Sprachwandel im Deutschen 9783110526585, 9783110525182

This volume features articles on historical morphology, word formation, lexicography, syntax, historical studies of tech

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German Pages 514 Year 2018

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Table of contents :
Tabula Gratulatoria
Vorwort
Inhalt
Teil I. Sprachwandel in Morphologie, Wortbildung und Syntax
Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen
Hilfsverbwechsel (Perfektbildung) in neuerer Zeit?
Genug ist schon zu viel. Ein spezieller Präfixverlust im Althochdeutschen
Zwischen Innovation und Tradition. Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg
Pseudopartizipien im Wandel der Zeit
Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz. Aus der Werkstatt des Mittelhochdeutschen syntaktischen Verbwörterbuchs
Der Mensch geht, der Teufel fährt. Zum semantischen und syntaktischen Verhalten einiger Fortbewegungsverben
Bleibt das Kind schon längere Zeit munter… Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert
Begründete Evidenz bei Otfrid
Teil II. Sprachwandel in Lexik und Lexikographie
Zur Geschichte deutscher etymologischer Wörterbücher
Spannende Späne. Beispiele zum Wortbedeutungswandel aus der Werkstatt des Deutschen Rechtswörterbuchs
Vom senen zur Sehnsucht
Zur Überlieferung von ahd. riuti und riutī
Bedeutungswandel paradox. Zur Entwicklung der Intensivierer fast, ganz, recht
Vom Schweigen der Mönche. Volkssprachige Bestandteile im Signa-loquendi- Kapitel der Consuetudines Hirsaugienses und das Althochdeutsche Wörterbuch
Althochdeutsche Monatsbezeichnungen in Einhards Karlsvita, Kalendarien und Sachglossaren. Überlieferungsgeschichte und Wortschatzgeschichte
Teil III. Wandel in Fachsprachen
Chanstu dez nit, so pist ein lap. Beobachtungen zum Gebrauch des (generischen) du in historischen Fachtexten
Konstanz und Varianz in der Fachsprache. Ein Modell zur Erschließung des fachsprachlichen Gehalts am Beispiel der Waidmannssprache
Einen lehrstuhl ausgebessert und eine bettstatt rebarirt. Analyse einer historischen Fachsprache des Schreinerhandwerks
Fachsprachen im Wandel der Zeit. Ausgewählte Überlegungen
Vom Elefanten zum Alten, vom Alten zum Sprinter. Onomasiologischer Wandel auf dem Schachbrett
Teil IV Text(sorten)wandel
Sprachgeschichtliche Aspekte der Verwendung von Bildzeichen im Chat
Textwandlungen – Eucharius Rösslin, Der Swangern Frauwen und hebammen Rosegarten als sprachhistorische Quelle
Handlungsschemata im Wiener Niederlagsprivileg von 1281
Sprachwandel in der Anzeigenwerbung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
Teil V. Regionaler Sprachwandel
Ostmitteldeutsch im 13. Jahrhundert
Ein Markolf aus Leipzig? Die deutsche Prosafassung von Salomon und Markolf in Leipzig, UB, Rep. II 159
Die mittelniederdeutsche Fassung des Leipziger Schützenbriefes von 1497. Ein Einzelfall der niederdeutschen Inkunabeldrucke. Kommentar ‒ Sprachuntersuchung ‒ Edition
Wie schwand das Präteritum im Bairischen?
Oanagg, urass, sturaxad. Formenvielfalt bairischer Adjektive
Dieter Stellmacher Die flämingischen Eigennamen in den Sprachwandelprozessen einer üdmärkischnordobersächsischen Sprachlandschaft
Teil VI. Handschriftenkunde und Geschichte
Ein neues Zeugnis deutschsprachigen Kirchengesangs aus der Zeit der Reformation
Deutschsprachige Glossen-, Glossar- und Vokabularhandschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Eine Bestandsaufnahme. Zugleich eine Ergänzung zum Handschriftenkatalog von Pensel und Stahl (1998)
Das Sprachenproblem in der mittelalterlichen Pfarrseelsorge. Beobachtungen in den Lausitzen und anderen Landschaften der Germania Sacra
Beharrung und Wandel in der akademischen Lehre. Zur Institutionalisierung der humanistischen Bildungsreform an der „vorklassischen“ deutschen Universität
Publikationsverzeichnis Hans Ulrich Schmid
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Sprachwandel im Deutschen
 9783110526585, 9783110525182

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Sprachwandel im Deutschen

Lingua Historica Germanica

Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler

Band 19

Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.

Sprachwandel im Deutschen Herausgegeben von Luise Czajkowski, Sabrina Ulbrich-Bösch und Christina Waldvogel

ISBN 978-3-11-052518-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052658-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052535-9 ISSN 2363-7951 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Festschrift für Hans Ulrich Schmid zum 65. Geburtstag

Hans Ulrich Schmid

Tabula Gratulatoria Althochdeutsches Wörterbuch, Arbeitsstelle Leipzig Bayerisches Wörterbuch, Arbeitsstelle München Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Arbeitsstellen Bonn, Dresden, Göttingen, Greifswald, Halle (Saale), Heidelberg, Mainz, München Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Arbeitsstellen Göttingen, Mainz, Trier Frieder von Ammon, Leipzig Jochen Bär, Vechta Irmhild Barz, Leipzig Wolfgang Beck, Jena Dieter Burdorf, Leipzig Kathrin Dräger, Mainz Falk Eisermann, Greifswald Stephan Elspass, Salzburg Kurt Gärtner, Trier Elvira Glaser, Zürich Thomas Gloning, Gießen Mechthild Habermann, Erlangen Jens-Dieter Haustein, Jena Anita Hellmich, Leipzig Birgit Herbers, Mainz Gerlinde Huber-Rebenich, Bern Markus Hundt, Kiel Rainer Hünecke, Dresden Wolfgang Huschner, Leipzig Michail Kotin, Zielona Góra Maria Kozianka, Jena Julia Krasselt, Winterthur Alexander Lasch, Kiel Frank Liedtke, Leipzig Heiner Lück, Halle Ilse Nagelschmidt, Leipzig

DOI 10.1515/9783110526585-201

Damaris Nübling, Mainz Dirk Oschmann, Leipzig Ralf Plate, Trier Fidel Rädle, Göttingen Andrea Rapp, Darmstadt Ingo Reiffenstein, Salzburg Jürgen Erich Schmidt, Marburg Ingrid Schröder, Hamburg Matthias Schulz, Würzburg Günter Schweiger, Regensburg Elmar Seebold, München Hans-Joachim Solms, Halle Stefan Sonderegger, Zürich/Herisau Jochen Splett, Münster Uta Störmer-Caysa, Mainz Renata Szczepaniak, Hamburg Lenka Vaňková, Ostrava Corinna Wandt, Löbau Klaus-Peter Wegera, Bochum Jörn Weinert, Halle Peter Wiesinger, Wien Hans Wiesmeth, Dresden Christian Winter, Leipzig Christine Wulf, Göttingen Julia Zernack, Frankfurt (Main) Arne Ziegler, Graz

Vorwort Hans Ulrich Schmid zum 26. Dezember 2017 Die Würdigung eines Wissenschaftlers gilt in erster Linie dem Beitrag in seinem Fach in der Lehre und in der Forschung, seiner Mitwirkung in fachspezifischen und fächerübergreifenden Institutionen der Forschung und der Wissenschaftslenkung. Und in zweiter Linie dem, was ihn außerhalb seines engeren Fachs geprägt und angetrieben hat. Beide Linien laufen in dem Menschen zusammen, hier: Hans Ulrich Schmid. Seine Herkunft aus dem Niederbayerischen offenbart die markante dialektale Prägung, die ihn durch sein Leben begleitet hat, auch in die gleichfalls, aber natürlich anders, dialektal markant geprägte Region Leipzigs. Begleitet hat ihn auch bis heute die Liebe zur Musik, auch in einzelnen Forschungsbeiträgen, wesentlich gefördert durch seinen Lehrer am Gymnasium Niederaltaich, Konrad Ruhland (1932– 2010), einen seit den 1960er Jahren auch international durch zahlreiche Tonaufnahmen bekannten Experten der Alten Musik und der historisch informierten Aufführungspraxis. Den Auftakt von Hans Ulrich Schmids wissenschaftlichen Publikationen bildet die Regensburger Dissertation von 1984, angeregt von seinem verehrten Lehrer Klaus Matzel (1923–1992). Sie gilt alt- und frühmittelhochdeutschen Bearbeitungen lateinischer Predigten des sog. Bairischen Homiliars. Die Analyse dieses frühen Corpus erstreckt sich nicht nur auf die Überlieferung, sondern alle Bereiche der Sprache, vor allem auf das kaum bearbeitete Gebiet der Syntax. Der Titel der Arbeit indes zeigt eine gewisse barocke Breite: Althochdeutsche und frühmittelhochdeutsche Bearbeitungen lateinischer Predigten des ‚Bairischen Homiliars‘ (Althochdeutsche Predigtsammlungen B, Nr. 2, 3 und 4 und C, Nr. 1, 2 und 3, Speculum Ecclesiae Nr. 51, 52, 53 und 56) (es folgen noch die jeweiligen Untertitel der beiden Bände). War es die Promotionsordnung, die diesen überbordend-mitteilungsgesättigten Titel erzwang? Doch der Fortgang in der Entwicklung des Jubilars zeigt, dass er es auch anders kann. Wenige Jahre später, 1991, veröffentlicht er eine Studie zu einer von ihm entdeckten Predigtsammlung des 13. Jahrhunderts. Den Handbuchartikel dazu, aus des Jubilars ureigenster Feder, bietet das große Marienlexikon in Bd. VI, 1994. Unmittelbar nach dem Artikel Schmerzensmutter folgt einer mit dem Titel Schmids bairische Predigtsammlung. „Welch eine superbia!“, möchte man unter Rückgriff auf den Sündenseptenar rufen, hat Schmid doch keine einzige Zeile der Predigten selbst geschrieben! Und doch erscheint dieser Artikel mit höchster kirchlicher Approbation: Herausgeber des Marienlexikons ist, neben Remigius Bäumer, seine Eminenz Leo Kardinal Scheffzyk. Vor der nächsten Karrierestufe steht eine Arbeit, die die Verbundenheit Schmids mit seinem Arbeitsort Regensburg dokumentiert, die Herausgabe der mittelalterli-

DOI 10.1515/9783110526585-202

X | Vorwort chen deutschen Inschriften in Regensburg (1989): Die epigraphischen Texte, dazu Laut- und Formenlehre, Syntax, Onomastik wie auch die Einbettung in die Kulturgeschichte der Stadt sind der Gegenstand – und auch der Denkmalschutz kann angesichts des zum Teil desolaten Zustands der Denkmäler dankbar sein für die Sicherung der im Abgasdunst dahinsiechenden Zeugnisse. Von 1988–2003 ist Schmid Mitarbeiter am Bayerischen Wörterbuch, an dem Langzeitvorhaben der Bayerischen Akademie in München. Doch neben seinen Dienstverpflichtungen schreibt er auch sein Opus magnum, die Habilschrift, angeregt noch von Klaus Matzel, eine vergleichende Untersuchung zu Herkunft, Entwicklung und Funktion des althochdeutschen Suffixes -lîh, die die Göttinger Akademie in die Studien zum Althochdeutschen aufnimmt (1995, gedruckt 1998). Gegen Ende dieser Zeit stehen einige Lehrstuhlvertretungen, doch die Bindung an Regensburg bleibt erhalten, durch die Familie, durch Freunde, aber auch durch eine semiprofessionelle Band, in deren Programmen Irish Folk, aber auch manch Mittelalterliches eine besondere Rolle spielt. Durchgängiges Kennzeichen vom Schmids Arbeitsweise ist, dass er immer wieder mit hoher Professionalität die mittelalterlichen Handschriften als unmittelbare Zeugnisse und Quellen der historischen Sprachwissenschaft heranzieht und dabei oftmals überraschende Funde macht: zu Hohe-Lied-Übersetzungen, zu Autoren wie Freidank und dem Marner, zu frühen deutschen Texten der Frauenfrömmigkeit im Kloster Admont, zu Predigten oder zur Fachliteratur. Als in der Universitätsbibliothek Leipzig ein Fragment des Heliand aus dem 9. Jahrhundert auftaucht, ist es Schmid, der dem Fund, den sogar die FAZ und die Süddeutsche Zeitung würdigen, seine historischen Konturen gibt. Fachsprachen sind ein von unserem Jubilar intensiv, auch in der Lehre, bestelltes Feld: Recht, Bergbau, Fechtkunst, der Gebrauchswortschatz in einem oberpfälzischen Pfarrhaushalt oder in den Aufzeichnungen eines Nürnberger Henkers gehören dazu. Aus dieser Beschäftigung heraus ist auch das Buch über die Historischen deutschen Fachsprachen (2015) entstanden, entwickelt im Zusammenhang von Vorlesungen und Seminaren an der Universität Leipzig. Man merkt richtig, wie der Verfasser die Vielfalt des Materials genussvoll vor dem Leser und seinen Studierenden ausbreitet. So führt er etwa einen Leipziger Chirurgietraktat des 14. Jahrhunderts an und zitiert daraus unter anderem anschaulich, wie man in einer blutenden Kopfverletzung durch Tastbefund erhebt, ob die Schädeldecke durchbrochen ist. – Auf die Verwendung im Studium zielt auch die Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, die, seit 2009 als Studienbuch bewährt, jetzt schon in der 3. Auflage erschienen ist (2017). Immer wieder kommen regionalsprachliche Themen in den Blick, während der Regensburg-Münchener Zeit vorrangig solche aus dem bayerischen Raum, später aus dem östlichen Mitteldeutschland. Dazu gehört, neben zahlreichen Einzelstudien, auch der zusammen mit Luise Czajkowski und Corinna Hoffmann herausge-

Vorwort | XI

gebene Sammelband zu den Ostmitteldeutschen Schreibsprachen im Spätmittelalter (2007). Dass Wissenschaft Lust bereiten kann, wenn man sie nur recht vorstellt, zeigt Schmids Begabung in der Formulierung seiner Werktitel, nicht nur in Schmids altbairischer Predigtsammlung. Überlegungen zu dialektalen Deverbativa im Bairischen erscheinen unter der Überschrift Fressads und Saufads (2000), Wortverschmelzungen in der Gegenwartssprache untersucht er unter dem Titel Zölibazis Lustballon (2003), das fachsprachliche Vokabular der bayerischen Sexualfolklore erscheint unter der (gekonnt trochäisch rhythmisierten) Überschrift Nageln, Schnaxeln, Messe lesen (2012). Die Historische Sprachwissenschaft verfolgt Schmid in einer staunenswerten Breite, die die Bezeichnung „Germanistisch“ noch im ursprünglichen Wortsinn rechtfertigt. Man könnte sie mit gutem Recht bezeichnen als komparative historische Linguistik der germanischen Sprachenfamilie. Die altgotländische Rechtsterminologie, der gesamte Raum der skandinavischen Sprachen und der Literatur sind (neben dem Deutschen) Gegenstände, die Schmid mit hoher Kompetenz bearbeitet, hinter der auch immer die Liebe zur Sache steht. Und dem geliebten Island, neben Irland ein immer wieder besuchtes Sehnsuchtsziel, hat er das gegenwartssprachlich ausgerichtete Isländisch-deutsche Wörterbuch samt Formenlehre gewidmet, das jetzt schon in der zweiten Auflage erschienen ist (2001, 2011). Und schließlich: Die 101 wichtigsten Fragen zur deutschen Sprache (2010), ein kleines Bändchen, in dem sich Wissenschaft in den Dienst der interessierten Öffentlichkeit stellt. Es geht von Phänomenen der Gegenwartssprache aus, erklärt sie und grundiert sie historisch. Ein Büchlein, das sich etwa auch als Geschenk zum Abschluss des Germanistik-Studiums bestens bewährt hat und segensreiche Wirkung entfaltet. Wohl auch deshalb hat es in Freiburg, wo ich wohne, seinen Platz auch in der Bibliothek des Erzbischöflichen Ordinariats (Benutzung freilich nur nach Voranmeldung). Die Berufung Schmids an die Universität Leipzig im Sommer 2003 war ein Glücksfall auch für die Sächsische Akademie der Wissenschaften, die ihn im Jahr 2005 zugewählt hat. Die Ämter und Aufgaben will ich nicht einzeln hervorheben, nur ein besonderes Schmuckstück der Akademie nennen, das Althochdeutsche Wörterbuch, das die Anfänge deutschsprachiger Schriftlichkeit in einem zentralen Corpuswerk sichert und erschließt. Dessen Leitung und Herausgabe hat Schmid 2008 übernommen, die Reihe der bedeutenden Vorgänger Theodor Frings, Elisabeth Karg-Gasterstädt, Rudolf Große und Gotthard Lerchner fortsetzend. Unter Schmids Leitung und Mitwirkung hat die hervorragend organisierte Arbeitsstelle Bd. V ab Lfg. 15, Bd. VI und von Bd. VII gegenwärtig bereits sechs Lieferungen erarbeitet. Im Jahr 2013 hat er überdies die Leitung der Interakademischen Kommission für das Vorhaben Die deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit übernommen, an dem insgesamt acht Akademien beteiligt sind. Und schließlich ist die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Hans Ulrich Schmid zu großem Dank

XII | Vorwort verpflichtet dafür, dass er als Korrespondierendes Mitglied in der Interakademischen Kommission für das Mittelhochdeutsche Wörterbuch mitarbeitet. So viel in aller Kürze zu Schmids Wirken in der Forschung, der Lehre und den akademischen Institutionen. Seine Arbeiten präsentiert das Verzeichnis am Ende des Bandes, freilich nur als eine Art Zwischenbilanz, die in ein paar Jahren aktualisiert werden sollte. Zum Schluss noch ein persönliches Wort: Hans Ulrich Schmid und ich haben uns kennengelernt im Wintersemester 1984/85, also vor 33 (!) Jahren. Er war damals junger Assistent bei Klaus Matzel in Regensburg, ich war gerade dorthin berufen worden. Ich bot unter anderem einen Lektürekurs zu Otfrids Evangelienbuch an. Teilgenommen haben an diesem Seminar eine Studentin, die kein Wort Althochdeutsch verstand, und – Hans Ulrich Schmid, der interessiert war, was denn der neue Literaturwissenschaftler auf dem Feld des Althochdeutschen, das in Regensburg bis dato ausschließlich von Klaus Matzel und den Seinen bestellt wurde, zu bieten hätte. Die Veranstaltung wurde zu einem nicht nur hochschuldidaktischen Experiment am Anfang einer langen Freundschaft. Damals hätte sich niemand vorstellen können, welchen Weg unser HUS bis heute zurücklegen würde. Deshalb, lieber Uli: eine Verneigung vor dem, was Du geleistet hast, viele gute Wünsche, auch namens der Herausgeberinnen, Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes für Deinen zukünftigen Dienst in der Wissenschaft, vor allem aber auch für Dein weiteres Leben, dessen Fülle Du froh und in guter Gesundheit genießen mögest. Nikolaus Henkel, Freiburg

Danksagung Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, für die intensive produktive Zusammenarbeit und für die vielen wertvollen Ratschläge und Hinweise. Wir danken Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Lingua Historica Germanica sowie Maxi Krause, die uns auf diese Reihe hingewiesen hat. Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des De Gruyter-Verlags, Olena Gainulina, Jacob Klingner und Maria Zucker, für die freundliche und geduldige Betreuung während der Arbeit an dieser Festschrift. Die Philologische Fakultät der Universität Leipzig hat die Entstehung dieser Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss gefördert, wofür wir uns ebenfalls bedanken. Luise Czajkowski, Sabrina Ulbrich-Bösch und Christina Waldvogel

Inhalt Teil I Sprachwandel in Morphologie, Wortbildung und Syntax  Alfred Lameli  Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen | 3 Maxi Krause  Hilfsverbwechsel (Perfektbildung) in neuerer Zeit? | 19 Frank Heidermanns  Genug ist schon zu viel. Ein spezieller Präfixverlust im Althochdeutschen  | 35 Monika Hanauska  Zwischen Innovation und Tradition. Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg | 43 Christiane Gante  Pseudopartizipien im Wandel der Zeit | 57 Albrecht Greule  Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz. Aus der Werkstatt des Mittelhochdeutschen syntaktischen Verbwörterbuchs | 67 Norbert Richard Wolf  Der Mensch geht, der Teufel fährt. Zum semantischen und syntaktischen Verhalten einiger Fortbewegungsverben | 77 Ursula Götz  Bleibt das Kind schon längere Zeit munter… Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert | 91 Rosemarie Lühr  Begründete Evidenz bei Otfrid | 103

XIV | Inhalt

Teil II Sprachwandel in Lexik und Lexikographie  Jörg Riecke  Zur Geschichte deutscher etymologischer Wörterbücher | 119 Andreas Deutsch  Spannende Späne. Beispiele zum Wortbedeutungswandel aus der Werkstatt des Deutschen Rechtswörterbuchs | 135 Stephan Müller/Claudia Wich-Reif  Vom senen zur Sehnsucht | 147 Michael Prinz  Zur Überlieferung von ahd. riuti und riutī | 159 Volker Harm  Bedeutungswandel paradox. Zur Entwicklung der Intensivierer fast, ganz, recht | 169 Brigitte Bulitta/Almut Mikeleitis-Winter  Vom Schweigen der Mönche. Volkssprachige Bestandteile im Signa-loquendiKapitel der Consuetudines Hirsaugienses und das Althochdeutsche Wörterbuch | 181 Rolf Bergmann/Stefanie Stricker  Althochdeutsche Monatsbezeichnungen in Einhards Karlsvita, Kalendarien und Sachglossaren. Überlieferungsgeschichte und Wortschatzgeschichte | 213

Teil III Wandel in Fachsprachen  Britt-Marie Schuster  Chanstu dez nit, so pist ein lap. Beobachtungen zum Gebrauch des (generischen) du in historischen Fachtexten | 241 Simone Schultz-Balluff  Konstanz und Varianz in der Fachsprache. Ein Modell zur Erschließung des fachsprachlichen Gehalts am Beispiel der Waidmannssprache | 253

Inhalt | XV

Alfred Wildfeuer/Nicole Eller-Wildfeuer  Einen lehrstuhl ausgebessert und eine bettstatt rebarirt. Analyse einer historischen Fachsprache des Schreinerhandwerks | 271 Christian Braun  Fachsprachen im Wandel der Zeit. Ausgewählte Überlegungen | 281 Andreas Nievergelt  Vom Elefanten zum Alten, vom Alten zum Sprinter. Onomasiologischer Wandel auf dem Schachbrett | 293

Teil IV Text(sorten)wandel  Beat Siebenhaar  Sprachgeschichtliche Aspekte der Verwendung von Bildzeichen im Chat | 307 Claudine Moulin  Textwandlungen – Eucharius Rösslin, Der Swangern Frauwen und hebammen Rosegarten als sprachhistorische Quelle | 319 Peter Ernst  Handlungsschemata im Wiener Niederlagsprivileg von 1281 | 337 Jörg Meier  Sprachwandel in der Anzeigenwerbung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert | 349

Teil V Regionaler Sprachwandel  Thomas Klein  Ostmitteldeutsch im 13. Jahrhundert | 363 Sabine Griese  Ein Markolf aus Leipzig? Die deutsche Prosafassung von Salomon und Markolf in Leipzig, UB, Rep. II 159 | 373

XVI | Inhalt

Norbert Nagel/Robert Peters  Die mittelniederdeutsche Fassung des Leipziger Schützenbriefes von 1497. Ein Einzelfall der niederdeutschen Inkunabeldrucke. Kommentar ‒ Sprachuntersuchung ‒ Edition  | 389 Anthony Robert Rowley  Wie schwand das Präteritum im Bairischen? | 407 Ludwig Zehetner  Oanagg, urass, sturaxad. Formenvielfalt bairischer Adjektive | 419 Dieter Stellmacher  Die flämingischen Eigennamen in den Sprachwandelprozessen einer südmärkischnordobersächsischen Sprachlandschaft | 431

Teil VI Handschriftenkunde und Geschichte  Christoph Mackert  Ein neues Zeugnis deutschsprachigen Kirchengesangs aus der Zeit der Reformation. Das Chorhandschrift-Doppelblatt Deutsche Fragmente 82 der Universitätsbibliothek Leipzig | 441 Katrin Sturm  Deutschsprachige Glossen-, Glossar- und Vokabularhandschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Eine Bestandsaufnahme. Zugleich eine Ergänzung zum Handschriftenkatalog von Pensel und Stahl (1998) | 459 Enno Bünz  Das Sprachenproblem in der mittelalterlichen Pfarrseelsorge. Beobachtungen in den Lausitzen und anderen Landschaften der Germania Sacra | 469 Manfred Rudersdorf  Beharrung und Wandel in der akademischen Lehre. Zur Institutionalisierung der humanistischen Bildungsreform an der „vorklassischen“ deutschen Universität | 481

Publikationsverzeichnis Hans Ulrich Schmid  | 493

| Teil I

Sprachwandel in Morphologie, Wortbildung und Syntax

Alfred Lameli

Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen 1 Einführung In den sprachhistorischen Arbeiten zu den deutschen Diminutiven ist en passant immer wieder auf eine gewisse Nähe der Diminutive zu weiblichen Referenten hingewiesen worden. Nach Polzin (1901, 11) ist es in mhd. Zeit ein „kosender Ton, der insbesondere alles, was mit der Frau zusammenhängt, in das Deminutivum zu rücken pflegt.“ Hieraus entwickelt sich eine Motivik, die auch im Frühneuhochdeutschen noch vital ist. Denn, wie Polzin (1901, 101) weiter ausführt, teilen die frühneuhochdeutschen Dichter geradezu die „Manier, die Körperteile der Geliebten [...] zu deminuieren“. Ähnliches berichtet Stocker (2005, 206–207) vom mädchenliterarischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, der häufig auf die Verwendung von Diminutiven zurückgreife. Etwas prägnanter mögen demgegenüber solche Fälle sein, in denen sich eine Asymmetrie zwischen weiblichen und männlichen Referenten äußert. Anführen ließe sich das als allgemeine Anrede im 18. Jahrhundert pragmatikalisierte Diminutiv Fräulein, das kein gleichwertiges männliches Pendant kennt (Besch 1998, 40). Ergänzend kann auf das Diminutiv Mädchen hingewiesen werden (Schmid 2017, 240), dem für Kinder und Jugendliche männlichen Geschlechts gleich mehrere nicht-diminuierte Benennungsformen gegenüberstehen, wie Knabe, Bub oder Junge. Zugleich fällt auf, dass Diminuierungen weiblicher Referenten bisweilen mit Abwertungsprozessen einhergehen, ohne dass gleich gerichtete Entwicklungen im Wortfeld ‘Mann’ zu beobachten wären (Nübling 2011). Hier spiegeln sich exklusiv weibliche Bewertungsmaßstäbe wider, die auch in anderen sprachlichen Kontexten, wie z. B. festen Wendungen (Hufeisen 1993), aufgefallen sind und neben der formalen auch eine funktionale Besonderheit offenlegen. Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, inwieweit sich in der Geschichte des Neuhochdeutschen (hier 1600–1900) über solche Einzelbeobachtungen hinaus systematische Unterschiede in der Diminuierung männlicher und weiblicher Referenten nachweisen lassen. Am ehesten wird dabei mit semantischen Unterschieden zu rechnen sein. Bei der Diminuierung erhält die Basis „das Merkmal ‘klein’, wobei klein Bedeutungskomponenten wie ‘jung’, ‘niedlich’, ‘fein’, ‘bescheiden’, ‘unbedeutend’ umfassen kann“ (Stricker 2000, 236; vgl. auch Wellmann 1975, 131). Pragmatisch eignen sich Diminuierungen daher in besonderer Weise zur Charakterisierung von Personen oder Figuren. Sie sind geeignet, eine Art

DOI 10.1515/9783110526585-001

4 | Alfred Lameli Wert- oder Geringschätzung zu signalisieren (Kalverkämper 1978, 287). Auch die Markierung von Zugehörigkeit fällt in diesen Rahmen. Vor allem aber ist eine hypokoristische Funktion herauszustellen, wie sie vielleicht in der Diminuierung von Eigennamen am sichtbarsten wird.1 In den einschlägigen Werken zur Wortbildung sind Unterschiede in der Diminuierung von männlichen und weiblichen Referenten jedoch bislang unberücksichtigt geblieben (Fleischer/Barz 2012; Erben 2006; Ettinger 1980). Das mag zu einem Gutteil auch dem Umstand geschuldet sein, dass semantische Analysen nicht selten am diminuierten Einzelwort durchgeführt wurden, und zwar v. a. dann, wenn auf die Einträge von Wörterbüchern zurückgegriffen wurde (z. B. Wellmann 1975, 129). Hierauf macht Stricker (2000, 244) aufmerksam und propagiert eine eingehendere Berücksichtigung des Kontexts, der „[a]llein [...] eine semantische Festlegung des mit der Diminution Gemeinten“ ermöglicht. Dieser Beitrag wird zeigen, dass sich die im Fokus stehenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern insbesondere unter stärkerer Beachtung der semantischen und syntaktischen Kontexte feststellen lassen. Als Referenzrahmen werden hier die Verwandtschaftsbezeichnungen des Neuhochdeutschen ausgewählt. Diese Bezeichnungen lassen sich einem definierbaren Wortfeld zuordnen, das semantisch kohärente Paare unterschiedlichen biologischen Geschlechts intergenerationell differenziert. Nach Nübling et al. (2013, 144) lässt sich dieses Wortfeld für das Neuhochdeutsche wie in Abb. 1 skizzieren. Verwandtschaft selbst ist eine der zentralen, vielleicht sogar universellen Kategorien in der sozialen Organisation menschlicher Gemeinschaften. Damit kommt auch den Bezeichnungen von Verwandtschaft ein zentraler Stellenwert zu. Insgesamt liegen jedoch nur wenige Arbeiten vor, die sich im Deutschen mit diesem Gegenstand eingehender auseinandersetzen (z. B. Christen 1998, Eder 2004, Günthner/Zhu 2017). Fest steht eine enorme Stabilität der engsten Verwandtschaftsbezeichnungen seit ahd. Zeit (Nübling et al. 2013, 143). Ganz allgemein handelt es sich nach Greenberg (1990 [1980], 310–311) um „perhaps the most highly organized part of the lexicon“. Löbner (1985, 295) erkennt in ihnen darüber hinaus „[t]he most concrete examples“ relationaler Nomen. Gerade das qualifiziert sie für Modifikationen des Typs ‘Zugehörigkeit’ und ‘Kleinheit’, die für Diminutive wie gesehen typisch sind. Sprachhistorisch äußert sich dies z. B. in solchen Bezeichnungen, die auf Diminutive zurückführbar sind (z. B. nhd. Enkel < ahd. ano ‘Großvater’ + DIM). Für die vorliegende Untersuchung ist daher mit Stocker (2005, 206) „eine hohe Präsenz diminutiver || 1 Beide Funktionen, die Zugehörigkeit markierende, wie auch die kosend-schmeichelnde, wurden als eigentliche Motivation der Diminutivsuffixe erwogen. So setzt z. B. Wrede (1908) einen Entwicklungspfad an, auf dem ursprünglich patronymische Suffixe hypokoristisch funktionalisiert und schließlich als allgemein diminuierende Suffixe auch für sächliche Referenten verwendbar wurden. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Schmuck (2009) zur Grammatikalisierung des -ing-Diminutivs.

Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen | 5

Bildungen in Verwandtschaftsbezeichnungen“ anzunehmen, die es in den folgenden Kapiteln zu prüfen gilt. Großmutter

Tante

Kusine

Onkel

Cousin

Nichte

Vater

Bruder

Neffe

Großvater

Mutter

Ego

Onkel

Schwester

Sohn

Tochter

Enkel

Enkelin

Neffe

Tante

Cousin

Kusine

Nichte

Abb. 1: System der Verwandtschaftsbezeichnungen im Neuhochdeutschen nach Nübling et al. (2013, 144); Kursivsatz markiert männlichen Sexus, hellere Grauschattierung zeigt Erweiterungen von Verwandtschaftsrelationen seit althochdeutscher Zeit an

2 Diminuierte Verwandtschaftsbezeichnungen 2.1 Erster Einblick Die weitere Betrachtung stützt sich auf die Daten des Deutschen Textarchivs (DTA). Das DTA ist das zurzeit umfangreichste Referenzkorpus des Neuhochdeutschen zwischen 1600 und 1900 (2.441 Werke mit 142 Mio. Wortformen zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Dez. 2016). Ausgewertet werden die Lexempaare Vater/Mutter, Bruder/Schwester und Sohn/Tochter in ihren diminuierten Varianten. Die Untersuchung greift damit das in Abb. 1 dargestellte Kernsystem auf. Hinsichtlich der Diminuierung werden im DTA die neuhochdeutschen Hauptsuffixe -lein, -gen, -chen selektiert (vgl. Schebben-Schmidt 1996). Insgesamt sind im Untersuchungszeitraum 2.775 Belege zu finden, davon 1.034 für männliche Referenten, 1.741 für weibliche. Auf dieser Grundlage lässt sich die vermutete Asymmetrie zwar zunächst bestätigen, dass die Verhältnisse jedoch im historischen Verlauf zu differenzieren sind, verdeutlicht Abb. 2.

6 | Alfred Lameli 17. Jahrhundert

18. Jahrhundert

19. Jahrhundert

25.5

freq. / 1 mill. tokens

m

w

20

20

20

10

10

13.7 10.1 10

0.1

1.9

1.3

2

0.5

0

2.2

1.4

0.9

2

Vater Mutter

Bruder Schwester

Sohn Tochter

3.6

2.8

0

0.7

1.3

2.5

1.8

0 Vater Mutter

Bruder Schwester

Sohn Tochter

Vater Mutter

Bruder Schwester

Sohn Tochter

Abb. 2: Durchschnittliche Häufigkeit von Diminuierungen ausgewählter Verwandtschaftsbezeichnungen im Neuhochdeutschen pro 1 Mio. tokens; männliche (m) vs. weibliche (w) Referenten

Zunächst fallen die bisweilen sehr hohen Anteile für die Kinderbezeichnungen ins Auge, die ausgehend von der Grundsemantik der Kleinheit nachvollziehbar sind. Bei den männlichen Referenten ist zudem in allen Jahrhunderten ein Anstieg der Diminutive entlang der Staffelung: Vater < Bruder < Sohn erkennbar. Daraus lässt sich vorläufig schließen, dass es das Merkmal ‘klein’ in einem auf den biologischen Entwicklungsstand abzielenden Sinn ist, das bei dieser Verwandtschaftsgruppe vorrangig über die Diminutivsuffixe transportiert wird. Abgesehen von diesen Kinderbezeichnungen im 17. Jahrhundert zeigt sich für die männlichen Referenten eine bemerkenswerte Stabilität, die dann im 18. und 19. Jahrhundert für alle Kategorien gilt. Hingegen steigen die Werte bei den weiblichen Referenten im 19. Jahrhundert sehr deutlich an. Bereits ab dem 18. Jahrhundert überwiegen dabei die diminuierten Elternbezeichnungen die Geschwisterbezeichnungen, was sich gerade nicht mit der Semantik der Kleinheit erklären lässt. Es lohnt daher, die einzelnen Bezeichnungsgruppen im Weiteren etwas genauer in den Blick zu nehmen. Abb. 3 liefert hierfür eine Gesamtübersicht. Für die Kinderbezeichnungen ist in Abb. 3 ein eindeutiges Übergewicht an Diminuierungen der Söhne während des 17. Jahrhunderts festzustellen, das sich zum 19. Jahrhundert hin umkehrt; dann überwiegen die Diminuierungen der Töchter, während Diminuierungen der Söhne nur noch selten zu finden sind. Anders verhält es sich bei den deutlich seltener belegten Elternbezeichnungen. Hier überwiegen die Diminuierungen für die Mütter konstant, wobei sich nach 1750 eine deutliche Verstärkung einstellt. Dieser Zeitpunkt ist deswegen bemerkenswert, weil sich hier der Übergang vom -lein- zum -chen-Suffix vollzieht (vgl. Schebben-Schmidt 1990; Lameli i.Dr.), der den wichtigsten Umbruch in der Geschichte der Diminutive im Neuhochdeutschen beschreibt.

Zur Diminuierung männlicher und weiblicher Verwandtschaftsbezeichnungen | 7

100

A Kinder

B Eltern Tochter

freq. / 1 mill. tokens

C Geschwister 10

Mutter 6

Sohn

75

Schwester

Vater

8 6

4

50

Bruder

4 25

2

0

0

2

1600

1700

1800

1900

0 1600

1700

1800

1900

1600

1700

1800

1900

Abb. 3: Durchschnittliche Häufigkeit diminuierter Verwandtschaftsbezeichnungen im DTA2

Wiederum anders verhält es sich bei den Geschwisterbezeichnungen, bei denen sich die Ausschläge wesentlich stärker überlagern als bei den Elternbezeichnungen. Dabei ist festzustellen, dass der zeitliche Verlauf von Bruder-Diminuierungen dem Verlauf der Schwester-Diminuierungen zeitlich vorgelagert ist.3 Auch hier lassen sich wieder zwei Phasen mit einer Grenze um 1750 ansetzen. An dieser bei allen Bezeichnungsgruppen festzustellenden Zweiteilung, die nicht zuletzt auch wegen der teilweise sehr geringen Häufigkeiten der Diminutive günstig ist, orientiert sich die weitere Beschreibung.

2.2 Phase 1: 1600–1750 Kinderbezeichnungen: Die Kinderbezeichnungen der ersten Phase sind die im DTA mit Abstand am häufigsten diminuierten Verwandtschaftsbezeichnungen (♂ 537, ♀ 362). Die hohe Frequenz v. a. im 17. Jahrhundert erklärt sich aus einer besonders häufigen Erwähnung von Kindern in Leichenpredigten, wie in den Beispielen (1–3) gegeben.4 Daneben sind allgemeine theologische Schriften für die hohe Zahl an Diminutiven verantwortlich, ein weiterer Teil stammt aus der Belletristik (4).

|| 2 Um die Verlaufsmuster besser vergleichen zu können, wurde auf eine einheitliche Skalierung der y-Achse verzichtet. 3 Dieser Befund ist statistisch signifikant. Im Detail handelt es sich um einen Verzug von drei Dekaden (Cross Correlation Analysis, lag(3): r(28) = ,479, p = ,009). 4 Auf einen merklich hohen Anteil an Diminutiven in religiöser Literatur verweist auch Wellmann (1975, 133, vgl. auch Wegera/Solms 2002, 165).

8 | Alfred Lameli (1)

allda vorgedachter jhr Ehman vor vier Jahren sie erfreyet / vnnd mit jhr durch Gottes Segen zwey Söhnlein erzeuget hat (Schmuck 1611, 19)5 (2) vnser allerliebster Heyland [...] tröste vnd stercke den Herren Gevattern / sampt desselben hertzliebsten Töchterlein Hedwigin (Seilerus 1605, 13) (3) wann er einmahl sollte sterben / ob sie sich auch seiner zweyen kleinen Töchterlein wollte annemmen (Rupflinus 1616, 35) (4) Auff das also sein Söhnlein ein Exempel hette / wie er jhn im Alter auch als einen Vatter vnterhalten solte. (Melander 1605, 106)

Die Diminutive dienen in Phase 1 – neben der allgemeinen Andeutung der Kleinheit (1) – zur Markierung von Zugehörigkeit (4), womit die wesentlichen Grundfunktionen des Diminutivs zum Ausdruck kommen. Ebenfalls erwartungsgemäß sind die Diminutive zudem in emotionalisierende Kontexte eingebettet, was sicher auch textsortenbedingt ist. In (2) mag dies auch rhetorisch motiviert sein, indem das komparierte Adjektivattribut das diminuierte Nomen kontrastiert. Im Ergebnis wird dadurch die zugeschriebene Eigenschaft umso bedeutender, was dem Diminutiv eine pragmatische Funktion verleiht. Solche Kontexteinbettungen sind semantisch nicht ohne Relevanz, verleihen sie doch der Diminuierung bei dieser Bezeichnungsgruppe auf Dauer eine positive Konnotation. So ist auch nicht verwunderlich, dass das häufigste Adjektiv unter den Linksattributen eine flektierte oder wie in (2) komparierte Form von lieb ist (Partizipialformen ausgeschlossen). Wie Tab. 1 ausweist, tritt eine solche Form bei praktisch jeder fünften Diminuierung auf, so dass sich der Eindruck einer weitgehend festen Setzung einstellt. Signifikante Unterschiede sind hier wie auch bei den übrigen Attribuierungen nicht auszumachen.6 Diese affektive Komponente mag verantwortlich dafür sein, dass das Diminutiv wie in (3) selbst dann gesetzt wird, wenn Kleinheit und Zugehörigkeit bereits im Syntagma ausgewiesen sind (seiner zweyen kleinen Töchterlein). Zugleich wird daran die Eignung der Diminutive deutlich, der gegebenen Aussage eine Bedeutungsnuance oder -erweiterung zu verleihen. In jedem Fall kommt es zur Überlagerung von Bedeutungskomponenten, die dem Schreiber ein größeres Gestaltungs- und dem Hörer ein umfassenderes Interpretationspotential ermöglicht. Dass sich in den angesprochenen Fällen keine wesentlichen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Referenten finden lassen, spricht für die primär textpragmatische Funktion der Diminutive in Verbindung mit den gesehenen Adjektivattributen.

|| 5 Literaturanagaben sind über das DTA aufzulösen: http://www.deutschestextarchiv.de/list (Stand: 5.4.2017). 6 Kollokationen werden hier und im Folgenden an bis zu drei Positionen links des Belegworts in der Nominalphrase berücksichtigt. Die prädikative Stellung ist vorliegend für die Adjektive unerheblich und bleibt unberücksichtigt. Namenappositionen werden nur an der ersten Position rechts des Belegworts berücksichtigt. Zur Überprüfung statistischer Signifikanz wurden χ2-Tests durchgeführt. Es gilt: *** = per), V+el, V+unge sowie V+at hingegen spielen eine untergeordnete Rolle (vgl. Tabelle 1). Auch im Vergleichskorpus Bln stellen V+e und V+t die wichtigsten Wortbildungsmodelle dar, wenngleich insbesondere bei V+e ein quantitativer Unterschied gegenüber Eb zu verzeichnen ist. Zu den in Bln auftretenden V+e-Bildungen zählen beispielsweise gesmid(e), glöbe, gedinge, rede oder hilffe, also vorwiegend Lexeme, bei denen von einer Lexikalisierung der Gesamtbildung ausgegangen werden kann. Der Großteil dieser Bildungen hat zudem eine Entsprechung in Eb, es handelt sich hierbei also vor allem um Übernahmen aus der Vorlage. Dies wird gestützt durch die Befunde aus dem zusätzlich analysierten Teilkorpus Bln, in dem das Wortbildungs|| 14 Eb: Ir hêiligen sêla . irdir dúrhtan bírt ín gótes mínna. stûret míh mít íuveren gûoten bíliden. uuîe ír dîe bíderbechêit ána uîenget (Vers. 31, fol. 16r, 4–8); Bln: Jr heiligen selen die durchtän sint in gottes minne stûrent mich mit ûweren gůten jnbildungen wie ir bÿ der ersten anvienget vnd wie ir da her ûch behalten habent (Vers. 31, fol. 5v, 39–41). 15 Aus etymologischer Perspektive betrachtet sind für das Suffix -e, wie es bereits bei Williram auftritt, unterschiedliche Formierungswege zu berücksichtigen. Es kann einerseits ursprünglicher Bestandteil von Substantivwortstämmen (ahd. a-, i-, o- und n-Stämme) sein, zum anderen aber auch auf das explizite Derivationssuffix ahd. -ī zurückgehen; vgl. Brendel et al. (1997, 69–70). 16 Auf eine zu Willirams Zeit bereits eingeschränkte Produktivität dieses Modells weist die Tatsache hin, dass nach Bognar Fissel (1978, 85–86) lediglich die Bildung tûiht (Vers. 71, 33v, 11) einen Erstbeleg bei Williram darstellt, alle anderen Bildungen auch in älteren und zeitgleichen Texten belegt sind.

Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg | 49

modell zwar mit 35 tokens belegt ist, die jedoch nur in neun verschiedenen Bildungen auftreten. Hierunter fallen Substantive wie lere, botte, wissage oder predige, die als lexikalisierte Bildungen betrachtet werden können. Tab. 1: Deverbale Suffixderivation WB-Modell Eb types

Eb tokens

Bln VK17 types

Bln VK tokens

Bln TK18 types

Bln TK tokens

are/er

V+are/er

5

6

5

9

8

24

at

V+at

1

2

0

0

0

0

31

Affixe

19

e

V+e

60

19

30

9

35

ede

V+eda/ede 2

5

3

5

7

17

el

V+el

5

7

3

4

0

0

nisse20

V+nisse

0

0

0

0

5

6

t

V+t

12

21

9

17

5

9

unge

V+unge

2

2

7

7

23

31

Auch das häufige Auftreten von deverbalen Bildungen mit dem Suffix -t im Vergleichskorpus ist auffällig, da die Wortbildungsproduktivität dieses Suffixes bereits im Mittelhochdeutschen als eingeschränkt gelten kann (vgl. Klein et al., Mhd. Gr. 2009, § S 191). Ein Blick auf die Belege (z.B. geschrifft, kunft oder vart) legt wie bei V+e die Vermutung nahe, dass es sich hierbei nicht um neue Wortbildungen, sondern um bereits verfestigte Bildungen handelt, die als Ganzheiten abgerufen und in den Text übernommen werden. Bestätigt wird dies einerseits dadurch, dass nahezu alle Bildungen auch in Eb auftreten, zum anderen durch das Teilkorpus Bln, in dem lediglich 9 Belege zu 4 verschiedenen t-Bildungen auftreten (geschrift, geburt, zůversiht, dienst). Ein moderater Ausbau im Vergleichskorpus Bln ist für das Modell V+ung(e) (z. B. insprechung, pflantzung oder merckung) zu konstatieren, das im Ebersberger Korpus nur mit 2 Belegen (uuárnunge, mánunge) vertreten ist. Deutlicher sichtbar wird dieser Ausbau im Teilkorpus Bln, in dem auf die ersten 50 Versikel 31 Belege zu 23 verschiedenen Bildungen kommen. Der relativ geringen Anzahl an Belegen nach dem Modell V+ede im Vergleichskorpus Bln (5 Belege zu 3 Bildungen: gezierde, froͤ de, geberde), die weitgehend mit den Belegen in Eb korrespondiert (5 Belege zu 2 Bildungen: ziereda, gescaffeda), || 17 VK: Vergleichskorpus. 18 TK: Teilkorpus (Vers. 1‒50). 19 Für Bln wurden auch die apokopierten Bildungen mit dem Suffix -e berücksichtigt. 20 Als allomorphe Varianten: -nist und -nûß.

50 | Monika Hanauska steht eine deutliche Belegsteigerung im Teilkorpus Bln gegenüber: Hierin vertreten sind insgesamt 17 tokens zu 6 types (z. B. gesetzte, erbermde oder begirde). Nur im Teilkorpus Bln vertreten sind deverbale Bildungen mit dem Suffix -nis (z. B. gehûgniss, bekûmernis).

4.2.2 Deadjektivische Suffixderivation Im Bereich der deadjektivischen Substantivierung dominiert in Eb nahezu konkurrenzlos das Modell A+e mit insgesamt 52 Belegen zu 26 verschiedenen Bildungen. Weitere Wortbildungsmodelle mit den Suffixen -tuom, -nisse sowie -heit/-echeit sind hierbei von randständiger Bedeutung (vgl. Tabelle 2). Dieser Befund wird weitgehend durch das Vergleichskorpus Bln gestützt, wenngleich hier nur noch 35 Belege zu 20 Bildungen zu verzeichnen sind. Demgegenüber finden sich jedoch zunehmend Bildungen nach dem Modell A+heit/keit (14 tokens/13 types). Insbesondere die Verwendung des Suffixes -keit findet in Eb keine Entsprechung, ist jedoch in Bln mit 10 Belegen vertreten, z.B. in strengkeit (Vers. 39), bítterkeit (Vers. 20) und schallberkeit (Vers. 22). Keine Rolle mehr spielt das Modell A+ede, das auch im Ebersberger Korpus nur peripher (iúngede, mârede) vertreten ist. Der Blick in das Teilkorpus Bln relativiert diese Befunde. Das Wortbildungsmodell A+e ist in den ersten 50 Versikeln mit lediglich 7 Belegen zu 4 verschiedenen Bildungen vertreten (hoͤ hi, hoͤ sti, hitze und schoͤ ny). Einen deutlichen Ausbau erfährt hingegen das Modell A+heit bzw. A+keit. So sind insgesamt 16 Belege zu 9 verschiedenen Bildungen nach dem Modell A+heit und 14 Belege zu 11 verschiedenen Bildungen nach dem Modell A+keit festzustellen. Tab. 2: Deadjektivische Suffixderivation Affixe

WB-Modell

Eb types

Eb tokens

Bln VK types

Bln VK tokens

Bln TK types

Bln TK tokens

e21

A+e

26

52

20

35

4

7

eda/ede

A+eda/ede

2

2

0

0

0

0

heit

A+heit

4

3

4

4

9

16

keit

A+keit

0

0

9

10

11

14

nisse

A+nisse

1

1

1

2

2

5

tuom

A+tuom

4

6

3

4

0

0

|| 21 Für Bln wurden auch die allomorphen Varianten -ÿ, -i, -in sowie die apokopierten Bildungen berücksichtigt.

Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg | 51

4.2.3 Desubstantivische Suffixderivation Von geringer Bedeutung in allen drei Korpora ist die transpositionale Suffixderivation von substantivischer Basis (vgl. Tabelle 3). Als Wortbildungsmodell werden die Modelle N+schaft sowie N+heit genutzt. Trotz der vergleichsweise hohen token-Zahl für das Modell N+heit im Teilkorpus Bln entfallen hierauf lediglich 4 verschiedene Bildungen (gotheit, menscheit, torheit und cristenheit). Als Neuerung tritt lediglich das Suffix -ie im Teilkorpus Bln auf, das allerdings in den ersten 50 Versikeln nur in der Bildung ketzrige vertreten ist. Tab. 3: Desubstantivische Suffixderivation Affixe

WB-Modell

Eb types

Eb tokens

Bln VK types

Bln VK tokens

Bln TK types

Bln TK tokens

heit

N+heit

1

1

1

2

4

19

ie

N+ie

0

0

0

0

1

1

schaft

N+schaft

2

2

1

2

1

4

5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Eb und Bln Eine reine Beschreibung dessen, was in den beiden Textkorpora vorzufinden ist, erscheint wenig aussagekräftig. Die Überlieferungsbeziehungen, die zwischen Eb und Bln mittelbar bestehen, bedingen, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Befunde in Bln auf die Übernahme aus der Vorlage zurückzuführen ist und somit auch Wortbildungsmodelle vertreten sind, deren Produktivität im Frühneuhochdeutschen bereits eingeschränkt ist. Aus diesem Grund empfiehlt sich ein eingehenderer Blick auf die Bildungen, die Abweichungen zu den in Eb überlieferten Lexemen darstellen. Unterzieht man den Befund, dass etwa für das Wortbildungsmodell V+e, das in Eb als ausgesprochen produktiv zu gelten hat, in Bln ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen ist, einer genaueren Untersuchung, wird sichtbar, dass unter Beibehaltung der Wortbildungsbasis konkurrierenden Modellen wie V+ung, V+de oder aber der morphologischen sowie syntaktischen Konversion der Vorzug gegeben wird, wie ausgewählte Beispiele zeigen: Eb: ûzpflanza – Bln: pflantzung (Vers. 68), Eb: fréuue – Bln: froͤ de (Vers. 53), Eb: gebáre – Bln: geberde (Vers. 90), Eb: uuáske – Bln: (das) weschen (Vers. 55). Daneben ist über den Wechsel des Wortbildungsmodells hinaus auch eine Veränderung der Wortbildungsbasis feststellbar, was ein Bestreben nach Präzisierung und Vereindeutigung der Gesamtaussage der betreffenden Textstelle vermuten lässt:

52 | Monika Hanauska Eb: gerúste (‘Rüstzeug’) – Bln: insprechung (‘Entsprechung’)22 (Vers. 58), Eb: gechnúpfe – Bln: fuͤ gung (Vers. 112), Eb: gekôse – Bln: red (Vers. 56). Auch für den Bereich der deadjektivischen Bildungen nach dem Modell A+e kann für Bln ein Rückgang der Belege gegenüber Eb festgestellt werden. Verantwortlich hierfür ist die Stärkung des Suffixes -heit und seiner Allomorphe -keit und -ikeit, wie die folgenden ausgewählten Beispiele belegen: Eb: uuátlîche – Bln: watlicheit (Vers. 14), Eb: tôigene – Bln: tögenheit (Vers. 17), Eb: bíttere – Bln: bitterkeit (Vers. 20), Eb: einuáltige – Bln: einualtikeit (Vers. 22, Vers. 54). Einen deutlich geringeren Einfluss hat das ebenfalls konkurrierende Modell A+nisse, das lediglich bei der Ersetzung von vinstre durch vinsternis(t) (Vers. 46 und 59) zum Einsatz kommt. Neben den Bildungen bitterkeit, tögenheit und vinsternis(t) treten in Bln jedoch auch die nach dem älteren Modell A+e gebildeten Substantive bittere (Vers. 21), tögeni (Vers. 116) sowie vinstre (Vers. 46) auf, die modellgleiche Entsprechungen in Eb haben. Von einer konsequenten Ersetzung dieses Wortbildungsmodells kann daher nicht gesprochen werden. Bisweilen ist auch ein Wechsel der Wortbildungsbasis und des Wortbildungsmodells beobachtbar, der jedoch insbesondere bei A+e relativ selten zu finden ist: Eb: scárfe – Bln: hertikeit (Vers. 2), Eb: scárfe – Bln: strengkeit (Vers. 39), Eb: mâre – Bln: rede (Vers. 90), Eb: uuâhe – Bln: waͤ t (Vers. 135). Als Beispiel zur Verdeutlichung dieser Bearbeitungstendenzen sei ein Ausschnitt aus Vers. 2 angeführt: (3) Eb: Dív sûoze dînero gratiȩ. íst bézzera. dánne dîv scárfe déro legis (fol. 10r, 12–15) (4) Bln: Die suͤ sse diner gnaden ist besser dann die hertikeit diner gesetzte (fol. 1r, 19–20)

Bemerkenswert ist die Ersetzung von scárfe durch hertikeit, was möglicherweise dem Bedürfnis nach größerer Deutlichkeit der Gesamtaussage geschuldet ist – wenngleich dadurch die auf Geschmacksmodalitäten basierende Antithetik von Süße und Schärfe, wie sie in Eb umgesetzt ist, nicht weitergeführt und damit auch

|| 22 Mit der Ersetzung von gerúste durch insprechung wird auch ein anderes Verfahren der Textauslegung angewandt. Die beiden Wortbildungen treten auf in Vers. 58 zu Hl 4,4 Sicut turris david collum tuum quae aedificata est cum propugnaculis. Willirams Auslegung nimmt ihren Ausgang in der militärischen Ausstattung des Turms Davids, die als Rüstzeug der christlichen Lehre verstanden wird: Bî den dûsent skílten. hangent ôuh áller sláhte uuîggeuuâffene bîderbero gnéhto. daz ist ál daz gerúste gûoter lêro únte gûoter uuércho (fol. 28r, 7–12). Mit dem Begriff gerúste bleibt Williram also im metaphorischen Bereich militärischer Utensilien. Dies wird in Bln aufgelöst. Der Bearbeiter folgt zwar grundsätzlich der Gleichsetzung des militärischen Arsenals mit der Ausstattung, die für die Verbreitung und Bewahrung der christlichen Lehre notwendig ist. Doch er wechselt auf eine metasprachliche Ebene, indem er explizit die im Hoheliedtext genannte Bewaffnung als Metapher für die gute Lehre benennt: Bÿ den tusent schilten hangent allerschlachte wäffen das ist allerley insprechung guͦ ter lere vnd uͤ bung guͦ ter werck (fol. 17r).

Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg | 53

der Bezug zum Hoheliedvers quia meliora sunt ubera tua vino fraglantia unguentis optimis (Hl 1,1) aufgebrochen wird, der eine Interpretation hinsichtlich der Gegenüberstellung von gustatorischen Qualitäten nahelegt.

6 Zusammenfassung der Ergebnisse und weitergehende Überlegungen In der Zusammenschau der Ergebnisse wird deutlich, dass die Bearbeitungen in der frühneuhochdeutschen Williram-Handschrift Bln keine Revolution darstellen, sondern behutsame Eingriffe sind, die das Bestreben, den Text der veränderten Sprachrealität des 15. Jahrhunderts anzupassen, erkennen lassen. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, ob der Bearbeiter von Bln auf eine zeitgenössische Vorlage zurückgreifen konnte oder aber einen älteren Textzeugen heranziehen musste. Die bisweilen irritierenden sinnentfremdenden und -entstellenden Abweichungen lassen letzteres vermuten. Unter solchen Voraussetzungen wären die Bearbeitungen in Bln auch ein Zeugnis für die Hürden, vor denen ein Bearbeiter des 15. Jahrhunderts stand, der sich mit dem Sprachstand eines wesentlich älteren Textes auseinandersetzen musste. Mit Blick auf die Wortbildung kann der Vergleich von Bln mit der frühmittelhochdeutschen Handschrift Eb insofern als aufschlussreich gelten, als zum einen das Überlieferungsverhältnis zwischen den beiden Textzeugen die Tradierung sowie die Bearbeitungen älterer Wortbildungsmuster bedingt. Zum anderen bietet jedoch die besondere Anlage von Bln, in dem die Williram’sche Mischsprache zugunsten eines einheitlichen deutschen Textes aufgegeben wurde, die Möglichkeit, die Wortbildungsverfahren der übersetzten Textpassagen eingehender zu untersuchen und sowohl mit den überlieferungsbedingten Wortbildungen als auch mit Ergebnissen aus Untersuchungen zu anderen frühneuhochdeutschen Texten abzugleichen. Die Befunde im Teilkorpus Bln deuten Verschiebungen in der Präferenz bestimmter Wortbildungsmodelle an, die erst durch die Gegenüberstellung des Vergleichskorpus Bln und Eb sichtbar werden. So zeigt sich etwa, dass das Wortbildungsmodell A+e an Bedeutung verliert und v. a. durch A+heit/keit verdrängt wird. Das Modell V+e hingegen ist auch im Teilkorpus Bln noch stärker präsent und lässt damit noch auf eine stärkere Produktivität schließen, wenngleich auch hier sowohl durch die Modelle V+er (bei Nomina Agentis) und V+ung (bei Abstraktbildungen) Konkurrenz entsteht. Das Ziel dieses Aufsatzes war es nicht, eine erschöpfende Darstellung der Wortbildungsmuster in den beiden verglichenen Textzeugen zu präsentieren. Vielmehr sollte die Fruchtbarkeit der Williram-Überlieferung für diachron angelegte Fragestellungen hinsichtlich der Wortbildungsforschung, aber auch hinsichtlich anderer linguistischer und überlieferungsgeschichtlicher Aspekte angedeutet werden. So

54 | Monika Hanauska konnte etwa die Frage nach den Bearbeitungsmotiven und -strategien, die etwa in Bln sichtbar werden, nur gestreift werden. Ein vollständigeres Bild kann sich ergeben, wenn weitere Textzeugen, wie etwa St und Nü23, die engere Verwandtschaftsbeziehungen zu Bln aufweisen, einbezogen würden. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die Editionslage in der Williram-Überlieferung verbessert, damit die Untersuchungsergebnisse auf einem tragfähigen Fundament fußen. Vielleicht kann dieser Aufsatz das Interesse an weiterer Williram-Forschung ein wenig wecken, was mit Sicherheit auch der Jubilar begrüßen würde.

Quellen und Literatur Bartelmez, Erminnie Hollis (1967): The ‚Expositio in Cantica Canticorum‘ of Williram Abbot of Ebersberg 1048–1085. A Critical Edition. Philadelphia. Bognar Fissel, Katherine (1978): Wortbildung und Wortwahl in der deutschen Paraphrase des Hohen Liedes Willirams von Ebersberg. Diss. masch. Saarbrücken. Bohnert, Niels (2006): Zur Textkritik von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Mit besonderer Berücksichtigung der Autorvarianten. Tübingen. Brendel, Bettina/Frisch, Regina/Moser, Stephan/Wolf, Norbert Richard (1997): Wort- und Begriffsbildung in frühneuhochdeutscher Wissensliteratur. Substantivische Affixbildung. Wiesbaden. Brendel, Bettina (1993): Substantivische Affixbildung im Frühneuhochdeutschen. Morphologie und Semantik der Suffixe -ei, -heit, -nis, -sal, -schaft, -tum und -ung. Diss. masch. Würzburg. 1 DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1854–1960). 16 Bde. 1. Aufl. Leipzig. Nachdruck München 1984. Gärtner, Kurt (1988): Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Willirams von Ebersberg. In: Honemann, Volker/Palmer, Nigel F. (Hg.): Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Tübingen, 1–34. Grabmeyer, Bernhard (1976): Die Mischsprache in Willirams Paraphrase des Hohen Liedes. Göppingen. Klein, Thomas/Solms, Hans-Joachim/Wegera, Klaus-Peter (2009): Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Tübingen. Kronenberger, Kerstin (2002): Die Substantivableitung mit -e, -ede und -heit in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. In: Habermann, Mechthild/Müller, Peter O./Haider Munske, Horst (Hg.): Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen, 193–209. Lähnemann, Henrike/Rupp, Michael (Hg.) (2004): Williram von Ebersberg, Expositio in Cantica Canticorum und das ‚Commentarium in Cantica Canticorum‘ Haimos von Auxerre. Berlin/New York. Lähnemann, Henrike/Rupp, Michael (2006): Von der Leiblichkeit eines ‚gegürteten Textkörpers‘. Die ‚Expositio in Cantica Canticorum‘ Willirams von Ebersberg in ihrer Überlieferung. In: Wolfram-Studien XIX, 95–116.

|| 23 Nü: Hs. 25470 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Vgl. hierzu Schmid (1984).

Substantivderivation in der Überlieferung der Hoheliedparaphrase Willirams von Ebersberg | 55

Lähnemann, Henrike (2010): Reimprosa und Mischsprache bei Williram von Ebersberg. Mit einer kommentierten Ausgabe und Übersetzung seiner ‚Aurelius-Vita‘. In: Müller, Stephan/ Schneider, Jens (Hg.): Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert. München, 205–237. Meineke, Eckart (1994): Abstraktbildungen im Althochdeutschen: Wege zu ihrer Erschließung. Göttingen. Müller, Peter O. (1993a): Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalyse. Berlin/New York. Müller, Peter O. (1993b): Historische Wortbildung: Forschungsstand und Perspektiven. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112, 394–419. Ring, Uli (2008): Substantivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin/New York. Schmid, Hans Ulrich (1984): Nachträge zur Überlieferung von Willirams Paraphrase des Hohen Liedes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113, 229–234. Schmid, Hans Ulrich (1992): Wortvarianz in der Williram-Überlieferung. Ein Beitrag zur historischen Dialektgeographie. In: Weiss, Andreas (Hg.): Dialekte im Wandel. Göppingen, 335–355. Schmid, Hans Ulrich (1998): -lîh-Bildungen. Vergleichende Untersuchungen zu Herkunft, Entwicklung und Funktion eines althochdeutschen Suffixes. Göttingen. Schützeichel, Rudolf/Meineke, Birgit (Hg.) (2001): Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition – Übersetzung – Glossar. Göttingen.

Christiane Gante

Pseudopartizipien im Wandel der Zeit 1 Einleitung Der Wortbildungsstatus von Formen wie ahd. gihârit, mhd. gebartet, nhd. gelockt ist nicht abschließend geklärt, wie die Behandlung als Adjektiv, Partizipialadjektiv oder Verbform in den Wörterbüchern zeigt. Handelt es sich um regelmäßige Participia Praeteriti, zu denen oft nur zufällig keine nicht-partizipialen Verbformen bezeugt sind? Oder ist vielmehr von einem „Sprung“ in der Wortbildung auszugehen, bei dem die Zwischenstufe eines desubstantivischen ornativen Verbs übersprungen und direkt vom Substantiv eine Partizipial-, d. h. eine Verbform gebildet wurde? Handelt es sich vielleicht gar um Reste des alten Wortbildungstyps der desubstantivischen Adjektive auf idg. *-to-/*-tā-, wie er z. B. in aind. rathita ‘mit einem Wagen versehen’, gr. ϑυσανωτός ‘mit Troddeln versehen’ oder lat. cordātus ‘mit Sinn, Verstand begabt’ vorliegt? Im Folgenden soll die Wortbildungsproblematik kurz dargestellt und unterschiedliche Wortbildungstypen sowie deren diachrones Zusammenspiel erläutert werden. Im Anschluss werden einige semantisch offenbar abweichende Wortbildungen betrachtet und zur Diskussion gestellt.

2 Althochdeutsche Bildungen – gihârit ‘behaart, langhaarig’ In althochdeutschen Glossen seit dem 10. Jahrhundert (StSGl. 2,473,28; 3,384,37; 4,312,6) ist eine Form gihârit ‘behaart, langhaarig’ bezeugt. Starck/Wells (Gl.-Wb.) setzen dafür ein schwaches Verb hâren an. Auch Schützeichel (Gl.-Wortsch.) setzt ein schwaches Verb hâren oder hârên an, das nur in der Form hâret bezeugt sei. Im EWA 4, 270 wird gihârit als Partizipialadjektiv behandelt. Im entsprechenden Wörterbucheintrag heißt es, „das schw. vb. hâren [sei] nur als Part. Prät. belegt“. Das AWB 4, 715‒716 führt gihârit ebenfalls als Partizipialadjektiv und auch Raven (1963, 57a) stuft gihârit als Partizipialadjektiv ein. Riecke (1999, 168) dagegen listet gihârit als (desubstantivisches) Adjektiv mit Adjektivformans idg. *-to/*-tā auf. Während das MWB mhd. gehâret ‘behaart’ (TR 2626, BdN 227, 8) den Adjektiven zuordnet, setzt Lexer 1, 784 es als Partizipialadjektiv an; ebenso verfährt auch das

DOI 10.1515/9783110526585-005

58 | Christiane Gante FWB 6, 545 mit frnhd. gehart ‘haarig, zottig, behaart’ (z. B. md. Marco Polo (DTM) 48,23). Das MWB 2, 256 hingegen ordnet mhd. gehâret den Adjektiven zu. Neuhochdeutsch gibt es zwar keinen exakten Fortsetzer der althochdeutschen Form, doch eine entsprechende Bildung mit anderem Präfix: behaart ‘haarig, Haare habend’. Das GWDS 2, 495 behandelt dieses unter behaaren V. ‘Haare bekommen’ mit dem Kommentar, dass dieses Verb „meist im 2. Part.“ vorkomme. Es ist also festzuhalten, dass zwar althochdeutsch bis frühneuhochdeutsch (bzw. mit Präfixwechsel bis in die Gegenwartssprache) eine adjektivische Form bezeugt ist, die wie ein Präteritalpartizip aussieht, dass jedoch zu keiner Zeit nichtnominale Verbformen eines möglichen zugrundeliegenden Verbs vorkommen. Neben ahd. gihârit / mhd. gehâret / frnhd. gehart ist auch ein Adjektiv ahd. gihâr (StSGl. 2,721,25), mhd. gehâr (z. B. RvEWchr. 1649, Reinfr. 19691 und UrkCorp 2521, 18), frnhd. gehar (z. B. Bachmann Morgant 213, 9; Wyss Luz. Ostersp. 439) ‘behaart’ bezeugt, bei dem es sich um ein Possessivadjektiv mit ornativem Präfix gihandelt.1 Dies legt nahe, dass es sich bei ahd. gihârit / mhd. gehâret / frnhd. gehart – und analog wohl auch bei nhd. behaart – um mit Adjektivsuffix idg. *-to/*-tā erweiterte bzw. als Adjektiv verdeutlichte Formen zu diesem archaischen Wortbildungstyp handeln könnte. Zudem könnten auch vergleichbare Formen wie lat. comātus ‘behaart’, das als *-to/*-tā-Adjektiv zu lat. coma, -ae f. ‘Haar, Laub’ gebildet ist, darauf hinweisen, dass es sich bei den deutschen Formen um denselben Bildungstyp handelt.

3 Mittelhochdeutsche Bildungen – mhd. gebartet ‘bärtig, mit Bart’ Das MWB 2, 131 führt gebartet ‘bärtig, mit Bart’ (TR 2626; Rennew 21490) als Adjektiv auf, während Lexer 1, 748 es neben einem schwachen Verb barten – bei dem er jedoch nur auf das Partizipialadjektiv gebartet verweist – als Partizipialadjektiv ansetzt. Auch das BMZ 1, 90 listet die Form als adjektivisches Partizip. Frühneuhochdeutsch ist eine Form bartet ‘einen Bart habend, bärtig; erwachsen’ bezeugt (Sachs 5, 311, 9), die im FWB 3, 43‒44 unter dem schwachen Verb barten ‘einen Bart bekommen, erwachsen werden’ behandelt wird2 und auch das GWDS 3, 1389 führt ein Adjektiv gebärtet ‘einen Bart habend, bärtig’ (als zoologischer Ter-

|| 1 Zu Bildungen dieser Art vgl. Gante (2016), besonders 1–5 (Typ I (1.1)). 2 Als Belegstelle für nicht-nominale Formen wird lediglich das Wörterbuch Maaler (Die Teütsch spraach 50v) angeführt.

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minus neben allgemeinsprachlichem bebartet ‘einen Bart habend, bärtig’ GWDS 1, 475) an. Für das Mittelhochdeutsche gibt Lexer 1, 748 auch eine Nebenform gebart an. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich dabei nicht um eine Nebenform zu mhd. gebartet handelt, sondern vielmehr um ein denominales Possessivadjektiv mit ornativem Präfix ge- als Rest des archaischen Wortbildungstyps. Dafür spricht auch die bereits althochdeutsch im 9. Jahrhundert bezeugte Form ungibart ‘nicht bärtig; unerwachsen’ (StSGl. 1,177,6)3 sowie das erst im 11. Jahrhundert bezeugte nicht negierte ahd. gibart ‘bärtig, behaart’ (StSGl. 2,670,9). Auch frühneuhochdeutsch ist eine Form ungebart ‘nicht bärtig, nicht erwachsen’ bezeugt, die zwar nicht im FWB lemmatisiert ist, dort jedoch 8, 425 als Bedeutungsvariante zu jung adj. genannt wird (Luther Schriften 10, 3, 263). Vor dem Hintergrund, dass in allen Sprachstufen (fast) ausschließlich nominale Formen gebartet vorliegen (und zumindest althochdeutsch und frühneuhochdeutsch daneben ein negiertes Adjektiv ungibart / ungebart existiert), scheint der Ansatz eines (nicht bezeugten) zugrundeliegenden schwachen Verbs barten ‘einen Bart bekommen, bärtig sein/werden’ o. ä. unnötig. Wahrscheinlicher ist, dass die fraglichen Formen als desubstantivische *-to/*-tā-Adjektive zu deuten sind (wie auch entsprechendes lat. barbātus ‘bärtig’ zu lat. barba, -ae f. ‘Bart’) und nicht als deverbale Partizipialadjektive.

4 Neuhochdeutsche Bildungen – nhd. gelockt ‘zu Wellen geformt, gelockt’ Das GWDS 6, 2448 setzt ein schwaches Verb locken ‘in Locken legen; sich in Locken legen, in Locken fallen’ an. Hierzu passen Belege wie (1)

Ihre Komplizin hat braunes, mittellanges, gelocktes Haar. (Hann. Allg., 8.4.2013, IdS-arch.)

Allerdings wird das (Partizipial-?)Adjektiv gelockt nicht nur in dieser Bedeutung verwendet, sondern auch in der Bedeutung ‘Locken habend, lockiges Haar habend’, wie Belege wie (2)

Lockmanns Krise beginnt schlagartig, als plötzlich ein gelockter Jüngling namens Paul vor seiner Tür steht. (Frankf. Rundschau, 7.5.1997, IdS-arch.)

zeigen (im GWDS 6, 2448 als zweite, meist reflexive Bedeutung für das schwache Verb locken angesetzt). Hier hat gelockt eindeutig ornative Bedeutung, sodass der || 3 Vgl. auch Gante (2016, 2 , 70).

60 | Christiane Gante Ansatz eines zugrundeliegenden Verbs locken ‘jmdn. mit Locken versehen’ wenig sinnvoll erscheint. Wahrscheinlicher ist von einem denominalen Possessivadjektiv mit ornativem Präfix ge- zu Locke f. auszugehen. Handelt es sich nun um zwei homophone Formen, ein Verbalpartizip ‘in Locken liegend, fallend, zu Locken geformt’ in (1) und ein ornatives Possessivadjektiv ‘Locken habend’ des Typs mit idg. *-to/*-tā- in (2)? Mittelhochdeutsch und frühneuhochdeutsch ist keine vergleichbare Form bezeugt, doch althochdeutsch ist eine Form gilockôt ‘behaart, lockig’ i. e. ‘Locken habend’ belegt (11./12. Jahrhundert, StSGl. 4,199,43). Das AWB 5, 1259 setzt die Form mit Fragezeichen an und stuft sie als Partizipialadjektiv ein. Es folgt der Hinweis „zu loc st.m. gehörig“ mit einem Verweis auf das Partizipialadjektiv lockônti ‘sich kräuselnd, zottelig’ (11. Jahrhundert, StSGl. 2,639,4), das ebenfalls zu loc st.m. ‘Haarsträhne, Locke’ gestellt wird. Das EWA 5, 1431 setzt ein schwaches Verb lockôn an, das im Partizip Präsens und im Partizip Präteritum ‘sich kräuselnd, zottelig, behaart’ bedeute. Auch Schützeichel, Gl.-Wortsch. 6, 147 und Starck/Wells, Gl.-Wb. 383 setzen ein solches schwaches Verb an. Riecke (vgl. 1999, 181) dagegen listet ahd. gilockôt als Adjektiv zu ahd. loc st.m. ‘Haar(locke)’. Die Bedeutung ‘behaart’ legt nahe, dass es sich bei ahd. gilockôt tatsächlich um ein desubstantivisches Possessivadjektiv mit ornativem gi- handelt. Diese Form entspräche dann semantisch nhd. gelockt in (2). Ob die neuhochdeutsche Form auch in der Bildung der althochdeutschen entspricht oder lediglich analog zu anderen Pseudopartizipien (d. h. denominalen Possessivadjektiven) gebildet ist, lässt sich wohl nicht abschließend klären. Ein direkter wortgeschichtlicher Zusammenhang mit der althochdeutschen Form scheint aber mangels mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Belege unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist also für nhd. gelockt ‘in Locken liegend, fallend; zu Locken geformt’ in (1) und nhd. gelockt ‘Locken habend, lockiges Haar habend’ in (2) von unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Wortbildungsprozessen auszugehen. Die Form in (1) ist wohl als Verbalpartizip zu einem desubstantivischen Verb locken ‘zu Locken formen, in Locken legen’ zu erklären, während die Form in (2) entweder ein desubstantivisches Pseudopartizip zu Locke f. darstellt oder als Metonymie zur Form in (1) zu erklären ist (‘zu Locken geformt, in Locken liegend’ [von Haaren] → ‘mit Locken versehen, lockiges Haar habend’ [von Personen]). Die diskutierten Bildungen zeigen, dass verschiedene, teils bedeutungsgleiche oder -ähnliche Wortbildungstypen z. T. zeitgleich nebeneinander existieren und sich gegenseitig beeinflussen oder ineinander übergehen:

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I.

desubstantivische Possessivadjektive mit ornativem Präfix gi-/ge[PREFornat + SUBST]ADJ z. B. ahd. gihâr, mhd. gehâr, frnhd. gehar ahd. (un)gibart, mhd. frnhd. (un)gebart

vielfach ersetzt durch verdeutlichende Bildungen mit idg. *-to/*-tā- oder anderen Adjektivsuffixen II. desubstantivische Possessivadjektive mit idg. *-to/*-tā-4 [(PREFornat) + SUBST + *-to/*-tā-]ADJ => sogenannte „Pseudopartizipien“ z. B. ahd. gihârit, mhd. gehâret, frnhd. gehart (nhd. behaart) mhd. frnhd. gebartet, nhd. gebärtet

III. Verbalpartizipien mit Adjektivsuffix idg. *-to/*-tā[(PREFPFTV) + VBStamm + *-to/*-tā-]ADJ z. B. nhd. locken ‘zu Locken formen’ → gelockt ‘zu Locken geformt, in Locken liegend’

IV. Partizipialadjektive, die analog zu den Typen II und III direkt zu substantivischen Basen gebildet werden können (SUBST (→ desubst. (ornat.) VB) → PARTADJ) z. B. nhd. Blume (→ †blümen ‘etw. mit Blumen versehen’) → geblümt ‘mit Blumen versehen’ nhd. Streifen (→ †streifen ‘etw. mit Streifen versehen’) → gestreift ‘mit Streifen versehen’ nhd. Brille (→ †bebrillen ‘jmdn. mit einer Brille versehen’) → bebrillt ‘mit einer Brille versehen’

5 Fazit Das Suffix idg. *-to-/*-tā- bildet Adjektive sowohl zu substantivischen Basen (sogenannte „Pseudopartizipien“ mit einer Grundbedeutung ‘SUBST habend, mit SUBST versehen’) als auch zu verbalen Basen (Participia Praeteriti mit einer Grundbedeutung ‘VB-Handlung erfahren habend, von VB-Handlung betroffen’). Oftmals lässt sich gerade bei jüngeren Bildungen nicht sicher entscheiden, ob deverbale oder desubstantivische Herkunft anzunehmen ist: || 4 Zu den mit ahd. gi- präfigierten Bildungen vgl. Gante (2016), besonders 1–5 (Typ I (1.1)).

62 | Christiane Gante z. B. Blume → geblümt ‘Blumen habend, mit Blumen versehen’ (desubst. Ornativadjektiv) oder Blume → blümen ‘mit Blumen ausstatten, schmücken’ (desubst. Ornativverb) → geblümt ‘mit Blumen geschmückt’ (Verbalpartizip).

Aber auch bei bereits althochdeutschen Bildungen ist eine sichere Zuordnung zu verbaler oder substantivischer Basis nicht immer gesichert: z. B. ahd. ungigurtit ‘ungegürtet’ (StSGl. 1,343,56)5 ahd. gurt st.m. ‘Gürtel’ → ungigurtit ‘nicht mit Gürtel’ (desubst. Ornativadj.) oder ahd. gurten sw.V. ‘gürten’ → ungigurtit ‘ungegürtet’ (Verbalpartizip).

Aufgrund des v. a. bei Participia Praeteriti ‒ auch zu desubstantivischen ornativen Verben ‒ frequenten Musters ge-...-t sind analoge Neubildungen möglich, die nicht notwendigerweise die Zwischenstufe einer desubstantivischen ornativen Verbalbildung benötigen. Umgekehrt können analog zu Verb-Partizip-Paradigmen aus ursprünglich desubstantivischen Adjektiven neue Verben rückgebildet werden. Die Einstufung als echtes Verbalpartizip oder desubstantivisches Pseudopartizip lässt sich teils anhand der Semantik eines hypothetisch zugrundeliegenden Verbs vornehmen: geblümt: ein hypothetisches Verb blümen ‘etw. mit Blumen ausstatten’ wäre denkbar ge-/behaart: ein hypothetisches Verb (be)haaren ‘jmd. mit Haaren versehen’ scheint wenig sinnvoll. Die seltenen im GWDS 2, 495 angeführten Verbbelege behaaren ‘Haare bekommen’ lassen sich vermutlich als Rückbildung zum wohl ursprünglich desubstantivischen Adjektiv erklären. Problematisch scheint bei den obigen Ausführungen, dass für desubstantivische Possessivadjektive mit idg. *-to-/*-tā- eine Grundbedeutung ‘SUBST habend, mit SUBST versehen’ angenommen wird. Ein Blick in die verschiedenen Sprachstufen zeigt jedoch, dass einige Bildungen existieren, neben denen zwar keine nichtnominalen Verbformen bezeugt sind, sodass man theoretisch von desubstantivischen Bildungen ausgehen könnte, deren Bedeutung sich aber nicht ohne Weiteres mit ‘SUBST habend, mit SUBST versehen’ ansetzen lässt. Diese Beispiele werden im Folgenden kurz betrachtet: mhd. gêvet, gegotet, gemenschet / êven V., goten V., menschen V.? sus sint ez allez Êven kint, / die nâch der Êven gêvet sint (TR 17962)

|| 5 Vgl. auch Gante (2016, 33, 82).

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Das MWB 1, 2224 setzt hier ein schwaches Verb êven ‘nach der Art Evas, wie Eva geraten’ an. Lexer 1, 961 verweist unter dem Stichwort gêvet part. ebenfalls auf ein schwaches Verb êven. er heiʒet ein gemenschet got und heizit ein gegotit mensche (MYST 1, 27, 28)

Auch hier setzt das MWB 2, 864 ein schwaches Verb goten an (zumindest gibt es kein Lemma gegotet) und Lexer 1, 783 verweist unter dem Stichwort gegotet part. auf ein schwaches Verb goten, bei dem allerdings nur für das Partizip gegotet eine Bedeutung ‘Gott geworden’ angeführt wird. Das BMZ 1 558 setzt ein Partizip gegotet in der Bedeutung ‘Gott gewordener’ an. er heiʒet ein gemenschet got und heizit ein gegotit mensche (MYST 1, 27, 28)

Wie bei gêvet und gegotet setzt das MWB hier ein schwaches Verb menschen an (zumindest ist kein Lemma gemenschet angesetzt, der Buchstabe M ist noch nicht erschienen). Auch Lexer 1, 2103 und BMZ 2, 50 setzten ein schwaches Verb menschen ‘zum Menschen machen’ an. Für die fraglichen Textstellen lassen sich folgenden Bedeutungen ansetzen: mhd. gêvet ‘nach der Art Evas, wie Eva geraten’ mhd. gegotet ‘Gott geworden’ mhd. gemenschet ‘zum Menschen gemacht’

Lassen sich diese Bedeutungen nun mit einer Grundbedeutung ‘SUBST habend’ in Einklang bringen und die Bildungen als desubstantivische Possessivadjektive erklären oder ist – wie in den Wörterbüchern – von Verbalpartizipien zu nicht bezeugten desubstantivischen Verben auszugehen? Bei mhd. gêvet ‘nach der Art Evas, wie Eva geraten’ scheint eine Bedeutung ‘wie SUBST seiend’ vorzuliegen, bei mhd. gegotet ‘Gott geworden’ dagegen eine Bedeutung ‘zu/wie SUBST geworden’, während mhd. gemenschet eine Bedeutung ‘zu/wie SUBST gemacht’ aufzuweisen scheint. Man betrachte nun das von Riecke (1999, 168) angeführte Beispiel ahd. gihengestit ‘kastriert, verschnitten’ (13. Jahrhundert, StSGl. 3,391,3), das zu ahd. hengist ‘Wallach’ gebildet ist und laut Riecke (1999, 68) „zwar nicht der ‘mit etwas versehen-sein’-Struktur [folgt], [...] aber analog zu den übrigen Formen gebildet [...] sein“ dürfte. Hier liegt offenbar dieselbe Grundbedeutung ‘wie SUBST seiend, zu SUBST gemacht / geworden’ wie in den o. g. mittelhochdeutschen Belegen vor. Die von Riecke vermutete Bildung „analog zu den übrigen Formen“ wäre metonymisch zu verstehen: ‘SUBST habend’ ~ ‘Eigenschaften von SUBST habend’ ~ ‘wie SUBST seiend’. Auch für die mittelhochdeutschen Belege könnte man einen derartigen metonymischen Gebrauch desubstantivischer Bildungen annehmen, doch lässt sich v. a.

