihre Lehren „nicht nur mit vollkommener Freiheit gewähren lasse", sondern sie überdies auch noch „unbedingten Respekt vor ihrem Lehren" fordern könne, „wie es auch beschaffen sein möge"44. Die Gefahr, dass auch Künstler an den Staat ähnliche Forderungen geltend machen würden, ist nicht so groß; vielmehr können wir damit rechnen, dass gerade bestimmte Religionen nicht nur vom Staat, sondern auch von den Künsten fordern, dass sie vor der religiösen Lehre das Haupt beugen. Eingedenk der hierarchischen Erhabenheit der Religion gegenüber dem Staat ist es kein Wunder, dass Hegel gegen die Anmaßung der Religion gerade die Philosophie (in seiner Terminologie: die Wissenschaft) einsetzt. Einerseits kann die Philosophie „noch mit größerer Berechtigung"45 an die Stelle der Kirche (und der Künste, könnten wir hinzufügen) treten und ihre Unabhängigkeit vom Staat einfordern. Andererseits streitet die Philosophie an der Seite des Staates, weil beide eine wirkliche Vernunft beabsichtigen. Die Philosophie wird deshalb den Staat, insofern er vernünftig seine Gesetze erarbeitet, unterstützen, wie der Staat auch manchmal die Philosophie und die Freiheit des Denkens gegenüber der Religion unterstützt hat. Die Religion hat die Wahrheit nur als einen gegebenen Inhalt, gestützt auf Autorität, auf Glauben und Empfindung, nicht auf begriffliches Denken, wie dies in der Philosophie, aber auch im Staat der Fall ist. Dies kann selbstverständlich noch mehr gegen die Künste, welche sich nur auf Einbildungskraft und Anschauung berufen können, vorgebracht werden. 44 45
GPhR, a.a.O. (Anm. 14), S. 228, § 270, Anmerkung. Ebd.
KUNSTPOLITIK BEI H E G E L ?
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Hegel geht jedoch noch weiter; sofern auch die Philosophie in Meinen und Räsonnieren verfallen kann, fällt dies außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Staates: Gegen subjektive Meinungen hat er „keine wahre Kraft und Gewalt in sich".46 In dem Fall jedoch, dass Kunst oder Kirche oder Philosophie mit ihrem Meinen schlechte Grundsätze vertreten und die Wirklichkeit dadurch angreifen, dass sie zu allgemeinen Meinungen zu werden drohen, dann muss der Staat auftreten, um „die objektive Wahrheit und die Grundsätze des sittlichen Lebens in Schutz zu nehmen",47 wie er auch umgekehrt gegen eine unbeschränkt autoritäre Kirche (wie der Katholizismus?) das Recht auf eigene Einsicht, Überzeugung und eigenes Denken zu schützen hat. Letzteres wird selten in den Künsten der Fall sein. Zwar hat es in der Vergangenheit Kanones der Schönheit gegeben, welche ohne Zweifel als erdrückend erfahren worden sind, aber dies ist keine Sache der Politik. Das sind Strittigkeiten, welche innerhalb des Gebiets der Künste geschlichtet werden müssen. Nur wenn Kunst sich polemisch gegen sittliche Grundsätze oder die Staatsordnung kehrt, muss der Staat eingreifen - das wäre Hegels These. Bleibt nur noch die Gefahr, dass der Staat selbst nicht so vernünftig ist, wie er vorgibt. Wenn die Künste sich dann auf die Seite des Staates stellen, geht es überhaupt nicht gut. Man könnte sich ein Ideal denken, bei dem Staat, Religion, Kunst und Philosophie als Eins erscheinen würden. Im Wesentlichen scheint Hegel dieses Ideal zu teilen. Die Einheit liege in „der Wahrheit der Grundsätze und Gesinnung". Dabei ist Hegel sich bewusst, dass mit dieser Einheit zugleich auch der Unterschied dieser Sphären ihrer Form nach gesetzt ist. Dies sei auch vom Staat anzuerkennen und zu garantieren. Was aber, wenn der Staat selbst seine eigene Grenze überschreitet und unvernünftig, autoritär und totalitär wird? Sind es dann nicht die Künstler, die Religionen und die Philosophen, welche, wie der junge Marx noch ganz hegelisch betonte, jedes Mal auf ihre Weise den Staat an seine Vernünftigkeit erinnern und so, mit einem Wort Husserls, als Funktionäre der Menschheit auftreten müssen? Und in diesem Fall bin ich davon überzeugt, dass den Künsten zu diesem Zweck ein reicheres Arsenal als der Religion oder der Philosophie zur Verfügung steht. Im letzten Jahrhundert haben die Künstler, auch wenn sie als entartet abgewiesen worden sind, bewiesen, stärker als die Philosophen gegen Machtusurpationen auftreten zu können. Ob sie dabei imstande gewesen sind oder in der Zukunft imstande sein werden, die Welt zu retten, ist eine andere Frage.
46 47
Ebd., S. 231. Ebd., S. 232.
N I V E S DELIJA TRESCEC
Staat und Kunst Gehört die Verwirklichung der Ideale in einem Kunstwerk der Vergangenheit an?
Hegel hat in seinen Vorlesungen zur Ästhetik der Analyse und der Bestimmung des Ideals bzw. der Art und Weise, wie und unter welchen Bedingungen es sich im konkreten Kunstwerk verwirklicht, breiten Raum gegeben. Die Theorie über die Bestimmtheit des Ideals ist zu einem guten Teil Erörterung des Gehalts eines Kunstwerks, die uns am besten zeigt, in welchem Maße Hegels Ästhetik zugleich ein hermeneutisches Unternehmen ist. Wir sind uns einig, dass Hegels Ästhetik einen hermeneutischen Zug dadurch bekommt, dass sie Kunstmodalitäten eines theologisch-philosophischen Gehalts im Hinblick auf verschiedene Weltanschauungen und geschichtliche Bedingungen sowie auch auf das materielle Medium der Realisierung bestimmt. 1 Damit kommen wir in die Lage, das Kunstwerk selbst als hermeneutisches Organon einer geschichtlichen Wirklichkeit zu betrachten. Auch Hegel selbst hat, wie noch zu zeigen sein wird, der Kunst solche Eigenschaften zugeschrieben, ohne irgendeine einzelne von ihnen als das Endziel der Kunst herauszustellen. Den hermeneutischen Aspekt der Kunst, den wir in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik wie auch in dieser Theorie der Bestimmtheit des Ideals bzw. des Kunstgehalts finden, bekräftigt unsere Absicht, in demselben hermeneutischen Modus auch einen Teil der Antwort auf das Rätsel der Rede vom „Ende der Kunst" zu finden, welches uns nach unserer Ansicht eine Lösung für ihr Fortleben gibt, indem es die Kunst zugleich in die Vergangenheit verabschiedet. Die romantische Phase der Kunst, zu welcher Hegel auch seine Gegenwart zählt, wird immer als die letzte Phase der Kunst interpretiert. Wir werden aber sehen, dass Hegels Analyse des Kunstgehalts schon zeigt, wie die Kunst ihre romantische Phase überleben könnte: mit Hilfe der Humanität und der menschlichen Wirklichkeit als Spiegelbild der Substantialität. Um diese Lösung vorzustellen, müssen wir erst unterscheiden, was der Gehalt der Kunst ist, und was das Ideal als solches bestimmt. 1
Jean-Marie Schaeffer, Art of the Modern Age. Philosophy of Art from Kant to Heidegger, Princeton 2000, S. 145.
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„Die Bestimmtheit", sagt Hegel, ist „gleichsam die Brücke zur Erscheinung" und stellt eigentlich die Konkretheit des Ideals oder ein ideenimmanentes Prinzip ihrer Erscheinungsweise in der Einzelheit dar. Diese Bestimmtheit stammt von der Idee selbst ab, welche sich selbst bestimmt und konkretisiert, um nicht abstrakt im Sinne der „metaphysischen Logik" zu bleiben, was wiederum heißt, dass die Idee, die in sich konkret ist, in sich selbst auch das Prinzip ihrer Erscheinungsweise trägt. „So gefaßt, ist die Idee als ihrem Begriff gemäß gestaltete Wirklichkeit, das Ideal"} Das Ideal ist eigentlich das Kunstschöne als Konkretisierung des Begriffs, wo die Idee und deren konkrete Einzelheit völlig im Einklang sein müssen. Das geschieht nur in der höchsten Kunst. Für Hegel ist dies jene Kunst, die das Göttliche in menschlicher Gestalt zum Gegenstand hat. In einer solchen Kunst sind die Idee und ihre Darstellung im völligen Einklang, und dafür ist es wiederum notwendig, „daß die Idee in sich und durch sich selbst als konkrete Totalität bestimmt sei".3 Der Gehalt der Kunst ist das Ideal und ihre Form ist eine sinnliche Gestalt. Die Kunst muss diese beiden Seiten versöhnen und eine „freie Totalität schaffen". Dasjenige, was den Gehalt der Kunst ausmacht, darf an sich nicht etwas Abstraktes sein. Hegel sagt, „alles Wahrhaftige des Geistes sowohl als der Natur ist in sich konkret und hat der Allgemeinheit unerachtet dennoch Subjektivität und Besonderheit in sich".4 Wenn wir beispielsweise von Gott sagen, dass er das höchste Wesen ist, haben wir damit bloß eine „tote Abstraktion" ausgesagt. Ein Gott, der nicht in der konkreten Wahrheit erfasst wird, wird nicht geeignet sein, Gehalt der künstlerischen Darstellung zu werden. Deswegen behauptet Hegel, dass Juden und Türken nicht wie die Christen in der Lage waren, ihren Gott auf eine positive Art in der Kunst darzustellen: „Denn im Christentume ist Gott in seiner Wahrheit und deshalb als in sich durchaus konkret, als Person, als Subjekt und in näherer Bestimmtheit als Geist vorgestellt". Aus der religiösen Sicht ist Gott als Geist Dreieinigkeit, die gleichzeitig als das Wesen, als Allgemeinheit und Besonderheit umfassende Einheit erscheint.5 Also erfordert die Kunst die Konkretheit des Gehalts in seiner Wahrhaftigkeit, denn Hegel sagt, dass jenes, welches im abstrakten Sinne allgemein ist, sich nicht zu einzelnen Erscheinungen entwickeln kann, um sich in ihnen mit sich selbst zu vereinen. Wie der Gehalt konkret sein muss, so soll auch die Form bzw. Gestaltung konkret, individuell und vereinzelt sein. Die Konkretheit, die dem Inhalt und der Form eigen ist, soll derjenige Punkt sein, in dem beide übereinstimmen. Hegel gibt dafür das Beispiel der Gestalt des menschlichen Körpers, die die sinnliche Konkretheit darstellt und die den konkreten Geist anzeigen und im Einklang mit ihm sein kann.6 Schaeffer findet, dass sich Hegels Ästhetik in vielerlei Hinsicht auf die Errungenschaften der romantischen Theoretiker stützt und behauptet, dass sie wie jede andere
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke\ Theorie-Werkausgabe, Bd.13, Frankfurt/M 1970, S. 105. Ebd., S.106. Ebd., S.100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 101.
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romantische Theorie eigentlich eine „Inhaltsästhetik" ist.7 Er denkt dabei an den Inhalt der Kunst: „the unity of Art is guaranteed by the universality of its content, which is common to all the arts; the latter's differentiations are due solely to the semiotic diversity of the substrates in which Art is incarnated. Because of the speculative character of Art, and hence because of its participation in the sphere of absolute Spirit, this content is the same as that of philosophy and religion; the differentiation of these three spiritual activities is also realized solely through the distinction of their semiotic forms." 8 Es ist also klar, dass der Inhalt philosophisch-theologisch ist. Im Sinne einer abstrakteren Bestimmtheit ist der Kunstinhalt, wie wir oben gesehen haben, die Idee, oder genauer: das Ideal. Bei einer konkreteren Bestimmung spricht Hegel davon, dass die Kunst „das Göttliche, die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen" habe.9 Was das Göttliche als Inhalt angeht, behauptet Schaeffer, dass die theologische Referenz keineswegs eine metaphorische ist, weil für Hegel die Kunst nur dann in einem wirklichen Einklang mit ihrem Wesen sein kann, wenn sie einen theologischen Inhalt manifestiert.10 Wir wissen, dass das Göttliche im Kunstwerk nicht als absolute Universalität dargestellt werden kann, da die künstlerische Darstellung nur eine einzelne und sinnliche sein kann. Daher kann die Kunst das Göttliche vollständig ausdrücken, wenn dieses konkretisiert und partikularisiert ist, wie bei den griechischen Göttern, wo das Göttliche in der Form des Körpers ausgewiesen wird. Auch im Christentum kann teilweise der erhabene Inhalt des Göttlichen erfolgreich expliziert werden, obwohl es sich dabei nicht mehr um die paradigmatische Erscheinungsform handelt wie im mythologischen Griechenland. Die Entwicklung der künstlerischen Formen steht im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung des Geistes, da er in diesen Formen der künstlerischen Gestaltung sich seiner selbst als „künstlerischer Geist" bewusst wird. Die Entwicklung dieser Formen kann im Blick auf die Adäquatheit des Verhältnisses zwischen Inhalt und Form betrachtet werden. In letzter Konsequenz kann auch die These vom „Ende der Kunst" aus diesem Verhältnis der Übereinstimmung zwischen Inhalt und künstlerischer Form verstanden werden. Wir haben gesehen, dass einem bestimmten Inhalt die sinnliche künstlerische Darstellung als seine Erscheinungsform entspricht. Das ist der Fall bei den griechischen Göttern. Im Gegensatz zu diesem Inhalt verlangt ein anderer, wie der christliche Gott, seinem Wesen nach eine höhere geistige Form. Der christliche Gott ist ebenfalls konkret und daher eignet er sich für die künstlerische Darstellung oder, besser gesagt, für den Kunstinhalt. Aber als „konkrete Persönlichkeit" ist der christliche Gott auch „als reine Geistigkeit, und soll als Geist und im Geist gewußt werden. Sein Element des Daseins ist dadurch wesentlich das innere Wissen und nicht die äußere Naturgestalt", durch welche die Kunst diesen Inhalt nur bis zu einem gewissen Grad
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Schaeffer, Art of the Modern Age, a.a.O. (Anm. 1), S. 140. Ebd., S. 141. Hegel, Werke 13, a.a.O. (Anm. 2), S. 21. Schaeffer, Art of the Modern Age, a.a.O. (Anm. 1), S. 141.
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ausdrücken kann.11 Wir müssen hier betonen, dass Hegel den Kunstinhalt nicht nur auf die Darstellung der religiösen Götter beschränkt, und dass der Inhalt nicht ausschließlich ein theologischer ist. Wir dürfen nicht seine Behauptung aus den Augen verlieren, dass die Kunst neben dem Göttlichen auch die „tiefsten menschlichen Interessen" ausdrücken muss, wie auch die Wahrheit des Geistes. Jede menschliche Erscheinung, die eine Substantialität darstellt, kann zum Kunstinhalt werden: „Any substantial human reality can become the content of Art, it being understood that human reality, as soon as it involves the interests of Spirit, participates in the Divine and expresses it (at the same time that it manifests the immanent character of the Divine). Thus Art is not limited to the representation of the world of Greek mythology, even if the latter is the world of Art par excellence."12 Es ist interessant, dass Hegel selbst dann, wenn er vom Ideal und dem idealen Inhalt spricht, die niederländische Genremalerei der späteren Renaissance hervorhebt. Diese hat durch die Ansichten des Künstlers und dessen Vergeistigung die scheinbar prosaischen Dinge und Erscheinungen aus dem gewöhnlichen menschlichen Leben zum höchsten Grad der Vollkommenheit gebracht. In diesen Bildern spiegelt sich das Ideal als vollkommene Würde des bürgerlichen Lebens. Wir müssen in Bezug auf den idealen Inhalt im Zusammenhang mit der niederländischen Malerei noch auf ein äußerst neues und die moderne Malerei antizipierendes Element hinweisen. Wir wissen nämlich, dass es in der romantischen Malerei, insbesondere in ihrer letzten Phase, zur Auflösung jener Einheit zwischen geistiger Universalität und sinnlicher Singularität kommt, weil der Geist, d.h. die Wahrheit, nicht mehr durch Kunst ausgewiesen werden kann. Mit der Ablösung der inneren Geistigkeit von deren sinnlicher Verkörperung kann sich dieses sinnliche Medium emanzipieren und Inhalt werden. In der niederländischen Malerei erkennt Hegel so die Entwicklung in Richtung reiner Virtuosität in Bezug auf Farben, Flächen und das Chiaroscuro.13 Wenn Hegel vom Ideal spricht, setzt er, abgesehen davon, dass er seinen Begriff analysiert, den Akzent auf das, was das Ideal in seiner „Bestimmtheit als Kunstwerk" ist. Daher erörtert Hegel die Frage, was den besten Inhalt oder das beste Motiv für die Kunst darstellt. Von natürlichen Produkten ist der Mensch das schönste, da er schon an sich vergeistigt ist und eine Totalität darstellt. Das ist der natürliche Organismus, der sich durch die Kunst in der Menschengestalt ausdrückt. In der Kunst soll der innere Geistesgehalt seine äußere Gestalt bekommen, und dieser Gehalt befindet sich, sagt Hegel, in dem realen menschlichen Geist, der sich in der äußeren Gestalt zeigt.14 Allerdings kann der Mensch als solcher nicht eine ideale Gestalt darstellen, da die Schönheit das Göttliche erfordert. Die Kunst enthält einen Aspekt des Göttlichen, in welchem die organische Form bzw. Gestalt, d.h. die sinnliche Präsenz, maximalisiert wird.15 Daher wird das Bedürfnis der künstlerischen Darstellung am besten in der Phase des grie11 12 13 14 15
Hegel, Werke 13, a.a.O. (Anm. 2), S. 102f. Schaeffer, Art of the Modern Age, a.a.O. (Anm. 1), S. 141. Ebd., S. 142. Hegel, Werke 13, a.a.O. (Anm. 2), S. 227. Katharine Everett Gilbert/Helmut Kuhn, A History of Esthetics, Bloomington 1954, Kapitel XIV.
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chischen Polytheismus befriedigt, da jene natürliche Einheit, nämlich der menschliche Körper, in den griechischen Göttern bis zur völligen Übereinstimmung gereinigt und erhoben wurde. Das Göttliche soll daher der Mittelpunkt der künstlerischen Darstellung sein. Mit seiner Befreiung von der Abstraktheit kommt dieses in die Lage, dass es künstlerisch dargestellt werden kann. Die Einbildungskraft des Künstlers soll es in der Form seiner Bestimmtheit erfassen und bildlich darstellen; hier, sagt Hegel, fangt erst der Bereich der idealen Kunst an.16 Der griechische Polytheismus bildet die beste Plattform für ein solches künstlerisches Ideal, weil die göttliche Substanz in eine Vielzahl von selbständigen Göttern, die menschliche Formmerkmale aufweisen, aufgeteilt ist. Im Christentum erscheint Gott nicht nur als eine in sich reine geistige Einheit, sondern auch als konkreter Mensch, der in das irdische profane Leben „unmittelbar" eingebunden ist. Für die ideale Kunst sind auch Heilige, Märtyrer und besonders fromme Menschen geeignet. Mit dem Prinzip der Besonderheit des Göttlichen und seiner konkreten Bestimmtheit tritt auch „die Partikularität der menschlichen Wirklichkeit" in den Blick, weil das „konkrete Leben [...] den lebendigen Stoif der Kunst" bildet und das Ideal „dessen Darstellung und Ausdruck" ist.17 Die höchste Reinheit des Ideals findet sich in der seligen Ruhe und der Zufriedenheit der Gestalten selbst. Diese Ruhe des Ideals spiegelt sich beispielsweise bei Herkules; wenn jedoch Götter in Verwicklungen dargestellt werden, dann müssen sie „dennoch in ihrer unvergänglichen, unantastbaren Hoheit verbleiben".18 Die griechischen Götter sind in Menschengestalt dargestellt, d.h. die Körper, in denen sie sich zeigen, haben ihre Seelen, aber sie sind weiser und mächtiger als Menschen, und dieser erhabene Zustand des Geistes ist in den Formen, die frei sind von Verbildung und Beschränkung, dargestellt. Der in der Verkörperung als Christus dargestellte Gott befriedigt ebenso die Forderungen der Kunst. Daher stellen die griechischen Götter den Hauptgegenstand der größten Plastik und Poesie, während die Geschichte des christlichen Gott-Menschen den beliebtesten Gegenstand in der Epoche der Malerei darstellt.19 Diese Seligkeit und Ruhe des Ideals, von der Hegel spricht, und seine substantielle Begründung in sich selbst, wird als die „Unabhängigkeit des Ideals" bezeichnet. Diese stellt eine reine, grundlegende Form der Idealität dar. Hegel fügt jedoch gleich hinzu, dass dem Geistigen naturgemäß „wirksame Bewegung und Entwicklung" immanent ist. Das Prinzip der Entwicklung und des Widerstreits ist wichtig für das Ideal; daher führt Hegel die Bestimmtheit des Ideals, die in sich „different und progressiv" ist, ein, und das ist die sogenannte „Handlung".20 Hegels Spezifizierung des Ideals bzw. des Inhalts ist in sich ebenfalls progressiv, daher führt er drei grundlegende Bestimmungen dieses Ideals ein, welche uns den hermeneutischen Sinn der Hegeischen Ästhetik zeigen. Das sind der „allgemeine Weltzustand", die „Situation" und „Handlung". An 16 17 18 19 20
Hegel, Werke 13, a.a.O. (Anm. 2), S. 231. Ebd., S. 231. Ebd. S. 232. Vgl. Gilbert/Kuhn, A History of Esthetics, a.a.O. (Anm. 15), S. 363. Hegel, Werke 13, a.a.O. (Anm. 2), S. 233.
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erster Stelle ist der allgemeine Weltzustand zu nennen, der eine „Voraussetzung" für die individuelle Handlung und deren Charaktere ist. Das ist eine gesellschaftlich-geschichtliche Zivilisationsszene mit ihren moralischen und gesetzlichen Voraussetzungen, auf welcher die Kunst verschiedene Charaktere und Handlungen aufFühren soll. Der allgemeine Weltzustand, so können wir sagen, umfasst auch die vollständige Struktur der Formen des objektiven Geistes einer geschichtlichen Periode und die ihr innewohnende Weltanschauung. Dazu gehört der Zustand der Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, des Rechts- und Staatswesens, sowie insbesondere die Fragen der Moral und des gesetzmäßigen Lebens. Das, was die Kunst von diesem allgemeinen Weltzustand braucht, besteht darin, dass dieser als Substantialität in einer unabhängigen Form erscheint, damit er die Gestalt des Ideals annehmen kann. Wir haben gesehen, dass der Mensch als vergeistigtes Individuum in seiner Natürlichkeit nicht vollständig den Forderungen der Kunst, oder in seiner Beschränktheit den Forderungen des Göttlichen entspricht. Aber wenn wir den Menschen mithilfe von Bedingungen seiner Umgebung und des Weltzustands, in welchem er die substantielle Allgemeinheit in subjektiver Gestalt darstellt, begreifen, dann wird er als Individuum geeignet für die künstlerische Darstellung. Nach Hegels Meinung gibt es gewisse geschichtliche Epochen und bestimmte allgemeine Weltzustände, die nicht mehr für das künstlerische Schaffen geeignet sind. Das gilt aufgrund seiner Weltanschauung für das Heroenzeitalter, wo die „heroische Individualität" eng an ihre Substantialität gebunden bleibt. Hierin liegt einer der Gründe, warum ideale Kunstgestalten im mythischen Heroenzeitalter auftauchen.21 Dieser Weltzustand ist am besten für die Kunst geeignet, weil hier die substantielle Determiniertheit und menschliche Individualität aufs beste übereinstimmen. Das heißt wiederum, dass die menschliche Individualität die Universalität begründet. Das gesellschaftliche und moralische Leben solcher Individuen oder Heroen ist nicht durch die gesellschaftlichen Normen oder die staatliche und gesetzliche Ordnung bestimmt. In einem geordneten Staatsgebilde, sagt Hegel, herrschen Regeln in ihrer Allgemeinheit und Notwendigkeit, während sich der Einzelne an diese Regeln anpasst.22 Im Gegensatz dazu stellt sich das heroische Individuum aufgrund seines Willens, seiner Wirksamkeit und seines Charakters an die Spitze der Wirklichkeit, in der es lebt und alle ihre Werte verkörpert, aber derart, dass es sie allein aus eigenen Ressourcen hervorbringt. Das heroische Individuum ist das Ideal, weil es ganz an die Substantialität jener Verhältnisse des Geistes, die sie verwirklicht und belebt, gebunden ist. Eine solche Individualität steht nicht im Widerspruch zur staatlichen oder gesellschaftlichen Gemeinschaft, sondern sie identifiziert sich vielmehr mit der Universalität ihrer Gemeinschaft, mit allen Werten der Gesellschaft, und verkörpert damit den Geist ihres Volkes. Das ist beispielsweise in den Homerischen Epen der Fall, in denen die Tugend im griechischen Sinne die Grundlage der heroischen Natur ist, was in einem geringeren Maße auch für die Welt der mittelalterlichen epischen Literatur gilt. Was das moderne Individuum angeht, so ist dieses, wie Hegel sagt, als Subjekt frei und kann sich nach Belieben entwickeln, aber es stellt 21 22
Ebd., S. 248. Ebd., S. 242.
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nicht wie im heroischen Zeitalter die Vollständigkeit der Figur, d.h. die Verkörperung des Rechts, der Moral und der Gesetzlichkeit dar.23 Aber dieser Weltzustand ist nach wie vor etwas in sich Unbewegtes und Harmonisches und stellt daher eine „substanzielle Einheit" dar, während es Individualitäten nur in ihrer „allgemeinen Form" gibt. Daher haben wir an zweiter Stelle die Situation als Bestimmtheit des Ideals und Inhalts. Diese können wir als einen Zustand beschreiben, welcher aufgrund der ihm eigenen Konflikte, Differenzierungen und Spannungen die Handlung auslöst. Der substantielle „Kreis der allgemeinen Mächte" d.h. jener allgemeine Zustand, vereinzelt sich in sich seine autonomen Teile, die „Individuen, welche als das betätigende Vollbringen dieser Mächte heraustreten und die individuelle Gestalt für dieselbe abgeben".24 Unterschiede und Gegensätze, die zwischen dem Weltzustand und seinen Individuen entstehen, lassen den wahren Inhalt, der sich in ihm verbirgt, entdecken. Der allgemeine Weltzustand ist ein Boden, der die Möglichkeit enthält, dass alle Zustände spezialisiert werden und dass es mit dieser Individualisierung zu Konflikten und Verwicklungen kommt, die den Individuen den Anlass geben, sich in einer bestimmten Gestalt zu zeigen.25 Es gibt im Hinblick auf die „Situation" drei Modi des künstlerischen Ideals. „Die Situationslosigkeit" zeigt sich in der Kunst als Darstellung der individuellen Substantialität in ihrer Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit, in einer unbewegten Stille, in welcher sie beziehungslos ist. Das sieht man an alten Tempelskulpturen aus dem archaischen Zeitalter, weiterhin an der ägyptischen Plastik, sowie später an einigen Christus-Darstellungen und mittelalterlichen Porträts. Weiterhin haben wir die „Situation der Harmlosigkeit", wo die Figuren aus ihrer starren Ruhe heraustreten in eine Bewegung und eine konfliktlose Handlung, welche keine Reaktion auslöst und welche in sich vollendet ist. Das gilt beispielsweise für den Apollon von Belvedere oder Myrons Diskuswerfer. Aus der zeitgenössischen Kunst hebt Hegel Schadows Sandalenbinderin hervor. Am Ende haben wir die Situation der Kollision, die noch nicht die Handlung darstellt, sondern eine wesentliche Voraussetzung der Handlung ist. Die Kollision erfordert eine Lösung, die aus dem Kampf der Gegensätze hervorgeht. Das ist der Kampf zwischen Individuen, die Substantialität begründen. Eine solche Situation der Kollision ist hauptsächlich Gegenstand der dramatischen Kunst, da Skulptur oder Malerei nur ein Handlungsmoment wiedergeben können.26 Am Ende geht die „Handlung" als dritte Bestimmtheit des Ideals oder des künstlerischen Inhalts aus der Situation der Kollision hervor. Das ist der Kampf von Mächten, die ihrer Natur gemäß ideal sind. Diese Interessen, die gegeneinander auftreten, sind bedeutende „Bedürfnisse der menschlichen Brust", die in sich notwendig sind und Mächte des geistigen Lebens darstellen. Die Handlung lässt das Individuum und dessen moralische Gesinnung am besten hervortreten; Motive einer solchen Handlung in der Kunst sind „die ewigen religiösen und 23 24 25 26
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
255. 259. 258f. 267.