64 | Christiane Gante im Beleg MYST 1, 27, 28 verbale Semantik (‘Gott, Mensch geworden’) nicht ausschließen. Denkbar wäre auch Einfluss des Wortbildungstyps der -ig-Adjektive, die ebenfalls sowohl ‘SUBST habend’ als auch ‘wie SUBST beschaffen’ bedeuten können (vgl. riesig ‘wie ein Riese’ vs. bärtig ‘Bart habend’), obwohl auch bei diesen Bildungen noch zu untersuchen wäre, welche der Bedeutungen die ursprüngliche ist und ob ggf. eine metonymische Beziehung zwischen den semantischen Varianten besteht. Beispiele wie diese zeigen deutlich die Interferenzen zwischen den formgleichen und zumindest bedeutungsähnlichen desubstantivischen und deverbalen Bildungen. Wahrscheinlich ist sowohl für ahd. gihengestit als auch für mhd. gêvet, gegotet und gemenschet ein Hybridstatus anzunehmen, der auf Analogie zu desubstantivischen wie auch deverbalen Bildungen basiert.

Quellen BACHMANN Morgant = Bachmann, Albert (Hg.) (1890): Morgant der Riese. In deutscher Übersetzung des XVI. Jahrhunderts. Tübingen. BdN = Pfeiffer, Franz (Hg.) (1861): Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur: die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Stuttgart. Frankf. Rundschau = Frankfurter Rundschau, IdS-Archiv. Hann. Allg. = Hannoversche Allgemeine, IdS-Archiv. Luther Schriften = (1883–2009): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung I – Schriften. Weimar. md. Marco Polo (DTM) = Tscharner, Horst von (Hg.) (1935): Der mitteldeutsche Marco Polo. Nach der Admonter Handschrift. Berlin. Rennew = Hübner, Alfred (Hg.) (1964): Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift. 2. Aufl., unveränderter Nachdruck von 1938. Berlin et al. RvE Wchr. = Ehrismann, Gustav (Hg.) (1967): Rudolfs von Ems Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift. 2. unveränderte Aufl. Dublin. Sachs = Keller, Adelbert von (Hg.) (1870–1908): Hans Sachs. 26 Bde. Tübingen. StSGl. = Steinmeyer, Elias/Sievers, Eduard (Hg.) (1879–1922): Die althochdeutschen Glossen. 5 Bde. Berlin. Nachdruck Dublin/Zürich 1968–1969. TR = Ranke, Friedrich (Hg.) (1978): Gottfried von Strassburg: Tristan und Isold. Text. 15. unveränderte Aufl. Dublin et al. UrkCorp (WMU) = Kirschstein, Bettina/Schulze, Ursula (Hg.) (1994–2010): Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache auf der Grundlage des Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300. 3 Bde. Berlin. WYSS Luz. Ostersp. = Wyss, Heinz (Hg.) (1967): Das Luzerner Osterspiel. Gestützt auf die Textabschrift vom M. Blackmore Evans und unter Verwendung seiner Vorarbeiten zu einer kritischen Edition nach den Handschriften. 3 Bde. Berlin.

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Albrecht Greule

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz Aus der Werkstatt des Mittelhochdeutschen syntaktischen Verbwörterbuchs Hans Ulrich Schmid ist, soweit ich sehe, der einzige Verfasser einer Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, der auf die Valenzgrammatik und ihre Bedeutung für die Beschreibung des syntaktischen Wandels eingeht (Schmid 2009, 186). Schon früher hat der Jubilar auf das Fehlen eines frühneuhochdeutschen Valenzwörterbuchs, „das Aufschluss geben könnte nicht nur über die Verben, die […] den Genitiv regieren, sondern auch über die semantische Beschaffenheit der jeweiligen Genitivergänzungen“, hingewiesen (Schmid 2000, 183). Welche interessanten Einsichten in der Tat für den syntaktischen und semantischen Wandel einzelner Verben vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen zu gewinnen sind, mag zunächst die Valenzgeschichte eines Verbs aus dem Wortfeld ‘Emotion/seelische Empfindung’ verdeutlichen. Die Valenzentwicklung von gelüsten, die von ahd. gilusten ausgeht und über mhd. und fnhd. gelusten/gelüsten zu nhd. gelüsten (2-wertig: es gelüstet Experiencer → Akkusativ, Objekt der Gelüste → Präpositionalgruppe mit nach) führt, wird zusammengefasst so beschrieben: Sieht man davon ab, dass es an einigen Stellen im Verlauf der Sprachgeschichte zur Valenzminderung kommt, wobei die Rolle ‘Objekt’ nicht besetzt ist, und dass es bei dem reflexivkausativen Prädikat ‘ich lasse es mich des Obstes gelüsten’ (!) zu einer Wertigkeitserhöhung kommt, ändert sich an der Zahl der Rollen nichts. Auch wenn die Bedeutungsbeschreibungen in den Wörterbüchern schwanken, ändert sich auch an der Struktur des Semems ‘a hat Lust auf b’ nichts. Veränderungen sind vor allem zu beobachten bei der Form der Rolle ‘Objekt’, wo der Genitiv beginnend im Mittelhochdeutschen durch die Präpositionalgruppe mit der Präposition nach ersetzt wurde. Wichtig ist das Aufkommen des Subjektspronomens, durch das eine formale Dreiwertigkeit entsteht. Nicht durchsetzen konnte sich der in den frühneuhochdeutschen Belegen auftretende Dativ als Kasus des ‘Experiencers’ an der Stelle des Akkusativs. Wie und wann sich aus der ursprünglich einfachen morphologischen Valenz die komplizierte Struktur eines unpersönlichen Verbs heraus entwickelt hat, kann die diachrone Perspektive verdeutlichen. Sie macht auch deutlich, dass es im Verlauf der Sprachgeschichte trotz eines Versuchs (bei Christoph Martin Wieland) nicht gelungen ist, den ‘Experiencer’ in die Position des Subjekts zu überführen bzw. ihn als Nomen im Nominativ zu standardisieren. Und dies, obwohl es sich um den verbalen Ausdruck einer wichtigen, elementaren menschlichen Regung handelt. (Greule 2014, 61–62)

DOI 10.1515/ 9783110526585-006

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1 Das Projekt eines Historisch syntaktischen Verbwörterbuchs (HSVW) Das Verfassen derartiger Valenzgeschichten setzt voraus, dass vergleichbare valenzgrammatische Informationen zu einem Verb für alle oder zumindest für zwei Sprachperioden vorhanden sind. Die entsprechenden Informationen zu liefern haben sich Germanisten aus verschiedenen Ländern vorgenommen (vgl. die Homepage: HSVW − Historisches syntaktisches Verbwörterbuch des Deutschen; https:// histvw.wordpress.com/). Das Forschungsinteresse konzentriert sich derzeit auf die Beschreibung der Valenz bzw. der syntaktischen Umgebung frühneuhochdeutscher Verben und Verbidiome sowie auf die analoge Beschreibung mittelhochdeutscher Verben. In der Diskussion steht darüber hinaus die Frage der Quellen für das anvisierte Historisch syntaktische Verbwörterbuch, die Integration von Argumentstrukturkonstruktion in das Wörterbuch und – mit besonderer Dringlichkeit – die elektronische Aufbereitung eines Historisch syntaktischen Verbwörterbuchs des Deutschen (vgl. dazu die Beiträge in Greule/Korhonen 2016). Der Ausarbeitung eines Mittelhochdeutschen Valenzwörterbuchs (vgl. Greule/ Braun 2010, 69–74) hat sich eine Gruppe von Valenzgrammatikern und Informatikern an der Universität Regensburg angenommen. Der Forschungsbericht, der die aktuelle Situation der das Mittelhochdeutsche betreffenden Valenzforschung, die als durchaus lebendig eingeschätzt werden kann, zusammenfasst, geht ausführlich auf die Nutzung von mittelhochdeutschen Wörterbüchern als Quellengrundlage ein und endet mit der Feststellung: Das seit 2006 auch online zugängliche, neue „Mittelhochdeutsche Wörterbuch“ (MWB online) (Gärtner/Grubmüller/Stackmann 2006–2014) wurde bislang noch nicht in die Valenz-Forschung einbezogen. Es wird nach meinen Erfahrungen für die historische Valenzforschung vor allem dank der umfänglichen Belege, auf Grund derer die Valenz herausgearbeitet werden kann […], zu einer wichtigen Belegquelle. Es ist gut vorstellbar, dass durch ein begleitendes Projekt ein mhd. Verbvalenzwörterbuchs, gewissermaßen als Anhang zu dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch (online), leicht zu erstellen wäre. (Greule 2016, 112–115)

2 Mittelhochdeutsche Valenz und digitale Lexikographie Das von Sandra Reimann und dem Medieninformatiker Manuel Burghardt gemeinsam ausgearbeitete Modell der elektronischen Aufbereitung des Historisch syntaktischen Verbwörterbuchs (Burghardt/Reimann 2016) basiert auf ersten Erfahrungen und Ergebnissen, die die Regensburger Gruppe mit der Abfassung von Verbartikeln auf der Grundlage des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs online gemacht hat. Zur

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz | 69

Exemplifikation dient das Verb mhd. antlâzen ‘Ablass erteilen’, das mit vier Belegsätzen im Mittelhochdeutschen Wörterbuch online präsent ist. Voraussetzung für die technische Umsetzung in ein adäquates XML-Dokumentmarkup sind explizite Annotationen. Für jeden Lexikonartikel werden grundlegende Metadaten und das zugrundeliegende Korpus dokumentiert. Von konkreten Belegsätzen ausgehend werden dann für jedes Verb systematische Einzelanalysen erstellt. In jedem Belegsatz werden die Satzglieder identifiziert und anhand der drei Parameter „Form“, „(syntaktische) Funktion“ und „Semantik“ (z. B. thematische Rollen) analysiert, wobei der Parameter „Semantik“ ergänzt werden kann durch die beispielsatzbezogene „semantische Spezifikation“ und die beispielübergreifende „semantische Restriktion“. Die Analyse auf der Ebene der einzelnen Belegsätze wird tabellarisch dargestellt (s. u. Kapitel 3). Aus den Einzelanalysen werden schließlich die „generische Valenzinformation“ für das untersuchte Verb induktiv abgeleitet und grundlegende linguistische Informationen (Lemma, Wertigkeit, Verbklasse, Sprachstufe, Wortfeld, Varietät) notiert.

3 Valenzanalyse auf der Grundlage des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs online: mhd. brüeten Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online (MWB online) präsentiert die Belege zum Lemma brüeten mit ausführlicher syntaktischer Umgebung des Verbs, gibt pro Beleg die Quelle an und ordnet die gesamte Belegmenge numerisch nach syntaktisch-semantischen Gesichtspunkten. Dabei werden vier Sememe (Nr. 1.1, 1.2, 1.3, 2) unterschieden: 1 tr. 1.1 ‘etw. erwärmen, erhitzen; etw. (Eier) ausbrüten’ so salbent si ir diu ougen unt bruͦ tent [fouent] sia, unze si gesehent wirdit JPhys 25,5; jz ist deme magin gut wan iz prutet in SalArz 22,25; brvͤ tend [interl. zu fouendo] PsM H 5,2. – si legit ir eier in die hizze unte bruͦ ttet [excoquat] si in der wirme des sunnen JPhys 24,13. – siu nimit einer ander perdice ir eier unt bruͦ tet [fouit] siu JPhys 23,7; der vogel wont in dem mer und prüett seineu air siben tag BdN 172,6 u.ö.; ich brüet mîn eiger [...] als mîn geslecht tuot anderswâ Boner 49,49; swenn er sîn eiger hât verlorn, / dar ûz er brüetet sîne fruht KvWTroj 34133. – von imbin ein michil swarn, / der drin durch nisten was gevarn / und hate [...] / gebruͤ tet drinne honegis vil RvEWchr 20587 1.2 ‘jmdn. aufziehen, erziehen’ als ein vogel sîn vogelîn / ammet unde brüetet, / alsô het si dich behüetet, / almeistic an ir arme erzogen Wh 62,27; reht als ein huon ir hüenelîn / hât under den vetachen sîn / gezogen und gebrüetet, / also hât si mîn gehüetet EnikWchr 7075; ErzIII 116,3. – mit erspartem Obj.: du [Gott] zvhis vnde bruͦ tis, / du sterkis vnde behutis Litan 155 1.3 übertr. ‘etw. ersinnen, aushecken; hervorbringen’ alsus enliez sîn gedanc / brüeten deheinen kranc / in sînem reinen herzen LvRegFr 2250; dar na sol wir uns hudin, / dat wir die sunden anderwerf brueden Lilie 73,35; minn alle tugende brüetet, / sam sîniu kindelîn daz huon KvWTroj 2542; er sælic man, / [...] der reine schame brüete RvZw 198,12; ein schalchait pruten Teichn 398,52. 189,39; valsch brüeten WernhSpr 35,12; Eracl 2642 2 intr. ‘brüten’ die vogel, die vil hüenl pringent mit ainander, die gepernt oder prüetent gar haimleich BdN 165,32; si prüetent auch

70 | Albrecht Greule paideu, er und si, in zwain zeiten ebd. 181,1; HvBurg 850; do diu krâ ûz [fertig] gebrüetet hât Boner 49,57. ‒ ‘brütend sitzen’, übertr.: ich gibe den edelen rat vil guten, / daz sie mit williglichen sinnen brüten / ob ritterschaft und minnen spil [sich ernsthaft darum bemühen] , / so daz die wolgemuten / wip freischen reine tat in ir handelunge Frl 11:14,2.

Aus den Belegen werden für die Belange eines in das Gesamtprojekt HSVW integrierbaren Mittelhochdeutschen syntaktischen Verbwörterbuchs (MSVW) jene aussortiert, die kein mit brüeten gebildetes Prädikat enthalten, im engen Sinn also keine Sätze sind. So ergeben sich folgende für die Annotation vorgesehene Belegsätze: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19)

so salbent si ir diu ougen unt bruͦ tent [fouent] sia, unze si gesehent wirdit (JPhys 25,5) jz ist deme magin gut wan iz prutet in (SalArz 22,25) si legit ir eier in die hizze unte bruͦ ttet [excoquat] si in der wirme des sunnen (JPhys 24,13) siu nimit einer ander perdice ir eier unt bruͦ tet [fouit] siu (JPhys 23,7) der vogel wont in dem mer und prüett seineu air siben tag (BdN 172,6 u.ö.) ich brüet mîn eiger [...] als mîn geslecht tuot anderswâ (Boner 49,49) swenn er sîn eiger hât verlorn, / dar ûz er brüetet sîne fruht (KvWTroj 34133) von imbin ein michil swarn, / der drin durch nisten was gevarn / und hate [...] / gebruͤ tet drinne honegis vil (RvEWchr 20587) als ein vogel sîn vogelîn / ammet unde brüetet, / alsô het si dich behüetet, / almeistic an ir arme erzogen (Wh 62,27) reht als ein huon ir hüenelîn / hât under den vetachen sîn / gezogen und gebrüetet, / also hât si mîn gehüetet (EnikWchr 7075; ErzIII 116,3) du [Gott] zvhis vnde bruͦ tis, / du sterkis vnde behutis (Litan 155) alsus enliez sîn gedanc / brüeten deheinen kranc / in sînem reinen herzen (LvRegFr 2250) dar na sol wir uns hudin, / dat wir die sunden anderwerf brueden (Lilie 73,35) minn alle tugende brüetet, / sam sîniu kindelîn daz huon (KvWTroj 2542) er sælic man, / [...] der reine schame brüete (RvZw 198,12) die vogel, die vil hüenl pringent mit ainander, die gepernt oder prüetent gar haimleich (BdN 165,32) si prüetent auch paideu, er und si, in zwain zeiten (BdN 181,1; HvBurg 850) do diu krâ ûz [fertig] gebrüetet hât (Boner 49,57) ich gibe den edelen rat vil guten, / daz sie mit williglichen sinnen brüten / ob ritterschaft und minnen spil [sich ernsthaft darum bemühen], / so daz die wolgemuten / wip freischen reine tat in ir handelunge (Frl 11:14,2)

Bevor jeder der 19 Belegsätze annotiert werden kann (s. o.), müssen aus komplexen Belegsätzen einfache Sätze rekonstruiert werden. Zum Beispiel enthält Belegsatz 3) zwei koordinierte Prädikate (legit unte bruͦ ttet). Der zu annotierende rekonstruierte Satz lautet: si [→ diu asida ‘Vogelstrauß’] bruͦ ttet si [→ ir eier] in der wirme des sunnen; in (vier) Satzglieder segmentiert: si / bruͦ ttet /si / in der wirme des sunnen. Das ergibt für die Annotation vier Spalten zu den sechs Ebenen: 1. Satzglied, 2. Form, 3. Funktion, 4. Semantik, 5. Spezifikation, 6. Restriktion.

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz | 71

1

si

bruͦ ttet

si

in der wirme des sunnen

2

Pronomen

Finitum

Pronomen

Präpositionalgruppe

3

Ergänzung im Nominativ

Prädikat

Ergänzung im Akkusativ

Angabe

Agens

Handlung

affiziertes Objekt

lokal

5

Brütende

ausbrüten

Ausgebrütetes

6

???

???

Gemäß der von Manuel Burghardt und Sandra Reimann vorgeschlagenen Vorgehensweise (s. o.) wird aus den Einzelanalysen der 19 Belegsätze die „generische Valenzinformation“ induktiv abgeleitet. „Diese Szene besteht aus einer generischen Paraphrase der Belegsätze sowie aus Informationen zu den Funktionen und zur semantischen Interpretation der Ergänzungen“ (Burghardt/Reimann 2016, 311). Im Unterschied zu dem beispielgebenden Verb mhd. antlâɀen ergeben sich für mhd. brüeten drei „generische Valenzinformationen“ (=Sememe), die sich durch die Generische Paraphrase unterscheiden: Generische Paraphrase 1: a wärmt b a (obligator.)

Nominativ

Agens

Wärmender

Tier/Vogel

b (obligator.)

Akkusativ

affiziert. Objekt

Gewärmtes

Konkret

Belegt in Satz Nr. 1, 2, 3, 4, 9, 10

Generische Paraphrase 2: a brütet (b) (aus) [< durch Wärmen zum Schlüpfen bringen] a (obligator.)

Nominativ

Agens

Brütender

Vogel

b (fakultativ)

Akkusativ

affiziert. Objekt

(Aus)gebrütetes

Eier

Belegt in Satz Nr. 5, 6, 11, 16, 17, 18

Generische Paraphrase 3: a bringt b hervor a (obligator.)

Nominativ

Agens

Hervorbringender

b (obligator.)

Akkusativ

effiziert. Objekt

Erzeugtes

Konkret/Abstrakt

Belegt in Satz Nr. 7, 8, 12, 13, 14, 15, 19

Die Zuweisung der Belegsätze zu den Generischen Paraphrasen muss für Einzelfälle noch erläutert werden. Belegsatz Nr. 11 (unter der Generischen Paraphrase 2), in dem der Agens mit ‘Gott’ besetzt ist, setzt voraus, dass man sich Gott metaphorisch als „brütenden Vogel“ vorgestellt hat. Belegsatz Nr. 18 (ebenfalls unter der Generischen Paraphrase 2) verdeutlicht durch das Präverb ûz die Perfektivität der Handlung und müsste ein eigenes Lemma ûzbrüeten ‘aus-, fertigbrüten’ erhalten. Beleg-

72 | Albrecht Greule satz Nr. 19 wurde unter die Generische Paraphrase 3 mit Hilfe der Interpretation von brüeten im Zusammenhang mit dem indirekten Fragesatz (ob ritterschaft und minnen spil…) ‘(wie beim Brüten) Gedanken hervorbringen’ subsumiert.

4 Umsetzung von Annotierung und Generischer Paraphrase in einen Wörterbuchartikel Nachdem alle 19 Belegsätze in der Weise, wie an Belegsatz 3) gezeigt, annotiert und die Generische(n) Paraphrase(n) daraus abgeleitet sind, können die für die technische Umsetzung gedachten Informationen auch in einen Artikel für ein (gedrucktes) Wörterbuch umgesetzt werden. Diese Artikel sollten mit dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch in gedruckter Form korrespondieren und den jeweiligen Artikel dort ergänzen. Für das polyseme brüeten sind beispielsweise ein Hauptlemma und drei Sublemmata vorzusehen. Diese Artikelgliederung stimmt nicht mit der Struktur des entsprechenden Artikels im MWB online und im gedruckten MWB (1, 1044) überein. Dem Hauptlemma kann der besseren Identifikation wegen die generelle morphologische Information (hier: schwaches Verb, swV) beigegeben werden. Die Sublemmata sollten folgende Informationen enthalten: Bedeutung, Wertigkeit (Zahl der Leerstellen), morphologische und semantische Besetzung der syntaktischen Leerstellen, Beispielsatz, Belegstellen, Wortfeld, Varietäten, Kommentare. brüeten swV. 1 brüeten ‘wärmen’ 2-wertig ‘a wärmt b’, a: Nominativ, b: Akkusativ a: meist Vogel, b: meist kleine Vögel, Eier (aber auch: der Magen!) Beispiel: si [diu asida] legit ir eier in die hizze unte bruͦ ttet si in der wirme des sunnen. Belege: JPhys 23,7; JPhys 24,13; JPhys 25,5; SalArz 22,25; Wh 62,27; EnikWchr 7075; ErzIII 116,3. Wortfeld? Varietät: medizinische, zoologische Fachsprache 2

brüeten ‘brüten, ausbrüten (durch Wärmen zum Schlüpfen bringen)’ fakultativ 2-wertig, obligatorisch 1-wertig ‘a brütet (b) aus’, a: Nominativ, (b: Akkusativ) a: Vogel (auch: Gott), (b: Eier) Beispiel: der vogel wont in dem mer und prüett seineu air siben tag Belege: BdN 165,32; BdN 172,6 u.ö.; BdN 181,1; HvBurg 850; Boner 49,57; Litan 155. Wortfeld? Varietät: zoologische Fachsprache

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz | 73

3 brüeten ‘hervorbringen’ 2-wertig ‘a bringt b hervor’, a: Nominativ, b: Akkusativ (auch Nebensatz ob…) a: Tier, Mensch, b: meist Abstraktes (Schwäche, Sünden, Tugenden) Beispiel: von imbin ein michil swarn, der drin durch nisten was gevarn und hate [...] gebruͤ tet drinne honegis vil Belege: KvWTroj 2542; KvWTroj 34133; RvEWchr 20587; LvRegFr 2250; Lilie 73,35; RvZw 198,12; Frl 11:14,2. Wortfeld: Feld des Produzierens

Kommentar: Da das Syntagma ziehen unde brüeten zweimal (Belegsatz 10 und 11) belegt ist, dürfte es sich um eine Paarformel ‘aufziehen und ausbrüten’ handeln. – Die Bedeutungserweiterung, die das Verb brüeten in der mhd. Zeit erfährt, ist mit dem Übergang der durativen Bedeutung des Brütens zur Perfektivität des Ausbrütens und mit einer Lösung der Szene aus der Tierwelt durch Metaphorisierung erklärbar.

5 Ansätze zur Valenzgeschichte Inwieweit die Bedeutungserweiterung, die für das Verb brüeten im Mittelhochdeutschen feststellbar ist, eine Besonderheit dieser deutschen Sprachperiode ist, ob sie älter ist und bis in die Gegenwart hineinreicht, kann die Valenz- und damit auch die Bedeutungsgeschichte von nhd. brüten erklären. Dazu brauchen wir weitere Informationen zur Umgebung des Verbs in althochdeutscher, frühneuhochdeutscher und klassisch-deutscher Zeit. Das Althochdeutsche Wörterbuch (AWB 1, 1454–1455) versammelt unter dem Lemma ahd. bruoten eine große Zahl von Belegen, die dort zu folgenden Sememen zusammengefasst sind: ‘brüten, bebrüten, ausbrüten’, ‘wärmend u. schützend umgeben’, ‘hegen, pflegen’, ‘zum Gedeihen bringen, gedeihen lassen, nähren’. Die Mehrzahl der Belege sind allerdings Glossen; die (fünf) Belegsätze stammen samt und sonders aus den Schriften Notkers. Aus der Annotation von vier der fünf Belegsätze ergibt sich: Generische Paraphrase: a wärmt (b) a (obligator.)

Nominativ

Agens

Wärmendes

Sonne/Wolle/Gut/Vogel

b (fakultat.)

Akkusativ

affiziert. Objekt

Gewärmtes

Mensch/Jungvögel

Der Belegsatz Nb 196, 18 taz (Gold, Edelsteine) pruotet tiu erda in iro barme wird im Althochdeutschen Wörterbuch als Metapher zum Semem ‘hegen, pflegen (von Dingen)’ gestellt. Der Kotext erlaubt aber auch die Annahme, dass die Bedeutung ‘hervorbringen’ (vgl. mhd. 3brüeten) vorliegt.

74 | Albrecht Greule Mit der Etymologie von brüten befasste sich ausführlich Jörg Riecke (Riecke 1996, 371–372), wobei er für das althochdeutsche Verb von der Bedeutung ‘warm halten, brüten’ ausgeht. Mit der Etymologie des schwachen jan-Verbs stoßen wir möglicherweise zur Ausgangsbedeutung und zur „Grundvalenz“ vor. Nach Riecke liegt dem deutschen Verb brüten/brüeten/bruoten westgermanisch *brōđ-jan zugrunde. Dabei handelt es sich um eine denominale Ableitung von urgermanisch *brōđi-z (> mhd. bruot) ‘durch Wärme Belebtes, Brut’. Die Grundbedeutung war demnach 1-wertiges ‘a belebt durch Wärme’; die Leerstelle a musste sinnvollerweise mit einem ‘Wärmespender’ besetzt sein. Die ‘Szene’ des Belebens durch Wärme wurde dann auf das besonders an Vögeln beobachtbare Verhalten spezifiziert, womit sich für das affizierte Objekt (Eier bzw. Jungvögel) eine zweite Leerstelle eröffnete und das Verb auch 2-wertig verwendet werden konnte. Es ist anzunehmen, dass die Entfaltung der (germanischen) Ausgangsbedeutung unter dem Einfluss der Übersetzung von lat. fovere ‘wärmen, warm halten, hegen und pflegen’ stand. Allerdings ist damit die Entwicklung zu mhd. 3brüeten ‘hervorbringen’ nicht zu erklären. Sie muss mit der Betonung der Perfektivität zusammenhängen, die durch eine PräverbBildung mit ûz schon im Mittelhochdeutschen formal zum Ausdruck kommt und zu nhd. ausbrüten führte. Spezifische Untersuchungen zum syntaktischen Verhalten von brüten im Frühneuhochdeutschen fehlen noch; jedoch vermittelt der von Joachim Schildt verfasste Eintrag unter brüten im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (FWB 4, 1292) den Ansatz folgender Sememe und Valenzen: 1. von Tieren ‘im Zustand des Brütens sein’ (mit 3 Belegsätzen), 2. von Menschen ‘Geschlechtsverkehr haben’ (1 Belegsatz), 3. ‘Eier bis zum Ausschlüpfen der Jungen bebrüten’ (1 Belegsatz), 4. ‘etw. ersinnen, aushecken, planen’ (1 Belegsatz) (metaphorisch zu Semem 1). Für die Valenzgeschichte schließen wir das frühneuhochdeutsche Semem 2 aus. Der Vergleich mit mhd. brüeten legt es nahe, die frühneuhochdeutschen Sememe 1 und 3 unter dem „Dia-Semem“ ‘brüten, ausbrüten’ zusammenzufassen. Für die frühneuhochdeutsche Entsprechung des „Dia-Semems“ ergibt sich die Generische Paraphrase: a brütet (b) (aus) [< durch Wärmen zum Schlüpfen bringen] a (obligator.)