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sittlichen Verhältnisse: Familie, Vaterland, Staat, Kirche, Ruhm, Freundschaft, Stand, Würde, in der Welt des Romantischen besonders die Ehre und Liebe."27 Wir müssen anmerken, dass Hegel in seiner Theorie des heroischen Zeitalters als eines kunstgemäßen Weltzustandes hervorhebt, wie sich das heroische Individuum, also die ideale künstlerische Gestalt, mit den Qualitäten seiner Gemeinschaft identifiziert und damit den Geist seines Volkes verkörpert. Es ist eine Tatsache, dass sich die Kunst immer in dem spezifischen Geist einer bestimmten Gemeinschaft oder eines bestimmten Volkes realisiert und dass sie daher oft mit einer spezifischen ethnischen Weltanschauung verbunden ist, so dass wir bis zur modernen Zeit von nationalen Kunstgeschichten sprechen können. Weiterhin ist es klar, dass unterschiedliche Weltanschauungen unterschiedliche Künste hervorbringen, dass das, was die Substantialität als künstlerischen Inhalt ausmacht, in verschiedenen Gemeinschaften auch unterschiedlich zum Ausdruck gebracht und gestalterisch interpretiert wird. Dessen war sich Hegel sehr bewusst, so dass sich hier noch einmal die hermeneutische Ebene seiner Ästhetik niederschlägt, wo eine ungeheure Menge von geschichtlichen, kulturellen, ethnischen und religiösen Bedingungen die Individualisierung dessen bestimmt, was einen gemeinsamen substanziellen Inhalt hat, welcher in Hegels Theorie theologisch-philosophischer Natur ist. Die Kunst als solche, da sie aus diesen Bestimmtheiten herauswächst und in einem einzelnen Werk die einzigartige Frucht der geistigen Tätigkeit ist, kann eben als das hermeneutische Organon eines bestimmten Weltzustandes verstanden werden. Ihre Funktion ist damit auch eine hermeneutische. Eine Bestätigung dessen können wir in Hegels Theorie selbst finden. Schon in der Einleitung sagt er: „In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltsreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion macht die schöne Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein, den Schlüssel aus."28 Dann spricht er davon, dass jedes Kunstwerk zu seiner Zeitepoche, seinem geschichtlichen Zusammenhang und Milieu, seinem Volk und dessen Kultur gehört, und deshalb ist es notwendig, dass die Wissenschaft der Kunst dies alles sorgfältig berücksichtigt und gründlich erforscht. Wenn er von dem Zweck der Kunst spricht, möchte er ihre Autonomie nicht damit gefährden, dass ihr eine belehrende Rolle zugeschrieben wird, da sie doch ihren Zweck in sich selbst hat, d.h. in der Entdeckung und Darstellung der Wahrheit. Trotzdem unterstreicht Hegel dass die „Kunst [...] in der Tat die erste Lehrerin der Völker geworden" ist. 29 Obwohl Hegel sich im Grunde für die Kunst als Erkenntnisform und spekulative Tätigkeit interessiert, ist in seiner Ästhetik auch ein hermeneutischer Aspekt der Kunst sichtbar, wo durch die Kunst geschichtliche und kulturelle Zustände des Geistes verstehbar werden. Gerade diese Eigenschaft der Kunst, die durch die ganze Geschichte hindurch andauert, ist auch heute allgegenwärtig und kann uns die Antwort auf die Frage nach dem Ende der Kunst geben. Obwohl Hegel auf einer abstrakten Ebene, die den Forderungen seines Systems entspricht, behauptet, dass die Kunst nicht mehr ei27 28 29
Ebd., S. 286. Ebd., S. 21. Ebd., S. 76.
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ne Form der Verwirklichung und Erkenntnis des absoluten Geistes sein kann und uns insofern nichts mehr zu sagen hat, hat es trotzdem den Anschein, als würde auf einer konkreteren Analyseebene Raum für die Deutung des Schicksals der Kunst im Sinne eines positiven Ausgangs bleiben. Es sieht so aus, als hätte Hegel nicht umsonst einen solch großen Raum der Analyse der künstlerischen Formen gewidmet, wie auch der Analyse der Gestalten der Kunst und einzelner Kunstwerke als verschiedener Modi und „hermeneutischer Spezifizierungen" eines substanziellen idealen Gehalts, der die Wahrheit des Geistes darstellt, und dieser ist in letzter Instanz der absolute Geist. In Hegels Ästhetik wird Kunst als ein wichtiger kultureller Faktor gedacht, was beispielsweise bei Kant nicht der Fall ist. Wenn Hegel das ästhetische Phänomen im Kontext höherer Formen des absoluten Geistes wie der Religion und Philosophie denkt, bedient er sich der allgemeinen Begriffe für die Bestimmung des absoluten Geistes im Zusammenhang mit dem System, und dabei wird die Kunst auf einer abstrakten logisch-ideellen Ebene als der Religion und der Philosophie untergeordnet bestimmt. Die Kunst sui generis steht in Wirklichkeit nicht in einem solchen Zusammenhang. Wenn die Kunst im Rahmen dieser höheren Formen des geistigen Schaffens betrachtet wird, wird sie eigentlich ihrer wirklichen Eigenschaften beraubt und ihre realen Beziehungen zu anderen Äußerungsformen der Kultur und überhaupt zur Sphäre des objektiven Geistes (wie zum Recht, zur Moral und gesellschaftlichen Ordnung) werden abgeschafft, welche aber wesentlich das künstlerische Schaffen beeinflusst, das sich immer in einem gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext vollzieht. Wenn aber in Hegels System von der Kunst die Rede ist, wird nahezu ausschließlich der Stoff als relevant genommen, der in der Form der spekulativen Begriffsanalyse auftaucht, welche aber wiederum zum Ziel hat, den Kreis des Systems des absoluten Wissens zu schließen und in ihm die Kunst zu verorten. Aber es gilt hervorzuheben, dass die Vorlesungen zur Ästhetik hauptsächlich eine sehr konkrete Analyse des ästhetischen Phänomens sind, die den geschichtlichen, kulturellen und sozialen Rahmen wie auch die Rolle der menschlichen Individualität berücksichtigt. Unter diesem Blickwinkel sollte auch die These vom Ende der Kunst gesehen werden, um ihre weiteren Möglichkeiten in der Interpretation, dem humanum als neuem Ideal und Inhalt, sowie in der Integrationsfähigkeit der Kunst zu suchen, welche die bestehende Wirklichkeit problematisiert und einen neuen Modus der Existenz, in der sie selbst die Wahrheit ist, hervorbringt. Der berühmte Literaturtheoretiker Hans Robert Jauß, der über das „Ende des Kunstzeitalters" schreibt, sagt, dass der literarische Aufstand gegen die Ästhetik des klassischromantischen Profils in Deutschland ihren geschichtlichen Ausgangspunkt von Hegels Philosophie nahm bzw. von seinem bekannte Satz, dass die Kunst nicht mehr die höchste Art und Weise sei, in der die Wahrheit erscheine.30 Indem er sich auf die Erklärungen von W. Oelmüller stützt, behauptet Jauß, dass dieser Satz nicht nur das Produkt der spekulativen Deduktion aus der Philosophie des absoluten Geistes ist, sondern dass er auch eine geschichtliche These ist, da Hegel von geschichtlichen Erfahrungen ausgeht, um 30
Vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische S. 728f.
Erfahrung und literarische
Hermeneutik,
Frankfurt/M. 1991,
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zu erklären, warum die Kunst nach ihrer höchsten Bestimmung als Erscheinungsform der Vergangenheit angehören muss. Diese geschichtlichen Erfahrungen sind, so Jauß, der von der bürgerlichen industriellen Gesellschaft und vom modernen Staat geprägte Zustand der Welt, dem die geschichtliche Wende durch das Christentum vorausging, womit die moderne Subjektivität ermöglicht wurde, aber auch der Verfall der romantischen Kunst und ihrer Genieästhetik. Damit wäre also jene spekulative Mission der Kunst ontologisch-philosophischen Inhalts am Ende, welche eine metaphysische Begründung hatte und deren große Befürworter auf entgegengesetzten Seiten eben Hegel und die romantischen Philosophen waren. Daher sollte Hegels Prognose vom Ende der Kunst, zumal sie in ihr Konzept die Kritik der Romantik einschließt, als Ankündigung einer neuen, anderen Kunst - der Kunst der modernen Welt - verstanden werden, einer Kunst, die demythologisiert, weltlich und reflexiv sein und ihre Bestimmung nicht auf den klassischen Begriff der Schönheit stützen wird. Nach Jauß' Ansicht konstatiert Hegels Satz vom Ende der Kunst den Übergang in eine moderne Welt, in der die Kunst, nun frei von unmittelbaren religiösen, moralischen oder geistigen Zwecken, nach wie vor ein Organon der Wahrheit sein kann. Jauß stimmt mit Dieter Henrich überein, dass Hegels These vom Ende der Kunst in sich eine Keimzelle der modernen Kunsttheorie, die Hegel freilich nicht entwickelte, enthält. Diese Keimzelle ermöglicht es erst, dass Hegels Ästhetik wieder in die geschichtlichen Progression gestellt wird und sich damit des Ballasts der kurzatmigen Prognosen im 19. Jahrhundert über die Zukunft der Kunst zu entledigen. Diese wohlgesinnte Interpretation der Hegeischen These vom Ende der Kunst erlöst die Kunst immer noch nicht von ihrer archaischen „Erblast" der Religiosität, Sittlichkeit und national-geschichtlichen Bestimmung. Diese Werte fasste Hegel in den Begriffen der Weltanschauung und Substantialität als jenen Dimensionen zusammen, die seiner Meinung nach die romantische, moderne Kunst nicht kennt. Es bleibt die offene Frage, ob die Kunst als eine andere und veränderte unter wesentlich veränderten Umständen der modernen Welt existieren kann und ob sie überhaupt eine metaphysische Kategorie sein muss. Als Arthur C. Danto von der Auseinandersetzung zwischen Hegel und den Jenaer Romantikern über die Bedeutung der Kunst und Philosophie sprach, sagte er, dass dies mitnichten ernst genommen werden kann am Ende eines Jahrhunderts, das hauptsächlich aus Anstrengungen bestand, endlich herauszufinden, was Philosophie ist. „If there are deep parallels between philosophy and art, perhaps we can see the history of twentieth-century art itself as a kind of philosophical examination into its own nature, with a tentative final solution in such twentieth-century views as that art can be anything and anything can be art. And that, if true, leaves open the question of whether this radical pluralism is consistent with the exalted view of art - of art as above or below or alongside Philosophy- in which the Romanticists so unquestioningly believed."31 Endlich muss man fragen, ob wir überhaupt glauben können, dass die Kunst eine Möglichkeit des „gesellschaftlichen Heils" (social salvation) bieten kann. Diese Möglichkeit kann nicht ganz ausgeschlossen werden, findet A. C. Danto, 31
Arthur C. Danto, „The Speculative Philosophers of Art" (Foreword), in: Schaeffer, Art of the Modern Age, a.a.O. (Anm. 1), S. 16.
STAAT UND K U N S T
181
vor allem wenn wir an Joseph Beuys, den berühmten Konzeptkünstler vom Ende des 20. Jahrhunderts denken, der die Möglichkeiten der Kunst derart ausgeweitet hat, dass nichts mehr ausgeschlossen werden kann. „Die Geschichte der Moderne, die Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts begann", schreibt Danto, „ist die Geschichte der Dekonstruktion eines Kunstbegriffs mit einer mehr als fünfhundertjährigen Entwicklung. Kunst musste nicht mehr schön sein; sie brauchte sich nicht mehr anzustrengen, dem Auge eine ganze Palette von Wahrnehmungen zu bieten, wie die wirkliche Welt sie ihm bot".32 Es war nicht mehr möglich, aufgrund bloßer Beobachtung zu konstatieren, ob etwas Kunst oder nicht Kunst ist. Die Frage der Identität der Kunst löste nun die „Theorie der Kunst", die allmählich in das Philosophieren über die Kunst überging.
32
Arthur C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 16.
V A H I D I N PRELJEVIC
„Organ für unsre eigenthiimliche Cultur" Anmerkungen zum Kulturbegriff der mittleren Romantik
1.
Die Doppelordnung der Kultur
„Kultur entsteht", sagt Georg Simmel in einem berühmten Aufsatz, „indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis".1 Die kulturelle „Bedeutung" ergibt sich eigentlich erst dann, wenn die so geschaffenen Erzeugnisse unabhängig von ihrer eigenen Kreation und autonome Objekte werden: „Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt."2 Der Kulturprozess bekommt eine Eigenlogik, die sich dann vom Subjekt ablöst, an der dieses jedoch nach wie vor teilhat, in dem es den so verselbständigten Vergegenständlichungen als Mitgleid einer Gemeinschaft notwendig ausgesetzt ist: „So muss der subjektive Geist zwar seine Subjektivität, aber nicht seine Geistigkeit verlassen, um das Verhältnis zum Objekt zu erleben, durch das seine Kultivierung sich vollzieht".3 Die „Kultivierung" bedeutet aber, dass die schöpferische Energie, oder das „Leben", wie Simmel es häufig nennt, das Kultur ja erst hervorbringt, seine eigenen Produkte verlassen muss, weil es ihm widerstrebt, sich in den „Gehäusen" aufzuhalten, da diese „mit dem ruhelosen Rhythmus des Lebens selbst, seinem Auf- und Niederang, seiner steten Erneuerung, seinen unaufhörlichen Spannungen und Wiedervereinigungen nichts mehr zu tun hat".4 In einem nachgelassenen Vorlesungsskript bemerkt Ernst Cassirer, dass bei Simmel das Betreten des Bodens der Kultur, der „Schritt zur Idee", eine „dialektische Umkehr in sich" trage, dass für Subjekte des Kulturprozesses dieser Schritt ein „Heraustreten 1 2 3 4
Georg Simmel, Philosophische Kultur, Leipzig 1911 (2. Auflage 1919), S. 227. Ebd., S. 223. Ebd., S. 228. Georg Simmel, Der Konflikt der Kultur. Ein Vortrag, München und Leipzig 1918, S. 5.
184
V A H I D I N PRELJEVIC
aus dem Leben", und „Zerfall mit seinem eigenen Wesen" bedeute, und erklärt damit die berühmte Simmelsche Wendung: „Der Begriff der Kultur birgt daher die Tragödie der Kultur in sich".5 Offensichtlich bedeutet Kultur für Simmel einen tragischen und unumkehrbaren Bruch mit der Natur. Andererseits kritisiert Cassirer an einer anderen einflussreichen Kulturtheorie seiner Zeit, an Spenglers kulturmorphologischem Projekt, dass es die Menschheitsgeschichte in eine Naturgeschichte auflöse.6 Cassirer stellt angesichts kulturtheoretischer Beiträge seiner Zeit eine „unaufhebliche Doppellheit" des Kulturbegriffs fest: „die einen suchen ihn aus der Natur zu gewinnen, an ihr festzuhalten, in ihr zu verankern - die anderen lassen ihn aus dem Bruch mit der Natur [...] geradezu erst entstehen u[nd] in diesem Bruch bestehen."7 Cassirer wählt den mittleren Weg: die Kulturphilosophie kenne weder einen Wert an sich noch eine bloße wertfreie Wirklichkeit, sie scheide auch nicht Stoff und Form, sondern sie kenne nur „die Union von Realem u[nd] Idealem, von Wert und Wirklichkeit". „Als Kulturphilosophie kann sie gar nicht eine blosse Seins-Ordnung und eine blosse ursächliche Geschehens-Ordnung ansetzen, der sich dann eine andere Ordnung, eine Ordnung zum Zwecke, eine teleologische] Ordnung künstlich überbaut, nur gewissermassen irgendwie aufpropft - sondern sie findet beides unmittelbar in einem; sie findet das Werden nicht als blossen ,Ablauf' von Ereignissen, die nach der Ordnung der Zeit und nach ihrer kausalen Folge beschrieben werden können; sondern so wie es ist, stellt es sich unmittelbar als Entfaltung eines bestimmten Sinnes, als .Werden zum Sinn' [...] dar." Die „doppelte Ordnung" des Kulturgebildes besteht demnach darin, dass es „jeweilig einem bestimmten Erlebnis-Zusammenhang an [gehört]: es ist Symbol, Ausdruck' von Erlebnissen - aber zugleich steht es in einer bestimmten, sachlichen, für sich seienden Ordnung - es muss immer zugleich physiognomisch und ,objektiv' genommen werden".8 Diese doppelte Ordnung der Kultur wird besonders interessant in einem konkreten geschichtlichen Abschnitt der Kulturreflexion zu beobachten sein, in dem der moderne Kulturbegriff erst formuliert wird und eine „bestimmte Ebene der Verallgemeinerung"9 erreicht, sich selbst verselbständigt und zum Vehikel einer allgemeinen anzustrebenden Ordnung wird. Die Zeit zwischen 1790 und 1810 wird hier in diesem Sinne als die Geburtsepoche des modernen Kulturkonzeptes aufgefasst, in der vor allem seine enge 5
6 7 8 9
Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 5, Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929-1941, hg. von Rüdiger Kramme unter Mitarb. von Jörg Fingerhut, Hamburg 2004, S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 12. Ebd., S. 26. Dirk Baecker, „Kultur", in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart und Weimar 2001, S. 510-556, hier S. 519: „Der moderne Kulturbegriff wird in dem Moment formuliert, in dem nicht mehr von der Hand zu weisen ist, daß die Zeiten unruhig geworden sind. Der kulturbegriff bezeichnet diese Unruhe, er bezeichnet sie in der Absicht, auf einer höheren Ebene für diese Unruhe eine Art Ruhe zweiter Ordnung ausmachen zu können. Das zwingt den Begriff auf eine bestimmte Ebene der Verallgemeinerung."
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„ORGAN FÜR UNSRE EIGENTHÜMLICHE CULTUR"
Verbindung zu diversen Staatstheorien und zu dem sich gerade konstituierenden Diskurs der Nation auffällt. „Das Volk und seine Sprache als einzige und letzte legitimierende Begründung der Nation wurden entdeckt."10 Und wenn der Historiker Schulze von dieser Zeit weiter schreibt, dass „Deutschland, nach wie vor eine Sprachnation" ist, „ohne klare Grenzen, unter allen Umständen nur vage poetisch ausgedrückt, ein Kulturbegriff, der einen deutschen Nationalstaat auch nicht ansatzweise projektierte", dann wird doch zu fragen sein, in wie weit dieser „poetische Kulturbegriff" als ein „Imaginäres"11 im Sinne von Castoriadis als geschichtswirksam anzusehen ist. In diesem Sinne wäre die deutsche Kulturnation, wie sie vor allem nach 1800 vorgestellt wird, ein imaginativer Nährboden, aus dem das Projekt eines Nationalstaates als eine mögliche Aktualisierung oder „Instituierung" der kollektiven Imagination hevorwachsen kann. Dass der Staat in den Entwürfen nach 1800 tatsächlich eine zweitrangige Rolle spielt, hängt damit zusammen, dass er als eine Realisierungsform der Nationalkultur angesehen wurde, nicht aber, wie noch bei der Generation der Aufklärung als ein Mechanismus, der eine universale (und noch nicht nationale) Kultivierung des Menschen ermöglichen soll. Am Übergang zur mittleren Romantik vollzieht sich daher eine Wende, von der Kultur I (im Sinne des individuell-bildenden „Erlebniszusammenhangs") hin zur Kultur II im Sinne „einer bestimmten, sachlichen, für sich seienden Ordnung", die hier national umrahmt wird. Wir werden diese Wende von der latenten Staatskritik bei Kant und Schiller, die diese Kritik gerade im Namen der Kultur I üben, bis zu Fr. Schlegels Konzept einer „ursprünglichen Freiheit des deutschen Lebens", das eindeutig die Kultur II markiert, verfolgen.
2.
Kultur als Idee der Moralität und ästhetische Utopie: Kant und Schiller
Im siebenten Satz seines Traktats Ideen zu einer allgemeinen
Geschichte
in weltbür-
gerlicher Absicht postuliert Kant bekanntlich einen latenten Gegensatz zwischen einer typischen Staatskonzeption des 18. Jahrhunderts und der „inneren Bildung der Denkungsart".12 Die Staaten, welche „alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten" konzentrieren, können zur Entwicklung der moralischen Gesinnung ihrer Bürger nicht beitragen, sondern werden diese aufgrund ihrer Ausrichtung auf den Machterhalt und die Aggression eher hemmen. Andererseits jedoch erscheint eine Rückkehr zum Naturzustand, die von sich aus schon illusorisch ist, keineswegs als erwünscht, da die menschliche Natur „aus krummem Holz gezimmert"13 ist und 10
11
12
13
Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1997, S. 62. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt/M 1990, S. 253. Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", in: Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 8, S. 26. Ebd., S.23.
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VAHIDIN PRELJEVIC
zum Freiheitsmissbrauch neigt. Der Mensch braucht einen „Herrn", eine übergeordnete Kraft in Form einer gesetzmäßigen Verfassung, die die Verhältnisse in einem Gemeinwesen regelt. Ohne den Staat - und hier folgt Kant Hobbes, nachdem er oben Rousseau teilweise Recht gegeben hat - würden menschliche Gesellschaften schnell auf die Ebene der Horden und das Recht des Stärkeren zurückfallen. Nun aber wird diese latente Möglichkeit des Menschen in dem aggresiven Verhalten moderner Staaten untereinander realisiert. Den Weg aus diesem Widerspruch sah Kant bekanntlich in einer übergeordneten Staatenverbindung, die bei den Staaten dasselbe bewirken würde, was der Staat bei den Menschen im Naturzustand bewirkt hat: Zivilisierung ihres Verhaltens, die Einschränkung der Freiheit durch übergeordnete Regeln und die Erhöhung einer allgemeinen Sicherheit. In diesem Zusammenhang spricht Kant auch von der Rolle der Kultur, zu der er vor allem Kunst und Wissenschaft rechnet. Die Kultur artikuliert durch diese beiden Äußerungsformen die „Idee der Moralität", also das innere Potential der inneren Bildung oder der „Denkungsart", das jedoch, um verwirklicht zu werden, mit der äußeren „Zivilisierung" in Einklang gebracht werden muss.14 Die Kultur muss sich, mit anderen Worten, in der sozialen Praxis niederschlagen, wenn der Mensch zur guten moralischen Gesinnung finden soll. Der Kulturbegriff, den Kant hier verwendet, ist noch aufklärerisch-universalistisch gedacht, und der klassische Staat wird in einer solchen Konzeption letztendlich zum Hindernis der Realisierung des kulturellen Potentials. In dieser Hinsicht decken sich bis zu einem gewissen Grad diese 1784 formulierten Gedanken mit einer grundlegenden Idee des etwa zehn Jahre jüngeren Tübinger Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, in dem der Staat ebenfalls als ein Störfaktor für die moralische Entwicklung des Menschen bezeichnet wird, weshalb ihn die Tübinger Stiftler zum Untergang verurteilen. Die Radikalisierung der Staatskritik beim jungen Hegel, Hölderlin und Schelling vollzieht sich vor dem Hintegrund der bitteren Enttäuschung des Freiheitsversprechens durch die Schreckensherrschaft in Frankreich und die postrevolutionären Kriege, also durch die Konstitution der ersten bürgerlichen Republik auf europäischem Boden. Wir widmen uns hier jedoch Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen, in denen die Dialektik von Kultur und Staat aus einer differenzierten Perspektive betrachtet und in der das aufklärerisch-idealistische Verständnis der beiden Begriffe summiert wird. In dieser Schrift wird ebenfalls das Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Staat analysiert, wobei das Gewicht hier auf den Aspekt der inneren Bildung verlagert wird, während der Staat bloß eine Widerspiegelung eines universalisierten, gebildeten Charakters sein soll: „Ist der innere Mensch mit sich einig, wo wird er auch bei der höchsten Universalisierung seines Betragens seine Eigentümlichkeit retten und der Staat wird bloß der Ausleger seines schönen Instinkts, die deutlichere Form seiner innern Gesetzgebung sein."15 Vom Staat aus kann ein solcher Charakter nicht begrün14 15
Ebd., S.26. Friedrich Schiller, Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, auf der Grundlage der von Herbert G. Göpfert durchgesehenen Originaldrucke hg. von
.ORGAN FÜR UNSRE EIGENTHÜMLICHE CULTUR"
187
det werden, „denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Übel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich aufgibt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müßte selbst erst daraf gegründet werden". (SW 5, 588) Eine „moralische Staatsverbesserung" (SW 5, 589) ist geknüpft an die „Ausbildung des Empfindungsvermögens" (SW 5,. 592), doch kann sich die letztere auch nicht entfalten „unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung" (ebd.). Den Ausgang aus diesem Zirkel findet Schiller in der Kunst, die durch ihre Wirkung „die Willkür, die Frivolität, die Rohigkeit" aus den „Vergnügungen" (SW 5, 596) der Menschen verjagen soll, aber zugleich auch der „Erschlaffung" und „Verkehrtheit"; die Verfeinerung soll also nicht zur Blasiertheit und Vernichtung der Natur führen, sondern ein Gleichgewicht schaffen, in dem der gebildete Mensch die Natur „zu seinem Freund macht" und ihre Freiheit „ehrt, indem er bloß ihre Willkür zügelt". (SW 5, 579) Dieses Gleichgewicht zwischen Individualität und Zivilisiertheit, das Schiller einen „Staat des schönen Scheins" nennt, bleibt zumindest im Hinblick auf eine staatliche Organisierung eine ästhetisch-kulturelle Utopie und als Potential nur auf der individuellen Ebene „in jeder feingestimmten Seele" erkennbar und in der sozialen Praxis höchstens „in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln" (SW 5, 669) realisierbar. Bei Schiller zeigt sich also folgendes: die Kultur wird vor allem als „ästhetische Kultur" aufgefasst,16 als die Arbeit an dem eigenen Empfindungsvermögen, das erst in einem zweiten Schritt eine, und zwar beschränkte, gesellschaftliche Relevanz erlangt. In diesem Sinne erscheint ein möglicher idealer Staat lediglich als Ausdruck einer solchen subjektiven oder intersubjektiven Verfasstheit. Das Leitprinzip für die Reflexionen über Kultur und Staat ist die Aussöhnung der Freiheit und Notwendigkeit unter ästhetischen Vorzeichen. Das Subjekt der Kultur ist das vernünftige Individuum, der gebildete „innere Mensch", und der Staat ein sekundäres Produkt des primären Reichs des schönen Scheins.
3.
Staat als Organ der „eigenthümlichen Cultur": Beispiel Woltmann
In der Romantik der Napoleonischen Kriege wird diese Rangordnung zwischen Individuum, Kultur und Staat mit weitreichenden diskursgeschichtlichen Folgen umgekehrt. Als Indikator einer grundlegenden Veränderung des Kulturbegriffs nach 1800 möge zunächst ein 1804 veröffentlichter Text des zeitgenössischen deutschen Historikers Karl Ludwig von Woltmann gelten.17 Der deutsche Historiker und Tacitus-Übersetzer ana-
16
17
Peter André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, München 2004 (im folgenden SW), Bd. 5, S. 570-669, hier S. 578. Siehe dazu Carsten Zelle, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in Briefen (1795)", in: Schiller Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Stuttgart 2005, S. 409-445. Karl Ludwig von Woltmann, „Rettung der deutschen Nation durch ihre Autoren", in: Zeitschrift fir Geschichte und Politik, Berlin 1804, Bd. 1, S. 191-198.
188
VAHIDIN PRELJEVIC
lysiert die Funktion der ästhetischen Praxis aus einem ganz anderen Standpunkt als es Schiller getan hat. Ihn interessiert vor allem die „politische Wichtigkeit" deutscher Autoren aus der Vergangenheit - auch solcher, die lateinisch geschrieben haben - die er darin sieht, dass sie eine Schlüsselrolle für die Erhaltung der „deutschen Selbständigkeit"18 bekommen. Die deutschen Schriftsteller bewirken durch ihre Tätigkeit, dass die deutsche Art und vor allem die Sprache im Zeitalter der Dominanz Roms bewahrt bleibt. Der Autor sieht auch in der Reformation eine Folge des deutschen kulturellen Widerstands gegen das „römische Papsttum" wie überhaupt gegen die fremdländischen kulturellen Übergriffe. Diese jahrhundertelang erfolgreiche Verteidigung der deutschen Sprache war immer dann erfolgreich, wenn die politische Macht eine Koalition mit den Statthaltern der deutschen Identität einging: „Daß ihr Wort auf Fürsten und Volk wirkte und beide wach erhielt, ist kundbar. Der Fürst, welcher sie nicht gehört hatte, wäre des Volkes nicht gewiss gewesen."19 Das dichterische Wort wird hier als das Medium des Volkes dargestellt, und der Schriftsteller wird zum Interpreten des allgemeinen Volkswillens, an dem sich der Fürst zu orientieren hat. Was passiert, wenn diese Verbindung nicht existiert, schildert Woltmann am Beispiel des Zustande nach dem Westfälischen Frieden: „Deutschland rettete kaum die Ehre eines unabhängigen Staates gegen die französische Übermacht; aber seine Nation schien es gänzlich der französischen preis zu geben, welche selbst ihre lächerlichste Sitte an den deutschen Höfen und in dem Stande, der sie nachahmt, sclavisch angenommen, und ihre Sprache so herrschend sah, daß sie sogar in die deutsche von denen gemengt wurde, welche der Nationalzunge nicht ganz entbehren zu können."20 Und weiter: „Ein Volk, welches seine Sitte und seine Sprache nicht als das heiligste verehret, oder gar eingebüßt hat, ist von den besten Waffen gegen fremde Übermacht entblößt, und eignet sich ganz dazu, die Provinz der Nation zu bilden, in deren Nachahmung es untergangen [...] Wären wir französisch der Cultur nach geworden, warum sollten wir uns schlagen, um nicht durchaus in die nachgeahmte Nation aufgenommen zu werden? Es ist nicht der Mühe werth, einen eigenthümlichen Staat zu bilden, wenn er nicht ein Organ für unsre eigenthümliche Cultur ist."21 Bei Woltmann lässt sich eine wesentliche Verschiebung der ideengeschichtlichen Konstellation feststellen, in der die Begriffe des Staates und der Kultur ihr subjektzentriertes Verständnis verlieren. Zunächst fällt auf, dass die ästhetische Praxis ihre individualistische Bildungsfunktion, die sie bei Schiller noch hat, verliert. Woltmanns Verständnis der Literatur stellt auch eine Überwindung des Prinzips der ästhetischen Autonomie dar, die Friedrich Schlegel in dem berühmten Athenaeum-FxaLgTasni 116 gefordert hat. Vielmehr wird die Literatur in den ganz neuen Dienst der Traditionsbildung gestellt, die das Ziel hat, die „Selbständigkeit" eines ethnischen Kollektivs zu konstruieren. Es ist folgerichtig, dass die Literatur auch in ihrer Autorschaft jetzt
18 19 20 21
Ebd., S. 192. Ebd., S. 194. Ebd., S. 194-195 Ebd.
,ORGAN FÜR UNSRE EIGENTHÜMLICHE CULTUR"
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ethnische Züge trägt, was sie zu einer Art Kollektivstimme macht, die vor allem für das politische Handeln relevant sein soll. Die Kultur verliert ihre individuelle oder begrenzte intersubjektive Bedeutung und wird dann auch als eine kollektive Gegebenheit aufgefasst, die nicht mehr eine zivilisierende und damit eine dynamische Wirkung hat, sondern vor allem eine stabilisierende Funktion, indem sie „die Sitte", also eine angenommene unwandelbare Faktizität, bestätigt. Ganz entscheidend ist hier der Aspekt der Abgrenzung oder Feindschaft, die sich gegen das Fremde (hier vor allem das Französische) richtet, um dadurch die Bewahrung des reinen „Eigenen" zu gewährleisten. Nachdem so die kollektive „Identität"22 hergestellt ist, bzw. das Fichtesche Ich in ein Wir verwandelt wird, wird das Verhältnis zum Nicht-Wir vom Antagonismus bestimmt. Der Kantische Krieg zwischen den egoistisch agierenden Staaten wird hierduch in einen Kulturkrieg transponiert, der, im Gegensatz zum klassischen Interessenkrieg, welcher so lange dauert bis die wirtschaftlichen oder territorialen Interessen befriedigt sind, aufgrund der Annahme einer unwandelbaren Kollektivkultur ein dauernder und damit zeitloser wird. Schließlich wird bei Woltmann auch die Rolle des Staates eine ganz andere als in den aufklärerischen Konzepten. Der Staat ist nicht mehr Ausdruck der inneren Verfassung der vernünftigen Individuen, wie bei Schiller, auch nicht der von Fichte noch 1804 skizzierte vernunftgeleite absolute Staat,23 sondern die Verkörperung des „Eigenhümlichen" eines kulturellen Kollektivs. Jenseits des Prinzips der Bewahrung und Sicherung einer so aufgefassten Kultur hat der Staat keine Funktion. Wenn in ihm keine spezifische kulturelle Ordnung ausgedrückt wird, hat er kein Existenzrecht. Der Universalismus der aufklärerischen Kultur- und Staatsidee wird verabschiedet und das diskursgeschichichtliche Zentrum erobert nun das Leitprinzip des kulturellen Partikularismus.
4.
Herders Idee der kulturellen Dauer und Novalis' Theorie der symbolischen Repräsentanz
Eine solche Besetzung des Kulturbegriffs in der Phase der mittleren Romantik kann als eine bestimmte, wenn auch nicht notwendige Konsequenz der frühromantischen Kultur- und Staatsreflexion einerseits, wie auch der Idee der kulturellen Tradition im Sturm und Drang, besonders bei Herder, andererseits angesehen werden. Sie soll hier in Kürze skizziert werden. Zuerst Herder: In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit führt Herder, gemäß seinem Vorhaben die historische Entfaltung der menschlichen Gattung 22
23
Zur Konstruktion der Identität durch Geschichte siehe Hermann Lübbe, „Zur Identitätsrepräsentationsfunktion der Historie", in: Identität, hg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 277-292, sowie auch Reinhart Koselleck, „Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden", in: ebd., S. 255-276. Johann Gottlieb Fichte, Sämmtliche Werke, hg. von I. H. Fichte, Berlin 1845f„ Bd. 7, S. 143-156.
190
VAHIDIN PRELJEVIC
darzustellen, das Konzept des kulturell vererbten Wissens ein, das im wesentlichen die Idee der Tradition begründen wird:24 „Hier also liegt das Principium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifische Charakter eben darin liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d.i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede."25 Was Herder hier vorstellt, ist die anthropologische Voraussetzung der „kulturellen Dauer",26 auch wenn hier das kollektive Gedächtnis noch nicht explizit auf einen nationalen Rahmen beschränkt wird. Nichtdestoweniger bekommt für Herder das kulturelle Erbe den Charakter der Unausweichlichkeit, der kein Individuum entrinnen kann. Die Tradition, sagt Herder, „tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder".27 Sie erscheint als die einzige Möglichkeit, über die physische Grenze des Todes hinaus ein Fortleben zu gewähren,28 aber auch in unruhigen Zeiten der Revolutionen und Zerstörungen ein Kontinuum bzw. über die zeitbedingten Verschiebungen hinweg eine Sinnkonstanz zu bewahren, die erst aus Fragmenten der Vergangenheit eine Ganzheit zu zu bilden vermag: „Die Philosophie der Geschichte also, die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äußere Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden. Grausenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht 24
Siehe grundsätzlich dazu Ralf Simon, Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnisfundament fiir Hermeneutik. Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998. Simon legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung mehr auf den ästhetischen als auf den kulturellen Gedächtnisbegriff. Trotzdem zeigt er deutlich, wie Herder die Verwendung des Gedächtnisbegriffs „durch die Semiotisierung der Vermögenstheorie im Rahmen ihrer Errichtung als aisthetischer Erinnerungsraum der Kultur" (S. 9) wieder aktualisiert.
25
Johann Gottfried Herder; Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Berlin und Weimar 1965, S. 335. Siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Herder: Ideen, a.a.O. (Anm. 25), S. 338. „Unser Leib vermodert im Grabe, und unsers Namens Bild ist bald ein Schatte auf Erden; nur in der Stimme Gottes, d.i. der bildenden Tradition einverleibt, können wir auch mit namenloser Wirkung in den Seelen der Unsern tätig fortleben". (Ebd., S. 341)
26
27 28
„ O R G A N FÜR UNSRE EIGENTHÜMLICHE C U L T U R "
191
aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet." 29 Dass Herders Idee der Tradition wie auch sein Geschichtsdenken die Konsequenz seiner Subjektphilosophie ist und keine kollektive Identität zum Ausgangspunkt hat; 30 ändert nichts an der Tatsache, dass seine Vorstellung von der dominanten Rolle der kulturellen Tradition in der Bildung des Menschen den Weg zu dem Prinzip der national-kulturellen Besonderheit und des kulturellen Gedächtnisses, wie es Woltmann vorschweben wird, geebnet hat. Der zweite Anstoß zum Konzept eines nationalen Kulturstaates kam sicher von dem nach 1800 sehr stark rezipierten Aufsatz Friedrich von Hardenbergs Glauben und Liebe oder der König und die Königin. Hier entwickelt Novalis die Idee einer symbolischen Repräsentanz mit gemeinschaftsbildender Funktion. Vor allem Bemerkungen wie „Bedarf der mystische Souverain nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger trefflicher Mensch?" 31 haben auf den Zusammenhang zwischen dem kulturellen Imaginären und dem Symbolischen 32 aufmerksam gemacht. Ebenso die Stelle, wo Novalis eine Sichtbarkeit des Staates verlangt: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch, als Bürger characterisirt seyn. Ließen sich Abzeichen und Uniformen durchaus einführen? Wer so etwas für geringfügig hält, kennt eine wesentliche Eigenthümlichkeit unsrer Natur nicht" (HKA 2, 489). Die „Natur", von der Novalis hier spricht, beruht auf dem Gedanken, dass ein Symbol, bzw. ein „wahrhaftes Königspaar [...] für den ganzen Menschen" das ist, was „eine Constitution für den bloßen Verstand" ist. Eine so zentrierte Symbolik, in der sich die Staatsgemeinschaft verkörpert, wird in einer chemischen Metapher mit dem „Kern" verglichen, „an den sich die neue Masse anschließe, und in neuen schönen Formen sich um ihn her bilde". (HKA 2, 490) Worauf Novalis hier hinaus will, ist die Einsicht, dass es nicht ausreicht, wenn der Mensch nur rational die Notwendigkeit des Staates befürwortet, 29 30
31
32
Ebd., S. 342-343. Siehe Hans Dietrich Irmscher, „Aspekte der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders", in: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, hg. von Marion Heinz, Amsterdam 1997, S. 5-47. Irmscher zeigt, dass Herders Geschichtsphiliosophie in der „Erfahrung der Partikularität" wurzelt und dass sie mit dem Problem der Bestimmung der eigenen Existenz" zusammenhängt; vgl. S. 8. Dagegen erscheint von diesem Gesichtspunkt Barnards These, Herder strebe eine Redefinition des Nationalen an, mehr als fragwürdig, genauso wie seine Zuordnung Herders zum „cultural nationalism". Siehe Frederick M. Barnard, Herder on Nationality, Humanity, and History, Montreal u. a. 2003. Im übrigen wurde Herders Beitrag zum kulturellen Nationalismus schon von Royal J. Schmidt viel differenzierter analysiert; vgl. R. J. Schmidt, „Cultural Nationalism in Herder", in: Journal of the History of Ideas 17 (1956), S. 407-417. Zitiert wird nach Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2, Stuttgart 1981 (im folgenden HKA), S. 487. Castoriadis, Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 11), S. 218: „Das Imaginäre muß das Symbolische benutzen, nicht nur um sich .auszudrücken' - das versteht sich von selbst - , sondern um überhaupt zu ,existieren', um etwas zu werden, das nicht mehr bloß virtuell ist."
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V A H I D I N PRELJEVIC
sondern dass es der vollständigen Identifizierung mit dem Staatsgebilde bedarf, wenn aus ihm eine Gemeinschaft werden soll. Diese Identifizierung kann nur erreicht werden, wenn sich Bedeutsamkeitskerne 33 in der Kultur ausbilden, die identitätsstiftend wirken. Von diesen symbolischen Repräsentationen erhoffte sich Novalis eine solche Wirkung, dass aus jedem Staatsbürger ein „Staatsbeamter" (HKA 2,489) wird, womit auch das republikanische Ideal der bestimmenden Rolle des Volkes in Staatsgeschäften - allerdings auf einem umgekehrten Weg - verwirklicht wird. So kommt es zu einer Verschmelzung der Republik und des Königtums, die sich zueinander „wie Körper und Seele" verhalten, und im Hinblick auf die Französische Revolution bemerkt er, dass „eine Republik ohne König, nur Worte ohne Bedeutung sind" (HKA 2, 490). Da hier eher seine diskursgeschichtliche Dimension interessiert, wird hier nicht weiter auf die transzendentalphilosophischen Voraussetzungen des Symbolbegriffs oder auch auf eine weitergehende Analyse des Aufsatzes von Novalis eingegangen. Es bleibt festzuhalten, dass die Einsicht in die Notwendigkeit einer gemeinschaftsbildenden Symbolik und Repräsentation hier nicht national-kulturell konnotiert wird. Doch die Idee einer Besetzung des politischen Raums durch Symbolisches wird später genau in dieser Richtung weiter entwickelt werden.
5.
Die Eroberung der kulturellen Vergangenheit und die Kulturalisierung des Raums bei Heinrich von Kleist und Friedrich Schlegel
In einem Brief aus dem November 1801 schreibt Heinrich von Kleist an Adolphine von Werdeck: „Also an dem Arminiusberge standen Sie, an jener Wiege der deutschen Freiheit, die nun ihr Grab gefunden hat? Ach wie ungleich sind zwei Augenblicke, die ein Jahrtausend trennt! Ordentlich ist heute die Welt; sagen sie mir, ist sie noch schön? [...] Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind die großen Tugenden unnöthig geworden. [...] Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, muthig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt." 34 Die Erwähnung des Ortes, an dem der germanische Fürst Arminius den Römischen Feldherrn Varus besiegt hat, löst bei Kleist eine Reflexion über die kulturgeschichtliche und kulturpolitische Bedeutung dieses Ereignisses, das hier den Charakter einer Gründungserzählung annimmt. In der Logik dieser Ursprungsmythen liegt es, dass sie eine Mythomotorik (J. Assmann) entwickeln, die jederzeit für die Umgestaltung der Wirklichkeit in Anspruch genommen werden kann. Der direkte Vergleich, den Kleist in dem zitierten Brief zieht, ergibt, dass das gegenwärtige Deutschland seine damals errungene 33
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Zu dem kulturphilosophischen Konzept der Bedeutsamkeit siehe: Erich Rothacker: „Der Satz von der Bedeutsamkeit", in: Kulturphilosphie, hg. von Ralf Konersmann, Stuttgart 1996, S. 140-152. Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 4, hg. von Klaus MüllerSalget und Stefan Ormanns, Frankfurt/M 1997, S. 279.
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Freiheit verloren hat, womit konnotiert wird, dass es sie nach dem alten Vorbild wieder erobern müsse. Kulturtheoretisch ist auch interessant, wie Kleist die „Ordnung" der modernen und die Schönheit der alten Welt gegenüberstellt. Während im alten Germanien die „Tugend" und ein unmittelbarer Patriotismus die Ethik des Handelns bestimmten, wird diese Last von der „Ordnung" übernommen, freilich mit - in Kleists Augen fatalen Folgen: die Identifikation mit der Gemeinschaft geht im modernen Staat verloren, womit dieser unfähig wird, seine Eigenständigkeit zu bewahren. Impliziert wird hier, dass eine solche unmittelbare Identifikation wieder gefunden sein muss, will die Gemeinschaft ihre mythisch verbürgte Freiheit wieder erkämpfen. Die Ordnung, die auf dem als seelenlos erfahrenen Funktionalismus beruht, muss durch das kulturelle Imaginäre ersetzt werden, und selbst Kleist gibt hier im Subtext die Anweisung, wie das geschehen soll: durch die Anbindung an die als gemeinsam vorgestellte Geschichte („Herrmannsschlacht") und durch die Besetzung des Raums durch die nationalkulturelle Symbolik („Arminiusberg"), in der das Imaginäre seine Verkörperung findet. Beides wird vorbildlich in Friedrich Schlegels Reise nach Frankreich (1803) realisiert.35 In diesem Text, der die neugegründete Zeitschrift Europa eröffnet, schildert Schlegel seine Reise von Dresden nach Paris. Neu im Vergleich etwa zu Goethes Italienreise ist die kulturalisierte Perspektive, aus der die Städte und Ortschaften geschildert werden. Die imaginierte kulturelle Vergangenheit wird an die wahrgenommenen Räume gebunden, die sich, symbolisch aufgeladen, in die Schauplätze der kollektiven Identität verwandeln. Bei der Schilderung der Wartburg schreibt Schlegel: „Der Anblick des Abends ward noch durch ein heraufsteigendes Gewitter verschönt, vielleicht auch durch den Ruhm des Namens und durch die Erinnerung an die Zeiten, da die Poesie hier in voller Blüte stand und durch ganz Deutschland das allgemeine Element des Lebens, der Liebe und der Freude war. [...] Wenn man solche Gegenstände sieht, so kann man nicht umhin, sich zu erinnern, was die Deutschen ehedem waren, da der Mann noch ein Vaterland hatte." (KS 3, 2) Doch die poetische Vergangenheit, stellt Schlegel weiter fest, ist verschwunden, und auch „die Tugend, die derselben verschwistert war" (KS 3, 4). Doch auch hier dient die Figur der ruhmreichen Vergangenheit als imaginärer Antrieb, die Wirklichkeit nach dem Modell der eigenen Geschichte umzuformen: „Vielleicht wird der schlummernde Löwe noch einmal erwachen und vielleicht wird, wenn wir es auch nicht mehr erleben sollten, die künftige Weltgeschichte noch voll sein von den Taten der Deutschen." (KS 3, 4f.). Was dann folgt, ist die schon bei Kleist angewandte Strategie der Identifizierung der zeitgenössischen Deutschen mit den antiken Germanen, 36 mit einer Charakteristik, die die kulturelle Besonderheit der Nation als ei35
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Zitiert wird nach Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente, hg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn 1988 (im folgenden KS), Bd. 3, S. 1-8. Obwohl vom Aspekt einer neuen - nun kulturalisierten - Wahrnehmung des Fremden aus die Darstellung Frankreichs interessant sein könnte, beschränken wir uns hier auf den ersten Teil des essayistischen Reiseberichts, der vor allem von Deutschland handelt und wohl auch aus vergangenheitspolitischen Gründen wie bei Kleist den programmatischen Untertitel Erinnerungen trägt. Zu der Geschichte der Germanen-Ideologie siehe Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, v.a. Kapitel II und ΙΠ, S. 31-82.
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VAHIDIN PRELJEVIC
ne weltgeschichtliche Alternative zu der politischen Mission Frankreichs37 erscheinen lässt: „Was sie von den Römern besonders unterscheidet, ist die größere Liebe zur Freiheit; es war bei ihnen nicht bloß ein Wort und eine Regel, sondern angebornes Gefühl, Zu groß gesinnt, ihre Sitten und ihren Charakter allen Nationen aufprägen zu wollen, schlug derselbe doch überall Wurzel, wo der Boden nicht ganz ungünstig war, und der Geist der Ehre und Liebe, der Tapferkeit und Treue wuchs dann mit mächtigem Gedeihen empor. Wegen dieser ursprünglichen Freiheit des deutschen Lebens, die ein unvergänglicher Charakter der Nation ist, erscheint sie auch in ihren guten Zeiten ursprünglicher und dauerhafter romantisch, als selbst die orientalische Märchenwelt." (KS 3, 5) Der Gedanke der „ursprünglichen Freiheit" wie die Figur des „angebornen Gefühls" könnten zwar zum Repertoire der Motive des goldenen Zeitalters gehören, wie es auch der früheren Romantik nicht unbekannt war.38 Was hier jedoch hinzukommt, ist die nationale Rahmung dieser Motive und ihre gedächtnispolitische Umfunktionierung. Zudem werden diese Vorstellungen mit einem zivilisationskritischen Impetus verzahnt, woraus sich dann die Idee einer spezifischen nationalen Berufung ergibt, welche in der Besonderheit der deutschen Kultur begründet wird. Aufgrund der „Treue und Herzlichkeit der Gesinnung", die ein „nie ganz zu vertilgender Zug des deutschen Charakters" (KS 3, 5) ist, aufgrund der Kantischen „Idee der Moralität", welche freilich hier nationalisiert und damit ihres Sinns beraubt wird, kann Deutschland eine „welterobernde Nation" genannt werden. Damit ist der Kulturbegriff auf einen kollektiven Charakterzug reduziert worden und dabei in dem „Gehäuse" (Simmel) der Nation angekommen. Was sich dabei ebenfalls entscheidend verändert, ist seine wesentlich zeitliche und dynamische Bestimmung, die sich noch in der engen Verknüpfung mit der Bildungsidee manifestiert hat. Die Kultur wird, wie auch die Metapher des Gehäuses zeigt, vor allem räumlich gedacht. Da sie als Imaginäres zur Symbolisierung drängt, in der sie sich verkörpern kann, werden reale und dafür besonders markante Objekte mit Bedeutungen belegt, die sie als Ganzheit ausweisen. Mit anderen Worten: eine der wichtigsten Wirkungen einer nationalen Kultur besteht darin, dass Räume markiert werden. Schlegel selbst gibt in seiner Reise nach Frankreich ein Beispiel davon:39
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Die Gleichsetzung Roms und Frankreichs geschieht parallel zu der Identifikation Deutschlands und Germaniens. A m signifikantesten werden beide Parallelen in Kleists Drama Herrmannschlacht (1808) gezogen. Hans Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Tübingen 1994 (' 1965). Die Wende zum Räumlichen (zur bildenden Kunst und vor allem zur Architektur ) in der mittleren Romantik im Kontext ihrer nationalen Orientierung wurde schon von Richard Benz beobachtet; siehe R. Benz, Die deutsche Romantik, Stuttgart 1956 ('1937), S. 200-225.
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„Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren, und was sein könnten, so wach als am Rheine. Der Anblick dieses königlichen Stromes muß jedes deutsche Herz mit Wehmut erfüllen. Wie er durch Felsen mit Riesenkraft und ungeheuerm Stolz herabfällt, dann mächtig seine breiten Wogen durch die fruchtreichsten Niederungen wälzt, um sich endlich in das flachere Land zu verlieren; so ist er das nur zu treue Bild unsers Vaterlandes, unsrer Geschichte und unsres Charakters." (KS 3, 6) Das Imaginäre der deutschen Vergangenheit wird in einem real wirkenden Symbol40 verkörpert, wobei dessen Realität (Größe, Einzugsgebiet, Grenzcharakter des Flusses) das Imaginäre noch mehr steigert, derart, dass aus dem realen Charakter des Symbols die neue noch zu herzustellende Wirklichkeit, d.h. Deutschlands Größe und dessen Stellung als Mittelpunkt Europas natürlich hervorzugehen scheint: „Hier wäre der Ort, wo eine Welt zusammenkommen und von hieraus übersehen und gelenkt werden könnte, wenn nicht eine enge Barriere die sogenannte Hauptstadt umschränkte, sondern statt der unnatürlich natürlichen Grenze und der kläglich zerrißnen Einheit der Länder und Nationen, eine Kette von Burgen, Städten und Dörfern längs dem herrlichen Strome wiederum ein ganzes und gleichsam eine größere Stadt bildeten, als würdigen Mittelpunkt eines glücklichen Weltteils." (KS 3, 6) Die symbolische Besetzung des Raums schafft die Vorbedingung für ein kulturell markiertes Territorium,41 dessen staatliche Eingrenzung eine vorerst utopische Aufgabe bleibt. Doch wie in seiner etwas später veröffentlichten Schrift Schlegel selbst sagt, muss sich die „natürliche Erweiterungs- und Eroberungssucht des menschlichen Geistes", wenn sie nicht auf dem politischen Wege befriedigt werden kann, durch die Kultur realisieren.42
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„Das Symbolische umfaßt beinahe immer einen ,rationalen-realen' Bestandteil, der das Reale darstellt und für den theoretischen oder praktischen Umgang mit diesem unentbehrlich ist." Castoriadis: Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 11), S. 219. Zur Territorialisierung des Politischen siehe Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M 2006, S. 189-194. Friedrich Schlegel, „Beiträge zur Geschichte der modernen Posie und Nachricht von provenzalischen Manuskripten" (1803), in: KS 3, S. 29-39, hier S. 29.