Nominativ

Agens

Brütender

Vogel

b (fakultativ)

Präpositionalgruppe über/uff/aus

Objekt

(Aus)gebrütetes

Eier

Daran fällt auf, dass die fakultative Ergänzung b nicht mehr mit einem Nomen im Akkusativ, sondern mit einer Präpositionalgruppe besetzt ist, die eine lokale Präposition (die Ente brütet über den Eiern) enthält. Mit der lokalen Präposition über wird auch bei dem frühneuhochdeutschen Semem 4 (brút man vber taz ‘sinne man darüber nach’) das das Objekt bezeichnende Pronomen angeschlossen.

Das Mittelhochdeutsche Wörterbuch online und die Valenz | 75

Die klassisch-deutsche Sprachperiode ist ebenso wenig wie die frühneuhochdeutsche valenz-syntaktisch aufgearbeitet. Aus dem von Elke Umbach verfassten Artikel zu brüten im Goethe-Wörterbuch online können wir behelfsweise folgende – differenziert formulierten – Sememe (verkürzt) entnehmen: 1. auf den Eiern sitzen, um Junge auszubrüten, auch: Früchte durch Wärme zur Reife bringen; 2. für den göttlichen Schöpfungsvorgang, auch für die Leistung einer abergläubischen Phantasie; 3. von der Sonnenwärme: drückend auf einem Lande lasten (mit Anklang an 2); 4. bezogen auf Gedankliches: intensiv, meist sorgenvoll über etwas, jemanden nachdenken; schöpferisch produktiv etwas entwickeln; zur Entwicklung drängen; von noch ungestalteten, unausgeführten Ideen, Vorstellungen. Um der diachronen Vergleichbarkeit willen ordne ich die von Elke Umbach angeordneten Sememe um: Semem 1. ‘auf den Eiern sitzen, um Junge auszubrüten’ (1wertig), 2. ‘Früchte durch Wärme zur Reife bringen; von der Sonnenwärme: drückend auf einem Lande lasten’ (2-wertig); 3. bezogen auf Gedankliches: ‘intensiv, meist sorgenvoll über etwas, jemanden nachdenken; schöpferisch produktiv etwas entwickeln; zur Entwicklung drängen; von noch ungestalteten, unausgeführten Ideen, Vorstellungen; auch für den göttlichen Schöpfungsvorgang und für die Leistung einer abergläubischen Phantasie’ (2-wertig, mit den meisten Belegsätzen). Unter dem Aspekt der morphologischen Valenz ist es wichtig zu sehen, dass sich die Präpositionalgruppe mit über an der Stelle des Objekts (Präpositionalergänzung) bei 2-wertigem brüten in allen Belegsätzen durchgesetzt hat und der gegenwartssprachliche Usus brüten über etwas erreicht ist. Lassen wir die im Deutschen Universalwörterbuch (Duden 2001, 320) unter brüten aufgeführten speziellen Sememe „(geh.) drückend auf etw. lasten“ und das zur Kernphysik gehörende Semem „nicht spaltbares Material in spaltbares umwandeln“ außer Acht, dann gilt es in der Valenzgeschichte zu beschreiben, wie die dort aufgeführten Hauptbedeutungen „von Vögeln auf dem Gelege sitzen, um Junge auszubrüten“ (1-wertig) und „intensiv über etw. nachdenken […], etw. Übles, Böses ausdenken, ersinnen“ (2-wertig) im Deutsch der Gegenwart zustande gekommen sind. Ganz vereinfacht kann die Valenzgeschichte so dargestellt werden: Ausgehend von dem 1-wertigen, monosemen ‘wärmen’ und verengt auf das in der Natur beobachtbare ‘Ausbrüten von Eiern’ entwickelt sich aus der Perfektivität des Verbs (‘ausbrüten’, ‘hervorbringen’) auf Menschen übertragen, wie ansatzweise im Mittelhochdeutschen schon beobachtbar, das frühneuhochdeutsche Semem ‘etwas ersinnen, aushecken, planen’, dem bei Goethe ‘intensiv, meist sorgenvoll über etwas, jemanden nachdenken usw.’ entspricht. In allen Sprachperioden bleibt das fakultativ 2-wertige Semem ‘brüten, ausbrüten’ mit der Referenz auf Tiere, besonders auf Vögel, als Tätigkeitsträger erhalten. Mit dem „neuen“ 2-wertigen Semem ‘etwas ersinnen’ wird der Tätigkeitsträger auf Menschen (hum) restringiert und das Objekt, das früher in allen Sememen im Akkusativ stand, in die Präpositionalergänzung mit über umfunktioniert. Die vermutete Ausgangsbedeutung ‘wärmen’ für bruoten/

76 | Albrecht Greule brüeten ist im Neuhochdeutschen gleichsam an den Rand gedrängt worden und nur noch (intensiviert) in der festen Wendung brütende Hitze gebräuchlich.

Literatur AWB 1 = Karg-Gasterstädt, Elisabeth/Frings, Theodor (1952–1968): Althochdeutsches Wörterbuch. 1. Bd.: A –B. Berlin. Burghardt, Manuel/Reimann, Sandra (2016): Möglichkeiten der elektronischen Aufbereitung und Nutzung eines historisch syntaktischen Verbwörterbuchs des Deutschen. In: Greule, Albrecht/Korhonen, Jarmo (Hg.): Historisch syntaktisches Verbwörterbuch. Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt (Main), 301–322. DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch. (2001). 4., neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim u. a. FWB 4 = Schildt, Joachim (2001): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. 4. Bd.: pfab(e) – pythagorisch. Berlin/New York. Goethe-Wörterbuch: http://gwb.uni-trier.de/de/ (Stand: 26.9.2016). Greule, Albrecht (2014): Diachrone Perspektiven im Historischen deutschen Valenzwörterbuch. In: Glottotheory 5.2, 53–63. Greule, Albrecht (2016): Von der Konkordanz zum Valenzwörterbuch am Beispiel von Hartmann von Aue. In: Greule, Albrecht/Korhonen, Jarmo (Hg.): Historisch syntaktisches Verbwörterbuch. Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt (Main), 111–121. Greule, Albrecht/Braun, Christian (2010): Stand und Aufgaben der historischen Valenzforschung. In: Schmid, Hans Ulrich (Hg.): Perspektiven der germanistischen Sprachgeschichtsforschung. Berlin/New York, 64–75. Greule, Albrecht/Korhonen, Jarmo (2016): Historisch syntaktisches Verbwörterbuch. Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt (Main). MWB 1 = Gärtner, Kurt/Grubmüller, Klaus/Stackmann, Karl (2006–2014): Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 1. Bd. a-abentiure. Stuttgart. Riecke, Jörg (1996): Die schwachen jan-Verben des Althochdeutschen. Ein Gliederungsversuch. Göttingen. Schmid, Hans Ulrich (2000): Fressads und Saufads. Überlegungen zur Herkunft dialektaler Deverbativa auf -ads. In: Greule, Albrecht/Scheuerer, Franz Xaver/Zehetner, Ludwig (Hg.): Vom Sturz der Diphthonge. Beiträge zur 7. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie. Tübingen, 177–186. Schmid, Hans Ulrich (2009): Einführung in die deutsche Sprachgeschichte. 1. Aufl. Stuttgart/Weimar.

Norbert Richard Wolf

Der Mensch geht, der Teufel fährt Zum semantischen und syntaktischen Verhalten einiger Fortbewegungsverben

1 Textkorpus Die nachfolgenden Ausführungen sind korpusbasiert. Das Textkorpus besteht aus dem Lukasevangelium in mehreren gegenwarts- und frühneuhochdeutschen Übersetzungen. 1. Einheitsübersetzung (EÜ): Die Bibel (1980). Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg/Basel/ Wien. Diese Übersetzung wurde von den Bischöfen der deutschsprachigen katholischen Diözesen veranlasst und letztlich 1979 endgültig approbiert. Sie ist eine „philologische Übersetzung mit kommunikativen Einschlägen“. (URL 1)

2. Gute Nachricht Bibel (GNB): Gute Nachricht Bibel (2000). Altes und Neues Testament. Revidierte Fassung 1997. Stuttgart. „Die stark überarbeitete Ausgabe von 1997/2000 löste die ‚Bibel in heutigem Deutsch‘ von 1982 ab.“ Die GNB ist eine „konsequent kommunikative Übersetzung mit 3 Hauptverfahren: Umstrukturierung, Explikation, Kontextorientierung“. (URL 1)

3. Lutherübersetzung in der Revision von 2017 (LB 2017): Die Bibel (2016). Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Stuttgart. Die Lutherbibel 2017 ist auch auf folgender CD-ROM publiziert: Die Bibel (2016). Lutherbibel revidiert 2017. Stuttgart.

4. Lutherübersetzung in der Revision von 1984 (LB 1984): Die Bibel (2006). Nach der Übersetzung Martin Luthers. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart. Die EÜ, die GNB und LB 1984 finden sich auch auf folgender CD-ROM: Quadro Bibel 5.0 (2010). Die fünf wichtigsten deutschen Bibelübersetzungen und drei Bibellexika auf CD-ROM. Stuttgart.

DOI 10.1515/9783110526585-007

78 | Norbert Richard Wolf 5. Lutherübersetzung 1912 (LB 1912): Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers (o.J.). Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text 1912. Stuttgart. „Die kirchenamtliche Revision von 1912 bewahrt in großem Umfang die Besonderheiten der Luthersprache, enthält aber auch schon in begrenztem Umfang Korrekturen von eindeutigen Fehlübersetzungen Luthers“ (URL 1). Die Textfassung wird auch heute noch, in neuer Rechtschreibung, aufgelegt, wobei einige vor allem lexikalische Differenzen festzustellen sind, weswegen hier keine jüngere Edition herangezogen wird. LB 1912 findet sich auf folgender CD-ROM: Die Luther-Bibel (2000). Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912. Berlin.

6. Lutherübersetzung 1545 (LB 1545): Roloff, Hans-Gert (Hg.) (1989): Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther in der Fassung des Bibeldrucks von 1545. Studienausgabe. Bd. 1: Text. Stuttgart. Dazu dieselbe CD-ROM wie zu LB 1912.

7. Evangelienbuch des Matthias von Beheim (Beheim): Bechstein, Reinhold (Hg.) (1867 [1966]): Des Matthias von Beheim Evangelienbuch in mitteldeutscher Sprache, 1343. Leipzig. „Die Hs. ist nach der Angabe auf dem Schlußbl. i.J. 1343 abgeschlossen und gemachit Mathie von beheim dem clusenere zu halle“. (Holmberg 1980, 654)

8. Für die griechische und die lateinische Ausgangsversion dient: Theile, Carl G. G./Stier, Rudolf (Hg.) (1981): Novum Testamentum Tetraglotton. Archetypum Graecum cum versionibus Vulgata Latina, Germanica Lutheri et Anglica Authentica in usum manualem. Zürich. (NT 4) Diese Ausgabe bietet den griechischen und den lateinischen Text nach den Textus recepti. Als textkritische Ausgabe gerade für die jüngsten Textrevisionen dient: Aland, Barbara/Aland, Kurt/Karavidopoulos, Johannes/Martini, Carlo M./Metzger, Bruce M. (Hg.) (2014): Novum Testamentum Graece et Latine. Griechischer Text begründet von Eberhard und Erwin Nestle. 28., rev. Aufl. hg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster/Westfalen unter der Leitung von Holger Strutwolf. Lateinischer Text: Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum. Stuttgart. (Nestle-Aland) Dazu die CD-ROMs: Septuaginta und Vulgata (2008). CD-ROM. Stuttgart. Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland) (2015). CD-ROM. Stuttgart.

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Wenn auf den antiken Wortlaut zurückgegriffen werden muss, wird hier immer die lateinische Vulgata zitiert. An den diskutierten Stellen habe ich immer auch den griechischen Text überprüft. Zudem wurden zwei weitere moderne Bibelübersetzungen herangezogen, die beide auf der CD der „Quadro-Bibel“ enthalten sind: 9. Elberfelder Bibel 2006 (EB), dazu ist in der Einleitung zur CD-Edition zu lesen: Die Elberfelder Bibel gehört auch 150 Jahre nach Drucklegung des ersten Neuen Testaments zu den führenden deutschen Bibelübersetzungen. Man schätzt an ihr vor allem ihre philologische Exaktheit. Die Worte aus dem griechischen bzw. hebräischen Grundtext werden dabei weitgehend ohne Umschreibungen wiedergegeben. Dadurch ist der Leser so dicht an den Originaltexten wie sonst bei kaum einer anderen Bibelübersetzung. Dabei ist die Elberfelder Bibel eine Bibel, die durchaus für jedermann gut zu lesen ist. Die letzte Revision der Elberfelder Bibel wurde 1985 abgeschlossen. In den 20 darauf folgenden Jahren haben sich sprachlich manche Gewohnheiten verändert. Dies hat der Verlag zum Anlass genommen, die Bibelübersetzung noch einmal auf veraltete Redewendungen und zu schwer verständliche Passagen durchzusehen. Auch machten die Erfordernisse der neuen Rechtschreibregelung eine Neuausgabe der Bibel notwendig.

10. Neue Zürcher Bibel 2007 (ZB): Grundlage der vorliegenden Übersetzung ist für das Alte Testament der hebräisch-aramäische und für das Neue Testament der griechische Grundtext gemäss den neuesten wissenschaftlichen Ausgaben. […] Der Übersetzung des Neuen Testaments liegt der griechische Text von Nestle-Aland zugrunde, wie ihn die 27. Auflage des Novum Testamentum Graece bietet. Dieser Text wurde von einem internationalen und interkonfessionellen Team von Fachleuten aus den vorhandenen Handschriften erarbeitet und 1979 veröffentlicht. (Einleitung zur CD-Edition)

Wenige Tage vor Abschluss des Manuskripts ist die revidierte Einheitsübersetzung (EÜ 2017) erschienen: Die Bibel (2016). Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Stuttgart. Auf diese Version wird einmal zurückgegriffen. Ebenfalls nur einmal wurde in drei weiteren frühneuhochdeutschen Bibelübersetzungen recherchiert; Textgrundlage waren Digitalisate, die online zur Verfügung stehen: Mentelin-Bibel: Digitalisat des Münchener DigitalisierungsZentrums an der Bayerischen Staatsbibliothek. Hieronymus Emser: Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Johannes Eck: PDF-Version der Google-Books.

80 | Norbert Richard Wolf Noch eine Bemerkung: Für jede Korpusanalyse gelten drei methodische Prinzipien: Exhaustivität, Frequenzorientiertheit und Kontextsensitivität (vgl. Mukherjee 2009, 24–25). Die Frequenzorientiertheit wird im Folgenden kaum eine Rolle spielen, da es hier um kontextuell gebundenen Wortgebrauch und vorhandene strukturelle Muster und nicht um deren Frequenz geht. Allerdings habe ich sämtliche Vorkommen von gehen, laufen und fahren im Lukas-Evangelium gesammelt. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich, zumindest teilweise, als Fortsetzung von Wolf (2016). Allerdings gehe ich in der Darstellung ganz anders vor, ich fokussiere zunächst einzelne Zitate aus den unterschiedlichen Bibelübersetzungen und weite, von da ausgehend, meine Beobachtungen aus.

2 Fortbewegungsverben Das Substantiv Fortbewegung ist eine Ableitung vom reflexiven Verb sich fortbewegen, das die Bedeutung ‘(weg)gehen, (weg)fahren’ (Wahrig 2012) oder ‘an eine andere Stelle gehen oder fahren’ hat. Das Substantiv Fortbewegung ist ein Nomen actionis. Fortbewegungsverben sind demnach solche Verben, die eine Fortbewegung, ein Gehen oder Fahren an eine andere Stelle ausdrücken. Görner/Kempcke (1999, 321) buchen s.v. gehen (‘sich aufrecht schrittweise vorwärts bewegen’) als wichtigste Synonyme laufen und schreiten. Als Synonyme für laufen (‘sich schnell auf den Beinen fortbewegen’) notieren sie hasten, rennen, rasen, sausen und preschen (vgl. Görner/Kempcke 1999, 455). Demgegenüber scheint es für fahren (‘sich mit einem Fahrzeug fortbewegen’) kaum adäquate Synonyme zu geben. Solche Verben, vor allem aber gehen und fahren sollen in frühneuhochdeutschen und gegenwartssprachlichen Bibelübersetzungen untersucht werden.

3 Lk 17,23 (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)

nolite ire neque sectemini. (Vulgata) ir sult nicht gên noch en volgin. (Beheim) Gehet nicht hin / vnd folget auch nicht. (LB 1545) Gehet nicht hin und folget auch nicht. (LB 1912) Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! (LB 1984) Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! (LB 2017) so geht nicht hin und lauft nicht hinterher! (EÜ) Aber geht nicht hin und gebt nichts darauf. (GNB) Geht nicht hin, folgt auch nicht! (EB 2006) Geht nicht hin, lauft nicht hinterher! (ZB)

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Jesus wird zunächst (17,20–21) von Pharisäern gefragt, wann das Reich Gottes komme, und er antwortet, dass man das nicht vorhersagen können, dass aber regnum Dei intra vos est. Dann warnt er seine Jünger davor, zu hoffen, den Filius dei zu sehen, und sie sollten sich nicht von falschen Hinweisen irre machen lassen. Diese letzte Warnung enthält im Text der Vulgata zwei Fortbewegungsverben, und zwar ire und sequi. Diese beiden Verben sind die Übersetzung von griech. ἀπέρχομαι (apérchomai) und διώκω (diōkō). ἀπέρχομαι hat die Bedeutung ‘weggehen’ und ‘hingehen’ (vgl. Bauer 1988, 169) und drückt eine Fortbewegung von einem Punkt zu einem Ziel aus. Bauer (1988, 403) interpretiert das Verb διώκω, das in Lk 17,12 in der Form διώξητε (diōxēte, Konjunktiv Aorist von διώκω zum Ausdruck von verneintem Imperativ) vorkommt, mit ‘nachlaufen, um etw. zu finden’; es handelt sich also um eine Fortbewegung mit einem bestimmten Ziel, zu einem bestimmten Zweck. Die lateinische Version der Vulgata (nolite ire neque sectemini) verfährt etwas einfacher: Sie verwendet das allgemeine Fortbewegungsverb ire und das Verb sequi ‘folgen’, das ‘hinterhergehen, -kommen’ (vgl. Wahrig 2012) bedeutet; der Zweck des Hinterhergehens wird nicht ausgedrückt. Beide Verben haben keine ausdrucksseitige Ergänzung bei sich, inhaltsseitig aber können wir von jeweils einer Nominativergänzung sprechen. Beheim hält sich an die Vulgata: Das Verbum gên wird einwertig, nur mit Nominativergänzung, verwendet, während volgin, im Gegensatz zur Vorlage, zweiwertig (Nominativ- und Dativergänzung) vorkommt. LB 1545 passt seine Übersetzung dem deutschen Sprachgebrauch an: Gehet nicht hin / vnd folget auch nicht. Zum Verb gehen setzt er die Richtungspartikel hin, die die Bedeutung ‘von hier weg nach dort, auf etwas zu’ (vgl. Wahrig 2012) hat; und folgen ist dann die Fortsetzung dieser Bewegung, die nun nicht mehr zielgerichtet ist. Dazu kommen im zweiten Satz die beiden Konjunktionen vnd und auch, die eine deutlichere Konnexrelation zwischen diesen beiden Sätzen herstellen. Insofern folgt Luther „dem natürlichen Verlauf der Sprache“, in die er übersetzt. – LB 1912 übernimmt den originalen Wortlaut genau. Die beiden jüngsten Luther-Revisionen belassen den ersten Teil (Geht nicht hin), der zweite Satz wird grundlegend verändert: Das Verb folgen wird durch nachlaufen bzw. hinterherlaufen ersetzt, beide Verben werden zweiwertig verwendet. Diese zwei Revisionen gehen also interpretierend und wertend vor. Das Simplexverb laufen wäre neutral, es bedeutet nur ‘sich schnell fortbewegen’. Die beiden Partikelverben hingegen enthalten eine pejorative Komponente: Wahrig (2012) notiert s.v. nachfolgen: 2. jmdm. ~ 2.1. jmdm. eilig folgen 2.2. 〈fig.〉 jmdn. in aufdringlicher Weise für sich zu gewinnen versuchen

82 | Norbert Richard Wolf und bringt als Kontextbelege u. a.: ich laufe niemandem nach 〈fig.; umg.〉 ich dränge mich niemandem auf; immer den neusten Modetrends, einem unsinnigen Schönheitsideal ~; einem falschen Propheten ~.

Duden (2011) urteilt noch detaillierter: 2. 3.

(ugs.) ↑hinterherlaufen (3): wenn ihr nicht mitmachen wollt, wir laufen euch nicht nach. (ugs., oft abwertend) (in oft unkritischer, leichtgläubiger Weise) als Anhänger folgen: einem falschen Messias n.

Und s.v. hinterherlaufen schreibt Duden (2011): 3. (ugs.) sich in unangemessener Abhängigkeit von seinen Zwecken, Zielen eifrig bemühen, jmdn., etw. für sich zu gewinnen: einem Auftrag h.

Man könnte jetzt die Frage stellen, ob diese Wertung dem Original entspricht, doch ist Übersetzungskritik nicht unsere Aufgabe. Dennoch sei festgehalten, dass sowohl die Bedeutungskomponenten ‘schnell’ im Verbum laufen als auch die Wortbildungselemente nach- und hinterher- bewirken, dass das griechische Verb διώκω des Ausgangstextes mit seiner Bedeutungskomponente ‘um etwas zu finden’ ziemlich präzise wiedergegeben wird. Allerdings geht es beim Sem schnell nicht so sehr um das Tempo der Fortbewegung als vielmehr um Gedankenlosigkeit, um den Hinweis, dass man in der nötigen Eile bzw. „in der Hitze des Gefechtes“ nicht überprüft, ob die ganze Aktion überhaupt gerechtfertigt ist. Wohl deshalb verlässt die GNB das Feld der Fortbewegungsverben und paraphrasiert den biblischen Wortbefund: gebt nichts darauf; etwas auf etwas geben bedeutet ‘auf etw. Wert legen, einer Sache Bedeutung beimessen’ (vgl. Duden 2011).

4 Lk 11,52 (11) vae vobis legis peritis quia tulistis clavem scientiae ipsi non introistis et eos qui introibant prohibuistis. (Vulgata) (12) We ûch, ir volkůmen der ee, wan ir habit genůmen den slůzzil der kunst, selber sît ir nicht în gegangen und habit den gewerit, di da în gîngen! (Beheim) (13) WEH euch Schrifftgelerten / Denn jr den Schlüssel des erkentnis habt / Jr kompt nicht hin ein / vnd weret denen / die hin ein wöllen. (LB 1545) (14) Weh euch Schriftgelehrten! denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen. Ihr kommt nicht hinein und wehret denen, die hinein wollen. (LB 1912) (15) Weh euch Schriftgelehrten! Denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht hineingegangen und habt auch denen gewehrt, die hineinwollten. (LB 1984) (16) Weh euch Lehrern des Gesetzes! Denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht hineingegangen und habt auch denen gewehrt, die hineinwollten. (LB 2017)

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(17) Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel (der Tür) zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht hineingegangen und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert. (EÜ) (18) Weh euch, ihr Gesetzeslehrer! Ihr habt den Schlüssel weggenommen, der die Tür zur Erkenntnis öffnet. Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und ihr habt alle gehindert, die hineinwollten. (GNB) (19) Wehe euch Gesetzesgelehrten! Denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die hineingehen wollten, habt ihr gehindert. (EB) (20) Wehe euch, ihr Gesetzeslehrer! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen. Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und denen, die hineingehen wollten, habt ihr es verwehrt. (ZB)

„Der Angriff Jesu gegen die Pharisäer, die eine Art Laienorden darstellen, ruft den Einspruch eines Schriftgelehrten hervor“ (SEB 2008). Dem entgegnet Jesus mit einem mehrfachen Wehe. „Erkenntnis (V. 52) bezieht sich auf das, was man über die Gottesherrschaft und den Zugang zu ihr wissen muss“ (SEB 2008). Die Erkenntnis wird als ein Haus, das man durch eine Türe betreten kann, metaphorisch konzipiert. Die Vulgata hat hier das Verbum introire, das, morphemgetreu übersetzt, ‘hineingehen’ bedeutet. Im griechischen Original steht dafür die Aoristform des Verbums εἰσέρχομαι (eiserchomai). Im Gegensatz zum lateinischen Verb ire bedeutet das griechische Basisverb ἔρχομαι (erchomai) ‘kommen’ (vgl. Bauer 1988, 628), während die deutsche Entsprechung von lateinisch ire ‘gehen’ (vgl. Stowasser 1980, 158) ist. Beheim setzt an dieser Stelle das Verbum ‘eingehen’ (sît ir nicht în gegangen). Die Ausgabe schreibt die beiden Wortbildungskonstituenten getrennt. Damit stellt sich die Frage, ob es sich hier um ein Kompositum (Adverb în + Verb gên) oder um ein Syntagma (verbaler Kern gên + Adverbialergänzung în) handelt. Diese Frage lässt sich, wie so viele über die Sprache, nicht eindeutig beantworten. Das Verbum gên wird hier zweiwertig verwendet, und es ist nicht nur möglich, dass die zweite Leerstelle entweder von einem Satzglied oder dem ersten Kompositionsglied ausgefüllt wird. Was die Gegenwartssprache betrifft, so ist dieses Problem durch die Orthographiereform von 1996 virulent geworden. Damals wurde festgelegt, dass derartige Verbalkomposita zusammengeschrieben werden, wenn das erste Glied ein Simplex ist, während bei zusammengesetzten Erstkonstituenten die beiden Teile getrennt geschrieben werden: hingehen vs. hinein gehen. Diese Regelung widersprach der Gewohnheit, dass die Worteinheit zumindest in der Nennform, beim Verb also im Infinitiv, durch Zusammenschreibung gekennzeichnet wird. – Wir sehen hier die Nahtstelle zwischen Syntax und Wortbildung resp. Komposition. LB 1545 wählt an dieser Stelle nicht das Verbum gehen, sondern denkt bereits an das Erreichen des Zieles der Fortbewegung, weswegen er kommen gewählt hat; das dazugehörige Richtungsadverb ist schon zweigliedrig und signalisiert, dass die erkentnis weiterhin als Gebäude konzeptualisiert wird: Jr kompt nicht hin ein. kommen bedeutet „sich einem Ort nähern, einen Ort erreichen, eintreffen“ (Wah-