WERNER BECKER
Hegels epochale Entdeckung: die Sakralsprache der Person Demonstriert am Beispiel der Herr-Knecht-Dialektik der Phänomenologie des Geistes
Zwar gilt die personale Anerkennung des Einzelnen zu Recht als die ausschlaggebende Errungenschaft der neuzeitlichen Philosophie. Unbeschadet dessen steht unsere politische und wissenschaftliche Kultur jedoch voll und ganz im Zeichen verallgemeinerungsfähiger Gleichheit, politisch als demokratischer und als Rechtsgleichheit, begrifflich als Gattungsgleichheit und methodisch in Gestalt der verschiedenen Arten des empirischen Individualismus. Darüber aber verschwindet fast gänzlich diejenige Charakteristik, die jedem von uns dennoch die nächstliegende ist: die des Einzelnen als Person. Deren Problematik zeigt sich jedoch erst, wenn es um die sprachliche Artikulation des menschlichen Personseins geht. Da steht zum einen die Behauptung der Scholastik im Raum, das Individuum, sei, personal definiert, „ineffabile", also nicht ausdrückbar, eine Auffassung, die in der analytischen Namentheorie wieder auflebte. Zum anderen rechnet man heute, wie im politisch tonangebenden Konzept der Menschenrechte, die Person sogar zur Naturausstattung des Menschen. Vergessen aber wurde, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes bereits eine erheblich überzeugendere Lösung des Sprachproblems der menschlichen Person vorgetragen hat: eine Sprache, die in kommunizierbarer Form die Erfahrung des personalen Bewusstseins wiedergeben soll. In der Sprache der Person erscheint der Einzelne als ein einzigartiges singuläres Subjekt, ebenso wie es der Eigenname eines Jeden zum Ausdruck bringt. In jeder gattungsbegrifflichen Sprache ist der Einzelne jedoch ein Exemplar einer unter vielen Gleichen. Singulärsein, als Person, und Gleichsein, wie alle anderen, - wie aber geht das zusammen? In allen Kulturen dokumentieren Religionen und Mythen denjenigen Typus von Sprache, der zur Bezeichnung der einzigartig-einmaligen Persönlichkeit gehört. Es handelt sich um eine Sprache superlativischer Eigenschaften: Götter, Halbgötter und Helden werden überall durch Prädikate unübertrefflicher Größe, positiv wie negativ, gekennzeichnet. Die sterblichen Menschen selbst hingegen blieben zu allen Zeiten auf die
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Rollen individueller Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit beschränkt, die ihnen in einer meist hierarchisch gestuften Gesellschaftsordnung von Geburt an zugeteilt wurden. Die Idee einer gesellschaftlichen Anerkennung des Menschen als Person kam kulturgeschichtlich zum ersten Mal durch das Christentum auf. Der Apostel Paulus, wahrscheinlich der eigentliche theologische Begründer des christlichen Glaubens, platzierte den Einzelnen, unabhängig von Geschlecht und seiner Position in der sozialen Hierarchie, in das Zentrum seiner Lehre von der Erlösung durch Christus. Statt an die Mitglieder des Volkes Israel sollte sich Gottes Versprechen der Erlösung nun an jedes Individuum, als Person, richten. Dieser Wendepunkt einer Anerkennung eines jeden als Person erklärt, warum das Christentum sich als eine europäische und später auch als eine Weltreligion verbreiten konnte. Der wichtigste Durchbruch im Hinblick auf die gesellschaftliche Anerkennung der Person fand in der europäischen Kultur hingegen erst durch die Reformation im 16. Jahrhundert statt. Er kam als eine Konsequenz der neuen Lehre über die Beziehungen des Christen zu Gott zustande. Beide Reformer, Martin Luther und Johannes Calvin, stimmten in der These über das „Priestertum eines jeden Gläubigen" überein. Auf diese Weise wurde die klassische Beziehung zu Gott, worin das Attribut der Heiligkeit sich bis dato allein auf die Kirche und deren Priesterschaft bezog, in eine individuell-persönliche Beziehung eines jeden Gläubigen transformiert. So jedenfalls sieht die geistesgeschichtliche Folie aller modernen Reflexion über die Person aus. Obwohl diese Reflexion mit Descartes und Hobbes bereits einsetzte, wurde die spezifische Sprache der Person dennoch erst durch die Philosophen des deutschen Idealismus entdeckt. Indem Hegel, im Anschluss an Fichtes IchAnalyse in der „Wissenschaftslehre", die Singularitätsdefinition der Person ins Spiel bringt, definiert er den Subjektsbegriff der neuzeitlichen Philosophie zugleich genauer als seine Vorgänger, deren Reihe von Descartes und Hobbes bis hin zu Kant reicht. Im Unterschied zu diesen benutzen die Vertreter des deutschen Idealismus eine Terminologie, die die personale Subjektivität mit Hilfe sakraler Kategorien bezeichnet. Üblicherweise pflegt man das den idealistischen Philosophen als Rückfall in voraufgeklärtes Denken vorzuwerfen. Dennoch werte ich deren Übertragung sakraler Prädikate auf die menschliche Person gerade als rationalen Fortschritt in der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. In der sakralsprachlichen Kennzeichnung reflektiert sich nämlich die superlativische Sprache der Person. Darum bringt der Absolutheitsterm, wo immer er bei Hegel auftritt, die Irreduzibilität des Personbewusstseins auf ein allgemein menschheitliches oder ein gesellschaftliches Gruppenbewusstein zum Ausdruck. Der adäquate Ausdruck des begrifflich irreduziblen Personseins aber erfolgt in superlativischen Termini sakraler Sprache. Erst die Einbeziehung der Sakralsprache der Person in die Gestaltungen des Geistes zeitigt für Hegel deren „spekulative Widersprüche", Widersprüche, die nicht, wie die Widersprüche der Logik, Irrtümer unseres Denkens sind, sondern vielmehr objektive Widersprüche des Geistes selbst. Aus demselben Grund ist Hegels Begriff des Wissens in allen Erscheinungsgestalten des Geistes der Begriff einer gegensätzlichen Einheit des Persönlichen und Allgemeinen. Es ist dies eine Sakralsprache der endlichen Subjektivität, eine Sprache, die mit allgemeinbegrifflichen Mitteln sakrale, d.h. göttliche Gestalten
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menschlicher Selbsterfahrung zum Ausdruck bringen will. Der für Hegels Phänomenologie typische Sprachstil gleicht darum, aus systematischer Motivation heraus, auch eher demjenigen dichterischer Sprache, als dem einer normalen Wissenschaft. Ich spreche vom Sprachstil philosophischer Epik. Wesentliche Themen der philosophischen Epik der Phänomenologie des Geistes stammen aus der Mythengeschichte der Menschheit. Das Philosophische der Hegelschen Epik besteht in der Zusammenfassung mythischer Gestalten mit Hilfe abstrakter Begriffe - insofern spricht Hegel auch hier von Wissen und Wissenschaft. Das Epische hingegen besteht in der narrativen Darstellung der Geschichten, die sich um die mythischen Gestalten ranken. Wie das Verhältnis zwischen begrifflicher Abstraktion und mythischem Gehalt in der Phänomenologie des Geistes, als philosophischem Epos der personalen Selbstbestimmung und Selbstwerdung des menschlichen Geistes, aussieht, soll jetzt am Beispiel der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft demonstriert werden. Liest man dieses Kapitel genau, zeigt sich, dass es dort um ein Ringen zwecks Erlangung der Qualität der personalen Absolutheit geht und nicht, wie es von Kojéve bis Taylor und Honneth in der Regel gesehen wird, um intersubjektive Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Positionen. Vielmehr handelt das Ganze vom Kampf um die Zuweisung der göttlichen Qualität der Einzigartigkeit - so in meinen Worten - bzw. des Absoluten - mit dem von Hegel dafür gebrauchten Begriff.1 Und das eben nicht in theoretischer, sondern in epischer Gestalt. Die meisten Interpreten wollen den Selbstbewussteinsbegriff des gleichnamigen Kapitels grundsätzlich nur für die endliche Subjektivität, als ginge es um historische Sozialpsychologie, gelten lassen, wie denn überhaupt versucht wird, Hegels Terminologie von religiösen und theologischen Bedeutungen zu reinigen. Doch wird so gerade der Hegeische Clou verdorben, wonach das menschliche Personbewusstsein sich gerade in der Auseinandersetzung mit absolutem, sprich: göttlichem Bewusstsein herausgebildet habe: im ersten Stadium als knechtisches Bewusstsein, dessen eigene Personalität allein von Gnaden des absoluten Herren ist.2 1
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Ich zitiere die charakteristische Anfangspassage: „Die Darstellung seiner als der reinen Abstraktion, besteht darin, sich als reine Negation seiner gegenständlichen Weise zu zeigen, oder es zu zeigen, an kein bestimmtes Dasein geknüpft, an die allgemeine Einzelheit des Daseins überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft zu sein. Diese Darstellung ist das gedoppelte Tun: Tun des Anderen und Tun durch sich selbst. Insofern es Tun des Anderen ist, geht also jeder auf den Tod des Anderen. Darin ist auch das zweite, das Tun durch sich selbst, vorhanden; denn jenes schließt das Daransetzen des eigenen Lebens in sich. Das Verhältnis beider Selbstbewußtseine ist also so bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren." (G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 9, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, S. 111). „Die Auflösung jener einfachen Einheit ist das Resultat der ersten Erfahrung [des Selbstbewussteins; W. B.]; es ist durch sie ein reines Selbstbewußtsein und ein Bewußtsein gesetzt, welches nicht rein für sich selbst, sondern für eine anderes, d.h. als seiendes Bewußtsein in der Gestalt der Dingheit [...] So sind sie als zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins; die
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Meines Erachtens erzählt bereits die Bibel, im Geschehen des Sündenfalls und der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies, die zum ersten Stadium des Selbstbewusstseins, dem Erwachen des menschlichen Geistes zum Bewusstsein eigener Personalität, passende archetypisch-mythische Geschichte. Betrachtet man diese Erzählung durch die Brille Hegels, wird zunächst einmal klar, dass mit dem Adam der Paradiesgeschichte nicht der erste Mensch gemeint sein soll, sondern jener Mensch, der zum ersten Mal den Gott allein vorbehaltenen Anspruch eigener Absolutheit erhebt; also der erste Mensch, der Gott den Besitz der personalen Singularität streitig macht, indem er, um die Strafe des Todes wissend, selbst einzig sein will wie dieser. Aber auch Gott selbst muss um die Anerkennung seiner Einzigartigkeit fürchten. Auch er setzt sich dem Risiko des eigenen Todes, des Todes Gottes, aus. Kann dessen eigene personale Singularität doch nur Bestand haben, wenn er der einzige ist, der sich diese göttliche Qualität zuschreiben darf. Weshalb auch das Nietzsche-Motiv vom Tode Gottes, in hegelscher Sichtweise, bereits zum biblischen Selbstverständnis Gottes gehört. Um die archetypische Struktur der Herr-Knecht-Dialektik zu verdeutlichen, verweise ich darauf, dass der um seine Anerkennung kämpfende Gott, weit über Sündenfall und Paradiesesvertreibung hinaus, eines der bestimmenden Motive der Bibel ist. Die Beispiele reichen von Jakobs Ringen mit dem Engel Gottes bis hin zur zentralen Auseinandersetzung Gottes mit seinem abtrünnigen Volk. Im Alten Testament droht Gott, wie es die mosaische Geschichte vom Tanz ums Goldene Kalb ausweist, die Absetzung vom Thron seiner Einzigartigkeit wegen der Neigung des durch ihn erwählten Volkes zum Abfall von ihm. In der Theologie des Neuen Testaments spielt das Ringen um Vereinbarkeit des messianischen, d.h. ebenfalls gottgleichen Nazareners Jesus, als dem Christus, mit der einen Einzigartigkeit Gottes bis heute eine ausschlaggebende Rolle. Die zum Dogma geronnene Lehre der göttlichen Trinität war ja immer nur eine mühsame Verschleierung des zugrunde liegenden Konflikts um die göttliche Person. Die Quintessenz der alttestamentlichen Geschichte der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies aber ist bekanntlich, dass Gott sich als absoluter Herr dem aufständischen Adam gegenüber behauptet, und das mit für diesen äußerst schrecklichem Ausgang: der Mensch erfährt, in Stellvertretung des ganzen Geschlechts, was die Strafe der Vertreibung aus dem Leben mit Gott im Paradies bedeutet: die Gewissheit des Todes als seine existenzielle Bestimmung, ein Leben in Knechtsgestalt in der ständigen Furcht des Herrn sowie die Verurteilung zu harter Arbeit am kargen Boden - in Luthers Bibeldeutsch: „im Schweiße des Angesichts auf den Äckern voller Disteln und Dornen" um des Überlebens willen arbeiten zu müssen. „Zuletzt aber wirst du wieder zur Erde zurückkehren, von der du genommen bist. Staub von der Erde bist du und zu Staub musst du wieder werden." Dennoch bleibt, nach biblischer Geschichte, der Mensch auch und gerade als Knecht seines absoluten Herrn nicht gänzlich von dessen göttlicher Absolutheit ausgeschlossen. Vielmehr hat er auch im Zustand der Gottesknechtschaft, als Gottes eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht." (Ebd., S. 112)
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Ebenbild, an dessen personaler Absolutheit teil, eine Teilhabe, deren Versprechen sich allerdings, wenn auch erst unter bestimmten Bedingungen, nach dem Erleiden des Todes im himmlischen Sein mit Gott soll einlösen lassen. Umgekehrt wird jedoch auch Gott, in Gestalt der Forderung des Glaubens an ihn, als auf den Menschen angewiesen und insofern von diesem abhängig betrachtet. So jedenfalls lehrt es das Christentum bis heute. Folgt man meiner Interpretation, handelt Hegels Dialektik von Herr und Knecht vom Erwachen des menschlichen Geistes zum Bewusstsein eigner Personalität. Sie erzählt in philosophischer Terminologie ein Epos mit archetypischer Bedeutung für die Geschichte des abendländischen Geistes. Es ist die Auseinandersetzung zwischen der Pflicht zur Unterordnung unter Gottes Wille, für uns im Namen des Christentums, und dem Aufbegehren des sterblichen Menschen, die sakrale Qualität der personalen Einzigartigkeit für sich zu erlangen. Kürzer: es ist der Konflikt zwischen der religiösen Sakralbedeutung der personalen Einzigartigkeit und der säkularen Sakralbedeutung der personalen Einzigartigkeit. Das will sagen, dass dieser Konflikt nicht nur das biblische Anfangsgeschehen beherrschte, sondern, als begrifflicher Archetypus, zu einer geschichtlichen Konstante geworden ist. Die Geschichte des Aufbegehrens des europäischen Geistes im Zeichen jenes Ringens um die sakrale Qualität der personalen Einzigartigkeit reicht von den Aufstandsbewegungen der Mönchsorden, die sich gegen die Priesterkirche richteten, über den Personalismus der scholastischen Theologie bis hin zu den beiden politisch ausschlaggebenden Revolutionen, die die europäischen Neuzeit hervorgebrachten: der Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts, die das Priestertum eines jeden Gläubigen als Zielsetzung verfolgte, und der Revolutionen der Amerikaner und Franzosen im 18. Jahrhundert, die die säkulare-sakrale Rechtsträgerschaft des Einzelnen qua Person durchsetzten. Ich schließe mit der Bemerkung, dass auch wir, was den Stand des objektiven Geistes der Epoche angeht, unsere geistige Selbstverständigung nach wie vor im Schatten dieser beiden Revolutionen betreiben, und damit im Zeichen des abendländischen Konflikts zwischen religiöser und säkularer Sakralbedeutung personaler Einzigartigkeit.
DAVOR RODIN
Liberalismus und Republikanismus sind weder politische noch demokratische, sondern ideologische Optionen
1. Republikanismus und Liberalismus haben paradoxale Eigenschaften: Einerseits handelt es sich um zwei politische Theorien, Ideologien und Utopien, andererseits sind es, als Folge der neuzeitlichen Identifikation von Theorie und Praxis, zwei politische Bewegungen, welche die liberalen und republikanischen Ideen praktisch anwenden wollen. Bei Hegel ist dieses Paradox durch die Identifikation von Theorie und Praxis spekulativ verschleiert worden. Damit hat Hegel den Weg der geschichtlichen Identifikation von Theorie und Praxis spekulativ abgeschlossen: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheuere Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten"1. Bei Aristoteles, der die Praxis von der Theorie unterscheidet, sind die beiden Prinzipien der „Liberalismus" und „Republikanismus" hinsichtlich der Ethik und Politik kaum zu unterscheiden, denn nur die Mäßigen und Tugendhaften sind des wirklich guten Lebens in der Polis würdig. Im Blick auf die Politik als eine praktische Handlungsweise sind die Theorien des Liberalismus und Republikanismus teilweise Ideologien und teilweise Utopien, die das politische Handeln semantisch afFizieren. Scheldon S. Wolin rubriziert den Liberalismus und Republikanismus unter dem Begriff der Vision.2 Beide Theorien sind nach Wolin durch ihre apolitische und ademokratische Einstellung gekennzeichnet. Für den Liberalismus ist jede Mehrheitsentscheidung unannehmbar, weil sie die Freiheit des Einzelnen bedroht, und deswegen neigen die modernen Liberalen zu einer delibarativen Demokratie, welche der demokratischen Mehrheitsentscheidung 1 2
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S. 215, § 260. Sheldon S. Wolin, Politics and Vision, New Jersey 2004
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DAVOR RODIN
durch vorhergehende Deliberation bzw. durch kommunikatives Handeln und Diskurs auszuweichen versucht (Habermas). Sie sind auch apolitisch, wenn die Politik als eine Praxis verstanden wird, die kollektiv bindende Entscheidungen innerhalb des demokratisch erzeugten Pluralismus ermöglichen soll. Die Republikaner dagegen, die in der Tradition von Rousseau stehen, sind der Meinung, dass die Demokratie als Herrschaft der Mehrheit gegen die allgemeine Gleichheit aller Vernunftwesen verstößt und in diesem Sinne auch die Verwirklichung des guten Lebens für alle Vernunftwesen vermissen läßt. Als Theorien, Utopien und Ideologien sind Republikanismus und Liberalismus mit dem politischen Handeln inkommensurabel, d.h., was für sie richtig ist, verpflichtet kein politisches Handeln. Eine utopische, ideologische Aussage kann semantisch auf die politische Praxis einwirken, aber nur, wenn die politisch Handelnden solche Aussagen in ihrem Handeln auf politische Weise, d.h. transformiert in ein anderes Medium, berücksichtigen. Als Ideologien und Utopien, d.h. als sprachlichschriftliche Gebilde, wirken republikanische und liberale Ideen am leichtesten auf Verfassungen, und zwar paradigmatisch auf die jakobinische und amerikanische Verfassung, ein, weil die Verfassungen auch schriftliche Gegebenheiten sind und deswegen der Logik und Grammatik und nicht der politischen Praxis verpflichtet sind. Das bleibende Problem des Liberalismus und Republikanismus ist nicht ihr Bezug zum Verfassungsrecht, sondern ihr Bezug zur Demokratie und Politik. Die Demokratie ist seit Aristoteles einerseits ein Verfahren, das die Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten produziert, und andererseits eine Regierungsform; in der Neuzeit wirkt dagegen die Demokratie in der Funktion der Legitimation der staatlichen Potestas und ist in dieser Funktion die Bedingung der Möglichkeit für die praktische, d.h. nicht ideologische Vermittlung der auctoritas in potestas. Die Demokratie ist demnach nicht unmittelbar Volksherrschaft (auctoritas), sondern ein Verfahren, das auf die Frage, welcher Teil des Volkes die potestas in einem Gemeinwesen hat, eine Antwort gibt. Wenn das Volk als die letzte souveräne Instanz die auctoritas ist, dann ist die Demokratie ein Verfahren, das den Übergang von auctoritas in potestas verwirklicht: Bei Aristoteles unmittelbar und in der Neuzeit prozedural oder parlamentarisch vermittelt. Was ist das praktische Wesen der auctoritas? Die auctoritas des Gottes oder des Volkes kann nicht unmittelbar wirken, denn sie müsste in diesem Fall auch gegen sich selber wirken können, und das würde das Gemeinwesen uneingeschränkter Willkür aussetzen, es sei denn, man schriebe dem Gott und dem Volk Neigung zum Suizid zu: Nemo contra deus nisi deus ipse. Die Demokratie wirkte bei Aristoteles direkt auf den Übergang der auctoritas in die potestas, im Mittelalter vermittelt die Kirche mit ihren jus interpretationis die auctoritas Gottes mit den weltlichen Herrschern, und in der Neuzeit die parlamentarische Demokratie. Man hat heute erkannt, dass die Demokratie keine Volksherrschaft ist, sondern nur dieser temporale, prozedurale und durch die Verfassung eingeschränkte Übergang von der auctoritas in die potestas. Das ist eben das Wesen der Demokratie, wie wir es aus der Tradition verstehen. Wenn man aber dieses Wesen der Demokratie missversteht, dann entsteht die Fiktion, das die demokratisch legitimierte potestas des Staates die
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Einheit von potestas und auctoritas verkörpert und in diesem Sinne diktatorisch oder totalitär ist; abgesehen davon, ob es sich um eine plebiszitäre oder parlamentarische Demokratie handelt.3 Beide Arten der Demokratie vermitteln auctoritas in potestas, nur, dass die plebiszitäre Demokratie die Pluralität des Volkswillens aufzuheben droht und die parlamentarische die Minderheiten in der Funktion der Oppositon rechtlicht, d.h. symbolisch, aufbewahrt. An die Stelle der demokratieschen Entscheidung, wer in einem Gemeinwesen die potestas von der auctoritas als der letzten Instanz bekommen hat, wollen die Liberalen den Einzelnbürger, der mit anderen Personen deliberiert, stellen, die Republikaner das allgemeine Wohl, das über jeder demokratischen Entscheidung steht. Die Liberalen und Republikaner sind, wie ersichtlich, von Anfang an gegen die Demokrtie als dem Vermittlungsverfahren zwischen auctoritas und potestas eingestellt. Beide Richtungen - Liberalismus wie Republikanismus - sind antidemokratisch, denn die Liberalen sind gegen jede Mehrheitsentscheidung, die den freien Willen des Einzelnen einzuschränken droht, und die Republikaner sind der Meinung, dass man über das Gemeinwohl nicht mehrheitlich entscheiden kann, denn jede Mehrheitsentscheidung schließt die Minderheit aus, und das widerspricht der Idee des Gemeinwohls als der Gleichheit zwischen den Gleichen, seien das Volksgenossen oder die gläubigen Brüder und Schwestern oder die Genossen und Genossinnen. Dazu ist noch auf den postmodernen Begriff der fugitive democracy4 hinzuweisen, den Sheldon S. Wolin gebraucht, um den Unterschied der gegenwärtigen Form der Demokratie von der traditionellen Vertretungsdemokratie und der plebiszitären Demokratie hervozuheben. Die überkommene Mehrheitsdemokratie, so Wolin, beruhte auf der Voraussetzung eines homogenen Volkes im Singular. Sie vermittelte zwischen auctoritas und potestas unter Voraussetzung eines solchen einheitlichen Souveräns. Die postmoderne Theorie der Demokratie hat eingesehen, dass das Volk als das Subjekt der Souveränität segmentiert und fragmentiert ist. Ein so fragmentierter Souverän ist für eine kollektive Aktion unfähig. Damit ist die alte theologische Vorausetzung, dass das Volk wie Gott die Einheit von auctoritas und potestas verkörpert und so vor jeder Verfasssung als Entität besteht, demystifiziert. Damit ist auch die falsche Voraussetzung, dass das Volk selber die Einheit von auctoritas und potestas verkörpert, begehrt und anstrebt, vom Tisch. Weil das Volk eine segmentierte Struktur ist, versucht man, mit Hilfe der Demokratie die kleinen Segmente der Macht zu kollektivieren. Die Souveränität ist deswegen eine Konstruktion, erzeugt von der demokratischen Prozedur, die wie ein Flüchtling (fugitive) von Ort zu Ort wechselt, um verschiedene kleine, in der zivilen Gesellschaft handelnde Segmente der Macht temporal als letzte Entscheidungsinstanz zu homogenisieren. Nun stellt sich die Frage nach dem Bezug der freien und gleichen Bürger zum Liberalismus, Republikanismus und zur Demokratie als verschiedenen Medien oder Handlungsweisen. John Rawls hat bekanntlich diesen Bezug auf zwei Weisen zu lösen versucht: zuerst rechtlich und dann politisch. Seine Frage war: „Wie kann eine gerechte 3 4
Vgl. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt/M 2004. Sheldon S. Wolin, Politis and Vision, a.a.O. (Anm. 2), S. 601.
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Gesellschaft freier und gleicher Bürger dauerhaft bestehen, die von vernünftigen, aber miteinander nicht zu vereinbarenden umfassenden religiösen, philosophischen und moralischen Lehren gespalten ist?" Anfangs beantwortete Rawls die Frage mit einem fairen Rechtsverfahren unter dem veil of ignorance, das zweite mal meinte er aber: „in einem demokratischen Verfassungsstaat soll das öffentliche Verständnis von Gerechtigkeit so weit wie möglich von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren unabhängig sein: die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption muss politisch und darf nicht metaphysisch sein."5 Dazu kann man nur sagen Rawls ist konfus. Er pendelt zwischen zwei unkommensurablen Medien: zwischen Recht und Politik. Wenn man schon die Gerechtigkeit weder mit liberalen noch mit republikanischen Ideen vermengen darf, darf man es um so weniger mit der Politik.
2. Wir versuchen jetzt, eine gegenwärtige konservative Verteidigung des Republikanismus zu rekonstruieren. Den Republikanismus verteidigen die heutigen Konservativen gegenüber der postmodernen Kritik, die sie besonders zu bedrohen scheint. Luhmanns These, dass das Recht ein autopoietisches System sei, das sich selbst legitimiert, und zwar nicht mit einer vorgegebenen Idee des Rechtes oder gar mit dem bestehende Recht, sondern durch Verfahren, auf das sich die Beteiligten einrichten, beurteilt Isensee als „Entsubstanzialisierung, Dekompetenzialisierung und Prozessualisierung des Gemeinwohls".6 Isensee denkt substantiell, d.h. weder transzendental noch semantisch. Er unterstellt der neuzeitlichen Idee des Republikanismus, dass sie eine transzendentale Leerformel sei, und dann bekämpft er mit logischer Prägnanz diese von ihm selbst unterstellte These: „Wenn es sich als solche Leerformel erweisen sollte, so erledigte sich das Thema von selbst. Denn eine Leerformel kann man nicht konkretisieren. Man kann sie nicht auslegen, sondern allenfalls ausfüllen, und das mit beliebigem Inhalt. Eine Leerformel bildet kein mögliches Substrat für eine Kompetenz, keinen möglichen Gegenstand für ein Verfahren, kein Thema für den Diskurs. Alles theoretische und praktische Bemühen, das Gemeinwohl zu fassen, wäre nichts als ein Windhundrennen nach einen Phantomhasen."7 Das ist ein Argument aus alten Zeiten, ein spätes Reentry der aristotelischen politischen Philosophie im Dienste der Kritik der Kantischen Leerformel. Das Gemeinwohl ist, nach Isensee, eine Substanz, die man beschreiben und nach der man dann seine Lebensführung orientieren kann. Was ist neu bei diesem Reentry des Aristoteles? Nur die bereits übliche neuzeitliche Reduktion der aristotelischen vier Ursachen jeder Gegebenheit auf eine einzige, die causa efficiens. 5 6
7
John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M 1994. Josef Isensee, Konkretisierung des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, 99. Ebd., S. 97.
Berlin 2004, S.
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Doch wie immer man auf der Unterscheidung zwischen Politik und Demokratie einerseits und Liberalismus und Republikanismus andererseits als inkommensurablen Medien besteht, so bleiben Liberalismus und Republikanismus als Umwelt der Demokratie und der Politik stets aktuell. Oder, anders gesagt: Liberalismus und Republikanismus bilden die fortdauernde Sinnumgebung der Politik und der Demokratie, mit der sich die Demokratie und Politik ständig auseinandersetzen müssen. Denn wenn der substantielle Republikanismus und der ebenso substantielle Liberalismus sich gegenüber der Politik und Demokratie durchsetzen oder verwirklichen würden, dann hätten wir den liberalen oder republikanischen Totalitarismus, d.h. die Identität von auctoritas und potestas, wie das bereits Carl Schmitt gesehen hat. Gegen das Gemeinwohl im substantiellen Sinne ist weder demokratisch noch politisch etwas einzuwenden, denn was soll die Demokratie unterscheiden und was soll die Politik verbinden, wenn die republikanische Idee des guten Lebens vor jeder Politik, Demokratie und selbst der Verfassung bereits besteht? Republikanismus ist eben diese aufgehobene Trennung zwischen der Idee des guten Lebens und dem bestehenden Leben: das absolut Gute am Werk, die Polis bei Aristoteles, der Staat bei Hegel, der Kommunismus bei Marx. Das gilt auch für den Liberalismus, wenn der Einzelne als sich selber genügende causa sui bestimmt ist. Isensee sieht ganz genau die Gefahr der postmodernen Kritik des kantischen Transzendentalismus, des aristotelischen und seinen eigenen Substantialismus. Wenn zwischen verschiedenen Systemen wie Demokratie, Politik, Staat, Recht u.s.w. nur ein semantisches Verfahren walten soll, dann ist das Gemeinwohl und selbst die Wahrheit preisgegeben, denn, so Isensee: „Das Verfahren als wirkliches Geschehen suche nicht nach vorgegebener Wahrheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, sondern erzeuge seine eigene Wahrheit, Gerechtigkeit, Gemeinwohl, auf die sich die Beteiligten lernwillig, wie sie seien, einrichten."8 Nun sieht Isensee ganz treffend den Unterschied zwischen Republikanismus und Demokratie und lässt sich auf die Diskusion über den Bezug zwischen Republikanismus und Demokratie ein. Die These, dass man über das Gemeinwohl demokratisch zu entscheiden habe, verstößt gegen das Wesen des Republikanismus und der Demokratie als zwei verschiedene Systeme, denn die Demokratie unterscheidet, fragmentiert und segmentiert eben dort, wo der Republikanismus die Einheit anstrebt. Dazu Isensee ganz klar: „Das demokratische Verfahren soll die Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl garantieren. Dieses ist dann lediglich Derivat der Demokratie, eine semantische Zierleiste."9 „Die Lehre von der demokatischen Prozeduralisierung hat nicht einen Ausweg aus dem Dilemma des Gemeinwohls gefunden." Man kann nicht demokratisch, mehrheitlich über das Gemeinwohl entscheiden, es steht über diesem Unterscheiden, wie bereits Rousseau gesagt hat. Das klingt universalistisch, aber ist Isensee ein Universalist, oder ein konservativer Theoretiker des neuzeitlichen Nationalstaates? Denkt er an das gute Leben der Menschheit oder an das gute Leben des deutschen Volkes und Staates? Für einen Schmittianer besteht dieses Dilemma nicht. Die Kontroverse 8 9
Ebd., S. 99. Ebd., S. 100.
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zwischen Demokratie und Republikanismus löst Isensee auf andere Weise: „Die Demokratie bestimmt, wer regiert, nicht aber, zu welchem Zweck regiert wird. Sie betrifft den Legitimationsursprung, der Träger der Staatsgewalt, das Gemeinwohl dagegen das Ziel"; auf das Ziel ist nach aristotelischer Lehre jedwede „gute" Staatsform ausgerichtet und nicht nur die Demokratie.10 In der Fortsetzung sagt er noch klarer: „Das Gemeinwohl wird nicht erfasst vom Begriff der Demokratie, sondern von dem der Republik: res publica res populi." Und weiter heißt es: „Die Demokratie als Herrschaft durch das Volk bedarf der Ergänzung durch die Republik als Herrschaft für das Volk." Und nun kommt alles in die gewünschte Beleuchtung: „In der Tat bildet die Verfassung den Plan des guten Lebens des Gemeinwesens. In ihr sind Strukturen einer guten Ordnung rechtlich vorverfestigt."11 Nach diesen Stellungnahmen, die obsolet klingen, endet alles in der Skepsis, die jedem Positivimus eigen ist. Staat, Verfassung, Demokratie, Gemeinwohl - wie soll man das alles verbinden, wie soll man das koordinieren, nachdem die überkommene Hobbes'sche Struktur - Staat und bürgerliche (Untertanen) Gesellschaft - in den Pluralismus der zivilen Gesellschaft zerstückelt ist, indem der Volkssouverän segmentiert und fragmentiert ist. Wie bei dem alten Schmittianer Ernst Forsthoff so auch bei dem jungen Schmittianer Josef Isensee endet alles in der Polykratie als Folge der Schmittschen Erbschaft: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende, darüber ist kein Wort mehr zu verlieren."12 Die Verfassung, die als letzte Instanz noch für das Gemeinwohl zuständig war, gilt nur noch für den Staat selbst; die anderen Teile der zivilen Gesellschaft folgen ihrer eigenen „Verfasstheit". Der Staat ist nur ein Teil der zivilen Gesellschaft mit einer besonderen, auf Dienstleistungen bezogenen Aufgabe, nicht ihr formendes und verwaltendes Subjekt wie bei Hegel, nicht mehr das höchste Gut wie bei Aristoteles. Indem er sich alles dessen bewusst ist, endet Isensee seine Analyse des Gemeinwohls skeptisch: „Liefern die Phänomene solcher Art einen Grund, das Gemeinwohl als Kategorie des Staatshandelns, als Lebenslüge des Verfassungsstaates zu denunzieren und auf sie zu verzichten?" Nein! Isensee bleibt ganz ideologisch dem Republikanismus treu: „Es ist notwendiger denn je, den Sinn für das Gemeinwohl in Theorie wie Praxis zu schärfen."13
3. Wie kann man gegen ein solches, noch aktuelles substantielles und hermeneutisches Denken des guten Lebens und des liberalen Individualismus kritisch argumentieren? Das neuzeitliche substantielle Denken unterscheidet sich, wie bereits gesagt worden ist, von dem aristotelischen Substantialismus durch die Reduktion seiner vier Ursachen der Form, der Materie, des Telos und der causa efficiens auf eine einzige, die cau10 11 12 13
Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. S. 10. J. Isensee, Konkretisierung, a.a.O. (Anm. 6), S. 117.
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sa efficiens. Das Hervorbringen und Verwirklichen des höchsten Gutes, der Freiheit aller .Menschen von mittelalterlichen Ketten, führte in der Französischen Revolution zu Verbrechen gegen Alle, die gegen die Freiheit als das höchste Gut waren. Hätten die französischen Revolutionäre so konsequent gehandelt, wie Kant dachte, würden die Köpfe wie Strohbündel fallen, meinte Heine in seinen Pariser Vorträgen über den Deutschen Idealismus. Im Hintergrund solchen Wahnsinns war die neuzeitliche wissenschaftlich-technische Identifikation von Theorie und Praxis was in politischer Hinsicht die Identifikaion von auctoritas und potestas bedeutet, die, wie bekannt, besonders klar Hobbes vertrat: Auctoritas non Veritas facit legem,14 Die üblen Folgen solcher Identifikation von Theorie und Praxis sind besonders hartnäckig bei den zahlreichen heutigen Vertretern der Meinung festzustellen, nach der Marx der Urheber der kommunistischen Verbrechen und Nietzsche der Urheber der faschistischen Verbrechen war. Carl Schmitt ist bis heute in Deutschland verdächtigt als Kollaborateur des Nationalsozialismus, als Theoretiker des Totalitarismus, als Antiliberaler und Antidemokrat. Manche derselben Gesinnung vergleichen den Holocaust mit den Folgen des ähnlichen Verbrechens der Amerikaner beim Abwurf von Atombomben auf die japanische Städte Hiroshima und Nagasaki. Selbst Heidegger hat an der Universität Freiburg im Breisgau keine Tafel, die an den großen Denker, der dort lehrte, erinnern würde. Stattdessen steht dort eine Tafel mit der Inschrift: „Mit Schmerz und Scham erinnert sich die Universität der Rassengesetze." Dieselben Übel und Verbrechen des Totalitarismus könnte man bei der Verwirklichung der republikanischen und liberalen Ideen verursachen. Kann man solche Tatbestände anders verstehen? Sie folgen aus dem Vorurteil, dass man eine Theorie nicht nur verwirklichen kann, sondern dass sie zur Verwirklichung bestimmt ist und dass man sie folglich verwirklichen soll. Aus diesem fest eingewurzelten Irrtum folgt die falsche Vorstellung, dass eine ethische oder politische Theorie Grundriss für Verbrechen oder Wohltaten gegen oder für die Menschlichkeit sei. Die Autoren solcher Theorien versteht man danach entweder als Brandstifter der Verbrechen oder als Opportunisten, als Heilige oder Märtyrer, abgesehen davon ob sie je politisch gehandelt oder moralisch versagt haben, ja sogar abgesehen davon, ob sie leben oder tot sind. Italo Calvino hat zu diesem Dilemma passend bemerkt, dass er sich nur für seine ungeschriebenen Bücher verantwortlich fühlt. Wie kann man sich von solcher üblen Identifikation der Theorie mit der Praxis befreien? Nach den Postmodernen Theorien muss man die Theorie nicht nur von der Praxis unterscheiden und trennen, sondern ihren Bezug neu deuten, um aufzuklären, zu welchen Katastrophen die Identifikation von Theorie und Praxis, von auctoritas und potestas geschichtlich geführt hat. Eine Theorie, so das postmoderne Argument, kann man nicht verwirklichen, weil Theorie und Praxis inkommensurable Handlungsweisen oder Medien sind, die, wie Helmut Willke, ein Schüler von Luhmann, sagte, im Verhältnis der diffusen Plastizität stehen. Als symbolische Strukturen, als Utopien oder Ideolo14
Laut Hermann Lübbe argumentiert der deliberatrive Liberalismus mit Wahrheit, der Republikanismus mit auctoritas.
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gien kann man Liberalismus und Republikanismus wortwörtlich nicht verwirklichen. Sie sind zwar ständig anwesend in der Umgebung der politischen, moralischen und demokratischen Handlungsweisen und stehen zu Demokratie, Politik und Moral in einem losen Verhältnis der weichen Inkommensurabilität oder der semantischen Affektion, wie es mit den Begriffen Reentry und Übersetzung näher beschrieben wird. Mit diesen Begriffen ist der Bezug zwischen symbolischen Strukturen und praktischen Handlungen bezeichnet. Jede symbolische Struktur kann in späteren Zeiten wiedereintreten und belebt werden. Aber eine symbolische Struktur kann in die lebendige Praxis nur in einer semantischen Verstellung eintreten, d.h. nicht als ein Grundriss, als causa efficiens oder als Bedingung der Möglichkeit, wie die Hermeneutiker das meinen, sondern nur als loser Sinn, der offen für ganz verschiedene Interpretationen und ganz verschiedenes moralisches oder politisches Handeln im Hier und Jetzt ist, d.h. im Modus vergegenwärtigter grammatikalischer Gegebenheiten der Vergangenheit oder Zukunft zu Verfügung steht. Moralisch und politisch kann man nur für moralische und politische Handlungen verantwortlich sein, sonst herrschte wieder das Gesetz des verbalen Delikts. Die republikanischen und liberalen Projekte sind grammatikalische Darstellungen der politischen und moralischen Handlungen, die man frei nach grammatikalischen Regeln interpretieren kann. Aber die politische und moralische Verantwortung folgt aus dem moralischen und politischen Handeln und nicht aus grammatikalischen Aussagen.15 Diese Ideen sind keine Leitsterne, die den Weg in die stets drohende Identität von auctoritas und potestas, von Theorie und Praxis - diejenige Identität, in der alle Kühe schwarz sind - zeigen würden. In dieser Finsternis kann man weder moralisch noch politisch und demokratisch unterscheiden um danach frei und verantwortlich zu entscheiden. Diese Identitäten sind für die Postmodernisten nicht das Ziel des Handelns, wie die Vertreter der republikanischen und liberalen Tradition meinten, sondern der Ausgangspunkt für die konkrete politische und demokratische Unterscheidung von Macht und Gewalt, Theorie und Praxis, und in der Folge von einer guten und einer schlechten Gesellschaftsordnung. Wohin man politisch strebt, ist nach den Postmodernisten nicht die Identität der Idee des guten Lebens mit dem wirklich guten Leben. Was die Postmodernisten tun, ist die permanente Öffnung des Raumes, in dem man das gute von schlechten Leben unterscheiden kann. Jedes politische Handeln ist motiviert durch die Suche nach diesem offenen Raum, in dem diese Unterscheidung möglich ist, denn nur diese Unterscheidung hütet vor der Gefahr des Sturzes in den undemokratischen und unpolitischen Zustand des Gemeinwesens, in dem die Macht (auctoritas) und Gewalt (potestas) in der Hand eines Gottes, eines Volkes oder eines Führers wären - und 15
„Das wird ungern zugestanden, weil es der Gründung vieler Methodenvorstellungen auf der kausalen Beobachtungsweise widerspricht, wonach Wirkungen durch von ihnen unterscheidbare Ursachen erklärt werden müssen." Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M 2002, S 412. Dazu die Interpretation des Satzes Nihil est sine ratione von M. Heidegger in: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1971. Statt von Begründung spricht Heidegger von Offenheit für das Unverfügbare, was die heutigen Nachfolger als die anonyme Umgebung des Systems denken. Die Aussage, dass alle Menschen sterblich sind, ist nicht Ursache dafür, dass Sokrates stirbt (S. 192).
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sei es auch nur temporal beschränkt - , und wo es demzufolge weder politisch noch demokratisch und moralisch möglich wäre, zu unterscheiden und zu entscheiden, weil man im Voraus wüsste, was gut und gerecht ist. Die Dekonstruktion dieser Identität ist das genuine Feld der Politik und der Demokratie.
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Der moderne Staat, die europäische Kultur und die Europäische Union
In meinem Beitrag werde ich die Entstehung des modernen Staates am Beispiel der Lehre von den Staatselementen analysieren und die Wandlungen ihrer Bedeutung in der Gegenwart zeigen (1), und daraus werde ich einige Konsequenzen für die Zukunft des Staates und für die Zukunft der EU ziehen (2).
1. Der Staat hat außerordentliche zivilisatorische Leistungen vollbracht. Er hat erfolgreich konfessionelle Kriege zu Ende gebracht und durch eine zentrale Gewalt innergesellschaftlichen Frieden gestiftet. Der Staat war ein welthistorisches Unikum, das den Dualismus von Herrscher und Land, von Fürsten und Ständen aufgehoben hat. Der Staat hat die Politik rationalisiert, so dass er ihr mehr Dauerhaftigkeit, Festigkeit und geistige Verbindlichkeit gegeben hat. Die Dauerhaftigkeit verlangte die feste Grenze, die frühere politische Gemeinschaften nicht gekannt haben. So hat sich das erste Staatselement, nämlich das Staatsgebiet, gebildet, das später in jeder Allgemeinen Staatsrechtslehre als erste Bedingung des Staates gilt. Diese feste Grenze musste eine einheitliche Macht schützen, die dem Volk eine Sicherheit garantiert. Sie verlangte einen einheitlichen Machtwillen, der später in den Theorien der volonté générale formuliert wurde. Die festen Grenzen bedeuteten das Ende der nomadischen Politik, was sich in der etymologischen Bedeutung des Wortes status ablesen lässt, das am Anfang für den Staat gestanden hat. Dieser Prozess verlangte ein geographisches und administratives Zentrum, was die Geburt der Hauptstadt war. Der Staat hat für sich, um den inneren Frieden zu stiften, die exklusive Anwendung der Gewalt in Anspruch genommen. Durch diesen Akt wurde alle potestas indirectae vom Recht der Anwendung der Gewalt abgelöst und ihr Gebrauch als illegal bezeichnet. Alle Institutionen haben jetzt das Recht auf die Ausübung ihrer Tätigkeiten, wenn ihnen der
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Staat diese Kompetenz erteilt und er für sich die Kompetenz bewahrt, die Kompetenzen zuzuteilen. Der Staat muss jetzt ein inneres Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppen, mögliche partie beligerant halten. Diese Situation hat eine Reformulierung des Konzeptes der Souveränität verursacht. Man kann sagen, dass der Prozess der Entstehung des Staates eine neue Formulierung der Souveränität verlangt, was Bodin und Hobbes auf unterschiedliche Weise unternommen haben. Die Souveränität hört auf, die Eigenschaft eines Lehnsherrn zu sein. Sie gehört dem Staat, den jetzt ein Oberhaupt vertritt, das als Repräsentant des ganzen Volkes gilt. In einem langen Prozess hat der Staat alle mittelalterlichen Strukturen beseitigt. Der Herrscher sollte dieses Ganze nicht nur beherrschen, sondern auch repräsentieren. So ist das zweite Staatselement, nämlich die zentralisierte Staatsgewalt, entstanden. Die demokratischen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts haben das dritte Staatselement, nämlich das Staatsvolk, als wesentliches Element des Staates herausgehoben. In diesem Prozess hat die Entstehung des nationalen Denkens eine entscheidende Rolle gespielt. Der Nationalismus wurde entweder direkt von der Tätigkeit des Staates als Konsequenz seiner Tätigkeit hervorgebracht (Frankreich), oder er hat sich durch romantische Bewegungen als Konsequenz einer Kultur bestätigt (Deutschland). Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sind beide Begriffe, nämlich Staat und Nation, untrennbar. Alle modernen Staaten wollten und wollen, mit mehr oder weniger Glück, diese zwei Begriffe zusammenbringen. Diese Beziehung ist so stark geworden, dass es wesentlich unbedeutend geworden ist, ob der Staat der Nation vorausgeht oder umgekehrt (Böckenförde). Rechtzeitige oder verspätete Nationen haben im weiteren Verlauf der Geschichte ein Ziel verfolgt, den nationalen Staat zu stiften. Der nationale Staat ist das Gehäuse der modernen Demokratie geworden; er hat entscheidend zur Bewältigung der gesellschaftlichen Folgen der industriellen Revolution beigetragen; er hat sich als Verfassungs- und Rechtsstaat selbst domestiziert. Man kann ganz kurz sagen, dass die Geschichte der Entstehung des modernen Staates die Geschichte der Entstehung der Staatselemente ist. Aus dieser geschichtlichen Entwicklung des modernen Staates haben die Juristen in ihrer allgemeinen Lehre die Staatselemente entwickelt. Das sind die Elemente, die den Staat als Staat begründen. Paradigmatisch hat diese Lehre Georg Jellinek am Anfang des Jahrhunderts in seiner Allgemeinen Staatslehre entwickelt. Diese Jellineksche Dogmatik kann man fast in jeder allgemeinen Staatslehre finden und jeder deutsche Verfassungslehrer und Staatsrechtstlehrer hat eine solche geschrieben. So hat der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, ein glänzender Jurist und Politiker, mit kleinen Abweichungen in seiner allgemeinen Staatslehre (1971) die Dogmatik übernommen und wiederholt. Was ist von dem traditionellen Staat und seinen wesentlichen Elementen noch übriggeblieben? Das Staatsgebiet ist erst später ein wesentliches Element des Staates geworden. Die erste bekannte Definition, nach Jellinek, stammt von Klüber (1817), der den Staat mit einem „streng bestimmtem Erdterritorium verbunden hat". Er definiert den Staat als ei-
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ne bürgerliche Gesellschaft „mit einem bestimmten Landesbezirk".1 Das Staatsgebiet ist in diesem Sinne vollständig geschlossen, so das dem „idealen Recht des Staates eine territoria clausa" entspricht (wie es im Handbuch des Staatsrechts von Isensee und Kirchhoff steht). Also, jeder moderne Staat „verfügt" über ein bestimmtes Gebiet. Ein so bestimmtes Staatsgebiet war die allgemeine Grundlage für das Völkerrecht. In unserer Zeit aber verliert dieses Gebiet als Anknüpfungsfläche für staatliches Handeln immer mehr an rechtlicher und praktischer Bedeutung. Peter Saladin bemerkt: „Das spezifische Gebiet eines Staates ist immer weniger ,Bezugsfläche' für eine spezifische Rechtsordnung, weil sich eben das Recht immer mehr internationalisiert und supranationalisiert."2 Einige Beispiele: Zwischen den meisten Ländern der EU findet keine Pass- oder Zollkontrolle mehr statt, es gibt keine Binnenzölle, kein einzelstaatliches Geld. Die vom EWG- und vom EWR-Vertrag gewährleisteten vier Grundfreiheiten (Freiheit des Personen-, des Waren-, des Dienstleistungs- und des Kapitalverkehrs) verbieten grundsätzlich den Mitgliedstaaten gebiets- (oder personen-)bezogene Abwehrdispositive. So werden Zölle und Abgaben gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten abgeschafft. Es gibt viele Beispiele, wie die Staatsgrenzen immer mehr systematisch übersprungen wurden. Wir können eine wachsende Wanderungsbewegung beobachten. Das einzelne Staatsgebiet verliert damit immer mehr an Bedeutung als geographischer „Wirkungsplatz." Ähnliches gilt für das „Element" des Staatsvolkes. Die modernen Migrationsbewegungen führen zu einer Durchmischung der einzelnen „Staatsvölker". Die Menschen werden zusehends mobiler, aus eigenem Antrieb und mit staatlicher und suprastaatlicher Genehmigung. Kein Volk ist mehr „unter sich", „Heimat" geht damit für manche verloren und der Staat „verfügt" zwar nach wie vor über ein Volk, aber nicht mehr über ein bestimmtes, abgegrenztes Volk, über ein ausgezeichnetes, einmaliges Volk. Die Völker der einzelnen Staaten Europas werden bis zu einem gewissen Grad „austauschbar". Dem Staat entgleitet in den Augen vieler, aber eben keineswegs aller, seine personelle Substanz. Die Staatsgewalt als Element des Staates, also die Souveränität eines einzelnen Staates, ist äußerst in Frage gestellt. Souveränität als „Höchtsmächtigkeit" im Verhältnis zu „äußeren" Kräften, zu anderen Staaten, wird in dem Maß prekär, als ein Staat sich an das Recht einer irgendwie bestimmten Staatengemeinschaft bindet. Hinzu kommt die zweite Dimension einer „Entsouveränisierung" des Staates, die innere Dimension, die Tatsache nämlich, dass der einzelne Staat seine „Höchstmächtigkeit" im Verhältnis zu inneren Kräften immer mehr einzubüßen scheint. Diese Entwicklung ist schon beschrieben worden: die wachsende Macht, der wachsende Einfluss der (wirtschaftlichen) Verbände auf den Staat (im Gegensatz zum sinkenden Einfluss der politischen Parteien) oder die beträchtliche Einwirkungskraft einzelner „dominierender" (nationaler oder multinationaler) Unternehmungen. Die einzelstaatliche Souveränität ist zwar gemildert, aber die Souveränität ist nicht schlechthin abhanden gekommen. Ob man die Souverä1 2
Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Reprint Darmstadt 1960, S. 395. Peter Saladin, Wozu noch Staaten?, Bern 1995, S. 18.
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nität des Staates als Element der Staatlichkeit mit gutem Gewissen behaupten darf, ist wirklich fragwürdig geworden. Ob es sich noch rechtfertigt, sie in neuen Staatsverfassungen dem verfassten Staat feierlich zu überreichen? Wir können konstatieren, dass die drei „klassischen" Elemente der Staatlichkeit dem modernen Staat verloren gehen. Oder zumindest haben diese drei Elemente an Bedeutung verloren, die ihnen eine traditionelle Staatstheorie zuschreibt. Der moderne Verfassungsstaat hat sich transformiert und weiter entwickelt. Eine vergleichende Verfassungsanalyse könnte zeigen, dass wesentliche Elemente sich, wie ich kurz angedeutet habe, stark weiterentwickeln. Wir können demnach nicht mehr auf den drei Staatselementen beharren. Die europäischen Staaten sind in einen irreversiblen Prozess geraten, der einen Rückgang in die nationale Staatlichkeit schwer vorstellbar macht. Die verbindende und treibende Kraft dieser Entwicklung ist selbstverständlich das wirtschaftliche Interesse. Aber mit der Betonung dieses Interesses kommen wir nicht zu einer weiteren europäischen Entwicklung und Vereinigung. Um einen weiteren Weg zu öffnen, müssen wir stärker die kulturelle und geistige Einheit Europas, das kulturelle Erbe Europas als ein wichtiges und vielleicht als das wichtigste Element in der zukünftigen Gestaltung Europas sehen. Der Jurist Peter Häberle hat eine Revision der „Staatselemente" unternommen und die Kultur als das „vierte" Staatselement vorgeschlagen.3 Das bedeutet für ihn, dass der Staat mit traditionellen Staatselementen nicht das primär Vorgegebene ist, auf das sich die Verfassung bezieht. Die Verfassung ist Teil einer Kultur, sie ist Kultur. Dass sich die Bürger eine Verfassung geben, in welcher der Mensch und seine Menschenwürde im Zentrum stehen, kann nur aus einer Kultur entspringen, die den Menschen als Träger und Gestalter seines eigenen Schicksals sieht. Die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse für die ganze Organisation der Staatsgewalt kann nur aus einer bestimmten Kultur entstehen. Diese Kultur kann man nicht mehr auf nationale Kultur reduzieren. Im Zentrum der europäischen Staaten oder im Vereinten Europa von heute nimmt nicht das Nationale den dominierenden Platz ein. Der klassische Nationalstaat darf für den europäischen Verfassungsstaat nicht mehr das verbindliche Leitbild sein, sondern es ist nur ein Teilaspekt der verfassten res publica und ins Zentrum rückt die Menschenwürde als fundiertes Staatsbild. Die so geprägte Verfassung ist Teil der Kultur, die aus der europäischen Tradition stammt. Diese kulturelle Einheit Europas ist die weitertreibende Kraft, die der europäischen Vereinigung eine weitere Perspektive bietet. Die europäische Kultur, die ihre Wurzeln in Antike und Mittelalter hat, hat alle europäischen Staaten geprägt. Die europäische Entwicklung kann sich, obwohl sie durch gemeinsame Werte getragen wird, selbstverständlich nicht unabhängig von den nationalen Staaten bilden, sondern die gemeineuropäische Entwicklung muss in vollem Maß die Vielfalt der nationalen Kulturen respektieren, weil die Pluralität des nationalen Kulturrechts ein Teil der Identität ist, welche die europäische Rechtskultur bildet.
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Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1998, S. 620-654.
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Die Europäische Union, die aus der Pluralität der nationalen Kulturrechte besteht, die aber auch eine gemeinsame Wurzel hat, kann ihre Perspektive nur aus ihrem kulturellen Erbe bekommen, weil der Staat eine europäische Erfindung ist und aus einer europäischen Kultur stammt. Der nationale Staat ist heute von einer weltweiten, alle Grenzen missachtenden Ökonomie wie auch von einer globalen Informationsgesellschaft bedroht. Supranationale Zusammenschlüsse entziehen ihm Kompetenzen von außen, Verbände, Parteien und allerlei gesellschaftliche Arrangements schwächen seine Entscheidungsfähigkeit von innen. Es scheint, dass alle territorial verfasste Politik und damit der Staat auf allen seinen Entwicklungsstufen herausgefordert ist. Gemeint ist das Phänomen, dass die staatlich verfasste Politik mit ihrem Zugriff auf begrenzte Räume immer weniger imstande ist, den Herausforderungen zu begegnen, vor denen sie steht, weil diese Herausforderungen territoriale Grenzen ignorieren. Das allseits unter der Überschrift „Globalisierung" erörterte Exempel zeigt die wachsende Spannung zwischen den weltweit wirkenden Marktkräften, die die Ökonomie steuern, und einer in umgrenzten Räumen agierenden Politik. Kein einzelner europäischer Staat kann heute für sich sein eigenes Schicksal mehr meistern. Aus diesen Gründen ist es notwendig, der Politik breiteren Raum zu geben, damit wir die Situation meistern können. Diese Räume werden wir nicht aus dem Blick verlieren, wenn wir uns das europäische kulturelle Erbe vor Augen halten.
2. Welche Konsequenzen können wir aus dieser Situation für die Zukunft des Staates und die Zukunft die EU ziehen? Der Staat wird, so scheint es mir, in der Zukunft noch immer einer der wichtigsten Faktoren der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft sein, wenn auch selbstverständlich nicht der einzige Faktor. Er wird auch das Medium einer demokratischen Legitimation bleiben, weil wir bis jetzt keine Alternative zu ihm haben. Es ist nur die Frage, mit welchen Entlastungs-, Anpassungs- und Erweiterungsstrategien man ihn zukunftstauglich machen kann. Ich meine, dass die wichtigsten Strategien schon entwickelt sind. Jeder Staat soll und muss eine kooperative Struktur in die Staatswissenschaft einbringen. Die Zukunft gehört einem kooperativen Staat und gerade der kooperative Staat ist eine kulturelle Errungenschaft der westlichen Länder par exellence. Er ist nicht nur eine mögliche (künftige) Entwicklungsform des Typus „Verfassungsstaat"; er hat tendenziell schon heute in der Wirklichkeit Gestalt angenommen. Den Begriff „Verfassungsstaat" können wir definieren als Staat, in dem die öffentliche Gewalt rechtlich konstituiert und begrenzt ist durch materielle und formelle Verfassungsprinzipien - Menschenwürde bzw. Grundrechte, sozialer Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte - und in dem die Gewalt demokratisch legitimiert ist und pluralistisch kontrolliert wird. Es ist der Staat, in dem auch die gesellschaftliche Macht (wachsend) begrenzt wird durch Grundrechtspolitik und gesellschaftliche (z. B. „publizistische") Gewaltenteilung.
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Verfassungsstaat ist idealtypisch der Staat der „offenen Gesellschaft". Offenheit hat zunehmend auch eine internationale bzw. „übernationale" Dimension - ihr korrespondiert unsere „Verantwortung". Gegenstück zum kooperativen Verfassungsstaat ist der egoistische, selbstbezogene und nach außen „aggressive" Verfassungsstaat und außerhalb dieses Spektrums der totale Staat mit einer „geschlossenen Gesellschaft". Die Kooperation des modernen Staates vollzieht sich politisch und rechtlich. „Kooperativer Verfassungsstaat" ist der Staat, der seine Identität im Völkerrecht, im Geflecht internationaler und supranationaler, besonders regionaler Beziehungen, in der Wahrnehmung internationaler Zusammenarbeit und Verantwortung sowie der Bereitschaft zur Solidarität und Humanität findet. Der kooperative Verfassungsstaat lebt aus der Kooperation mit anderen Staaten, Staatengemeinschaften und internationalen Organisationen. Die Ideologie der Impermeabilität und des etatistischen Rechtsmonopols ist fragwürdig geworden. Der offene Verfassungsstaat kann auf Dauer nur kooperativ sein und unter diesem Einfluss wandeln sich Verfassungsstaat und Völkerrecht gemeinsam. Der kooperative Verfassungsstaat lebt von wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Kooperationsbedürfnissen sowie - anthropologisch - vom Kooperationsbewusstsein. Einem solchen Staat gehört, nach meiner Meinung, die Zukunft. Ohne Einsicht in die kulturelle Dimension der Entstehung des modernen Staates können wir auch nicht seine jetzige Aufgabe richtig einschätzen.
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Staatsgeschäfte können nicht Privateigentum sein
Die Abwesenheit der systematischen Position des Begriffes der Kultur bei Hegel ist durch die parallel laufende Abwesenheit des Begriffes der Ethik gekennzeichnet. Einerseits ist Hegel insofern realistisch, dass er in allen Etappen der Entwicklung des Geistes und in den sich widersprechenden Institutionen (auch den despotischen') ihre kulturellen und sittlichen Elemente und Begründungen sieht. Andererseits sieht er auch die destruktiven Kräfte, die durch Kultur und Moral freigesetzt wurden und die alte und neuentstandene Errungenschaften und Werte in Frage stellen. Die Hochstilisierung von Begriffen der Kultur und Ethik hätte aber eben diese kritische Seite seiner Analysen paralysiert und ihre Dialektik zum Stillstand bringen können. Deswegen ist es produktiver, die Abwesenheit beider Begriffe bei Hegel theoretisch zu ergründen, anstatt nach fehlenden traditionellen systematischen Begriffsbetrachtungen bei ihm zu suchen. Hegels Konzeption der Kultur und des Staates ist in der Perspektive der großen Frage gestellt, welche die Philosophen des 17. und des 18. Jahrhunderts mobilisiert hatte: wie kann man sich dem Despotismus in allen seinen Varianten entgegensetzen und ihn abschaffen? Andererseits ist Hegels Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, die sich um den Begriff der Freiheit, des Marktes und des Eigentums strukturiert, als Weiterentwicklung eben dieser Tradition zu verstehen. Gleichzeitig ist seine Kritik am Despotismus ganz besonders aktuell deswegen, weil er mit seinem Verständnis des Zusammenhanges zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat als dem Ort der Freiheit und Demokratie einen entscheidenden Schritt über seine Vorgänger von Hobbes bis Rousseau hinaus gemacht hatte. Ferguson, Hume, Steuart und Adam Smith, die entscheidenden Einfluss auf Hegel ausgeübt hatten, wollten jede äußerliche, theologische, naturrechtliche, an irgendwelche Autoritäten gebundene Begründung des Staates und der Macht abstreifen und sie ausschließlich an den Markt als Archetyp des Systems eines antihierarchischen Zusammenhanges binden. Sie hatten sich alle, jeder von ihnen in seinen eigenen Begriffen und jeder auf seine Art und Weise, bemüht, ein völlig unparteiliches und unvoreingenommenes Funktionieren der ganzen bürgerlichen
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Gesellschaft und des Staates frei von jeder äußerlichen (fürstlichen oder kirchlichen) Autorität zu begründen. Seine Kritik am Despotismus, vor allem an dem fürstlichen und kirchlichen Despotismus seiner Zeit, zusammen mit dem Despotismus der Neureichen, hatte er hinter einer erbarmungslosen Kritik des Despotismus einer viel früheren Epoche und eines anderen Territoriums verborgen, nämlich hinter seiner Kritik an dem orientalischem Reich der geschichtlich früheren Theokratie. Auch das war eine weitverbreitete Art der verdeckten Kritik an den modernen autoritären Verhältnissen bei seinen Vorgängern. Unter der Überschrift „Die fürstliche Gewalt" behandelt Hegel in der Philosophie des Rechts die Handhabung der Staatsgeschäfte in einer Art und Weise, die als modern, demokratisch und an den Prinzipien der Französischen Revolution orientiert zu bezeichnen ist. Er hat dabei die Entwicklung des Nationalstaates in einer Zeit vor Augen, in der die feudalen Verhältnisse und angeborenen Rechte zwar schon als fragwürdig in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt waren, aber trotzdem immer noch gesellschaftlich selbstverständlich zu sein schienen: „Die besonderen Geschäfte und Wirksamkeiten des Staats sind als die wesentlichen Momente desselben ihm eigen und an die Individuen, durch welche sie gehandhabt und betätigt werden, nicht nach deren Persönlichkeit, sondern nur nach ihren allgemeinen und objektiven Qualitäten geknüpft und daher mit der besonderen Persönlichkeit als solcher äußerlicher- und zufälligerweise verbunden. Die Staatsgeschäfte und Gewalten können daher nicht Privateigentum sein."1 Damit bringt Hegel seine Position klar zum Ausdruck: er erkennt keine angeborene oder von höheren Mächten legitimierte Hierarchisierung der Menschen an; alle Menschen sind für ihn gleich. Dieses Prinzip der Gleichheit war schon im 17. und 18. Jahrhundert zentrales Thema seiner Vorgänger. Der große Schritt voran, den Hegel in seiner Philosophie macht, ist der Umstand, dass er die Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit erstens an den Begriff des Eigentums bindet, und zweitens, dass er es an den Begriff des staatlichen Eigentums bindet. Das staatliche Eigentum war für ihn das, was wir heute die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen nennen würden, also viel mehr als ein Besitztum neben vielen anderen, sondern ein Besitztum zur Verwirklichung der Rechte auf allgemeine Bildung, Arbeitsfähigkeit, Gesundheit, Sicherheit, Ethik und Moral, Religionsausübung und persönliche Freiheit. Er definiert nicht naiv, was alles zum Staatseigentum gehören sollte - ein Unterfangen, an dem die ganze Epoche nach Hegel scheitert - sondern bindet es direkt an die Individuen und ihre „allgemeinen und objektiven" Qualitäten. Diese Qualitäten sind nicht einfach vorzufinden, sondern durch die Staatsgeschäfte und Gewalten eben dadurch definiert, dass sie Gleichheit und Freiheit der Menschen nicht einfach voraussetzen, sondern allererst ermöglichen. Damit hatte Hegel frühzeitig eine Position gegen die moderne neoliberale Forderung nach Deregulierung und Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur bezogen. Obwohl er den Markt in der Tradition der Aufklärung als eine zentrale In1
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, S. 442, § 277.