84 | Norbert Richard Wolf rig 2012) und kann daher auch die Kontextbedeutung „zu etw. erscheinen, an etw. teilnehmen“ (Duden 2011) bekommen. Damit wird an dieser Stelle ausgedrückt, dass die Schrifftgelerten zwar in die erkentnis hinwollen, aber eben nicht hineingelangen. Wieder ist die Übersetzung eine Interpretation, was vor allem durch die Wortwahl geschieht; die Wahl von kommen kann allerdings auch durch den griechischen Originaltext beeinflusst sein. Die Schrifftgelerten sind aber nicht nur aufgrund ihrer Einstellung nicht imstande, in die erkentnis zu gelangen, sondern sie hindern auch die daran, die hineingehen wollen: die hin ein wöllen. Das Fortbewegungsverb ist erspart und die oben festgestellte Bedeutungskomponente ‘(gehen) wollen’ wird explizit durch das Modalverb wollen ausgedrückt. Dies entspricht nicht ganz dem griechischen Original oder der Vulgata, die beide das Partizip des Fortbewegungsverbs (die Hineingehenden bzw. die Hineinkommenden) an dieser Stelle verwenden. Durch die Verwendung des Modalverbs mit dem Richtungsadverb muss Luther sich nicht für gehen oder kommen entscheiden. LB 1912 bleibt, wie meistens, beim alten Wortlaut: Ihr kommt nicht hinein und wehret denen, die hinein wollen. Anders hingegen LB 1984 und LB 2017: (21) Ihr selbst seid nicht hineingegangen und habt auch denen gewehrt, die hineinwollten. (LB 1984) (22) Ihr selbst seid nicht hineingegangen und habt auch denen gewehrt, die hineinwollten. (LB 2017)

Die beiden jüngsten Luther-Revisionen wechseln zu gehen. Dies bewirkt, dass die Schriftgelehrten bzw. die Lehrer des Gesetzes nicht mehr so negativ gesehen werden. Denn, wie schon angedeutet, gehen signalisiert nicht, dass jemand an einen anderen Ort gelangen will, es aber nicht schafft. Die weiteren Übersetzungen, die GNB, EB und ZB, haben ebenfalls gehen und liefern auch die vollständigen Partizipkonstruktionen des griechischen Originals oder der Vulgata: (23) Ihr selbst seid nicht hineingegangen und die, die hineingehen wollten, habt ihr daran gehindert. (EÜ) (24) ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die hineingehen wollten, habt ihr gehindert. (EB) (25) Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und denen, die hineingehen wollten, habt ihr es verwehrt. (ZB)

5 Lk 2,29 (26) (27) (28) (29) (30) (31)

nunc dimittis servum tuum Domine secundum verbum tuum in pace. (Vulgata) Nû lêzest du, herre, dînen knecht […] in vride. (Beheim) HErr / nu lessestu deinen Diener im Friede faren. (LB 1545) HERR, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren. (LB 1912) Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren. (LB 1984) Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren. (LB 2017)

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(32) (33) (34) (35)

Nun lässt du, Herr, deinen Knecht […] in Frieden scheiden. (EÜ) Herr, nun kann ich in Frieden sterben. (GNB) Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht […] in Frieden. (EB) Nun lässt du deinen Diener gehen, Herr, in Frieden. (ZB)

Die GNB paraphrasiert die Situation, in der diese Äußerung getan wird: In Jerusalem lebte damals ein Mann namens Simeon. Er war gerecht und fromm und wartete auf die Rettung Israels und der Heilige Geist ruhte auf ihm. Vom Heiligen Geist war ihm offenbart worden, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Jetzt wurde er vom Geist in den Tempel geführt; und als die Eltern Jesus hereinbrachten, um zu erfüllen, was nach dem Gesetz üblich war, nahm Simeon das Kind in seine Arme und pries Gott mit den Worten: […] (Lk 2,25-28)

Es geht um die Entsprechungen des lateinischen Verbs ‘entlassen, fortschicken, verabschieden’ (vgl. Stowasser 1980, 140). dimitto gibt das griechische ἀπολύω (apolyō) wieder. Bauer (1988, 193) führt als Entsprechungen des griechischen Verbs ‘gehen lassen, entlassen’ an und bringt als Kontextvarianten ‘fortschicken’ und ‘verabschieden’. Zu Lk 2,29 notiert er „Euphemist. für sterben lassen“ und meint, dass die Verbform ἀπολύεις 2.Sg. „wohl modal“ gemeint sei: „nun mögest du …“ (Bauer 1988, 193). Dietzfelbinger (2016, 304) übersetzt diese Stelle interlinear: „Jetzt entläßt du deinen Diener, Herr, gemäß deinem Wort in Frieden.“ Das Verbum entlassen ist schon im Mittelhochdeutschen belegt: entlâzen: entlassen, los, fahren lassen (absol. vom fahren lassen übelriechender winde Pass. K. 369,31). den bogen entlâzen und schiezen Herb. 7083. mit den armbrusten ûf gezogen, entlazzen und gespannen ib. 4271. (Lexer, 574)

Das Deutsche Rechtswörterbuch bucht vor allem juristische Verwendungen von entlassen wie ‘aus einem Abhängigkeitsverhältnis freigeben’, ‘(aus Haft) freilassen’, ‘(Geldstrafe) erlassen’, ‘befreien’ und ‘aus dem Schuldverhältnis entlassen’. Die erste Lesart wird nicht durch gegenwartssprachliche Entsprechungen, sondern nur durch einen undatierten Beleg (hatte der marschall … die landesstände zu berufen und zu entlassen) charakterisiert. Der Beleg für die Bedeutung ‘aus der Haft entlassen’ seiner gefengnuss entlassen ist im DRW mit 1709 datiert, während Paul (2002, 277) einen gleichlautenden Beleg aus dem Jahre 1584 (der Gefencknus entlassen) bucht. Vermutlich aus der Lesart ‘freilassen’ dürfte sich die gegenwartssprachliche Bedeutung ‘jmdm. erlauben, sich zu entfernen, jmdn. verabschieden’ (vgl. Wahrig 2012) entwickelt haben. Das Grimmʼsche Wörterbuch führt als ältesten Beleg für die Bedeutung ‘jmdn. gehen lassen, jmdn. aus erforderlichem, erzwungenem aufenthalt wegen lassen’ aus dem Keyserreich von 1328/1338 an: nicht enlant die die vbel tun von uch (2DWB 8, 1432–1433). Dementsprechend verwendet Beheim an dieser Stelle kein Präfixverb, sondern nur die Basis: Nû lêzest du, herre, dînen knecht […] in vride. Alle späteren Überset-

86 | Norbert Richard Wolf zungen setzen an dieser Stelle lassen und den Infinitiv eines Fortbewegungsverbs. Nur die GNB verlässt diesen semantischen Bereich und schreibt ohne Metaphorik nun kann ich in Frieden sterben. Alle herangezogenen Luther-Versionen nehmen das Verb fahren. Das Verbum fahren ist ursprünglich „der allgemeinste Ausdruck für jede Bewegung, die einen Ortswechsel bewirkt, es schließt die spezielleren gehen, reiten, fliegen, schwimmen, (im Wagen) fahren ein“, ist heute „beschränkt […] auf die Bewegung in einem Gefährt, gew[öhnlich] zu Lande oder zu Wasser“ (Paul 2002, 313). In Verbindung mit dem regierenden Kausativverb lassen hat fahren hier die Bedeutung ‘sich weg bewegen’. Die Zürcher Bibel wählt dafür das spezielle Verb gehen, während die Einheitsübersetzung scheiden in der Bedeutung ‘Abschied nehmen, sich trennen, auseinander gehen’ (vgl. Wahrig 2012) setzt; in dieser Bedeutung ist das Verbum scheiden kein „reines“ Fortbewegungsverb, sondern fokussiert in erster Linie die Trennung, wie dies auch im Substantiv Abschied der Fall ist; in dieser Bedeutung begegnet scheiden in den Wendungen aus dem Amt scheiden oder aus dem Leben scheiden. In unserem Kontext zielt das Verbum scheiden auf das Ende des Lebens. Die GNB bietet dementsprechend keine Übersetzung mehr, sondern eine Paraphrase des Gemeinten: nun kann ich in Frieden sterben, wobei Gott als Urheber des Geschehens ungenannt bleibt.

6 Konzeptualisierungen Im Gegensatz zu den vorherigen Bibelstellen handelt es sich bei Lk 2,29 nicht um eine Fortbewegung im engeren Sinn, sondern um die Metaphorisierung des Lebensendes. Soweit wir auf der Basis unseres kleinen Materials sehen, ist es Luther, der das Lebensende und somit auch das Leben als eine Fortbewegung konzipiert. Für das Ende wählt Luther das Verbum faren, von dem schon Jacob Grimm in seinem Deutschen Wörterbuch sagt: Fahren und gehen ist oft gleichviel, daneben aber auch zwischen beiden ein unterschied merkbar. 1) gehen drückt die ruhige menschliche bewegung aus, wie ja aufrechter gang unsere eigenheit ist, fahren bezeichnet gern das raschere springen oder fliegen der thiere, und weidmännisch wird diesen fährte, keine fuszspur beigelegt […] 2) der mensch geht zu fusze, fährt zu wagen, karrn, nachen, schiffe, auf dem schlitten, eis, auf der eisenbahn. (1DWB 3, 1248–1249)

Die beiden Verben gehen und fahren sind damit zutreffend, aber nicht hinreichend beschrieben, wie eine weitere Textstelle (Lk 22,3–4) zeigt:

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(36) 3Es war aber der Satanas gefaren in den Judas / genant Jscharioth / der da war aus der zal der Zwelffen. 4 Vnd er gieng hin vnd redet mit den Hohenpriestern / vnd mit den Heubtleuten / wie er jn wolte jnen vberantworten. (LB 1545) (37) 3Es war aber der Satanas gefahren in den Judas, genannt Ischariot, der da war aus der Zahl der Zwölf. 4 Und er ging hin und redete mit den Hohenpriestern und Hauptleuten, wie er ihn wollte ihnen überantworten. (LB 1912) (38) 3Es fuhr aber der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zur Zahl der Zwölf gehörte. 4 Und er ging hin und redete mit den Hohenpriestern und mit den Hauptleuten darüber, wie er ihn an sie verraten könnte. (LB 1984) (39) 3Es fuhr aber der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zur Zahl der Zwölf gehörte. 4 Und er ging hin und redete mit den Hohenpriestern und mit den Hauptleuten darüber, wie er ihnen Jesus überantworten könnte. (LB 2017)

Gehen ist nicht nur die menschliche Fortbewegung zu Fuß, sondern immer auch die Bewegung in eine bestimmte Richtung oder zu einem bestimmten Ziel; gehen ist – dies auch schon im Frühneuhochdeutschen – ein zweiwertiges Verb. Eine Ergänzung ist die Nominativergänzung, das Subjekt, das durch eine Personenbezeichnung ausgedrückt wird; die zweite Ergänzung ist eine direktionale Adverbialergänzung, die in der Regel obligatorisch ist. In allen Luther-Versionen wird gehen mit demselben syntaktischen Programm verwendet. Geradezu prototypisch kann dies Lk 2,41-43 demonstrieren, diesmal aus LB 1545: (40) 41VND seine Eltern giengen alle jar gen Jerusalem / auff das Osterfest. (41) 42Vnd da er zwelff jar alt war / giengen sie hin auff gen Jerusalem / nach gewonheit des Festes. (42) 43Vnd da die tage volendet waren / vnd sie wider zu hause giengen / bleib das kind Jhesus zu Jerusalem / vnd seine Eltern wustens nicht.

Fahren wird im Lukas-Evangelium vor allem dann verwendet, wenn von einer Fortbewegung von Menschen mit oder auf einem Schiff oder einem Boot die Rede ist; vgl. EÜ Lk 5,4: (43) 4Als er seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: Fahr hinaus auf den See! Dort werft eure Netze zum Fang aus!

Oder in der Version LB 1545: (44) 4VND als er hatte auffgehört zu reden / sprach er zu Simon / Fare auff die höhe / vnd werffet ewre Netze aus / das jr einen zug thut.

Im Vergleich zu Jacob Grimms Beschreibung begegnet im Lukas-Evangelium fahren in einer anderen semantischen Funktion: Es bezeichnet eine schnelle Bewegung, die ohne mechanische Hilfsmittel und körperlos zustande kommt. Die Nominativergänzung wird immer durch ein Geistwesen realisiert. Zudem kann fahren wie

88 | Norbert Richard Wolf gehen eine direktionale Adverbialergänzung, verwirklicht durch (menschliche oder tierische) Körperbezeichnungen, zu denen auch Eigennamen gehören, bei sich haben. Der Körper, in den der Geist „fährt“, wird also als Gefäß oder als Innenraum konzipiert. Dem Lutherʼschen Usus, an dieser Stelle (Lk 22,3–4) das Verbum fahren zu verwenden, schließt sich auch die GNB an: (45) 3Da fuhr der Satan in Judas, der auch Iskariot genannt wird. Judas war einer aus dem Kreis der Zwölf. (46) 4Er ging zu den führenden Priestern und den Hauptleuten der Tempelwache und besprach mit ihnen, wie er ihnen Jesus in die Hände spielen könnte.

Ebenso weitere reformatorische Bibelübersetzungen wie die Elberfelder Bibel: (47) 3Aber Satan fuhr in Judas, der Iskariot genannt wurde und aus der Zahl der Zwölf war. (48) 4Und er ging hin und besprach sich mit den Hohenpriestern und Hauptleuten, wie er ihn an sie überliefere.

Oder die Zürcher Bibel: (49) 3Es fuhr aber der Satan in Judas mit Namen Iskariot, der zum Kreis der Zwölf gehörte. (50) 4Und er ging und beriet sich mit den Hohen Priestern und Hauptleuten, wie er ihn an sie ausliefern könnte.

Demgegenüber paraphrasiert die Einheitsübersetzung den ausgedrückten Sachverhalt: (51) 3Der Satan aber ergriff Besitz von Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte. (52) 4Judas ging zu den Hohenpriestern und den Hauptleuten und beriet mit ihnen, wie er Jesus an sie ausliefern könnte.

Mit anderen Worten, die Unterschiede im Wortgebrauch, zumindest an dieser Stelle, sind nicht durch Sprachwandel begründet, sondern durch konfessionelle Traditionen der Bibelübersetzung. Auch Luthers altkirchliche Zeitgenossen haben das Verb faren: Hieronymus Emser: (53) 3Es war aber der Sathanas gefaren in den Judas genant Ischariot der do war auß der zal der zwölfen / (54) 4vnd er gieng hin vñ redet mit den hohen priestern / vnd mit der oberkeit / wie er jnen den wolt überantwurten. mit den hohen priestern / vnd mit der oberkeit / wie er jnen den wolt überantwurten.

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Johannes Eck: (55) 3Es war aber der Sathanas gefaren inn den Judas genandt Iscariot der do war auß der zal der zwölfen: (56) 4vnd er gieng hin vnnd redet mit den hohen Priestern / vnd mit der Oberkait / wie er jhnen den wolt uber geben.

Die älteren Bibelübersetzungen wie Beheims Evangelienbuch oder die MentelinBibel setzen „nur“ das Verbum gehen: Beheim: (57) 3Abir Sathanas gînc in Jûdam, der da geheizen wart Schariôth; einer von den zwelfin. (58) 4Und her gînc inwec und wart redende mit den vůrsten der prîstere und der meisterscaft, wî her en hin gigêbe en.

Mentelin-Bibel: (59) 3Wann sathanas der gieng in iudas der do ist vber nant scharioth : einē von den .xij : (60) 4vnd er gieng vñ redt mit den fůrsten der pfaffen vnd mit dē maisterschefften in welcher weys er in antwurt.

Es zeigt sich, dass mit Luthers Bibelübersetzung auch die gezielte Wortwahl beginnt. Es geht nicht nur im theologisch relevanten Wortschatz darum, das „treffende“ Wort zu finden, d. h. die theologische Absicht „treffend“ auszudrücken, sondern auch den stilistischen Normen der Zielsprache gerecht zu werden, weil nur das sinngemäße und regelgerechte Übersetzen auch eine theologische Leistung ist. Deshalb sei, gewissermaßen als Postscriptum, erwähnt, dass die jüngste Version der Einheitsübersetzung (EÜ 2017) in Lk 22,3 zu Luthers Wortwahl zurückkehrt: (60) 3Da fuhr der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte.

Literatur Bauer, Walter (1988): Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearb. Aufl. hg. von Kurt Aland und Barbara Aland. Berlin/New York. Dietzfelbinger, Ernst (2016): Das Neue Testament. Interlinearübersetzung Griechisch – Deutsch. Witten/Stuttgart. DRW = Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hg.) (1914–): Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Bis Bd. 3 hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 4 hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Bisher 12 Bde. Bd. 2 (Bearb. 1932–1935): Bergkaue bis entschulden. Weimar. Duden. Deutsches Universalwörterbuch (2011). 7. Aufl. CD-ROM-Ausgabe. Mannheim.

90 | Norbert Richard Wolf 1

DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1854–1960). 16 Bde. Bd. 3 (1862). 1. Aufl. Leipzig. Nachdruck München 1984. 2 DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1983–2006). Neubearbeitung hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 9 Bde. Bd. 8 (1999). Stuttgart. Homberg, Märta Åsdahl (1980): ‚Evangelien-Übertragungen‘ II. ‚Das Evangelienbuch des Matthias von Beheim‘. In: Stammler, Wolfgang (Begr.)/Wachinger, Burghart/Keil, Gundolf/Ruh, Kurt/Schröder, Werner/Worstbrock, Franz Josef (Hg.) (1978–2004): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. völlig neu bearb. Aufl. Bd. 2 (1980). Berlin/New York, 654– 656. Lexer = Lexer, Matthias (1872–1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Bd. 1 (1872). Leipzig. Mukherjee, Joybrato (2009): Anglistische Korpuslinguistik. Eine Einführung. Berlin. Paul, Hermann (2002): Deutsches Wörterbuch. 10., vollst. neu bearb. Aufl. von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper. Tübingen. SEB = Stuttgarter Erklärungsbibel (2008). Online-Ausgabe. Stuttgart. Stowasser = Der kleine Stowasser (1980). Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Wien. URL 1 = Bibelübersetzungen im Vergleich. https://www.die-bibel.de/bibeln/bibelkenntnis/wissenbibeluebersetzung/deutsche-bibeluebersetzungen-im-vergleich. (Stand: 6.12.2016) Wahrig = Wahrig. Deutsches Wörterbuch (2012). CD-ROM-Ausgabe. München/Gütersloh. Wolf, Norbert Richard (2016): sagen und sprechen nebst reden. Analysen und Überlegungen zu semantischen und textologischen Aspekten der verbalen Valenz. In: Greule, Albrecht/ Korhonen, Jarmo (Hg.): Historisch syntaktisches Verbwörterbuch. Valenz- und konstruktionsgrammatische Beiträge. Frankfurt (Main), 201‒224.

Ursula Götz

Bleibt das Kind schon längere Zeit munter… Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert

1 Einleitung Unsere Vorstellung von der Sprache des 19. Jahrhunderts ist stark von den Texten der sogenannten Klassiker geprägt. An den Anfang des vorliegenden Beitrags zur Grammatik der Konditionalsätze sollen deshalb drei Sätze aus Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell gestellt werden: (1)

Ja du bist gut und hilfreich, dienest allen, Und wenn du selbst in Noth kommst, hilft dir keiner. (III, 1, 1533–1534) (2) So du Gerechtigkeit Vom Himmel hoffest, so erzeig sie uns. (IV, 3, 2756–2757) (3) Wüßt’ ich mein Herz an zeitlich Gut gefesselt, Den Brand wärf ich hinein mit eigner Hand. (I, 2, 320–321)

Wie die Belege zeigen, enthält der Text verschiedene formale Typen von Konditionalsätzen, zudem variiert die Verbindung der Konditionalsätze mit dem übergeordneten Satz. Aber sind Schillers Konditionalsätze typisch für die (geschriebene) Sprache des 19. Jahrhunderts? Diese Frage lässt sich umso besser beantworten, je mehr man über die Grammatik unterschiedlicher Texte und Textsorten im 19. Jahrhundert weiß. Das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden sechs Hebammenlehrbücher aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also keine literarischen, sondern fachliche Texte. Im Zentrum des Interesses steht die grammatische Frage nach dem Auftreten der verschiedenen Formen der Integration der Konditionalsätze in den übergeordneten Satz, in einem kurzen Ausblick soll aber auch nach möglichen textsortenspezifischen Unterschieden in der Konditionalsatzgrammatik des 19. Jahrhunderts gefragt werden.

2 Zum Korpus Die sechs Hebammenbücher, die das Kernkorpus der vorliegenden Untersuchung bilden, sind zwischen 1796 und 1854 erschienen. Sie wurden so ausgewählt, dass drei ältere Lehrbücher (Osiander 1796, Busch 1805 und Mendel 1810) drei jüngeren (Lange 1851, von Mayrhofen 1854 und Martin 1854) gegenüberstehen. Die Texte sind von Ärzten verfasst und als begleitendes Lehrbuch während der Hebammenausbildung, aber auch als Nachschlagewerk für ausgebildete Hebammen gedacht. Für die

DOI 10.1515/9783110526585-008

92 | Ursula Götz vorliegende Untersuchung wurden jeweils die beiden Kapitel zum Wochenbett und zur Pflege des Neugeborenen ausgewertet. Die Befunde zu den darin verwendeten Konditionalsätzen werden zunächst jeweils für das gesamte Korpus dargestellt. Für einzelne Aspekte wird darüber hinaus gefragt, ob sich Unterschiede zwischen den drei älteren und den drei jüngeren Hebammenbüchern zeigen, auch wenn bei einem zeitlichen Abstand von nur 50 Jahren natürlich keine entscheidenden Veränderungen zu erwarten sind. Hinweise auf längerfristige Entwicklungen könnten sich dagegen aus einer kleinen stichprobenartigen Erweiterung des Korpus ergeben. Mit Eucharius Rösslins Der Schwangeren Frauen und Hebammen Rosengarten (Straßburg 1513)1 und dem Hebammenbuch von Mändle et al. (1997) werden ein frühneuzeitliches und ein heutiges Hebammenbuch in die Untersuchung einbezogen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Konditionalsätzen der beiden Texte ist allerdings nicht beabsichtigt, es geht nur um einen groben Vergleich mit den Befunden zum 19. Jahrhundert. Zu diesem Zweck wird jeweils der Abschnitt zur Pflege des Neugeborenen untersucht.

3 Überblick über die im Korpus auftretenden Konditionalsätze Das Korpus enthält insgesamt 506 Konditionalsätze, von denen 177 miteinander koordiniert sind. Die koordinierten Teilsätze werden im Folgenden jeweils als Einheit berücksichtigt, so dass sich eine Gesamtzahl von 409 Belegen (329 einzelnen und 80 in sich koordinierten Konditionalsatzeinheiten) ergibt. Die Konditionalsätze finden sich im Korpus in relativ einfachen überschaubaren Gesamtsätzen (Bsp. 4), aber auch als Teil komplexer Einheiten mit etlichen Teilsätzen (Bsp. 5). (4) Helfen leichte Mittel nicht, so muß bei Zeiten ein Arzt um Rath gefragt werden. (Busch 1805, 95) (5) Hat sich die Entbundene erholt und bleibt die Gebärmutter fortwährend zusammengezogen, so werden die Geburtstheile und Schenkel mit einem in lauwarmes Wasser getauchten Schwamme gereinigt, der Frau alle unrein und naß gewordenen Kleidungsstücke behutsam, damit sie keiner Verkühlung ausgesetzt werde, abgenommen und gegen reine, trockene, wohl durchwärmte Wäsche, namentlich gegen ein so beschaffenes Hemd und Nachtleibchen, vertauscht, die Brüste mit einem weichen, gleichfalls durchwärmten Tuche bedeckt, und dann die Frau, ohne viel mit ihr zu rütteln, in das Wochenbett, welches zu diesem Behufe an das Gebärbett angeschoben werden kann, überbracht, falls nicht das Gebärbett selbst in das Wochenbett umgewandelt werden muß. (Lange 1851, 213)

|| 1 Zu Rösslins Rosengarten und anderen historischen deutschen Texten zu Frauenheilkunde und Geburtshilfe vgl. Schmid (2015, 160–164) sowie im vorliegenden Band: Moulin: Textwandlungen – Eucharius Rösslin: Der Swangern Frauwen und hebammen Rosegarten als sprachhistorische Quelle.

Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert | 93

Der größte Teil der 409 Konditionalsätze sind uneingeleitete Konditionalsätze (196 Belege) und konditionale wenn-Sätze (192 Belege). Als weitere konditionale Subjunktionen treten falls, so und wo2 auf. Dazu kommen einige Konditionalsätze mit einer mehrteiligen Einleitung mit dem Substantiv Fall, etwa in dem Falle, wenn oder einfaches im Fall.3 Die genannten formalen Satztypen sind im Korpus nicht ganz gleich verteilt, im zeitlichen Vergleich zeigen sich vielmehr kleinere Unterschiede. Das Verhältnis von uneingeleiteten und eingeleiteten Konditionalsätzen verschiebt sich zwischen den frühen und den späten Hebammenbüchern etwas, der Anteil der uneingeleiteten steigt von 44,1% (97 von 220) auf 53,4% (99 von 189). Die Befunde für das frühneuzeitliche Hebammenbuch von Eucharius Rösslin und das moderne Hebammenbuch von Mändle et al. entsprechen diesem Trend. Der Anteil der uneingeleiteten Konditionalsätze liegt bei Rösslin etwas niedriger (41,7%, 10 von 24) als im 19. Jahrhundert, im modernen Hebammenbuch dagegen etwas höher (56,5%, 13 von 23). Die festgestellten Unterschiede zwischen den älteren und den jüngeren Hebammenbüchern des 19. Jahrhunderts beruhen also wohl nicht auf Zufall,4 die Entwicklung ist aber doch sehr moderat. Deutlicher sind die diachronen Unterschiede bei den selteneren Einleitewörtern falls, wo und so, allerdings ist hier die Belegmenge sehr klein.5 Konditionalsätze mit falls und wo findet man nur in den drei jüngeren Texten (und zwar gleichmäßig verteilt – jeder der Texte enthält einen Konditionalsatz mit wo und zwei bzw. drei mit falls). Die fünf Belege für die konditionale Subjunktion so stehen alle im ältesten, 1796 erschienenen Lehrbuch. Auch hier bestätigen Rösslin und das moderne Hebammenbuch den Trend. Konditionales so tritt bei Rösslin mit 5 von 24 Belegen sehr häufig auf, im modernen Hebammenbuch dagegen gar nicht. Umgekehrt ist falls mit 3 von 23 Belegen im modernen Text durchaus gängig, bei Rösslin ist es dagegen nicht belegt.

|| 2 Wo und wenn leiten nicht nur konditionale Nebensätze, sondern auch lokale (wo) bzw. temporale (wenn) Adverbialsätze ein. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach. Auch andere Subjunktionen (z. B. solange) zeigen in manchen Sätzen eine deutliche Nähe zur konditionalen Semantik. Vgl. unten Abschnitt 4. 3 Zu satzeinleitendem im Fall vgl. Paul (1959, §458). Andere mehrteilige Einleitungen (wie etwa vorausgesetzt dass o. Ä.) treten im Korpus nicht auf. 4 Vgl. Moeslein (1981, 317), der für technische Fachtexte eine deutliche Zunahme des Anteils uneingeleiteter Konditionalsätze von 1800 bis 1960 nachweist. 5 Die sechs Belege für die verschiedenen mehrteiligen Einleitungen mit dem Substantiv Fall sind dagegen gleichmäßig über das Korpus verteilt.