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stitution begriffen hatte, hat er ihn nicht als ein über alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Instrument verstanden und sich ausdrücklich gegen eine solche Deutung ausgesprochen. Eine solche Überzeugung war auch unter seinen philosophischen Vorgängern dominierend. Obwohl zu Hegels Zeit die persönlichen Anhängigkeitsverhältnisse noch weit verbreitet waren - sie dominierten noch im wirklichen Leben und es gab noch eine Fülle ihrer institutionalisierten Formen in Kirche, Ehe, Erziehung, Wirtschaftsleben, Kunst, im politischen System usw. - , behandelt er „die ehemalige Feudalmonarchie" als etwas, das vollständig der Vergangenheit angehört, und als Zustand der „Gesetzlosigkeit". Seine Behandlung des Begriffs der fürstlichen Gewalt bezieht sich also auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit, deren Legitimität schon verloren gegangen war, und doch ist er gezwungen, so zu verfahren, als ob es sich um eine gesellschaftliche Realität handelt, deren Prinzip das „absolute Selbstbestimmen" ist, welches „das unterscheidende Prinzip der fürstlichen Gewalt als solcher" ausmacht.2 Hegel belässt es aber nicht bei diesem Selbstbestimmen, sondern entwickelt es aus dem Prinzip der Zeit und dem allgemeinen Selbstbewusstsein des Volkes, was bedeutet, dass er ihr jede nachträgliche Begründung ihrer Legitimität entzieht. Der zweite Schritt Hegels in diesem Kapitel führt in nur wenigen Sätzen zur Entwicklung der Grundbestimmung des Staats, er sei die substantielle Einheit als Idealität seiner Momente, in welcher „die besonderen Gewalten und Geschäfte desselben ebenso aufgelöst als erhalten und nur so erhalten sind".3 Diese verwickelte Bestimmung findet ihre Begründung darin, dass Hegel seinen Lesern den Einstieg in seinen Text über die fürstliche Gewalt ermöglicht hatte, sie aber schon im nächsten Schritt umdirigiert und den Doppelcharakter der feudalen Abhängigkeitsverhältnisse herausstellt: sie hatten noch Bestand, aber sie hatten ihre Berechtigung, ihre Idealität verloren. Hegel greift hier zu dem Beispiel eines Organismus, das die Aufmerksamkeit von dem gewagten Unternehmen ablenkt: „Mit dieser Idealität der Momente ist es wie mit dem Leben im organischen Körper: es ist in jedem Punkte, es gibt nur ein Leben in allen Punkten, und es gibt keinen Widerstand dagegen. Getrennt davon ist jeder Punkt tot."4 Zuvor jedoch hatte Hegel eben diese selbstgewollte Abtrennung der fürstlichen Gewalt durch ihr „absolutes Selbstbestimmen" herausgestellt. Für Hegel ist ein Zusammenbestehen dieser verschiedenen Formen der Gewalt möglich; „im friedlichem Zustande gehen die besonderen Sphären und Geschäfte den Gang der Befriedigung ihrer besonderen Geschäfte und Zwecke fort, und es ist teils nur die Weise der bewusstlosen Notwendigkeit der Sache, nach welcher ihre Selbstsucht in den Beitrag zur gegenseitigen Erhaltung und zur Erhaltung des Ganzen umschlägt (s. § 183), teils aber ist es direkte Einwirkung von oben, wodurch sie sowohl zu dem Zwecke des Ganzen fortdauernd zurückgeführt und danach beschränkt (s. Regierungsgewalt § 289)
2 3 4
Ebd., S. 441, § 275. Ebd., S. 441, § 276. Ebd., Zusatz.
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als angehalten werden, zu dieser Erhaltung direkte Leistungen zu machen."5 Damit stellt Hegel Staatsbegründung und Gesellschaftsentwicklung (der bürgerlichen Gesellschaft) auf die Grundlage des Marktes und des Warentausches, wodurch den „absolut selbstbestimmten" Formen der Gewalt die Grundlage entzogen, also einerseits eine Entwicklung in Richtung Freiheit und Demokratie gesichert und andererseits eine Befriedung der gegensätzlichen, konfliktträchtigen Interessen gewährleistet wird. Es gibt bei Hegel zwei Elemente der Entwicklung des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen, auf die Verfassung gegründeten Staates auf Grundlage des Marktes, bei denen er weiter gegangen ist als alle seine Vorgänger. Das erste ist wiederholte Feststellung, dass der Markt eine Funktion der Verallgemeinerung hat. Das zweite ist die Feststellung, dass „die bürgerliche Gesellschaft, bzw. der Markt, die Gesellschaft gleichzeitig aufbaut und zerstört".6 Pierre Rosanvallon hat herausgestellt, dass Hegel drei Enttäuschungen hinnehmen musste: den Misserfolg der Französischen Revolution, das Zerwürfnis in der bürgerlichen Gesellschaft und die Unfähigkeit Deutschlands, sich als Nationalstaat zu konstituieren. Dabei unterstreicht er, dass Hegel diesbezüglich kein nationalistischer Romantiker war; er fand eine solche Haltung lächerlich und unrealisierbar. Außerdem lehnte er die Glorifizierung und Übermacht des Staates ab: „Gegen die Freiheit des Gewerbes und Handels in der bürgerlichen Gesellschaft ist das andere Extrem die Versorgung sowie die Bestimmung der Arbeit aller durch die öffentliche Veranstaltung, - wie etwa auch die alte Arbeit der Pyramiden und der anderen ungeheueren ägyptischen und asiatischen Werke, welche für öffentliche Zwecke ohne die Vermittlung der Arbeit des Einzelnen durch seine besondere Willkür und sein besonderes Interesse hervorgebracht wurden."7 Hegel hatte den Nationalstaat als den Ort der Verwirklichung der Demokratie, wie sie die Französische Revolution beabsichtigte, als System der politischen Demokratie, der persönlichen Freiheit und der „besonderen Geschäfte und Wirksamkeiten" des Staates verstanden.8 Aus der heutigen Sicht, nach dem Scheitern der neoliberalen Forderung nach radikaler Deregulierung und Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur - also nicht nur des Staatseigentums, sondern auch des öffentlichen bzw. gemeinschaftlichen Eigentums aller Art, der Gemeinden, der Assoziationen, der Kranken-, Pensions- und Sozialversicherung, der Kommunikationswege, der Naturreichtümer wie Wasser, Bodenschätze, biologische Diversität, bis hin zum genetischen Code9 - , ist Hegels Feststellung, dass die Staatsgeschäfte und Gewalten nicht Privateigentum sein können, nur eine Weiterführung der Idee, dass die gemeinschaftlichen Geschäfte und Wirksamkeiten nicht privatisiert werden sollten. Das käme für ihn der Aufhebung der Demokratie, der individuellen Freiheit und der bürgerlichen Gesellschaft gleich. Hegel sah sehr klar 5 6
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Ebd., S.444, § 278, Erläuterung. Pierre Rosanvallon, Le libéralisme économique. Histoire de l'idée de marché, Paris 1989, zitiert nach der slowenischen Übersetzung Ljubljana 1998, S. 159. Ebd., S. 385. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 1), S. 415, § 269. C. Zellerr, Die globale Enteignungsökonomie, Munster 2004.
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die Gefahr der Degenerierung der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie nämlich „bei dem Übermasse des Reichtums [...] nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern",10 und „zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer zu konzentrieren mit sich führt". 11 Hegel hatte sich auf den gesellschaftlichen Inhalt der Demokratie konzentriert, und sein Widerstand gegen die Privatisierung der Staatsgeschäfte und des Gemeinschftseigentums war mit der Sorge vor einer damit unausweichlich verbundenen Ausleerung der demokratischen politischen Institutionen begründet, die nicht funktionierenden institutionellen Überbleibseln werden dürften, welche die Freiheit der Individuen und die Möglichkeit ihrer Subsistenz nicht gewährleisten könnten. Und wieder einmal hat er sich hierbei auf ein Modell aus einer anderen Epoche berufen: „In Athen war es Gesetz, dass jeder Bürger darüber Rechenschaft geben musste, wovon er lebe; jetzt hat man die Ansicht, dass dies niemanden etwas angehe. Allerdings ist jedes Individuum einerseits für sich, andererseits aber ist es auch Mitglied im System der bürgerlichen Gesellschaft, und insofern jeder Mensch von ihr das Recht hat, die Subsistenz zu verlangen, muss sie ihn auch gegen sich selbst schützen. Es ist nicht allein Verhungern, um was es zu tun ist, sondern der weitere Gesichtspunkt ist, dass kein Pöbel entstehen soll."12 Damit gibt Hegel eine Antwort auf die Frage, weshalb Staatsgeschäfte und Gewalten nicht Privateigentum sein können. Das Faszinierende an seiner Theorie ist, dass er seiner Zeit weit voraus war und die Wirklichkeit der Demokratie an das, was wir heute als Sozialstaat verstehen, knüpfte, also an einen Staat, in dem Jedem seine Subsistenz gesichert ist, an eine gerechte Aufteilung des Eigentums in einer Gesellschaft, wo es nicht wenige Superreiche und viele total Verarmte gibt. Das ist aber die gesellschaftliche Realität, die uns durch die neoliberale Grundsätze vermittelt wurde. Der Grund für Hegels Kritik an der Privatisierung der Staatsgeschäfte, des Staatseigentums und der staatlichen Wirksamkeiten, worunter er nicht nur die geerbten Privilegien als eine geschichtlich frühere und überlebte Form der Privatisierung der Staatsgeschäfte und des Monopols verstand, sondern auch die Korruptheit der Staatsbeamten und Funktionäre, ist also sein Bemühen um eine wahrhafte politische und soziale Demokratie. Für ihn waren der Inhalt und das Überleben der Demokratie an den Umstand gebunden, dass jeder Mensch von der bürgerlichen Gesellschaft das Recht hat, die Subsistenz zu verlangen, und sein Widerstand gegen die Privatisierung des Staatseigentums und der gesellschaftlichen Grundlagen des menschlichen Lebens und der Natur ist als eine sozialrechtliche Bedingung der Demokratie und der Freiheit zu verstehen. Da er noch in einer politisch rückständigen, monarchischen und noch nicht voll industrialisierten gesellschaftlichen Umgebung gelebt hatte - er spricht von „der ehemaligen Feudalmonarchie"13 - , konnte er diese seine zentrale politische These gar nicht 10 11 12 13
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie Ebd., S. 389, § 243, Zusatz. Ebd., S. 387, § 240, Zusatz. Ebd., S. 442, § 278, Erläuterung.
des Rechts, a.a.O. (Anm. 1), S. 390, § 244.
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offen darstellen. Hegel war schon seit seinen frühesten Schriften darin geübt, seine Theorien verdeckt zu entwickeln und sich parallaktisch auszudrücken. Hegels Kritiker, die ihn zum offiziellen preußischen Staatsphilosophen erklärt und abgeurteilt hatten, hatten übersehen, dass er eine komplizierte und kritische Beziehung zur preußischen Staatsmacht hatte. Aber eben diese Beziehung, sein Geheimnis und ein Geheimnis der preußischen Staatsmacht, hatte ihn vor einer Glorifizierung und Hypostasierung der Staatsmacht und des Eigentums geschützt und ihm die Augen dafür geöffnet, dass eine innere Verbindung zwischen der maßlosen Bereicherung und Machtausübung der antiken theokratischen Herrscher, der Rolle des Eigentums in der athenischen Demokratie bis hin zur fürstlichen Gewalt seiner Zeit besteht, für welche er aber feststellt, dass sie „jetzt allmählich im Verschwinden ist".14 Dafür gibt er eine ebenso schlichte wie weitreichende Erklärung: „Die Wirksamkeit des Staates ist an Individuen geknüpft; sie sind aber nicht durch ihre natürliche Weise berechtigt, die Geschäfte zu besorgen, sondern nach ihrer objektiven Qualität. Fähigkeit, Geschicklichkeit, Charakter gehört zur Besonderheit des Individuums: es muss erzogen und zu einem besonderen Geschäfte gebildet sein. Daher kann ein Amt weder verkauft noch vererbt werden."15 Aber Hegel war sich darüber im klaren, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft trotzdem großenteils eine Reproduktion der Sozialstruktur gibt, dass also die Kinder meistens auch die Bildung und soziale Stellung ihrer Eltern erben. Mit der Privatisierung und Deregulierung seit 1990 wurde einerseits der Sozialstaat - den Hegel als eine geschichtliche Notwendigkeit ansah, damit die bürgerliche Gesellschaft nicht in extremen Reichtum auf der einen und extreme Armut auf der anderen Seite zerfällt - in einem beschleunigtem Prozess großenteils aufgehoben und damit nicht nur viel Staatseigentum und gesellschaftliche Infrastruktur privatisiert, sondern auch die soziale Absicherung des verarmten Teils der Gesellschaft und die Erziehung und Bildung der Kinder infrage gestellt. Durch die damit verlaufende Globalisierung wurde die frühere, im Nationalstaat inbegriffene bürgerliche Gesellschaft, in eine globale, die ganze Erde umfassende bürgerliche Gesellschaft weitgehend aufgelöst. Innerhalb dieser wurden aber die elementaren Bedingungen der Demokratie, wie Hegel sie sich vorgestellt hatte, nämlich die Begrenzung des Abstandes zwischen Reichtum und Armut, nicht gewährleistet. Global hat ein solches Gleichgewicht nie bestanden und die Kluft zwischen Arm und Reich wurde durch die Globalisierung weiter verschärft, vorangetrieben durch die internationalen Handelsgesellschaften, die im Stande sind, sich jeder wirtschaftlichen, sozialen, natürlichen und sittlichen Nische zu bemächtigen und sie zu vermarkten, wenn es für sie nur profitabel genug ist. Die Nationalstaaten sind völlig hilflos den Aufforderungen dieser globalisierten wirtschaftlichen Kräfte ausgesetzt. Die globalen Unternehmen bringen Technologie und Arbeitplätze mit sich und fordern eine immer weiter gehende Privatisierung und Deregulierung von den Ländern, in denen sie ansässig sind. Ihre Interessen werden von dem Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank vertreten und durchgesetzt. Wenn 14 15
Ebd., § 277, Zusatz. Ebd.
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ein Land ihren Forderungen nach Verkauf der einträglichsten öffentlichen Geschäfte und Firmen oder der Gewährung von Steuernnachlässen nicht nachkommt, drohen sie nicht mit Gewalt oder Krieg, wie es zu Kolonialzeiten üblich war, sondern sie ziehen einfach weg in die Länder, wo sie ihre Interessen durchsetzten können. Davor haben Regierungen und Parlamente der Nationalstaaten mehr Angst als vor einer Kriegserklärung und gehen vor den internationalen Handelsgesellschaften in die Knie. Diese produzieren und kaufen in den Ländern mit den niedrigsten Arbeitskraft- und Rohstoffpreisen und verkaufen in den Ländern mit höherer Kaufkraft. Sie sind ausschließlich der Erhöhung ihrer Rendite und ihres Profits treu, wobei sie ihren Geschäften unter dem Stichwort des freien Marktes nachgehen, in Wirklichkeit aber ihre Monopolstellung weiter stärken.16 Sie sind der Inbegriff der Auflösung des Sozialstaates, wo immer sie hinkommen und sich ansiedeln. Die globalen Unternehmen finanzieren politische Parteien in den Ländern, in welchen sie aktiv sind: Regierungsparteien, Oppositionsparteien und jene, die eines Tages ins Parlament gewählt werden könnten, damit sie sich ihre Monopolstellung sichern. Sie bemühen sich um Einfluss auf politische Entscheidungen durch Regierungen und Parlamente, durch Medien und Forschung, aber sie beabsichtigen nicht, die Macht direkt zu übernehmen. Diese Verantwortung wollen sie gar nicht übernehmen, sie sind eine Emanation des „Anderen", wie Jacques Lacan ihn entworfen hatte. Für sie ist die politische Macht und Demokratie viel zu unbeständig und nur kurzfristig zu haben, sie wollen aber langfristig und über ganze Epochen hinweg agieren. Es ist nach 1990 zu einer epochalen Veränderung der Stellung, Struktur und Bedeutung des globalen Marktes gekommen. Für das Individuum trägt der Markt immer noch den Anschein der freien Konkurrenz, die auch auf allen gesellschaftlichen Bereichen als Modell der gesellschaftlichen Regulierung dargestellt wird; in Wirklichkeit ist der freie Markt aber nur noch in Nischen am Rande der bürgerlichen Gesellschaft anzutreffen, welche aus wirtschaftlichen Gründen für internationale Handelsgesellschaften noch nicht vom Interesse sind.
16
Jean Ziegler, Das Imperium
der Schande,
München 2005.
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Hegel: Von der gefeierten bis zur gefürchteten Revolution
(1789-1830)1
Als ob er den Gedanken des Zirkelschlusses aller Zirkelschlüsse und áer Abgeschlossenheit des Denkens in seinem beeindruckend zweiflerischen und verlegenen Stil in Abrede stellen wollte, besteht der letzte philosophische Text Hegels, den er gerade sechs Tage vor seinem durch die Cholera herbeigeführten Tod schrieb - eine weitere anregende Paradoxic - , aus dem Vorwort zur zweiten Ausgabe der Logik des Seins, d.h. des Anfangs des Systems der gesamten Philosophie (auf dem Titelblatt des neuen Werkes prangt der Titel: System der objectiven Logik). Der letzte Abschnitt dieses Vorwortes beinhaltet ein bedeutendes Eingeständnis: Hegel weiß, dass sein schriftlich verfasster Vortrag der Darstellung des göttlichen Begriffs nicht gewachsen ist, der sich unerschütterlich, uneindringlich in sich selbst schließt und sich aufgrund dessen unendlich auf und als die Ebene der Natur öffnet. Er wagt eine Entschuldigung: „So aber mußte der Verfasser, indem er es in Angesicht der Größe der Aufgabe betrachtet, sich mit dem begnügen, was es hat werden mögen, unter den Umständen einer äußerlichen Notwendigkeit, der unabwendbaren Zerstreuung durch die Größe und Vielseitigkeit der Zeitinteressen, sogar unter dem Zweifel, ob der Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse." 2 Die Entschuldigung vollzieht sich auf zwei Ebenen: Die letztere, die des Lärms des Tages und der Geschwätzigkeit der Einbildung, entspricht etwas sozusagen Pathologischem: einer Krankheit oder einem Rückfall des Logos in natürlichere (und daher dem Begriff gegenüber machtlose) Zustände der klerikalen und politischen Reaktion. Das Preußen, in dem der Philosoph stirbt, ist sehr verschieden von dem, das ihn 1818 aufgenommen hatte: jenes Preußen nämlich, dass er wahrscheinlich als eine verkörperte Synthese der Strebungen der reinen Vernunft (als Vermächtnis von Kant und Fich1 2
Übersetzung: Miriam Fischer. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: ders., Gesammelte
Werke, Hamburg 1968ÍT., Bd. 21, S. 20.
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te) und der praktischen Vernunft (also des anfangs gewaltsamen Zusammenpralls der Ideale der Französischen Revolution und des lutherischen Prinzips des liberum examen scripturae sowie des unendlichen Wertes der Subjektivität) betrachtet hatte. Nach der Ermordung Kotzebues 1819 und den Karlsbader Beschlüssen, die im Sommer desselben Jahres unterzeichnet worden waren, brach über Mitteleuropa die berüchtigte sogenannte Demagogenverfolgung herein, die durch die Heilige Allianz angespornt wurde: Die Restauration wendet sich gegen liberale Intellektuelle und Forschrittsdenker. Es beginnt der interne Aderlass Deutschlands oder das Exil in Richtung Frankreich, wo man wenigstens über die Verfassungscharta von Ludwig XVIII (1814) verfügt. In diesem gereizten Klima entstehen radikal entgegengesetzte Gruppierungen, die das Geflecht der deutschen Intelligenz zerreißen. Auf der einen Seite gibt es die liberale und fortschrittliche Bewegung des Vormärz, d.h. der Vorbereitung der Revolution von 1848. In diese ordnen sich Männer wie Heinrich Heine, Ludwig Börne und Karl Gutzkow oder, mit meteorischer Radikalisierung, Georg Büchner - ein. Es handelt sich vor allem um das „Junge Deutschland", welches paradoxerweise die Verwendung des Ausdrucks deutsch vermeidet, da dieses als ein zu emotional geladenes Eigenschaftswort von dem Pfaffen- und Pharisäertum der Zeit in Anspruch genommen war. Es träumt in der Figur eines Ludolf Wienbarg noch von einem „neuen europäischen Griechentum"3 und badet sich in einem aufklärerischen Deismus, der eine französisch anklingende „Bruderschaft aller Menschen" garantiert. Heine ruft gegen die Heilige Allianz die Ankunft eines „großen Völkerbündnisses, die heilige Allianz der Nationen"4 aus. Allerdings ist die Bewegung leider von dem infiziert, was sie angreift: Ihre Prinzipien sind abstrakt und wohlmeinend, ihnen mangelt es an Kraft und analytischer Tiefe, mit Ausnahme Heines vielleicht und dann auch Georg Büchners, für den der Unterschied zwischen Mächtigen und Enterbten das „einzige revolutionäre Element in der Welt"5 ist. In einem zerstreuten Verbund von Ländern, in dem sogar mehrere von ihnen unter der Herrschaft von Metternichs Österreich vorherrschend landwirtschaftlich bleiben, bewirkt die Verbindung des Hegelianismus mit dem Saint-Simonismus (wie bei Heine), dass sich die gesamte Bewegung mit religiösen und pathetisch-moralischen Schwärmereien einfärbt (Spanien wird Jahre später im Krausismus etwas Ähnliches erleiden). Diese linken Romantiker, die sich für ihr Land schämen, sinken dazu herab, neue Evangelien des Fleisches zu predigen. In „Die Zerrissenen" von 1832 prophezeit Ungern-Sternberg: „Es wird eine Zeit kommen, wo alle Religionen, alle Philosophema in den Staub sinken und die Menschen aller Krankheit, allem Elend genesen, wieder nackend in die ewigen Quellen des Paradieses tauchen."6 Aber auf der anderen Seite hat der reaktionärste Obskurantismus von Deutschland und Österreich Besitz ergriffen, und zwar in einem etwas muffigen Bündnis, in das Spätromantiker wie Ludwig Tieck, Friedrich Ludwig Jahn - der Vater der Turnvereine 3 4 5 6
Das Junge Deutschland. Ebd., S. 384. Ebd., S. 385. Ebd., S. 379.
Texte und Dokumente,
hg. von Jost Hermand,. Stuttgart 1966, S. 379.
HEGEL: VON DER GEFEIERTEN BIS ZUR GEFÜRCHTETEN REVOLUTION ( 1 7 8 9 - 1 8 3 0 )
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bzw. Gymnastikverbände - , die Burschenschaften und die Bewegung der Christgermanen, also insgesamt die Teutomanen eintreten. Einflussreiche Zeitschriften wie die Hallesche Evangelische Zeitung oder die gleichnamige Zeitung Berlins gehen auf die Jagd nach diesen „Französlingen", die wegen ihrer republikanischen Gesinnung und ihrer Gallomanie als verdorben gelten. Das deutsche Wesen behauptet sich stolz gegen das „Westliche", also gegen die Demokratie, den Liberalismus und das Zivilisatorische im allgemeinen. Ein einziges Zeugnis soll genügen: In der Oktobernummer des Jahres 1835 des Stuttgarter Litteraturblatts veröffentlicht Wolfgang Menzel einen Aufsatz gegen die „unmoralische Literatur", die er als das Bordell verdammt, in dem eine Art gotteslästerliche messe noire zelebriert werde: „Solange ich lebe", behauptet Menzel entschieden, „werden Schändlichkeiten dieser Art nicht ungestraft die deutsche Literatur entweihen."7 Das hegelianische Schiff tritt auf seinem Weg auf die entgegengesetzten Strömungen eines schwärmerischen Freidenkertums einerseits, das sich nach einer Neuauflage der gescheiterten Französischen Revolution sehnt, um durch Feuer und Blut „sein" gehaltsloses, schwankendes Deutschland zu erneuern, und auf die eines kriegführenden und wütenden Obskurantismus andererseits. Hierin erfüllen sich die Worte Petrarcas: „Povera e nuda vai, Filosofia - / dice la turba al vii guadagno intesa."8 Solcherart ist der „laute Lärm der Zeit", der den Rückzug des Geistes ins Innere seiner selbst verhindert. Aber dieser Lärm ist sozusagen nur der Schaum jener dürftigen Tage. Ein noch tieferer Grund hat ihn veranlasst, ein Grund nämlich, der durch die sogenannte Julirevolution 1830 zutagetritt und philosophisch expliziert sein will: die Revolution nämlich der Trois Glorieux und ihre Nachfolgeerscheinungen in den nationalen Befreiungsbewegungen Belgiens und Polens. Dies ist die fundamentale Ebene. Erinnern wir uns daran, dass Hegel im Vorwort zu seiner neuen Ausgabe der Seinslogik (ein Vorwort übrigens, dass sich auf die gesamte Logik hätte ausdehnen müssen, d.h. auf das System, das über die gesamte Wirklichkeit Rechenschaft ablegt) eine bedeutende Parallele gezogen hat zwischen der „Größe der Aufgabe" und der „Größe und Vielseitigkeit" der zeitlichen Interessen, die eine unvermeidbare Streuung mit sich bringen. Warum jedoch soll diese Streuung unvermeidbar sein? Die Logik, und in einem weiteren Sinne die Philosophie in ihrer Gesamtheit, darf nicht an den Ereignissen vorbeigehen und sich feige gleichsam in die Ruhe des reinen Denkens zurückziehen. Sie darf das gerade deshalb nicht, weil das Denken das Andere der Vernunft denkt, und d.h.: die äußere Notwendigkeit. Es gibt keinen platonischen Hiatus bei Hegel. Die Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst", ganz im Einklang mit dem bekannten Aphorismus eines anderen großen Vorworts: des Vorworts zu den 1820 verfassten Grundlinien der Philosophie des Rechts.9 Nichtsdestoweniger bedrohen die Niederlage der Bourbonen in Frankreich, die Trennung des katholischen Belgien von den Niederlanden (welche vom protestantischen 7 8 9
Ebd., S. 388. Sonetti del Canzionere, Sonetto 7, Barcelona 1981, S. 76. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von H. Klenner, Berlin 1981, S. 27.
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Holland beherrscht werden) und die Aufstände von einem noch mehr katholischen und frommen Polen gegen das Joch des Zaren das gesamte System Hegels. Sie drohen es in Fetzen zu zerreißen, und ganz besonders seine Geschichtsphilosophie, die er in mühevoller Arbeit seit der Jenaer Zeit vielmals umformulierte, um eine schwierige Versöhnung zu schaffen zwischen den von der napoleonischen Armee nach Deutschland exportierten Prinzipien der Großen Revolution einerseits (denjenigen Prinzipien nämlich, die in Preußen durch die sogenannten Befreiungskriege paradoxerweise ausgedehnt wurden, als ob dieses Land sich schließlich glücklicherweise mit den Keimen infiziert hätte, die es selbst bekämpfte) und den lutherischen Dogmen andererseits, die sich in verweltlichter Form in der Einführung der Heirat als Folge von Gütererwerbungen durch bürgerliche Arbeit sowie in der Rechtschaffenheit der Verträge und der Achtung vor dem Gesetz ausdrückten, also um politische und säkularisierte religiöse Prinzipien miteinander verträglich zu machen, denn gerade diese Verkleidung der lutherischen Gesinnung dürfte die katholischen Gelübde der Keuschheit, der Armut und der Gehorsamkeit, die durch die „Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft" 10 besiegt worden waren, zerstört haben. Doch die europäischen Ereignisse des Jahres 1830 schienen diese Ordnung der Dinge vollständig durcheinander gebracht zu haben, obwohl im Prinzip die französischen „Trois Glorieux" tatsächlich leichter mit der Hegeischen Philosophie verträglich zu sein scheinen. Es ist wahr, dass Frankreich unter Charles X. die ungelöste Konfrontation einer Verfassung (der Charte) liberaler Ausrichtung mit der immer deutlicheren Präsenz eines grausamen Obskurantismus leibhaftig erlebte, der die alten Privilegien aufrecht erhielt und eine eiserne Zensur der Presse einführte. Aber nach dem Scheitern der reaktionären Regierung von Villèle im Jahre 1827 und infolgedessen nach der Erhebung von Royer-Collard, dem Chef des liberal-gemäßigten Flügels und Philosophieprofessor, zum Vorstand der Chambre des Députés, kann die liberal frankophile Position Hegels nicht klarer sein. In seinem Brief an Victor Cousin vom 3. März 1828 freut sich Hegel nämlich über jene „victoires, dont chaque jour de poste nous annonce une nouvelle" und begrüßt es, einen Philosophieprofessor am Kopf einer Kammer zu sehen, „dont la composition a si furieusement trompé les gens en place"; auch, wenn er bekennt, es bleibe noch viel zu tun: „il m'a semblé qu'on ait gagné l'essentiel, c'est d'avoir produit dans les quartiers les plus hauts la conviction que la marche qu'on avait prise jusque-là ne puisse se continuer ni reprendre." Aber was mit aller Kraft in dieser wichtigen Schrift in die Augen springt, ist die Tatsache, dass Hegel Cousin dazu gratuliert, seine Ferien am Meer hinausgeschoben zu haben, „et que vous avez préféré à leur brute rugissement d'être près de la musique du tocsin de l'énergie libérale, dont Paris, toute la France et l'Europe retentit". 11 Hegel feiert hier also die liberale Energie des Kabinetts Martignac mit der Zuversicht, dass sie sich über ganz Europa ausbreiten 10
11
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 10, Frankfurt/M 1970, S. 358f.; § 552. Briefe von und an Hegel, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 3 1969 (im folgenden Br.), Bd. 3, S. 222.
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würde. Mit Leuten wie von Henning, Gans und vor allem dem Hugenotten Michelet plant Hegel tatsächlich in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik eine kulturelle Politik der Förderung des gegenseitigen Austausche von Gedanken zwischen Frankreich als Hochburg der fortschrittlichen Reform und Deutschland gegenüber der Restauration von Metternich. Allerdings währt jene liberale Freude kurz: 1829 richtet Charles X., der sich schon in Reims nach altem Brauch hatte krönen lassen (um so den göttlichen Ursprung der königlichen Macht zu rehabilitieren), eine Regierung ein, der Polignac, Chef der Kongregation (einer mit den Jesuiten verbundene Sekte), vorsteht. Die Grundrechte bleiben ohne Wirkung und die Charte wird annulliert. Am 29. Juli 1830 erklärt Charles X. die Ordenances für geltungslos. Es handelt sich um einen wahrhaften Staatsstreich, der im Inneren der eigenen Macht entstanden ist und auf den das Volk in Paris reagiert, indem es drei Tage lang auf die Straße geht und Barrikaden errichtet. Die Heere, die geschickt werden, um den Aufstand zu ersticken, laufen größtenteils zu den Aufständischen über und der alte Held La Fayette, Zeuge der beiden großen Revolutionen, der amerikanischen und der französischen, kümmert sich geschickt darum, den Aufruhr in die Gründung des Hauses von Orléans überzuführen: Das Königreich von Louis Philippe, dem Bürgerkönig, beginnt. Heinrich Heine definiert seinen Lehrer bezeichnenderweise als den „Orleans der Philosophie"12 und zieht damit eine eindeutige Parallele zu den Anstrengungen Hegels um eine liberale Reform im Denken und zu denen La Fayettes, dem es gelungen war, die radikalen politischen Romantiker unter Kontrolle zu bringen, die eine „Zeit schaurigen Angedenkens" wiederholen wollten.13 „Da mußten die Franzosen", schreibt Heine, „die große Wissenschaft der Freiheit, die Politik, erst erlernen, und die ersten Anfangsgründe kamen ihnen teuer zu stehen, und es kostete ihnen ihr bestes Blut."14 Folglich ist es klar, dass sich sogar für einen Freidenker wie Heine das Spektrum eines neuen Auftretens des Comité du salut publique durch die Julirevolution als bedrohlich erwies. Hegel beunruhigt grundsätzlich jedoch vor allem der Fakt des Volksaufstands. Diese Revolution sei von keinem großen Mann oder einer Elite angeführt, sondern vom Pöbel verwirklicht, von jener unteren Schicht der Bevölkerung also, welche in dem Rechtsstaat, bei dessen Einrichtung der Philosoph mithelfen wollte, keine bestimmte Stelle findet. Dagegen preist Jules Michelet 1869 in seiner Einführung in die Histoire Universelle den spontanen Charakter dieses Aufstands in einer wahren Lobeshymne als „Messianismus des Volkes". Jener „Juillet éternel", schreibt Michelet, bestand aus einer „révolution sans héros, sans noms propres; point d'individu en qui la gloire ait pu se localiser. La société a tout fait. Après la victoire on a cherché le héros, on a trouvé un peuple." Wir dürfen uns aber von diesen Feststellungen nicht täuschen lassen. Was hier gerühmt wird, ist nicht der Sieg des Volkes, sondern die imperialistische Umformung des revolutionären Frankreichs, die Geburt eines extremen Chauvinismus, der Europa schließlich bluten lässt. Frankreich maßt sich nun die weltweite Vorherrschaft an. Mi12 13 14
Heinrich Heine, Sämtliche Ebd., S. 659. Ebd., S. 657f.
Schriften,
hg. von K. Briegleb, München 1969ff., Bd. 2, S. 656.
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chelet fáhrt tatsächlich fort: „Le monde moral eut son Verbe dans le Christianisme, fils de la Judée et de la Grèce; la France expliquera le Verbe du monde social que nous voyons commencer."15 Und Lamartine trägt in seinem Jocelyn von 1836 zur Schöpfung der verhängnisvollen Idee der gesta Dei per Francos bei: Le temps, par Dieu même conduit, /Passe, pour avancer, sur ce qu 'il a détruit. Ein „Nouveau Christianisme" folglich, wie er von Saint-Simon 1825 gepredigt wurde; nur dass „Christus" nun das als Heiland (also buchstäblich das Land des Heils) personifizierte Frankreich ist. Früher - sagt Michelet - hatten renommierte Gelehrte die geschichtlichen Wechselfälle Frankreichs von einem politischen Standpunkt aus studiert. Dagegen sei er der erste Mann gewesen, welcher Frankreich gleichsam als die Weltseele sah: „Le premier, je la vis comme une âme et une personne."16 Hegel wendet sich gegen diese interessegeleitete Vergötterung (hinter der Leute wie Augustin Thierry und Adolphe Thiers, der blutdürstige Unterdrücker der Commune, steckten), da ein derartiger Chauvinismus paradoxerweise dazu dient, als Reaktion in deutschen Gebieten extrem nationalistische Bewegungen auszulösen, und so gleichzeitig verhindert, dass hinter dem hieratischen Umhang der „geheiligten" Nation die wirtschaftlichen Interessen ersichtlich werden, die jene Überschwänglichkeit bewirken. Länder wie Braunschweig, Sachsen, Hannover (in Wahrheit damals ein englisches Protektorat und Zentrum der Reaktion) oder das Kurfürstentum Hessen hatten sich beeilt, nach dem Beispiel der Julirevolution Verfassungen zu verkündigen, die die Möglichkeit einer wahrhaften fortschrittlichen Entwicklung der wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte schriftlich unterbanden. Deshalb spottet Hegel im Brief an seinen Verleger Cotta vom 29. Mai 1831 über die „zwar von deutschen Fürsten gemachten Nachahmungen französischer Freiheitstümlichkeiten, wenn man so sagen kann", die „einigen Regierungen und Ministerien beschwerlich und eingreifend zu werden anfangen".17 Die Tatsache der Revolution selbst verursacht dem Philosophen kein Unbehagen; im Gegenteil, die Revolution hat die Widersprüche ans Licht gebracht, die es in Frankreich bezüglich der angeblichen Restauration gibt. Es ist unmöglich, meint er, nach Napoleon autoritär zu regieren: „der Standpunkt dieser Zeit", so heißt es in den Vorlesungen über Rechtsphilosophie aus dem Wintersemester 1830/31, bestehe genau darin: „Gegen diesen Gedanken hilft kein Privileg mehr, alle besonderen Rechte sind in Anspruch genommen von dem Begriffe des Rechts [...] heutigestags ist eben das göttliche Recht das Verworfenste."18 Mehr noch: Der Einbruch der weltlichen Freiheit gegenüber der katholischen Unterdrückung war für Hegel ein deutliches Zeichen dafür; es „haben die Franzosen z.B., die das Prinzip der weltlichen Freiheit festhalten, in der Tat aufgehört, der katholischen Religion anzugehören, denn diese kann nichts aufgeben, sondern sie fordert konsequent 15 16 17 18
Zitiert nach M. Milner, Le romantisme. I. 1820-1843, Paris 1973, S. 95. Ebd. Br., a.a.O. (Anm. 11), Bd. 3, S. 341 Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie, hg. von K.-H. Ilting, Stuttgart 1973f., Bd. 4, S. 923f.
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in allem unbedingte Unterwerfung unter die Kirche".19 Gerade deswegen, meint Hegel, hätte dieses Volk 1830 die Große Revolution von 1789 gutheißen können. Sowohl in den Wissenschaften als auch in der Geschichte gilt die goldene Regel, die Hegel in der Tat verfolgte, dass das bloße Erscheinen eines Phänomens (man verzeihe die Redundanz) nicht ausweist, ob sich hinter diesem etwas Wesentliches verbirgt oder nicht. Die Wiederholung desselben erlaubt erst den Rückgang auf Gründe und von dort aus auf den Begriff, „indem einmal leicht für keinmal gilt, mit dem zweiten Male aber das erste bestätigt wird."20 Zweimal unterlag Napoleon, zweimal unterlagen die Bourbonen. Jede Restauration scheint folglich aus Prinzip unmöglich zu sein. Karl Hegel informiert uns jedoch bezüglich der Julirevolution: „Mit Schrecken sah mein Vater in ihr eine Katastrophe, die den sicheren Boden des vernünftigen Staates wankend zu machen schien, aber anders als Niebuhr, dachte er doch nicht, daß sie uns zum Despotismus und zur Barbarei hinführen werde."21 Warum denn dieses Erschrecken? Meines Erachtens wurde es an erster Stelle durch die Angst vor einer neuen Ausbreitung der Revolution veranlasst, welche die langsame Zusammenarbeit, die zumindest auf kulturellem Gebiet allmählich entstand (man denke an vermittelnde Gestalten wie Cousin oder K.L. Michelet und, in einem „weltlicheren" Kontext, an den großen Heine), zunichte gemacht hätte. An zweiter Stelle bestand die ernstzunehmende Gefahr eines allgemeinen Krieges gegen Frankreich, wofür die Unruhen in Polen genutzt werden könnten, wie Oken in einem Brief an Hegel aus dem Frühjahr 1831 warnt.22 Die Abneigung gegen das Französische dürfte als Reaktion im damaligen Deutschland den Nationalismus hervorgelockt haben (der in der Tat in den teutonischen Gruppen bereits am Werk war). Doch an dritter und grundsätzlicher Stelle stand die Angst Hegels vor einem Aufstand des Pöbels, jenem wachsenden Überrest der Gesellschaft, der es nicht einmal zur Klasse schaffte (wie es bei den Tagelöhnern auf dem Land und den Lumpenproletariern der Fall war), und dessen Hass von Emporkömmlingen jeder Art ausgenutzt werden konnte. In der Tat verhinderten am 15. Februar 1831 unkontrollierbare Menschenmassen die Trauerfeier zu Ehren des Herzogs de Berry in Paris und zerstörten schließlich den Bischofspalast. Hegel kommentiert: „es scheint, auch die Nationalgarde hat Respekt gehabt vor dem Volke - und alles geschehen lassen, - erst nachdem alles vorüber war, sind die Aufforderungen der Nationalgarde eingetreten und dann auch befolgt worden."23 Respekt vor dem Volk! Oder vielmehr Respekt davor, dass das französische Volk sich durch die Industrialisierung und die Auflösung der alten Ständeordnung (die z.B.
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Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 16, Frankfurt/M 1970, S. 243. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. von G. Lasson, Leipzig 1919f., S. 712. Karl Hegel, Leben und Erinnerungen, Leipzig 1900, S. 16. Br., a.a.O. (Anm. 11), Bd. 3, S. 338. Hegel, „Über die englische Reformbill", in: ders., Berliner Schriften, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1956, S. 699.
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in England bereits abgeschafft war) in Pöbel verwandelt. Entgegen dem einfachen und demagogischen Rekurs aufs Volk ist für Hegel die exakte Definition des Volkes: „der nicht weiß, was er will."24 Der bedeutende Mann zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er im äußersten Moment der Entscheidung fähig ist, einem vorausgeahnten Bedürfnis des Volkes Ausdruck zu verleihen, und dass er deshalb von diesem anerkannt wird (es handelt sich um das Charisma Webers). Solange diese wilde Energie nicht kanalisiert wird, stellt das Volk, und noch genauer der Pöbel, der aufgrund der maßlosen Angst vor dem Reichtum des bürgerlichen Fabrikanten- und Handelsstandes aufständisch wird, in jedem Moment eine absolute Bedrohung durch Rebellion dar; nicht mehr durch Revolution, sondern durch Rückkehr zum Naturzustand. Das Unterscheidungsmerkmal des Pöbels wäre folglich nicht sowohl die Armut, sondern seine verworrenen Unterlegenheitsgefühle, genauer: sein Ressentiment. „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw."25 Die Zivilgesellschaft sieht so ihre eigenen Fundamente bedroht. Und Hegel macht sich keine Illusion bezüglich einer möglichen Übertragung der kulturellen Güter - die vom Fabrikantenstand eingebracht worden sind - auf jenes Lumpenproletariat. Für ihn spricht man zum aller ersten Mal vom ,Menschen", wenn sowohl die „Person" des abstrakten Rechts als auch das „Subjekt" der Moral in das bürgerliche System der Bedürfnisse aufgenommen worden ist.26 An dieser Stelle fühle ich mich verpflichtet dazu, Hegels kühle Distanziertheit zu loben (ein trauriges Lob, wenn man so will), auch wenn er - mangels eines Messianismus oder einer romantischen Utopie - keine andere Lösung für den wachsenden Pöbel sieht als die Emigration und die Kolonisation, oder, wenn dies nicht mehr möglich wäre, die sogenannte „schottische Lösung", die darin besteht, „die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie auf den öffentlichen Bettel anzuweisen".27 Wie Marx einmal sagte: „Man hat Hegel vielfach angegriffen über seine Entwicklung der Moral. Er hat nichts getan als die Moral des modernen Staats und des modernen Privatrechts entwickelt. Man hat die Moral mehr vom Staat trennen, sie mehr emanzipieren wollen. Was hat man damit bewiesen? Daß die Trennung des jetzigen Staats von der Moral moralisch ist, daß die Moral unstaatlich und der Staat unmoralisch ist."28 Das mag wohl sein. Mir ist aber auf jeden Fall klar, dass Hegel kein Moralist war. Er wollte nicht belehren und nicht erbaulich sein:; er träumte nicht von verlorenen Paradiesen, weil er dachte, dass die Geschichte des Menschen mit der Freiheit und der Arbeit gegen die Natur, also mit der „Sünde" gegen eine göttliche harmonía praestabilita begonnen hatte: genaugenom24 25 26
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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 3), § 301, Anmerkung. Ebd., § 244, Zusatz. Ebd., S. 228, § 190. - Siehe auch meine Schrift „Indigencia de la necesidad", in: AAW, Eticidad y estrado en el idealismo alemán, Valencia 1987, S. 133. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), § 245, Anmerkung. Marx, „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegeischen Staatsrechts", in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1956, S. 313.
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men mit der felix culpa eines ersten Falls, welcher nicht sowohl ursprünglich, originale, sondern vielmehr ein peccatum originarium war, dem schönen Ausdruck Kants nach. Diesbezüglich liefert der Zusatz 3 des § 24 des Vorbegriffs zur Logik der Enzyklopädie eine ausgezeichnete Interpretation des Mythos vom Sündenfall. Menschsein bedeutet, sich der Zerrissenheit mit dem natürlichen Sein bewusst zu sein. Infolgedessen wäre jede Verteidigung eines mutmaßlichen Naturzustands ein Angriff auf die Freiheit des Menschen. Der angebliche Fluch Gottes, dass der Mann im Schweiße seines Angesichts arbeiten und die Frau im Schmerz gebären müsse, stellt gegenüber der rohen, unbewussten, tierischen Befriedigung die wahre Situation des Menschen als Mensch dar. So wird die Arbeit betrachtet als „ebensosehr das Resultat der Entzweiung als auch die Überwindung derselben. Das Tier findet unmittelbar vor, was es zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht; der Mensch dagegen verhält sich zu den Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse als [zu] einem durch ihn Hervorgebrachten und Gebildeten."29 Der Mensch selbst verwirklicht sich in dieser Bildung. Das Kapitel VI-B der Phänomenologie des Geistes, „Der sich selbst entfremdete Geist: die Bildung", erhebt folglich diese mythische Erzählung zu einer begriffenen Geschichte, die von der Atomisierung der abstrakten Person im römischen Recht gegenüber der wahnwitzigen Idee vom einzigen Herrn der Welt, dem Kaiser, ausgeht; sie geht über in die Aufklärung, die das objektive Wesen der Welt in ein für das Selbstbewusstsein nützliches verwandelt, und mündet schließlich genau in die absolute Freiheit und Grausamkeit der Großen Revolution: eine neue Auflösung des Selbstbewusstseins in einzelne Atome gegenüber der abstrakten Idee des „Être suprême", das von 1830 an Intellektuelle wie Jules Michelet - die laisierten Evangelisten der Nation indispensable - mit der grandeur de la France zu identifizieren suchen. Und gerade deswegen fürchtet nun Hegel, dass jene weltliche Bildung von 1789 umsonst gewesen sei. Das Eindringen des Proletariats lässt sich freilich nicht in eine Darstellung einpassen, in welcher der prunkvolle Triumphzug des Bürgertums gefeiert wird, auch wenn Hegel scharfsichtig genug ist, auf das Problem wenigstens hinzuweisen: „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende."30 Aber weshalb vorzüglich die Moderne? Dies beruht darauf, dass die Moderne ihr Unterscheidungsmerkmal und ihren Ruhmesklang in der Automatisierung findet, das heißt: in der reflexiven Trennung der Natur, aus der die Menschen hervorgehen. Eine List der Vernunft: „Das Werkzeug als solches hält vom Menschen sein materielles Vernichten ab; aber es bleibt darin sein formales, es bleibt seine Thätigkeit die auf ein todtes gerichtet ist, und zwar ist seine Thätigkeit wesentlich das Tödten desselben, es aus seinem lebendigen Zusammenhange herauszureissen, und es zu setzen als ein zu vernichtendes; in der MASCHINE hebt der Mensch selbst diese seine formale Thätigkeit auf, und lässt sie ganz für ihn arbeiten."31 Aber jene List wendet sich sogleich in einen Betrug der Natur selbst: „jeder Betrug, den er [der Mensch] 29 30 31
Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M 1970, S. 89. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), § 244, Zusatz. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburg 1968ÍF., Bd. 6, S. 321.
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gegen die Natur ausübt, und mit dem er innerhalb ihrer Einzelnheit stehen bleibt, rächt sich gegen ihn selbst; was er ihr abgewinnt, je mehr er sie unterjocht, desto niedriger wird er selbst."32 Eine als träge und tote gesehene Natur wird auf diese Weise dem Arbeiter übereignet, welcher seinerseits aber immer mehr automatisiert wird und am Ende ganz unfähig geworden ist, den Prozess zu verstehen, der durch ihn ausgelöst wurde. Das Ergebnis ist rein quantitativ. Daher gibt es von nun an in der Gesellschaft der herkömmlichen Benennung nach keinen Stand mehr, welcher als ein handwerkliches Formieren der Natur betrachtet werden könnte. Was die moderne Gesellschaft dagegen artikuliert und zugleich kompliziert ist nach Hegel ihre Teilung in Klassen und vor allem die Unterordnung der Arbeiter unter den Fabrikantenstand. Allerdings wird die Maschine den Arbeiter schließlich selbst ersetzen: „Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann."33 Die unbrauchbaren Menschen werden folglich zum Pöbel. Weder Tier noch Mensch, sondern Abfall bzw. unbrauchbarer Rest der Produktion: eine Rückkehr zur Natur durch die Homogenisierung der Arbeit. Letztlich ist das, was die Französische Revolution im Politischen verwirklicht hat, auf industrieller Ebene nichts anderes als die Ausweitung des modernen Reichs der Maschine. In beiden Fällen beruht die Gefahr auf jener Rebellion der verworfenen Natur: Zerstörungswut, Furie des Verschwindens, Formalismus der Moderne. Die Lösung, die Hegel vorschlägt, ist fragil, und er ist der erste, der sich dessen bewusst ist. Aber zumindest verzichtet sie auf die fromme und interessengeleitete Verschmelzung von Zivilgesellschaft und Staat, die paradoxerweise sowohl von den Liberalen als auch von den Anhängern der Restauration geteilt wird. Erstere teilen sie, weil sie von einem Staat als blossem veuiller de nuit träumen, der sich darauf beschränkt, zuzulassen, dass die Kapitalisten die politische Macht direkt manipulieren; letztere, weil sie beabsichtigen, zu einem patriarchalischen System zurückzukehren, in welchem eine illusorisch neu begründete societas herilis das Durchsetzen des modernen Staats verhindern sollte. Hegel vermittelt nicht zwischen diesen Extremen, weil beide vom historisch-konzeptuellen Weg ablenken, den er in der Phänomenologie und den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie vorzeichnet. Jene Epiphänomene müssen aufgegeben werden, wie der Pöbel, zu seinem Glück (eine faszinierende Aufgabe diesbezüglich wäre es, mit philosophischer Strenge zu überprüfen, ob sich die tatsächliche Geschichte an Hegel gerächt hat, oder ob sie in den jahrzehntelangen Kämpfen zwischen Liberalen und Konservativen ein Schicksal erlitten hat, das Hegel vorhergesehen hatte: die verwaltete Gesellschaft und die Universalisierung des Beamtentums). Der Vorschlag Hegels dagegen, der, insofern er in der von ihm verwendeten altertümlichen Terminologie gelesen wird, anachronistisch erscheinen könnte, verfolgt einen streng historischen Weg, der unter Einbeziehung des politischen Denkens von Kant und Fichte austariert wird. Dieser Vorschlag besteht in der Einrichtung einer soliden Basis für den postrevolutionären 32 33
Ebd. Hegel, Grundlinien,
a.a.O. (Anm. 3), § 198.
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Staat: die Verfassung und die Stände (freilich aber nicht im Sinne der herkömmlichen Stände, die in der heutigen Welt durch die Revolution und die Maschine beseitigt wurden). Beide Punkte sind miteinander verbunden und versuchen, die beiden Seiten der modernen Individualität miteinander zu verknoten, ohne sie jedoch zu vermischen: den bourgeois, der in der Zivilgesellschaft über seine Besitztümer die Anerkennung seiner selbst erfährt, und den citoyen, der seine politischen Rechte vermittels seiner aktiven Intervention im Staat anerkannt sieht. Die Besonderheit des ersteren wird universell im Markt des Wertaustausches; die Besonderheit des letzteren bekommt ihren Wert als volonté générale bei der Gesetzgebung, die ihrerseits die Vertrauenswürdigkeit der Verträge garantiert (der Verweis auf das Gesetz von Seiten der Zivilgesellschaft ist für den Staat der Ausgangspunkt: das abstrakte Recht). 1794 war in Preußen gleichsam als Brandmauer gegen die revolutionären französischen Ideen ein Allgemeines Landrecht eingeführt worden. Durch dieses wurden die alten Generalstaaten, deren Funktionsstörung die Flamme der Freiheit verursacht hatte, tiefgreifend verwandelt. Jetzt sind die Stände der Ausdruck für die wirtschaftliche Organisation und deshalb bestimmend für die juristische Definition des Bürgers. Entscheidend ist diesbezüglich die Einführung eines dritten Standes neben dem landbesitzenden Adel (die Gutsbesitzer, die ostpreußischen Junker) und dem Bauernvolk. Das Bürgertum wird nur negativ bestimmt, wie man in dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (2. Teil, 8. Titel, § 1) lesen kann: „Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können."34 Es wird nun ein dritter Stand hinzugefügt, dem eine entscheidende Wirkungsmacht zukommt und der eben genau nach dieser Funktion bzw. nach diesem Amt bestimmt wird: der Beamtenstand. Er ist ein wahrhafter terminus médius, jedoch selbst nicht die Mitte, da der Beamtenstand selbstverständlich aus den beiden ersten Ständen hervorgeht, aber von der Regierung bezahlt und kontrolliert wird. Sein Amt scheint widersprüchlich zu sein, selbstverständlich nur aus dem Gesichtspunkt des analytischen Verstandes: Einerseits drückt er die zentralistische Kontrolle über die Randstrukturen des Staates aus; andererseits, da er Bildung besitzt, ist er das Sprachrohr des aufgeklärten Bewusstseins, das die Teilnahme des Bürgers am Staat fordert, ermöglicht und lenkt. So beruht das Paradox des Beamtentums darauf, dass aufgrund seines Ursprungs, es sei aus Lobbies oder aus dem sprit de corps - die Beamten tote Überreste der absolutistischen Politik von Friedrich dem Großen zu sein scheinen. Allerdings werden sie durch Vorbereitung und Wechsel ihrer Wirkungsmacht die Drahtzieher der Reformen von Stein und Hardenberg im Staat, von Scharnhorst und Gneisenau im Militär und von Altenstein in der Bildung und Erziehung. Im Oktoberedikt von 1807 gehen Stein und Hardenberg erste Schritte in Richtung der deutschen Einheit und verfolgen dabei das Modell der liberalen Ökonomie von Adam Smith. Man bricht mit der provinziellen Strenge der alten Stände, indem man eine allgemeine Grenzöffnung einführt und treibt ausgehend von der gesellschaftlichen Arbeit die einheitliche Staatsführung voran. Die Transformationsachse ist das Beamtentum. Das 34
Zit. in: Hegel, Grundlinien,
a.a.O. (Anm. 3), Anhang, S. 544.
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Vorhaben besteht darin, den Landstand in Staatsstand zu verwandeln, um von oben eine Staatsbürgergesellschaft zu begünstigen, in welcher das neue, geforderte Bürgertum schließlich dazu beitragen würde, dass sich die alten Stände, Adel und Landvolk, ohne eine revolutionäre Umwälzung auflösen würden. Allerdings soll die Begünstigung dieser Auflösung von einem Stand ausgeführt werden, der sich außerhalb der ökonomischen Kategorien befindet und der innerhalb eines Reformismus mit absolutistischen Wurzeln ausgedacht wurde! Diese Durchführung konnte nur dialektisch machbar sein, wenn dieselbe Schicht, die sich selbst erschaffen wollte - und zwar nach dem englischen Vorbild, jedoch ohne in den verabscheuten repräsentativen Atomismus zu verfallen - , über sich selbst nachdachte und ihrer eigenen Handlung rationale Grenzen setzte: mit einem Wort, wenn der Fabrikantenstand - und d.h.: die Spitze des Bürgertums - sich in die Korporation des Beamtenstandes verdoppeln würde. Aber dies ist aus Prinzip unmöglich, wenn wir uns an die Lehre Hegels halten. Tatsächlich hat das industrielle Bürgertum seinen locus logicus im Schnittpunkt zwischen der Welt, wie sie in sich ist, und der Welt, wie sie erscheint (auf der Ebene der Wesenslogik), sowie im unendlichen Urteil (auf der Ebene der Begriffslogik). An die Arbeit, die Reflexion und den Verstand gebunden, zerreißt das Bürgertum sich frenetisch in seine drei Modalitäten: den Handwerksstand, den Fabrikantenstand und den Handelsstand. Durch diese verwandelt sich das Besondere ins Universelle: Die aufklärerische Idee des Nutzens einer Sache wird zur postrevolutionären Idee des kontraktuellen Tausches von Gütern. Die Ehre und das Ansehen, die jener Stand erhält, ist auf diese Weise zwar universal, aber abstrakt: das Geld. Und dieses wird als Kapital angehäuft für die serienweise Herstellung von Handelsgütern und letztlich - Sieg der Abstraktion - für die Produktion von Maschinen, diese gewaltsam multifunktionelle Engramme der Allgemeinheit. Das hegelianische Vorgehen scheint aber seinen eigenen Weg zu beschreiten: Das Beamtentum würde aus dem bürgerlichen Stand hervorgehen, der von nun an allgemein wäre, und würde sich als allgemeiner Stand um die allgemeinen gesellschaftlichen Interessen kümmern.35 Jedoch ist diese Übertragung trügerisch, da die bürgerliche Allgemeinheit abstrakt, unbestimmt ist: Ihre unaufhörliches Wirken ist das des unendlichen Übels (deshalb wurzelt der kantische Formalismus des Sollens in ihr), und die Allgemeinheit, die vom Staat abstammt, müsste konkretisiert werden. Die Reflexion garantiert folglich nichts; im Gegenteil, wir haben hier eine quaternio terminorum und keinen Syllogismus. Der mittlere Ausdruck ist zunichte gemacht: Wenn das Beamtentum sich von seiner Herkunft, dem Bürgertum, leiten lässt, wird der Unterschied zwischen Zivilgesellschaft und Staat tendenziell ausgelöscht, was zur revolutionären Katastrophe führt, die in der Auflösung beider besteht (dies ist der Weg, den der Sozialismus in seinen verschiedenen Facetten voraussieht); wenn der Beamte aber seiner Bestimmung und seinem Zweck gehorcht, dann wird der Staat und mit ihm die Gesellschaft purer passiver Reflex der Verwaltung: verwaltete Gesellschaft, Sieg der technopraktischen Vernunft (dies mag der Weg des ausgestorbenen realen Sozialismus gewesen sein). Die Beamten 35
Hegel, Grundlinien,
a.a.O. (Anm. 3), § 205.