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4 Zur Integration der Konditionalsätze in den übergeordneten Satz Konditionalsätze können drei unterschiedliche Positionen im übergeordneten Satz einnehmen, nämlich am Anfang des Satzes (Vordersätze), in den übergeordneten Satz eingeschoben (Zwischensätze) oder ganz am Ende des Satzes (Endsätze). Die Stellung als Vordersatz gilt als die üblichste (vgl. Kotin 2013, 417). Auch in den untersuchten Hebammenbüchern stehen die meisten Konditionalsätze am Gesamtsatzanfang.6 Im Hinblick auf ihre Verbindung zum übergeordneten Satz lassen sich bei den Vordersätzen drei Stellungstypen unterscheiden. Zifonun et al. (1997, 2349– 2351) führen für die Gegenwartssprache unter anderem folgende Beispiele an: (6) Sofern die Schlange nicht ganz unerwartet zuschlägt, kann man sich durch Davonlaufen retten. (7) Sollte er es aber nicht wissen, so werde ich mich bemühen, ihm die deutsche Friedfertigkeit klarzumachen (8) Hätte Lessing jenen Vortrag gehört, er wäre am Schluß über Enrico Gras hergefallen […]

Die verschiedenen Stellungstypen entsprechen einer unterschiedlichen Integration des Konditionalsatzes in den übergeordneten Satz. Am stärksten ist die Integration in Beleg (6). Hier besetzt der sofern-Satz im übergeordneten Satz die Position vor dem finiten Verb, das Vorfeld. In Beleg (7) steht der Konditionalsatz ebenfalls vor dem Finitum, allerdings nicht direkt davor, die Position im Vorfeld wird vielmehr von so, einem „resumptive[n] Korrelat“ (Zifonun et al. 1997, 2349), eingenommen. In Beleg (8) ist der Konditionalsatz dagegen nicht in den übergeordneten Satz integriert, er steht vor dem Hauptsatz, das Vorfeld ist von einem anderen Satzglied besetzt, die Wortstellung im Hauptsatz wird damit vom vorangehenden Konditionalsatz nicht beeinflusst. Mit König/van der Auwera (1988, 107) wird die Stellung in (6) als integrative, die in (7) als resumptive und die in (8) als non-integrative Stellung bezeichnet. König/van der Auwera (1988, 107) gehen davon aus, dass es sich hier um Stufen einer historischen Entwicklung handelt, die vom non-integrativen über den resumptiven zum integrativen Typ führt. Auch wenn diese Einschätzung nicht von allen Sprachhistorikern geteilt wird,7 ist man sich doch einig, dass das Verhältnis der drei || 6 233 Vordersätzen stehen 79 Zwischen- und 97 Endsätze gegenüber. Dabei zeigt sich eine deutliche Korrelation zwischen der Satzposition und dem formalen Typ. Die uneingeleiteten Konditionalsätze sind zu 99,5% (195 von 196) Vordersätze. Dagegen treten die eingeleiteten Konditionalsätze an allen drei Positionen im Gesamtsatz auf, wobei der Anteil der Zwischen- oder Endsätze bei allen Einleitewörtern deutlich über dem der Vordersätze liegt. 7 Vgl. schon Behaghel (1929, 404) sowie Lötscher (2005, besonders 361, A. 15). Zur Entwicklung der Stellungstypen vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen vgl. auch Axel (2002) und Axel/ Wöllstein (2009).

Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert | 95

Stellungstypen in älteren Texten deutlich anders ist als in der Gegenwartssprache. Dies betrifft vor allem die integrative Stellung, die erst seit dem Frühneuhochdeutschen häufiger wird (vgl. Lötscher 2005, 369 sowie Axel/Wöllstein 2009, 19–20, 22– 23). Im vorliegenden Kontext interessiert das Auftreten der drei Stellungstypen bei den Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert. Aus der Forschungsliteratur lassen sich keine genauen Angaben zum Verhältnis der drei Satztypen im 19. Jahrhundert gewinnen.8 Fest steht aber, dass alle drei Typen im 19. Jahrhundert belegt sind, wobei gerade in den älteren Grammatiken eine Vielzahl von resumptiven und non-integrativen Belegen angeführt wird (vgl. etwa Paul 1959, §463).9 Im Folgenden soll das Auftreten der drei Stellungstypen in der Hebammenlehrbüchern des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Dabei geht es nicht nur um die Häufigkeit der einzelnen Typen, es wird auch gefragt, unter welchen Bedingungen sie gewählt werden. Das Korpus enthält 233 konditionale Vordersätze,10 und zwar 186 Einzelsätze und 47 koordinierte Einheiten. Die Verbindung zwischen konditionalem Vordersatz und übergeordnetem Hauptsatz, dem Nachsatz, zeigt ein sehr einheitliches Bild. Das Korpus enthält keinen einzigen non-integrativen Beleg und nur neun Fälle mit integrativer Verbindung; der allergrößte Teil der Belege, nämlich 224 Sätze (96,1%), enthält ein resumptives Element, und zwar in allen Fällen so. Auch wenn die Menge von neun integrativen Belegen natürlich viel zu klein ist, um belastbare Aussagen zu den Faktoren für die Setzung bzw. Nicht-Setzung des Resumptivs abzuleiten, soll trotzdem gefragt werden, ob die Belege bzw. die Zusammensetzung der kleinen Beleggruppe Auffälligkeiten zeigen, aus denen sich zumindest vorsichtige Hypothesen gewinnen lassen. Die neun integrativen Belege stehen in vier unterschiedlichen Hebammenbüchern, und zwar in zwei älteren (Busch 1805 und Mendel 1810) und zwei jüngeren (Lange 1851 und von Mayrhofen 1854). Innerhalb des Korpus ist also keine zeitliche Entwicklung festzustellen. Allenfalls kann man Ansätze einer etwas häufigeren Verwendung bei einzelnen Autoren sehen, da drei Belege im Lehrbuch von Mendel und sogar vier bei von Mayrhofen stehen. Auch semantisch zeigen die Belege keine Besonderheiten. Die in den Konditionalsätzen formulierten Bedingungen betreffen keine punktuellen Ereignisse, sondern eher längere Entwicklungen oder Zustände (Bsp. 9). Dies gilt allerdings für die meisten Konditionalsätze im Korpus, stellt also

|| 8 Relativ genaue Zahlen zu den verschiedenen Konditionalsatztypen gibt es für das 20. Jahrhundert (vgl. Danielsson 1971, 28, 161; Giesinger 1971, 313; Faucher 1984, 115; Axel 2002, 9). Dabei ist der Anteil non-integrativer Belege in allen untersuchten Korpora sehr klein; Unterschiede bestehen dagegen beim Verhältnis von resumptiver und integrativer Stellung. 9 Von den hier zitierten 32 Belegen für konditionale Vordersätze aus Texten des 18. und 19. Jahrhunderts zeigen 21 resumptive, 10 non-integrative und nur ein einziger integrative Stellung. 10 Alle konditionalen Vordersätze im Korpus sind Adverbialsätze. Die wenigen verbabhängigen wenn-Sätze sind Endsätze, vgl. etwa Sie vernachläßige es nicht, wenn die Brüste durch Ueberfluß an Milch strotzen (Mendel 1810, 195). Zu diesem Satztyp vgl. auch Schmid (1987).

96 | Ursula Götz keine Besonderheit der Belege ohne Resumptiv dar. Sie zeigen auch sonst keine größere Nähe zu Temporalsätzen als die übrigen Konditionalsätze. (9) Wenn die Warzen sehr klein und sehr weich sind, können sie vom Kinde nicht recht gefaßt werden, und geben daher nicht selten ein Hinderniß im Saugen ab. (Mendel 1810, 189)

Im Hinblick auf die grammatische Form lassen sich drei Faktoren finden, die den Verzicht auf ein resumptives Element möglicherweise befördern bzw. verhindern, allerdings gibt es in allen Fällen auch eine größere Zahl von Gegenbeispielen. Den höchsten Anteil integrativer Belege findet man bei den mehrteiligen Einleitungen mit Fall. Hier zeigen zwei der insgesamt vier Vordersatz-Belege integrative Stellung (Bsp. 10). (10) Nur in dem Falle, wenn die Muttermilch zur Befriedigung des Kindes nicht hinreicht, oder die Mutter aus Rücksicht für ihre Gesundheit es mit ihrer Milch allein nicht befriedigen darf, bleibt allerdings nichts anderes übrig, als das Abgehende durch andere Nahrungsmittel, von denen unten die Rede sein wird, zu ersetzen. (Lange 1851, 225)

Dass in einem Beleg wie (10) kein Resumptiv steht, lässt sich möglicherweise wirklich auf die mehrteilige Einleitung zurückführen. Fasst man in dem Falle, wenn nämlich nicht als Einheit auf, sondern als Präpositionalphrase mit abhängigem Nebensatz, dann wäre der wenn-Satz kein Vordersatz, sondern ein Zwischensatz und würde als solcher ganz regelmäßig ohne Resumptiv angeschlossen.11 Allerdings enthält das Korpus auch zwei Belege, in denen im Falle + Nebensatz resumptiven Anschluss zeigt (Bsp. 11). (11) Im Falle, die Warze wäre nicht hinlänglich aufgerichtet, so wird das Emporsteigen derselben durch einige Male wiederholtes sanftes Streichen mit dem Daumen und Zeigefinger bewerkstelligt. (von Mayrhofen 1854, 361)

Während der Anteil der integrativen Belege bei den Konditionalsätzen mit mehrteiligen Einleitungen also sehr hoch ist, ist er bei den uneingeleiteten Konditionalsätzen bemerkenswert niedrig. Insgesamt halten sich eingeleitete und uneingeleitete Konditionalsätze im Korpus in etwa die Waage, bei den Vordersätzen überwiegen die uneingeleiteten aber sehr deutlich (83,7%, 195 von 233). Dennoch sind nur zwei von den neun Belegen mit integrativer Stellung uneingeleitete Konditionalsätze. Dass hier seltener auf das resumptive Element verzichtet wird, ist nachvollziehbar, wenn man die Struktur von Satzgefügen mit eingeleiteten und uneingeleiteten Konditionalsätzen vergleicht. Bei eingeleitetem Konditionalsatz unterscheiden sich der Konditionalsatz und der folgende Hauptsatz auch bei integrativer Verbindung, da

|| 11 Zwischensätze werden im Korpus nie durch ein Resumptiv mit dem übergeordneten Satz verbunden.

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der Nebensatz mit einer Subjunktion beginnt, der Hauptsatz dagegen mit dem finiten Verb. Dagegen zeigt ein uneingeleiteter Konditionalsatz bei integrativer Verbindung an der Oberfläche die gleiche Struktur wie der folgende Nachsatz, hier steht jeweils das Verb an der Spitze des Satzes (z. B. Vergleicht man die Sätze, sieht man den Unterschied.). Dieser parallele Aufbau erschwert nach verbreiteter Ansicht die Rezeption des Gesamtsatzes. So spricht etwa Behaghel (1932, §1472) davon, dass der Nachsatz hier „falscher Auffassung ausgesetzt“ wäre. Bei resumptiver Verbindung ist der Nachsatz dagegen durch das einleitende so erkennbar (z. B. Vergleicht man die Sätze, so sieht man den Unterschied.), die Gesamtstruktur des Satzes ist damit deutlicher.12 Die Seltenheit der integrativen Stellung bei den uneingeleiteten Konditionalsätzen im Korpus lässt sich mit dieser strukturierenden bzw. rezeptionserleichternden Funktion des resumptiven Elements relativ gut erklären. Vor diesem Hintergrund überrascht allerdings die dritte Eigenart, die sich in der Zusammensetzung der Gruppe der integrativen Belege aus den Hebammenbüchern feststellen lässt. Bei fünf von den neun Belegen, also bei mehr als der Hälfte, ist der Vordersatz koordiniert (vgl. Bsp. 10 und 12).13 (12) Wenn das Kind sehr bleich und noch Pulsschlag in der Nabelschnur zu fühlen ist, darf sie dieselbe nicht eher unterbinden und durchschneiden, als bis entweder das Kind völlig ins Leben gebracht ist oder bis der Pulsschlag ganz aufgehört hat. (Mendel 1810, 201)

Eigentlich würde man erwarten, dass gerade in diesen Fällen ein resumptives Element gesetzt wird, um das Gesamtgefüge übersichtlicher zu gestalten.14 Entsprechende Hinweise findet man auch in zeitgenössischen Grammatiken. So schreibt Heyse (1972 [1838], 896): „Je länger der Vordersatz ist, desto nöthiger wird das So. Nach kürzern Nebensätzen kann es wegbleiben.“ Dieser an sich naheliegende Gedanke gilt für die Konditionalsätze in den Hebammenbüchern nicht uneingeschränkt.15

|| 12 Vgl. für die Gegenwartssprache Erben (1980, 296 A. 283), demzufolge das resumptive Element bei uneingeleiteten Konditionalsätzen „besonders häufig und strukturwichtig [ist], um Mißverständnisse wegen der Spitzenstellung des Verbs im Vorder- und Nachsatz zu vermeiden“. 13 Damit liegt der Anteil der koordinierten Belege bei den Vordersätzen mit integrativer Stellung deutlich höher als bei allen Vordersätzen, wo nur ca. 20% (47 von 233) der Belege koordiniert sind. 14 Vgl. entsprechende Überlegungen für die Gegenwartssprache bei Giesinger (1971, 307), der das Resumptiv „als echtes Orientierungszeichen, durch das sich der Leser zur Aufnahme des komplexen Satzgebildes besser zurechtfinden kann“ sieht. 15 Die Texte enthalten auch eine Vielzahl wirklich kurzer Konditionalsätze mit Resumptiv (vgl. z. B. oben Bsp. 4). Dass „die Länge und die Komplexität des vorangestellten Nebensatzes […] in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Verwendung des Korrelats [stehen]“, hält auch ThimMabrey (1987, 199–200) mit Bezug auf ein Korpus frühneuhochdeutscher Texte fest. Im vorliegenden Korpus betrifft der Verzicht auf das Resumptiv nur koordinierte komplexe Vordersätze, keiner der übrigen komplexen Vordersätze weist integrative Stellung auf.

98 | Ursula Götz Bei der Suche nach Erklärungen könnte man überlegen, ob es eine Rolle spielt, dass bei den koordinierten Einheiten die konditionale Subjunktion im zweiten Konjunkt jeweils erspart ist und der Nebensatz damit ausdrucksseitig nicht mehr wie ein Konditionalsatz erscheint. Eine solche Begründung ist allerdings nur für eingeleitete Konditionalsätze möglich, für Belege mit zwei uneingeleiteten konditionalen Vordersätzen (Bsp. 13) greifen diese Überlegungen nicht, da sich die beiden Konjunkte hier formal nicht unterscheiden. (13) Bleibt das Kind schon längere Zeit munter und beginnt es an der Welt Antheil zu nehmen, muß die strengste Ordnung eingehalten werden. (von Mayrhofen 1854, 363)

Immerhin enthält das Korpus nur einen einzigen integrativen Beleg für koordinierte uneingeleitete Konditionalsätze, während die übrigen vier Belege jeweils ein zweites (bzw. drittes) Konjunkt mit ersparter konditionaler Subjunktion zeigen. Unabhängig davon, ob die angeführte Erklärung für sich plausibel erscheint oder nicht, ist es insgesamt nicht wirklich zufriedenstellend, wenn man die seltene Ersparung des Resumptivs nach uneingeleiteten Konditionalsätzen mit der strukturierenden Funktion von so erklärt, um gleichzeitig festzustellen, dass bei koordinierten Vordersätzen, wo man diese strukturierende Funktion ebenfalls erwarten könnte, ein größerer Teil der Belege kein Resumptiv aufweist. Dennoch kann man festhalten, dass die Untersuchung trotz der sehr geringen Zahl von neun Belegen deutliche Hinweise darauf erbracht hat, in welchen Fällen das Resumptiv am ehesten fehlen kann. Dabei betreffen alle ermittelten Faktoren die Grammatik, semantische Unterschiede zwischen resumptiven und integrativen Konditionalsätzen oder eine diachrone Entwicklung sind nicht festzustellen. Ganz anders sind die Befunde, wenn man die Untersuchung auf alle adverbialen Vordersätze ausdehnt. Zwar machen Konditionalsätze auch im Korpus der vorliegenden Untersuchung den Großteil der adverbialen Vordersätze aus (vgl. auch Lötscher 2005, 361), dennoch ist die Gruppe der nicht-konditionalen Vordersätze mit 69 Belegen groß genug, um Vergleiche anstellen zu können. Dabei scheint es methodisch sinnvoller, zunächst alle adverbialen Vordersätze zu betrachten und dann einzelne Gruppen zu isolieren. Vieles, was für die konditionalen Vordersätze festgehalten wurde, gilt auch für die Menge aller adverbialen Vordersätze. Das Korpus enthält keinen einzigen Beleg mit non-integrativer Stellung, als Resumptiv tritt nur so auf. Unterschiede ergeben sich aber beim Verhältnis von integrativer und resumptiver Stellung. Während bei den Konditionalsätzen 96,1% der Belege resumptiv angeschlossen sind, liegt der Anteil für alle adverbialen Vordersätze nur bei 80,5% (243 von 302). Die naheliegende Vermutung, dass der Unterschied semantisch bedingt ist, bestätigt sich, wenn man das Verhältnis von resumptiver und integrativer Stellung für verschiedene Adverbialsatztypen betrachtet. Auch wenn die Belegzahlen für die einzelnen Satztypen natürlich relativ klein sind, sind die Befunde doch deutlich. Bei

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den konzessiven Vordersätzen sind alle vier Belege resumptiv, dagegen zeigen alle acht Finalsätze integrative Stellung. Drei von vier Kausalsätzen sind resumptiv. Bei den Temporalsätzen liegt der Anteil der resumptiven zwar nur bei 17,8% (8 von 45), allerdings handelt es sich dabei ausschließlich um Belege mit den Subjunktionen wenn (1 Beleg), solange (1 Beleg) und sobald (6 Belege), also um Einleitewörter, die oft eine gewisse Nähe zu konditionaler Semantik zeigen. (14) Das Einschlafen an der Mutterbrust gestatte man dem Säuglinge nicht. Sobald er einschläft, so werde ihm die Warze langsam aus dem Munde genommen. (von Mayrhofen 1854, 363)

Auch wenn nicht daran zu zweifeln ist, dass die Semantik der Adverbialsätze den größten Einfluss auf den Stellungstyp hat,16 kann man doch fragen, ob sich im Korpus auch andere Faktoren zeigen. Dabei interessieren natürlich vor allem Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den Konditionalsätzen. Tatsächlich kann man, anders als bei den Konditionalsätzen, eine gewisse zeitliche Entwicklung feststellen. Während bei den frühen Hebammenbüchern 84,9% (129 von 152) der Belege resumptive Stellung zeigen, sind es bei den späten nur 76% (114 von 150). Allerdings sind für diese Entwicklung natürlich nur die Adverbialsatztypen verantwortlich, die insgesamt einen relativ hohen Anteil integrativer Belege zeigen. Dagegen zeigt sich ein anderer Faktor, der oben anhand der wenigen integrativen Konditionalsatzbelege ermittelt wurde, auch bei allen übrigen Adverbialsätzen. Ebenso wie bei den Konditionalsätzen werden auch hier Belege mit koordinierten Vordersätzen seltener mit Resumptiv angeschlossen. Da mehrere dieser koordinierten Vordersätze mit den Subjunktionen sobald und solange (Bsp. 15) eingeleitet werden, die im Korpus ansonsten relativ oft resumptive Stellung aufweisen, kann man davon ausgehen, dass das Fehlen des Resumptivs nicht semantisch bedingt ist, sondern – wie schon bei den Konditionalsätzen – mit der Koordiniertheit zusammenhängt. (15) So lange die Kinder dabei saugen können, und die Stimme nicht heiser ist, kann man mit verschiedenen leichten Mitteln helfen. (Busch 1805, 96)

Fasst man die Befunde für alle adverbialen Vordersätze im Korpus zusammen, so ist zum einen das Fehlen non-integrativer Belege festzuhalten. Der Anteil der integrativen Belege nimmt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas zu, der resumptive Anschluss dominiert aber in allen untersuchten Hebammenbüchern deutlich. Ob ein Adverbialsatz resumptive oder integrative Stellung zeigt, hängt vor allem von der Semantik ab. Als resumptives Element tritt nur so auf. Überraschend ist das verhältnismäßig seltene Auftreten des Resumptivs bei koordinierten Vordersätzen.

|| 16 Vgl. Wiktorowicz (2013) mit entsprechenden Befunden für literarische Texte des 17. Jahrhunderts.

100 | Ursula Götz Die (sehr) kleine Stichprobe aus den Hebammenbüchern des 16. und des 20. Jahrhunderts bestätigt die Feststellungen aus den Texten des 19. Jahrhunderts weitgehend. Non-integrative Belege fehlen auch hier, als Resumptiv tritt nur so auf. Im 16. Jahrhundert liegt der Anteil resumptiver Adverbialsätze noch etwas höher (95,2%, 20 von 21), im 20. Jahrhundert deutlich niedriger (11,1%, 3 von 27) als im 19. Jahrhundert. Dass alle (drei) resumptiven Belege im Hebammenbuch von Mändle et al. Konditionalsätze sind, passt ebenfalls zu dem, was die Untersuchung der Hebammenbücher des 19. Jahrhunderts ergeben hat. Etwas überraschend ist dagegen, dass der einzige integrative Beleg in Rösslins Rosengarten ein mit sovil eingeleiteter Nebensatz ist (Bsp. 16), den man eigentlich nur als Konditionalsatz (Sofern die Mutter dazu in der Lage ist) verstehen kann. (16) SOvyl die mter mag / soll sie ir kind selber seygen v nit einer andern fraw zgeb. (Rösslin 1513, Bl. [K3v])

5 Zusammenfassung und Ausblick Die Konditionalsätze in den Hebammenlehrbüchern des 19. Jahrhunderts zeigen im Hinblick auf die Integration in den übergeordneten Satz ein sehr einheitliches Bild: Der größte Teil der Konditionalsätze ist durch das resumptive Element so mit dem Nachsatz verbunden, Belege mit non-integrativer Stellung fehlen ganz. Bemerkenswert scheint, dass die wenigen Belege mit integrativer Stellung relativ häufig bei koordinierten Vordersätzen auftreten, also in einer Position, wo man gerade nicht mit ihnen rechnen würde. Fragt man danach, wie textsortenspezifisch dieser Sprachgebrauch ist und betrachtet dazu die Konditionalsätze in Schillers Wilhelm Tell, so zeigt schon ein flüchtiger Blick deutliche Unterschiede. Das Drama enthält eine Vielzahl non-integrativer Belege,17 der Anteil der non-integrativen und der resumptiven Belege an den Vordersätzen ist in etwa gleich groß. Neben so tritt auch dann als resumptives Element auf, die integrative Verbindung von Konditionalsatz und Nachsatz ist zwar relativ selten, im Verhältnis aber doch häufiger als in den Hebammenbüchern. Dass es auch im Bereich der Grammatik Unterschiede zwischen verschiedenen Textsorten gibt und dass dies auch für historische Texte gilt, ist an sich wenig überraschend. Bemerkenswert ist aber doch, wie ausgeprägt diese Unterschiede bei den Konditionalsätzen sind.18 Gleichzeitig zeigen sich hier auch deutliche sprachge-

|| 17 Zu Unterschieden in der Häufigkeit non-integrativer Belege zwischen Versdichtung und Fachtexten im Alt- und Mittelhochdeutschen vgl. Lötscher (2005, 364–365). 18 Zu textsortenspezifischen Besonderheiten bei Konditionalsätzen des 13.–15. Jahrhunderts vgl. Schmid (2005).

Zur Grammatik von Konditionalsätzen im 19. Jahrhundert | 101

schichtliche Entwicklungen. Konditionalsätze stellen damit für die textsortenspezifische historische Syntax ebenso wie für den Sprachwandel einen besonders lohnenden Untersuchungsgegenstand dar.

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102 | Ursula Götz

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Rosemarie Lühr

Begründete Evidenz bei Otfrid In seiner Philosophy of Rhetoric unterscheidet der britische Philosoph und Rhetoriker George Campbell (1719–1796) zwischen intuitiver und begründeter Evidenz als Grundlage einer Meinung (vgl. Stieglitz 1998, 53). Diese auch als deduktive oder abgeleitete Evidenz bezeichnete Art von Evidenz ist ein Kennzeichen von Otfrids von Weißenburg Dichtung. Der Dichter benutzt hier Kausalsätze von unterschiedlicher Lesart. Zur Desambiguierung hilft allein eine Analyse des Kontextes weiter.

1 Problemstellung Weil-Verb-Letzt- und weil-Verb-Zweit-Sätze im heutigen Deutsch sind Gegenstand zahlreicher Studien. Bei weil-Verb-Zweit-Sätzen ist zunächst die sprechaktbezogene Verwendung offensichtlich: (1)(a) Was machst du heute Abend? Weil im Kino läuft gerade ein guter Film.

Mit dem weil-Satz erklärt der Sprecher, warum er gefragt hat, ob der Hörer am Abend schon beschäftigt ist (vgl. Catasso 2015, 6). Diskutiert wird aber besonders die Abgrenzung von propositionalen und epistemischen Lesarten: Weil-Sätze werden zur Begründung von unterschiedlichen Arten von Evidenz verwendet. So haben Antomo/Steinbach (2012) die beiden folgenden Sätze Probanden vorgelegt, um die Zugänglichkeit dieser Lesarten zu überprüfen. (1)(b) Es hat einen Unfall gegeben, weil der Airbag ist aufgegangen. (1)(c) Es hat einen Unfall gegeben, weil der Airbag aufgegangen ist.

Das Ergebnis war: Eine propositionale Deutung wurde eindeutig bei den weil-VerbLetzt-Sätzen, sogenannten zentralen Adverbialsätzen, präferiert. Nur etwa ein Drittel der Versuchsteilnehmer hat sich bei weil-Verb-Letzt in (1)(c) für eine epistemische Lesart und damit für einen peripheren Adverbialsatz (vgl. Holler 2008; Frey 2011; 2016) entschieden, wohingegen knapp 72 Prozent der Probanden den weilVerb-Zweit-Satz (1)(b) als epistemische Einstellungsbegründung interpretiert haben. Vergleichbare Kausalsätze sind bereits im Althochdeutschen in den mit der Konjunktion wanta oder auch mit bi thiu eingeleiteten Sätzen bezeugt: Legt man Otfrids Bibelepos für die folgenden Ausführungen zugrunde, so zeigen 51 wantaSätze Verbzweit- bzw. Hauptsatzverbstellung und 42 wanta-Sätze Verb-Letzt- bzw.