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ermächtigen sich dann selbst, die Zivilgesellschaft im Staat zu repräsentieren. Sie sind die sich bildende öffentliche Meinung,36 der Ersatz für das Volk, für jene gefürchtete allgemeine Klasse einer postrevolutionären Zukunft. Die Heuchelei gelangt an ihren Höhepunkt, wenn das Beamtentum und das Volk in den verschiedenen Abarten des Faschismus und anderen Ideologien als identisch dargestellt werden (Körperschaften als letzte Transformation der Stände: vertikale Syndikate). Um diese Gefahr abzumildern, fällt Hegel deutlich ins andere Extrem: „Besser daß die Herrscher Privatvermögen haben, als diese jährliche Besoldung, die sie wie Beamte des Volkes erscheinen läßt."37 Nur dass damals der angebliche Staatsbeamte die Interessen des landbesitzenden Adels verteidigt, von dem er abstammt. Im Grunde reproduziert sich innerhalb des Staatsapparats der preußischen Reform derselbe Kampf zwischen Adel und Bürgertum. Wilhelm von Humboldt fürchtet z. B. bereits 1819, dass der bürokratische Zentralismus schließlich die Stände im Namen einer einzigen allgemeinen Klasse auslöscht, d.h., „daß, besonders beim gesunkenen Ansehen des Adels, nur der Beamte etwas zu gelten scheint, und daher jeder sich dieser Klasse zudrängt".38 Es ist offensichtlich, dass die von ihm vorgeschlagene Alternative - die Selbstbildung und die Autonomie der Stände in vollständiger Trennung von der Kontrolle durch den Staat - letztlich nichts anderes bewirkt, als dass sich die aristokratisch-liberale Lösung auf der Gruppenebene wiederholt, die derselbe Humboldt als junger Mann in den neunziger Jahren für das Individuum einforderte (wobei er vergaß, dass nur der Eigentümer sich nach seinem Ermessen bilden kann). Das Paradox löst sich gewaltsam auf, so dass man sagen kann, dass der Vorschlag Hegels, auch wenn er weiterhin ein gültiges Zeichen der Rebellion gegen den bestehenden Zustand ist, 1820 „bereits von der Presse getötet" (es sei hier an Hume erinnert) entsteht. Der Artikel 7 der Karlsbader Beschlüsse von 1819 versteht die landständische Verfassung als reine und einfache Rückkehr zu den alten Ständen, die auf dem Privileg und dem (bei Hegel abstrakten) Privatrecht beruhten. Und 1823 werden die Provinzialstände wieder eingerichtet, die Stein abgeschafft hatte. Wie das Gesetz vom 5. Juni 1823 deklarierte: „Das Grundeigentum ist die Bedingung der Standschaft."39 Die hegelianische Idee eines Sozialstaats löst sich so in Staub auf, und das Gefährlichste dabei ist, dass die Rechtsphilosophie, durch die Brille der Anhänger des Obskurantismus (deren Reaktion im Jahre 1848 nur leicht und gelindert war) gelesen, mit ihren Schwankungen und Zugeständnissen Anlass für eine Auslegung gibt, die ihrerseits zwischen dem Polizeistaat und einer Verwaltungslehre hin- und herschwankt, bzw. zwischen dem Nazismus (man denke an Carl Schmitt) und der - freilich aus 36 37
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Siehe hierzu G. Paganini, Hegel, la politica e la storia, Bari 1980, S. 149-150. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, hg. von K.-H. Ilting, Bd. 1, Stuttgart 1973, S. 33. Wilhelm von Humboldt, „Über Einrichtung landständischer Verfassungen in den preußischen Staaten", in: Werke, Bd. 4, Darmstadt 1964, S. 435. Allgemeines Gesetz wegen Anordnung der Provinzial-Stände, 5. Juni 1823, Präambel (GS 129), H R . - Zit. in: R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967, S. 338.
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verschiedenen Perspektiven - von Heidegger und der Frankfurter Schule kritisierten verwalteten Gesellschaft. So lässt sich also mit gutem Grund sagen, dass die Rechtsphilosophie Hegels eine Wunde in der Verfassung Deutschlands und in ihrer (meist verschobenen) schriftlichen Erklärung, also in der Konstitution aufzeigt. Der Theseus, der die geteilte Nation gewaltsam vereinen sollte,40 das energische Württembergische Ministenum, das aus Amtleuten gebildet worden wäre und sich mutig den Versuchen der Wiedereinrichtung der alten privilegierten Stände entgegensetzen hätte sollen,41 die Korporation als zweite ethische Wurzel des Staates (gleichzeitig über die Familie hinausgehend und diese integrierend) 42 all diese langwierig erarbeiteten Vorschläge Hegels bezüglich der Politik und genauer bezüglich des Problems, wie der Spalt zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen Bürger (bourgeois) und Staatsbürger (citoyen) überwunden werden könnte, sind in Deutschland nach den Verbrechen der Nazis in verhängnisvoller Weise verunstaltet worden. Ich lasse die Frage offen, ob sich diese Verunstaltung derzeit nicht weltweit ausbreitet. Allerdings ist die Gefühlskälte, mit der Hegel sich traut, das laut Nietzsche ebenfalls „kalte Ungeheuer" zu betrachten, abgesehen von gelegentlichen Lobeshymnen und moralischen Ausrufen, die in der Analyse der Sittlichkeit hier und da verstreut sind (Ausrufe, die wenig wert sind, sobald die Moral bereits vom Staat ergriffen und absorbiert worden ist), paradoxerweise Ausdruck seiner Rechtschaffenheit, wenn es darum geht, Probleme darzustellen, die sich nicht manipulieren lassen. Diese nüchterne Distanziertheit also bringt es mit sich, dass jene eiskalten Texte, die allerdings von den gewaltigen Umwälzungen durchgetränkt wurden, die über unser Jahrhundert hereingebrochen sind, des Nachdenkens würdiger sind als zahlreiche erbauliche Vorschläge, die den zwei abstrakten Extremen entstammen, dem Liberalismus und der konservativen Bewegung der Restauration: die einzigen, die uns heute, freilich manchmal unter anderen, schöneren Benennungen, übrig geblieben zu sein scheinen. Dass jene Probleme für Hegel unlösbar bleiben, bedeutet letztlich für ihn nichts anderes, als dass das systematische Fortschreiten hin zum absoluten Geistes notwendig ist. Der Staat ist der irdische Gott; er ist folglich, wie bei Hobbes, der sterbliche Gott, ein endlicher Gott, der über den auf der Vertikalen des Staatszwangs, dem Willen des Monarchen, aufgehängten Punkt zur Natur zurückkehrt. In Wirklichkeit ist es ein Punkt auf dem „i"; aber jener Punkt ist abgeschnitten, abgetrennt von der Vertikalen. Erneut ein Sprung, der einen Rückschritt bedeutet. Hegel sagt: „Aber die Regierung steht über
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Vgl. „Die Verfassung Deutschlands", in:· Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hg. von G. Lasson, Leipzig 2 1923, S. 135f. Vgl. Hegel, Rezension zu „Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816", in: Hegel, Werke, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt/M 1970 Bd. 4, S. 476f. Hegel, Grundlinien, a.a.O. (Anm. 3), § 155.
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allen - der Geist, der sich als allgemeines Wesen und allgemeine Wirklichkeit weiß; das absolute Selbst."43 Nur ist diese Übermacht vorgetäuscht; der Punkt ist durch ein pures Missgeschick der Natur bestimmt; die Abweichung, das Aussersichsein, ist das, was dieses absolute Selbst erwählt und gesalbt hat. Noch eine List, diesmal aber wahrscheinlich von der Natur selbst, um den Selbstmord ihrer Lieblingskinder zu vermeiden: Einem König träumt: Er sei's. / Er befiehlt, befiehlt, befiehlt/In dem Traum, der mit ihm spielt. / Und den nur geborgterweis / Ihm zuteil gewordnen Preis / Schreibt er in den Wind. Zu Kot / Wandelt ihn der Tod. O Not! / Wer will noch den König machen ? / Weiß er doch voraus: Erwachen / Muß er in dem Traum vom TodZ44
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Hegel, Jenaer Systementwürfe III, in: ders., Gesammelte Werke, Hamburg 1968ÍF., Bd. 8, S. 281. P. Calderón de la Barca, La vida es sueño, Madrid 1881, S. 86; deutsche Fassung zitiert nach: M. Kommerell, Beiträge zu einem deutschen Calderón, Frankfurt/M 1946.
Zu den Autoren
(geb. 1965), ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Sarajevo (Bosnien und Herzegovina) und Vizerektor der Universität. Wichtige Veröffentlichungen: Offene Bedeutungen der aristotelischen Metaphysik (Otvorena znacenja Aristotelove metafizike), Zagreb 2 0 0 3 ; Kants Frage nach der Metaphysik (Kantovo pitanje metafizike), Sarajevo 2 0 0 5 ; Philosophie und Wissenschaft (Filozofija i znanost(i)) (Hg. mit Stipe Kutlesa), Sarajevo und Zagreb 2 0 0 6 ; Transzendentale Philosophie und die Bestimmungen der Moderne (Transcendentalna filozofija i odrednice moderne), Sarajevo 2009. SAMIR ARNAUTOVIC
(geb. 1 9 4 9 ) , Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Vorsitzender des Vorstandes der Internationalen HegelGesellschaft. Wichtige Veröffentlichungen: Karl Marx, Bochum 1985; Dialektik und Reflexion, Hamburg 1 9 9 4 ; Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2 0 0 3 ; Unmittelbarkeit,
ANDREAS ARNDT
Bielefeld 2004.
Professor für Philosophie in Frankfurt/M und Gießen. Wichtige Veröffentlichungen: Die Dialektik von Grund und Begründetem in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M 1963; Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus, Stuttgart u. a. 1969; Hegels Phänomenologie des Geistes, Stuttgart u. a. 1971; Kritik der Marxschen Wertlehre, Hamburg 1972; Elemente der Demokratie, Stuttgart 1985; Das Dilemma der menschlichen Existenz, Stuttgart u. a. 2 0 0 0 . WERNER BECKER ( 1 9 3 7 - 2 0 0 9 ) ,
(geb. 1960), Professor für Philosophie an der Leibniz-Universität Hannover. Wichtige Veröffentlichungen: Vom Reichtum der Gesellschaften, Lüneburg 1995; Perspektiven des Bewußtseins - Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes, Würzburg 2005 HANS-GEORG BENSCH
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Z u DEN AUTOREN
(geb. 1944), Professor Ordinarius an der Katholieke Universiteit Leuven (Belgien). Wichtige Veröffentlichungen: Immediacy and reflection in Kierkegaard's thought (Hg. mit J. Taels und K. Verstrynge), Leuven 2003; Philosophy and religion in German idealism (Hg. mit W. Desmond, und E. Onnasch), Dordrecht 2004; Hegel-Lexikon (Hg. mit P. Cobben, L. De Vos und P. Jonkers), Darmstadt 2006 PAUL CRUYSBERGHS
(geb. 1943), Professor für Philosophie an der Universidad Autónoma de Madrid. Wichtige Veröffentlichungen: El sitio de la historia, Madrid 1995; Il fiore nero. Satanesimo e paganismo nella fine della Modernità, Milano 1995; Geni Dee e Guardiani. Arte e politica nella crisi della modernità, Napoli 1996; La estrella errante, Madrid 1997; Historia de la Filosofia Moderna. La Era de la Critica, Madrid 1998; La Restauración: la escuela hegeliana y sus adversarios, Madrid 1998. FELIX DUQUE
(geb. 1945), Professor am Institut für Philosophie und Direktor des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum. Wichtige Veröffentlichungen: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986; Hegel-Handbuch, Stuttgart 2003. WALTER JAESCHKE
(geb. 1930), emiritierter Professor für Philosophie an der ErasmusUni versiteit Rotterdam (Niederlande). Wichtige Veröffentlichungen: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels ,System der Philosophie' in den Jahren 1800 bis 1804, Bonn 1970, 2. Aufl. 1982; Philosophie der Geisteswissenschaften als Kritik ihrer Methoden, Den Haag 1978; Entwurf einer Philosophie des Wir, Bochum 1985; Derrida zur Einführung, Hamburg 1988, 7. Aufl. 2008; Philosophie in Afrika - afrikanische Philosophie, Frankfurt/M. 1991; Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg 2000; Georg Wilhelm Friedrich Hegel interkulturell gelesen, Nordhausen 2005; Philosophie - Geschichte - Philosophiegeschichte, Nordhausen 2009. HEINZ KIMMERLE
(geb. 1 9 6 6 ) , wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie in Belgrad (Serbien). Wichtige Veröffentlichungen: Identitet i refleksija: problem samosvesti u Hegelovoj filozofiji (Identität und Reflexion: Das Problem des Selbstbewusstseins in Hegels Philosophie), Belgrad 2 0 0 6 ; Aufsätze über die Philosophie des Deutschen Idealismus, politische Philosophie und französische Philosophie der Gegenwart. VLADIMIR MILISAVLJEVIC
Z V O N K O P O S A V E C (geb. 1936), Professor für Politikwissenschaft an der Universität Zagreb (Kroatien); Gastprofessor an den Universitäten Köln, Bonn und Darmstadt; Mitglied der koratischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Wichtige Veröffentlichungen: Dijalektika i politika (Dialektik und Politik), Zagreb 1979; Sloboda i politika (Freiheit und Politik), Zagreb 1995.
(geb. 1975), Dozent für deutsche Literatur und Kultur an der Universität Sarajevo (Bosnien und Herzegovina). Wichtige Veröffentlichung: Estetika VAHIDIN PRELJEVIC
Z u DEN AUTOREN
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fragmenta. Robert Musil na tragu njemackog romantizma (Die Ästhetik des Fragments. Robert Musil und die deutsche Romantik), Zagreb 2008. (geb. 1936), emeritierter Professor an der Fakultät für politische Wissenschaften in Zagreb (Kroatien). Wichtige Veröffentlichungen: Prijepis politike (Dekonstellation der Politik), Zagreb 1995; Putovi politologije (Wege der Politologie), Zagreb 2001; Predznaci postmoderne (Vorzeichen der Postmoderne), Zagreb 2004. DAVOR R O D I N
(geb. 1947), Professor für Philosophie an der Universität Dresden. Wichtige Veröffentlichungen: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. und New York 1987; Technologische Urteilskraft. Zu einer Ethik technischen Handelns, Frankfurt/M 1993; Technik - Kultur - Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M 2000; Marx, Leipzig 2006.
JOHANNES ROHBECK
(geb. 1948), Professor für Sozialphilosophie an der Universität Ljubljana (Slovenien). Wichtige Veröffentlichungen: Das wirkliche Triebwerk des Kapitals und seine Beziehung zu Hegels Logik, in: Das Kapital neu lesen, Münster 2006, 102127; Die Nichtweitergabe von Atomwaffen in der Perspektive der Logik internationaler Beziehungen bei Kant und Hegel, in: Zwischen Konfrontation und Integration, Berlin L E O SESERKO
2007, 111-122.
(geb. 1952), Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig, Vizepräsident der Internationalen Hegel-Vereinigung, Präsident der Sächsichen Akademie der Wissenschaften. Wichtige Veröffentlichungen: Hegels analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992; Sinn-Kriterien. Die logischen Grundlagen kritischer Philosophie von Piaton bis Wittgenstein, Paderborn 1995; Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt/M. 2005; Formen der Anschauung, Berlin 2008. PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
(geb. 1974), Studium der Philosophie und der Kunstgeschichte an der Universität Zadar. Promotion zum Thema „Hegels These vom Ende der Kunst und ihre Rezeption" an der Universität Zagreb. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Philosophie der Universität Zadar (Kroatien). N I V E S D E L I JA T R E S C E C
(geb. 1961), Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle. Wichtige Veröffentlichungen: Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Problem der Moral bei Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1993; Die Geburt der Ethik. Schopenhauer, Nietzsche und Adorno, Berlin 1994; Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Weimar und Köln 2001. MIRKO WISCHKE
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Z u DEN AUTOREN
(geb. 1 9 5 7 ) , Professor am Institut für Philosophie der Universität Zagreb und der Universität Zadar (Kroatien); Mitglied des Institut International de Philosophie (Paris). Wichtige Veröffentlichungen: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Essays über Piaton (kroatisch), Zagreb 1998, 2. erweiterte Auflage 2 0 0 6 ; Kroatische Philosophie im europäischen Kontext, St. Augustin 2 0 0 3 ; Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie (Hg. mit A. Arndt), Hamburg 2 0 0 7 ; Philosophie und Kultur (kroatisch), Zagreb 2 0 0 9 .
JURE ZOVKO
Personen- und Sachregister
Adelung, J. C. 93 Agamben, G. 205 Altenstein, Κ. Freiherr 19, 237 Althusius 19 Althusser, L. 157, 164 Appiah, A. 60, 76-78, 80 Arendt, H. 59, 71, 85 Aristoteles 26f., 31, 43, 124, 131f„ 203f„ 206-208 Arminius 192 Armstrong-Jones, M. 166 Arndt, A. 91, 99f. Assmann, J. 190, 192 Augustinus 13 Avineri, S. 90
Baader, F. v. 28 Baecker, D. 184 Barnard, F. 191 Bayertz, K. 109 Benjamin, W. 54 Bensch, H.-G. 128 Benz, R. 194 Berlin, I. 144 Beuys, J. 181 Bleek, W. 13 Blumenbach, J. F. 112f.
Bodei, R. 138 Bodin, J. 12, 214 Böckenförde, E.-W. 214 Böhme, J. 28, 43 Börne, L. 228 Bonnet, C. 113 Bonsiepen, W. 137, 199 Boulanger, Ν.-Α. 114 Bowes-Lyon, E. 166 Boyd, R. 116 Brandom, R. Β. 26 Büchner, G. 228 Büchner, L. 116 Bühler, Κ. 26 Bünstorf, G. 118 Buffon, G.-L. L de 107f„ 112-115 Bulthaup, P. 122 Burnett, J. 107f. Calderón de la Barca, R 241 Calvin, J. 198 Calvino, I. 209 Cassirer, E. 183f. Castoriadis, C. 185, 191, 195 Charles X. von Frankreich 230f. Chiereghin, F. 132 Churchill, W. 69
248
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Cicero, M. T. 91, 96, 142 Claesges, U. 135 Comte, Α. 46 Condorcet 107f. Cousin, V. 230 Dahlmann, F. C. 13, 15 Danto, A. C. 45f., 54, 180f. Darwin, C. 105, 116f. De Berry 233 Dennet, D. 117 Derrida, J. 60, 72, 74-76, 78, 80-82, 141 Descartes, R. 27, 198 Dilthey, W. 4 6 - 4 9 , 51-53, 55 Dinkel, B. 138 Düsing, K. 150 Duque, F. 135 Evans Pritchard, E. E.
65
Ferguson, A. 107f., 219 Fichte, J. G. 27, 88, 148, 151, 164, 168, 189, 198, 228, 236 Fischer, E. P. 116 Fischer, M. J. 141 Fontenelle 108, 114 Forster, M. 131-133 Forsthoff, E. 208 Fortes, M. 65 Frege, G. 26, 28f. Freud, S. 147 Fries, J. F. 35 Fulda, F. 98, 130f. Gadamer, H.-G. 55 Gans, E. 231 Gehlen, Α. 2 7 , 1 1 0 Gessmann, M. 132 Gierke, O. F. v. 19 Gilbert, Κ. 174 Goethe, J. W. 193 Goodfield, J. 108 Grossmann, A. 144 Grotius, H. 96 Gutzkow, Κ. 228 Habermas, J.
204
Häberle, P. 216 Haeckel, E. 116 Hardmon, M. 137 Harris, H. S. 144 Hayek, F. Α. 37 Hederich, Β. 95 Hegel, Κ. 233 Heidegger, M. 52, 129-131, 136, 138, 209f„ 240 Heine, H. 209, 228, 231, 233 Heller, H. 11 Henning, L. v. 231 Henrich, D. 74, 148, 151, 180 Heraklit 27f„ 31, 38f. Herder, J. G. 27, 91, 93, 97, 99, 101-104, 107f., 141f., 144-146, 152, 189-191 Herzog, R. 214 Hirsch, E. 96 Hobbes, T. 12, 19, 32, 36f„ 186, 198, 208f„ 214, 219, 240 Hölderlin, F. 148, 186 Hösle, V. 134 Hofmeyr, M. 78 Home 108 Home, H. 107 Homer 94f„ 154, 176 Honneth, A. 89f„ 199 Huber, E. R. 17 Humboldt, W. v. 239 Hume, D. 2 7 - 3 0 , 35, 135, 219, 239 Hutcheson, F. 35 Ibrulj, N. 133 Irmscher, H. D. 191 Isensee, J. 206-208, 215 Jacobi, F. H. 13, 151 Jaeschke, W. 13, 15, 20, 22, 95, 98 Jahn, F. L. 228 Jamme, C. 149 Jansen, C. 13 Jauß, H. R. 179f. Jellinek, G. 214 Kant 206, 209 Kant, I. 27, 29f., 32f., 37, 47f„ 50, 59, 6 8 71, 75f„ 80-82, 88, 106-109, 112-115, 117,
249
PERSONEN- UND SACHREGISTER
122, 134f., 142f., 147f„ 150f„ 157, 166, 179, 185f., 189, 194, 198, 227, 235f. Kimmerle, H. 57, 78, 81, 152 Kirchhoff, P. 215 Kittay, E. F. 80 Kleist, Η. v. 192f. Kloc-Konkolowicz, J. 83 Klüber, J. L. 214 Kojéve, Α. 199 Kommereil, M. 241 Koselleck, R. 189, 239 Kotzebue, F. 228 Krause, K. F. 228 Kuhn, H. 174f. La Fayette, M.-J. M. de 231 Lacan, J. 225 Lamartine, A. de 232 Lasson, G. 54 Leibniz, G . W . 2 6 , 2 9 , 1 1 2 Leinfelder, W. 109 Lepenies, W. 108 Lessing, G. E. 146 Levinson, S. C. 109 Lévi-Strauss, C. 141, 153 Locke, J. 35, 37f. Löchte, A. 145 Louis Philippe von Frankreich 231 Lovejoy, A. 113 Ludwig X V i n von Frankreich 228 Lübbe, H. 189, 209 Luhman, N. 118 Luhmann, N. 206 Luther, M. 40, 198, 200, 228, 230 Mühl, H. J. 194 Mandeville, B. de 36 Mann, T. 121, 125 Mapplethorpe, R. 167 Marcus, G. E. 141 Martignac, J.-B. G. de 230 Marx, K. 36, 60, 63, 73f„ 103f., 124-126, 169, 207, 209, 234 Maupertuis, P.-L. M. de 112 McLaughlin, P. 112 Menzel, W. 229 Metternich, Κ W. L. v. 231 Metternich, K. W. L. v. 228
Michelangelo 71, 77 Michelet, J. 231 f., 235 Michelet, K. L. 231, 233 Milner, M. 232 Möhrs, T. 109 Montesquieu 63 Motion, Α. 166 Myron 177 Napoleon Bonaparte 187, 232f. Neuser, W. 111 Niebuhr, B. 233 Niedermann, J. 96 Nietzsche, F. 84, 148, 200, 209, 240 Nofretete 77 Novalis 19 lf. Nussbaum, M. 60, 72, 80 Oderà Oruka, H. 60, 78-80 Oelmüller, W. 179 Packard, V. 162 Paganini, G. 239 Parmenides 31 Patzelt, J. 118 Paulus 198 Perpeet, W. 96, 143 Petrarca 229 Piaton 25, 27, 30-32, 35, 38f„ 95, 124, 132 Plessner, H. 27 Polignac, J. de 231 Popper, K. R. 35, 37 Protagoras 30 Pufendorf, S. 96 Raffael 77 Rauhut, F. 96 Rawls, J. 79f„ 205f. Rheinberger, H.-J. 112, 116f. Richerson, P. J. 116 Ritter, J. 87 Robinet, J.-B.-R. 112f. Rosanvallon, P. 222 Rosenzweig, F. 11,154 Rothacker, E. 192 Rousseau, J.-J. 32, 35, 86, 107f„ 141, 147, 150, 186, 204, 207, 219
250 Royer-CoUard, P.-P. 230 Runciman, W. G. 106 Runciman, W.G. 116f. Saint-Simon, H. de 232 Saladin, P. 215 Sanides-Kohlrausch, C. 109,118 Savigny, F. K. v. 33 Schaeffer, J.-M. 171-174, 180 Scheler, M. 87 Schelling, F. W. J. 131, 149f„ 186 Schiller, F. 150, 157-159, 161f„ 164, 185189 Schlegel, F. 50, 185, 188, 193-195 Schleiermacher, F. 122 Schleiermacher, F. D. E. 67 Schmidt, R. J. 191 Schmitt, C. 12, 33, 207-209, 239 Schnädelbach, H. 106,110 Schroer, M. 195 Schulze, H. 185 See, Κ. v. 193 Sen, Α. 60, 79f. Sennet, R. 100 Simmel, G. 183f., 194 Simon, R. 190 Smith, A. 36, 61, 219, 237 Sokrates 210 Spahn, C. 113 Sperber, D. 109 Spinoza, B. 102 Steenblock, V. 94 Stein, Freiherr vom 237, 239 Stekeler-Weithofer, P. 107 Steuart, J. 219 Stuart-Fox, M. 109,116
PERSONEN- UND SACHREGISTER
Tacitus 187 Thierry, Α. 232 Thiers, Α. 232 Tieck, L. 228 Toulmin, S. 108 Tugendhat, E. 28 Turgot, A. R. J. 107 Ungern-Sternberg, A. v.
228
Varus 192 Vattimo, G. 55, 130 Villèle, J.-B. de 230 Vos, L. de 97f. Wamba dia Wamba, E. 64 Wandschneider, D. 113 Weber, M. 155, 234 Weidner, D. 146 Wendorff, R. 120f. Werdeck, A. v. 192 Westphal, K. R. 135 Wieland, C. M. 13 Wieland, W. 55 Wienbarg, L. 228 Williams, B. 35 Willke, H. 209 Wischke, M. 89 Wolin, S. 203, 205 Woltmann, K. L. v. 187-189, 191 Zelle, C. 187 Zeller, C. 222 Ziegler, J. 225
Zwischen Konfrontation und Integration Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant Herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko Hegel-Forschungen HEGEL• FORSCHUNGEN
2007. 242 Seiten, 170 χ 240 mm, Festeinband, € 69,80 ISBN 978-3-05-004299-2
Zwischen Konfrontation und Integration
Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" weist ausdrücklich Kants Idee eines Völkerbundes in der Schrift „Zum ewigen Frieden" als unrealistisch zurück; es gebe „keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise." Beide Konzepte - die Unausweichlichkeit auch gewaltsamer Konfrontationen der Staaten bei Hegel, die Möglichkeit ihrer rechtlichen Integration bei Kant - bilden den Gegenstand dieses Buchs. In den Beiträgen des Bandes geht es nicht nur um die Rekonstruktion der Theorien Hegels und Kants, sondern auch um ihr Weiterdenken unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung und asymmetrischer Kriege. Mit Beiträgen von: Samir Arnautovic, Andreas Arndt, Werner Becker, Hans-Georg Bensch, Paul Cruysberghs, Kazimir Drilo, Walter Jaeschke, Jean-François Kervegan, Heinz Kimmerle, Igor Mikecin, Vladimir Milisavljevic, Zvonko Posavec, Vahidin Preljevic, Andrzej Przylebski, Davor Rodin, Leo Seserko und Jure Zovko
Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie Andreas Arndt, Christian Iber, Günter Krück (Hrsg.) Τ TT"1 ^ ι ' τ I ι I-4 ξ τ Η ! I I I . . ! I, 1 è j I FORSCHUNGEN
Hegel-Forschungen 2 0 0 9 . 1 6 1 S. - 170 χ 240 mm, Festeinband, € 89,80
Staat und Religion in Hegcis Rechtsphilosophie
ISBN 978-3-05-004637-2
Für Hegel findet der durch die Konfessionsspaltung zerrissene moderne Staat, indem er Religion und Politik trennt, sein Gravitationszentrum in sich selbst. Erst durch die Trennung von einer bestimmten Religion könne der Staat auch weltlichen und religiösen Geist versöhnen, sofern sich die Religion dem sittlichen politischen Gemeinwesen einordnet, sich der Sittlichkeit des Staates unterordnet. Diese Sittlichkeit wird jedoch gleichermaßen vom politischen wie religiösen Fanatismus bedroht. ltaau>gcyiJm> vim AnUreas Arndt. CtaMHan Iber und Günter Krack
Das Verhältnis des modernen Staates zur Religion ist bis heute spannungsreich geblieben. Während christliche und islamische Fundamentalisten das Prinzip der Moderne umfassend revidieren und den Staat der Religion unterordnen wollen, gibt es auch unterhalb solcher Fundamentalismen Versuche, mit religiös motivierten Vorstellungen Einfluss auf den Staat zu nehmen. Umgekehrt garantiert der moderne Staat die Freiheit der Religionsausübung, was es notwendig macht, politische Vorstellungen ungeachtet ihrer Motive rein rechtlich zu bewerten. Hegels Theorie, dass der Staat nur dadurch, dass er sich von einer bestimmten Religion trennt, Religionen und Staat miteinander versöhnen könne, ist angesichts jüngster Konflikte und Konfliktpotentiale von größter Aktualität. Die vorliegende Band stellt sich zur Aufgabe, Hegels Theorie unter Einbeziehung aller einschlägigen Texte zu rekonstruieren sowie ihre Bedeutung in den damaligen und heutigen Kontexten zu erörtern. Mit Beiträgen von Samir Arnautovic, Andreas Arndt, Stefanie Ertz, Christian Iber, Walter Jaeschke, Otto Kallscheuer, Jindrich Karasek, Günter Krück, Friedrike Schick, Lu De Vos und Mirko Wischke.