DOI 10.1515/9783110526585-009

104 | Rosemarie Lühr Nebensatzverbstellung.1 Rein quantitativ gesehen halten sich also Verb-Zweit- und Verb-Letzt-Stellung nahezu die Waage (vgl. Wunder 1965; Fleischmann 1973, 131 Anm. 50; Selting 1999, 186). Es ist so zu erwarten, dass es auch im Althochdeutschen auf jeden Fall wanta-Verb-Letzt-Sätze mit Sachverhalts-Lesart, eben zentrale Adverbialsätze gibt. Kommen hier epistemische und sprechaktbezogene Bedeutungen vor, liegt die Annahme nahe, dass es sich um jeweils abgeleitete Bedeutungen handelt. Dass diese Bedeutungen sich aus dem Kontext ergeben können, zeigen sprachhistorische Untersuchungen von Konjunktionen (vgl. Lühr 2016; Speyer 2011). Demgegenüber ist bei Otfrids wanta-Verb-Zweit-Sätzen zu vermuten, dass wie bei den neuhochdeutschen weil-Verb-Zweit-Sätzen entweder eine illokutionäre oder eine epistemische Lesart vorliegt. Was die epistemische Modalität angeht, so empfiehlt es sich, Textstellen zu betrachten, an denen eine solche Modalität bezeichnet sein kann. Palmer nennt folgende Möglichkeiten für epistemische Modalität (vgl. de Haan 2001): There are at least four ways in which a speaker may indicate that he is not presenting what he is saying as a fact, but rather: That he is speculating about it, that he is presenting it as a deduction, that he has been told about it, that it is a matter only of appearance, based on the evidence of (possibly fallible) senses. (Palmer 1986, 51)

Bei Otfrid kommen aber weitere Möglichkeiten hinzu. Es sind erstens Appelle an den Leser und zweitens Appelle an den Hörer. In Leser-Appellen wendet sich Otfrid mit Phrasen wie ih sagen thir thaz unmittelbar an seinen Leser: Der Leser muss nicht nur zur Kenntnis nehmen, dass die Äußerungen im Kontext derartiger Appelle nicht im Original stehen, sondern dass es sich um „sprecherbasierte Einschätzung[en] des dargestellten Sachverhalts bezüglich seines Grades an Realität, Aktualität, Wirklichkeit“ handelt (Diewald/Smirnova 2010, 115‒116). Dieser Leser hatte wahrscheinlich genug theologisches Wissen, um Otfrids Interpretationen verstehen zu können (vgl. MacKenzie 1946, 75), aber dennoch mit der Erwartung, dass von Otfrid geäußerte subjektiv-modale/epistemische und/oder bewertende Einstellungen zur Proposition begründet werden, vor allem durch epistemische wanta-, aber auch bithiu-Sätze. Die Leser-Appelle können dabei explizit ein Verb des Sagens aufweisen wie in ich sagen thir thaz, häufig mit in (ala)war(a), giwisso (vgl. Schönherr 2010, 60). Aber auch die Adverbien giwísso und álawar allein, also mit einem sozusagen elliptischen Verb des Sagens, verwendet Otfrid in diesem Sinn. Wahrheitsbekundungen finden sich ferner in Appellen an den Hörer. Diese Hörer-Appelle legt Otfrid sich selbst, wenn er mit Gott spricht, vor allem aber biblischen Personen in der wörtlichen Rede in den Mund. Sie haben ähnliche Formen wie die Leser-Appelle. Auch in Kontexten mit Hörer-Appellen erscheinen Kausalsätze. Die Frage ist daher, ob es || 1 Nur 9 von 115 wanta-Sätzen weisen bei Otfrid Spitzen- bzw. Erststellung des Verbs nach der Konjunktion auf.

Begründete Evidenz bei Otfrid | 105

auf der Ausdrucksseite Unterschiede in den Begründungen bei Leser- und HörerAppellen gibt, also ob Otfrid hier unterschiedliche sprachliche Register benutzt. Zur Beantwortung dieser Frage werden Kausalsätze, die sich auf Propositionen beziehen, denen mit illokutionärer und epistemischer Lesart gegenüber gestellt. Dabei ist der Einfluss des Endreims auf die Stellung des Verbs in den Kausalsätzen zu beachten. Im Zentrum aber steht die Bezeichnung der epistemischen Modalität.

2 Kausalsätze Die Kausalsätze werden nach der Häufigkeit ihrer Bezeugung in den einzelnen Begründungsarten behandelt.

2.1 Leser-Appelle 2.1.1 Propositionale Lesart Wie zu erwarten, erscheint bei Leser-Appellen die propositionale Lesart von Kausalsätzen. So können wanta-Sätze zur Aktualisierung des Common Ground, also sozusagen als Update, eingesetzt werden. In (2) bezieht sich so ich nu ságeta auf eine vorher genannte Sachverhaltsbeschreibung: was náhisto gisézzo ‘[Johannes] saß am nächsten [bei Jesus]’: (2)

Pétrus bat Johánnan, thaz er iréiskoti then mán, er zi imo irfrágeti, wer súlih balo ríati. (Thaz bóuhnita er giwísso, was náhisto gisézzo; thes méisteres in wára hábetun sie mihila éra; Wánta thar saz, thágeta Pétrus, so ih nu ságeta; (IV,12,29‒33) [innuit Petrus Johanni, dicens: quis est de quo dicit?] (Joh. 13, 23) ‘Petrus bat Johannes, dass er nach diesem Mann [Judas] frage, damit er von ihm [Jesus] erfahre, wer solch ein Unheil anstifte. Dies winkte er sicherlich diesem [Johannes] zu, er [Johannes] saß am nächsten [bei Jesus]; sie hatten wirklich große Ehrfurcht vor dem Meister; weil er [Johannes] dort saß, schwieg Petrus, wie ich schon sagte.’

Da der wanta-Verb-Letzt-Satz vor dem Hauptsatz auftritt, entspricht dies dem Ikonizitätsprinzip: Die Ursache geht dem Effekt konzeptuell voraus (vgl. Diessel 2001). In (3) tritt der Kausalsatz in Zwischenstellung auf. Der vorausgehende Hauptsatz besitzt ein katadeixisches Kausaladverbiale:

106 | Rosemarie Lühr (3) Bi thiu gihólota siu thár, wízist thaz in alawár, wanta si hábeta sulih múat, thera dóhter thaz gúat; (III,11,27‒28) ‘Deswegen verschaffte sie [die kanaanäische Frau] da, wisse das sicher, weil sie ein solches Herz hatte, der Tochter Genesung von dem schweren Leid.’

Nach Thim-Mabrey (1982, 209‒210) besteht bei dieser Begründungsbeziehung der Kausalzusammenhang „als ein Sinnganzes […] aus zwei aussagemäßig unabgeschlossenen Strukturen“. Der wanta-Verb-Zweit-Satz ist integriert und lässt nur eine propositionale Begründung zu (vgl. Thim-Mabrey 1982, 216; Antomo/Steinbach 2010, 19).

2.1.2 Epistemische Lesart Weitaus am häufigsten kommt die epistemische Lesart bei Kausalsätzen vor. 2.1.2.1 Bezug auf Propositionen Auch bei der epistemischen Lesart von Kausalsätzen gibt es Propositionsbezüge. Enthält aber der Kausalsatz selbst ein Wertungsadjektiv, ergibt sich eine epistemische Deutung. Die folgende Textpassage ist eine Bezeichnung der Sprachhandlung ERKLÄREN-WARUM, eine Variante des Begründens (vgl. Kang 1996, 15; Klein 1987, 65). Der wanta-Verb-Zweit-Satz mit dem epistemischen Satzadverb sumiríh ‘wahrlich’ gibt eine Erklärung für eine ungewöhnliche Erscheinung. (4) Hóh er oba mánnon suébeta in then úndon, want ér was góte sumiríh drút, thaz ni híluh thih. (Hartmuot 63‒64) ‘Hoch oberhalb der Menschen schwebte er [Noe] auf den Gewässern, denn er war wahrlich Gottes Freund, das verhehle ich dir nicht.’

Auch ein evaluatives Verb ist in einem propositionsbezogenen Kausalsatz eines Leser-Appells belegt. Gisceinen ‘offenbaren’ steht semantisch dem evidentialen Satzadverb offenbar nahe. Offenbaren bettet eine Proposition ein. Otfrid formuliert diese Proposition als Aussagesatz mit dem Temporaladverb sar ‘sogleich’ und dem Modaladverb sliumo ‘schnell’, beide in bewertender Funktion: (5)

Suntar sús betota, gináda sino thígita, gilóubtạ er sia gihéilti, ób er iz thár giméinti, Joh ób er thaz gidáti, thaz er sin wórt giquati, thaz sár io sin gizámi thera dóhter biquámi. Giwisso wízist thu tház, bi thiu giscéinta siu thaz: sliumo fúar si sar héim, so ér gisprah sin wórt ein. (III,11,10‒15)

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‘Vielmehr bat sie [die kanaanäische Frau] nur so, erflehte seine Gnade, sie glaubte, dass er sie heilte, wenn er es da wollte und wenn er sich dazu entschloss, dass er sein Wort aussprach, dass seine wunderbare Tat im Augenblick der Tochter nütze. Sicher wisse du das, denn das offenbarte sie: Schnell begab sie sich sogleich nach Hause, sobald er sein Wort gesprochen hatte.’

2.1.2.2 Bezug auf negierte Propositionen Nach Palmer (2001, 384, 392) ist ferner die sprachliche Negation eine modale Kategorie, nämlich eine Einschätzung des Sachverhalts hinsichtlich seines Faktizitätsstatus durch den Sprecher. Belege für derartige Leser-Appelle im Kontext von wanta-Verb-Zweit-Sätzen sind: (6) Wízist ana baga: ni was ímo thurft thera frága, thaz imo íaman zalti, waz mánnes herza wólti; Wanta ímo ist al inthékit thaz mánnes hugu rékit, joh tház er mit gilústin drégit in then brústin. (II,11,65‒68) et quia opus ei non erat, ut quis testimonium perhiberet de homine; ipse enim sciebat quid esset in homine. (Joh. 2,25) ‘Wisse sicher: Er bedurfte keiner Frage, dass jemand ihm erzählte, was das Herz des Menschen wollte; denn ihm ist alles aufgedeckt, was des Menschen Geist ersinnt und was er mit Sehnsucht in der Brust trägt.’ (7) So wer so thés ruahta thaz frúma zi imo súahta (wízist iz in alawár): es ni brást imo thár; Want ér ist selbo wúnno joh álles gúates brunno; (III,14,79‒81) ‘Wer immer nur danach strebte, dass er bei ihm sein Heil suchte, wisse es sicher: Dem mangelte es da nie; denn er ist selbst die Seligkeit und die Quelle von jedem Gut.’

Auch einen mit der kausalen Konjunktion bi thiu eingeleiteten Verb-Zweit-Satz verwendet Otfrid im Zusammenhang mit einem negierten Sachverhalt. In wár ist wieder ein epistemisches Satzadverb: (8) Giwisso ságen ih thir éin: thár nirstirbit mán nihein, bi thiu ni wírdit ouh in wár thaz man nan bigrábe thar; (V,23,261‒262) ‘Mit Sicherheit sage ich dir eines: Dort stirbt kein Mensch, daher unterbleibt es auch tatsächlich, dass man ihn dort begräbt.’

2.1.2.3 Bezug auf Propositionsbewertungen In (9) ist das epistemische Satzadverb giwisso ‘sicherlich’ dagegen Teil des Begründungssubstrats. Der folgende Kausalsatz begründet Otfrids Faktizitätseinschätzung des dargestellten Sachverhalts. Thuruh tház, bi thiu ‘deswegen, weil’ sind dagegen propositionsbezogene Ausdrucksmittel (vgl. (4)).

108 | Rosemarie Lühr (9) Er flóh in thaz gibírgi, thaz ér sih thar gibúrgi; giwisso er détaz thuruh tház, bi thiu sin zít noh tho ni was, Thaz er nóh tho wolti sin kúning mit giwélti ófono zi wáre; bi thiu flóh er sie tho tháre. (III,8,3‒6) fugit […] in montem (Joh. 6,15) ‘Er floh in das Gebirge, damit er sich dort verberge; sicherlich tat er das deswegen, weil seine Zeit noch nicht gekommen war, so dass er noch nicht schon da König mit Gewalt sein wollte2, ganz öffentlich, fürwahr; deshalb floh er vor ihnen da von hier.’

Demgegenüber liegt in (11) mit dem Evaluationsadverb réhto eine Bewertung eines Sachverhalts hinsichtlich der komplementären Relation „richtig“ vs. „falsch“ vor. Der Kausalsatz ist ein Verb-Letzt-Satz, und thuruh tház want gehören wieder zu den propositionsbezogenen kausalen Elementen. (10) Thie zuéne es wola zílotun joh wola iz mérotun, ther thrítto was nihein héit thúruh sina zágaheit. Er ward firdámnot thuruh nót thár man inan pínot, giwisso réhto thuruh tház want er wákar ni was. (IV,7,75‒78) ‘Die zwei hatten sich recht darum bemüht und es [den Reichtum] gewissenhaft vermehrt. Der dritte war kein echter Mann wegen seiner Zaghaftigkeit. Er wurde nun dahin verurteilt, wo man ihn peinigt, sicherlich zu Recht deshalb, weil er nicht wachsam war.’

2.1.2.4 Bezug auf einen Bewertungsausdruck Auch Bezug eines wanta-Satzes auf ein Wort, das ein Werturteil ausdrückt, findet sich in den Leser-Appellen. In (11) begründet Otfrid die Wahl des Ausdrucks filu scánt ‘mit großer Schande’ mit einem Satzgefüge, das aus einem wanta-Verb-LetztSatz und einem komplexen Hauptsatz besteht. Zi thíu ‘dahin’ im Kausalsatz stellt dabei die Verbindung zu diesem folgenden Hauptsatz her: (11) giwisso ságen ih thir éin: sie quámun filu scánt heim. Uuanta íz zi thíu io irgéngit: ther widar góte ringit, ist er ío in waru in hónlicheru zálu. (Hartmuot 72‒74) ‘Wahrlich sage ich dir eines: Sie [die Steinmetze] zogen mit großer Schande heim. Denn es kommt stets dahin: Der gegen Gott ankämpft, gerät mit Sicherheit stets in schimpflichen Untergang.’

|| 2 Zu solchen Konsekutivsätzen vgl. Erdmann (1974, 159).

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Die Textstelle zeigt unterschiedliche Typen von Bewertungsausdrücken: Das den Grad der Häufigkeit anzeigende Temporaladverb io ‘stets’ weist auf den Faktizitätsanspruch der Allgemeingültigkeit und gehört so wie giwisso, in waru zu den Faktizität beanspruchenden Ausdrücken, und filu scánt ‘mit großer Schande’ wird durch hónlicheru zálu ‘in schimpflichem Untergang’ mit einem evaluativen Adjektiv wieder aufgenommen. 2.1.2.5 Bezug auf ein Benennungsmotiv Ein Sonderfall ist Otfrids Begründung eines Benennungsmotivs. In (12)(b) erklärt er in dem wanta-Satz, warum das Taufwasser Siloe heißt (vgl. Kelle 1881, 267). Er übernimmt dabei die Ausdrucksbegründung des lateinischen Kommentars zu Johannes’ Beschreibung der Heilung eines Blindgeborenen: (12)(a) et dixit ei vade lava in natatoria Siloae quod interpretatur Missus abiit ergo et lavit et venit videns ‘und er sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach, was interpretiert wird als der Gesandte. Er ging also fort und wusch sich und kam sehend zurück.’ (Vulgata Joh. 9,7) (12)(b) Mánnilih nu lóufe zi thémo sconen dóufe, thara inan Kríst tho wánta joh sélbo thara sánta. Wízist tház in alawár: thaz wazar héizit ouh so thár, wanta Kríst es weltit, ther héra ward giséntit; (III,21,23‒26) mittit illum ad piscinam Siloe …, quod interpretatur: missus (Beda und Alcuin zu Joh. 9,23‒28) ‘So eile nun ein jeder zu der herrlichen Taufe, wohin ihn Christus da beschieden und selber dorthin gesandt hat. Wisse das sicher: Das Wasser heißt auch so dort [nämlich Siloe], weil Christus darüber waltet, der hierher gesandt worden ist.’

2.2 Hörer-Appelle 2.2.1 Otfrid Nur vereinzelt ist die illokutionäre Lesart im Kontext von Hörer-Appellen. In seinem Gebet wendet sich Otfrid an Gott: (13) thia súnta, druhtin, míno ginádlicho dílo, Wanta (ih zéllu thir in wán) iz nist bi bálawe gidan; (I,2,20‒21) ‘Meine Sünde, Herr, tilge gnädig, denn (ich sage dir, wie ich denke) es wurde nicht aus Bosheit getan.’

Der wanta-Verb-Zweit-Satz begründet die Aufforderung.

110 | Rosemarie Lühr 2.2.2 Biblische Personen 2.2.2.1 Illokutionäre Lesart Auch bei biblischen Personen kommt die illokutionäre Lesart vor: Jesus spricht zu Petrus. Der wanta-Verb-Zweit-Satz hat in der lateinischen Vorlage keine Entsprechung: (14) Húgi hiar nu hárto thero mínero worto, in hérzen kléibi siu nu sár, wanta ih ságen thir in álawar: Unz thu júng wari, so wás thir thaz gizámi, thaz thu thir sélbo gurtos joh gíangi thara thu wóltos. Thu thénist thino hénti sar thu bist áltenti, giwisso thaz ni híluh thih, so gurtit ánderer thih; (V,15,37‒42) amen, amen dico tibi: [cum esses junior] cingebas te et ambulabas ubi volebas; [cum autem senueris,] extendes manus tuas, et alius te cinget et ducet quo tu non vis (Joh. 21,18) ‘Denke hier nun sehr an meine Worte, präge sie nun sogleich in das Herz, denn ich sage dir aufrichtig: So lange du noch Jüngling warst, da war es fortan dein Gebrauch, dich selbst zu gürten und zu gehen, wohin du wolltest. Du streckst deine Hände aus, sobald du alt bist, wahrlich, das verhehle ich dir nicht, dann gürtet ein anderer dich.’

Der wanta-Verb-Zweit-Satz referiert ähnlich wie in (4) auf den folgenden, aus einer Satzreihe bestehenden Hauptsatz, auch wenn ein Verweis fehlt. Der zweite Teil dieser Satzreihe repräsentiert wiederum einen Hörer-Appell: giwisso thaz ni híluh thih ‘wahrlich, das verhehle ich dir nicht’. 2.2.2.2 Propositionale Lesart Häufiger sind Kausalsätze mit propositionaler Lesart bezeugt. In einer Rede wiederholt Johannes vorher Gesagtes mit anderen Worten. Voraus geht: (15)(a) Ther fater mínnot sinan sún, then sánt er selbo hérasun joh géb imo al zi hénti, zi síneru giwélti. (II,13,29‒30) [pater diligit filium] et omnia dedit in manu ejus. (Joh. 3,35) ‘Der Vater liebt seinen Sohn, den er selber hierher gesandt hat, und er gab ihm alles in seine Hand, zu seiner Verfügung.’

Dieser Common Ground wird nun aktualisiert: (15)(b) Want ér sin selbes kínd ist: thaz imo allíebesten íst (giwísso ságen ih iu tház), thaz gíbit er imo allaz álangaz. (II,13,33‒34, Johannes zeugt von Jesus) ‘Weil er sein eigener Sohn ist, der ihm am allerliebsten ist, wahrheitsgemäß sage ich euch das, das gibt er ihm alles ungeteilt.’

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Der wanta-Verb-Letzt-Satz steht voraus. Die Wahrheitsbehauptung giwísso ságen ih iu tház ‘wahrheitsgemäß sage ich euch das’ bezieht sich auf den Superlativ allíebesten ‘am allerliebsten’, eine Zusammenfassung von Ther fater mínnot sinan sún ‘der Vater liebt seinen Sohn’. Auf eine vorherige Äußerung bezieht sich auch Jesus in einem Kausalsatz, wenn er gemeinsames Wissen abruft: (16)(a) Quédet ir ouh Júdeon nu, thaz sí zi Hierosólimu stát filu ríchu zi thiu gilúmpflichu! (II,14,59‒60) patres nostri in monte hoc adoraverunt, [et vos dicitis quia Hierosolymis est] locus ubi adorare oportet (Joh. 4,20) ‘Ihr aber aus dem Judenvolk sagt nun, dass es Jerusalem sei, die so prächtige Stadt, angemessen hierzu.’ (16)(b) Wir selbe béton avur thár tház wir wizun álawar; wanta héil, so ih rédion, thaz químit fon then Júdion. (II,14,65‒66) ‘Wir aber beten das an, was wir ganz gewiss wissen, denn jenes Heil, von dem ich sprach, das kommt von den Juden.’

Im Kausalsatz befindet sich das Verb in Verb-Zweit-Stellung hinter einem Relativsatz und einem das proleptische Subjekt aufnehmenden Pronomen. Eine weitere Textstelle, an der der Kausalsatz eine propositionale Lesart hat, ist (17). Ein Verwandter von demjenigen, dem das Ohr abgeschlagen worden ist, sagt zu Petrus: (17) thu dati, ih ságen thir in wár, thaz selba wértisal thar, wanta íh gistuant thin wárten thár in themo gárten; (IV,18,23‒24) ‘Du hast, ich sage es dir wahrheitsgemäß, diese Wunde da verursacht, denn ich stand dich beobachtend in dem Garten.’

„Die Gewissheit des sprechenden Ichs“ wird hier durch den wanta-Verb-Zweit-Satz bestätigt (Schönherr 2010, 73‒74). 2.2.2.3 Epistemische Lesart 2.2.2.3.1 Bezug auf eine Proposition Auch epistemische Lesarten finden sich: Jesus sagt zu der Samaritanerin am Jakobsbrunnen: (18) Thu sprachi in wár nu so zám, thú ni habes gómman; giwisso zéllu ih thir nú: finfi hábotost thu jú. Then thu afur nú úabis joh thir zi thíu liubis want ér giwisso thín nist, bi thiu spráchi thu so iz wár ist. (II,14,51‒54)

112 | Rosemarie Lühr [bene dixisti,] quia non habes virum; quinque enim viros habuisti, et nunc quem habes, non est tuus vir; hoc vere dixisti (Joh. 4,17‒18) ‘Du sagtest fürwahr nun, wie es angemessen war, du hättest keinen Ehemann; mit Sicherheit sage ich dir jetzt: Fünf hattest du bereits. Mit welchem du aber nun umgehst und den du dazu liebst, weil er mit Sicherheit nicht deiner ist, deshalb sprachst du so, wie es wahr ist.’

In dem vorangestellten wanta-Verb-Zweit-Satz erscheint der Faktizitätsmarker giwisso ‘mit Sicherheit’, wodurch sich ein epistemischer Kontext ergibt. Bi thiu ‘deshalb’ verweist anaphorisch auf diesen Kausalsatz. 2.2.2.3.2 Bezug auf eine negierte Proposition Sentenzenartig äußert sich Jesus in einem Gespräch mit seinen Jüngern nach der Erweckung des Lazarus. Der Hörer-Appell wird von giwísso gebildet: (19) So wer so dáges gengit, giwísso er ni firspírnit, want ér sih mit then óugon fórna mag biscówon; (III,23,37‒38) si quis ambulaverit in die, non offendit, quia lucem hujus mundi videt (Joh. 11,9) ‘Wer immer am Tage geht, wahrhaftig, er stolpert nicht, weil er sich dann mit den Augen nach vorn umsehen kann.’

Der Kausalsatz mit einem finiten Verb vor einem Infinitiv bezieht sich auf ein vorausgehendes Satzgefüge. Neben der Negation im Hauptsatz tritt im verallgemeinerten Relativsatz als Einleitung so wer so ‘wer auch immer’ auf, wobei die Bedeutung ‘immer’ eine Opposition zu ‘nie’ impliziert und damit eine Faktizitätsbewertung ausdrückt. Es wird Allgemeingültigkeit beansprucht. 2.2.2.3.3 Bezug auf Propositionsbewertungen Der Anspruch der Allgemeingültigkeit ist explizit auch mit dem Temporaladverb io ‘immer’ bezeichnet in (20). Jesus spricht zu Nikodemus: (20) Ther ni thuíngit sinaz múat joh thaz úbil al gidúat: zéllu ih thir in alawár, ther házzot io thaz líoht sar (Bi thíu thaz siner scímo ni meldo dáti sino; (II,12,91‒93) [omnis … qui mala (Vulg. male) agit, odit lucem …] (nach Joh. 3,20) ‘Und wer sein Herz dann nicht bezwingt und jedes Unrecht tut, ich sage es dir, fürwahr, der hasst ganz und gar immer das Licht: Deswegen, weil sein Schimmer seine Taten nicht verraten soll …’

Im Hauptsatz findet sich neben io noch sar als Evaluationsadverb in der Bedeutung ‘ganz und gar’. Der mit bi thíu thaz ‘deswegen, weil’ eingeleitete Kausalsatz begründet diese Propositionsbewertungen.

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2.2.2.3.4 Bezug auf einen Bewertungsausdruck Des Weiteren beziehen sich Bewertungsausdrücke auf Kausalsätze im Kontext von Hörer-Appellen. Beispiele sind die Seligpreisungen: (21) Sálig birut ir árme in thiu thaz múat iz wolle, in thiu ir thie ármuati githúltet io mit gúati; Wanta íuer ist, ih sagen iu tház, thaz hímilrichi hóhaz, thiu wúnna joh ouh mánag guat; (II,16,1‒4) [Beati pauperes spiritu] (Matth. 5,5); beati pauperes, quia vestrum est regnum dei (Luc. 5,20) ‘Glückselig seid ihr Arme, wenn euer Herz es will, wenn ihr die Armut stets mit Freude wählt; denn euer ist, ich sage euch das, das hohe Himmelreich, die Wonne auch und jedes Gut.’

Der Bezugssatz für den nachstehenden wanta-Verb-Zweit-Satz zeigt ein evaluatives Adjektiv, sálig ‘selig’, und noch einmal das Allgemeingültigkeit beanspruchende Temporaladverb io ‘stets’.

3 Vergleich der Begründungsarten und der Verbstellung Vergleicht man nun die Begründungsarten in Leser- und Hörer-Appellen miteinander, so kommen in beiden Kontexten propositionale und epistemische Lesarten vor, in Hörer-Appellen Otfrids und biblischer Personen auch die illokutionäre Lesart. Hinsichtlich der kausalen Lesarten macht also Otfrid kaum Unterschiede im sprachlichen Register. Ähnliches gilt auch für die Verbstellung der untersuchten Kausalsätze: Verb-Zweit

Verb-Letzt

illokutionäre Lesart

Hörer-Appell Otfrid (13) biblische Personen (14)

propositionale Lesart

Leser-Appell (3) Hörer-Appell (16)(b)

Leser-Appell (2) Hörer-Appell (15)(b)

epistemische Lesart

Leser-Appell (4) (5) (6) (7) (8) (9) Hörer-Appell (21)

Hörer-Appell (9) (10) (12)(b) Hörer-Appell (18) (19) (20)

Dieser Ausschnitt aus den Kausalsätzen bei Otfrid zeigt, dass neun nicht-propositionale Lesarten mit Verb-Zweit-Stellung sechs nicht-propositionalen Lesarten mit

114 | Rosemarie Lühr Verb-Letzt-Stellung gegenüber stehen. Betrachtet man diese Belege genauer, so sind die sechs nicht-propositionalen Lesarten mit Verb-Letzt-Stellung reimbedingt: (10) (11) (13)(b) (18) (19) (20)

giwisso er détaz thuruh tház, bi thiu sin zít noh tho ni was (III,8,4) giwisso réhto thuruh tház want er wákar ni was (IV,7,78) wanta Kríst es weltit, ther héra ward giséntit; (III,21,26) want ér giwisso thín nist, bi thiu spráchi thu so iz wár ist (II,14,54) want ér sih mit then óugon fórna mag biscówon (III,23,38) Bi thíu thaz siner scímo ni meldo dáti sino (II,12,93)

Auch bei den vier propositionalen Lesarten finden sich durch den Reim verursachte Verb-Letzt-Stellungen, wie auch dreimal Verb-Zweit-Position aus Gründen des Reims auftritt: (15)(b) vs. (4) (16)(b) (17)

Want ér sin selbes kínd ist: thaz imo allíebesten íst (II,13,33) wanta si hábeta sulih múat, thera dóhter thaz gúat (III,11,28) wanta héil, so ih rédion, thaz químit fon then Júdion (II,14,66) wanta íh gistuant thin wárten thár in themo gárten (IV,18,23)

Der Endreim dominiert also die Verbstellung von Kausalsätzen im Kontext von Leser- und Hörer-Appellen bei Otfrid und ist so der ausdrucksseitigen Unterscheidung von illokutionäer, propositionaler, aber vor allem epistemischer Lesart übergeordnet. Regelverstöße liegen sicher nicht vor, denn die poetische Grammatik duldet keine solchen Verstöße. D. h., die jeweiligen Lesarten von Kausalsätzen mussten in Otfrids Dichtung wie etwa im Frühneuhochdeutschen aus den Kontexten und der Sprechsituation abgeleitet werden.

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